Der Tempel der verbotenen Träume (Mit Frank Rehfeld)

Prolog

Torian wußte nicht, wie lange der Sturz dauerte. Es konnten ebensogut Sekunden wie Jahre sein; er hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Um ihn herum war das absolute Nichts, eine so vollkommene Schwärze, wie er sie noch niemals erlebt hatte. Nicht einfach nur Leere, sondern wirklich NICHTS. Er versuchte, sich zu bewegen, doch es ging nicht. Sein Körper war taub und gefühllos, erfüllt von nichts anderem als einer eisigen Kälte, die auch seine Gedanken zu lahmen drohte. Er hatte Angst.

Vielleicht ist das der Tod, dachte er. Seltsam — dieser Gedanke erschreckte ihn nicht einmal. Alles erschien ihm seltsam unwirklich, irgendwie,.. traumhaft. Nur flüchtig erinnerte er sich auch, wer er gewesen war, wie er in den Katakomben unter Moran-Dur von dem auseinanderberstenden Tor aufgesogen und in diese zeitlose Unendlichkeit geschleudert worden war. Er war müde und wollte nur noch schlafen und mit diesem Nichts verschmelzen, um ewigen Frieden zu finden, aber irgend etwas tief in ihm sträubte sich noch dagegen.

Und dann, von einem Augenblick zum anderen, rissen die Nebel um seinen Geist ein wenig auf, und er erkannte die Gefahr, in der er schwebte. Die samtene Schwärze um ihn herum erschien ihm plötzlich nicht mehr beruhigend, sondern kalt und abstoßend, und er begriff, daß ihre Verlockung nichts weiter als den Tod — den wirklichen Tod — verbarg.

Er war verloren, wenn er sich weiterhin nur treiben ließ, mit jeder Sekunde ein bißchen weiter ins Nichts abglitt. Vielleicht war es schon zu spät, den Rückweg zu finden.

Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern. Ununterbrochen wiederholte er in Gedanken seinen Namen, klammerte sich daran, wie an den rettenden Strohhalm. Er zwang sich, an wichtige Ereignisse seines Lebens zu denken, an die Begegnung mit Garth und Shyleen und ihren Kampf gegen Kelysar, den wahnsinnigen Magier, dessen Tod schließlich dazu geführt hatte, daß das Tor außer Kontrolle geriet und sie verschlang.

Torian meinte zu fühlen, daß sich sein Sturz verlangsamte, aber es war nur ein vages Gefühl, da es um ihn herum nichts gab, woran er sich orientieren konnte. Er verstärkte seine Bemühungen noch. Wieder glaubte er, ein böses Lachen zu hören, doch es klang nicht mehr triumphierend wie zuvor, sondern wütend, fast enttäuscht. Unsichtbare Hände griffen nach ihm, kalt und körperlos und unmenschlich stark. Die Dunkelheit um ihn herum zerfloß, formte sich neu, gerann zu dämonischen Fratzen: Wesen mit aufgedunsenen Leibern und Papageienschnäbeln und viel zu vielen Armen, die in mörderischen Klauen endeten, Bestien, die nur in seiner Phantasie existierten und ihn trotz dieses Wissens bis ins Mark erschreckten, denn es waren seine gestaltgewordenen Urängste, gegen die er wehrlos war.

Torian wollte schreien und sich herumwerfen, aber sein Körper gehorchte ihm immer noch nicht.

Er wiederholte seinen Namen wie ein Gebet, wieder und immer wieder.

Irgendwo vor ihm glomm ein winziger roter Punkt auf und wurde rasend schnell größer. Blitze zuckten durch die Schwärze, griffen nach ihm und rissen ihn vorwärts. Der rote Lichtfleck wuchs zu wabernder Glut heran, unter deren Oberfläche es unablässig zuckte und wallte. Flammenfinger tauten die eisige Kälte auf, die Torian erfüllt hatte.

Dann stürzte er direkt durch den Vorhang aus Flammen und Hitze.

Als er urplötzlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte, gelang es ihm nicht, das Gleichgewicht zu halten. Instinktiv versuchte er, den Sturz mit vorgestreckten Armen abzufangen, aber seine Reaktion kam zu spät. Mit entsetzlicher Wucht prallte er auf den steinernen Boden. Er überschlug sich ein paarmal, sah die Felswand wie einen gigantischen schwarzen Schatten auf sich zu rasen, und dann löschte ein harter Schlag gegen die Schläfe sein Bewußtsein endgültig aus.

Eine kühle Hand lag auf seiner Stirn, als er erwachte. Sein Körper schien nur aus pochendem Schmerz zu bestehen. Er mußte tot sein, dachte er, aber wenn dies hier das Jenseits war, dann war es ein verdammt ungemütlicher Ort, und die Unsterblichkeit der Seele vielleicht doch nicht ganz so erstrebenswert. Jemand flüsterte mit sehr leiser, angenehmer Stimme Worte. Worte, deren Wahl nicht zum Klang der Stimme paßte. Torian verstand ihren Sinn nicht, aber sie wirkten auf sonderbare Weise beruhigend. Trotzdem dämpften sie den Schmerz und vor allem die Angst, die ihn aus dem Schlaf in diesen Dämmerzustand zwischen Traum und Wachsein hinüberbegleitet hatte. Seine Furcht verschwand fast augenblicklich und machte einem Gefühl wohligen Behütetseins Platz. Nur langsam, fast widerwillig lichteten sich die Schleier, die sich um sein Bewußtsein gelegt hatten, und aus den verschwommenen Umrissen vor seinen Augen schälte sich das Gesicht Shyleens.

Torian richtete sich auf. Und im gleichen Moment erwachte der Schmerz in seinem Kopf wieder zu neuem Leben, als hätte er nur auf eine unvorsichtige Bewegung gewartet. Stöhnend ließ sich Torian zurücksinken und massierte seine Schläfen. Als er die Hand zurückzog, klebte halb geronnenes Blut an seinen Fingerspitzen. Er blinzelte ein paarmal, als könnte er die Benommenheit auf diese Art vertreiben, kämpfte die Übelkeit und das sie begleitende Schwindelgefühl nieder und setzte sich erneut auf, diesmal wesentlich vorsichtiger als beim ersten Mal. »Was ist passiert?« fragte er mühsam.

»Du wolltest wieder einmal mit dem Kopf durch die Wand«, erwiderte Garth spöttisch. »Aber du mußt noch etwas üben, du hast nämlich verloren, weißt du?«

Torian schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. »Wie lange war ich bewußtlos?«

»Etwa eine halbe Stunde«, antwortete Shyleen, ebenfalls lächelnd, aber auf weitaus ernstere Weise als Garth. Ihr Blick war voller Sorge. »Aber was ist vorher gewesen?«

»Was meinst du?« Torian sah sie fragend an.

»Ich meine die Zeit, die du im Tor gewesen bist. Garth und ich kamen gleichzeitig hier an, aber eben nur wir beide. Du nicht.« Sie zuckte mit den Achseln, um eine Gleichgültigkeit vorzutäuschen, die sie nicht empfand. »Minutenlang passierte gar nichts.«

»Wir hatten schon gehofft, dich endlich los zu sein«, fügte Garth seufzend hinzu. »Dann plötzlich kamst du aus dem Tor gewankt und bist über deine eigenen Füße gestolpert. Wo hast du dich also in der Zwischenzeit wieder herumgetrieben, mein lieber Torian Carr Conn?«

»Ich habe mich nur ein bißchen in der Unendlichkeit umgesehen«, erwiderte Torian und versuchte zu grinsen, brachte aber nur eine Grimasse zustande. »Aber da war es mir zu langweilig.« Es gelang ihm nicht, seine Stimme so spöttisch klingen zu lassen, wie er es eigentlich wollte.

Der Wächter des Tores verlangt ein Opfer, hatte Kelysar gesagt. Torian schauderte noch im Nachhinein, als ihm bewußt wurde, wie nah er daran gewesen war, für immer im Tor verschollen zu bleiben.

Er verdrängte den Gedanken und sah sich um. Sie befanden sich in einem kaum drei Schritte messenden Stollen, der sich nach wenigen Schritten in undurchdringlicher Dunkelheit verlor. Shyleen und Garth hielten immer noch die Fackeln in Händen, die sie beim Betreten des Tores getragen hatten. Sie waren kaum kürzer geworden; es schien tatsächlich nicht sehr viel Zeit vergangen zu sein. Unruhig tanzte der Lichtschein über die rauhen Wände des Stollens, brach sich an unzähligen Kanten und riß kleine flackernde Sterne aus Rot und Gelb aus den Kristalleinschlüssen im Fels; warf bedrohlich anmutende Schatten, die Leben zu schaffen schienen, wo keines war. Es war ein unheimlicher Ort, fand Torian, ein Ort, der ihm Angst machte.

Er zwang sich in Gedanken energisch zur Ordnung. Er durfte sich nicht gestatten, jetzt in Panik zu geraten. Er wußte ja nicht einmal, wo sie waren, und ob hier die gleichen Gesetze wie anderswo galten; ob dieser Ort überhaupt ein Hier war.

Nervös tastete er nach seinem Schwert, und seine Nervosität wurde zu eisigem Schrecken, als ihm einfiel, daß keiner von ihnen eine Waffe bei sich hatte. Ihre Umgebung flößte ihm ein körperlich spürbares Unbehagen ein. Es war ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl, aber etwas an dieser unterirdischen Steinwelt kam ihm sonderbar falsch vor. Es schien hier Winkel zu geben, die es gar nicht gab, Formen, die bei genauem Hinsehen in den Augen schmerzten, Linien, die mit menschlichen Sinnen nicht richtig zu erkennen waren, ohne daß er zu sagen vermochte, was all diese beunruhigenden Gedanken verursachte. Torian war sich nicht sicher, ob ihm seine überreizten Nerven nur einen Streich spielten. Aber ob eingebildet oder nicht, machte keinen großen Unterschied, dachte er höchst verunsichert. Letztlich war es vollkommen egal, ob er nun durch eine eingebildete Gefahr oder eine reale den Verstand verlor.

Er hatte ähnliches schon erlebt: beim Betrachten der sinnverwirrenden Karte, die Kelysar als Köder gedient hatte, und zum Teil auch in der Schattenburg. Doch obwohl die Architektur dort ebenfalls menschlichem Vorstellungsvermögen Hohn sprach, war sie auf unmöglich in Worte zu fassende Art anders gewesen.

Auf jeden Fall war dieser Platz fremd, und er war weder von Menschen noch für Menschen geschaffen. Es war falsch, daß sie sich hier aufhielten. Sie hätten sich niemals hierher wagen sollen.

Torian drehte sich um und erwartete, das Tor zu sehen, durch das sie gekommen waren. Aber hinter ihnen war nur eine massive Felswand. Davor lag etwas auf dem Boden, das entfernt menschliehe Konturen aufwies. Als Torian nähertrat, erkannte er ein Skelett. Es zerfiel zu Staub, als er sich darüber beugte. Kelysar.

Schaudernd wandte sich Torian wieder zu Garth und Shyleen um – und fuhr ein zweites Mal zusammen. Erst jetzt, als er Shyleen genauer ansah, fiel ihm auf, daß etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmte. Sie war die Tochter eines Magiers, und wie alle Magier hatte sie ihre Unsterblichkeit verloren. Bevor sie das Tor durchschritten hatten, war sie binnen weniger Tage zu einer Greisin gealtert, deren Lebenserwartung nur noch wenige Stunden, höchstens Tage betragen konnte.

Nun hatte sich ihre Haut wieder geglättet, ihr grau gewordenes Haar, soweit es nicht verbrannt war, wieder schwarz gefärbt. Es schien, als wäre sie kaum zwanzig Jahre alt. So, wie sie immer ausgesehen hatte. In Wahrheit jedoch waren es dreihundertzweiundneunzig Jahre, wie sie Torian verraten hatte.

»Deine Haut«, murmelte er fassungslos. »Wie –«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, hastig, fast erschrocken. Unsicherheit schlich sich in ihre gerade noch so feste Stimme. »Es muß etwas mit dem Tor zu tun haben, aber wie es nun geschehen ist –« Sie brach ab und machte eine hilflose Handbewegung. »Es betrifft übrigens nicht nur mich. Eure Wunden sind verheilt. Sehr viel schneller als normal«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

Torian nickte. Auf der Flucht aus Moran-Dur hatte er Verletzungen und Brandblasen davongetragen, die unter normalen Umständen Wochen zum Heilen benötigt hätten. Jetzt waren nur noch ein paar kleine Narben zurückgeblieben. Es war verwirrend. Es machte ihm Angst, wie alles an diesem Ort. »Wo sind wir hier?«

»In einem Stollen«, antwortete Garth.

»Ach ja?« gab Torian ärgerlich zurück. »Bei dir ist die Heilung ganz offensichtlich zu Lasten des Gehirns gegangen.« Er funkelte Garth an und wurde übergangslos wieder ernst. »Habt ihr euch im Stollen wenigstens ein bißchen umgesehen, während ich bewußtlos war?«

»Nein.« Shyleen schüttelte den Kopf. »Solange wir nicht wissen, wo wir sind und was uns hier erwartet, sollten wir zusammenbleiben.« Sie deutete in die Dunkelheit des Stollens hinein. »Es gibt sowieso nur diese Richtung, in die wir gehen können. Das Tor ist zusammengebrochen, kaum daß es dich freigegeben hat.«

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Torian. »Wenn dies wirklich der Weg zum Tempel der verbotenen Träume ist, dann wird er auch bewacht. Zumindest in diesem Punkt glaube ich Kelysar aufs Wort. Dieses Rattenloch ist wie geschaffen für eine Falle.«

»Dieses Risiko müssen wir wohl eingehen. Du kannst natürlich auch hier sitzenbleiben und warten, bis du verhungert bist – oder verdurstet.« Garth stand auf. »Mir wäre wohler, wenn ich wenigstens eine Waffe hätte.«

»Mir auch«, stimmte Torian zu. Er trat an das zerfallene Skelett Kelysars. Dicht neben dem Schädel des Magiers lag noch der silberne Dolch, mit dem Shyleen ihn getötet hatte. Torian hob ihn auf und steckte ihn in den Gürtel. Der kaum handlange Dolch würde ihnen nicht viel nutzen, wenn es zu einem Kampf kommen sollte, aber er war besser als gar keine Waffe. Auch wenn er ihm nur das Gefühl gab, sich wehren zu können. »Gehen wir«, entschied Torian.

Vorsichtig drangen sie in den Stollen vor. Er war breit genug, um nebeneinander gehen zu können, trotzdem verzichteten sie darauf und hielten sich gestaffelt hintereinander. Torian bezweifelte allerdings, daß ihnen dies irgend etwas nutzte – wenn es hier Fallen gab, dann bestimmt keine, die so simpel zu durchschauen waren. Es genügte ja, dachte er zynisch, wenn der erste sie zu spüren bekam.

Am liebsten hätte er Shyleen gebeten, ihm den Platz an der Spitze zu überlassen, aber er wußte, daß das sinnlos gewesen wäre. Shyleen hatte oft genug gezeigt, was sie davon hielt, wenn er sich als Beschützer aufzuspielen versuchte – nämlich nichts. Dies war sicherlich nicht die passende Gelegenheit, mit ihr über ein Rollenverhalten zu streiten, das weniger seiner Überzeugung, als vielmehr seiner Erziehung entsprang. Außerdem hatte sie mehr als einmal bewiesen, daß sie sich ihrer Haut ebenso gut zu wehren verstand, wie er. Vielleicht sogar ein bißchen besser. Schließlich hatte sie einige Jahrhunderte Zeit zum Üben gehabt. Torian fragte sich, ob sie mit ihrer Jugend wohl auch ihre magischen Kräfte zurückbekommen hatte.

Nervös spielte er mit dem Dolch. Sein Unbehagen steigerte sich mit jedem Schritt. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sie nicht allein waren, sondern aus dem Dunkel heraus beobachtet wurden. Immer wieder glaubte er, aus den Augenwinkeln rasche huschende Bewegungen wahrzunehmen, aber jedesmal, wenn er den Kopf wandte und genauer hinsah, entdeckte er nur ihre eigenen, vom flackernden Licht der Fackeln herrührenden Schatten. Abgesehen vom Geräusch ihrer Schritte und ihren leisen Atemzügen war es totenstill. Torian fragte sich, wie tief sie unter der Erde sein mochten. Wie weit es bis zum Ausgang war und ob es überhaupt einen Ausgang gab. Vielleicht hörte dieser Stollen nach weiteren zehn Schritten oder auch zehn Meilen einfach auf; nichts als ein gewaltiges Wurmloch im Stein, ohne Ein- oder Ausgang. Das wäre doch endlich einmal eine originelle Falle, dachte er sarkastisch.

Trotzdem ließ seine Wachsamkeit nicht nach, auch wenn bisher nichts auf eine wie auch immer geartete Gefahr hindeutete. Der Stollen hätte Teil eines ganz normalen, seit langem stillgelegten Bergwerks sein können, wären nicht die sinnverwirrenden Winkel und Kanten gewesen, die deutlich zeigten, daß die Konstrukteure dieser Anlage keine Menschen gewesen waren. Kelysar hatte einen großen Teil seines Lebens der Suche nach dem Tempel der verbotenen Träume gewidmet und war trotz seiner magischen Kräfte schon beim ersten Versuch gescheitert. Er hatte ungeheure Anstrengungen unternommen, um Torian zu zwingen, diese Aufgabe für ihn zu erfüllen, und das bestimmt nicht, weil der Weg zum Tempel nur ein harmloser Spaziergang war und er sich allein so einsam fühlte. Was mochte einen Mann von einer Macht, wie Kelysar sie gehabt hatte, aufhalten können? dachte Torian schaudernd.

Shyleen blieb so plötzlich stehen, daß er fast gegen sie geprallt wäre. »Ihr wolltet doch unbedingt Waffen«, flüsterte sie.

Überrascht starrte Torian auf das, was vor ihnen lag: eine Ansammlung von mehr als zwei Dutzend Schwertern, Äxten und anderen Waffen, die wie achtlos liegengelassen vor ihnen auf dem Boden lagen. Mißtrauisch ließ er seinen Blick weiter durch den Stollen wandern, doch alles, was mehr als ein paar Schritte entfernt lag, verlor sich in undurchdringlicher Dunkelheit.

»Ich hätte nicht gedacht, daß unsere Wünsche so prompt erfüllt werden«, bemerkte Garth unsicher.

Torian hielt den Dieb zurück, als dieser an ihm vorbeigehen wollte. »Das gefällt mir nicht«, murmelte er. »Die Waffen hat bestimmt niemand als freundliche Gabe an uns hier hingelegt. Das riecht förmlich nach einer Falle.«

»Der ich aber mit einem Schwert in der Hand wesentlich lieber entgegentrete«, versetzte Garth schnell und auf seine gewohnt flapsige Weise. Aber seine Stimme klang eine Spur zu unsicher, um den Spott darin glaubhaft zu machen.

Torian schüttelte bedächtig den Kopf. »Den ursprünglichen Besitzern haben die Waffen auch nicht viel genutzt.« Vorsichtig trat er näher und betrachtete sie genauer, hütete sich aber, sie zu berühren. Erst jetzt wurde er gewahr, daß es sich nicht nur um Schwerter und Äxte handelte, sondern auch um Gegenstände, die er nie zuvor gesehen hatte. Einige schienen noch recht neu zu sein, andere mußten schon sehr lange hier liegen. Das Metall war stumpf und blind geworden.

»Sieht so aus, als wären wir nicht die ersten, die es bis hierher geschafft haben«, stellte Shyleen fest. »Torian hat recht. Die Waffen scheinen ihnen nicht viel genutzt zu haben. Und was oder wer immer sie überfallen hat, hatte offenbar kein Interesse daran gehabt.«

Wieder lauschten sie einige Sekunden, doch abgesehen von ihren eigenen Atemzügen herrschte nach wie vor Totenstille. Garth zuckte die Achseln und bückte sich nach einer Streitaxt. Nichts geschah, als er die Waffe berührte. Nach kurzem Zögern bedienten sich auch Torian und Shyleen. Torian entschied sich für ein beidseitig geschliffenes Schwert, das zwar nicht optimal ausgewogen war, aber recht gut in der Hand lag. Er ließ es ein paarmal durch die Luft zischen und nickte einigermaßen zufrieden. Nicht gut, aber akzeptabel.

Mit einem letzten unbehaglichen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren, ging er weiter, noch vorsichtiger als zuvor. Aber es erfolgte kein Angriff. Der wahre Feind, begriff Torian, waren ihre eigenen Ängste, welche die Realität um eine winzige Nuance in den Bereich des Geisterhaften verschob, ins Reich der Schatten und Alpträume.

Und dann wurde es dunkel, warnungslos und von einem Augenblick auf den anderen. Um sie herum herrschte plötzlich Finsternis, eine tiefe, lastende Schwärze, in der etwas Erstickendes zu sein schien. Torian fuhr erschrocken zusammen. Im ersten Moment glaubte er, ihre Fackeln wären erloschen, aber das stimmte nicht. Sie brannten noch, allerdings sehr viel schwächer als bisher, als ob etwas den Flammen die Kraft entzog. Die Wände um sie herum schienen verschwunden zu sein, einer so gewaltigen Höhle Platz gemacht zu haben, daß die Fackeln nicht ausreichten, sie zu erhellen. Dann senkte Torian den Blick und entdeckte, daß er auch den Boden nicht mehr sehen konnte. Er spürte den harten, völlig ebenen Grund weiter unter den Füßen, doch war das Gestein ebenso wie das der Wände und der Decke so finster, daß es das Licht zu verschlingen schien. Es gab nicht den kleinsten Reflex.

Zögernd ging Torian weiter. Obwohl Shyleen kaum einen Schritt von ihm entfernt stand, sah er sie nur noch schemenhaft. Etwas wie ein diffuser finsterer Nebel umgab ihre Gestalt und verlieh ihr ein unwirkliches Aussehen, als wäre sie selbst nur ein Gespenst aus grauen Schwaden.

Aber es war nicht nur das Licht; ganz und gar nicht. Da war noch etwas. Torian spürte deutlich die Anwesenheit von etwas unsagbar Fremdem. Inmitten des Nebels um sie herum trieb etwas, ohne daß er es zu definieren vermochte. Die Dunkelheit schien sich in ständiger, ungreifbarer Bewegung zu befinden, als wohne ihr ein unheimliches Eigenleben inne. Als er noch einmal zu Boden blickte, glaubte er dicht vor seinen Füßen etwas wie eine pechschwarze Wurzel zu erkennen. Er blinzelte, und die vermeintliche Wurzel verwandelte sich in etwas, das wie ein Nest aus unzähligen schleimig glänzenden Schlangen aussah, zu einem unentwirrbaren Knäuel ineinander verschlungen. Mit einem Keuchen prallte Torian zurück, und die widerliche Masse verschwand. Nichts weiter als ein neuerliches Trugbild, wie alles hier.

Er schaute sich nach Shyleen und Garth um, konnte sie aber nirgendwo erkennen. Rauchige Schattenarme schienen im Schutz des Nebels auf ihn zuzugleiten, und plötzlich war er sich fast sicher, daß es sich keineswegs nur um Einbildung handelte. Etwas Massiges, Großes verbarg sich hinter den tanzenden Schwaden. Aber er wußte noch nicht, was.

Etwas berührte ihn an der Schulter, ganz leicht nur und tastend, kaum wahrnehmbar.

Torian fuhr herum. Er sah nichts, aber er spürte immer deutlicher, daß irgend etwas da war. Die Dunkelheit war nicht leer. Sie war ein Versteck. Vielleicht war sie die Gefahr selbst. Vielleicht war sie keine Dunkelheit, sondern etwas anderes, Lebendes, Böses...

»Verdammt, was soll das?« sagte Garth hinter ihm. Torian drehte sich um. Ein schwacher Lichtpunkt, kaum mehr als ein flackerndes Glimmen, alles, was von Garth’ Fackel geblieben war, schälte sich vor ihm aus der Dunkelheit. Die Flamme brannte noch weiter, aber sie spendete kaum noch Licht, als fresse etwas die Helligkeit. Trotzdem – gegen ihren matten Schein nahm Torian plötzlich eine schattenhafte Bewegung wahr.

Es war wirklich kaum mehr als ein Schatten, ein dünnes, nicht einmal armstarkes Ding, das von der Decke herabhing und sich geschmeidig wie ein Tentakel auf ihn zubewegte, aber dicht vor ihm wieder zurückwich. Als Torian nach oben sah, erblickte er eine kleine, nur handtellergroße Fläche normalen Felsgesteins inmitten der lichtschluckenden Schwärze.

Aber das war nur der erste Eindruck, und er hielt auch nur eine Sekunde an. Was er für Fels gehalten hatte, war keiner.

Und im gleichen Augenblick begriff er, in welch eine hinterhältige Falle sie getappt waren!

Er schrie auf und taumelte wie unter einem Hieb zurück. »Weg hier!« brüllte er mit überschnappender Stimme. Der unsichtbare Fels rings um ihn herum warf seine Worte verzerrt zurück und ließ sie zu monotonem Hohngelächter zersplittern. Er taumelte los. Torian kam nicht einmal drei Schritte weit. Die Finsternis um ihn herum erwachte zu schrecklichem, peitschendem Leben. Der Boden unter seinen Füßen verwandelte sich, wurde zu einem Ding, das sich wie ein hauchdünner dunkler Film über den Boden, die Wände und sogar die Decke gebreitet hatte, einem Wald zuckender, peitschender Wurzelfäden, wie kleine gierige Schlangen. Der gerade noch harte Untergrund, den er fälschlicherweise für Stein gehalten hatte, wurde von einem Augenblick zum anderen zu einer zähflüssigen, sirupartigen Masse, die nach seinen Stiefeln griff und sich langsam an seinen Beinen höher tastete, einem Gewirr schwarzer und grauer, widerhakenbesetzter Pflanzenstengel, jeder einzelne von widerlichem, pulsierendem Eigenleben erfüllt.

Torian schrie, sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und schlug blindlings mit dem Schwert um sich. Er traf – ein lianenartiges, schwarzes Ding mit gebogenen Dornen und kleinen, schnappenden Mündern, das zerschnitten zu Boden fiel und in der ungeheuerlichen Pflanzenmasse verschwand. Aber es war nur eines von unzähligen, die wie ein ganzer Wald schwarzer Schlangen vor ihm emporwuchsen. Das flackernde Licht der Fackeln verlieh dem wogenden Licht der Pflanzenmasse zusätzlich etwas Unheimliches, ließ ihre Bewegungen abgehackter und noch widernatürlicher erscheinen, als sie ohnehin waren.

Ein harter Schlag traf Torian zwischen die Schulterblätter und ließ ihn nach vorne stolpern. Mit Mühe konnte er einen Sturz verhindern und sprang zurück. Etwas wickelte sich um seine Taille und begann sich zusammenzuziehen, Tausende winziger nadelspitzer Dornen bohrten sich in seine Haut. Torian zerschnitt den Pflanzenstengel und hieb verzweifelt weiter um sich. Hinter ihm gellte ein entsetzter Schrei auf. Torian fuhr herum, duckte sich unter einer peitschenden schwarzen Wurzel hindurch und schlug nach einer anderen, die nach seinen Beinen griff. Dann hatte er Garth erreicht.

»Hau ab!« schrie Garth mit überschnappender Stimme. »Rette dich!« Er war zu Boden gegangen und bereits bis zu den Hüften von der wogenden schwarzen Masse verschlungen. Und trotz seiner verzweifelten Gegenwehr wanden sich immer mehr die züngelnden Schlangenarme um seinen Körper. Ein Strang glitt über sein Gesicht und tastete nach seinen Augen. Garth riß ihn ab. Wo die Wurzel seine Stirn berührt hatte, blieb eine Reihe kleiner, blutiger Wunden zurück; wie Nadelstiche.

Torian packte das Schwert mit beiden Händen und ließ es mit aller Kraft niedersausen. Sein Hieb durchtrennte ein halbes Dutzend Fangarme, die Garth hielten. Er schlug sofort noch einmal zu, und noch einmal, wieder und wieder und immer wieder, und er hörte auch nicht auf, als er Garth längst befreit hatte.

»Danke!« keuchte Garth. Er hieb mit der Axt nach einem Tentakel, der von oben auf ihn herabstieß. In der gleichen Bewegung schwang er die Fackel gegen einen weiteren Fangarm, der blitzschnell zurückzuckte.

Auch Torian schlug blindlings um sich. So dicht, daß sie fast schon wie eine massive Mauer aussah, wuchs die Wurzelmasse vor ihnen in die Höhe und versperrte ihnen den Fluchtweg. Für einen Moment drohte Panik Torian zu übermannen, als ihm klar wurde, daß sie eingeschlossen waren. Torian dachte in diesem Moment nicht mehr – er handelte einfach, blind, seinen Instinkten gehorchend, und einem verzweifelten Plan, der seinem Unterbewußtsein entsprang und den Umweg über sein Denken erst gar nicht machte.

»Springt!« schrie er, stieß sich gleichzeitig mit aller Kraft vom Boden ab — und sprang mitten in die peitschende Pflanzenmasse hinein! Wie rasend hieb er mit dem Schwert um sich.

Und das schier Unmögliche gelang! Dicht neben Garth kam er auf, wurde von seinem eigenen Schwung weiter nach vorne geschleudert und rollte sich ungeschickt ab. Sekundenlang blieb er liegen und rang nach Luft, schwindelnd vor Anstrengung, dann riß ihn Garth auf die Beine und versetzte ihm einen Stoß, der ihn weiter vorwärts taumeln ließ.

»Shyleen«, keuchte Torian. »Wo ist Shyleen?«

Statt einer Antwort versetzte ihm Garth einen weiteren Stoß. Sie rannten den Stollen entlang, bis sie nach einigen Dutzend Metern eine große Höhle erreichten. Torian lief noch ein paar Schritte weiter, bevor er schweratmend stehenblieb. Im Stollen hinter ihnen war nichts zu entdecken, das formlose Ding folgte ihnen offensichtlich nicht, sondern gab sich zumindest für den Augenblick mit seinem Opfer zufrieden.

Erst als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war und sich genauer umsah, begriff Torian, daß die Höhlenwände nicht leer waren.

Garth stieß ein ersticktes Krächzen aus, doch Torian nahm es kaum wahr. Fassungslos starrte er auf die zahllosen nischenartigen Vertiefungen, die wie riesige leere Augenhöhlen in den Felsen gähnten. Dann, als er genauer hinsah, erkannte er seinen Irrtum: Der allergrößte Teil der Nischen war nicht leer – aber im ersten Moment weigerte er sich fast, zu glauben, was sich ihm da darbot. Langsam, wie gegen einen unsichtbaren zähen Widerstand ankämpfend, trat er näher, immer noch hoffend, daß der flackernde Schein der Fackeln und das dämmerige Licht, das durch kleine Öffnungen in der Decke hereinfiel, seinen Augen einen Streich gespielt hatten.

Aber es war keine Täuschung.

In den Vertiefungen standen Tote, säuberlich aufgereiht wie Statuen, eine neben der anderen, eine endlose Reihe bleicher, erstarrter Gesichter mit toten Augen, die Garth und ihn blicklos anglotzten. Es mußten Hunderte sein, und nur bei den wenigsten handelte es sich um Menschen, oder auch nur menschenähnliche Wesen. Es gab insektenartige Kadaver mit Körperpanzern aus Chitin, andere besaßen ein Federkleid wie absurd große, humanoide Vögel, und gewaltige Schwingen, wieder andere dichtes Fell. Einige waren Kreaturen, die ganz aus glasartigem Kristall zu bestehen schienen, etwas sah aus wie eine riesige Larve, daneben befand sich ein Wurm mit überraschend geschickt aussehenden Händen und großen, klugen Augen, und darüber hinaus waren unzählige Lebensformen zu erkennen, die sich mit nichts mehr vergleichen ließen, was Torian je gesehen hatte. Nur eines hatten all die Geschöpfe gemeinsam: den Ausdruck namenlosen Entsetzens, der sich im Augenblick ihres Todes in ihre Gesichter eingegraben hatte. Und keiner von ihnen war verwest, dachte Torian schaudernd. Es war, als hätte hier zwar nicht der Tod, wohl aber der Zerfall seine Macht verloren.

Erst als er dicht an die Nischen herangetreten war, entdeckte Torian den hauchdünnen, durchsichtigen Film, der sich über die Leichen spannte, wie eine zweite, durchsichtige Haut, die jeden Zoll ihrer Körper bedeckte und sie vermutlich luftdicht konservierte.

Mit wachsendem Entsetzen lief Torian an der Phalanx der Toten entlang. Schließlich entdeckte er wieder einige Gestalten, die unzweifelhaft Menschen waren: vier Männer und eine Frau. Sie waren in fremdartige Gewänder gehüllt, und auch in ihren Gesichtern war fassungsloses Grauen eingefroren.

»Sag mir, daß ich träume«, flüsterte Garth hinter ihm. Sein Gesicht sah grau und ungesund aus; wächsern. Seine Lippen zitterten. Sein Blick flackerte unstet. »Was sind das für Kreaturen?«

»Wahrscheinlich die Besitzer der Waffen, die wir gefunden haben. Jetzt wissen wir, was aus ihnen geworden ist«, murmelte Torian. Er dachte daran, in welchem Zustand sich einige der Waffen befunden hatten, und versuchte sich vorzustellen, wie lange die Toten schon hier stehen mußten. Das Ergebnis ließ ihn schaudern.

Einige der menschenähnlichen Wesen waren ihm nicht unbekannt. Er hatte sie schon einmal gesehen, wenn auch nur in einer Vision auf dem Weg zur Schattenburg. Sie gehörten einem Volk an, das vor langer Zeit nach Caracon gekommen war. Die meisten von ihnen waren in der Staubwüste gestorben. Die meisten, aber nicht alle, wie ihr Hiersein bewies.

Ihr Götter! dachte Torian beklommen, das war vor mehr als zehntausend Jahren!

»Was ... was ist das hier?« stammelte Garth. »Welchen Sinn hat dieses ... dieses Museum? Wer hat es eingerichtet? Warum?!« Als Torian ratlos die Achseln zuckte, fügte er hinzu: »Und warum hat man die Waffen einfach liegengelassen?«

»Vielleicht als Warnung«, vermutete Torian.

Garth sah sich demonstrativ um. »Es scheinen nicht viele die Warnung beachtet zu haben.«

Torian schwieg. Sein Herz schlug schwer und hart und sehr langsam, er fühlte sich benommen, auf sonderbar unkörperliche Weise gelähmt, als wäre der Tod nun auch in Person hinter sie getreten und hätte mit eisigen Knochenfingern etwas in seiner Seele berührt.

»Wir müssen nachsehen, wo Shyleen geblieben ist«, drängte Garth.

»Ich glaube kaum, daß wir ihr helfen können«, erwiderte Torian leise. Er erschrak selbst über die Kälte und Gefühllosigkeit, mit der er über Shyleens Tod sprach; oder einem Schicksal, das noch schlimmer war. Aber er fühlte weder Trauer noch Schmerz. In seinen Gedanken war nur Leere. Er stand immer noch unter dem Schock dessen, was er beim Durchschreiten des Tores erlebt hatte. Es war, als hätte er etwas von dem, was sein Menschsein ausgemacht hatte, in dem kalten stillen Reich zwischen Leben und Tod zurückgelassen.

Er verscheuchte den Gedanken.

»Kelysar hat uns gewarnt, der Wächter des Tores würde ein Opfer fordern«, fuhr er fort. »Ich dachte, es ... es hätte etwas mit mir zu tun. Damit, daß ich fast in dem Tor geblieben wäre, oder Kelysar selbst wäre das Opfer gewesen. Ich fürchte, ich verstehe erst jetzt, was er wirklich gemeint hat.«

Garth schloß stöhnend die Augen. Für einen Moment stand er reglos da, die Hände zu Fäusten geballt und jeden einzelnen Muskel seines mächtigen Körpers bis zum Zerreißen gespannt. »Ich verstehe. Er hätte einen von uns vorgeschickt. Während dieses Monstrum sein Opfer hierher gebracht hätte, wäre der Stollen frei gewesen. Aber das bedeutet...« Er brach ab und fuhr herum.

Torian hörte das Geräusch im selben Augenblick. Es war ein leises Rascheln, wie von hornigen Schuppen, die gegeneinanderrieben, ein Kratzen und Scharren wie von winzigen, krallenbewehrten Füßen. Gebannt starrte er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Es sah aus, als dringe eine Wolke lebendig gewordener Finsternis aus dem Gang. Die gestaltlose Kreatur, die ihnen aufgelauert hatte, erschien ihnen jetzt in einer humanoiden Form, die grausame Verhöhnung eines menschlichen Lebens. Auch jetzt noch war sie eine tentakelbewehrte Scheußlichkeit, riesig, fast drei Meter groß, ohne wirklichen Körper, sondern aus Tausenden und Abertausenden einzelner, dünner Wurzelfäden gewoben. Es war die Karikatur eines ins Absurde verzerrten Menschen, ganz offensichtlich ihrem letzten Opfer nachempfunden.

Shyleen.

Mit hocherhobenem Kopf ging sie dicht neben der unglaublichen Kreatur. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, ihr Blick war kalt, leblos. Ihre Augen erinnerten an gläserne Kugeln, in denen nie Leben gewesen war. Sie bewegte sich wie in Trance, mit den langsamen, mechanisch wirkenden Schritten eines Menschen, der seinen eigenen Willen verloren hatte.

Aber sie war noch am Leben.

Torian riß seinen Blick mühsam von ihr los und betrachtete wieder die Kreatur an ihrer Seite. Seine Finger schlössen sich fester um den Griff des Schwertes, doch obwohl er und Garth deutlich sichtbar vor der Felswand standen, schien das Alptraumgeschöpf sie nicht einmal wahrzunehmen. Und wenn doch, so kümmerte es sich nicht um sie.

»Es sieht uns nicht«, flüsterte Garth. Die Kreatur wandte ihr groteskes Gesicht in seine Richtung. Das Peitschen ihrer dünnen, pflanzlichen Arme wurde unruhiger, schneller.

Torian warf Garth, dem Dieb, einen raschen, warnenden Blick zu. Vielleicht hatte er recht – aber dafür schien die Kreatur über ein umso schärferes Gehör zu verfügen. So leise wie möglich glitt er einige Schritte zur Seite, den Blick unverwandt auf das ohne Hast näherkommende Ungeheuer gerichtet, statt auf den Boden zu achten. Und diese Unaufmerksamkeit rächte sich sofort. Er stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, der zur Seite kollerte. Torian fluchte lautlos, doch seine Wut schlug gleich darauf in Überraschung um, als er sah, daß das bizarre Monstrum nicht im geringsten reagierte. Unbeirrt setzte es seinen Weg fort.

»Es hat uns gar nicht gehört«, murmelte er. »Es will nur an die Nischen.«

»Ja, um seine Sammlung zu vergrößern«, erwiderte Garth bitter. »Um Shyleen.«

Torian wich ganz langsam weiter vor dem Ungeheuer zurück. Wahrscheinlich, dachte er, besaß diese Kreatur nicht einmal wirkliche Sinnesorgane. Sie reagierte einfach auf Berührung, ein simpler, aber tödlicher Mechanismus, der es zu einem fast unüberwindlichen Wächter machte. Vielleicht lebte es nicht einmal im wirklichen Sinne des Wortes. Es existierte, aber es war nicht einmal ein Es, sondern nur ein Etwas, ein Ding, dessen einziger Daseinszweck das Töten war.

Vorsichtig näherte er sich dem Monster wieder. Es reagierte nicht einmal, als er sich ihm bis auf Armeslänge genähert hatte. Willenlos trat Shyleen in eine der freien Nischen und drehte sich herum. Ihr Gesicht war leer.

Im gleichen Moment veränderte sich die Kreatur. Sie ähnelte plötzlich kaum noch einem Menschen, verlor ihre feste Form und verwandelte sich in ein wogendes, gestaltloses Etwas. Nur im Zentrum der zitternden Masse, ungefähr dort, wo bei einem Menschen das Herz schlug, entdeckte Torian ein dunkles, kaum kopfgroßes Etwas, das auch jetzt noch aus nichts als kompakter Schwärze zu bestehen schien.

»Was bedeutet das?« fragte er ratlos. Garth antwortete nicht.

Das Unwesen berührte Shyleen mit einem seiner zahllosen Pflanzenarme am Kopf und glitt beinahe sanft über ihr Gesicht. Wo der dünne schwarze Strang ihre Haut berührte, blieb ein feiner, kaum sichtbarer Film zurück, glitzernd und klebrig, wie die schreckliche Haut, welche die anderen Toten umhüllte. Torians Herz machte einen schmerzhaften Sprung.

»Torian!« brüllte Garth mit überschnappender Stimme. »Tu etwas!«


Shyleen war bereits bis zu den Hüften von der durchsichtigen Masse eingehüllt, als Torian ihre vielleicht einzige Chance erkannte. Blitzartig riß er den Dolch aus dem Gürtel, zielte kurz und schleuderte ihn dann mit aller Kraft. Mühelos drang der Dolch in die wirbelnde Masse ein und traf das schwarze, herzähnliche Etwas.

Ein unerträglich hoher Schrei drang an Torians Ohren. Das Ungeheuer bäumte sich auf, fuhr mit einer erstaunlich raschen Bewegung herum und griff mit einem Dutzend Armen, die eine halbe Sekunde zuvor noch nicht dagewesen waren, gleichzeitig nach ihm. Torian duckte sich zur Seite, schlug blindlings mit dem Schwert zu und packte im selben Moment Shyleen. Verzweifelt riß er sie aus der Felsnische heraus und damit aus der Reichweite des tobenden Monstrums. Sie wehrte sich nicht gegen ihn, sondern blieb weiterhin völlig apathisch.

Das Ungeheuer leider nicht.

Torians Dolch hatte das finstere Zentrum in seiner Mitte getroffen, aber es war keineswegs tot, sondern raste vor Schmerz und Wut. Dutzende von dünnen Fühlern tasteten nach Torian und Shyleen, immer mehr und schneller, als er sie zerschneiden konnte, denn er wurde zusätzlich durch Shyleen behindert, die wie in Trance neben ihm herstolperte. Garth sprang mit einem wütenden Schrei neben ihn und schwang seine Axt.

Wahrscheinlich war es pures Glück, das sie rettete.

Die Klinge der riesigen Streitaxt traf das pulsierende Herz des Ungeheuers, ebenso zielsicher wie Torians Dolch zuvor, aber mit ungleich größerer Wucht. Die Kreatur schrie erneut auf, ein gräßlicher Laut, der Torians Schädel zum Zerbersten zu bringen schien. Sie taumelte zurück. Plötzlich wurde aus den wütenden Hieben ihrer zahllosen Arme ein zielloses Peitschen, als sie in irrsinniger Wut in die Luft schlug. Dann, taumelnd und sehr langsam, sackte sie zu Boden.

Im gleichen Moment erwachte Shyleen aus ihrer Trance. Sie sackte in Torians Armen zusammen, konnte aber das Gleichgewicht halten. Einen Herzschlag lang sah sie sich verwirrt um, dann verzerrte sich ihr Gesicht vor Schrecken; sie begann gellend zu schreien. Blindlings schlug und trat sie um sich, dann zuckte ihre Hand hoch. Die Finger waren wie Klauen gekrümmt.

Torian schlug ihr zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihre Gegenwehr erlosch. Erst jetzt kam Shyleen zur Besinnung und erkannte ihn. Sie schluchzte und klammerte sich hilfesuchend an ihn. Diese Reaktion überraschte Torian fast noch mehr, als ihr Angriff zuvor. Es war das erste Mal, daß er so etwas wie ein menschliches Gefühl an ihr entdeckte.

Eine Sekunde später schämte er sich fast für seine eigenen Gedanken. Shyleen mußte Entsetzliches durchgemacht haben, und plötzlich sah Torian sie mit anderen Augen. Durch ihr Verhalten hatte sie ihn beinahe vergessen lassen, daß sie mehr war als nur irgendein Mensch, mit dem er zufällig in den letzten Wochen zusammen gereist war, und auch nicht nur ein Kampfgefährte. Er sah sie plötzlich als die Frau, die sie war, wenn sie sich auch durch ihre Unnahbarkeit alle Mühe gab, dies völlig in den Hintergrund treten zu lassen. Sie haßte alle Schwäche und hatte in den vergangenen Wochen mehr Stärke gezeigt, als die meisten Männer, die Torian kennengelernt hatte und die sich für besonders hart hielten. Aber sie hatte diese Härte auch gegen sich selbst gezeigt, und es war abzusehen gewesen, daß ihre Nerven irgendwann versagen würden. Stärke war nicht immer nur von Vorteil. Diese Gedanken schössen ihm in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf. Nicht weil sie eine Frau war und seine Beschützerinstinkte weckte, sondern weil sie als Mensch seine Hilfe brauchte, hob er den Arm, um ihn ihr um die Schultern zu legen, führte diese Bewegung aber nicht zu Ende.

Garth’ Schrei ließ ihn herumfahren.

Das Ungeheuer war zu Boden gestürzt, aber nicht einmal Garth’ mit aller Gewalt geführter Axthieb hatte es wirklich vernichtet. Torian beobachtete ungläubig, wie sich das finstere Etwas in seinem Zentrum neu formte: Es war fast in zwei Hälften gespalten, aber er sah jetzt, daß auch dieses Herz-Gehirn-Nervenzentrum oder was immer es sein mochte kein wirklicher Körper war, sondern auch seinerseits wieder aus Millionen und Abermillionen einzelner dünner Fäden bestand, wie mikroskopisch feine Nerven, die sich zu einem monströsen Etwas zusammengeschlossen hatten. Garth’ Axthieb hatte einige Hunderte oder auch Tausende davon zertrennt, aber der Rest begann emsig aufeinanderzuzukriechen; es sah aus wie zwei Bündel schwarzer Haare, die in einem unfühlbaren Wind wogten und sich dabei mehr und mehr ineinander verhedderten.

»Verschwinden wir lieber von hier, bevor das Ding aufsteht und sein Frühstück sucht«, drängte er. Der Klang seiner Stimme machte die bewußt scherzhafte Wahl seiner Worte zunichte, und auch Garth rang sich nur ein gequältes Lächeln ab, ehe er zustimmend nickte und sich nach seiner Axt bückte.

Torian behielt sein Schwert in der Hand, als sie zum Ende der Höhle gingen, und sah sich noch einmal mißtrauisch um, bevor er den anderen durch das doppelt mannshohe Loch in der Felswand folgte. Sie waren jetzt zu weit von dem Pflanzenungeheuer entfernt, als daß er es deutlicher denn als amorphe wogende Masse erkennen konnte; aber die Regeneration schien nicht ganz so schnell zu gehen, wie im ersten Moment zu befürchten war. Trotzdem hatte er das sichere Gefühl, daß es besser war, sich möglichst weit weg von diesem Ort zu befinden, wenn das Ungeheuer wieder völlig erwacht war. Er hatte keine Ahnung, ob dieses Ding so etwas wie Rachegefühle kannte – aber er hatte auch keine Lust, es herauszufinden. So, wie es aussah, dachte er, waren sie hier auf einen Gegner gestoßen, den sie mit ihren Waffen nicht besiegen konnten. Vielleicht konnte man es nicht töten.

Er verscheuchte den Gedanken und beeilte sich, den anderen zu folgen. Sie gelangten in einen Stollen, der sich in nichts von dem unterschied, durch den sie gekommen waren, ein weiteres Loch im Berg, das ins Unbekannte führte; vielleicht in die Freiheit, vielleicht in eine weitere, noch hinterlistigere Falle. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Shyleen hatte sich wieder gefangen, aber sie wich seinem Blick aus, und Torian mußte seine Phantasie nicht besonders strapazieren, um nachzuempfinden, was in ihr vorging; zu der Gefahr, der sie im buchstäblich allerletzten Moment entronnen war, kam noch die Erniedrigung, als die sie die Tatsache empfinden mußte, sich vor Torian so gehengelassen zu haben. Sie würden darüber reden müssen; bald.

Schweigend drangen sie tiefer in die Dunkelheit des Ganges vor, alle drei von dem gleichen, mit Furcht gepaarten Unbehagen erfüllt. Diesmal beobachteten sie die Wände und die Decke genauer, prüften sorgsam den Boden vor jedem Schritt. Allein die Angst vor einer neuen Falle zerrte schon mehr an ihren Nerven, als es ein wirklicher Angriff vielleicht getan hätte. Torian überlegte, ob dies vielleicht schon die nächste Falle war – wenn es hier unten Pflanzen gab, die dachten, warum dann nicht auch Angst, die tötete?

Aber ihre Vorsicht erwies sich als unnötig. Bereits nach wenigen Minuten wurde es vor ihnen hell. Torian erkannte einen münzgroßen, unregelmäßigen Fleck irgendwo am Ende des Tunnels und ging unwillkürlich schneller, und auch Shyleen und Garth beschleunigten ihre Schritte, bis sie das Ende des Stollens erreicht hatten. Grelles Sonnenlicht ließ Torian die Augen zusammenkneifen, unwillkürlich hob er die freie Linke vor das Gesicht.

Als sich seine Augen schließlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, blickte er in ein Tal hinab, das von hoch aufragenden Bergen wie von einer Mauer umgeben war. Es war gewaltig, so groß, daß sich die hügelige Landschaft irgendwo in nebliger Ferne verlor, und vielleicht war es auch kein Tal, sondern das Vorland eines zyklopischen Gebirges. Über ihnen wölbte sich ein Himmel von schmutziggrauer Farbe, vor dem Wolken träge dahinzogen. Ein kühler, aber sanfter und nicht einmal unangenehmer Wind wehte ihnen entgegen. Er trug den Geruch von Gras und blühenden Blumen mit sich, der Torian nach der verbrauchten Luft im Stollen doppelt erfrischend erschien. Er atmete ein paarmal tief durch.

Sie standen fast am Fuß eines Berges, dessen Flanke hinter ihnen lotrecht in die Höhe ragte; so hoch, daß sie den Himmel zu berühren schien und Torian den Gipfel nur ahnen konnte, als er den Kopf in den Nacken legte. Wind und Regen hatten das Gestein nicht verwittern lassen, sondern es so glatt geschmirgelt, daß es wie poliert aussah. Torian mußte erneut an eine Mauer denken, und es war eine unangenehme Assoziation; er kam sich gefangen vor, eingesperrt. Nirgendwo in der Wand gab es Vertiefungen oder Vorsprünge. Die gigantische Felsplatte war einfach eine einzige ebene Fläche. Nur der Eingang zum Stollen klaffte darin. Aber es war nicht einfach nur ein Loch im Berg; Torian mußte an das aufgerissene Maul eines Untiers denken, in dessen unmittelbarer Nähe selbst das Gras verdorrt war. Es vermittelte den Eindruck, als ob sich ein Stück Nacht aus der unterirdischen Felswand ins Sonnenlicht herüberzuziehen versuchte, um ihnen zu folgen.

Torian runzelte die Stirn. Der Anblick erfüllte ihn mit Unbehagen, und er wandte den Blick rasch wieder ab. Was er auf der anderen Seite sah, war schon angenehmer.

Vor ihnen führte ein sanfter Abhang in das Tal hinunter. Nicht weit entfernt erstreckte sich ein ausgedehntes Waldstück; eine kompakte grüne Fläche auf die große Entfernung, deren bloße Farbe dem Auge wohltat. Ein Fluß schlängelte sich wie ein blaues, in sanften Windungen und Schleifen hingeworfenes Band durch das Tal und verschwand in der Ferne.

»Sieht ziemlich einladend aus«, kommentierte Shyleen. »Hier läßt es sich eine Weile aushaken.« Sie runzelte die Stirn und blickte erst Garth, dann Torian unsicher an. »Vielleicht ein bißchen zu einladend«, fügte sie hinzu, allerdings sehr leise und mehr zu sich gewandt.

Garth schnitt eine Grimasse und ignorierte ihren letzten Satz. »Wenn ich mal ein gemütliches Plätzchen fürs Alter suche, komme ich hierher zurück«, sagte er. »Vorausgesetzt, es gibt hier irgendwo ein paar reiche Händler, die ich beklauen kann.«

»Voraussetzung ist erstmal, daß wir hier überhaupt wieder herauskommen«, entgegnete Torian ärgerlich. Garth’ spöttische Art ging ihm auf die Nerven. Der für Humor zuständige Teil seines Bewußtseins war irgendwo in der Höhle zurückgeblieben. »Und zwar möglichst, nachdem wir den Tempel der verbotenen Träume gefunden haben.« Noch einmal ließ er seinen Blick durch das paradiesisch anmutende Tal schweifen. »Shyleen hat recht. Für meinen Geschmack sieht mir das alles schon eine Spur zu harmlos und idyllisch aus.«

»Miesmacher«, knurrte Garth. »Du hast eine wirklich reizende Art, einen aufzumuntern.«

»Ich denke nur realistisch. Der Weg zum Tempel soll mindestens ebenso mit Fallen gespickt sein, wie die Straße der Ungeheuer. Entweder hat uns das Tor ganz woanders hin geschleudert, oder diese Idylle ist ungefähr so echt wie dein Versprechen, gut auf einen Geldbeutel aufzupassen, den man dir anvertraut.«

Garth verzog beleidigt sein Gesicht. »Jetzt tust du mir Unrecht«, schmollte er. »Ich schwöre bei der Unschuld meiner Mutter, daß mir noch nie etwas gestohlen worden ist.«

»Soll ich euch beiden vielleicht ein paar Bauklötzchen bringen?« fragte Shyleen scharf.

Garth grinste, sagte aber nichts mehr, sondern trat auf ein paar Büsche zu, die dicke rote Beeren trugen. Er pflückte eine Handvoll. »Ich weiß, sie könnten giftig sein«, kam er Torians Warnung zuvor. »Aber vergiftet werden geht schneller als verhungern.«

»Na wunderbar, ein Versuchskaninchen haben wir schon mal«, bemerkte Shyleen spöttisch. »Wenn du in einer halben Stunde noch nicht tot umgefallen bist, können wir es wohl auch wagen.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, erklärte der Dieb kauend. »Mein Magen verträgt nämlich einiges mehr als eurer, ihr halben Portionen.«

Er pflückte eine weitere Handvoll Beeren und stopfte sie der ersten hinterher, und Torian fügte hastig hinzu: »Außerdem sind in einer halben Stunde wahrscheinlich schon keine Beeren mehr da.«

Garth nickte. »Die Dinger schmecken gut.«

»Überredet«, seufzte Shyleen, und nach kurzem Zögern griff auch Torian zu. Er hatte das Gefühl, seit einer halben Ewigkeit nichts mehr gegessen zu haben, und sein Magen knurrte immer stärker. Die Beeren schmeckten wirklich; ein wenig säuerlich zwar, aber sie waren durchaus genießbar. Nicht weit entfernt entdeckten sie auch einen kleinen Bach, an dem sie ihren Durst stillen konnten.

Anschließend ließen sie sich ins Gras sinken, um zu rasten. Torian verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zu den Wolken hinauf. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, wo der Tempel der verbotenen Träume lag, mußten sich also blindlings auf die Suche machen. So riesig in seinen Ausmaßen, wie das Tal war, würden sie wahrscheinlich Wochen brauchen, es zu Fuß zu durchqueren. Und auch das nur, wenn sie nicht angegriffen oder aufgehalten wurden, überlegte er. Und immer vorausgesetzt, daß das Tor sie überhaupt an den richtigen Ort geschleudert hatte. Aber nach den Erlebnissen im Berg war er beinahe sicher, daß sie hier richtig waren.

Er hob den Kopf ein wenig. Das grüne Blätterdach des Waldes erschien ihm mit einem Mal wie ein undurchdringlicher Vorhang, der ihnen den Blick auf alles verwehrte, was darunter lag und möglicherweise nur darauf wartete, daß ein paar Narren der Kreatur im Stollen entkamen. Aber es würde sie mindestens zusätzliche vier oder fünf Tage kosten, den Wald zu umgehen.

»Woran denkst du?« drang Garth’ Stimme in seine Gedanken.

»Daran, was uns in diesem Tal noch alles erwartet«, antwortete er. »Und wie wir hier wieder herauskommen, falls es uns tatsächlich gelingt, den Tempel lebend zu erreichen.«

»Das wird sich dann schon finden.«

Torian schüttelte bedächtig den Kopf, riß einen Grashalm aus und kaute darauf herum. »Ich glaube nicht, daß es etwas zu finden gibt«, meinte er nach einer Weile. Er deutete in den wogenden Dunst, der das gegenüberliegende Ende des Tales verschlungen hatte. »Wenn die Berge dort nicht anders aussehen als hier, werden wir schon fliegen lernen müssen. Kelysar hatte recht. Man braucht Flügel, um auf normalem Wege herein oder hinaus zu kommen. Jemand hat sich ziemlich große Mühe gegeben, das Tal nach außen abzuschirmen.«

»Wer sagt dir, daß es ein Tal ist?« fragte Garth ruhig.

»Wovon sprecht ihr eigentlich?« mischte sich Shyleen ein.

»Davon, daß hier irgend etwas nicht stimmt«, antwortete To-rian. »Diese Berge sind ... unheimlich.« Es kommt mir beinahe vor, als hätte sie jemand gemacht, fügte er in Gedanken hinzu. Aber das sprach er lieber nicht laut aus.

Einige Sekunden herrschte Schweigen.

»Die Berge sehen nicht nur so aus«, fuhr er nach einer Weile fort. »Sie sind eine Mauer.«

»Vielleicht war das Tor der einzige Zugang«, fügte Garth düster hinzu. »Und genial, wie wir nun mal sind, haben wir es geschafft, es hinter uns zu schließen und den Schlüssel zu verlieren.« Seine Stimme nahm einen spöttischen Tonfall an. »Bei dem Glück, das wir in den letzten Wochen hatten, wäre es ja auch mal an der Zeit für ein bißchen Pech. Wir finden den Tempel der verbotenen Träume, lösen das Geheimnis des ewigen Lebens und bleiben für alle Zeit in diesem Tal gefangen. Wäre doch wunderbar, oder? Einfach wunderbar.«

»Ich finde das gar nicht komisch«, fauchte Shyleen. »Irgendwann sorge ich einmal dafür, daß dir die blöden Spaße ein für allemal vergehen.«

»Bei den Dämonen«, stieß der Dieb mit gespieltem Schrecken hervor. »Dann wäre ich ja arbeitslos.«

Torian hörte nicht länger hin. In letzter Zeit benahm sich Garth Shyleen gegenüber wie ein zu groß geratenes Kind. Die Liebe ließ eben selbst erwachsene Männer zu Narren werden, dabei hatte diese Liebe, die er ihr gegenüber insgeheim empfand, keinerlei Aussicht auf Erwiderung. Das Schlimmste war, daß er das genau wußte und seine wahren Gefühle hinter Spott und dummen Bemerkungen zu verbergen versuchte. Wahrscheinlich hatte auch Shyleen sein Verhalten längst durchschaut und gab sich ihm gegenüber deshalb besonders abweisend. Während ihrer Ausbildung zur Tempelpriesterin der Schwarzen Magier mußte man ihr irgendwann das Herz herausgeschnitten und es durch einen Kaktus ersetzt haben. Aber vielleicht lag es auch nicht an der Ausbildung, sondern einfach an ihrem Alter. Ihr hübscher, jugendlicher Körper täuschte leicht darüber hinweg, daß der Altersunterschied zu Garth die unbedeutende Kleinigkeit von mehr als dreihundertfünfzig Jahren betrug. Für sie war Garth ein Kind. Und Torian auch.

Torian seufzte. Als ob sie noch nicht genügend Probleme hätten!

Er stand auf, ging noch einmal zum Bach hinüber und trank einige Schlucke. »Gehen wir weiter«, schlug er vor, als er zurückkehrte. Er warf einen besorgten Blick zur Sonne hinauf, die den höchsten Punkt ihrer Bahn längst überschritten hatte und sich den Berggipfeln näherte. »Es wird bald dunkel, dann müssen wir ohnehin wieder rasten. Bis dahin sollten wir versuchen, den Wald zu erreichen.«

Niemand widersprach ihm. Und so machten sie sich umgehend an den Abstieg. Da es keinen Weg gab, nicht einmal einen Trampelpfad, dem sie folgen konnten, stapften sie einfach in direkter Linie durch das mehr als kniehohe Gras auf den Wald zu. Der Boden war uneben und ließ das Gehen schwer werden. Immer wieder stolperten sie über Erdbuckel oder blieben an Dornenranken hängen, die im Gras verborgen lagen. Nervös führte sich Torian vor Augen, daß auch Schlangen oder andere gefährliche Kleintiere unter der dichten Bewachsung lauern konnten. Er bedeutete Shyleen und Garth, hinter ihm zu bleiben, und stocherte vor jedem Schritt mit dem Schwert im Gras vor seinen Füßen. Eine Art der Fortbewegung, die vielleicht sicher war, aber ganz bestimmt nicht schnell.

Sie hatten die Strecke bis zum Waldrand erst knapp zur Hälfe bewältigt, als die Sonne hinter den Berggipfeln zu versinken begann. Unbehaglich sah sich Torian um. Der Gedanke, im offenen Gelände zu übernachten, gefiel ihm gar nicht. Das Gras war so niedrig, daß man sie auch beim Sitzen schon von weitem sehen konnte, andererseits aber wieder hoch genug, um heranschleichende Raubtiere oder andere Feinde zu verbergen. Bislang machte alles hier einen friedlichen Eindruck, und abgesehen von einigen Vögeln hatten sie nicht ein einziges Tier zu Gesicht bekommen. Aber das konnte sich nach Einbruch der Nacht rasch ändern. Er rief sich ins Gedächtnis, daß diese Umgebung nur dazu geschaffen war, Eindringlinge wie sie am Erreichen des Tempels zu hindern.

»Wer war es?« murmelte er.

»Wer war was?« fragte Garth.

Torian begriff, daß er seine Gedanken, ohne es zu merke’n, laut ausgesprochen hatte und wandte sich um. »Ich frage mich, wer unbedingt verhindern will, daß jemand den Tempel findet«, gab er zur Antwort. »Und warum?«

Garth zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wer es war, ganz so alt bin ich nämlich noch nicht, weißt du? Außerdem –wenn dir das Geheimnis ewigen Lebens bekannt wäre, würdest du es jedem erzählen? Junge, Junge, auf der Welt würde es bald ziemlich eng, wenn alle Menschen unsterblich wären.«

»Soweit war ich auch schon. Die Erklärung klingt im ersten Moment nämlich so schön einleuchtend«, gab Torian lächelnd zurück. »Im zweiten klingt sie allerdings mindestens genauso blödsinnig.«

»Ach ja? Dann wäre es nett, wenn du einen ungebildeten Dummkopf wie mich an deiner Weisheit teilhaben ließest. Ich sehe nämlich beim besten Willen nicht, was an dieser Erklärung so blödsinnig sein soll.«

»Der Grund«, sagte Torian ruhig. »Alles ist völlig unlogisch. Wenn du etwas wüßtest, was niemand sonst erfahren soll, würdest du dieses Geheimnis dann in einem Tempel verewigen und ein solch gewaltiges System von Fallen und Sicherungen aufbauen, nur damit es dann doch niemand findet?« Er machte eine kurze Pause und lachte leise. »Es gibt eine wesentlich einfachere Methode. Du behältst dieses Geheimnis einfach für dich, und da es sich um die Unsterblichkeit handelt, wird es trotzdem nicht verloren gehen.«

Garth kratzte sich verblüfft am Kopf und dachte schweigend darüber nach, dafür ergriff Shyleen das Wort. »Wenn ihr beiden fertig seid, können wir vielleicht weiter gehen, ja? Ich habe keine Lust, hier zu übernachten. Der Wald bietet uns besseren Schutz.«

»Wovor?« fragte Garth trocken. »Vor dem Wald?«

Shyleen warf ihm einen bösen Blick zu, und Torian unterdrückte ein Grinsen. Aber sie setzten sofort ihren mühsamen Marsch fort. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter den Bergen versunken, so daß es aussah, als ob die Gipfel spitze Zacken aus dem rotglühenden Ball herausbeißen würden. In ein paar Augenblicken würde es hier vollends dunkel sein. Da bislang nichts passiert war, verzichtete Torian darauf, vor jedem Schritt den Untergrund mit dem Schwert zu untersuchen. So schnell es das Gelände zuließ, hasteten sie vorwärts – was nicht sehr schnell war. Das Gras wuchs hier noch üppiger, reichte ihnen stellenweise schon bis zur Hüfte. Es schien höher und fester zu werden, je näher sie dem Wald kamen, stellte Torian besorgt fest.

Garth stieß einen leisen Schrei aus, dann begann er zu fluchen.

»Was ist?« fragte Torian.

»Ich habe mich an irgend etwas geschnitten«, erklärte er, verzog das Gesicht und schlenkerte seine Hand. Torian grinste, doch im nächsten Moment verspürte er ebenfalls einen schneidenden Schmerz am Bein. Er bückte sich, schob mit der Hand einige Grashalme zur Seite – und riß die Hand mit einem Schmerzenslaut wieder zurück. Aus drei kleinen Schnitten am Handrücken drang Blut.

»Das Gras!« schrie Shyleen. »Was ist mit dem verdammten Gras los?«

Torian sah es im gleichen Moment. Obwohl der Wind immer noch so schwach wie zuvor war, wogte das Gras plötzlich stärker. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh ihm ein irgendwie ... blutiges Aussehen. Die einzelnen Halme schwangen hin und her, als wären sie von eigenem, unheimlichen Leben erfüllt. Zugleich schienen sie breiter zu werden, irgendwie fleischiger, mit Kanten, die scharf wie Messer waren. Einer der Halme berührte Torians Arm, knickte ein wenig ab und schlang sich wie zufällig um sein Handgelenk.

Torian wollte sich losreißen, besann sich im letzten Moment, und durchtrennte den Halm mit dem Schwert. Vorsichtig griff er nach der abgeschlagenen Spitze und warf sie weg. Der Halm fühlte sich fast metallisch an. Ein Blutstropfen quoll aus dem haarfeinen Schnitt.

Entsetzt schaute sich Torian um. Je tiefer die Sonne sank, desto stärker bewegte sich das Gras. Ihr Götter! dachte er. Es ist das Ding aus dem Berg. Es ist uns gefolgt!

Garth überwand seinen Schrecken als erster. Mit einem Keuchen riß er Torian das Schwert aus der Hand und schlug wild um sich. Er führte die Klinge wie eine Sense, mähte das Gras vor ihnen mit wuchtigen Hieben nieder. »Kommt endlich!« schrie er.

Shyleen packte Torians Hand und zog ihn mit sich. Sie folgten der Bresche, die Garth schlug, dennoch wurden sie immer wieder von den wild hin und her preitschenden Grashalmen getroffen. Die hauchdünnen Kanten bissen wie mit winzigen Zähnen in ihre Haut und fügten ihnen schmerzhafte Schnitte zu. Keine der Verletzungen war wirklich gefährlich, aber Hunderte von Nadelstichen konnten schließlich ebenso tödlich sein, wie ein Schwerthieb. Jede Wunde zehrte an ihren Kräften, und jede neue tat ein klein wenig mehr weh. Er hatte das Gefühl, die Haut würde ihm in Streifen vom Körper gerissen werden.

Grashalme, dachte er. Das Ding aus dem Berg. Es mußte überall hier sein, vielleicht mit jedem Fußbreit Boden in diesem ganzen verdammten Tal verbunden, wie ein ungeheuerliches Spinnennetz. Es gab keinen greifbaren Gegner, sie kämpften gegen nichts weiter als Gras, das durch eine teuflische Macht zu einer entsetzlichen Waffe geworden war.

Der hünenhafte Garth wütete wie ein Berserker, aber es war unverkennbar, daß seine Bewegungen bereits an Geschmeidigkeit und Kraft verloren. Auch er blutete aus unzähligen kleinen Wunden, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Seine Muskeln traten wie dicke, knotige Stränge unter der Haut hervor. Er atmete schwer und stoßweise.

»Laß mich nach vorne«, keuchte Torian und nahm ihm das Schwert aus der Hand. Das Heft war voller Blut. Erleichtert taumelte der Dieb einen Schritt zurück und wäre vor Schwäche gestürzt, hätte Shyleen nicht rechtzeitig zugepackt und ihn aufgefangen.

Als wüßte das Gras um seine Schwäche, nutzte es den Moment, bis Torian das Schwert richtig gepackt hatte. Ein ganzer Wald der lebenden Messerklingen schlug nach seinem Gesicht und brachte ihm blutende Schnitte an der Wange bei. Er ignorierte den Schmerz und schlug die Halme fluchend zur Seite.

Der Waldrand lag nicht mehr weit entfernt, vielleicht zwanzig normale Schritte. Aber es war ein Spießrutenlauf durch die Hölle. Die Sonne verschwand vollends hinter den Berggipfeln, so daß der Mond, der zuvor nur schwach und verschwommen zu sehen war, das Tal mit seinem silbernen Licht übergoß.

Im gleichen Moment gerieten die Pflanzen in Raserei.

Schwerfällig anmutende, in Wahrheit aber ungeheuer schnelle Bewegungen durchliefen die Wiese. Die Halme verwandelten sich in wild umherzuckende Peitschenschnüre, die sich ihnen von vorne wie eine messergespickte Barriere entgegenstreckten, und von der Seite auf sie einschlugen. Entsetzt erkannte Torian, daß sie nicht nur metallisch aussahen, sondern sich im Mondlicht wirklich in dünnes, ungemein biegsames Metall verwandelt zu haben schienen, zumindest in etwas, das so hart und schneidend und vielleicht härter als Metall war.

Wie Garth zuvor, führte er das Schwert nun beidhändig und hieb mit aller Kraft um sich. Es klirrte, wenn er die schmalen Gräser traf, und gelegentlich sprühten sogar Funken auf. Die Klinge war mit Scharten übersät und wurde mit jedem Hieb stumpfer. Wo vorher ein einziger Schlag genügt hatte, eine halbmeterbreite Bresche zu mähen, brauchte er nun drei oder vier. Seine Muskeln sandten bei jeder Bewegung neue Wellen von Schmerz durch seinen Körper. Er hatte das Gefühl, glühende Lava zu atmen. Schweiß rann über sein Gesicht und brannte in den Augen.

Verzweifelt schaute Torian zum Waldrand hinüber. Die Bäume schienen während der letzten Minuten keinen Deut nähergekommen zu sein, als wiche der Wald im gleichen Maße vor ihnen zurück, wie sie vorwärtsdrangen. Für einen Sekundenbruchteil war Torian abgelenkt, und sofort schnitten ein halbes Dutzend Grashalme in seinen Schwertarm und ließen ihn erneut vor Schmerz aufschreien.

Die Welt um ihn herum versank in Nebel. Er konzentrierte sich mit aller Energie auf die Schwerthiebe. Nichts anderes als die Klinge und die peitschenden Gräser existierten mehr für ihn. Und irgendwann, nach Stunden wie es ihm schien, legte ihm Shyleen die Hand auf den Arm. Verwirrt blickte Torian auf und sah, daß er nur noch auf Gestrüpp und niedrig hängende Äste einschlug. Aber es dauerte noch einige Sekunden, bis er begriff, daß sie den Wald erreicht hatten.

Die Schwäche sprang ihn an wie ein Raubtier. Das Schwert schien mit einem Mal Tonnen zu wiegen und entglitt seinen kraftlosen Händen. Es klirrte, als schlüge Stahl auf Stahl, als die Waffe zu Boden fiel. Torian seufzte erleichtert und versuchte zu lächeln, aber selbst dafür war er schon zu schwach. Er stürzte dicht an Shyleens hilfreich ausgestreckten Armen vorbei und verlor das Bewußtsein, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Ein Alptraum: Er erinnerte sich an den Lauf durch eine Hölle aus Schmerz und Blut und funkelnden, lebenden Messern. Er erinnerte sich, wie das Leben aus unzähligen kleinen Wunden aus seinem Körper hinausgeströmt war, wie die metallischen Gräser ihn bei lebendigem Leibe fast gehäutet hatten, und er erinnerte sich, etwas wie ein lautloses Hohnlachen zu hören, das bösartige Kichern des Dinges, dem sie im Berg entkommen waren, nur, um tiefer in sein Netz hineinzulaufen, sich tiefer in den Maschen seines unsichtbaren Gespinstes zu verstricken, mit dem es dieses Tal, vielleicht dieses Land, vielleicht schon die ganze Welt eingesponnen hatte. Von dieser Stelle an wurde der Traum verwirrend; seine Handlung geriet vollends zu der irrealen, sinn- und reglosen Choreographie eines Alptraumes: Er sah sich – wie durch die Augen eines unbeteiligten Beobachters –weiter durch die peitschenden Grashalme taumeln, blutüberströmt, längst tot, ein zerfetztes Etwas, das kaum mehr Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hatte, wurde gewahr, wie die Gräser höher wurden, wuchsen, bis sich schließlich einzelne Halme aus dem Boden lösten und mit schwerfälligen Bewegungen zur Seite kippten. Im Traum schaffte er es irgendwie, obwohl längst tot, ein blutiges Etwas ohne Gesicht, ohne Fleisch und ohne Augen, in den Wald zu kommen, auf die Knie zu fallen und weiterzukriechen, aber das nutzte nichts, denn das Gras folgte ihm; die Halme lösten sich aus dem Boden, krochen und zuckten wie grüne schneidende Schlangen hinter ihm her, und—

Torian erwachte. Der letzte Ton eines Schreis verhallte in seinen Ohren, eines Schreies, den er selbst ausgestoßen und der ihn vermutlich auch geweckt hatte. Instinktiv fühlte er, daß etwas nicht so war, wie es sein sollte. Er sah sich um.

Aber es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff.

Er war nicht verletzt.

Aber das ist doch unmöglich! dachte er. Seine Arme, seine Brust, sein Hals und sein Gesicht waren eine einzige entsetzliche Wunde gewesen! Aber er spürte – nichts!

Alles, was er überhaupt fühlte, war der gewaltigste Muskelkater seines Lebens.

Fassungslos hob er die Hand vors Gesicht und betrachtete sie. Einige wenige Schnittwunden, die von dunklem Schorf bedeckt waren, außerdem eine Reihe winziger, kaum noch sichtbarer Stiche. Es war, als hätte er tage-, wenn nicht gar wochenlang geruht, um seine Verletzungen auszukurieren. Aber er wußte, daß es nicht so war. Sein Gefühl sagte ihm, daß er nicht mehr als ein paar Stunden ohne Bewußtsein gewesen war.

»Das ... das gibt es nicht«, murmelte er.

»So?« fragte Shyleen. Sie saß einige Schritte von ihm entfernt und musterte ihn. Der Spott in ihrer Stimme konnte nicht völlig über ihre Unsicherheit hinwegtäuschen.

Torian starrte sie an. »Wie ... hast du das gemacht?«

Shyleen zuckte mit den Schultern. Die Bewegung war in dem herrschenden Zwielicht mehr zu erahnen als zu sehen. »Ich habe nichts damit zu tun«, versicherte sie. »Aber es ist ja nicht das erste Mal. Die Gegend scheint hier außerordentlich gesund zu sein. Wenn wir einen Weg hinaus finden, können wir eine Menge Geld verdienen, wenn wir Kranke oder Verletzte hierherbringen – natürlich nur die, welche zu zahlen in der Lage sind. Allerdings«, ergänzte sie und machte eine kurze Pause, als müsse sie nachdenken, »müßte erst mal jemand das Unkraut da hinten ausreißen.«

»Hör auf mit dem Unsinn«, erboste sich Torian. Aber er versuchte vergeblich, wirklichen Zorn zu empfinden. Alles, was er spürte, war Verwirrung. »Mir ist absolut nicht nach dummen Spaßen zumute. Ich will wissen, was das zu bedeuten hat.«

»Ich auch«, erwiderte Shyleen, plötzlich sehr ernst. »Ich habe nämlich wirklich keine Ahnung. Unsere Wunden scheinen einfach schneller zu heilen. Deine Verletzungen haben nach ein paar Augenblicken zu bluten aufgehört.« Hilflos zuckte sie abermals mit den Schultern. »Ich bin sicher, daß bis zum Morgengrauen höchstens noch ein paar Narben übrig sind. Wenn überhaupt. Aber frag mich bitte nicht, wieso.«

Torian schüttelte fassungslos den Kopf und schwieg einige Minuten lang. Er wußte nicht recht, ob er lachen oder weinen – oder schlichtweg den Verstand verlieren sollte. Trotzdem fragte er sich, welchen Sinn es hatte, sie in dieses System mörderischer Fallen zu locken und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß sie keine dauerhaften Verletzungen davontrugen.

Shyleen blickte ihn eine Weile stumm und sehr nachdenklich an. »Da ist noch etwas«, nahm sie zögernd das Gespräch wieder auf. »Ich altere auch nicht mehr, seit wir hier sind. Zumindest glaube ich es. Seit wir aus dem Tor kamen, und ich so plötzlich wieder jung war, bin ich es geblieben. Keine Falte, nichts.«

»Wenn das stimmt und wir den Tempel nicht finden sollten, würde es also reichen, wenn du hierbliebest«, führte er den Gedanken weiter und schüttelte dann den Kopf. »Aber das nützt nichts, denn du wärest für immer hier gefangen. Lassen wir das also. Wie lange war ich bewußtlos?«

»Ein paar Stunden. Ich weiß es nicht genau – ich habe selbst geschlafen. Ich war erschöpft und die Schmerzen wurden zu schlimm«, fügte sie entschuldigend hinzu.

»Und Garth?« Er sah zu dem reglos Daliegenden hinüber.

»Schläft immer noch. Aber seine Wunden sind ebenfalls verheilt.«

Torian stand auf, schlenkerte mit den Armen und ließ sie langsam kreisen, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Durch die Bresche, die sie ins Unterholz geschlagen hatten, konnte er die Wiese sehen, über die sie bis hierher vorgedrungen waren, eine im Mondlicht silbern glänzende Fläche. Die Pflanzen waren wieder zur Ruhe gekommen, wogten nur noch wie vom Wind bewegt sanft hin und her. Nichts deutete mehr auf die tödliche Gefahr hin, die sich hinter dem harmlosen Anblick verbarg.

Er bückte sich nach einem morschen Holzstück und schleuderte es auf die Wiese hinaus. Im gleichen Moment, in dem es die Spitzen der Halme berührte, erwachten diese erneut zu dämonischem Leben, verwandelten sich in peitschende Schlangenleiber aus dünnem Stahl und kamen ebenso schnell wieder zur Ruhe, als sie merkten, daß sie es mit keinem lebenden Wesen zu tun hatten. Torian zweifelte nicht mehr daran, daß ihnen eine eigene, unbegreifliche Form von Intelligenz innewohnte. Zumindest Empfinden.

Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schaute sich um, doch sein Blick reichte nur wenige Schritte weit, dann wurde er von der Dunkelheit verschluckt.

»Es ist überhaupt nichts passiert, seit wir hier sind?« wunderte er sich.

»Solange ich wach war, nicht das geringste. Warum? Ist dir langweilig?«

»Ich traue dem Frieden nicht«, erwiderte Torian ruhig, den Spott in ihrer Stimme bewußt überhörend. Sie war nervöser, als sie zugeben wollte, ihr aufgesetzter Hohn nur ein Ventil für ihre überreizten Nerven.

Torian zog eine Grimasse. »Erst dieses Monstrum im Stollen, dann das Feld — und dann das hier? Irgend etwas stimmt nicht.« Torian schüttelte den Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Wer einfaches Gras in eine tödliche Falle verwandeln kann, der dürfte dies auch bei Bäumen und anderen Pflanzen schaffen.«

»Wer sagt dir, daß es einfaches Gras war?« versetzte Shyleen spöttisch, winkte aber rasch ab, als er widersprechen wollte. »Du hast recht«, gab sie zu. »Offenbar hat er es aber nicht getan. Vielleicht liebt unser Freund die Abwechslung. Und noch sind wir lange nicht aus dem Wald wieder heraus. Lassen wir uns überraschen.«

Torian setzte zu einer scharfen Entgegnung an, beließ es dann aber bei einem Achselzucken. Noch einmal suchte er mit seinen Blicken die Umgebung ab. Er glaubte, Bewegungen im Dunkel um sie herum zu erkennen, Alptraumgestalten, die aus ihrem Versteck aus Schatten und Finsternis heraus ihr Spiel mit ihm trieben. Aber er wußte, daß es nur Einbildung war, seine Nerven ihm etwas vorgaukelten, und so wandte er sich nach ein paar Sekunden wieder Shyleen zu. Er durfte sich nicht selbst verrückt machen und Gefahren sehen, wo – zumindest im Augenblick noch – keine waren.

»Unterhalten wir uns weiter darüber, wenn du ausgeruht bist. Versuch noch ein paar Stunden zu schlafen«, riet er ihr sanft. »Ich werde solange aufpassen.«

»Ich bin nicht müde«, erwiderte sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Natürlich nicht. Deshalb siehst du auch aus wie das blühende Leben.« Torian machte eine ärgerliche Handbewegung. »Wir wissen alle, wie stark du bist, Shyleen. Du mußt weder mir noch dir selbst irgend etwas beweisen. Also hör endlich auf, deine Kräfte so unnötig zu vergeuden.«

Shyleen blickte zu dem schlafenden Garth hinüber, ehe sie antwortete. »Darum geht es nicht. Ich werde nachher schlafen. Jetzt bin ich ganz froh, daß wir einmal für eine Weile ungestört sind. Ich muß mit dir reden. Allein.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum du das alles tust.«

Verwirrt hob Torian den Kopf. »Was?«

»Stell dich doch nicht dümmer, als du sowieso bist«, entgeg-nete Shyleen ärgerlich. »Du weißt genau, was ich meine. Du hast mehr als einmal dein Leben riskiert, um mich zu diesem Tempel zu begleiten, und die Chancen, daß wir die nächsten Tage überleben, sind nicht gerade hoch. Also, warum?«

»Ich habe dich nicht allein begleitet«, antwortete Torian ausweichend.

»Aber Garth war von Anfang an dagegen. Er hätte mich allein reiten lassen, wenn du ihn nicht umgestimmt hättest. Eigentlich seltsam. Umgekehrt hätte ich es besser verstanden.«

»Was willst du damit sagen?« fragte er.

Zu seiner Überraschung begann Shyleen zu lachen, und einen Moment später kam er sich ebenfalls albern vor, daß sie wie kleine Kinder um den heißen Brei herumredeten. »Es muß dir wirklich Spaß machen, dich selbst zum Narren zu machen. Du weißt genau, was Garth für mich empfindet. Wenn er mir helfen würde, weil er bis über beide Ohren verliebt ist, würde ich es begreifen. Aber warum du?« Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn abschätzend an. »Ich bin nicht sicher, ob du mich wirklich haßt, Torian Carr Conn, aber ich bin sehr sicher, daß du mich nicht liebst. Also warum das alles hier? Ist es die Unsterblichkeit?«

Torian schwieg und starrte zu Boden. Merkte sie denn nicht, daß er nicht darüber sprechen wollte? Sie hatte recht, dieses Gespräch war nötig, doch nicht jetzt und nicht hier. Sie hatte ihm mit ihrer Frage im unpassendsten Moment überrascht. Er war noch immer erschöpft, und das Denken fiel ihm schwer, doch das war es nicht allein.

Die Wahrheit war ganz einfach die, daß er die Antwort nicht wußte.

Er hatte sich die Frage selbst schon gestellt, mehr als einmal, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Es wäre einfach, sich damit herauszureden, daß das Geheimnis des ewigen Lebens jedes Risiko wert wäre. Er könnte vorgeben, daß es ihm um Kelysar gegangen sei, oder er könnte das Gespräch mit der Behauptung, es nur um seiner Freundschaft zu Garth willen getan zu haben, abblocken – aber nichts davon wäre der Wahrheit auch nur nahegekommen. Letzteres vielleicht noch am ehesten. Aber er wußte, daß sie nur mitleidig lächeln würde, wenn er das sagte.

»Nein«, fuhr Shyleen fort, als er nicht antwortete. »Dir geht es nicht um die Unsterblichkeit. Du wußtest mehr als vier Jahre lang, welches Geheimnis der Tempel verbirgt, und du hast nicht einmal versucht, ihn zu erreichen. Es ist meinetwegen.«

Torian fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Es war erst einen halben Tag her, daß er zuletzt getrunken hatte, aber sein Mund fühlte sich trocken an, die Lippen waren rauh. Er setzte sich ein wenig bequemer hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Shyleen würde nicht eher Ruhe geben, bis sie eine Antwort bekommen hätte. Vielleicht ging es ihr nicht einmal darum, die Wahrheit zu erfahren, sondern sie wollte etwas ganz Bestimmtes hören, nämlich das, was sie für die Wahrheit hielt. »Du hättest es umgekehrt nicht getan, oder?« fragte er nach einer Weile.

Sie seufzte.

»Du hast ein bewundernswertes Talent, jeder klaren Frage mit einer Gegenfrage zu begegnen«, warf sie ihm vor. Es klang nicht ärgerlich, eher amüsant. »Ich weiß nicht, wie ich an deiner Stelle gehandelt hätte. Wahrscheinlich genauso wie du. Aber hier steht auch nicht zur Debatte, was ich getan hätte.«

Höchst verwundert hob Torian die Augenbrauen, was Shyleen noch einmal flüchtig lächeln ließ.

»Du hältst mich wohl für eine gefühllose Bestie, wie? Aber das bin ich nicht, Torian. Du vergißt nur ständig mein Alter. Ich bin mehr als zehnmal so alt wie du. Ich habe ganze Generationen überlebt.«

»Und dabei das Lieben verlernt?« fragte er. Die Worte kamen fast ohne sein Zutun über seine Lippen, und er war beinahe selbst überrascht, aber Shyleen antwortete ganz ruhig:

»Nein. Aber ich habe miterlebt, wie alle Menschen, die mir etwas bedeutet haben, neben mir gealtert und schließlich gestorben sind. Ich habe geliebt, Torian Carr Conn, öfter und heftiger und tiefer, als du dir auch nur vorzustellen vermagst. Aber sie sind alle gestorben, einer nach dem anderen. Glaubst du, das hätte keine Spuren hinterlassen?« Sie lächelte bitter. »Du denkst, ich würde die Menschen verachten, aber das stimmt nicht. Ich habe mich selbst dazu erzogen, den Menschen gleichgültig gegenüberzustehen, weil jedes Gefühl ihnen gegenüber nur neuen Schmerz geboren hätte.«

Torian schwieg auch jetzt noch. Er begann zu ahnen, worauf sie hinauswollte, aber etwas in ihm weigerte sich immer noch beharrlich, ernsthaft darüber nachzudenken. Zum Teufel, er hatte selbst genügend Probleme. Es war einfacher, stur an einer gefaßten Meinung festzuhalten, als seine Ansichten zu ändern. Er wünschte, er hätte sich dieses Gespräch erst gar nicht auf zwingen lassen. Er hatte Angst vor dem, was am Ende dabei herauskommen mochte. Vielleicht, weil er es eigentlich schon wußte. Und nicht erst seit jetzt.

»Ich habe alle Gefühle kennengelernt«, sprach Shyleen weiter. »Alle Gefühle eines Lebens, und das fast ein dutzendmal. Die Unsterblichkeit ist nicht ganz so erstrebenswert, wie du vielleicht glaubst. Und du bekommst sie nicht geschenkt, Torian. Sie kann zu einem Fluch werden, einer Strafe, denn sie erhält zwar den Körper jung, aber sie tötet deine Seele, wenn du nicht aufpaßt. Ein Unsterblicher ist einsamer. Vielleicht habe ich mich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu sehr hinter einer Mauer versteckt, habe vergessen, zu leben. Das hat sich erst geändert, als ich euch traf. Es ist nicht schön, immer allein zu sein.«

»So?« murmelte Torian widerwillig. »Wenn du jetzt noch erzählst, daß du in Liebe zu uns entbrannt wärest, fange ich zu weinen an.« Er war absichtlich grob, und er spürte, daß Shyleen das ganz genau erkannte. Verdammt, es war einfach müßig, mit jemandem zu streiten, der über eine zwölfmal längere Lebenserfahrung verfügte.

»Idiot«, sagte Shyleen, aber sie lächelte dabei. »Du begreifst gar nichts — oder willst nichts begreifen. Ich spreche von Freundschaft, nicht von Liebe, aber ich frage mich allmählich ernsthaft, was ich ausgerechnet an einem Ekel wie dir mag. Also gut, lassen wir das.« Ihre Stimme klang plötzlich hart, spröde. Die seltene Spur von Gefühl, die sich zuvor darin gezeigt hatte, war verschwunden.

»Wenn es uns gelingt, den Tempel zu erreichen, werden sich unsere Wege anschließend trennen. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie ihr an meiner Seite altert. Das war alles, was ich dir sagen wollte.« Sie wandte den Kopf demonstrativ in eine andere Richtung.

Nein, dachte Torian. Das war nicht alles. Er hatte die Bitte, die sich hinter ihren Worten verbarg, sehr wohl verstanden. Und er spürte auch, daß er ihr sehr weh getan hatte.

Erst jetzt wurde er sich der Folgen seines Verhaltens ganz bewußt, und seine Worte taten ihm leid. Sie hatte ihm vertraut und die Maske, hinter der sie ihr wahres Ich verbarg, weiter als jemals zuvor freiwillig gelüftet, aber er hatte sie vor den Kopf gestoßen, anstatt ihr zu helfen. Dabei wäre es so leicht gewesen! Sie hatte ihm beide Hände entgegengestreckt – er hätte sie nur zu ergreifen brauchen!

In letzter Zeit entwickelte er wirklich ein beachtliches Talent, im richtigen Moment das Falsche zu tun.

Shyleen gab sich, als hätte sie das Interesse an ihm verloren, aber er wußte, daß dem nicht so war. Sie hoffte, daß er etwas sagte. Es brauchte nicht einmal eine Entschuldigung zu sein, ein freundliches Wort, ein Lächeln oder eine Geste der Freundschaft würde bereits reichen.

Aber er tat nichts dergleichen, sondern blieb nur reglos und stumm sitzen. Es verschaffte ihm fast ein absurdes Gefühl der Befriedigung, an dieser so stolzen, unnahbaren Frau eine Schwäche entdeckt und ihr seine momentane Überlegenheit deutlich vor Augen geführt zu haben, und er haßte sich selbst dafür. Vielleicht verspielte er gerade die für lange Zeit letzte Chance, die wahre Shyleen kennenzulernen.

Einige Minuten saßen sie sich noch schweigend gegenüber, einer dem Blick des anderen fast krampfartig ausweichend, dann streckte sich Shyleen mit einem schwer zu definierenden Laut auf dem Boden aus und versuchte, eine einigermaßen bequeme Lage zum Schlafen zu finden.

Beinahe gegen seinen Willen wiederholte Torian in Gedanken ihre letzten Worte. Sie wollte sich nicht wirklich von ihm trennen, und doch zweifelte er nicht daran, daß sie es tun würde, wenn sie den Tempel erreicht hatten. Aber das war es nicht, was sie mit ihren Worten gemeint hatte. Ohne es ausgesprochen zu haben, hoffte sie, daß Garth und er sich ebenfalls für die Unsterblichkeit entscheiden würden.

Ewiges Leben...

Torian schauderte. Die Unsterblichkeit. Bisher war das nichts als ein leerer Begriff für ihn gewesen, und der Gedanke an Menschen, die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende lebten, hatte in ihm höchstens ein Gefühl der Unbehaglichkeit hervorgerufen.

Und doch ...

Die Unsterblichkeit war ein uralter Menschheitstraum, dessen Verlockung auch er spürte. Torian war sich nicht sicher, ob er ihm wirklich widerstehen würde, überhaupt widerstehen wollte. Wie jeden Menschen erfüllte der Gedanke an den Tod auch ihn mit kreatürlicher Angst. Bei dem gefährlichen Leben, das er führte, hatte er sich oft genug einzureden versucht, daß es anders war, daß er den Tod als ganz natürlichen Abschluß des Lebens betrachtete. Aber das war nicht mehr als eine Selbsttäuschung gewesen. Vielleicht fürchtete er den Tod selbst sogar wirklich nicht allzu sehr, aber dafür das Sterben.

Aber wäre es eine Lösung, nach der Unsterblichkeit zu streben? Shyleens Worte hatten ihm deutlich gezeigt, welchen Preis er dafür zahlen müßte. Wenn der Tempel der verbotenen Träume wirklich das Geheimnis des ewigen Lebens verbarg und sie es lösen konnten, würde es seinen Körper vor dem Altern bewahren. Vor einem gewaltsamen Tod, der ihm viel wahrscheinlicher erschien als ein Dahinsiechen als zahnloser, hoffnungslos vertrottelter Greis, würde es ihn auch nicht schützen können.

Wenn, wenn, wenn, dachte Torian zornig. Noch hatten sie den Tempel längst nicht erreicht, wußten nicht einmal mit Sicherheit, ob sie nicht in Wahrheit vielleicht nur einer Legende hinterherliefen. Es war müßig, sich jetzt mit solchen Fragen zu quälen. Dafür blieb später noch genügend Zeit.

Er wurde wieder müde. Um nicht einzuschlafen, stand er auf, machte einige Lockerungsübungen und lief ein paar Schritte auf und ab. Dann hockte er sich vor Garth hin und beobachtete ihn einige Sekunden lang. Der Dieb schlief immer noch tief und fest, sein Atem ging regelmäßig und ruhig. Bis auf einige Narben waren die Verletzungen verheilt. Sein Gesicht zeigte selbst im Schlaf noch Trotz und unbeugsamen Stolz.

Torian verspürte ein kurzes, heftiges Gefühl der Zuneigung. Im Grunde war er Shyleen ziemlich ähnlich. Auch er war lange allein gewesen, hatte die Einsamkeit kennengelernt. Selbst als er sich in das scroothische Heer geflüchtet hatte, war er immer ein Außenseiter geblieben und hatte sich von den anderen abgesondert. Erst die Begegnung mit Garth hatte alles geändert. Der hünenhafte Dieb war in den wenigen Wochen ihrer Bekanntschaft wie ein Bruder für ihn geworden. Vielleicht mehr.

Aber was empfand er für Shyleen? Ärgerlich stellte Torian fest, daß er die Frage nicht los wurde, sie vielleicht verdrängen, aber nicht wirklich vergessen konnte. Liehe? Kaum. Es war keine Liebe, dessen war er sich als einziges völlig sicher. Er hatte geglaubt, Shyleen wäre unfähig, jemanden zu lieben.

Aber, dachte er, in Wahrheit war er selbst es. Er hatte geliebt, ein einziges Mal, und obwohl es erst vier Jahre zurücklag, schien es in einem anderen Leben gewesen zu sein: Lady Lyn. Sie war Kelysars Intrigen zum Opfer gefallen. Sie war nicht einmal absichtlich umgebracht worden, sondern fand den Tod durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle. Ein Pfeil, der für ihn, Torian, bestimmt war, hatte sie getötet, als sie in die Schußlinie lief. Er wußte nicht einmal, wo ihr Grab lag.

Möglicherweise, überlegte er, war das der Grund für seine sonderbare Haßliebe zu Shyleen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, weil sie ihn an Lyn erinnerte, obwohl sie ihr weder äußerlich noch charakterlich ähnelte. Auf den ersten Blick schien die beiden nichts, aber auch wirklich nichts miteinander zu verbinden. Lyn war warmherzig und sanft und fast immer fröhlich gewesen, hatte weder Shyleens Kälte, noch ihre amazonenhafte Stärke und Männlichkeit besessen. Auch in Aussehen und Verhalten waren sie grundverschieden. Und doch glaubte Torian manchmal, etwas von Lyn an Shyleen zu entdecken. Eine vertraute Geste, einen Blick ... Er wußte nicht, was es war, und im Grunde war es auch gleichgültig.

Er liebte Shyleen, weil sie ihn an Lyn erinnerte.

Und aus dem gleichen Grund haßte er sie.

Und plötzlich glaubte er zu begreifen, was sie gemeint hatte, als sie sagte, die Unsterblichkeit könne zu einem Fluch werden.

Lyn war tot, aber Shyleen lebte. Wenn er ihr half, war es nichts weiter als ein Versuch, an ihr einen Teil der Schuldgefühle wettzumachen, die ihn seit Lyns Tod quälten.

Im gleichen Moment, in dem ihm dies bewußt wurde, haßte er sie noch mehr.

Ein leises Geräusch schreckte Torian aus seinen Grübeleien auf. Er fuhr herum und griff zum Schwert. Erst als er nur den Stoff seiner Hose zu fassen bekam, fiel ihm wieder ein, daß er die Waffe ja beim Erreichen des Waldes fallengelassen hatte. Hastig sah er sich um, fand die Klinge dicht neben Shyleen auf dem Boden liegen und hob sie auf.

Mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit. Es blieb alles ruhig. Torian wußte nicht genau, was er gehört hatte, aber es hatte an das Rascheln von Laub erinnert. Er glaubte, aus den Augenwinkeln huschende Bewegungen im Unterholz wahrzunehmen, entdeckte aber nie etwas, wenn er genauer hinschaute.

Erst als sich das Geräusch nach ein paar Minuten noch nicht wiederholt hatte, ließ er das Schwert erleichtert wieder sinken. Es schien hier lange nicht geregnet zu haben, denn der Boden war trocken, und es war so gut wie unmöglich, sich lautlos über Laub und trockene Zweige an sie heranzuschleichen.

Trotzdem legte sich seine Unruhe nicht völlig. Er vermochte sich immer noch nicht richtig vorzustellen, daß dieser Wald wirklich so harmlos war, wie es den Anschein hatte, nicht in diesem Tal und nach dem, was sie bislang hier erlebt hatten.

Aber all seinen Befürchtungen zum Trotz passierte nichts. So wie sich das Gras erst bei Einbruch der Dämmerung verwandelt hatte, würde ihnen der Wald sein wahres Gesicht vielleicht erst im Morgengrauen zeigen, dachte er sarkastisch, aber auch daran wollte er nicht recht glauben.

Ereignislos verstrichen die Minuten und Stunden. Immer häufiger mußte Torian gähnen. Wenn seine Wunden auch verheilt waren, hatten sie ihn doch geschwächt; mehr, als er anfangs angenommen hatte. Sein Körper brauchte Ruhe und Schlaf, um sich zu erholen, und so trat er schließlich zu Garth und rüttelte ihn an der Schulter.

Verwirrt schlug der Dieb die Augen auf, blinzelte ein paarmal und strich sich mit der Hand übers Gesicht, als wolle er seine Benommenheit fortwischen. »Was’n los?« nuschelte er mit vom Schlaf belegter Stimme.

»Du bist dran mit Wacheschieben«, eröffnete ihm Torian. Er wartete ein paar Sekunden, und erst als er den Ausdruck jähen Schreckens im Gesicht des Diebes sah, fügte er mit einem flüchtigen Grinsen hinzu: »Und frag mich nicht, was hier passiert ist.«

»Mach’ ich nicht«, versprach Garth. »Was ist passiert? Wo sind ... deine Verletzungen geblieben!?«

Torian seufzte. »Darüber habe ich mit Shyleen schon erfolglos diskutiert. Unsere Wunden sind eben verheilt, basta.«

»Aber –«

»Du hast ja jetzt genug Zeit darüber nachzugrübeln«, unterbrach Torian. »Wenn du eine Lösung findest, dann sag mir Bescheid. Ach ja, bei Tagesanbruch sollten wir weiterziehen. Wäre nicht schlecht, wenn du ein vernünftiges Frühstück organisieren könntest. Gute Nacht.«

Er drückte Garth das Schwert in die Hand und amüsierte sich noch einen Moment über dessen verdutztes Gesicht. Dann raffte er etwas Laub zu einem halbwegs bequemen Lager zusammen und streckte sich darauf aus.

Es dauerte nur Sekunden, bis er eingeschlafen war. Der zweite Schlaf in dieser Nacht war frei von Alpträumen; aber kaum erfrischender als der erste. Als Garth ihn weckte, hatte er das Gefühl, gerade erst vor ein paar Minuten die Augen geschlossen zu haben, so müde fühlte er sich noch immer. Seine Glieder waren schwer wie Blei, und in seinem Mund bemerkte er einen sehr schlechten, trockenen Geschmack. Seine Augen brannten, als hätte er die Nacht in einem kleinen, verräucherten Raum zugebracht, und nicht unter freiem Himmel. Die Sonne ging schon über den Bergen auf, und selbst hier unten im Wald war bereits die Wärme des kommenden Tages zu spüren. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft, und die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse vom vergangenen Abend war noch überdeutlich in seinem Gedächtnis. Die scheinbare Friedlichkeit seiner Umgebung nahm den Bildern nichts von ihrem Schrecken; ganz im Gegenteil.

Torian verscheuchte den Gedanken, stand auf und klopfte sich Schmutz und Laub aus der Kleidung. »Was gibt es zum Frühstück?« fragte er ironisch.

»Siehst du doch«, erwiderte Garth, mit todernstem Gesicht, aber im gleichen Tonfall. »Jede Köstlichkeit, die dein Herz begehrt, o großer Meister.« Er machte eine weit ausladende Bewegung mit der Linken. »Ihr habt die Wahl, Herr – zwischen Laub, Laub oder Laub. Ihr könnt aber auch Laub haben, wenn Euch Laub nicht schmeckt. Mehr habe ich nicht gefunden.«

Torian lächelte pflichtschuldig, verzichtete aber auf eine Antwort. Er sah kurz zu Shyleen hinüber, doch sie wich seinem Blick aus. Garth’ ohnehin etwas lahme Witzigkeit schien an diesem Morgen noch weniger bei ihr zu verfangen als sonst. »Dann nehme ich Laub«, sagte er. »Aber nicht, daß du mir zu viel Laub hineintust.«

Er drohte Garth mit dem Zeigefinger und drehte sich um. Er fühlte sich mit jedem Augenblick frischer. Die bleierne Schwere wich rasch aus seinen Gliedern, und die frische Luft schuf eine lang vermißte Klarheit hinter seiner Stirn. Der Wald kam auch ihm jetzt nicht mehr so düster und bedrohlich vor wie in der Nacht. Er unterschied sich in nichts von Hunderten anderen Wäldern, in denen er gewesen war, und er hatte auch nichts von der stummen Feindseligkeit mehr an sich, die er erwartet hatte. Vereinzelt zwischen den Blättern hereinfallende Sonnenstrahlen malten helle Flecken auf den Boden und die Büsche. Das Unterholz wucherte nicht besonders dicht; obwohl nirgendwo ein Weg zu sehen war, würde es sie beim Gehen kaum behindern. Und doch – oder vielleicht gerade deswegen – blieb Torian mißtrauisch. Dieser Wald war ihm eine Spur zu einladend.

Er schaute in die andere Richtung, und sein Herz schlug unwillkürlich ein wenig schneller. Aber der Anblick war von fast enttäuschender Normalität: Das Gras hatte seinen metallischen Glanz verloren, die Halme sahen jetzt wieder wie ganz normale Pflanzen aus. Nichts, aber auch gar nichts, erinnerte mehr an den Alptraum vom vergangenen Abend; die Wiese war eben eine Wiese, und nicht mehr. Trotzdem fühlte sich Torian nicht unbedingt wohl bei dem Gedanken, noch einmal durch dieses Gras gehen zu müssen.

»Worauf warten wir noch?« drängte Shyleen. »Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?«

Torian deutete auf die Grasebene hinaus. »Warum gehst du nicht vor?« fragte er.

Shyleen setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, preßte aber dann nur die Lippen aufeinander und ballte stumm die Faust. Dann drehte sie sich abrupt um.

»Marschieren wir am Waldrand entlang«, schlug sie vor, ohne ihn oder Garth anzublicken. »Sobald es dämmert, könnten wir unter den Bäumen rasten. Hier am Rand scheint es harmlos zu sein.«

»Ja, so harmlos, daß wir höchstens verhungern und verdursten würden«, entgegnete Garth trocken.

Torian widersprach nicht mehr, und so brachen sie kurz darauf auf. Sie hatten jeder recht, auf seine Weise, aber streiten allein brachte sie nicht weiter; und schon gar nicht in die Nähe des Tempels — falls er überhaupt existierte. Das einzige, was sie tun konnten, war, sich weiter auf ihr Glück, auf die Schärfe seines Schwertes, auf die Kraft von Garth’ Muskeln und – vielleicht –auf Shyleens magische Fähigkeiten zu verlassen.

Garth ging voraus, doch er brauchte sein Schwert kaum einzusetzen, um sich einen Weg zu bahnen; sie hatten die Nacht recht nahe am Rand des Waldes verbracht, aber der Busch wurde auch nicht dichter, als sie tiefer in ihn eindrangen. Es gab kaum Unterholz, und schon nach wenigen Augenblicken stießen sie auf einen schmalen Tierwechsel, dem sie folgten, so daß sie noch leichter vorankamen. Vogelgezwitscher war zu vernehmen, das leise Flüstern des Windes in den Zweigen und das Rascheln des Laubs unter ihren Füßen. Weder von Raubtieren, noch von irgendwelchen anderen Feinden war etwas zu hören oder zu sehen. Einmal scheuchten sie einen Hasen auf, der sich im Unterholz verbarg und ohne sonderliche Hast vor ihnen davonhop-pelte; nicht floh, wie Torian sehr wohl registrierte. Das Tier schien Menschen nicht als Feinde zu betrachten. Er begann sich zu fragen, ob es hier überhaupt Menschen gab.

»Horcht mal«, rief Shyleen plötzlich.

Torian blieb stehen und lauschte, und fast im selben Augenblick hörte auch er das leise, aber charakteristische Murmeln und Plätschern eines Wildwasserbaches.

»Das ist Wasser«, murmelte Garth, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und verdrehte in genießerischer Vorfreude die Augen. »Scheint von dort zu kommen.« Er deutete nach rechts.

Noch schneller als bisher gingen sie weiter. Das Plätschern wurde lauter, und nach wenigen Minuten erreichten sie den Bach. Es war nur ein schmales Rinnsal, das sich sprudelnd seinen Weg über Wurzeln und Steine bahnte. Sie knieten am Rand nieder, löschten ihren ärgsten Durst und erfrischten sich etwas. Der schlechte Geschmack wich nicht aus Torians Mund, obwohl das Wasser köstlich war, und dazu eiskalt. Er spürte erst jetzt richtig, wie heiß es geworden war, selbst im Schatten des Waldes.

Garth seufzte. »Jetzt noch einen saftigen Braten und ...«

»Still!« zischte Torian und fuhr herum. Er hatte ein Rascheln in den Büschen hinter sich gehört, und anders als in der Nacht war er sich diesmal sicher, sich nichts eingebildet zu haben. Shyleens angespanntes Gesicht zeigte, daß auch ihr das fremde Geräusch nicht entgangen war.

»Was ist?« fragte Garth.

Torian schüttelte ärgerlich den Kopf. »Still«, zischte er. »Bitte, Garth.«

Diesmal antwortete Garth nicht mit einer Frotzelei. Er kannte den ernsten Unterton, der plötzlich in Torians Stimme war, zu genau. Auch er lauschte. Seine Hand kroch zum Stiel der gewaltigen Axt, die er in den Gürtel geschoben hatte, wie andere es mit einem Dolch tun mochten.

Nach ein paar Sekunden wiederholte sich das Rascheln. Torian glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, eine aufrecht gehende, schlanke Gestalt in den Büschen gesehen zu haben. Aber sie war zu schnell verschwunden, als daß er sie deutlicher denn als huschenden Schemen hätte ausmachen können. Vielleicht nur ein Streich, den ihm seine Nerven spielten.

Irgendwo knackte ein Ast. In der Stille klang das Geräusch scharf und laut wie ein Peitschenhieb. Als er herumfuhr, schien es Torian erneut, den Umriß einer Gestalt zu erkennen.

Er bedeutete Garth, zurückzubleiben und sich ruhig zu verhalten, stand auf und trat mit gezücktem Schwert durch das struppige Unterholz. Das ungute Gefühl, mit dem er aufgewacht war, hatte ihn nicht getrogen, dachte er düster. Sie waren nicht allein; etwas ging um sie herum vor.

Er erreichte die Stelle, wo er die Gestalt gesehen hatte. Zögernd blickte er um sich, dann entdeckte er etwas Grünes, Funkelndes auf dem Boden und bückte sich danach.

Die Bewegung rettete ihm das Leben. Etwas Dunkles, sehr Massiges zischte durch die Luft, wo sich sein Kopf befunden hatte, wäre er einen Schritt weitergegangen, und irgend etwas Riesiges, scheinbar Formloses flog auf ihn zu.

Er warf sich zur Seite, konnte dem Hieb aber nicht mehr ganz ausweichen. Ein entsetzlicher Schmerz explodierte in seinem Nacken und ließ ihn nach vorne taumeln. Bunte Sterne zerplatzten vor seinen Augen. Er versuchte, sich herumzudrehen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Übermenschlich starke Finger, die sich irgendwie feucht anfühlten, rissen ihm das Schwert aus der Hand. Aus den Augenwinkeln nahm er ein säulenartiges, mit grünlichen Panzerschuppen statt Haut bedecktes Bein wahr, das in einem Fuß mit krallenartigen Zehen endete.

Torian versuchte noch einmal, sich auf den Rücken zu wälzen, oder wenigstens auf die Seite. Es mißlang ebenso kläglich wie beim ersten Mal. Der Fuß mit den entsetzlichen Krallen hob sich, näherte sich seinem Gesicht, ein halbes Dutzend gebogener, messerscharfer Dolche aus Horn – und verschwand.

Drei, vier Sekunden lang blieb Torian einfach reglos liegen. Er begriff nicht ganz, daß er noch lebte, und vor allem nicht, wieso. Er hörte leise, sich entfernende Schritte, dann das Brechen von Ästen, und im nächsten Moment kniete Garth neben ihm nieder und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

»Was ist passiert?«

»Das siehst du doch«, beantwortete Shyleen hinter ihm seine Frage. Ihre Stimme klang fast zornig. »Dieser verdammte Narr ist direkt in einen Hinterhalt gelaufen! Wir hätten noch ein paar Sekunden warten sollen, dann wären wir ihn vielleicht auch los.«

Torian ignorierte ihre Feindseligkeit einfach. Vielleicht war er auch zu verblüfft, um sie wirklich zu begreifen. Was er begriff, das war, daß sich Shyleen irrte, und zwar gründlich. Der Unbekannte hatte ihn nicht töten wollen. Er hatte Zeit und Gelegenheit genug gehabt, es zu tun.

Benommen setzte er sich auf und faßte Garth’ hilfreich ausgestreckte Hand. Der Dieb zog ihn unsanft auf die Füße und sah ihn prüfend an. »Alles in Ordnung mit dir?« fragte er noch einmal.

Torian nickte, und Garth machte eine Geste auf den Wald. »Hast du etwas gesehen?«

»Eine Art... Kralle«, murmelte Torian verstört.

»Kralle?«

Torian zuckte mit den Achseln und bedauerte die Bewegung sofort wieder, denn das Schwindelgefühl in seinem Kopf meldete sich prompt zurück. »Ich ... weiß nicht, was es war, aber... es war kein Mensch.«

»Wie sollte auch ausgerechnet ein Mensch hierherkommen?« fragte Shyleen giftig. »Jedenfalls ist das Schwert weg. Gut gemacht, Torian Carr Conn.«

»Ich bin ohnehin nicht davon überzeugt, daß es uns gegen diese Wesen etwas genutzt hätte«, erwiderte Torian.

»Wie meinst du das?«

Torian öffnete die Faust und zeigte Shyleen das Ding, das er gefunden hatte. Es war eine grünliche, handtellergroße Hornschuppe, die sich hart wie Stahl anfühlte. Und wenn er den Schmerz zwischen seinen Schulterblättern bedachte, dann war sie es vermutlich auch.

»Was ist das?« fragte Garth verblüfft.

»Ich habe das Ding hier gefunden. Es gehört zu der Uniform dieses Wesens. Zumindest die Beine waren damit gepanzert.«

Er vermied es, seinen Verdacht auszusprechen, aber auch Shyleen erkannte, daß es noch eine zweite Möglichkeit gab. Sie wurde eine Spur blasser.

»Zur Uniform – oder einem natürlichen Panzerkleid, wie es beispielsweise Echsen tragen«, murmelte sie und nahm ihm die Schuppe aus der Hand. »Scheint wirklich hart genug, um einem Schwerthieb zu widerstehen.«

»Lassen wir es lieber nicht darauf ankommen«, empfahl Torian. »Verschwinden wir von hier, bevor sie zurückkommen.«

»Und vielleicht noch ihre Verwandtschaft mitbringen«, fügte Garth düster hinzu. Shyleen schien etwas sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem ebenso zornigen wie hochmütigen Blick und drehte sich abrupt um.

Noch vorsichtiger als bisher drangen sie weiter vor. Immer wieder hielten sie an und lauschten, aber alles blieb ruhig. Vielleicht war es den seltsamen Schuppenwesen wirklich nur um das Schwert gegangen, dachte Torian. Gleichzeitig spürte er, daß das ganz bestimmt nicht der einzige Grund für diesen Angriff gewesen war. Falls es sich überhaupt um einen Angriff gehandelt hatte. Vielleicht war dieses ... Ding einfach nur genauso erschrocken gewesen wie er, und hatte einfach aus einem Reflex heraus zugeschlagen.

Shyleen ging zunächst an der Spitze, Torian hatte den gefährlichen Posten am Schluß ihrer kleinen Kolonne übernommen. Wenn sie überhaupt noch da waren, dann befanden sich die Echsenwesen hinter ihnen und würden auch aus dieser Richtung angreifen. Nach dem Verlust des Schwertes hatte sich Torian mit einem armlangen, ziemlich harten Knüppel bewaffnet; eine erbärmliche Waffe gegen ein Wesen mit einem solchen Fuß, wie er ihn gesehen hatte, aber besser als gar keine. Immerhin vermittelte ihm das Stück Holz das Gefühl, nicht ganz wehrlos zu sein.

Garth verringerte etwas sein Tempo, bis sie sich auf gleicher Höhe befanden. »Was hältst du davon?« fragte er. »Warum genügt es diesen Schuppenmonstern, uns zu entwaffnen?«

»Sie hätten mich töten können, wenn es ihnen darauf angekommen wäre«, gab Torian zurück, allerdings nicht, ohne zuvor einen sichernden Blick zu Shyleen geworfen und sich davon überzeugt zu haben, daß sie seine Worte nicht verstehen konnte. »Also haben sie etwas anderes vor.«

»Oder sie hatten einfach Angst«, wandte Garth ein. »Wir haben nur eines dieser Wesen zu Gesicht bekommen. Vielleicht wollte es uns nur beobachten. Möglicherwiese weiß es nicht einmal, was Menschen sind.«

Torian antwortete nicht, aber Garth schien Gefallen an seiner eigenen Theorie zu finden, denn er spann den Faden nach einer Weile weiter: »Oder es hat verdammten Respekt vor uns. Da wir den Wächter des Tores und das mörderische Gras überwunden haben, müssen sie wohl annehmen, daß wir nicht so harmlos sind, wie wir vielleicht aussehen.«

»Wer sieht hier harmlos aus?« fragte Torian.

Garth schenkte ihm einen bösen Blick. »Sie könnten magische Kräfte fürchten. Deshalb wollen sie sichergehen und holen erst Verstärkung«, sinnierte er.

»Möglich.« Torian zuckte die Achseln. »Oder auch nicht.« Er lächelte matt. »Ich glaube nicht, daß die Erklärung ganz so einfach ist. Höchstwahrscheinlich steckt da noch etwas ganz anderes dahinter.«

»Jedenfalls scheinst du von ihrer Friedfertigkeit auch nicht überzeugt zu sein«, sagte Garth und deutete mit einem amüsierten Grinsen auf den Knüppel. »Falls diese Wesen wirklich mit solchen Schuppen gepanzert sind, tust du dir höchstens selbst weh, wenn du mit dem Zahnstocher zuschlägst.«

»Kann sein. Trotzdem fühle ich mich mit dem Zahnstocher wohler.«

»Meinetwegen. Trag das Ding ruhig spazieren, wenn es dir Spaß macht.« Garth schüttelte den Kopf, schwieg einen Moment und wechselte übergangslos das Thema. »Was hast du eigentlich mit Shyleen angestellt? Seit heute nacht ist sie nicht mehr besonders gut auf dich zu sprechen. Sie macht den Eindruck, als ob sie dich am liebsten auf der Stelle fressen würde.«

»Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit«, gab Torian zögernd zu. »Nichts Ernstes.«

»Und nichts, was mich etwas anginge, wie?« hakte der Dieb nach, als Torian nicht von allein weitersprach. »Es hatte wohl nicht zufällig etwas mit mir zu tun?«

»Du nimmst dich ein wenig zu wichtig, mein Lieber«, hielt Torian ihm lächelnd vor. »Nein, wir haben nur darüber gestritten, ob man mir ein Gespräch aufzwingen sollte, wenn ich es nicht will, oder ob man es besser bleiben läßt. Ich habe gewonnen.«

»Schon gut. Ich habe verstanden«, knurrte Garth beleidigt. »Von mir aus spiel ruhig weiter den Geheimnisvollen.«

Er wollte schneller gehen, doch Tonan hielt ihn am Arm zurück. »So war das nicht gemeint. Das war keine Spitzfindigkeit, sondern das war wirklich unser Problem. Shyleen wollte mit mir reden, aber nachdem wir gerade den Pflanzen entkommen waren, war ich wirklich nicht in der Stimmung, mir ihre Probleme anzuhören. Also habe ich mich stur gestellt und ein paar dumme Bemerkungen gemacht, die sie mir wohl übel nimmt.«

»Sie wollte über ihre Probleme reden?« Garth schluckte hörbar. »Und ausgerechnet so ein Jahrhundertereignis muß ich verschlafen.« Von einem Moment zum anderen wurde er wieder ernst. »Das war nicht gerade eine Heldentat. Du weißt, wie sie ist. Es muß sie eine gehörige Portion Überwindung gekostet haben, überhaupt zuzugeben, so etwas wie Probleme zu haben. Vor zwei Wochen hat sie noch behauptet, dieses Wort nicht einmal zu kennen.«

»Verdammt, das ist mir auch klar«, gab Torian gereizt zurück. »Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Es tut mir ja schon leid, wie ich mich verhalten habe. Aber soll ich mich vielleicht bei ihr entschuldigen?«

»Nein«, entgegnete Garth ruhig. »Das ist ein Wort, das nicht zu deinem Sprachschatz gehört, ich weiß. Trotzdem wäre es vielleicht nicht die schlechteste Idee. Aber wie ich deinen verdammten Dickkopf kenne, würdest du dir wohl lieber die Zunge abbeißen.« Er machte eine kurze Pause. »Es ist ja nicht so, daß ich neugierig wäre — aber was für Probleme hat sie denn?«

»Es ist ja nicht so, daß ich geschwätzig wäre«, erwiderte Torian im gleichen Tonfall. »Aber es geht um ihr Alter. Eine Art Generationskonflikt, wenn du so willst. Hast du schon mal darüber nachgedacht, was du machst, wenn wir den Tempel wirklich erreichen und ebenfalls die Möglichkeit haben, unsterblich zu werden?«

Garth runzelte die Stirn und sah ihn fragend an. Diesmal war seine Verblüffung nicht gespielt. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Sie hat ein paar Schwierigkeiten, sich mit gewöhnlichen Sterblichen abzugeben, weißt du? Ich bin sicher, als Unsterblicher würdest du viel mehr Eindruck auf sie machen. Und jetzt laß mich in Ruhe. Ich habe keine Lust, noch mal eins über den Kopf gehauen zu bekommen, weil du mit deinem Gerede alle Geräusche überstimmst.«

Aber seine Vorsicht war unnötig. Ohne noch einmal angegriffen zu werden, erreichten sie um die Mittagsstunde den breiten, sandigen Uferstreifen des Flusses, der den Wald in zwei Teile zerschnitt.

»Nein«, stöhnte Garth laut auf. Er mußte fast schreien, um das Donnern der Wassermassen zu übertönen. »Sag mir jemand, daß ich träume. Das kann doch nur ein Alptraum sein.«

Torian tat ihm den Gefallen nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Fluß anzustarren.

Er war fast eine viertel Meile breit. Was aus der Ferne schmal und wie ein ruhig dahinplätscherndes Gewässer ausgesehen hatte, so harmlos, daß sie anfänglich glaubten, mühelos hindurch-waten zu können, erwies sich aus der Nähe als fast unüberwindliches Hindernis. In Wahrheit strömten die Fluten mit der Wucht und Geschwindigkeit eines Sturzbaches dahin, brachen sich tosend an den überall im Flußbett verstreuten Felsbrocken und bildeten tödliche Strudel, so viele er sich nur wünschen konnte, und noch ein paar mehr. Es sah aus, als koche das Wasser. Hochsprühende Gischt hing wie ein brodelnder weißer Schleier über dem Fluß und spritzte noch meterweit ans Ufer. Der Wald auf der gegenüberliegenden Seite war nur schemenhaft zu erkennen.

Minutenlang starrten sie schweigend auf den reißenden Strom, der ein schier unüberwindliches Hindernis bildete und jeden Gedanken, hindurchzuwaten oder auch zu schwimmen, von vornherein ausschloß. Selbst wenn sie Werkzeug hätten, sich ein Boot oder wenigstens ein Floß zu bauen, würde es unweigerlich an den Stromschnellen zerschellen.

Shyleen überwand ihre Erstarrung als erste.

»Soviel zum Thema Schwimmen«, sagte sie. »Wer fliegen kann, hebe bitte die Hand. Den anderen würde ich vorschlagen, mit mir am Ufer entlangzugehen, bis wir eine Furt oder möglichst einen Übergang finden.«

»Oder verhungern, wenn niemand so freundlich war, einen Weg für uns zu schaffen«, ergänzte Garth grimmig und stapfte los. »Worauf warten wir noch?« Sie waren seit zwei Stunden unterwegs, ohne daß sich das Bild sonderlich geändert hatte. Es lagen nicht mehr ganz so viele Felsbrocken im Wasser, aber dafür schoß der Fluß nur noch schneller dahin. Obwohl sie sich dicht am Waldrand hielten, waren sie längst bis auf die Knochen durchnäßt, denn die hoch aufspritzende Gischt tränkte nicht nur den Ufersand, sondern auch die Luft mit Feuchtigkeit, so daß nach einer Weile selbst das Atmen mühsam wurde. Der Ufersand hatte sich schon seit Urzeiten in Morast verwandelt, in den sie bei jedem Schritt bis an die Knöchel versanken, so daß jeder Schritt ein winziges bißchen mühsamer war als der vorhergehende, und manchmal wurde der Dunst so dicht, daß sie kaum noch sahen, wohin sie gingen.

Als wäre dies alles noch nicht genug, kam am frühen Nachmittag Nebel auf; zuerst nur dünne, treibende Schwaden, die durchsichtigen Fingern gleich vom Fluß heraufkrochen und sich wie eine Decke über den Uferschlamm breiteten. Dann aber verdichteten sie sich immer rascher zu grauweißen, wattigen Wolken, so daß man meinen konnte, der Himmel wäre zur Erde herabgesunken.

Unbehaglich sah sich Torian um. Alles, was weiter als sieben, allerhöchstens acht Schritte entfernt lag, verschwand in milchigem Dunst, und das donnernde Tosen des Flusses verschluckte jeden anderen Laut. Es war längst unmöglich geworden, sich anders als durch Zeichen und Grimassen zu verständigen. Wenn sie wirklich noch verfolgt wurden, gab es für ihre Gegner keine günstigere Möglichkeit, sich unbemerkt anzuschleichen, dachte er nervös. Dazu kam, daß sie eine deutliche Spur hinterließen; bei jedem Schritt blieben kleine Löcher im Boden zurück, die sich rasch mit nachsickerndem Wasser füllten und ihren Weg wie eine sechsfache Kette kleiner, blitzender Spiegelscherben markierten.

Aber das war nicht der einzige Grund für Torians Unruhe. Der Nebel roch sonderbar, schien den Geruch von Gefahr und Tod mit sich zu führen, ohne daß Torian sagen konnte, was dieses Gefühl in ihm auslöste. Unbewußt ging er noch ein wenig schneller als bisher. Etwas Körperloses, Finsteres schien sich in den treibenden Schwaden zu verbergen, aber es waren nicht die Schuppenwesen.

Nein, korrigierte sich Torian gleich darauf selbst. Wenn es eine Bedrohung gab, so lauerte sie nicht im Nebel. Es war der Nebel selbst – und das, was seine Phantasie aus den ineinander verschlungenen Schwaden machte. Er glaubte, dämonische Fratzen zu sehen, unförmig aufgeblähte Riesenquallen, geifernde Alptraumwölfe, die mit Mäulern voller fingerlanger Reißzähne nach ihnen schnappten und ...

Mit Gewalt verdrängte Torian die Vorstellung. Er blinzelte ein paarmal, und die angstmachenden Trugbilder wurden wieder zu dem, was sie in Wirklichkeit waren: harmlose Nebelschwaden.

Er wandte sich zu Garth um, der nur als schemenhafter Umriß zu erkennen war, und trat ein paar Schritte auf ihn zu. Der hünenhafte Körper des Diebes schälte sich aus den Schwaden, war nun deutlicher zu erkennen.

Mit einem gellenden Schrei sprang Torian zurück.

Die Gestalt vor ihm war nicht Garth.

Sie war nicht einmal ein Mensch, sondern ein mißgestaltetes Monstrum mit drei Beinen und mindestens einem halben Dutzend Armen zuviel. Und darüber—

Torian sah das Gesicht einer nur vage menschenähnlichen Mißgeburt, die aller Logik nach überhaupt nicht leben dürfte. Der Kopf war auf schreckliche Weise deformiert, in sich verdreht. Während die eine Wange fett und aufgequollen war, sah die andere eingefallen aus, trockene, pergamentartige Haut spannte sich über den Knochen. Der Mund mit den schwülstig aufgeworfenen Lippen verlief auf eine unmöglich anmutende Art schräg durchs Gesicht, so daß er vom Kinn bis fast zu einem der froschartigen Augen reichte. Das andere Auge war zu einer widerlichen, weißlichen Masse zusammengesunken. Die Kreatur öffnete den Mund. Zwei Reihen nadelspitzer Zähne kamen darunter zum Vorschein. Mit einem leisen Knistern riß die pergamentartige Haut über der rechten Wange. Bleiche, wie Elfenbein schimmernde Knochen kamen darunter zum Vorschein.

Einige Sekunden lang war Torian vor Schrecken unfähig, sich zu rühren. Erst als das Monstrum ihn fast erreicht hatte, gelang es ihm, die Lähmung abzuschütteln. Mit einem entsetzlichen Schrei riß er den Knüppel hoch und schlug zu. Scheinbar mühelos fing das Ungeheuer seinen Hieb ab, schmetterte ihm das Holzstück aus der Hand und schleuderte es achtlos zur Seite. Torian sah den Schlag der Alptraumkreatur kommen, und irgendwie schaffte er es, sich im letzten Moment zur Seite zu werfen. Er nutzte seinen Schwung, um sich abzurollen und sofort wieder auf die Beine zu springen.

Torian sah den Ansatz des nächsten Schlages, und irgendwie konnte er gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite reißen. Ganz auszuweichen, war nicht mehr möglich, dafür kam der Hieb zu schnell, aber wenigstens verfehlte die klauenartige Hand sein Kinn.

Dafür traf sie ihn an der Schulter. Torian wurde von den Füßen gerissen und zurückgeschleudert. Himmel und Erde führten plötzlich einen rasenden Tanz um ihn herum auf. Obwohl der schlammige Boden seinen Sturz dämpfte, raubte ihm der Aufprall fast das Bewußtsein. Für einige Sekunden wunderte er sich einfach nur darüber, daß er noch am Leben war und sich nicht sämtliche Knochen im Leib gebrochen hatte. Wo der Schlag seine Schulter getroffen hatte, tobte ein pulsierender, klopfender Schmerz, als hätte etwas sein Blut in Lava verwandelt, aber mit zusammengebissenen Zähnen konnte er den Arm noch bewegen.

Unbeirrt kam die Kreatur nähergestapft. Ein höhnisches Grinsen lag auf dem Gesicht des lebenden Toten. Der Riß in seiner Wange hatte sich noch verbreitert. Es war schier unglaublich, daß das Wesen noch lebte, aber offensichtlich kümmerte es sich keinen Deut um menschliche Logik.

Torians Atem ging keuchend und stoßweise. Der Schmerz ließ ihn schwindeln. Er versuchte, die dunklen Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln und quälte sich stöhnend wieder auf die Beine, nur um in dem glitschigen Schlamm sofort wieder den Halt zu verlieren und erneut im Matsch zu versinken.

Dieses Mißgeschick rettete ihm das Leben. Er fiel geradezu unter dem nächsten Schlag der Kreatur hindurch und glaubte, noch den Luftzug zu spüren. Instinktiv wälzte er sich zur Seite, als sich der massige Schatten auf ihn stürzte, um ihn allein durch sein Gewicht zu zerquetschen. Der Boden schien zu beben, als das hünenhafte Monstrum dicht neben ihm aufprallte. Torian wollte auf die Beine springen, aber eine Klauenhand bekam seinen Arm zu packen und riß ihn wieder zurück.

Torian schrie auf und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, aber die halb skelettierte Klaue hielt sein Handgelenk wie ein Schraubstock umklammert. Fauliger, nach Tod stinkender Atem traf sein Gesicht. Blindlings schlug er mit dem freien Arm zu, mitten in die teigige Gesichtshälfte des Monstrums. Von irgendwoher drang eine Stimme an sein Ohr, ohne daß er die Worte verstand. Etwas packte seinen Arm, gleichzeitig wurde die Stimme lauter und eindringlicher.

»Torian, Garth, hört auf! Seid ihr wahnsinnig geworden?«






Er verstand die Worte, aber auch jetzt begriff er ihren Sinn nicht. Eine weitere Kreatur war hinter ihm aufgetaucht, ebenso schrecklich wie die erste. Voller Panik schlug er nach ihr, doch sie wich seinem Hieb aus und versetzte ihm ihrerseits eine schallende Ohrfeige.

Im gleichen Moment zerplatzten die Schleier vor seinen Augen. Aus der Kreatur hinter ihm wurde Shyleen, die gerade die Hand zu einem weiteren Schlag hob, sie aber wieder sinken ließ, als sie seine Verwirrung erkannte.

Auch das zweite Alptraummonster zerfloß binnen eines Herzschlages, wurde zu der vertrauten Gestalt von Garth. Sein linkes Auge begann zuzuschwellen und färbte sich dunkel.

»Bei den Dämonen!« keuchte der Dieb. »Was soll das? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«

Torian stand mühsam auf, half Garth, ebenfalls auf die Beine zu kommen, und massierte seine schmerzende Schulter.

»Habt ihr denn beide den Verstand verloren, so aufeinander loszugehen und euch halbtot zu prügeln?« fauchte Shyleen.

Torian beachtete sie nicht. Der Nebel um sie herum hatte sich etwas gelichtet, war längst nicht mehr so dicht wie zuvor. Die milchigen Schwaden wirbelten stärker durcheinander. Es kam Torian vor, als würden sie einen höhnischen Tanz aufführen. Wieder begann die Umgebung um ihn herum unwirklich zu flimmern, Garth’ rechte Gesichtshälfte schien einzufallen, auszutrocknen...

»Der Nebel...« stieß er gepreßt hervor. »Etwas stimmt nicht damit. Er ... er läßt uns Dinge sehen, die nicht wahr sind.«

»Ich habe geglaubt, ein Ungeheuer vor mir zu haben«, erklärte Garth. Sein Blick flackerte. »Das warst nicht du. Es war...« Er brach ab. Vorsichtig, als fürchte er, durch eine unbedachte Bewegung den Schrecken der vergangenen Augenblicke aufs neue heraufzubeschwören, hob er die Hand, betastete sein verquollenes Auge und zuckte vor Schmerz zusammen. »Verdammt, hättest du nicht etwas weniger hart zuschlagen können?«

»Du warst auch nicht gerade sanft zu mir«, gab Torian trocken zurück. »Du hättest mir fast die Schulter gebrochen. Eine Minute mehr, und wir hätten uns gegenseitig umgebracht. Wenn ich das Schwert noch gehabt hätte ...«

Garths Gesicht wurde noch eine Spur blasser, aber er sagte nichts.

Ein absurder Gedanke schoß Torian durch den Kopf. Erst im nachhinein begriff er, was er unbewußt mit seinen Worten angedeutet hatte: daß die Schuppenwesen ihnen durch den Raub des Schwertes wirklich das Leben gerettet hatten. Aber er verwarf diese Idee gleich darauf wieder. Wenn die gepanzerten Wesen eines nicht gemacht hatten, dann den Eindruck, ihnen besonders wohlgesonnen zu sein.

»Die Träume der schlafenden Göttin«, murmelte Shyleen. »Wir dürfen uns nicht...«

Torian sah auf. »Was hast du gesagt?«

Sie zuckte erschrocken zusammen, fast schuldbewußt. »Nichts«, antwortete sie, ebenso hastig wie wenig überzeugend. »Ich habe nur laut gedacht. Wir dürfen uns von den Trugbildern hier nicht beirren lassen, sonst sind wir verloren. In diesem Nebel muß etwas sein, das unsere Sinne narrt. Vielleicht ein Gas.«

»Ich will wissen was du gemeint hast«, wiederholte Torian scharf und packte ihren Arm. »Was hat das Gerede von Träumen und einer schlafenden Göttin zu bedeuten? Antworte!«

Shyleen sträubte sich gegen seinen Griff und versuchte erfolglos, sich zu befreien. »Verdammt, laß mich los!« schrie sie. »Du tust mir weh.«

»He!« mischte sich Garth ein und streckte die Hand nach ihm aus. Torian versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn meterweit zurücktaumeln ließ und funkelte Shyleen an. »Ich werde dir noch wesentlich mehr weh tun, wenn du uns nicht endlich alles sagst, was du weißt«, knurrte er. »Allmählich habe ich das Gefühl, daß du uns eine ganze Menge verschwiegen hast.«

Einige Sekunden lang starrten sie sich gegenseitig feindselig an. Etwas Schwarzes, Pelziges war plötzlich in Shyleens Mund. Dünne, haarige Beine tasteten über ihre Lippen, dann kroch eine Spinne aus ihrem Mund. Torian blinzelte, kämpfte gegen das Trugbild an, und die Spinne löste sich in nichts auf. Er krampfte seine Hand noch fester um Shyleens Arm. Erst als sie vor Schmerz aufschrie, lockerte er erschrocken seinen Griff.

Shyleen duckte sich unter ihm hindurch. Im nächsten Moment fühlte er sich gepackt und über ihre Schulter gewirbelt. Unsanft landete er erneut im Schlamm. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich aufrichtete und benommen den Modder aus dem Gesicht wischte. Verblüfft sah er zu Shyleen hoch.

»Tu das nie wieder«, fauchte sie. »Greif mich nie wieder an. Beim nächsten Mal kratze ich dir die Augen aus!« Ihr Blick sprühte vor Zorn und ließ keinen Zweifel daran, daß sie ihre Drohung – zumindest im Augenblick – todernst meinte. Ihre Hand lag in einer ganz und gar nicht zufälligen Geste auf dem Gürtel, dort, wo normalerweise ihr Schwert hing.

»Das werden wir ja sehen!« gab Torian wütend zurück. Ohne ihre Warnung zu beachten, wollte er sich sofort wieder auf sie stürzen, doch Garth vertrat ihm rasch den Weg.

»Wer ist jetzt hier verrückt geworden?« rief er. »Kommt endlich zur Besinnung. Wir müssen hier weg!«

Torians Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. Entsetzt bemerkte er, daß sie wirklich drauf und dran waren, sich gegenseitig umzubringen. Auch Shyleen schüttelte benommen den Kopf, dann machte der Zorn in ihrem Blick Betroffenheit und Verwirrung Platz.

Übertrieben hastig wandte sie sich um und begann zu laufen. Torian und Garth folgten ihr.

Die Nebelschwaden vor ihnen lichteten sich zusehends und blieben schließlich ganz hinter ihnen zurück. Torian atmete erleichtert auf, warf einen letzten Blick auf die milchige Brühe und sah rasch wieder nach vorne.

»Machen wir eine kurze Rast«, schlug er vor, als sie eine weitere Meile zurückgelegt hatten und seine Kleidung in der Sonnenhitze getrocknet war. Bleigewichte schienen an seinen Beinen zu hängen. Das Gehen im nachgiebigen Morast war anstrengend, und abgesehen von ein paar Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht hatte er seit Tagen kaum geruht. Er suchte eine möglichst trockene Stelle und setzte sich.

Garth nickte zustimmend, klopfte sich den halb eingetrockneten Schlamm von den Beinen und ließ sich neben ihm zu Boden sinken.

Nur Shyleen protestierte heftig. »Laßt uns lieber zusehen, daß wir einen Übergang finden. Ausruhen können wir uns später.«

»Nein«, entschied Torian. »Ich will endlich wissen, was du uns verschwiegen hast. Vorher mache ich keinen Schritt mehr.«

»Dieser verdammte Nebel hat mich nervös gemacht«, wich Shyleen aus. »Was ich gesagt habe, hat nichts zu bedeuten.«

»Keine Ausflüchte mehr«, warnte Garth mit für ihn ungewöhnlicher Härte in der Stimme. »Wenn wir schon den Kopf für dich riskieren, dann haben wir wohl wenigstens ein Recht auf die Wahrheit.«

»Ihr habt überhaupt kein Recht, irgend etwas zu fordern«, erwiderte Shyleen gereizt. »Ich habe euch nicht gebeten, mich zu begleiten.« Sie erkannte im gleichen Moment, daß sie damit zu weit gegangen war. »Entschuldigt«, murmelte sie, fuhr sich verlegen mit der Hand durch das Haar und setzte sich nach kurzem Zögern ebenfalls. »Also schön, ich habe einige Legenden gehört, aber das ist auch alles. Dummes Gerede.«

»Ich liebe Legenden«, hakte Torian ein. »Besonders, wenn sie von einer schlafenden Göttin und ihren Träumen handeln. Was hat sie mit dem Tempel der verbotenen Träume zu tun?«

»Er wurde ihretwegen erbaut«, erklärte Shyleen widerstrebend. »Niemand kennt ihren wahren Namen. Sie wurde nur Kristallfürstin genannt. Vor Urzeiten war sie eine mächtige Herrscherin, bis sie ihren Feinden zu mächtig wurde und diese sich gegen sie zusammenschlössen. Sie konnten die Kristallfürstin zwar nicht töten, aber sie versetzten sie in einen magischen Schlaf. Angeblich soll sie immer noch im Tempel der verbotenen Träume ruhen. Sie kennt das Geheimnis der Unsterblichkeit. Von ihr werden wir es erfahren. Das ist alles, was ich gehört habe, und wahrscheinlich stimmt nur ein Bruchteil davon.«

»Möglich«, gab Torian nach kurzem Nachdenken zu. »Aber was hat diese Kristallfürstin mit dem Nebel zu tun?«

»Ihre Macht war die der Illusion. Es scheint, als ob sie ihre Kräfte selbst im Schlaf noch zu entfesseln vermag.«

»Ziemlich unwahrscheinlich«, brummte Garth. »Eher dürfte es eine Falle ihrer Gegner sein, die verhindern wollen, daß irgend jemand sie erreicht und aus ihrem Schlaf erweckt. Ich verstehe nur nicht, warum du uns das unbedingt verschweigen wolltest. Und jetzt sag nicht, weil du es für unwichtig gehalten hast.«

Shyleen raffte sich zu einem Lächeln auf. »Nein«, erwiderte sie. »Ich habe aus einem anderen Grund nichts davon erwähnt. Nehmen wir an, die Legenden stimmen, und es gelingt uns, die Kristallfürstin zu erwecken.« Sie sah Garth und Torian abwechselnd an, als erwarte sie eine ganz bestimmte Reaktion auf diese Worte. »Nehmen wir an, sie ist wirklich so mächtig und grausam, wie es heißt. Ich glaube nicht, daß sie sich freiwillig wieder schlafenlegt, nachdem wir von ihr erfahren haben, was wir wissen wollen.« Sie fanden die Brücke am späten Nachmittag. Bereits seit einiger Zeit war der Boden unter ihren Füßen felsiger geworden, und das Ufer stieg beiderseits des Flusses sanft, aber beständig an, so daß dazwischen eine mehrere Meter tiefe Schlucht entstanden war, an deren Grund das Wasser dahinschoß.

Die Brücke war bereits von weitem zu sehen, doch zumindest Torians erste Freude war beim Näherkommen rasch einer Ernüchterung gewichen. Zweifelnd betrachtete er den aus Seilen und grob behauenen Brettern gefertigten Steg, der einen alles andere als vertrauenerweckenden Eindruck machte. Die Seile, welche die ganze Konstruktion trugen, ließen befürchten, daß sie bei der geringsten Belastung reißen würden; die dazwischengelegten Bretter waren zum größten Teil morsch und verrottet. Viele fehlten ganz, so daß Lücken wie klaffende Wunden im Skelett der Brücke entstanden waren.

»Das grenzt fast an Selbstmord«, murmelte er. »Ich habe Flüsse schon auf sicherere Art überquert.«

»Siehst du hier eine? Wenn du unbedingt willst, kannst du ja auch schwimmen«, gab Shyleen zurück und wandte sich dann an Garth: »Geh du zuerst. Wenn die Brücke dein Gewicht trägt, wird sie uns wohl auch aushallen.«

»Und wenn nicht, bekomme ich nasse Füße«, brummte der Dieb. »Versprecht mir, wenigstens einen schönen Grabstein aufzustellen: Hier ruht Garth, die Hand. Er opferte sich für seine Freunde.«

»Und darunter schreiben wir: Er war zu fett für diese Brücke«, fügte Torian grinsend hinzu. »Versprochen. Halt dich an den Seilen fest. Wenn sie an einer Stelle reißen, kannst du dich mit ein bißchen Glück noch zum anderen Ufer schwingen.«

Garth musterte ihn von oben nach unten. »Habe ich dich gerade wirklich als Freund bezeichnet?« Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Brücke zu. Beide Hände fest um die Sicherheitsleinen zu beiden Seiten geklammert, trat er vorsichtig auf die schwankende Konstruktion hinaus. Vor jedem Schritt prüfte er sorgsam die Bretter vor sich mit dem Fuß. »Stabiler, als sie aussehen«, rief er und blickte über die Schulter zu ihnen zurück. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schrecken. »Paßt auf, hinter Euch!«

Torian fuhr herum. Für Sekunden hatte er nur auf den Dieb geachtet und alles andere um sich herum vergessen. Nun schien der Waldrand hinter ihnen lebendig zu werden.

Mehr als ein Dutzend der geschuppten Gestalten, die er zuvor schon gesehen hatte, kamen aus dem Gebüsch gestürmt. Es zeigte sich nun, daß die gefundene Schuppe wirklich kein Teil einer Uniform war. Bei den Wesen vor ihnen handelte es sich um Echsen, aufrecht gehende Titanen, von denen jeder einzelne Torian um mindestens drei Haupteslängen überragte. Sie waren von Kopf bis zu den stämmigen, im Vergleich zum übrigen Körper zu kurz geratenen Beinen mit den grünlichen Schuppen gepanzert. Sie schwangen gewaltige Krummschwerter, doch im Vergleich zu ihren Besitzern wirkten die Waffen fast harmlos. Die ovalen Schädel der Echsen bestanden fast zur Hälfte aus einem geschlitzten Maul mit mörderischen Zähnen, die aussahen, als ob sie einem Menschen mühelos mit einem Biß den Arm abtrennen konnten. Ihre muskelbepackten Körper schienen die ledernen, mit unzähligen dolchartigen Dornen gespickten Riemenpanzer sprengen zu wollen, in die sie hineingezwängt waren.

»Die Brücke!« keuchte Shyleen. »Wir müssen über die Brücke, und sie hinter uns zerstören!«

Mühsam schüttelte Torian die Lähmung ab, mit der ihn der Anblick der gewaltigen Echsen erfüllte, und rannte hinter ihr auf die Brücke hinaus. Ihnen blieb fast keine Zeit, erst die Festigkeit der Bretter zu prüfen. Sie konnten nur darauf hoffen, daß das Schicksal es wenigstens einmal ein bißchen gut mit ihnen meinte, statt dauernd nur nach ihnen zu beißen, wenn sie versuchten, einen Zipfel vom Glück zu packen.

Natürlich war es nicht so, im Gegenteil, diesmal tat der Biß besonders weh.

Garth hatte fast das andere Ufer erreicht, als Shyleen aufschrie und so plötzlich stehenblieb, daß Torian es erst zu spät merkte und gegen sie prallte. Die Brücke begann zu schwanken; er rutschte ab und konnte sich erst im letzten Moment an einer der Sicherheitsleinen festhalten. Die scharfe Bemerkung blieb ihm im Halse stecken, als sein Blick auf das gegenüberliegende Ufer fiel – und auf das zweite Dutzend Echsenkrieger, das auch dort aus dem Wald getreten war und auf sie wartete.

Aus, schoß es ihm durch den Sinn. So also sah sein Ende aus. Vor und hinter ihm erwartete ihn der Tod in Form von Krumm-Schwertern und nadelspitzen Krokodilzähnen, und vier Meter unter ihm das tosende Wasser, das nur darauf wartete, ihn zu packen und gegen die Felswände der Schlucht zu schmettern. Das glorreiche Ende eines großen Helden, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor. Er hätte wissen müssen, daß sich das Schicksal auf Dauer nicht ungestraft in die Suppe spucken lassen würde.

»Tiere«, keuchte Shyleen. »Verdammt, ich lasse mich nicht einfach von ein paar Riesensalamandern abschlachten. Bevor ich mich lebend von diesen Kreaturen fangen lasse, stürze ich mich lieber in den Fluß.«

»Ich glaube, in ein paar Minuten wird dir ziemlich egal sein, wer dich umgebracht hat«, gab Torian zurück. Er war plötzlich ganz ruhig. Es gab keine Hoffnung mehr, diesmal konnte sie höchstens ein Wunder retten, vielleicht die Hand eines freundlichen Gottes, die sie hochhob und irgendwo anders sanft wieder absetzte. Aber er glaubte weder an Götter, noch an Wunder.

»Außerdem sind es keine Tiere. Schau dir ihre Kleidung und die Waffen an. Diese Wesen besitzen Intelligenz.«

»Vielleicht wollen sie uns gar nicht umbringen, und wir können uns irgendwie mit ihnen verständigen.«

»Der letzte Ausweg, wie«, höhnte Torian. »Wenn man mit Gewalt nicht weiterkommt, könnte man es ja mal friedlich versuchen. Bitte sehr, frag sie, ob sie so freundlich wären, uns den Weg freizugeben. Vielleicht geleiten sie uns ja sogar —«

Er brach ab und wäre um ein Haar wieder gestürzt. Erneut geriet die Brücke in Schwingung, als eine der Echsen hinter ihm auf die Planken trat. Es war ein besonders großes und muskulöses Exemplar seiner Art. Auf seinem Lederwams prangte ein Dreieck mit einem stilisierten Auge. Langsam kam der Echsenkrieger mit gezogenem Schwert näher. Hinter ihm drängten weitere heran. Tückische Reptilienaugen musterten Torian.

Er wich einen Schritt zurück und suchte mit den Füßen halbwegs sicheren Stand. Kampflos würde er sich nicht ergeben. Jetzt bedauerte er, den Knüppel nach dem Kampf mit Garth nicht wieder aufgehoben zu haben, obwohl er nur zu gut wußte, daß ihm die jämmerliche Waffe gegen diesen Gegner ohnehin nichts nützen würde.

Zwei Schritte vor ihm blieb die Echse stehen. Einige Sekunden lang starrte sie ihn nur an, dann streckte sie den in messerscharfen Klauen endenden freien Arm nach Torians Gesicht aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Krachend brach eines der Bretter unter ihrem Gewicht aus der Halterung. Einen Moment wankte die Echse und kämpfte um ihr Gleichgewicht.

Torian erkannte seine Chance. So gut es der schwankende Boden erlaubte, stieß er sich ab. Noch im Sprung schnellte er die Beine nach vorne und trat mit aller Kraft nach dem Kopf der Echse, der einzigen Stelle ihres Oberkörpers, die nicht von dem dornengespickten Harnisch geschützt war.

Es war, als hätte er gegen einen Felsen getreten.

Ein grauenhafter Schmerz zuckte durch seinen Fuß. Jedem anderen Gegner hätte der Tritt das Genick gebrochen, aber der Echsenkrieger wankte nicht einmal. Dafür wurde Torian von der Wucht seines Angriffs zurückgeschleudert, über das Halteseil hinweg. Die Klauenhand schoß vor und bekam sein Leinengewand an der Schulter zu fassen. Wie Messer schnitten die Krallen in Torians Haut. Schmerz und panische Angst überfluteten sein Bewußtsein, löschten sein Denken aus. Er warf sich herum und schlug blindlings um sich.

Knirschend riß der Stoff, und nur ein Fetzen blieb zwischen den Krallen hängen. Torian versuchte, das Halteseil zu packen, aber er war zu langsam und streifte es nur mit den Fingerspitzen. Mit einem Schrei stürzte er in die Tiefe und krümmte seinen Körper instinktiv zusammen.

Wer auch immer behauptet hatte, Wasser hätte keine Balken, hatte gelogen. Eine Titanenfaust schien Torian zu treffen und ihm sämtliche Knochen gleichzeitig zu brechen. Durch die schiere Wucht seines Sturzes verwandelte sich die Wasseroberfläche in eine Glasscheibe, die beim Aufprall unter ihm zerbarst. Eisiges Wasser schlug über ihm zusammen; dann riß ihn die gleiche Titanenfaust mit sich fort. Ein Wasserschwall drang in seinen Mund und seine Nase und ließ ihn würgen.

Wie ein Stein sank er in die Tiefe und verschwendete nur einen flüchtigen Gedanken daran, daß der Fluß tiefer als erwartet war, und allein dieser Umstand ihm zumindest für ein paar Sekunden das Leben rettete. Dann aber spürte Torian den entsetzlichen Wasserdruck wie einen stählernen Reif um seine Brust und wollte schreien, bekam aber nur einen Mundvoll Wasser. Ein ungeheurer Sog packte ihn, wirbelte ihn herum, schleuderte ihn wieder in die Höhe und schnippte ihn wie ein lästiges Insekt einen halben Meter aus dem Fluß heraus.

Er fiel so schnell zurück, daß er kaum Zeit für einen hastigen Atemzug fand.

Diesmal versank er nicht ganz so tief, und er war geistesgegenwärtig genug, hastige Schwimmbewegungen zu machen, die ihn wieder an die Oberfläche tragen sollten.

Es ging nicht.

Eine unsichtbare Kraft zerrte an seinen Beinen, riß ihn herum und weiter in die Tiefe und ließ ihn abwechselnd kopfstehen und aufrecht und mit ebenso wild wie vergebens rudernden Armen weitersinken. Ein immer stärkerer Schmerz pochte in seiner Lunge. Sein Bewußtsein begann zu schwinden. Blutiger Nebel breitete sich vor seinen Augen aus und legte sich schwer auf seine Gedanken. Das Denken fiel ihm von Sekunde zu Sekunde schwerer. Gewaltsam mußte Torian gegen den immer stärker werdenden Impuls ankämpfen, den Mund aufzureißen und nach Luft zu schnappen, was den sicheren Tod bedeutet hätte. In ein paar Augenblicken würde er es tun, das wußte er.

Der Druck auf seine Lungen wurde unerträglich. Seine Sinne begannen zu schwinden. Er spürte, wie seine Bewegungen schwächer wurden und der Sog ihn immer heftiger herumwirbelte, sah Farben und Formen in einem irrsinnigen Kaleidoskop um sich tanzen, dann ergriff irgend etwas seinen Fuß und zerrte daran. Die Wasseroberfläche glänzte wie ein zerbrochener Silberhimmel über ihm. Unendlich weit über ihm. Und sie entfernte sich immer weiter. Erst jetzt erkannte er, daß er so ziemlich das Falscheste tat, was er überhaupt tun konnte. Er verschwendete seine Kraft sinnlos damit, gegen die reißende Strömung anzukämpfen und kam deshalb nicht aus dem Strudel heraus. Er gab seinen Widerstand auf, wurde noch rascher herumgewirbelt – und dann wurde er vom Schwung der Drehbewegungen aus dem Strudel herausgeschleudert. Der unbarmherzige Sog ließ schlagartig nach.

Torian raffte die letzten Kraftreserven zusammen, die er noch aufbringen konnte, um wieder in die Höhe zu kommen; diesmal der Strömung des Wassers folgend, statt dagegen anzukämpfen.

Dann, als er glaubte, es gar nicht mehr aushaken zu können, war es vorbei. Er riß den Mund auf und schnappte gierig nach Luft. Es dauerte einen Herzschlag lang, bis er merkte, daß er kein tödliches Wasser, sondern wirklich Luft in seine gequälte Lunge sog. Keuchend atmete er den herrlichen Sauerstoff ein, spürte, wie die tödliche Klammer um seine Rippen brach und spuckte Wasser. Die Luft schien mit Eiskristallen durchsetzt zu sein und stach wie Nadeln in seine Lunge, doch er beachtete es nicht.

Aber noch war die Gefahr längst nicht vorbei.

Schäumend raste eine neue Welle heran und schlug über ihm zusammen. Erneut wurde er nach unten gedrückt, kämpfte sich wieder hoch und spie Wasser aus. Um ihn herum tanzte und brodelte der Fluß, sprudelnder Schaum und kochendes Wasser waren alles, was er sah. Löcher in der Flußoberfläche rissen auf, brüllende Strudel, die sich mit irrsinniger Geschwindigkeit drehten, bis sie von den zusammenschlagenden Wassermassen wieder eingeschlossen wurden. Gischt sprühte meterhoch in die Luft, verband sich mit den roten Kreisen vor Torians Augen zu einem dichten, blutigen Schleier. Wie mit gigantischen Fäusten schlug die Strömung ohne Unterlaß auf ihn ein. An zielgerichtete Schwimmbewegungen war gar nicht zu denken. Eine unsichtbare Kraft zerrte an seinen Beinen. Der Sog riß ihn wie eine ungeheuer starke Hand vorwärts. Konturlose Dinge tauchten vor ihm auf. Er unternahm nicht erst den Versuch, danach zu greifen, sondern ließ sich treiben.

Harter Fels schrammte an seinem Gesicht entlang. Er prallte gegen ein Hindernis und versuchte noch einmal, den blutigen Nebel vor seinen Augen mit Blicken zu durchdringen. Ein weiterer Schlag traf ihn, und er spürte, wie er sich die Haut abschürfte, ohne den Schmerz zu empfinden. Unbewußt begriff Torian, daß die gleiche Strömung, die ihn zu ersticken drohte, ihn zumindest vor den hier nur vereinzelt im Flußbett liegenden Felsen rettete, indem sie ihn, dem Weg des geringsten Widerstandes folgend, einfach zwischen den Hindernissen hindurchschleuderte. Aber er wurde sich auch klar, daß dieser Schutz trügerisch war und spätestens in ein paar Minuten enden würde, wenn das Wasser ihn bis zum Gebiet der Stromschnellen gespült hatte, wo sie erstmals auf den Fluß getroffen waren, und wo die Felsen stellenweise regelrechte steinerne Barrieren bildeten, an denen er zerschmettert würde.

Einige Sekunden lang ließ sich Torian einfach nur treiben, sammelte Kraft und versuchte, sich einigermaßen zu orientieren. Dann begann er, sich mit zielgerichteten Bewegungen auf das Ufer zuzuarbeiten. Es war ein mühsames, kräftezehrendes Unterfangen. Immer wieder riß ihn die Strömung zurück, machte in Sekundenbruchteilen die Arbeit von Minuten zunichte.

Trotzdem bekam er irgendwann etwas unangenehm Weiches, fast Schleimiges zu fassen, das zwischen seinen Fingern zerrann. Torian packte fester zu, grub seine Finger tiefer in den nachgiebigen Uferschlamm. Eine besonders mächtige Welle zerrte an ihm und versuchte ihn zurückzureißen, als spürte der Fluß, daß sein sicher geglaubtes Opfer ihm zu entkommen drohte. Mit verbissener Kraft, von der er selbst nicht mehr wußte, wo er sie hernahm, krallte sich Torian fest, stemmte seine Füße gegen den morastigen Boden und zog sich ans Ufer. Sein Körper schien plötzlich Tonnen zu wiegen, aber er ließ nicht locker, kroch Stück für Stück weiter auf den Uferstreifen hinauf.

Etwas in Torian weigerte sich beharrlich, daran zu glauben, daß er wirklich gerettet war. Auch als er selbst mit den Füßen längst aus dem Wasser heraus war, schleppte er sich noch weiter, von der panischen Furcht getrieben, der Fluß könnte ihn sogar hier noch einholen. Seine Arme und Beine bewegten sich fast von alleine.

Erst als er den Sandstreifen hinter sich gelassen hatte und mehrere Meter in das Unterholz des Waldes gekrochen war, brach er vollends zusammen und blieb zu Tode erschöpft liegen. Sekunden später schlug die Schwäche wie eine gewaltige, schwarze Woge über ihm zusammen und löschte sein Bewußtsein aus. Es war immer noch Tag, als er erwachte; und im ersten Moment dachte Torian, daß er nur kurz bewußtlos gewesen sein konnte.

Aber nur im ersten Moment. Dann bemerkte er, daß die Sonne zu hoch am Himmel stand, viel höher als zu dem Moment, in dem sie die Brücke betreten hatten, und mit eisigem Schrecken wurde ihm bewußt, daß es nicht immer noch Tag war, sondern schon wieder. Er mußte die ganze Nacht und fast einen halben Tag geschlafen haben. Erstaunlich, daß er noch am Leben war, dachte er.

Deutlich erinnerte er sich noch an die Ereignisse auf der Brücke, aber alles, was sich nach seinem Sturz ins Wasser ereignet hatte, war in einem einzigen Durcheinander aus sinnlosen Bildern und Eindrücken in seinem Gedächtnis verschwunden. Wenn er sich gegenüber ehrlich war, dann wollte er sich gar nicht genau daran erinnern.

Torian rieb sich den Schlaf aus den Augen und stand auf. Die Beine wollten ihm noch nicht richtig gehorchen, doch seine Schritte wurden mit jeder Sekunde fester. Der Schlaf, auch wenn er nicht freiwillig gewesen war, hatte ihn erfrischt.

Dafür machte sich auch der Hunger immer deutlicher bemerkbar. Torian ging zum Fluß und wusch sich das Gesicht mit dem eisigen Wasser, um die Benommenheit vollends zu vertreiben; dann trank er, so lange, bis ihm fast übel wurde. Das Wasser gab ihm das Gefühl, etwas im Magen zu haben; es stillte seinen Hunger nicht, aber half ihm für eine Weile, ihn zu vergessen.

Aufmerksam sah er sich um. Das Gelände war hier flach, von der Brücke meilenweit nichts zu sehen. Er war weiter abgetrieben worden, als er ursprünglich angenommen hatte, und noch im nachhinein konnte er kaum fassen, daß er mit dem Leben davongekommen war. In Zukunft, dachte Torian, würde er etwas ehrfurchtsvoller über Wunder sprechen.

Was war mit Shyleen und Garth? Er klammerte sich an die Hoffnung, daß auch sie überlebt hatten, und es eine Möglichkeit gab, sie zu retten. Die einzige Chance, etwas über ihr Schicksal herauszufinden, war die Brücke. Er mußte dorthin zurück. Wenn die Echsen seine Gefährten verschleppt hatten, würde er dort möglicherweise Spuren finden. Und wenn nicht...

Torian weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.

Mit weitausholenden Schritten ging er los, dem gewundenen Band des Flusses folgend. Jede Minute konnte kostbar sein. Er hatte bereits fast einen ganzen Tag verloren und würde wahrscheinlich weitere Stunden brauchen, um die Brücke zu erreichen.

Das war der letzte klare Gedanke, den er faßte.

Eine gigantische schwarze Hand schien nach seinem Gehirn zu greifen und fegte sein Denken mit feurigen Fingern hinweg. Dann sah er...

Es war eine Vision, und er war sich dieses Umstandes auf einer unbewußten Ebene seines Denkens völlig bewußt, und trotzdem war sie so echt, daß er glaubte, die Realität zu erleben. Er sah eine Staat, aber eine Stadt, wie er sie noch niemals zuvor erblickt hatte. Die Gebäude schimmerten silbern. Sie waren von unvergleichlicher Feinheit, schmal und hoch, mit unzähligen Erkern und kristallenen Türmchen. Es gab Parks mit Teichen und munter plätschernden Springbrunnen, und Blumen von einer Pracht und Farbenvielfalt, die ihresgleichen suchte.

Dann verblaßte das Bild, als lege sich ein milchiger Schleier darüber. Enttäuscht stöhnte Torian auf. Noch nie zuvor hatte er einen Ort von solcher Schönheit gesehen, und er wußte, daß er dorthin gelangen mußte, koste es, was es wolle. Die Vision grub sich mit unzähligen winzigen Krallen in sein Gehirn und verdrängte jeden anderen Gedanken daraus. Mit einem Schlag wurde alles andere bedeutungslos, er vergaß alles, woran er zuvor gedacht hatte. Nur noch die Stadt in ihrer unvergleichlichen Pracht existierte – der Ort, den er unbewußt sein ganzes Leben lang gesucht und nach dem er sich all die Jahre hindurch gesehnt hatte; der Ort ewigen Friedens, der die Antworten auf alle Fragen seines Lebens für ihn bereithielt. Keine Anstrengung würde zu groß sein, um die Stadt zu erreichen.

Torian kehrte dem Fluß den Rücken zu und begann zu laufen; rannte von brennender Sehnsucht getrieben durch den Wald, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen, rannte stundenlang, ohne daß ihm das Verstreichen der Zeit bewußt wurde, rannte immer weiter, von einer lautlosen Stimme geführt, ohne Schwäche oder Erschöpfung zu spüren, rannte, rannte, rannte...

Irgendwann ließ er den Wald hinter sich. Die lockende Stimme in seinem Kopf verstummte. Er hatte sein Ziel erreicht. Keuchend blieb er stehen. Vor ihm erhob sich inmitten von sanft ansteigenden, mit einem Blumenteppich bedeckten Hügeln die Stadt.

Und ihre wirkliche Schönheit übertraf die Vision noch um ein Vielfaches.

Der Anblick der filigranen, zerbrechlich anmutenden Türme und kunstvoll ineinander verschachtelten Häuser raubte Torian den Atem. Mit ihren gepflegten Parks, den Teichen und unzähligen Springbrunnen wirkte die Stadt wie gemalt, als wäre sie ein gestaltgewordener Traum, der verblassen mußte, sobald man nach ihm zu greifen versuchte. Kein Baumeister konnte eine Stadt wie diese entwerfen, die Arbeit von Jahrtausenden würde nicht ausreichen, auch nur einen einzigen Straßenzug fertigzustellen. Es konnte sich nur um einen Traum handeln. Und doch war die Stadt real. Torian versuchte die Vision wegzublinzeln, aber der unglaubliche Anblick blieb.

Langsam, wie in Trance, trat er näher an die Häuser heran. Alles, was er zuvor erlebt hatte, kam ihm wie ein ferner, verschwommener Schatten vor, ohne jede Bedeutung an diesem Ort des Friedens. Er konnte nicht erkennen, aus welchem Material die Gebäude erbaut waren, jedenfalls nicht aus Stein. Mal schimmerten sie wie polierter Marmor, dann wieder wie blankes Silber und gelegentlich blitzten sie in allen Farben des Regenbogens, so daß es aussah, als handele es sich um einen einzigen, riesigen Edelstein. Fast schien es, als wäre die Stadt ganz aus Glas errichtet worden; kunstvoll geschliffenes Glas, das sein Aussehen je nach Lichteinfall änderte. Vorsichtig ging er weiter. Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie noch beeindruckender, noch phantastischer.

Sein erster Eindruck bestätigte sich. Die Häuser und Türme schimmerten tatsächlich gläsern, wenngleich sie undurchsichtig waren und ihre Farbe ständig zu ändern schienen. Die unglaublich zarten Türme und kühn geschwungenen Brücken schienen der Schwerkraft zu trotzen. Sie machten den Eindruck, als müßten sie beim leichtesten Lufthauch in sich zusammenbrechen, doch als Torian mit der Hand über eine der glasierten Wände strich, fühlte sie sich kalt und ungemein hart an.

Und doch stimmte etwas nicht...

Torian brauchte Minuten, um sich aus dem Bann zu lösen, in den ihn der Anblick der bizarren Bauwerke geschlagen hatte. Die paradiesische Umgebung machte es ihm schwer, an irgendeine Gefahr zu denken. Nur langsam, fast widerwillig begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Alle Schönheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser Ort tot war, nicht mehr als eine Geisterstadt. Er streifte durch die Straßen, ohne irgendwo auf eine Menschen- oder was-auch-immer-für-eine-Seele zu treffen. Keine Vogelstimme war zu hören, keinerlei Schmutz auf den Straßen zu sehen, kein herangewehtes Laub; auf den Mauervorsprüngen lag nicht einmal Staub. Abgesehen vom leisen Plätschern eines Springbrunnens, waren seine eigenen, hohl von den Wänden widerhallenden Schritte das einzige Geräusch, das die geisterhafte Stille durchbrach.

Und noch etwas fiel ihm auf. Einige der Türme ragten Hunderte von Metern hoch in den Himmel, es schien einfach unmöglich, daß er sie nicht zuvor schon gesehen hatte, als er vom Ende des Stollens aus den größten Teil des Tals überblicken konnte.

Auch die Lösung dieses Problems verschob er auf später. Es war sinnlos, sich in einer Welt, deren Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten er nicht einmal in Ansätzen verstand, mit Fragen zu quälen, auf die er doch keine Antworten fand. Magie stand außerhalb der menschlichen Logik; sie ermöglichte vieles, das den normalen Naturgesetzen Hohn zu sprechen schien.

Vor ihm erstreckte sich eine von funkelnden Arkaden überdachte Gasse. Es gab zahlreiche Eingänge, und er trat willkürlich auf einen zu. Eine Tür war nicht vorhanden, nur eine rechteckige Öffnung, die ins Innere des Gebäudes führte. Er blickte in einen großen, sonnendurchfluteten Raum, der genauso leer war wie der ganze Stadtteil, den er bislang durchstreift hatte. Es fehlte jegliche Einrichtung, einfach alles, bis auf eine Treppe, die sich im Hintergrund des Raumes in bizarrer Form in die Höhe wand. Torian lauschte, und erst als sich nichts regte, stieg er vorsichtig die Stufen hinauf. Sie führten in ein weiteres Zimmer, das ebenfalls ein ganzes Stockwerk ausfüllte und ebenso leer war, wie das untere. Nur gab es hier zusätzlich noch Durchgänge zu den Nachbarhäusern. Das gleiche Bild bot sich mit jedem Stockwerk, das er höher stieg, nur gab es gelegentlich noch Öffnungen zu den unzähligen Brücken, die auch weiter entfernt liegende Straßenzüge miteinander verbanden. Je höher er kam, desto mehr wurde Torian erst bewußt, welch ein gigantisches Labyrinth diese Stadt bildete.

Eine nahezu ideale Falle ...

Die Stadt schien unbewohnt zu sein, aber das mußte nicht viel zu bedeuten haben. Er hatte erst einen winzigen Ausschnitt in Augenschein genommen. Hier konnte sich mühelos eine ganze Armee verbergen.

Torian überlegte, ob er umkehren sollte, da es hier ganz offenbar nichts gab, das für ihn von Interesse war. Er hatte wahrlich dringendere Probleme, als sich ein paar leere Häuser anzusehen; mochte die Stadt auch noch so schön sein. Aber es mußte irgend etwas Besonderes hier geben, schließlich war er auf nicht gerade normale Art in die Stadt gelockt worden.

Die Neugier war jedoch nicht der einzige Grund für seinen Entschluß, sich noch weiter umzuschauen. Er war blindlings durch den Wald gerannt, ohne im geringsten auf seine Umgebung zu achten. Torian wußte nicht einmal, in welche Richtung er sich wenden mußte. Von einem der Türme aus mußte der Fluß zu sehen sein.

Er trat in eines der Nebenhäuser und von dort in ein weiteres. Sie glichen exakt dem ersten, und das Bild änderte sich auch nicht, als er auf einer Brücke eine breite Allee überquerte und in eines der Häuser auf der anderen Straßenseite eindrang. Nirgendwo entdeckte er Spuren von Leben. Die Bauwerke waren nichts weiter als eine zwar prachtvolle und wunderbar anzusehende, aber nichtsdestoweniger leere Fassade.

Nach ein paar Minuten erreichte er ein Gebäude, das in einen hochaufragenden Turm überging. Im Inneren führte eine Treppe in die Höhe. Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.

Einige hundert Treppenstufen höher war er nicht mehr ganz so entschlossen. Seine Füße schmerzten, und jede Stufe schien beschwerlicher als die vorherige zu sein. Trotzdem stieg er weiter und freundete sich immer weniger mit dem Gedanken an, die Treppe in umgekehrter Richtung noch einmal bewältigen zu müssen. Es schien nichts anderes als die Stufen und die Wände des engen Schachtes mehr zu geben. Sehsamerweise war es auch hier hell, obwohl die Wände immer noch undurchsichtig waren.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit, in der er sich mehr als einmal ernsthaft die Frage gestellt hatte, ob diese Treppe überhaupt jemals irgendwo enden würde, kam er zu einer schmalen Plattform an der Spitze des Turmes. Bislang hatte sich Torian immer für schwindelfrei gehalten. Aber bislang hatte er auch noch nie auf einem mehr als zweihundert Meter hohen Turm gestanden. Schmerzlich wurde ihm bewußt, daß es auch in dieser Hinsicht für jeden Menschen eine Grenze seiner Unempfindlichkeit gab. Die seine wurde hier um ein gutes Stück überschritten.

Es war bei weitem nicht der einzige Turm, der diese Höhe erreichte, nicht einmal der höchste. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte gleichhohe oder noch höhere Gebilde ragten um ihn herum auf. Ein Großteil der Gebäude aber schien sich unter ihm wie winzige Spielzeughäuser flach an den Boden zu pressen. Der Anblick übertraf alles, was er jemals gesehen hatte, aber dennoch hielt sich seine zuvor noch fast grenzenlose Bewunderung für die unbekannten Erbauer dieser Stadt jetzt in Grenzen.

In sehr engen Grenzen.

Torian glaubte, jeden leichten Luftzug wie eine Orkanbö zu spüren. Der Turm schien unter ihm zu zittern und im Wind hin und her zu schwingen, und jede Bewegung des Gerüsts übertrug sich vielfach verstärkt auf seinen Körper. Mit dem rein gefühlsmäßigen Teil seines Bewußtseins, gegen den jede logische Überlegung machtlos war, bildete er sich ein, die ganze Konstruktion würde sich vornüberneigen und müßte jeden Augenblick abknicken oder in sich zusammenbrechen. Himmel und Erde verschmolzen in immer schnelleren Drehungen um ihn herum zu einer Einheit. Minutenlang schloß er von Schwindel geplagt die Augen, aber es half nicht viel, denn immer noch spürte er die Schwingungen des gläsernen Materials unter seinen Füßen.

Schließlich mußte er sich fast gewaltsam zwingen, die Augen wieder zu öffnen, und sich umzusehen. Die Stadt wurde rundum vom Wald eingeschlossen, aber von einem Wald, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Torian keuchte, schloß die Augen und riß sie nach ein paar Sekunden wieder auf.

Der Anblick blieb gleich.

Er hatte vom Ende des Stollens aus erkennen können, daß der Waldstreifen nicht breiter als zehn, zwölf Meilen war. Nun aber war alles verschwunden, die flachen Ebenen, die Berge, die das ganze Tal einschlössen, selbst der Fluß, an dessen Ufer er noch vor wenigen Stunden gestanden hatte. Es gab nur noch ein scheinbar unendliches Meer von Baumkronen – und die Stadt. Torians Blick blieb an einer gewaltigen Kuppel hängen, die nur wenige Straßenzüge von dem Turm entfernt aufragte. Inmitten der filigranen Bauwerke wirkte sie so deplaziert, wie es überhaupt nur ging; eine glatte, gut hundert Meter durchmessende Halbkugel ohne irgendwelche Verzierungen oder Unebenheiten. Und sie bestand auch nicht aus dem kristallartigen Material, aus dem die ganze übrige Stadt erbaut zu sein schien, sondern aus tiefer, lichtschluckender Schwärze, als wäre sie nicht mehr als ein Loch in der Wirklichkeit. Jemand schien einen riesigen schwarzen Ball in zwei Hälften zersägt und die eine davon über einen Teil der Stadt gestülpt zu haben.

Im nächsten Augenblick flossen die Konturen der Gebäude vor Torians Augen wieder ineinander, und bevor das Schwindelgefühl übermächtig werden konnte, wandte er sich hastig um und kletterte in den Treppenschacht zurück. Wieder kam es ihm wie Ewigkeiten vor, bis er das untere Ende der Treppe erreichte. Im nachhinein wußte er kaum noch, wie er es überhaupt geschafft hatte. Seine Füße schienen sich in unförmige Klumpen verwandelt zu haben und seine Beinmuskel zu verkrampften, knotigen Strängen geworden zu sein, die seinen Körper bei jeder Bewegung mit einem Geflecht feuriger Schmerzen durchzogen.

Er gönnte sich einige Minuten Rast, um wieder zur Ruhe zu kommen und seine Muskeln zu entspannen, bevor er sich auf den Weg zur Kuppel machte. Vielleicht würde er dort Antworten auf einige der Fragen finden, die ihn am meisten quälten.

Trotz des verwirrenden Labyrinths an Straßen, Gassen und Abzweigungen war der Weg nicht zu verfehlen. Er brauchte die Straße direkt vor dem Turm nur einige Dutzend Schritte weit entlangzugehen, dann sah er die gigantische Kuppel bereits über die Dächer der anderen Gebäude hinweg, und nach kaum hundert weiteren Schritten hatte er sie erreicht. Sie schien wie ein Berg vor ihm aufzuragen, und als er den Kopf in den Nacken legte, verschmolz der schwarze Granit irgendwo über ihm mit dem Blau des Himmels.

Tief in seinem Inneren meldete sich eine leise, warnende Stimme. Diese ganze Stadt war sonderbar unwirklich, aber die Kuppel war mehr als das – sie war fremd, wenn auch auf eine ganz andere Art als die übrigen Gebäude. Sie wirkten fremd durch ihre feine Bauweise, ihre Verspieltheit, den unglaublichen Reichtum an Details, die Kuppel hingegen durch ihre Schlichtheit und bloße Existenz. In ihrer unmittelbaren Nähe schien es merklich kühler geworden zu sein, als atmete das schwarze Gestein Kälte und Gefahr aus.

Im ersten Moment wäre Torian am liebsten wirklich umgekehrt, aber dann siegte seine Neugier. Er ignorierte seine Angst und die warnende Stimme in seinem Kopf. Langsam begann er, die Kuppel zu umrunden. Ihm fiel auf, daß sie an keines der anderen Gebäude stieß, sondern diese sich sorgsam um sie herum gruppierten, als wären sie eine Herde verängstigter Tiere, die sich schutzsuchend in ihre Nähe kauerten.

Nirgendwo schien es einen Eingang zu geben, und wenn doch, so fand er ihn nicht, nicht einmal nach zweifacher Umrundung der Kuppel. Resignierend gab Torian die Suche auf. Die Sonne begann bereits, tiefer zu sinken. Wütend trat er gegen die schwarze Wand und wurde von seinem eigenen Schwung nach vorne gerissen, als er auf keinen Widerstand traf. Sein Fuß drang durch die Wand, als wäre sie gar nicht vorhanden. Torian verlor das Gleichgewicht. Er versuchte instinktiv, sich abzustützen, doch auch unter seinen Händen spürte er keinen Widerstand. Er stürzte auf die Wand zu –

- und durch sie hindurch!

Verblüfft schaute er sich um. Er befand sich in einem riesigen Raum. Es gab weder ein Fenster noch eine erkennbare Lichtquelle, und doch war es nicht dunkel. Düsteres, violettes Licht schien unmittelbar aus den schwarzen Wänden zu dringen. Die gewaltige Halle war nicht leer. In ihrer Mitte erhob sich ein schwarzer, altarähnlicher Klotz. Torian schrie vor Entsetzen auf. Wie mit gierigen Krallen griff die Angst nach ihm. Vor dem Sockel kauerte eine mehr als vierfach mannshohe Kreatur, die geradewegs einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Am ehesten ließ sie sich mit einem Drachen vergleichen, aber gegen dieses Ungetüm nahmen sich selbst die gefürchteten Eidechsen aus den Nordlanden wie harmlose Haustiere aus. Die Ähnlichkeit beschränkte sich auf ein Paar überdimensional großer Schwingen und einen weit vorgereckten Schädel, dessen aufgerissenes Maul den Blick auf zwei Reihen furchtbarer Reißzähne freigab. Der Körper war der eines Giganten aus gestaltgewordener Nacht, gespickt mit messerscharfen Klauen und hornigen Stacheln und geschützt durch schwarzglänzende Panzerplatten. Mehr als ein Dutzend meterlanger, schuppenbedeckter Tentakel schienen mitten in der Bewegung erstarrt zu sein. Jetzt durchlief ein leichtes Zittern das Ungetüm, als erwache es aus einem tiefen Schlaf.

Torian schrie noch einmal auf. Zwei, drei Sekunden lang starrte er die Kreatur an, dann fuhr er herum, um den Raum auf gleichem Weg, auf dem er hereingekommen war, wieder zu verlassen, und prallte schmerzhaft gegen das schwarze Gestein der Kuppel. In seinem Kopf schien sich alles zu drehen, ihm wurde schwindelig. Hinter ihm erklang ein Scharren wie von hornigen Krallen und ließ ihn seine Schwäche vergessen.

Voller Panik tastete Torian mit den Händen die Wand ab. Der unsichtbare Durchgang konnte nicht weit entfernt sein, er war schließlich unmittelbar dahinter zu Boden gestürzt. Es sei denn, die Kuppel war nur von einer Seite aus durchlässig! dachte er entsetzt. Mit aller Gewalt unterdrückte er den Gedanken.

Der Drache stieß ein heiseres Fauchen aus.

Erneut widerstand Torian der Versuchung, sich umzudrehen. Er wußte, daß er verloren war, wenn er das Ungeheuer noch einmal anschaute, wenn er sah, wie es die Fesseln des Schlafes abstreifte und auf ihn zukam. Seine Finger glitten in rasender Hast über das schwarze Gestein, bis sie plötzlich widerstandslos darin einsanken.

Im gleichen Moment spürte Torian einen heißen Luftzug im Nacken. Ohne zu denken ließ er sich nach vorne fallen. Die Schwärze um ihn wich zurück, dann war plötzlich wieder helles Sonnenlicht um ihn herum, und er sah das steinerne Pflaster des Platzes vor der Kuppel auf sich zurasen. Instinktiv krümmte er sich zusammen, nahm dem Aufprall durch eine Drehung die schlimmste Wucht und sprang sofort wieder auf die Beine. Die Angst hielt ihn immer noch gepackt und trieb ihn voran. Torian lief einige Schritte weit, dann blieb er stehen und beobachtete minutenlang die Kuppel. Erst als er sicher war, daß die Kreatur ihm nicht folgte, atmete er erleichtert auf.

Seine Erleichterung verschwand einige Sekunden später jedoch ebenso schnell wieder, als er plötzlich spürte, daß er nicht mehr allein war. Er wußte nicht, woher dieser Eindruck stammte: Vielleicht war es einfach nur das Gefühl, eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, ein leises Geräusch – jedenfalls war er sicher, daß sich irgend jemand in seiner Nähe aufhielt.

Torian fuhr herum.

Der Platz und die Straßen hinter ihm waren so leer wie zuvor, und trotzdem wußte er, daß er sich nicht getäuscht hatte. Etwas war dagewesen, und es hielt sich immer noch in seiner Nähe versteckt. Wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewußt, daß er völlig unbewaffnet war. Einige Sekunden lang schaute er sich mißtrauisch um, dann trat eine Gestalt aus einem Hauseingang und kam langsam auf ihn zu.

Seine Beine begannen zu zittern, er hatte das Gefühl, daß sie sein Gewicht nicht länger tragen könnten. Er wollte stöhnen, schreien, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er war wie gelähmt, blieb völlig reglos stehen. Alles verschwomm vor seinen Augen, er sah nur die Gestalt mit beinahe überdeutlicher Klarheit.

Es war ein junges, kaum zwanzigjähriges Mädchen mit weichem, von goldenem Haar umrahmtem Gesicht, das so zerbrechlich schien, als wäre es aus Glas modelliert. In ihren dunklen Augen mischten sich Trauer, Schmerz und eine unbändige, fassungslose Freude.

Torians Atem stockte. Er kannte das Mädchen, kannte es vielleicht besser, als jeden anderen Menschen. Er hatte es geliebt und geglaubt, es niemals mehr wiederzusehen, denn es war vor mehr als vier Jahren vor seinen Augen gestorben.

Lyn.

Er erforschte ihr Gesicht mit seinen Blicken, suchte nach einem Hinweis, daß er sich täuschte, daß es sich um eine Unbekannte handelte, die Lyn nur durch eine Laune der Natur ähnlich sah.

Es gab keinen. Der Ausdruck ihrer Augen, der Schwung ihres Mundes, jede Linie und jedes kleine Fältchen stimmte mit dem Bild Lyns überein, das sich unauslöschlich tief in seine Erinnerung eingegraben hatte.

Aber es konnte nicht sein. Es war schlichtweg unmöglich. U-n-m-ö-g-l-i-c-h! Er war dabeigewesen, als sie starb; hatte die schrecklichen Wunden gesehen, welche die Pfeile in ihren Körper gerissen hatten, das Entsetzen in ihrem Gesicht in den wenigen Sekundenbruchteilen, bis ihre Augen brachen.

Und jetzt stand sie vor ihm.

»Lyn!« keuchte er. Es klang fast wie ein erstickter Schrei. Seine eigene Stimme dröhnte fremd in seinen Ohren. »Du ...«

Lyn trat noch einige Schritte weiter auf ihn zu und blieb erst dicht vor ihm stehen. Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr engelhaftes Gesicht.

»Ja, ich bin es, Torian«, sagte sie.

Ihre Stimme ließ ihn erneut zusammenzucken. Wie oft hatte er sich danach gesehnt, sie noch einmal zu hören. Sein Herz begann wild und unkontrolliert zu schlagen. Er zögerte noch einen Moment, von plötzlicher irrsinniger Furcht gepackt, sie könnte sich als trügerische Illusion entpuppen, wenn er sie zu berühren versuchte, dann hielt er es nicht mehr länger aus und riß sie mit einem Schrei in die Arme; spürte, daß sie aus Fleisch und Blut war und kein körperloser Geist, der sich unter der Berührung wieder in Nichts auflöste. Torian preßte sie so fest an sich, daß es ihr weh tun mußte, aber daran dachte er in diesem Moment nicht. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, sondern spürte nur noch Lyns Nähe. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an sie, hätte sie am liebsten überhaupt nicht mehr losgelassen. Nach menschlichem Ermessen mochte diese Wiederbegegnung unmöglich sein, aber diese Logik war ihm im Augenblick herzlich egal. Lyn lebte, das war alles, was zählte, und er wollte das Wunder des Augenblicks nicht durch Fragen und die Suche nach Erklärungen zerstören.

Und doch empfand er weniger, als er nach all den Jahren der Trennung, in denen er sie für tot gehalten hatte, eigentlich hätte empfinden müssen. Alles war zu überraschend gekommen, und ein Teil seines Denkens weigerte sich, anzuerkennen, was er sah und fühlte.

Es dauerte Minuten, bis sie sich aus seinem Griff wand. Torian wollte wieder nach ihr greifen, doch sie schob seine Hände sanft aber bestimmt zurück. Nur langsam, ganz langsam begann sein Gehirn, wieder normal zu arbeiten, und damit kehrten auch die quälenden Fragen zurück, die ihm auf der Zunge lagen.

»Wie kannst du ... ich meine, du bist doch ...«, stotterte er, rang nach Worten, um das Unfaßbare auszusprechen, und brach schließlich hilflos ab.

»Tot willst du sagen«, vollendete Lyn den Satz.

Torian nickte beklommen. Ein Kloß saß ihm im Hals und hinderte ihn am Sprechen. Einen Herzschlag lang erwog er ernsthaft den Gedanken, sich sein Entkommen aus dem Fluß lediglich eingebildet zu haben, während er in Wahrheit ertrunken war, und es allem zum Trotz, was er bislang geglaubt hatte, wirklich so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tode gab.

»Nein, Torian, du lebst«, sagte sie leise, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Es war wohl nicht schwer gewesen, zu erraten, was er gerade dachte. »Du lebst, und ich bin tot, aber Kelysar hat dafür gesorgt, daß ich keinen Frieden finde. Er brachte mich hierher, um mich irgendwann als Druckmittel gegen dich einzusetzen.«

Sie legte ihm rasch die Hand auf die Lippen, als er den Mund öffnete. »Verlang keine Erklärung von mir«, bat sie. »Ich kann sie dir nicht geben. Wichtig ist nur, daß wir wieder zusammen sind. Vieles hat sich für mich geändert, aber ich liebe dich noch genauso wie früher, das mußt du mir glauben. Komm, laß uns in eines der Häuser gehen. Es wird kühl hier draußen, und drinnen können wir besser über alles sprechen.«

Sie griff nach seinem Arm, aber diesmal wich Torian ihrer Berührung aus. Es fiel ihm seltsam schwer, sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Er hätte vor Freude schreien und toben müssen, aber er war unfähig, etwas anderes zu empfinden als nur Verwunderung über das unerwartete Zusammentreffen mit ihr. Ansonsten fühlte er nur Leere in sich, gepaart allerhöchstens mit ein wenig Erleichterung, dieser bizarren Umwelt nicht mehr allein gegenüberzustehen.

»Wo sind wir hier überhaupt?« fragte er nach einigen Sekunden.

Sie dachte einen Moment angestrengt nach, dann schüttelte sie den Kopf. Ein gequälter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

»Bitte, Torian, frag nicht. Ich kann dir keine Antworten geben, die ich selbst nicht weiß. Ich bin einfach hier und habe gewartet, weil ich wußte, daß du irgendwann kommen würdest. Das ist alles.«

Nein, dachte er. Das war ganz und gar nicht alles. Trotzdem nickte er gedankenverloren. Im Grunde hatte er keine andere Antwort erwartet, auch wenn ihm nicht klar war, woher dieses Wissen stammte. Etwas an allem hier war auf unbegreifliche Art absurd und falsch, doch er wußte nicht, was es war. Etwas in ihm schrie danach, Lyn einfach zu folgen, und der Wunsch, sich ihr hinzugeben, wurde fast übermächtig. Dennoch kämpfte er dagegen an.

»Was ist das für eine Stadt?« unternahm er einen letzten Versuch, doch noch etwas aus ihr herauszubekommen. »Wer hat sie erbaut? Und warum stehen die Gebäude alle leer?«

Ihre Finger strichen zärtlich über sein Gesicht, liebkosten seine Lippen, und sein Widerstand schmolz dahin. »Was sollen wir in dem leeren Haus?« begehrte er noch einmal auf, während er sich schon widerstandslos von ihr in das Gebäude ziehen ließ.

»Wieso leer?« fragte Lyn verständnislos und machte eine weitausholende Bewegung mit der Hand. Torian ließ seinen Blick über die luxuriöse Einrichtung gleiten. Der Boden wurde von flauschigen Teppichen bedeckt, im Kamin flackerte ein Feuer. In der Mitte des Raumes plätscherte ein Springbrunnen. An den Wänden standen mit kunstvollen Schnitzereien versehene Schränke, es gab einen Tisch, mehrere Stühle und ein großes Bett, dessen weiche Kissen und Decken geradezu zum Ausruhen einluden.

Aber Lyn schien nicht nur ans Ausruhen zu denken, ganz und gar nicht. Beinahe willenlos ließ er sich von ihr zum Bett führen. Ihre Finger massierten sanft seinen Nacken. Sie zog Torian zu sich heran und küßte ihn. Die Berührung ihrer Lippen wühlte wie Feuer in ihm, und für eine Weile vergaß er alles andere um sich herum. Er schloß die Augen und gab sich ganz ihren Händen und Lippen hin.

»Endlich sind wir wieder vereint«, flüsterte sie. »Ich werde dich glücklich machen, Torian. Ich kann dich alles vergessen machen, was dich bedrückt.«

Ihre Worte bewirkten genau das Gegenteil dessen, was sie sollten – sie zerbrachen das süße Gift der Illusion.

Mit einem Ruck fuhr Torian hoch und löste sich abrupt aus ihrer Umarmung. Lyn wollte wieder nach ihm greifen, doch er stieß ihre Arme zurück. Immer noch brannte das Verlangen wie Feuer in ihm, aber diesmal war sein Verstand stärker als ihre Verlockung. Sie befanden sich noch im gleichen prachtvoll eingerichteten Raum, aber etwas an der Umgebung schien auf unbegreifliche Art falsch zu sein. Mit dem Einbruch der Dämmerung waren die Schatten im Raum länger und dichter geworden. Die Dunkelheit lockte sie aus den Winkeln und Ecken, in die das Sonnenlicht sie verbannt hatte, und verlieh ihnen ein bedrohliches Eigenleben. Manche der dräuenden Schatten schienen fast schon ein wenig zu dicht, zu stofflich, um allein durch die Abwesenheit von Licht hervorgerufen zu werden. Und mit jeder verstreichenden Minute ergriffen sie mehr Besitz von dem Zimmer; eine Armee der Nacht, welche die Wirklichkeit eroberte. Es war, als würde irgendwo in ihm ein Schleier zerreißen, der seinen Blick bislang getrübt hatte. Die Gegenstände schienen zu flakkern und mit jeder Sekunde mehr an Realität zu verlieren.

»Was hast du gemacht?« stieß Torian hervor.

Fragend schaute sie ihn an. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich-«

»Du verstehst mich sehr gut«, unterbrach er sie barsch, obwohl er spürte, daß seine Worte ihr Schmerzen bereiteten.

»Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Und ich will wissen, wer du bist. Du siehst zwar aus wie Lyn, aber du bist es nicht. Sie ist tot, und keine Macht der Welt kann sie wieder zum Leben erwecken.«

»Du irrst dich, Torian«, widersprach sie leise. »Ich bin Lyn, und ich lebe, weil du es dir so sehnlich gewünscht hast. Ich habe nur getan, was du gewollt hast«, fuhr sie rasch fort. Tränen glitzerten in ihren Augen. Als Torian den Kopf hob, war das Zimmer wieder zu dem geworden, was es in Wirklichkeit war. Nicht mehr als ein leerer Raum in einem leeren Gebäude. »Du bist erschöpft, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Und außerdem haben wir uns so lange nicht gesehen und ich ...«

Ihre Ruhe und ihr mitleidiges Lächeln trieben ihn fast zur Raserei. Torian kam nicht gegen den Zorn an, der plötzlich in ihm aufwallte. Das Gefühl, daß einiges hier nicht stimmte, hatte sich mit dem Verschwinden der Möbel keineswegs verringert.

Das Wesen, das vor ihm stand, war nicht die Lyn, die er gekannt hatte. Er konnte die mit ihr vorgegangenen Veränderungen spüren, unterschwellig nur, aber dennoch deutlich genug, um sie nicht als bloße Einbildung abtun zu können. Aber er fühlte zugleich auch, daß sie mehr war als nur ein Wesen, das ihr ähnlich sah, denn diese Ähnlichkeit bezog sich nicht nur auf ihr Äußeres. Nichts unterschied sie von Lyn.

Es war eher so, als ob ihr etwas fehlte, dachte Torian schaudernd. Selbst der Ausdruck von Schmerz, der wieder auf ihrem Gesicht lag, erschien ihm noch gespielt, wie bei einer äußerlich makellosen Puppe, der man nur eines nicht hatte mitgeben können: eine Seele.

Einige Sekunden lang starrte sie ihn noch verzweifelt an, dann schlug sie mit einem erstickten Wimmern die Hände vors Gesicht und stürmte aus dem Raum. Torian versuchte, nach ihr zu greifen, um sie festzuhalten, aber er war zu langsam. Fluchend rannte er ihr nach. Er durfte sie nicht verlieren, sie war die einzige, die vielleicht etwas Licht in all die Rätsel bringen konnte.

Die Sonne war merklich tiefer gesunken und hatte sich rötlich verfärbt. Sie schien den ganzen Himmel in flüssiges Feuer zu tauchen. Auch auf die Gebäude blieb die Veränderung nicht ohne Wirkung. Ihr vormals strahlender Glanz hatte sich auf den unteren, in Schatten getauchten Metern in ein mattes Grau verwandelt und jeden Rest von Schönheit verloren. Vielleicht kam es Torian auch nur so vor, weil er gar nichts anderes sehen wollte. Bei allem, was ihn beschäftigte, machte er sich nicht auch noch darüber Gedanken, wie gut ihm diese Totenstadt nun gefiel.

Lyn – oder wer auch immer sie war – lief ein Stück vor ihm. Er folgte ihr durch das Labyrinth der verwinkelten, toten Straßenschluchten. Die Fenster der Gebäude erschienen ihm wie höhnisch starrende Augen, die türlosen Eingänge wie gierig aufgerissene Mäuler. Lyns Gestalt schien sich der veränderten Umgebung anzupassen, ebenfalls dunkler und grau zu werden. Ihm fiel auf, daß sie immer wieder den Kopf zum Himmel wandte. Man konnte das Sinken der Sonne fast mit bloßem Auge verfolgen. Es sah aus, als würde der glutrote Ball von den spitzen Türmen aufgespießt, und mit jeder Handbreit, die er sich tiefer senkte, schien Lyn ein wenig von ihrer Stofflichkeit einzubüßen.

Er rannte so schnell er nur konnte. Sein Körper war durchtrainiert und Strapazen gewöhnt, Lyn hingegen wurde beim Laufen durch ihre zierlichen Schuhe und das weitgeschwungene Kleid behindert. Trotzdem gelang es ihm nicht, sie einzuholen. Eine unerklärliche Schwäche hatte ihn gepackt, und für einen Moment wurde ihm sogar so schwindelig, daß er fast das Gleichgewicht verlor, doch der Schwächeanfall verging sofort wieder.

Die Sonne versank hinter dem Dach eines Hauses und hing nur noch dicht über dem Horizont. In der Straße wurde es dunkel.

Im gleichen Moment brach Lyn zusammen. Sie taumelte und versuchte sich an einer Hauswand abzustützen, bevor sie vollends den Halt verlor und zu Boden stürzte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt.

»Flieh, Torian«, wimmerte sie. »Du mußt raus aus dieser Stadt. Es ... es ist nicht mehr weit. Lauf... bis zum Ende der Straße. Lauf weg.«

Er schüttelte den Kopf. Wie fortgewischt war aller Zorn, den er zuvor für sie empfunden hatte. Er wußte nicht, was mit ihr geschah, aber er würde sie jetzt nicht allein lassen, nicht um alles in der Welt.

»Nein«, stöhnte sie mit ersterbender Stimme. Sie zitterte am ganzen Körper, dennoch bäumte sie sich auf und hob die Hand, als versuchte sie, ihn fortzuscheuchen. Die Bewegung war so schwach, daß er sie fast nur ahnen konnte.

»Lauf«, hauchte sie noch einmal. »So lauf doch endlich!«

Wieder schüttelte er den Kopf, beugte sich über sie und versuchte, sie aufzurichten. Es blieb beim Versuch. Bläuliche Funken rasten über ihren Körper. Ein Blitz zuckte auf, und fuhr wie ein feuriges Schwert durch Torians Arm, als er sie berührte.

Er schrie auf und wurde von einer unsichtbaren Faust zurückgeschleudert. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Rücken, als er auf das Pflaster prallte. Stöhnend richtete er sich auf und kroch auf Händen und Knien zu Lyn zurück.

Zu dem Wesen, das einmal Lyn gewesen war. Wie ein Geflecht blutigroter Flammen trafen die letzten Sonnenstrahlen Lyns Körper und hüllten ihn ein. Aber die grauenvolle Veränderung, die sie durchmachte, war nicht allein darauf zurückzuführen. Ihre Haut schien in Sekundenschnelle um Jahre zu altern, schien vor seinen Augen zu zerfließen und sich in Nichts aufzulösen, und irgend etwas anderes, Rötliches kam unter der Maske ihrer engelhaften Züge zum Vorschein.

»Flieh doch, Torian«, brachte sie noch einmal mit letzter Kraft hervor. Ihre Stimme klang zischend; die Stimmbänder waren nicht für menschliche Worte gedacht.

Entsetzt prallte er zurück. Nein! hämmerte eine Stimme in ihm. »Lyn!« schrie er und wußte gleichzeitig, daß sie ihn nicht mehr hörte.

Einige Sekunden war er unfähig, sich zu rühren, erstarrte mitten in der Bewegung. Es waren genau die Sekunden, die sie brauchte, um ihre Verwandlung zu beenden.

Als sich Torian endlich wieder aus der Erstarrung löste, war es bereits zu spät, um noch zu fliehen. Vor ihm kauerte eine verkleinerte Ausgabe der Alptraumkreatur aus der Kuppel, die ihn immerhin auch noch um gute zwei Köpfe überragte. Mit einem Fauchen sprang sie auf ihn zu.

Ein Hieb ihrer mit Hornschuppen gepanzerten Klaue traf ihn mit aller Wucht. Er wurde von den Füßen gerissen und meterweit zurückgeschleudert. Einige Herzschläge lang wußte er nicht mehr, wo Oben und wo Unten war. Instinktiv nahm er blitzschnell die Arme hoch und schützte seinen Kopf, während er seinen Körper zusammenkrümmte.

Diese Reaktion rettete ihm das Leben. Er prallte auf den Boden und überschlug sich mehrmals. Der Aufschlag betäubte ihn fast; schien ihm das Rückgrat zu brechen. Für Sekunden bestand sein Körper nur noch aus brennendem, verzehrendem Schmerz.

Torian ahnte den dunklen Schatten über sich mehr, als er ihn sah. Verzweifelt schrie er auf und warf sich abermals zur Seite.

Die dolchartigen Klauen verfehlten sein Gesicht nur um eine Handbreit. Dicht neben seinem Kopf bohrten sie sich in den Boden, rissen Steine aus dem Erdreich und zermalmten sie. Die Drachenkreatur stieß einen wuterfüllten, unmenschlichen Schrei aus.

Andere schattenhafte Gestalten waren plötzlich um sie herum. Mühsam kämpfte Torian gegen den Schmerz an und blinzelte die Benommenheit fort. Erst dann erkannte er, daß es sich bei den anderen um Menschen handelte, die mit Schwertern und Speeren gegen das Monstrum kämpften. Grobe Hände zerrten Torian hoch, dann versetzte ihm jemand zwei schallende Ohrfeigen.

Die Drachenkreatur, die einmal Lyn gewesen war, verschwand. Sie war nicht geflohen oder von den Unbekannten getötet worden — sie war einfach nicht mehr da. Der Platz, an dem sie noch vor einer Sekunde gestanden hatte, war leer, als hätte es sie nie gegeben. Verwirrt schaute sich Torian um. Nirgendwo war eine Spur des Monstrums zu sehen. Nur die mehr als zwei Dutzend Unbekannten standen noch in einem Kreis um ihn herum. Sie trugen derbe Hosen, die von einem breiten, metallbeschlagenen Gürtel zusammengehalten wurden, darüber ein stählernes Kettenhemd. Immer noch hielten sie ihre Waffen in den Händen, und sie beobachteten ihn lauernd, aber nicht feindselig. Immer wieder schauten sie sich besorgt um. Ihre Haltung war sprungbereit; eine fast greifbare Spannung lag in der Luft, doch Torian spürte, daß sie nicht gegen ihn gerichtet war.

Er trat auf einen der Unbekannten zu, einen schlanken Mann mit dunkelblondem Haar, der im Gegensatz zu den anderen auch noch einen knielangen, schwarzen Umhang trug und so etwas wie der Anführer zu sein schien.

»Ich bin Torian Carr Conn«, stellte er sich vor.

Der Angesprochene stieß einen Schwall unverständlicher Worte aus und blickte ihn dabei fragend an.

Torian zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, Freunde, aber ich verstehe kein Wort.« Er legte sich die Hand auf die Brust, und mit besonders deutlicher Betonung wiederholte er noch einmal: »Torian.«

Sein Gegenüber begriff. Auch er klopfte sich gegen die Brust. »Marodon«, sagte er. Dann machte er eine Bewegung, die ihn und seine Begleiter einschloß. »Laa.«

Anscheinend der Name des Volkes. Torian wiederholte die Worte und entsprechenden Gesten, um zu zeigen, daß er verstanden hatte.

Marodon sprudelte wieder einige fremdartige Worte hervor, dann kniete er dort nieder, wo die Echse den Straßenbelag aufgerissen hatte, nahm noch einige lose Steine aus dem Loch und begann mit seinem Schwert in den Sand darunter zu kritzeln. Torian erkannte einige Hütten, die anscheinend das Dorf der Laa darstellen sollten.

Er nickte, und Marodon wischte die Skizze hastig aus. Dafür zeichnete er die Umrisse zweier Menschen, von denen der eine ein Hüne, die andere unzweifelhaft eine Frau war. Torians Herz schlug schneller. Mit ein wenig Phantasie konnte man in den Gestalten Shyleen und Garth vermuten.

Er nannte die Namen, doch Marodon zuckte nur mit den Schultern und stand wieder auf. Noch einmal schaute er sich mit deutlichen Anzeichen der Besorgnis um, dann bedeutete er Torian mit einigen Gesten, ihnen zu folgen.

Er zögerte einen Moment, dann schloß er sich den Laa an. Sie schienen ihm nicht feindlich gesonnen zu sein, hatten ihn im Gegenteil vor dem Drachen gerettet. Wenn sie ihn umbringen wollten, hätten sie das einfacher haben können. Und die Aussicht, von ihnen vielleicht zu Shyleen und Garth geführt zu werden, rechtfertigte jedes Risiko.

Noch einmal sah er sich unbehaglich um, versuchte herauszufinden, was mit dem Drachen passiert war, der sich ihm erst in Gestalt von Lyn gezeigt hatte, dann wandte er sich mit einem neuerlichen Schulterzucken wieder um und folgte den Laa.

Voller Unbehagen wurde ihm klar, daß er sich längst nicht so frei bewegen konnte, wie ihm lieb gewesen wäre. Trotz aller Freundlichkeit bewachten ihn die Laa, hielten ihn in einem weiten Kreis eingeschlossen, den sie in Sekundenschnelle schließen konnten, wenn er auszubrechen oder sonst etwas gegen sie zu unternehmen versuchte. Dabei hasteten sie so schnell vorwärts, daß es fast einer Flucht gleichkam, und mit einem Mal begriff Torian, daß sie ihn nicht – nur bewachen, sondern auch vor einem plötzlichen Angriff beschützen wollten, indem sie ihn in die Mitte nahmen. Hoffentlich nicht einfach nur deshalb, um sich ihre Beute nicht von anderen streitig machen zu lassen, dachte er düster, dann verdrängte er auch diesen Gedanken und beschloß, zumindest solange auf ein kleines Stück Glück zu hoffen, bis sich etwas anderes herausstellte. Für den Augenblick hatte er nichts zu befürchten, und das war schon mehr, als er noch vor ein paar Minuten zu hoffen gewagt hatte.

Sie brauchten nur ein paar Minuten, um die Stadt zu verlassen und wieder in den Wald zu gelangen. Als sich Torian umdrehte, kamen ihm die Gebäude im letzten Licht der untergehenden Sonne wie gigantische, drohend gegen den Himmel gestreckte Krallen vor.

Wenig später versank die Sonne vollends, und es wurde fast schlagartig dunkel. Das Licht des Mondes drang kaum durch das dichte Blätterdach, und selbst als sich Torians Augen umgewöhnt hatten, konnte er kaum weiter als ein paar Schritte sehen.

Dafür schienen sich die Laa hier um so besser auszukennen, und sie verstanden es, sich nahezu lautlos zu bewegen. Mit traumwandlerischer Sicherheit fanden sie ihren Weg durch das Unterholz, nutzten schmale Pfade und Tierwechsel, die Torian allein bestimmt entgangen wären, und schafften es dabei, ihn weiterhin ständig zu allen Seiten hin abzuschirmen. Er schien der einzige zu sein, dem die Dunkelheit etwas ausmachte. Alle paar Schritte stolperte er über Wurzeln und Baumstümpfe; Zweige peitschten ihm ins Gesicht, Dornen zerrissen die Fetzen, die von seiner Kleidung noch übrig geblieben waren, und zerkratzten seine Haut.

Am liebsten hätte er Marodon gebeten, eine Fackel für ihn anzuzünden, doch ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, dem Laa seinen Wunsch begreiflich zu machen, hatte dieser sicherlich seine Gründe, im Dunkeln zu marschieren. Die fast greifbare Spannung und Furcht der Laa hatte sich bislang nicht gelegt, schien sich während der letzten Minuten sogar eher noch verstärkt zu haben. Immer noch hielten sie ihre Waffen kampfbereit, als rechneten sie jeden Moment mit einem Angriff.

Torian fragte sich, wovor sie solche Angst hatten. Vor den Echsen, oder vor noch etwas anderem, einem Feind, den er noch nicht kannte?

Die Nacht war von mannigfaltigen Geräuschen erfüllt, und nur die wenigsten gefielen ihm. Laub raschelte, der Wind wisperte in den Baumkronen, Zweige knackten. Es half Torian auch nicht viel, daß er sich einzureden versuchte, daß es sich dabei um nichts weiter als die ganz normalen Laute der Nacht und des Waldes handelte. Etwas von der Nervosität seiner Begleiter schien auf ihn abzufärben. Seine angespannten Nerven machten aus jedem Geräusch das leise Scharren von Waffen und das Tappen von krallenbewehrten Füßen, hinter jeder Bewegung eines Zweiges glaubte er das matte Schimmern von Horn zu entdecken, und wenn plötzlich ein Baumstamm oder ein besonders großer Busch vor ihm auftauchten, zuckte er erschrocken zusammen und wähnte sich im ersten Moment einem Echsenkrieger gegenüber.

Mehrmals war er nahe daran, Marodon wenigstens um ein Schwert zu bitten, doch etwas hielt ihn immer wieder davon ab. Er wußte nicht, wer die Laa waren, und was sie von ihm wollten, und sie konnten auch nicht viel mehr über ihn wissen, selbst wenn sich Shyleen und Garth in ihrem Dorf befanden. Wüßten sie mehr, würden sie seine Sprache wenigstens ansatzweise sprechen. Unter diesen Umständen wunderte es ihn ohnehin, daß sie ihm so freundlich gegenübertraten. Bevor er nicht mehr über sie erfahren hatte, wollte er sich möglichst zurückhalten. Die dreiste Bitte um ein Schwert, die nichts anderes bedeutete, als daß einer der Laa selbst auf eine Waffe verzichten müßte, könnte den Bogen ihres Entgegenkommens überspannen. Zumindest im Augenblick befanden sie sich ja nicht in direkter Gefahr, und es war unwichtig, ob er eine Waffe besaß oder nicht.

Nach einer Weile verlor er jedes Gefühl für die Zeit; stolperte einfach nur immer weiter vorwärts und wäre mehr als einmal gestürzt, wenn nicht einer der Laa ihn jeweils noch gerade rechtzeitig gepackt und festgehalten hätte. Es gelang ihm immer weniger, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren.

Irgendwann öffnete sich der Wald vor ihm und machte einer großen Lichtung Platz, auf der sich zahllose Holz- und Lehmhütten mit strohgedeckten Dächern erhoben. Mit einer knappen Geste bedeutete Marodon ihnen, stehenzubleiben, und lauschte.

Auch Torian wachte aus seinem seltsamen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen und blindem Vorwärtstaumeln auf. Auch er vernahm jetzt gedämpfte Schreckensschreie.

Noch vorsichtiger als bisher gingen sie weiter, näherten sich dem Ursprungsort der Schreie.

Torian bemerkte die Bewegung im buchstäblich allerletzten Moment: ein rasches Huschen und Wogen, an einer Stelle schräg vor und neben sich, die einen Sekundenbruchteil zuvor noch absolut leer gewesen war. Etwas Gigantisches, Schwarzes schälte sich aus den Schatten, Mondlicht blitzte auf Stahl, und dann fühlte er sich gepackt und herumgewirbelt. Jemand schrie. Ein schlanker, in ein Kettenhemd gekleideter Mann tauchte vor ihm auf, das Gesicht vor Schrecken verzerrt, aber hoch aufgerichtet und mit weit ausgebreiteten Armen, wie um ihn zu beschützen.

Und genau das tat er auch.

Der stählerne Blitz, in den sich das niedersausende Krummschwert des Angreifers verwandelte, und der mit tödlicher Zielsicherheit auf Torian zuschoß, traf den Laa vor ihm, der nicht einmal den – wahrscheinlich ohnehin sinnlosen – Versuch machte, seine eigene Waffe zum Schutz hochzureißen. Sein Mund war zu einem stummen Todesschrei geöffnet, als er starb.

Diesmal überwand Torian seine Schrecksekunde beinahe augenblicklich. Noch bevor der Echsenkrieger Zeit zu einem weiteren Hieb fand, ließ sich Torian fallen, rollte zweimal um seine eigene Achse und packte das Schwert des Toten. Noch aus der Bewegung schlug er nach den geschuppten Beinen. Der Schlag hätte ihm die Waffe fast aus der Hand geprellt. Die Klinge fraß sich ein kleines Stück in eine der Panzerschuppen, prallte dann ab, ohne sie durchschlagen zu haben, und hinterließ nicht mehr als eine kaum sichtbare Kerbe.

Ein brennender Schmerz zuckte durch Torians Arm. Er sprang zurück, sah durch einen Schleier der Benommenheit, wie sich die Laa gemeinsam auf die Echse stürzten und sie durch ihre erdrückende Übermacht nach kurzem Kampf töteten, und kam wieder auf die Beine.

Der Echsenkrieger war nicht der einzige. Sie kamen an zerstörten Hütten vorbei und erreichten einen kleinen Platz, der von Fackeln erhellt wurde. Und überall erblickten sie plötzlich Echsen und Laa, die den gepanzerten Titanen verzweifelten Widerstand entgegensetzten. Es war mehr ein Schlachten als ein echter Kampf. Die Laa mußten völlig überrascht worden sein.

Ein Stück vor sich erkannte Torian einen der Angreifer mit einer reglosen Gestalt auf den Armen.

Shyleen.

Blindlings stürmte er vorwärts, wich reaktionsschnell einem Schwerthieb aus, den er im letzten Moment aus den Augenwinkeln sah, und dann hatte er sein Ziel erreicht. Er packte das Schwert mit beiden Händen und schlug aus vollem Lauf zu.

Diesmal war der Hieb hart genug, und durch seine Last fand der Echsenkrieger keine Gelegenheit, ihm auszuweichen, oder ihn mit seinem eigenen Schwert zu parieren. Mit einem trockenen Knacken zerbrachen seine Panzerplatten.

Hastig beugte sich Torian zu Shyleen herab. Erleichtert stellte er fest, daß sie noch lebte und nur ohnmächtig geworden war, dann mußte er sich einem weiteren Gegner zuwenden.

Der Kampf war ein einziger Alptraum. Ohne die Hilfe seiner Begleiter hätte er nicht einmal die ersten zwei Minuten überlebt. Die Laa trugen mit Abstand die Hauptlast dieses Kampfes. Sie wüteten schrecklich unter den Angreifern, aber für jede getötete Echse blieben selbst zwei oder drei von ihnen liegen, und längst schon wunderte sich Torian, daß er nicht selbst auch dazugehörte.

Obwohl die Laa einen lebenden Schutzwall um ihn bildeten, wurde er trotzdem ununterbrochen getroffen. Klauen, die hart und scharf wie Stahl waren, rissen seine Kleider auf und fügten ihm tiefe, blutende Wunden zu, Schwertklingen hieben nach ihm, ein paarmal begriff er selbst nicht, wie er es immer wieder im letzten Moment schaffte, ihnen auszuweichen. Es war, als hielte ein besonders aufmerksamer Schutzengel die unsichtbare Hand über ihn. Blindlings schlug er um sich. Die meisten seiner Hiebe glitten wirkungslos an den hornigen Panzerschuppen ab, nur selten gelang es ihm, eine der Echsen wirklich zu verletzen.

Aber schließlich verebbte der Kampf rings um ihn herum, und plötzlich war nur noch ein einziger Echsenkrieger übrig. Sein Schwert war zerbrochen, und er zog sich – nun mit deutlichen Anzeichen von Angst – bis zur Wand einer zerstörten Hütte zurück und schlug mit seinen Klauen nach allem, was sich ihm zu nähern wagte. Eine ganze Salve von Pfeilen traf ihn, aber nur drei oder vier durchschlugen die stahlharten Panzerschuppen. Der Gigant wankte, riß die Geschosse wütend aus seinem anscheinend nahezu schmerzunempfindlichen Körper und hieb mit schier unerschöpflicher Kraft nach den Laa, die ihn mit ihren Speeren festzunageln versuchten.

Torian wankte vor Schwäche. »Gib auf!« keuchte er in einem letzten Versuch, dem sinnlosen Morden ein Ende zu bereiten.

Die Echse kümmerte sich nicht um ihn, wenn sie seine Worte überhaupt verstand. Sie bekam einen der Laa zu packen, der sich unvorsichtigerweise etwas zu nah an sie herangewagt hatte, und riß ihm mit einem einzigen Hieb die Kehle auf.

Torian trat einen Schritt auf sie zu, konzentrierte sich ein letztes Mal – und schleuderte sein Schwert wie einen Dolch.

Die Waffe flog auf den Echsenkrieger zu, überschlug sich ein paarmal in der Luft und traf mit tödlicher Präzision die schmale verwundbare Stelle zwischen dem Hornkopf und den Panzerschuppen des Rumpfes.

Torian empfand keinen Triumph, nicht einmal Genugtuung. Alles, was er noch spürte, waren Entsetzen – und Schwäche. Er wankte, brach in die Knie und stürzte schwer zu Boden. Mühsam kämpfte er gegen die beginnende Ohnmacht an.

Als er nach Minuten wieder die Augen öffnete, machten sich weiche, kundige Hände an seinen Wunden zu schaffen. Er versuchte, sich aufzurichten, wurde aber mit sanfter Gewalt zurückgehalten und blickte in das lächelnde Gesicht einer noch sehr jungen Frau mit langem, dunklem Haar.

»Ich bin Ayla, Herr«, sprach sie ihn an.

»Du ... du sprichst meine Sprache?«

»Wir haben sie von deinen Begleitern erlernt. Die Krieger, die nach dir gesucht haben, hatten noch keine Zeit dazu.«

So schnell! durchfuhr es ihn. Ayla sprach ohne jeden Akzent; wie konnte sie die Sprache binnen weniger Stunden erlernt haben? Aber das interessierte ihn momentan nur am Rande.

»Shyleen und Garth ... was ist mit ihnen?«

»Sie sind verletzt, aber es geht ihnen einigermaßen gut.«

»Ich muß sie sehen«, verlangte er und richtete sich auf, doch das Mädchen drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.

»Bleib noch einen Moment liegen, bis ich deine Wunden versorgt habe. Du bist noch sehr schwach, Herr.«

Herr? dachte er verwirrt. Wieso bezeichnete sie ihn als Herr?

Aber er sagte nichts mehr, sondern blieb still liegen, bis sie alle seine Wunden mit einer übelriechenden, brennenden Salbe eingeschmiert hatte. Dann stemmte er sich wieder in die Höhe, ignorierte sowohl ihren erneuten Widerspruch, wie auch seine Schwäche, stand vollends auf und schaute sich entsetzt um.

Der Platz bot einen Anblick des Schreckens. Wo vor wenigen Stunden noch ein Dorf gestanden hatte, erstreckte sich nun ein Ruinenfeld, übersät mit Trümmern, Unrat, Asche und – Leichen. Die Toten lagen wie Teile eines gräßlichen Todesmosaiks über-und nebeneinander. Einige davon waren schuppige Echsenkrieger, aber viele der reglos ausgestreckten Gestalten hatten auch die menschlichen Gesichter der Laa.

Zu viele.

Dabei hatte eine richtige Schlacht eigentlich gar nicht stattgefunden. Der Kampf – soweit man das Gemetzel, das die Echsen unter den Laa angerichtet hatten, so nennen konnte – hatte sich auf ein relativ kleines, halbkreisförmiges Terrain vor dem Eingang der niedergebrannten Hütte beschränkt.

Eine große Zahl von Opfern hatte auch eine Panik gefordert, die beim Überfall der Echsen ausgebrochen sein mußte. Und nur die allerwenigsten Toten trugen Uniformen. Es waren wieder einmal die Unbeteiligten gewesen, die den Preis für diesen Wahnsinn bezahlten: die Kinder, die Alten, die Schwachen und Kranken, die der in Panik geratenen Menge nicht mehr hatten ausweichen können und zu Tode getrampelt worden waren. Das Stöhnen und Wehklagen der Verletzten erfüllte den Platz.

Der Anblick erfüllte Torian mit einem Gefühl rasenden, hilflosen Zornes, in den sich noch etwas anderes mischte: Verzweiflung und Resignation.

Mühsam riß er sich von dem Anblick der Toten los. Die Überlebenden waren inzwischen wieder zurückgeströmt. Torian spürte, wie sich alle Blicke auf ihn konzentrierten, was er als ausgesprochen unangenehm empfand, obgleich er ebenso deutlich fühlte, daß keine Feindseligkeit darin lag, sondern –

Ja – was eigentlich?

Verwirrt wandte er sich zu Ayla um und öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen.

Aber er kam nicht mehr dazu, denn im gleichen Augenblick, sank das Mädchen vor ihm auf die Knie und beugte das Haupt fast bis zum Boden herab.

»Herr«, flüsterte sie.

Und dann, ganz schnell und beinahe lautlos, ließen sich auch die übrigen Laa zu Boden sinken. Es waren immer noch mehr als zweihundert.

»Herr«, flüsterten auch sie.

Das Gefühl vager Erleichterung, das Torian angesichts der Greuel bisher über sein Überleben und das von Shyleen und Garth verspürt hatte, verging. Plötzlich war ihm nur noch kalt. Sehr kalt. »Nein«, sagte er, nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, seit er gegen Aylas Willen an ihrer Seite über das Schlachtfeld schritt und ihr half, die Qualen der Verletzten zu lindern, so gut es ging. Es ging allerdings nicht sehr gut: sie besaßen weder Medikamente noch ausreichend Verbandszeug, und der Begriff Arzt schien nicht einmal zum Wortschatz der Laa zu gehören. Meist beschränkte sich Torians Hilfe auf ein aufmunterndes Lächeln; und manchmal nicht einmal darauf. Und das Schlimmste war, daß er die ganze Zeit über das Gefühl nicht loswurde, daß dies alles hier seine Schuld war.

Ayla widersprach nicht, aber der Blick ihrer großen, dunklen Augen war voller Trauer. Allein dieser Blick ließ ihn schon wieder Schuldgefühle empfinden. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, es nicht mehr zu tun, fügte Torian hinzu: »Du mußt mich verstehen, Ayla. Dies alles hier ist entsetzlich, aber es ...«

»Du glaubst, es ginge dich nichts an, Herr, ich weiß«, unterbrach ihn Ayla leise. Ihre Stimme war so traurig wie ihr Blick. Sie rang sich ein Lächeln ab, aber er sah Tränen in ihren Augen schimmern und fühlte sich hilflos wie selten zuvor in seinem Leben. Dabei – absurd genug – war er zum ersten Mal seit vielen Jahren überhaupt in einer Position, in der er wirkliche Macht hatte. Noch vor wenigen Stunden war er nicht mehr als ein Gejagter in einem fremden Land gewesen.

Jetzt war er der König dieser Menschen.

Mehr noch – ihr Gott.

So ganz hatte er die Geschichte, die ihm Ayla im Verlauf der letzten Stunde erzählt hatte, noch immer nicht verstanden; vielleicht, weil sie einfach zu phantastisch war, um wahr zu sein.

Es war die Geschichte der Laa; soweit man eine Geschichte, deren Anfänge Jahrhunderttausende in die Vergangenheit reichte, in weniger als einer Stunde erzählen konnte: Es war eine Zeit gewesen, in der sie friedlich in diesem Tal gelebt hatten. Irgendwann dann, vor Äonen von Jahren waren fremde Wesen erschienen, über die Ayla nicht mehr wußte, als daß es sie gegeben hatte. Sie hatten begonnen, das paradiesische Tal zu verändern, unmerklich zuerst, dann immer stärker und stärker, bis aus dem Paradies der Laa eine Todesfalle geworden war, und dabei versucht, die Laa zu vertreiben. Als ihnen das nicht gelang, hatten sie einen grausamen Vernichtungsfeldzug gegen sie begonnen.

Und mit den fremden Eroberern waren auch die Echsen erschienen, und sie waren geblieben, als die Eindringlinge nach einiger Zeit wieder verschwanden. Seither tobte ein erbitterter Krieg zwischen den Echsen und den Laa. Das war die grob zusammengefaßte Geschichte der Laa – und ihres Befreiers.

Es muß wohl eine Art Naturgesetz sein, daß Menschen, die in Not sind, sich stets nach einem Befreier sehnen, einem Gott, der im Augenblick der höchsten Gefahr vom Himmel herabsteigt und sie rettet, und es gab auch hier diese Legende; wie überall. Mit einem Unterschied:

Den Laa war dieser Befreier wirklich erschienen; ein Fremder, der sie vor den Echsen gerettet hatte und ihr Volk ein für allemal von ihnen befreien würde.

Er hieß Torian.

Natürlich war er kein Gott, nicht einmal ein ganz kleiner –aber er hatte nun einmal gegen die Echsen gekämpft und den Laa allein durch seine Existenz und ihre Hoffnung auf eine Erfüllung der alten Prophezeiung den Mut zum Weiterkämpfen gegeben, auch wenn er dabei vor Angst fast gestorben wäre. Und deshalb hielten ihn Ayla und die anderen für ihren Gott; den Befreier, von dem ihre alten Legenden berichteten. Es hatte herzlich wenig Sinn, den Laa klarmachen zu wollen, daß ihre Vermutungen nicht stimmten und er alles andere als ein Gott war, denn auch dafür hatten sie praktischerweise die richtige Legende parat – nämlich die, daß ihr Erretter selbst nichts von seiner Bestimmung ahnte...

Torian ballte hilflos die Faust, hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Aylas vorwurfsvollem Blick standzuhalten, und wandte sich mit einem Ruck ab. »Hör endlich auf, mich Herr zu nennen«, fauchte er. »Ich heiße Torian, also nenn mich auch so.«

Um sie herum stöhnten die Verwundeten. Viele von ihnen würden sterben, noch bevor die Nacht verging, obwohl sich mittlerweile überall andere Laa um ihre Wunden kümmerten. Aber für viele würde jede Hilfe zu spät kommen. Der Platz wurde von unzähligen Fackeln und brennenden Feuern fast taghell erleuchtet. Es war nicht die erste Kampfstatt, die Torian sah, er hatte in seinem Leben schon mehr Schlachten geschlagen, als er sich überhaupt erinnern konnte.

Und doch traf ihn der Anblick immer wieder wie beim ersten Mal und erinnerte ihn daran, daß das Wort Schlacht von schlachten kam. Tiere wurden geschlachtet, und der Krieg machte jeden Menschen zum Tier. Noch nie war ihm dies so deutlich bewußt geworden.

»Nun, wie fühlt man sich als Gott?« fragte Shyleen spöttisch.

Sie war unbemerkt herangekommen und hatte anscheinend die letzten Worte mitgehört. Torian musterte sie kurz. Als einzige Verletzung hatte sie eine Platzwunde an der Stirn davongetragen, wo sie die flache Seite eines Schwertes getroffen hatte.

Garth hatte es schlimmer erwischt; die Klaue einer Echse hatte ihm die Brust aufgerissen und ihm mehrere Rippen gebrochen, aber er würde es überleben. Bei seiner Zähigkeit und der Schnelligkeit, mit der alle Wunden hier heilten, würde er wahrscheinlich schon bald wieder auf den Beinen sein.

»Hör auf mit dem Unsinn«, gab Torian schärfer als beabsichtigt zurück. Nachdem sich seine Überraschung gelegt hatte, war es ihm für einige Minuten fast angenehm gewesen, von diesen Leuten als eine Art Halbgott verehrt zu werden – wenn er auch noch immer nicht ganz genau wußte, warum eigentlich. Jetzt aber erfüllte ihn der Gedanke nur noch mit Schrecken. »Mir ist wirklich nicht nach dummen Spaßen zumute.«

Ayla kniete einige Schritte vor ihnen bei einem Verletzten nieder, so daß er sich für eine Weile mit Shyleen allein unterhalten konnte.

»Für diese Leute hier scheint es kein Spaß zu sein. Du bist ihr Befreier, ob du es willst oder nicht.« Ihre Stimme war ganz ernst, aber in ihren Augen blitzte es spöttisch, während sie diese Worte aussprach.

»Ja, auch wenn ich nichts davon weiß«, fügte Torian säuerlich hinzu. »Verdammt, die müssen mir doch eine Möglichkeit geben, da wieder rauszukommen.«

»Sieht aber nicht so aus. Gegen die Überlieferungen dieses Volkes scheint selbst der berüchtigte Torian Carr Conn machtlos. Du wirst es erleben, bald kommen die ersten an und bitten dich, sie durch Handauflegen von ihren Gebrechen zu heilen.«

Wider Willen mußte Torian grinsen. »Noch ein paar solcher Bemerkungen, und ich verkünde lauthals, du würdest mich ärgern. Mal sehen, welche Strafe hier auf Gotteslästerung steht.« Er seufzte und schüttelte verdrossen den Kopf. »Warum hat man bloß nicht dich oder Garth als Befreier auserkoren?«

Shyleen hatte ihm erzählt, was ihnen zugestoßen war. Wenige Sekunden nach seinem Sturz in den Fluß waren sie von den Echsen überwältigt und niedergeschlagen worden. Während ihrer Bewußtlosigkeit hatten die Laa die Echsen angegriffen und überwältigen können. Als sie wieder erwacht waren, hatten sie sich bereits im Dorf befunden. Ayla und einige andere Laa verfügten offenbar über schwache magische Fähigkeiten, denn sie hatten ihre Sprache allein dadurch erlernt, daß sie ihnen einige Minuten lang die Hände auf die Stirn gelegt hatten. Zumindest behaupteten sie es. In der Nacht war das Dorf dann von den Echsen überfallen worden, und die weiteren Ereignisse hatte Torian ja schmerzhaft am eigenen Leib erfahren.

»Wir waren eben so schlau, uns im Gegensatz zu dir von den Echsen überwältigen zu lassen«, erwiderte Shyleen lächelnd. »Das sah wohl nicht besonders göttlich aus.«

»Dann kannst du als einfacher Mensch vielleicht einem verzweifelten, hilflosen Gott raten, was er tun soll, um ebenfalls wieder zum Menschen zu werden. Ich denke ja gar nicht daran, dieses Volk in einen Rachefeldzug gegen die Echsen zu führen, in dem sie wahrscheinlich alle umkommen würden. Zum Teufel, was sollen wir bloß tun?«

»Ganz einfach: Hör auf, dir wegen dieser Leute Sorgen zu machen. Benutzen wir unseren Verstand und türmen wir wie brave kleine Feiglinge, oder besser noch, denk daran, weshalb wir hergekommen sind, und wie du deine Macht für dieses Ziel einsetzen kannst.« Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging davon. »Ich sehe nach, wie es Garth geht«, rief sie ihm über die Schulter nach, dann war sie verschwunden.

Nachdenklich starrte Torian ihr nach und bemerkte kaum, wie sich Ayla wieder aufrichtete und neben ihn trat. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Er wird sterben. Ich kann nichts für ihn tun. Aber wir werden wohl alle bald sterben. Diese Bestien werden wiederkommen, vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann werden sie uns wieder angreifen.«

In ihr Gesicht trat plötzlich ein harter Zug, der ihn beinahe mehr erschreckte als ihre Worte. Es tat ihm weh, dieses blutjunge Mädchen über das Sterben sprechen zu hören, aber dann stellte er fest, daß er in genau den Bahnen zu denken begann, in die Ayla seine Gedanken lenken wollte. Einen Moment lang wurde der Wunsch, sie an den Schultern zu packen und anzuschreien, daß sie damit aufhören sollte, übermächtig in ihm, doch er kämpfte dagegen an und ballte nur in stummer Verzweiflung die Fäuste. Was hier geschah, war schrecklich; ein entsetzliches Blutbad, das seit Jahrtausenden anhielt und wider jede Natur war. Aber es ging ihn nichts an. Er durfte sich nicht in die Angelegenheiten dieser Leute mischen, auch wenn dies vielleicht den Tod Hunderter Menschen bedeutete! Wenn er tat, was die Laa von ihm wollten, würde er ebenfalls hundertfaches Leid verbreiten.

Aber das war nicht der einzige Grund, und er versuchte sein Tun auch nicht damit zu rechtfertigen, daß sie den Tempel der verbotenen Träume unbedingt erreichen mußten. Wenn Shyleen nicht alterte, solange sie sich in diesem Tal aufhielten, kam es auf ein paar Tage oder Wochen mehr auch nicht mehr an. Es gab einen anderen Grund: Er war des Kämpfens einfach müde. Zum Teufel, er konnte nicht überall, wo er zufällig einen Brand entdeckte, diesen zu löschen versuchen. Zum Helden fühlte er sich nicht berufen, mochten die Laa in ihm sehen, was sie wollten.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als er anders darüber dachte. Im Kampf gegen die Schwarzen Magier hatte er sich eingebildet, seinen Teil zur Rettung der Welt beizutragen, und vielleicht war es sogar wirklich so gewesen. Aber mittlerweile hatte er auch erkannt, daß ihn weder Pflichtgefühl noch Heldentum oder etwas ähnlich Albernes dazu getrieben hatten, sondern nur der Haß. Er war sein Leben lang ausgenutzt worden, hatte immer nur Kämpfe ausgetragen, die nicht seine eigenen waren. Erst durch die Begegnung mit der Kreatur, die sich als Lyn ausgegeben hatte, war ihm dies wieder bewußt geworden.

»Ayla«, begann er stockend, sprach aber nicht weiter, sondern drehte sich wieder um und sah das Mädchen mit einem verlegenen Lächeln an. »Diese Stadt, in der Marodon mich gefunden hat«, wechselte er schließlich das Thema. »Was ist mit ihr?«

»Es ist ein böser Ort. Normalerweise wagen wir uns nicht dorthin, aber Marodon hat deine Spuren bis dort verfolgt und dich gerade noch rechtzeitig entdeckt. Die Stadt ist von einer fremden Magie erfüllt. Sie vermag deine Träume wahr zu machen, wenigstens ist es bei Tage so. Doch sobald die Sonne untergeht, verwandelt sich jeder Traum in einen Alptraum, alles Schöne wird zu einem mörderischen Ungeheuer. Was ist dir dort passiert?«

Torian antwortete nicht. Was Ayla sagte, klang einleuchtend. Wenn Lyn nur eine Traumgestalt gewesen war, erklärte das ihr sonderbares Verhalten, und es paßte auch zu dem, was Shyleen über die Kristallfürstin erzählt hatte, deren Waffe die Träume waren. Wenn die Stadt nicht viel mehr als ein formgewordenes Traumgespinst war, eine optische Illusion, dann erklärte das auch, wieso er nicht einmal von dem Turm aus ein Ende des Waldes hatte erkennen können. Möglicherweise hatte er sich sogar nur eingebildet, auf den Turm hinaufzusteigen. Er würde wohl nie erfahren, wo genau dort die Trennlinie zwischen Traum und Wirklichkeit verlief.

»Es gab ein seltsames Gebäude dort, eine schwarze Kuppel«, fuhr er fort. »Weißt du etwas darüber?«

Ayla schüttelte den Kopf, nickte gleich darauf und zuckte mit den Schultern. »Wenig«, erwiderte sie. »Als die Fremden damals in unser Tal kamen, errichteten sie als erstes die Kuppel, die Stadt selbst entstand erst später. Sie wird von den Echsen besonders bewacht. Nur weil sie unser Dorf angegriffen haben, bist du unbemerkt bis dorthin gekommen.« Sie schaute ihn an, und er glaubte, einen lauernden Ausdruck in ihren Zügen zu entdecken. »Warum interessierst du dich dafür?«

»Vielleicht liegen unsere Ziele doch nicht ganz so weit auseinander«, murmelte er ausweichend. Dann fuhr er herum und eilte ohne ein weiteres Wort davon, um ungestört über alles nachdenken zu können.

»Torian, warte!« rief sie ihm nach. »Ich muß dir noch etwas sagen.«

»Später«, antwortete er. Er hatte erfahren, was er wissen wollte und ging schneller, als er bemerkte, daß Ayla ihm folgte; in respektvollem Abstand zwar, aber beharrlich wie ein Schatten, und schließlich kehrte er in seine Unterkunft zurück, die sie ihm direkt nach dem Kampf gezeigt hatte. Es schien der einzige Ort zu sein, an dem er für ein paar Minuten allein sein konnte – und selbst das nur, nachdem er Ayla die Tür demonstrativ vor der Nase zugeschlagen hatte. Vielleicht hatte er sie sogar getroffen. Torian wußte es nicht sicher, und es war ihm auch egal. Auf jeden Fall hatte er endlich seine Ruhe.

Es war eine der größten Hütten. Sie wurde nur noch von einem langgestreckten Gebäude im Zentrum des Dorfes übertroffen, dem einzigen, das aus Stein erbaut war, und wo jetzt die Verletzten untergebracht worden waren. Torians Hütte gehörte eigentlich Marodon, doch auch dieser war schwer verletzt worden. Es gab in der Hütte nur wenige Möbelstücke. Sie waren schlicht und zweckmäßig. In einer Halterung blakte eine Fackel und erfüllte den Raum mit flackerndem Licht.

Torian ließ sich auf das Bett sinken und starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zur Decke hinauf. Erst jetzt wurde ihm wieder bewußt, wie müde er war. Er glitt für einige Minuten in einen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, aus dem ihn das Knarren der Tür aufschrecken ließ. Er öffnete den Mund, um Ayla zurechtzuweisen, dann erkannte er, daß es sich bei den Besuchern um Shyleen und Garth handelte. Um die Brust des Diebes lag ein dicker Verband. Sein Gesicht war blaß, und sein Gang unsicher. Seine Augen glänzten fiebrig, aber es lag eine Entschlossenheit in seinem Blick, die Torian zeigte, daß alle Ermahnungen, sich hinzulegen und zu schonen, vergebens wären. Garth hatte schon immer seinen eigenen Dickkopf gehabt.

»Dieser Narr scheint sich unbedingt selbst umbringen zu wollen«, begann Shyleen, um dann die Frage anzuschließen: »Hast du etwas herausgefunden?«

Torian nickte.

»Ich glaube, ich weiß, wo der Tempel der verbotenen Träume liegt. Ich habe es vorher schon geahnt, war mir aber nicht sicher. Jetzt gibt es kaum noch einen Zweifel. Ich war sogar schon im Tempel drin.«

Er machte eine Pause und genoß den Ausdruck ungeduldiger Spannung auf Shyleens Gesicht, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. »Ich schwöre, daß ich dir die Augen auskratze, wenn du nicht sofort sagst, was du weißt«, drohte sie. Und er war ganz und gar nicht sicher, daß diese Worte so scherzhaft gemeint waren, wie er im ersten Moment glaubte.

Torian berichtete von der Kuppel und seinen Erlebnissen in der Stadt, und wiederholte, was ihm Ayla erzählt hatte.

»Es muß der Tempel sein«, stieß Shyleen aufgeregt hervor, als er geendet hatte. »Und die Echsen dienen als Wächter, falls jemand die anderen Fallen überwindet. Ist dir sonst nichts im Tempel aufgefallen?«

»Ich habe nur den Drachen und diesen Klotz gesehen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Art Schrein.«

»Dann müssen wir uns also nur noch etwas einfallen lassen, um den Drachen zu besiegen. Alles andere erledigen die Laa für uns. Etwas Besseres konnte uns kaum passieren. Sie werden uns bereitwillig den Weg ebnen, schließlich haben wir den gleichen Feind. Du brauchst ihnen nur zu befehlen, gegen dieses Echsengezücht zu ziehen. Sie freuen sich ja geradezu auf den Kampf.«

»Langsam«, dämpfte Torian ihren Überschwang. »Wenn es so einfach wäre, hätten sie diesen Krieg schon längst gewonnen. Auf ein Schwert mehr oder weniger sind sie wohl kaum angewiesen. Ich glaube nicht, daß es ihnen allein um den Kampf geht. Sie erwarten etwas anderes von mir, etwas, wovon sie glauben, daß nur ich es tun kann.«

»Oh, verzeih, ich vergaß deine Göttlichkeit, Herr«, spottete Shyleen, wurde aber sofort wieder ernst. »Und was soll das sein, weißt du das auch?«

Torian schüttelte den Kopf.

»Ich konnte Aylas Unterwürfigkeit nicht mehr ertragen und habe mich hierhin verdrückt, bevor sie mir alles erklären konnte. Außerdem wollte ich gar nichts mehr davon hören. Aber wir können sie ja suchen, damit sie mich über meine Aufgaben als Erretter aufklärt.«

»Nicht nötig«, schaltete sich Garth ein und deutete auf einen Schatten, der sich vor der schmalen Ritze zwischen Tür und Boden abzeichnete. »Sie wartet bereits auf dich. Scheint ja eine besonders eifrige Verehrerin zu sein.«

Torian verdrehte die Augen und stieß einen lautlosen Fluch aus, ging zur Tür und forderte das Mädchen barsch auf, hereinzukommen. »Also gut, ich werde versuchen, euch zu helfen«, teilte er ihr mit.

Ihre Augen leuchteten vor Freude auf. »Wirklich Herr?« Sie sah den Unmut in seinem Gesicht und verbesserte sich sofort selbst: »Torian.«

»Aber erst muß ich wissen, was ich tun soll. Ich nehme nicht an, daß ihr so verrückt seid, die Echsen in einer offenen Schlacht anzugreifen. Sonst schlagt euch diesen Unfug nämlich ganz schnell wieder aus dem Kopf.«

»Nein, natürlich nicht. Du erinnerst dich noch an die Kuppel, von der wir zuletzt gesprochen haben? Eine uralte Prophezeiung besagt, daß dort der Schlüssel zur Rettung unseres Volkes verborgen liegt, daß aber nur ein Fremder, der die Echsen besiegt, ihn finden kann. Wir haben versucht, selbst in die Kuppel einzudringen, immer wieder, aber erfolglos.«

Torian kaute nachdenklich auf seiner Lippe herum. Die alte Legende konnte sich nur auf die Kristallfürstin beziehen. Wenn sie aus ihrem Schlaf erwachte, brauchten die Echsen den Tempel nicht mehr zu bewachen. Vielleicht würden sie sogar sterben, wenn ihr Auftrag erfüllt war.

»Der Zugang ist unsichtbar«, sagte er.

»Wir haben jeden Zentimeter der Kuppel abgetastet, ohne eine Öffnung zu finden«, widersprach Ayla. »Du mußt für uns hineingehen, Herr – Torian.«

»Das werden wir, verlaß dich darauf!« versprach Shyleen triumphierend. »Genau deshalb sind wir hergekommen.«

Torian beachtete sie nicht. »Haben die Echsen nicht versucht, euch aufzuhalten?« hakte er stirnrunzelnd nach. »Du hast doch behauptet, sie würden gerade die Kuppel besonders scharf bewachen.«

»Das tun sie auch, aber sie werden uns diesmal nichts anhaben können«, erwiderte Ayla eifrig. »Wir werden am Siegestag aufbrechen.«

»Siegestag?«

Sie nickte. »Wir machen uns den Lebensrhythmus der Echsen zunutze. Schon vor langer Zeit haben wir durch Zufall herausgefunden, daß sie in regelmäßigen Abständen, nämlich alle zweiundsiebzig Tage, für einen Tag und eine Nacht so gut wie hilflos sind. Es muß irgend etwas mit ihrer ursprünglichen Heimat und der Umwelt dort zu tun haben. In dieser Zeit verkriechen sie sich jedenfalls irgendwo, weil sie sonst wehrlose Opfer für uns wären. Wir nennen es den Siegestag. In neun Tagen ist es wieder soweit, und dann werden wir unser Ziel ungehindert erreichen können.«

Shyleen begann schallend zu lachen, und auch Garth strahlte über das ganze Gesicht. »Sieht so aus, als hätten wir endlich mal ein ganz dickes Ende vom Glück zu fassen bekommen«, rief er fröhlich.

Nur Torian schaute sich unbehaglich um. Neun Tage, dachte er. Neun Tage, in denen sie zur Untätigkeit verurteilt waren. Eine lächerlich kurze Zeit, aber er war sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob das, was Ayla gesagt hatte, wirklich so eine gute Nachricht war. Torian saß auf einem Felsen am Ufer und starrte lächelnd auf den kleinen See in der Nähe des Dorfes hinaus. Shyleen und Garth und einige Laa tollten wie Kinder im Wasser herum. Es war noch früh, doch die Kühle der Morgendämmerung war bereits verflogen und hatte der angenehmen Wärme des Tages Platz gemacht. Dem Kalender nach war es Herbst, aber der Rhythmus der Jahreszeiten schien hier ohne Bedeutung zu sein: Es hatte nicht einen einzigen regnerischen oder kühlen Tag gegeben, seit sie in dieses Tal gekommen waren, sowenig, wie es einmal wirklich heiß geworden war. Acht Tage waren mittlerweile seit dem Überfall der Echsen vergangen, ohne daß es zu einem neuen Angriff gekommen war. Bereits am zweiten Tag hatten die Laa ihr altes Dorf verlassen und einen halben Tagesmarsch entfernt ein neues errichtet, in der Hoffnung, daß die Echsen sie hier wenigstens für eine Weile nicht finden würden. Mittlerweile kam Torian die Erinnerung an den Kampf und alles, was davor geschehen war, beinahe nur noch wie ein böser Traum vor. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt und nach all der Hetze und den Gefahren der vergangenen Wochen endlich wieder so etwas wie Ruhe und Frieden gefunden.

Die Laa faszinierten ihn immer mehr, denn ein Volk wie sie hatte er noch nie erlebt. Sie führten ein einfaches Leben, ernährten sich von der Jagd und dem Ackerbau. Die Felder waren dank des Flusses überaus fruchtbar, und zahlreiche Tiere lebten im Wald. Daß er zuvor keins zu Gesicht bekommen hatte, lag daran, daß die meisten scheu waren und bei Annäherung eines Menschen sofort flohen, so daß man sie fast nur in Fallen fangen konnte. Abgesehen von den halbintelligenten Echsen gab es keine Raubtiere.

Jeder Tag war für die Laa ein Fest der Lebensfreude. Sie besaßen keinen Herrscher, alle Entscheidungen wurden nach gemeinsamen Diskussionen durch Mehrheitsbeschluß gefällt. Im Grunde waren sie ein friedliches Volk, was wohl daran lag, daß sie seit Urzeiten in dem Tal weitgehend von der Außenwelt abgeschirmt waren, und es hier alles zum Leben Notwendige im Überfluß gab. Bis zum Auftauchen der Echsen war ihnen Krieg weitgehend unbekannt gewesen. Aber auch seither bestand ihr Dasein weniger aus Kampf, als vielmehr aus Flucht. Sie blieben selten länger als ein paar Monate an einem Ort, sondern suchten sich stets neue Verstecke im Wald. Von Zeit zu Zeit verwüsteten die Echsen ihre Felder, doch da ihre Hauptaufgabe im Bewachen des Tempels bestand, verließen sie die unmittelbare Umgebung der Stadt nur selten. Ohne die Bedrohung durch sie hätte das Leben der Laa paradiesisch sein können. Torian konnte gut verstehen, warum sie so inbrünstig hofften, daß er ihnen den Frieden bringen würde.

Aber was wäre das für ein Frieden, der nur durch die Vernichtung des Feindes errungen wurde? dachte er bitter. Im Grunde wäre es nicht mehr, als ein gewaltsam errungener Sieg, selbst wenn die Echsen den Krieg begonnen hatten und durch ihren Auftrag ein friedliches Nebeneinander der beiden Völker unmöglich wurde. Nicht gerade die beste Grundlage, um eine friedliche Zukunft darauf zu errichten. Aber wie er selbst erlebte, stellten die Laa einen Unsicherheitsfaktor im System der Fallen um den Tempel der verbotenen Träume dar; die Echsen mußten versuchen, sie zu vertreiben oder auszurotten.

Tief im Inneren verabscheute sich Torian selbst für das, was er tun wollte. Im Gegensatz zu den Echsen waren die Laa Menschen, und sie hatten diesen Krieg nicht gewollt, aber das gab ihnen nicht automatisch das Recht, die Angreifer nun ihrerseits zu vernichten. Und vor allem durfte er ihnen nicht dabei helfen. Es war nicht mehr als ein Zufall, daß er und sie das gleiche Ziel verfolgten, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Wenn er zum Tempel ging und die Kristallfürstin zu erwecken versuchte, bestand die Möglichkeit, daß er eine unbekannte Gefahr aus der Vergangenheit auf die Menschen losließ, aber wenn er es nicht tat, würde Shyleen sterben, und das Morden in diesem Tal weitergehen. Auch wenn er nicht wirklich daran glaubte, hoffte er insgeheim, daß es noch eine andere Möglichkeit gab, daß alles vielleicht ganz anders verlaufen würde, wenn er den Tempel erreichte. Konnte es wirklich sein, daß alles, was er tat, falsch war, daß sein Handeln nur neues Grauen heraufbeschwören würde, egal, wie er sich entschied?

Er hatte sich in den vergangenen Wochen und gerade in den letzten Tagen mehr verändert, als ihm selbst bislang bewußt geworden war. Die Zeit, da er Söldner im scroothischen Heer gewesen war und für Geld fast bedenkenlos getötet hatte, schien Jahrzehnte zurückzuliegen. Er wollte nicht mehr töten; weder eigenhändig noch durch seine Entscheidungen. Vielleicht würde er bei den Laa bleiben, wenn alles vorbei war und es noch so etwas wie ein Später für ihn gab. Ein friedliches Leben als Bauer und Jäger führen, endlich die Ruhe mit sich und seiner Umwelt finden, die er sein Leben lang gesucht hatte. Der Gedanke ließ ihn lächeln, erschien ihm aber längst nicht mehr so lächerlich, wie noch vor ein paar Tagen.

»Woran denkst du?« riß ihn Aylas Stimme aus seinen Grübeleien. Torian hatte sie nicht herankommen hören, aber sie mußte schon seit einiger Zeit neben ihm stehen und ihn beobachten, so wie sie seit seiner Ankunft kaum jemals von seiner Seite gewichen war, sobald er seine Hütte verließ. Durch ihre ständige Anwesenheit fühlte er sich längst nicht mehr so belästigt wie zu Beginn. Es war schwer, sich in einem so kleinen Dorf aus dem Weg zu gehen und irgendwo ungestört zu sein. Auch das hatte er erst lernen müssen. Mittlerweile empfand er es als etwas völlig Normales.

»An nichts Bestimmtes«, antwortete er. »Mich würde interessieren, ob es eigentlich einen Ausgang aus diesem Tal gibt.«

»Schließlich seid ihr ja auch hereingekommen.«

»Ja, aber diesen Weg gibt es nicht mehr.«

Sie zögerte kurz. »Am Ende des Tals gibt es einen schmalen Paß zwischen zwei Bergen«, erklärte sie dann. »Ich weiß nicht, ob er begehbar ist, aber ich glaube schon.« Jähes Mißtrauen flackerte in ihren Augen auf. »Warum fragst du? Du willst doch nicht –«

»Nein, ich werde nicht weggehen«, beruhigte er sie. »Aber ich verstehe nicht, warum ihr das Tal nicht irgendwann einfach verlassen habt, statt jahrtausendelang gegen die Echsen zu kämpfen. Hängt ihr so sehr an diesem Stück Land?«

Wieder zögerte sie eine Weile, und erst als Torian schon glaubte, sie wolle ihm nicht antworten, brach sie ihr Schweigen.

»Wir leben in diesem Tal, so lange die Geschichte unseres Volkes zurückreicht, und haben jeden Fußbreit Boden mit Blut bezahlt. Das Land ist fruchtbar und gibt uns alles, was wir brauchen. Natürlich lieben wir es und hängen daran, doch das ist es nicht allein. So grausam manches hier ist, beschützen die Berge uns doch auch vor der Welt, die hinter ihnen liegt und die kaum weniger grausam ist, nach allem, was wir darüber gehört haben.«

»Gehört? Von wem?«

Ayla lachte leise. »Ihr seid nicht die ersten Fremden, die zu uns kommen.«

»Und was ist mit den anderen geschehen?«

»Sie wurden von den Echsen getötet. Aber sie haben uns erzählt, wie es jenseits dieses Tals aussieht, daß es auch dort Haß und Kriege gibt. Warum sollten wir von hier fortgehen? Wir haben immer gehofft, daß eines Tages jemand kommen würde, der uns vor den Echsen rettet. Und nun bist du da.«

Torian verzichtete auf eine Antwort. Einige Minuten lang saßen sie schweigend nebeneinander, dann ergriff Ayla erneut das Wort. »Du bist seltsam«, murmelte sie.

Verwundert hob er den Kopf. »Was meinst du damit?«

»Nun, seltsam eben. Anstatt dein Leben zu genießen, grübelst du ständig über alles mögliche nach und ziehst dich in dich selbst zurück. Manchmal glaube ich fast, du bist überhaupt kein richtiger Mensch, sondern...« Sie überlegte einen Moment und suchte nach einem passenden Wort, dann machte sie eine hilflose Geste.

»Ein Gott?« schlug Torian mit mildem Spott vor.

Ayla schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Ich weiß, daß du kein Gott bist, und so haben wir uns unseren Erretter auch nie vorgestellt. Aber manchmal kommst du mir fast wie ... wie eine Puppe vor, nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut. Du kapselst dich ab und läßt niemanden an dich herankommen. Es ist, als ob du eine Mauer um dich herum gebaut hättest, hinter der keine Gefühle, sondern nur klare, nüchterne Überlegungen Platz finden.«

Torian schwieg. Sie deutete zu Shyleen und Garth hinüber, die immer noch im Wasser umhertollten. »Was sind die beiden für dich? Nur flüchtige Bekannte? Jedenfalls scheint es so. Selbst mit ihnen sprichst du kaum noch. Seid ihr nur zusammen gereist, oder bedeuten sie dir mehr?«

Immer noch schwieg Torian verbissen und kniff die Lippen noch ein wenig fester zusammen. Ayla schien auch keine Antwort erwartet zu haben, denn sie sprach von allem weiter, ohne ihm überhaupt Zeit für eine Erwiderung zu lassen. »Ist ja egal und geht mich auch nichts an. Aber sie sind so anders als du. Zumindest Garth. Er lacht und feiert und lebt einfach so in den Tag hinein; er spricht und scherzt mit jedem, während ich dich in der ganzen Zeit kein einziges Mal wirklich fröhlich gesehen habe. Irgendetwas bedrückt dich. Warum stehst du dir selbst und deiner Umwelt so feindselig gegenüber?« fragte sie sanft.

»Das stimmt nicht«, erwiderte Torian ohne rechte Überzeugung. In Wahrheit sprach sie nur aus, was ihm selbst seit langer Zeit im Kopf herumspukte. »Vielleicht ist Garth offener als ich, aber er hat auch einen Grund, sich zu freuen und glücklich zu sein.«

»Shyleen?«

Er nickte. Seit sie bei den Laa waren, und der Tempel der verbotenen Träume in greifbare Nähe gerückt war, hatte sich Shyleens Verhalten gegenüber dem Dieb geändert. Sie waren fast unzertrennlich geworden und bewohnten auch eine gemeinsame Hütte. Seit sie seine Liebe erwiderte, zumindest aber nicht mehr verschmähte, verströmte Garth eine dermaßen gute Laune, als ob er für das Lachen bezahlt würde. Torian gönnte ihm die Freude, aber gerade das Glück der beiden führte ihm seine eigene Einsamkeit mit schmerzlicher Deutlichkeit vor Augen. Immer stärker begann er sich wie ein fünftes Rad an der Kutsche zu fühlen.

»Die beiden lieben sich, doch du scheinst kalt und hart wie ein Stein zu sein«, fuhr Ayla fort.

Er erinnerte sich, daß er noch vor kurzem genau das über Shyleen gedacht hatte. »Worauf willst du hinaus?« fragte er mit einer Heftigkeit, die ihn selbst ein wenig überraschte.

Anstelle einer Antwort legte sie ihm die Hand auf den Arm. Er erschauerte unter der Berührung. Eine kribbelnde Wärme ging von ihren Fingerspitzen aus. Einem ersten Impuls folgend, wollte er ihre Hand zurückstoßen, entspannte sich dann aber sofort wieder. Sie hatte ihn überrumpelt, hatte seinen Schutzpanzer mit dieser winzigen Geste durchbrochen und ihn an einer Stelle getroffen, an der er sich für unverwundbar gehalten hatte. Ihre Nähe erregte ihn plötzlich auf eine unbekannte, irritierende Art. Sie weckte etwas in ihm, das er bereits für alle Zeiten vergessen geglaubt hatte. Unsicher musterte er sie, und zum ersten Mal, seit er sie getroffen hatte, sah er nicht das kleine Mädchen, sondern sah sie als die junge Frau, die sie in Wahrheit schon war.

Ihre Hand tastete sanft über seinen Arm und ließ eine Gänsehaut über seinen Rücken kriechen. Wieder sträubte sich etwas in ihm gegen die Berührung, und wieder unterdrückte er dieses Gefühl. Er war ein erwachsener Mann und niemandem für seine Empfindungen und Gedanken Rechenschaft schuldig – auch nicht seiner Erinnerung an Lyn, wie er fälschlicherweise so lange geglaubt hatte.

Aylas Hand erreichte seine Schulter, seinen Hals, tastete über sein Gesicht. Seine Haut schien zu brennen, wo ihre Finger sie berührte. Ihr warmer Atem traf seine Wange.

Ein fast schmerzhaftes Verlangen erwachte in ihm und spülte auch den Rest seines Widerstandes fort. Er preßte sie an sich und küßte sie; hart und besitzergreifend. Seine Finger glitten über ihren heißen Körper, streichelten ihre Brüste, glitten tiefer.

Sie löste sich aus seiner Umarmung, stand auf und griff nach seiner Hand.

»Komm«, sagte sie und führte ihn zu seiner Hütte.

Torian wehrte sich nicht. Die Schatten der Abenddämmerung tanzten im Inneren der kleinen Hütte, nisteten in den Ecken, aus denen sie das Kerzenlicht nicht zu vertreiben vermochte, und erfüllten sie mit düsterem Leben, aber zum ersten Mal seit langer Zeit fürchtete sich Torian nicht vor ihnen. Ayla war an seiner Schulter eingeschlafen. Ihr Kopf ruhte auf seinem Arm, ließ ihn schwer und taub werden, doch er zog ihn nicht weg, um sie nicht aufzuwecken.

Auch Torian fühlte sich müde und auf eine wohlige Art erschöpft. Abgesehen von einem kurzen Spaziergang um die Mittagsstunde hatten sie die Hütte den ganzen Tag nicht mehr verlassen. Sie hatten sich geliebt; anfangs mit einer fast ekstatischen Leidenschaft, später zärtlich und liebevoll. Ayla war keine Jungfrau mehr, aber noch ziemlich unerfahren gewesen; sie kannte nicht die zahlreichen Varianten und Tricks der Dirnen, mit denen er in den letzten Jahren das Bett geteilt hatte, aber sie war die erste gewesen, die nicht nur sein körperliches Verlangen hatte stillen können, sondern auch die brennende Gier in seinem Inneren. Anders als all die anderen Male zuvor waren seine Empfindungen nach dem Geschlechtsakt nicht in Schuldgefühle und Verachtung gegen seine Gespielin und sich selbst umgeschlagen. Im Gegenteil. Ayla hatte die Sehnsucht nach mehr in ihm geweckt.

Sie schlief nicht sehr fest, von Zeit zu Zeit murmelte sie leise, unverständliche Worte, die ihn an das behagliche Schnurren einer Katze erinnerten. Er ließ seinen Blick liebevoll über ihren Körper schweifen. Ihre Haut war weich und sonnengebräunt. Das dunkle Haar fiel ihr wie ein Schleier über das Gesicht, konnte aber nicht verbergen, daß sie noch im Schlaf lächelte.

Ganz vorsichtig bewegte er den Arm, trotzdem spürte Ayla die Bewegung und schlug die Augen auf.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Und ich wollte gar nicht einschlafen.« Sie gähnte. »Es ist spät geworden. Haben wir noch etwas Wein?«

Torian griff nach dem Tonkrug, dann schüttelte er den Kopf. »Leer.«

Sie stand auf, griff nach ihrem Gewand und streifte es in einer anmutigen Bewegung über. »Ich hole neuen. Und etwas Braten.«

Torian nickte und stemmte sich halb auf die Ellenbogen hoch. Wortlos sah er zu, wie Ayla die Hütte verließ, aber er blickte selbst dann noch zum Ausgang, als ihre Schritte schon längst draußen verklungen waren. Er fühlte sich ... sonderbar; auf eine Art, die er kaum in Gedanken, geschweige denn in Worte fassen konnte. Aber es war eine angenehme Art von Verwirrung, mit der ihn die Geschehnisse des letzten Tages erfüllten. Sicherlich war es nicht die große Liebe, die Aylas Küsse in ihm entfacht hatten, da machte er sich nichts vor, und sie bestimmt auch nicht. Aber er verspürte in der Nähe des Mädchens etwas, das fast ebenso wichtig war; vielleicht wichtiger: Geborgenheit. Geborgenheit und Freundschaft, ein Wort, das so simpel klang und doch so unendlich weh tat, wenn es fehlte.

Torian lächelte still in sich hinein, schlug die dünne Decke zur Seite und schlüpfte ebenfalls in seine Kleider.

Fast ziellos verließ er die Hütte und sah sich auf dem Dorfplatz um. Nach allem, was in den letzten Tagen hier geschehen war, bot die Siedlung der Laa einen fast absurd friedlichen Anblick; die wenigen Menschen, denen er überhaupt begegnete, verrichteten ihre Arbeiten ohne Hast und mit guter Laune – Torian hörte Lachen, Scherzworte flogen hin und her, nicht weit von Aylas Hütte spielten zwei Kinder am Boden, aus der Ferne und diskret beobachtet von einer jungen Frau, die Torians Blick mit einem Heben der Hand und einem herzlichen Lächehl beantwortete. Ein paar Männer kamen von der Jagd oder beladen mit hohen Körben voller Früchte vom Feld. Es war sehr warm, aber die Hitze hatte noch nicht jenes Maß erreicht, ab dem man sie als störend empfand. Das Sonnenlicht brannte nicht in seinen Augen, sondern war zwar sehr hell, aber trotzdem mild. Vielleicht war es das erste Mal seit... Ja, seit Jahren, überlegte Torian, daß er sich wirklich zufrieden fühlte. Nicht glücklich, wenn man damit jene überschwengliche Art von Glück meinte, die Verliebte manchmal spüren und die rasch und unversehens zu einem verzehrenden Feuer werden konnte; aber zufrieden. Vielleicht war das mehr, denn dies war ein Zustand, der durchaus dauerhaft anhalten konnte.

Torian lächelte bei diesem Gedanken, sah sich nach Ayla um und schlenderte zu Shyleens Hütte hinüber, als er sie draußen nirgends entdeckte. Der Eingang war verschlossen, aber als Torian stehenblieb und lauschte, hörte er eindeutige Geräusche: Garth’ Stimme, Shyleens glockenhelles Lachen, und das Klappern und Klirren von Eßgeschirr, so daß er sicher war, nicht etwa zu stören oder gar in einem peinlichen Moment hineinzuplatzen.

Er räusperte sich übertrieben laut, trat mit gesenktem Kopf in die Hütte und erwiderte Garth’ fröhlichen Gruß mit erhobener Hand. Shyleen sah ihn nur an, aber vielleicht zum allerersten Mal überhaupt, seit er sie kannte, bemerkte er einen Ausdruck wirklicher Freundschaft in ihrem Blick. Es tat gut, dachte er, Freunde zu haben.

»Hallo, Torian«, begrüßte ihn Garth, lächelnd, in fast aufgeräumter Stimmung, und begleitete seine Worte mit einer einladenden Geste auf die dünne Bastmatte, die den Boden bedeckte. Torian dachte an Ayla, die jetzt vielleicht schon zurück sein und ihn vermissen mochte, folgte der Einladung aber dann trotzdem; immerhin brauchte er ja nicht lange zu bleiben. Er setzte sich und nahm einen Schluck von dem leichten Wein, den Shyleen ihm reichte.

»Wir planen gerade den morgigen Tag«, sagte Garth. Seine riesige Hand legte sich bei diesen Worten auf Shyleens Schulter, und Torian registrierte mit einem leisen Gefühl von Verwirrung, daß sich die Magierin wie selbstverständlich an Garth’ Seite kuschelte. Warum irritierte ihn dieser Anblick eigentlich so?

»Shyleen und ich wollen einen Ausflug in die Berge unternehmen«, fuhr Garth fort, als Torian nicht auf seine Worte reagierte. »Warum begleitest du uns nicht?«

»Morgen?« Erneut spürte Torian ein sonderbares Gefühl von Irritation, und erneut konnte er es sich nicht erklären. Irgend etwas Besonderes war morgen. Aber er hatte vergessen, was.

Garth nickte geschäftig. »Wieso nicht?« fragte er. »Wir sind bis zum Abend zurück. Immerhin«, fügte er mit einem fast verschmitzten Lächeln hinzu, »wollen wir ja das große Fest nicht verpassen, oder?«

»Was für ein ... Fest?« fragte Torian schleppend. Das Denken fiel ihm immer schwerer. Garth’ Worte waren falsch, falsch, falsch, aber er wußte einfach nicht, wieso.

»Was für ein Fest?« Garth schürzte die Lippen und lachte, ein bißchen zu laut und ein bißchen zu abfällig, als daß es echt klingen konnte. »Du machst Scherze, wie?« fragte er. »Shyleens Krönung natürlich.«

»Shyleens Krönung?« wiederholte Torian verwirrt. »Was für eine ... Krönung?« Seine Gedanken liefen immer schleppender ab. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, hatte Mühe, Garth’ Worte überhaupt noch zu verstehen, geschweige denn, ihnen irgendeinen Sinn abzugewinnen. Er spürte nur, daß irgend etwas falsch war, irgend etwas ganz und gar nicht so lief, wie es sein sollte. Was war nur mit dem nächsten Tag?

Garth runzelte übertrieben geschauspielert die Stirn und legte den Kopf schräg. »Sag mal – ist das jetzt ein Scherz, oder hat man dir wirklich nichts gesagt?« fragte er.

»Was – gesagt? Ich weiß von nichts.« Er tauschte einen fast hilfesuchenden Blick mit Shyleen, aber auch in ihren Augen war nur eine leise Verwunderung zu erkennen; und der gleiche, mühsam unterdrückte Spott wie in Garth’ Blick.

»Sie machen unsere kleine Shyleen zu ihrer Königin«, erklärte Garth. »Heute Morgen war eine Abordnung der Ältesten hier, während du...« Er grinste anzüglich. »... nun ja, mit Ayla beschäftigt warst.«

»Ihrer Königin«, echote Torian dümmlich. »Wieso? Sie sind doch bislang sehr gut ohne ...«

Garth grinste und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. »Jetzt beschwer dich nicht«, sagte er. »Immerhin hast du die Stelle als Obergott nicht haben wollen, oder? Und wieso auch nicht? Sie ist eine Magierin.« Er zuckte mit den Achseln, als wäre dies nicht allein Begründung genug. »Die Laa brauchen einen Führer«, fuhr er fort, ehe Torian irgend etwas einwenden konnte. »Sie brauchen ihn schon lange.«

»Aber sie —«

»Sie sind ein gutes Volk«, fiel ihm Shyleen ins Wort. »Aber sie werden den Krieg gegen die Echsen verlieren, wenn sie niemanden finden, der ihnen hilft.«

»Und du bist dieser jemand’?« vergewisserte sich Torian.

Shyleen nickte. »Warum nicht? Mit Garth’ und deiner Hilfe sollte es uns gelingen, diese Schuppengesichter zum Teufel zu jagen, oder?«

Echsen? dachte Torian. Der Schleier, der sich über seine Erinnerungen gelegt zu haben schien, riß ein ganz kleines Stück auf. Es gab diese Echsenkrieger. Er hatte nicht mehr an sie gedacht, hatte sie schlichtweg vergessen. Aber da war noch etwas, etwas, das mit den Echsen eng verbunden war. Mühsam versuchte er, sich zu erinnern.

»Und ... der Tempel?« fragte er zögernd. Es kostete ihn Mühe, die Worte auszusprechen. Es war, als wollte ihn irgend etwas daran hindern, es zu tun.

»Tempel?« Shyleen sah ihn einen Moment lang irritiert an; und für die gleiche, unendlich kurze Zeitspanne hatte Torian das Gefühl, daß sie nicht einmal wußte, wovon er eigentlich sprach. Dann lächelte sie flüchtig und nervös und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sicher, der Tempel«, ging sie auf seine Frage sein. »Wir finden ihn. Sobald wir mit diesen Echsen fertig sind. Es wird nicht lange dauern.«

Nicht lange dauern ?! dachte er entsetzt. Aber sie –

Etwas fuhr wie ein unsichtbarer, stählerner Besen in seinen Kopf und wischte den Gedanken beiseite, und plötzlich kam er sich selbst lächerlich und dumm vor. Natürlich hatte Shyleen recht – sie hatten so viele Mühen auf sich genommen, so viele Gefahren überlebt und so viele Strapazen durchlitten, um den Tempel der Unsterblichkeit zu finden, daß es wirklich keine Rolle mehr spielte, ob sie ihn ein paar Tage früher oder später aufsuchten. Bei allen Göttern, die Unsterblichkeit wartete auf sie – spielte es da irgendeine Rolle, ob sie jetzt oder in einer Woche oder in einem Monat ans Ziel gelangten?

Er lächelte. »Natürlich«, sagte er. »Ich begleite euch gerne, morgen. Aber jetzt entschuldigt mich – Ayla wartet sicher schon.«

Garth grinste breit. »Laß dich nicht aufhalten. Wir beide vertreiben uns die Zeit schon allein. Morgen bei Sonnenaufgang. Und bring einen guten Wein mit, damit wir unterwegs nicht verdursten.«

»Das werde ich«, versprach Torian.

Ohne ein weiteres Wort verließ er die Hütte.Wie er befürchtet hatte, wartete Ayla bereits auf ihn. Torians schlechtes Gewissen rührte sich spürbar, als ihm klar wurde, daß das Mädchen in Sorge um ihn gewesen sein mußte, schließlich hatte er ihr weder gesagt, wohin er ging, noch, wie lange er ausblieb. Aber sie verlor kein Wort über seine Abwesenheit, und auch in ihrem Blick war nicht einmal die Spur irgendeines Vorwurfes, als sie aufsah und ihn anlächelte.

Ja, dachte Torian, während er sich neben sie sinken ließ und die Hände nach ihr ausstreckte. Es tat gut, Freunde zu haben. Und er hatte sich geirrt, vorhin – er war nicht nur zufrieden. Er war glücklich. Und er wünschte sich, daß dieser Moment nie, nie vorüberging. In dieser Nacht träumte er; einen Alptraum, so entsetzlich, daß er die Furcht nicht einmal dann abschütteln konnte, als er mitten in diesem Traum begriff, daß er träumte: Er träumte, mitten in der Nacht aufzuwachen, geweckt durch ein Geräusch oder vielleicht auch nur durch die tiefe Stille, die sich über der Hütte ausgebreitet hatte, und er träumte, daß er die Augen aufschlug und Ayla nackt und zusammengekuschelt wie ein Kind neben sich schlafen sah. Aber es war nicht mehr die Ayla, die er kannte, sondern ein Zerrbild des Mädchens: alt und verbraucht, ausgemergelt bis zum Skelett und mit Wunden und großen, eiternden Stellen voller Ausschlag und Grind übersät. Ein schrecklicher Geruch nahm ihm den Atem, und als er aufschaute, erkannte er auch, woher er kam: Er war nicht länger in Aylas Hütte, auch nicht mehr im Dorf der Laa, sondern lag auf einem Lager aus faulendem Laub unter dem Kuppeldach einer gigantischen, feuchten Höhle, die nur trübe von einem halben Dutzend kleiner Feuer erhellt wurde. Andere Gestalten, Männer und Frauen und Kinder, alle so schrecklich ausgezehrt und krank wie Ayla, lagen schlafend um diese Feuer herum, und dann und wann war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Dann fiel sein Blick auf zwei Gestalten, die nur wenige Schritte von ihm entfernt waren, schlafend und zum Schutz vor der beißenden Kälte eng aneinandergekuschelt wie Ayla und er, und im ersten Moment begriff er gar nicht, warum ausgerechnet diese beiden seine Aufmerksamkeit erregten; bis er erkannte, daß es Shyleen und Garth waren, die der Traum als einzige nicht zu Schreckgespenstern gemacht hatte.

Voller Entsetzen richtete er sich ganz auf und sah an sich herab, darauf gefaßt, auch seinen Körper gealtert und fast zum Greis verfallen zu erblicken – aber es war wie bei Garth und Shyleen: Er selbst schien nicht Teil dieses Alpdruckes zu sein; er war jung und kräftig wie immer, mit ein paar neuen Wunden, die bereits zu heilen begannen, aber unverändert.

Seine abrupte Bewegung weckte Ayla – oder das, wozu sie sich in diesem Traum verändert hatte. Mühsam setzte sie sich auf und sah ihn einen Augenblick lang aus trüben, blutunterlaufenen Augen an; Augen, in die Hunger und Resignation und Schmerz unauslöschliche Spuren gegraben hatten. Torian versuchte vergeblich, das Entsetzen zu unterdrücken, mit dem ihn ihr Anblick erfüllte.

»Ihr Götter!« stammelte er. »Ayla! Was ist... mit dir... geschehen?!«

Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak sie. Panik lag in ihrem Blick. Ihre dürren, mit kleinen eiternden Wunden übersäten Hände hoben sich, tasteten zitternd nach seinem Gesicht und erstarrten mitten in der Bewegung. Dann lächelte sie.

»Geschehen?« fragte sie. »Was meinst du?«

»Dein... dein Gesicht!« keuchte Torian. Seine Stimme drohte zu versagen. »Ayla, was ist hier –«

»Nichts«, unterbrach ihn Ayla. Sie lächelte, aber ihre Lippen waren so dünn und blutleer, und der Mund dahinter so rot, daß es aussah, als entstünde eine breite blutige Wunde in ihrem Gesicht. Torian unterdrückte mit aller Kraft den Impuls, zu schreien und sie einfach von sich zu stoßen.

»Nichts ist geschehen, Torian», beruhigte sie ihn kichernd. »Du träumst. Manchmal schicken uns die Echsen böse Träume, um uns zu quälen, weißt du? Schlaf weiter.«

Torian gehorchte. Als er am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Traum vergessen, aber etwas blieb zurück; etwas wie ein schlechter Geschmack in seinen Gedanken, den er den ganzen Vormittag über nicht los wurde, ganz gleich, wie sehr er versuchte, sich abzulenken, oder wie sehr Garth und Shyleen oder auch Ayla – denen seine gedrückte Stimmung natürlich keineswegs entging – auch versuchten, ihn aufzuheitern.

So war es denn auch mehr sein eigenes Bedürfnis, sich auf andere Gedanken zu bringen, als wirkliches Interesse, das ihn bewog, seine Zusage vom vergangenen Tag einzuhalten und Garth und Shyleen bei ihrem Ausflug in die Berge zu begleiten. Die Laa erhoben keine Einwände, als sie das Dorf verließen — immerhin war heute der Siegestag, so daß mit einem Angriff der Echsen nicht zu rechnen war, und auch die mörderische Natur des Tales konnte ihnen nichts anhaben, solange sie sich vom Fluß fernhielten und nicht etwa auf die Idee kamen, ihn überschreiten zu wollen.

Aber ihr Weg führte in die entgegengesetzte Richtung, und schon nach weniger als einer halben Stunde hatten sie alles vergessen, was jenseits der Trennlinie aus Wasser lag, die dieses Tal in eine bewohnbare und eine tödliche Hälfte teilte.

Es war wie ein Ausflug ins Paradies.

Der Weg war anstrengend, aber nicht zu schwer, und die Müdigkeit, die sich bald in ihren Gliedern breitmachte, war von sehr angenehmer, entspannender Art.

Stundenlang wanderten sie durch eine unberührte Gegend, die von einer wilden, bizarren Schönheit erfüllt war: gigantische Felslandschaften wechselten mit kleinen, von verträumten Hainen erfüllten Tälern ab, tosende Wasserfälle mit sprudelnden Bächen von kristallener Klarheit, sanft abfallende Hänge mit jähen Schluchten, in deren Tiefe sich ihr Blick verlor, ohne auf einen Grund zu treffen. Nichts von alledem war Torian fremd oder neu – er hatte all dies und tausend andere Wunder der Natur schon hundertfach gesehen, an hundert verschiedenen Orten auf der Welt, aber niemals in solcher überschwenglichen Fülle, und niemals in solcher Reinheit. Es war, als sähe er zum ersten Mal wirkliche Schönheit, es schien keine Zwischentöne zu geben: In die majestätische Größe dieser Berge mischte sich keine Gefahr, in den wild wuchernden Wuchs der Wälder kein Verfall, in das kristallklare Wasser der Bäche kein Sandkorn. Er kam sich vor, als wandere er durch ein Bild, das ein begnadeter Maler unmittelbar nach seinen Träumen gemalt und ein Magier zur Wirklichkeit erweckt hatte.

Sie strichen fast ziellos durch die Berge, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und weiterwanderte, dann rasteten sie eine Stunde, ehe sie sich auf den Rückweg machten. Obwohl keiner von ihnen besondere Acht auf die Strecke gegeben hatte, fanden sie den Weg zurück mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit. Müde und auf sehr angenehme Art erschöpft kehrten sie mit dem letzten Licht der untergehenden Sonne ins Dorf der Laa zurück.

Sie platzten mitten in die letzten Vorbereitungen der Krönungszeremonie hinein. Der Platz zwischen der Handvoll kleiner Hütten hatte sich verändert. In seiner Mitte brannte jetzt ein helloderndes Feuer, die Hütten selbst und auch der Weg zum See hinunter waren mit Blüten und kunstvoll geflochtenen Girlanden geschmückt, und von der anderen Seite des Ortes wehte ein Durcheinander scheinbar wahllos gespielter Musikinstrumente zu ihnen. Es dauerte einen Augenblick, bis Torian begriff, daß er vergeblich versuchen würde, eine Melodie zu identifizieren: Offensichtlich probten einige Laa einfach auf ihren Instrumenten, und in kindlicher Unbefangenheit war es ihnen ziemlich gleichgültig, daß drei Dutzend anderer in ihrer unmittelbaren Umgebung dasselbe taten.

Torian verabschiedete sich flüchtig von Shyleen und Garth und trat in seine Hütte, in der Ayla bereits auf ihn wartete. Sie saß mit dem Rücken zur Tür da und war damit beschäftigt, sich einen Blütenkranz ins Haar zu flechten. In der linken Hand hielt sie einen Spiegel, und für den Bruchteil eines Herzschlages fiel Torians Blick in diesen Spiegel.

Er erstarrte, als er das Gesicht darin sah.

Es war nicht Aylas Gesicht.

Im gleichen Moment, in dem er über Aylas Schulter hinweg in den Spiegel blickte, erinnerte er sich wieder an seinen Alptraum, und es war das Gesicht aus diesem Traum, eine zerfallene, graue Fratze, in die Krankheit und Not ihre Spuren gegraben hatten, und aus der blutunterlaufene trübe Augen voller Haß und gleichzeitigem Erschrecken seinem Blick begegneten.

Dann senkte Ayla den Spiegel und drehte sich gleichzeitig herum, und die Illusion zerplatzte; ihr Gesicht war wieder normal, das zarte, immer zu einem leisen Lächeln verzogene Antlitz des Mädchens, das ihm zum ersten Mal seit Jahren wieder das Wort Geborgenheit gelehrt hatte.

Aber Torian wäre nicht Torian gewesen, hätte er irgendwie anders reagiert, als er es tat: Ohne auf Aylas verwunderten Blick zu achten, trat er an ihr vorbei, nahm ihr den Spiegel aus der Hand und schaute hinein.

Er sah sein eigenes Gesicht. Und es war ganz genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Keine Alptraumvisage.

»Was hast du?« fragte Ayla. Ihre Stimme klang gleichzeitig verwirrt wie alarmiert.

Torian ließ den Spiegel wieder sinken, lächelte verlegen und schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, antwortete er. »Entschuldige. Ich ... hatte heute nacht einen üblen Traum, das ist alles.«

»Und mein Spiegel spielte darin eine Rolle?« fragte Ayla spöttisch.

Torians Lächeln wurde noch ein wenig verlegener. »Natürlich nicht«, log er. »Vergiß es. Ich bin nervös, das ist alles.«

»Sicher«, pflichtete Ayla verständnisvoll bei. »Du hast viel durchgemacht, auf dem Weg hierher. Aber das wird sich geben.« Sie stand auf, schob mit der linken Hand die Blüten in ihrem Haar zurecht und küßte ihn flüchtig. Aber als er nach ihr greifen und sie fester an sich ziehen wollte, entschlüpfte sie ihm mit einer fließenden Bewegung und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Dazu ist jetzt keine Zeit«, erklärte sie, während sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger drohte. »Die Zeremonie beginnt, sobald die Sonne vollends untergegangen ist. Du willst doch nicht den glücklichsten Moment im Leben deiner Freunde verpassen, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Torian hastig. Er trat einen Schritt zurück, bückte sich, um den Spiegel wieder zu Boden zu legen – und ertappte sich dabei, ihn für einen winzigen Moment so zu halten, daß sich Aylas Gestalt in dem polierten Silber brach.

Aber nichts daran hatte sich verändert. Sie war jung und schön und unschuldig wie immer.

Torian legte den Spiegel hastig endgültig aus der Hand und schalt sich in Gedanken einen mißtrauischen Narren. Wenn er nicht acht gab, würde er alles zerstören. Diese Menschen hier –und allen voran Ayla – hatten nichts anderes im Sinn, als Shyleen, Garth und ihn glücklich zu machen, und er suchte fast krampfhaft nach...

Ja – wonach eigentlich?

Verwirrt richtete er sich auf, blickte auf den zierlichen Silberspiegel zu seinen Füßen hinab und zerbrach sich vergebens den Kopf darüber, was daran sein Mißtrauen erweckt haben mochte. Irgend etwas war nicht in Ordnung gewesen, als er hier hereingekommen war – aber was? Etwas hatte sein Mißtrauen geweckt, etwas, das mit diesem Spiegel zusammenhing, oder dem, was er darin gesehen hatte, aber er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war...

Torian fühlte sich wie betrunken. In seinem Kopf drehte sich alles. Er machte einen Schritt auf Ayla zu, blieb wieder stehen und streckte die Hände nach ihr aus. Er wankte. Ayla machte keine Anstalten, um ihn zu stützen, sondern sah ihn nur an, auf eine sehr sonderbare, fragende Art, in der nichts Feindseliges, aber auch ganz und gar nichts Warmes mehr war.

»Was ist mit dir?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht wohl?«

»Doch«, log Torian. »Es ist... nichts. Ich bin ... ein wenig müde – glaube ich. Der Tag war anstrengend.«

»Warum ruhst du dich nicht aus?« fragte Ayla. »Schlaf. Ich wecke dich, wenn das Fest beginnt.« Sie lächelte, ihre Stimme war warm und sanft wie immer, aber etwas war ... falsch daran. Auf entsetzliche Weise falsch. Er schaute sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht wieder das Gesicht einer alten Frau, dann zerplatzte die Illusion abermals. Torian stöhnte.

»Du solltest dich wirklich hinlegen«, riet Ayla. Sie klang jetzt wirklich besorgt – aber etwas an dieser Sorge war nicht richtig. Es war keine Sorge, die ihm galt. »Ruh dich aus, Torian. Ich rufe jemanden, der dir hilft.«

»Nein!« sagte – nein, schrie – Torian. Ayla riß verblüfft die Augen auf, und Torian versuchte, seinen ungewollt scharfen Ton durch ein hastiges Lächeln zu mildern. »Ich ... brauche vielleicht einfach nur ein wenig frische Luft«, gab er vor und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür zurück. »Ich gehe noch ein wenig zum See hinunter. Nicht lange.«

Ayla sah ihn nachdenklich an. Dann, nach einer geraumen Weile, nickte sie. Sie lächelte wieder, aber ihr Blick blieb ernst. Torian war nicht sicher, ob der Ausdruck in ihren schmalen Augen Sorge oder etwas völlig anderes war. »Tu das«, stimmte sie zu. »Ich hole dich, sobald das Fest beginnt.«

Torian floh mehr aus der Hütte, als er ging. Im Sturmschritt durchquerte er den Ort und lief die wenigen Dutzend Schritte bis zum Ufer des kleinen Sees hinunter. Aber selbst dort angekommen, fand er keine Ruhe, zumindest nicht sofort. Alles in ihm war aufgewühlt, seine Gefühle ein tobender Ozean, ohne daß er überhaupt sagen konnte, was es war, das ihn so erregte.

Fast gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Was war nur mit ihm los? War er schon so sehr daran gewöhnt, immerzu zu kämpfen und davonzulaufen, daß er vielleicht gar nicht mehr in der Lage war, echte Gefühle zu genießen? War er vielleicht einfach nicht mehr fähig, jemandem zu vertrauen, uneingeschränkt und blind zu vertrauen, wie es Menschen, die sich lieben, nun einmal tun? Oder...

Ja, dachte er, plötzlich ganz ruhig, oder stimmte hier wirklich etwas nicht?

Mit erzwungen ruhigen Schritten ging Torian zu einem der rundgeschliffenen Felsen, die das Ufer des kleinen Sees säumten, und setzte sich darauf. Es war derselbe Felsen, auf dem er vorgestern gesessen und mit Ayla geredet hatte, während sie Garth und Shyleen zusahen, die im Wasser tollten, und die Erinnerung an diese kurze Szene stieg rasch und bitter in Torian auf. Er kam sich schäbig vor, und er schämte sich seiner eigenen Gefühle, denn Ayla und ihrer Aufrichtigkeit zu mißtrauen, das bedeutete gleichzeitig – ob er es wollte oder nicht – an Shyleens und Garth’ Glück zu zweifeln. Wenn falsch war, was er erlebte, war auch falsch, was sie erlebten, und ...

Er spürte, daß seine Gedanken begannen, sich im Kreise zu drehen, und schloß mit einem Stöhnen die Augen. Torian ballte die Fäuste, so fest er konnte, und wartete auf den Schmerz, der ihn ablenken würde. Aber er kam nicht.

Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und starrte auf den See hinab. Sein eigenes Gesicht spiegelte sich auf der Oberfläche des schwarzen Wassers, nicht viel mehr als ein Umriß, in dem das Weiß der Augen wie zwei winzige, weiße Sterne zu leuchten schienen.

Wie die einzigen Sterne auf diesem See.

Es war wie ein Schlag.

Drei, vier Sekunden lang saß Torian einfach da und starrte auf den See hinab, und dann, endlich, begriff er, was mit diesem See nicht stimmte. Vielleicht mit diesem ganzen Tal.

Es gab keine Sterne.

Er wußte, daß der Himmel über ihm voller glitzernder Sterne war, viel mehr und viel klarere Sterne, als er es vom Himmel seiner Heimat her gewohnt war, aber auf dem still daliegenden Wasser spiegelte sich nichts, nicht der winzigste Lichtschimmer!

Torians Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe.

Über ihm prangte das silberweiße Band der Milchstraße wie ein achtlos hingeworfenes Diadem der Götter. Aber der See war leer. Er war leer, weil es am Himmel über ihm in Wahrheit keine Sterne gab. Weil es in Wahrheit überhaupt keinen Himmel über ihm gab!

Und endlich begriff Torian wirklich ...

Noch einmal vergingen drei, vier kostbare Sekunden, ehe es ihm gelang, die ganze schreckliche Tragweite seiner Entdeckung zu verarbeiten, dann fuhr er mit einem Schrei herum und rannte los, auf das Dorf und den lodernden Feuerschein in seiner Mitte zu. Er mußte Garth und Shyleen warnen, ihnen sagen, daß ...

Er kam nur wenige Schritte weit.

Die Gestalten lösten sich aus den Schatten der Bäume, die keine Bäume waren, traten auf den Weg hinaus, der kein Weg war, und bildeten eine Mauer aus Leibern zwischen ihm und dem Dorf, das keines war.

Es waren viele, ein Dutzend, vielleicht anderthalb, und obwohl sie waffenlos waren, spürte Torian die stumme Drohung, die von ihnen ausging. Er wich einen Schritt zurück, hörte ein Rascheln und Schleifen hinter sich und wußte, daß die ewige Nacht hier unten nun auch hinter seinem Rücken Gestalten ausgespieen hatte, mörderische Schatten, die nur in der Wirklichkeit lebten und verblassen würden, sobald er sich der Verlockung der Träume wieder hingeben würde.

Aber das konnte er nicht. Er hätte es nicht einmal mehr gekonnt, wenn er es gewollt hätte.

Einer der Schatten trat langsam auf ihn zu und wurde von einem flachen Schemen zu einer Gestalt. Ayla. Die Ayla aus seinem Traum, der Wirklichkeit war, nicht die Ayla der Wirklichkeit, die Illusion gewesen war.

»Tu es nicht, Torian Carr Conn«, krächzte sie. Ihre Stimme war ein heiseres Fisteln, verzerrt und kaum mehr menschlich, kaum mehr zu verstehen. Allein ihr Klang ließ Torian einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Er war plötzlich fast froh, ihr Gesicht nicht genau erkennen zu können.

»Du würdest deine Freunde töten, wenn du versuchtest, sie zu warnen.«

Torian starrte sie an. Er wollte etwas erwidern, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. Plötzlich dachte er an all die Stunden, die er mit Ayla verbracht hatte, an all die Dinge, die sie miteinander getan hatten, und ein Gefühl unbeschreiblichen Entsetzens stieg in ihm auf. Kein Ekel, kein Widerwillen, nichts von dem, was er erwartete, sondern nur Entsetzen.

»Wer seid ihr?« flüsterte er.

»Die Laa«, antwortete Ayla. »Das verlorene Volk. Suchende wie ihr, die einem Traum gefolgt sind.«

»Wer bist du?« keuchte Tonan. »Ayla, wer —«

»Ich bin Ayla«, antwortete Ayla. »Die Ayla, die du kennengelernt hast. Ich ...« Sie stockte, machte eine vage Handbewegung, deren genaue Bedeutung Torian nicht erkannte, und fügte etwas leiser hinzu: »...wie sie. Wie wir alle. Wie auch du und deine Freunde.«

»Dann war alles ... Lüge?« stammelte Torian. »Alles nur Illusion? Alles, was –«

»Nein«, unterbrach ihn Ayla. Obgleich ihre Stimme noch immer dieses entsetzliche Keuchen und Kreischen war, glaubte Torian doch so etwas wie echte Trauer darin zu erkennen, ein Bedauern, das ihm galt und zwar ohne Gnade, aber nichtsdestoweniger echt war.

»Nein«, bekräftigte Ayla noch einmal. »Nichts war erlogen, Torian. Ich war Ayla, als ich hierherkam, so wie alle anderen die waren, als die du sie kennengelernt hast. Wir waren wie du. Auch wir waren auf der Suche nach der Unsterblichkeit. Dem großen Traum der Menschen — und nicht nur der Menschen. Unsterblichkeit. Das ewige Leben.« Sie lachte bitter. »Unsterblichkeit«, wiederholte sie noch einmal.

»Aber warum?« murmelte Torian. Er machte einen Schritt auf Ayla zu, und die Mauer der Schatten kam näher. Torian blieb wieder stehen. »Warum, Ayla?« fragte er ein zweites Mal. »Warum ... tut ihr uns das an?«

»Nicht wir sind es, die euch all diese Dinge antun«, widersprach Ayla. »Ihr selbst seid es.« Sie machte eine heftige Handbewegung. »Die Unsterblichkeit ist hier«, sagte sie. »Begreif doch! Dies ist der Tempel der Unsterblichkeit. Ich bin seit Jahrzehnten hier, so wie andere seit Jahrhunderten und wieder andere seit Jahrtausenden. Und auch ihr werdet bleiben.«

Alles in Torian weigerte sich, zu glauben, was er hörte. Es war unmöglich. UNMÖGLICH! Es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte!

»Das ist eine Falle«, behauptete er. Ayla widersprach nicht, und so fuhr er fort: »Es ist die letzte Falle, nicht wahr? Ich meine, ihr alle habt den gleichen Weg hinter euch gebracht wie wir. Ihr habt das Pflanzenmonster besiegt, ihr seid dem Gras entkommen und den Echsen, und ihr habt auch die Stadt überlebt. Aber das, was ihr gesucht habt, gibt es hier in Wahrheit nicht, hat es nie gegeben. Die Kristallfürstin, ihr Geheimnis –das ist alles nur Legende.«

Ayla antwortete noch immer nicht, und Torian wertete ihr Schweigen als Zustimmung. Plötzlich sah er alles ganz deutlich vor sich: Ayla und all diese anderen Zerrbilder ihres früheren Selbst waren wie sie gewesen, die Zähesten der Zähen, die alle Gefahren irgendwie gemeistert und den Tempel der Unsterblichkeit — fast — gefunden hatten. Aber es gab eine letzte Falle, und in dieser waren sie alle hängengeblieben: diesen Ort. Seine Gefahren waren nicht tödlich. Er vernichtete seine Opfer nicht, sondern lullte sie in einem Netz von Illusionen ein, er tötete nicht, sondern besänftigte, wie ein Gift, das seine Opfer nicht umbringt, sondern zu lallenden Idioten macht.

»Wir alle haben bekommen, was wir wollten, nicht wahr?« fuhr er fort, als Ayla immer noch schwieg und ihn nur weiter stumm und voller Trauer ansah. »Garth hat Shyleen bekommen, Shyleen die Macht, die sie sich immer gewünscht hat. Und ich habe dich bekommen.« Seine Stimme wurde bitter. »Aber es ist doch nichts als Illusion.« Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Das hier ist die Wirklichkeit. Diese ... diese Höhle, Ayla. Dieses stinkende Loch. Eure verfallenden Körper. Euer ...«

»Du verstehst nichts«, unterbrach ihn Ayla sanft. »Was ist Illusion, was Wirklichkeit? Was ist schlimm daran, sich einem Traum hinzugeben, wenn dich dieser Traum glücklich macht?«

»Die Tatsache, daß du irgendwann einmal erwachst«, antwortete Torian.

»Hier nicht«, widersprach Ayla. »Du hast uns gesehen, wie wir wirklich sind, Torian. Ja, dein Traum heute Nacht war die Wahrheit. Jetzt ist die Wahrheit. Wir sind erwacht, aber nur für einen kurzen Augenblick.«

»Und nur, um mich daran zu hindern, auch Garth und Shyleen aufzuwecken, nicht wahr?« fragte Torian.

Ayla nickte. »Du würdest alles zerstören«, warnte sie.

»Ich würde sie retten!« widersprach Torian heftig.

»Aber du hast nicht das Recht dazu«, beharrte Ayla. »Du hast kein Recht, ihnen ihre Träume zu stehlen, Torian. Niemand hat dieses Recht. Du hast es selbst gesagt – alles, was Garth sich wünschte, war Shyleen. Er hat sie bekommen. Und alles was Shyleen sich je wünschte, war Macht. Sie wird sie bekommen, sobald sie zu unserer Königin gekrönt ist.«

»Und alles, was ich bekomme, bist du?«

Ayla lächelte. Sie wirkte verletzt, aber nicht gekränkt. »Ich kann Lady Lyn für dich sein«, gab sie ihm zu bedenken. »Oder irgendeine andere Frau, die du dir wünschst.«

Und für einen Moment wollte er es wirklich. Für den Bruchteil einer Sekunde zerlief ihr Schattengesicht und formte sich zu den engelsgleichen Zügen Lady Lyns, der einzigen Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte, und für die gleiche Zeitspanne wollte er es.

Aber es war eine Illusion. Nichts als ein Traum, und er würde es immer wissen. Er war kein Mann, der Träume lieben konnte.

»Nein«, sagte er hart. »Ihr belügt euch selbst, Ayla. Ihr seid nicht unsterblich. Seht euch an. Ihr seid alt. Ihr seid krank. Ihr sterbt. Wahrscheinlich zehnmal schneller als wir.«

»Das stimmt«, gestand Ayla mit erstaunlicher Offenheit. »Unser wirkliches Leben hier unten zählt nach Monaten, nicht einmal nach Jahren. Aber was macht das? In unseren Träumen leben wir Jahrtausende, und wir altern nur, wenn wir aufwachen. Die Zeit verliert jede Wirkung. Wir erträumen uns die Unsterblichkeit. Eine Nacht ist wie hundert Jahre, wie tausend, wenn du willst. Du wirst ewig leben, wenn du willst, und schnell sterben, wenn du des Lebens überdrüssig bist.« Sie lächelte. »Gefällt dir diese Welt nicht? Dann erträume dir eine andere, Torian. Ich zeige dir, wie man es macht.«

»Und wenn ich mich weigere?« fragte Torian ruhig.

»Werden wir dich töten«, antwortete Ayla. »Wir werden nicht zulassen, daß du alles zerstörst. Für dich steht nur dein Leben auf dem Spiel, Torian. Für uns die Ewigkeit. Ein Preis, um den zu kämpfen sich lohnt.«

Torian blickte das zerfallene Greisinnengesicht vor sich lange und sehr traurig an. Er verstand Ayla sogar, und er spürte, daß ihre Feindseligkeit nicht gegen ihn gerichtet war. Sie haßte ihn nicht, so wenig, wie sie ihn wirklich liebte. Für sie und diese anderen bedauernswerten Geschöpfe stand einfach zuviel auf dem Spiel. Und von ihrem Standpunkt aus gesehen hatte sie vermutlich sogar recht – schließlich: Wo war der Unterschied, ob man wirklich ein Jahrtausend lebte, oder es sich in einer Nacht erträumte? Beinahe traurig nickte er, trat einen halben Schritt zurück und hob die Fäuste.

»Dann kämpft«, forderte er.

Und das taten sie.

Es war die Hölle. Die Laa waren unbewaffnet, und nicht einer von ihnen war auch nur im entferntesten in der Lage, es mit Torian aufzunehmen; aber sie waren viele, und sie kämpften mit der Verbissenheit von Menschen, für die mehr als nur ein Leben auf dem Spiel stand.

Schon ihr erster Ansturm riß Torian einfach von den Beinen. Dürre, knochige Finger griffen nach ihm, scharrten über sein Gesicht und zerrten an seinem Haar, versuchten, ihm die Augen auszukratzen und ihm Mund und Nase zuzuhalten. Torian schlug und trat verzweifelt um sich, und er spürte, wie entsetzlich seine Hiebe unter den ausgemergelten Gestalten wirkten – die Laa wurden zurück- und zu Boden geschleudert und blieben reglos liegen oder krochen wimmernd davon. Aber für jeden Angreifer, den er abschüttelte, spie die Nacht drei neue aus, und so ausgemergelt und krank die grauen Gestalten aussahen, so zäh waren sie. Es schien nicht möglich zu sein, sie wirklich zu verletzen; ausgenommen vielleicht, wenn er mit aller Kraft kämpfte und in Kauf nahm, seine Gegner zu töten. Und das wollte er nicht.

Die Frage war, ob er eine andere Wahl hatte.

Irgendwie gelang es ihm, auf die Füße zu kommen, und irgendwie glückte es ihm auch, sich mit ein paar wütenden Hieben für einen Moment Luft zu verschaffen. Aber es war wirklich nur eine Atempause; als er sich umwandte, begriff er, daß er nun endgültig eingekreist war – und es waren sehr viel mehr Angreifer, als er im ersten Augenblick geglaubt hatte. Gut zwei, wenn nicht drei Dutzend in Lumpen gehüllter Gestalten umgaben ihn, wie eine Mauer aus Leibern, aus der sich ihm Dutzende von dürren, fast zum Skelett abgemagerten Händen entgegenstreckten. Und nur die wenigsten von ihnen waren einmal Menschen gewesen.

»Hör auf, Torian!« forderte Ayla noch einmal. »Wir sind nicht deine Feinde. Wir wollen dich nicht töten! Aber wir müssen es, wenn du nicht aufgibst!«

Das Schlimmste war, dachte er, daß er ganz genau spürte, daß sie recht hatte — von ihrer Sicht aus. Die Laa waren nicht seine Feinde, ebensowenig wie die Garth’ oder Shyleens. Sie taten einfach, was sie tun mußten, und sie begriffen wahrscheinlich noch nicht einmal, daß sie nur Werkzeuge waren, ein weiteres winziges Teil der gigantischen Todesmaschinerie, in die irgend etwas dieses Tal verwandelt hatte.

Der Ring aus Körpern zog sich enger zusammen. Torian sah sich wild um. Er war nicht weit vom Dorf entfernt – oder der Stelle, an der er bisher ein Dorf zu sehen geglaubt hatte –, aber er wußte, daß sie über ihn herfallen würden, wenn er auch nur versuchte, einen Schritt in diese Richtung zu tun. Aber auf der anderen Seite gab es nur Felsen und zerschundenen Boden und – und den See.

Als einziger Teil dieser gigantischen Illusion schien er Wirklichkeit zu sein; wenngleich er sich von einem verträumten See in ein ölig schimmerndes Loch verwandelt hatte, dessen bloßer Geruch ihm den Magen herumdrehte.

»Gib auf!« wiederholte Ayla noch einmal. »Wir sind nicht deine Feinde.«

»Dann laßt uns gehen«, verlangte Torian.

»Das dürfen wir nicht«, antwortete Ayla. Sie klang fast traurig. »Ihr würdet alles zerstören, wenn ihr ginget.«

Völlig warnungslos sprang sie ihn an. Torian reagierte ganz automatisch: Er beugte sich ein wenig zur Seite, duckte sich unter Aylas ausgestreckten Armen hindurch und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, ihr die Faust in den Leib zu schlagen. Stattdessen versetzte er ihr noch ein wenig mehr Schwung und ließ sie über seinen gekrümmten Rücken abrollen, so daß sie wie ein lebendes Geschoß in die Menge hinter ihm flog. Vier, fünf Laa gleichzeitig wurden von ihrem Anprall zu Boden gerissen, und die anderen wichen ganz instinktiv ein Stück zurück.

Und Torian nutzte die Chance. Mit einer fast unmöglichen Bewegung fuhr er herum, setzte über die gestürzten Laa hinweg und rannte los, so schnell er konnte. Dürre, mit scharfen Nägeln versehene Klauen griffen nach ihm und hinterließen blutige Kratzer in seiner Haut, eine Hand klammerte sich an seinen Fuß und versuchte, ihn festzuhalten, und etwas traf mit schrecklicher Wucht zwischen seine Schulterblätter, aber Torian lief einfach weiter. Ein Laa wollte ihm den Weg verstellen und wurde glattweg über den Haufen gerannt.

Gehetzt blickte sich Torian um. Die Laa, die nicht unter Aylas Anprall zu Boden gegangen waren, hatten wie ein Mann zu seiner Verfolgung angesetzt, und diesmal, das war ihm klar, würden sie ihn töten, wenn sie ihn einholten. Und trotz ihres gebrechlichen Äußeren waren sie schnell, sehr schnell – sogar schneller als er. Als er das Ufer des Sees erreichte, waren sie kaum mehr eine Armeslänge hinter ihm.

Torian stieß sich mit aller Kraft ab und sprang.

Der Aufprall raubte ihm fast die Besinnung. Der Sprung hatte ihn weit hinausgetragen, aber er war schlecht berechnet gewesen; er tauchte nicht elegant ms Wasser ein, sondern durchbrach seine Oberfläche wie ein flach geworfener Stein. Die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben, und für eine einzelne, schreckliche Sekunde hatte er Angst, das Bewußtsein zu verlieren.

Keuchend und mit schwarzen Schleiern vor den Augen kam er wieder an die Oberfläche und holte gierig Luft. Erst dann drehte er sich wassertretend um und sah zum Ufer zurück.

Die Laa folgten ihm nicht. Sie waren am Ufer stehengeblieben und starrten haßerfüllt auf ihn herab, aber nicht einer machte auch nur einen Versuch, ihm nachzukommen. Aber warum nicht? dachte er. Torian war eigentlich sicher, daß die Laa schwimmen konnten, letztendlich waren es Männer und Frauen vom Kaliber eines Garth und einer Shyleen gewesen, ehe sie hierhergekommen waren.

Als ihm die Erklärung für das Zögern der Laa einfiel, war es fast zu spät.

Etwas bewegte sich im See. Tief unter ihm, sehr tief, aber nicht tief genug, als daß er die Bewegung nicht spürte. Etwas Riesiges begann zur Wasseroberfläche emporzusteigen.

Torian warf sich herum und begann zu kraulen.

Er hatte die Mitte des Sees erreicht, als er die Wellen bemerkte. Das Wasser war nicht mehr ruhig, selbst da, wo es nicht von seinen eigenen Schwimmbewegungen aufgewühlt wurde. Ein sanftes, fast geometrisches Wellenmuster begann sich auf der schwarzen Wasseroberfläche zu bilden, fast unmerklich zuerst, dann immer stärker und stärker, und auch die Bewegungen der unsichtbaren eisigen Fluten unter ihm wurden heftiger.

Dann berührte etwas seinen Fuß; ganz sacht, tastend, beinahe zärtlich. Etwas Warmes, Schlankes, etwas, das sich – absurd genug – irgendwie trocken anfühlte, und das vor seiner Berührung ebenso erschrocken zurückprallte wie er umgekehrt vor der seinen. Torian blickte instinktiv nach unten, und für einen Moment glaubte er, einen ungeheuerlichen Schatten wahrzunehmen, einen formlosen Klumpen aus noch tieferem Schwarz vor der Farbe des Wassers. Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung.

Er kraulte noch schneller, und für einige kurze Augenblicke sah es fast so aus, als könnte er es schaffen. Der See war nicht besonders breit an dieser Stelle und das jenseitige Ufer kam jetzt schnell näher.

Torian war vielleicht noch fünf oder sechs Züge davon entfernt, als etwas wie eine schwarze Schlange vor ihm aus dem Wasser brach. Instinktiv warf er sich zur Seite und herum, schluckte Wasser und kam hustend und würgend wieder nach oben — und sah sich einer zweiten Schlange gegenüber, dann einer dritten, vierten, fünften – bis er begriff, daß es keine Schlangen waren.

Es waren Fangarme.

Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn Torian hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sich einer der schwarzen Tentakel um seine Hüfte wickelte und ihn festhielt. Ein zweiter, schlangelnder Arm glitt durch das Wasser auf ihn zu und tastete nach seinen Beinen.

Das Ding am dem Berg! dachte er entsetzt. Es war keine Krake, es war das Monster aus dem Berg, dessen Nervenfäden dieses ganze Tal umfaßten, und das sie die ganze Zeit über beobachtet hatte!

Sie hatten den Tempel der Unsterblichkeit gefunden. Das Tor hatte sie nicht in seine Nähe, sondern unmittelbar in sein Herz geschleudert, und Ayla hatte die Wahrheit gesagt: Dies hier war die einzige Unsterblichkeit, die sie finden konnten, die Ewigkeit der Träume.

Torian schrie in höchster Todesangst auf und warf sich herum. Der Griff des Tentakels lockerte sich für einen winzigen Moment und verstärkte sich dann wieder, und plötzlich fühlte er sich auch an den Beinen gepackt. Etwas wie eine weiche, aber unmenschlich starke Hand ergriff sein Fußgelenk und zerrte daran, etwas anderes, trockenes, übermenschlich Starkes begann, seine Waden emporzukriechen...

Torian kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung, aber gegen den Giganten im Wasser hatte er keine Chance. Langsam, unendlich langsam, aber unbarmherzig, wurde er in die Tiefe hinabgezogen.

Das letzte, was er sah und hörte, war Aylas schreckverzerrtes Gesicht und ihre Stimme, die wieder und immer wieder schrie: »Komm zu uns, Torian! Noch kannst du es! KOMM ZU UNS!«

Aber er kam nicht einmal mehr dazu, auch nur in Gedanken zu antworten.

Das Wasser schlug wie eine eisige Decke über ihm zusammen. Dunkelheit hüllte ihn ein, und seine Lungen begannen schon nach Sekunden zu brennen. Dem pressenden Tentakel um seine Brust gesellte sich ein zweiter, unsichtbarer Reif hinzu, ein Ring aus purem Schmerz, der sich unbarmherzig zusammenzog und ihn dazu zwingen wollte, den Mund zu öffnen und Atem zu holen, auch wenn dies den sicheren Tod bedeutete. Feurige Kreise begannen, vor seinen Augen zu tanzen, und er wußte, daß er den Druck nur noch Sekunden aushallen würde.

Er spürte, wie seine Sinne zu schwinden begannen.

»Komm zu uns!« glaubte er noch einmal Aylas Stimme zu hören. Es war ihm klar, was sie meinte. Er brauchte nur die Augen zu schließen und sich in die Welt der Träume zu flüchten. Die Zeit würde bedeutungslos werden und ...

Nein! schrie etwas in seinem Innern voller panischer Angst. Lieber würde er sterben, jetzt und hier, als ein ewiges Schattenleben zu führen, in jenem düsteren Traumreich zwischen Leben und Tod. Aber er wußte auch, daß er den Kampf gegen die verlockende Illusion verlieren würde, ebenso wie den gegen das Ungeheuer in dem See. Noch war er Herr über seine Gedanken, aber in dem winzigen Moment, bevor er starb, würde er seinen freien Willen verlieren und sich selbst aufgeben.

Noch einmal griff Torian nach einem der Tentakel und stemmte sich mit bereits kraftlosem Griff gegen den mörderischen Druck – und dann hielt er ein Stück des Fangarms plötzlich in der Hand. Bewegungen waren mit einem Mal um ihn herum. Gestalten, die er in dem trüben, aufgewühlten Wasser nur als düstere Schemen wahrnahm und im ersten Moment für eingebildete Schatten hielt, Trugbilder, vielleicht Vorboten des nahenden Todes.

Aber dann entdeckte er inmitten der trüben Schwärze etwas Grünliches, und er begriff, daß die Gestalten real, und das, was er sah, hornige Panzerschuppen waren. Die feurigen Kreise vor seinen Augen drehten sich immer schneller, und er wußte, daß es nur noch Sekunden dauern konnte, bis er das Bewußtsein verlieren und für immer in Aylas schreckliches Schattenreich eingehen würde, aber das unverhoffte Auftauchen der Echsen weckte noch einmal Kraftreserven in ihm, von denen Torian selbst nichts geahnt hatte.

Er stemmte sich gegen den letzten Tentakel, der noch um seine Brust lag – und plötzlich war er frei. Irgendwo, entsetzlich weit über ihm, befand sich die Wasseroberfläche. Torian machte einige unbeholfene Schwimmbewegungen und erkannte, daß er auf diese Weise niemals rechtzeitig würde auftauchen können. Sein Brustkorb schien zu platzen, als eine der Echsen ihn von hinten umklammerte und pfeilschnell mit ihm in die Höhe schoß.

Und dann war es vorbei.

Torian riß den Mund auf und atmete. Gierig schnappte er nach Luft, in tiefen, rasend schnellen Zügen, zwischen denen kaum Zeit zum Ausatmen blieb. Immer wieder drang ihm ein Schwall fauligen, nach Moder und Blut schmeckenden Wassers in Mund und Nase und ließ ihn würgen. Nur undeutlich nahm er wahr, daß die Echse ihn weiter in Richtung zum Ufer schleppte. Gleichzeitig kämpfte er weiterhin gegen die Ohnmacht an, die seine Sinne zu umnebeln versuchte. Er wußte, daß er das Bewußtsein nicht verlieren durfte; nicht in seinem jetzigen Zustand, oder er würde nie mehr wieder aufwachen. Ayla hatte noch zuviel Macht über ihn, und wenn er schlief, würde er nicht mehr genügend Kraft aufbringen, ihren Träumen weiterhin zu widerstehen.

Dazu kam, daß er nicht wußte, was die Echsen mit ihm vorhatten. Zwar war er von ihnen vor dem Ungeheuer im See gerettet worden, aber das mußte noch lange nicht bedeuten, daß sie ihm sonderlich wohlgesonnen waren.

Sie erreichten das Ufer. Der Echsenkrieger nahm Torian hoch und trug ihn weiter. Erst als sie ein ganzes Stück vom See entfernt waren, ließ er ihn vorsichtig zu Boden gleiten. Ganz langsam beruhigte sich Torians Atem, und der stechende Schmerz in seiner Lunge ließ nach. Am liebsten wäre er noch liegengeblieben, um sich ganz zu erholen, aber stattdessen stemmte er sich mühsam in die Höhe und schaute sich um.

Mehr als ein Dutzend Echsen standen um ihn herum. Einige von ihnen waren verletzt. Der Kampf gegen das Ding im See hatte auch von ihnen Opfer gefordert, und Torian konnte nicht einmal ahnen, wieviele von ihnen überhaupt nicht mehr aus dem Wasser zurückgekehrt waren. Schwankend kam er ganz auf die Beine und schaute die Echsen der Reihe nach an. Aus intelligenten Augen erwiderten sie seinen Blick und bestätigten seine schon beim ersten Zusammentreffen gehegte Vermutung, daß sie keineswegs nur wilde Tiere waren. Eines der geschuppten Reptiliengesichter sah für ihn aus wie das andere, und es war ihm unmöglich, irgendeine Gefühlsregung darin abzulesen. Trotzdem war er sich sicher, daß die Haltung der Echsen keine Feindseligkeit ausdrückte.

Eine besonders große Gestalt trat auf ihn zu. Etwas an ihr kam Torian bekannt vor, doch erst als er das Dreieck mit dem stilisierten Auge darin auf ihrem Lederwams sah, erinnerte er sich, daß es die Echse war, gegen die er auf der Brücke gekämpft hatte. Sie stieß einige zischende, unangenehm schrille Laute aus. Erst nach Sekunden begriff Torian, daß es Worte waren – fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt zwar, aber zweifellos Worte.

»Du ... du sprichst!« stieß er ungläubig hervor.

Der Echsenkrieger nickte. »Hab keine Angst«, sagte er zischend. »Ich heiße Ssain. Wir sind nicht deine Feinde, Torian Carr Conn.«

Erneut lief ein Schauer über Torians Rücken. »Woher ...?«

»Wir beobachten euch, seit ihr hergekommen seid, und eine Weile haben wir euch auch belauscht.« Ssain machte eine kurze Pause und schaute Torian unsicher an, als wollte er sich vergewissern, daß seine Worte ihn nicht erzürnten. Aber Torian war viel zu müde, als daß dieses harmlose Geständnis irgendein Gefühl in ihm hätte hervorrufen können. Er mußte seine ganze Konzentration aufbringen, um den Echsenkrieger überhaupt zu verstehen. »Zwei unserer Späher entdeckten euch als erste«, sprach Ssain weiter. »Sie entwaffneten dich, bevor ihr euch im Todesnebel selbst gegenseitig umbringen konntet. An der Brücke haben wir versucht, euch zurückzuhalten, bevor ihr den Laa in die Falle gehen konntet, aber ihr habt uns sofort angegriffen. Ich habe noch versucht, dich zu retten, bevor du in den Fluß stürztest.«

Torian erinnerte sich, daß er für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt hatte, der Gigant wolle ihn vor dem Sturz bewahren, aber er hatte es für Einbildung gehalten. Jetzt, da er mehr über die wahren Hintergründe wußte, erschien vieles in ganz anderem Licht.

»Der Überfall auf das Dorf«, murmelte er. »Ihr habt versucht, uns zu befreien, nicht wahr?«

»Wie wir es schon so oft versucht haben«, bestätigte Ssain. »Jedesmal, wenn Fremde herkommen. Aber sie haben nie begriffen, sowenig wie ihr. Auch wir kamen vor langer Zeit auf der Jagd nach der Unsterblichkeit in dieses Tal. Aber wir waren die ersten, die erkannten, welchen Preis wir dafür hätten zahlen müssen. Seither unternehmen die Laa alles, um uns zu vernichten.«

Das Denken fiel Torian noch immer schwer. Die Müdigkeit hüllte seinen Geist wie ein klebriges Spinnennetz ein. Nur mit Mühe konnte er das Gehörte verarbeiten. Das Gespräch kam ihm immer absurder vor. Einen Herzschlag lang fragte er sich ernsthaft, ob es überhaupt wirklich stattfand. Vielleicht war in Wahrheit längst das geschehen, was er unter allen Umständen hatte verhindern wollen: Er hatte seine Rettung nur geträumt, und dies war nur eine Traumwelt, die er sich selbst erschaffen hatte; anders als die von Ayla, aber ebenso wenig real.

Er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder, weil er befürchtete, sonst den Verstand zu verlieren. An irgend etwas mußte er glauben, wollte er nicht wahnsinnig werden.

»Garth«, murmelte er. »Garth und Shyleen. Ich muß sie finden und ihnen die Wahrheit sagen.«

»Nein«, zischte Ssain erschrocken. »Du kannst nicht zurück. Die Laa würden dich töten. Du würdest in deinem Zustand keinen Kampf gegen sie mehr durchstehen. Und selbst wenn du an ihnen vorbeikämst, könntest du deinen Freunden nicht helfen. Sie würden nicht auf dich hören. Sie sind längst schon viel zu tief in ihre Träume verstrickt, um sich noch daraus befreien zu können, selbst wenn sie es wollten.«

»Aber ich kann sie nicht ihrem Schicksal überlassen«, erwiderte Torian verzweifelt. »Sie sind noch nicht verloren, ich weiß es.« Flehend schaute er den Echsenkrieger an. »Mit eurer Hilfe kann ich bis zu ihnen ...«

»Nein!« Ssain schrie das Wort beinahe und schaute Torian entsetzt an. »Das... geht nicht«, fügte er gleich darauf etwas ruhiger hinzu. »Auf gar keinen Fall. Nicht heute.«

»Nicht heute?« wiederholte Torian stirnrunzelnd. Dann verstand er. »Der Siegestag«, sagte er leise.

»In dieser Hinsicht haben die Laa die Wahrheit gesprochen«, bestätigte Ssain. »Zwar sind wir nicht hilflos, aber es ist ein heiliger Tag für uns. Deshalb fliehen wir an diesem Tag vor den Laa, weil wir unseren Göttern gelobt haben, nicht zu kämpfen.«

»Aber ihr habt doch gerade gekämpft. Ihr habt mich ...«

»Das Monstrum im See ist kein lebendes Wesen«, unterbrach ihn Ssain in einem Tonfall, der zeigte, daß jeder weitere Widerspruch sinnlos war. »Es ist ein totes Ding, nicht mehr. Aber die Laa leben. Wir dürfen nicht gegen sie kämpfen. Bleib bis morgen bei uns, dann werden wir dir helfen. Vielleicht haben wir gemeinsam eine kleine Chance.«

Das Angebot war verlockend. Torian dachte einige Sekunden ernsthaft darüber nach, dennoch schüttelte er schließlich den Kopf. »Es geht nicht«, entschied er gequält. Die Gefahr war zu groß. Er wußte nicht, was geschehen würde, wenn er einschlief, und er konnte nicht die ganze Nacht hindurch wach bleiben.

Aber das war es nicht allein. Etwas sagte ihm, daß ihm keine Zeit mehr bis zum nächsten Morgen bleiben würde. Er war sich plötzlich sicher, daß die Laa Shyleens Krönung keineswegs zufällig auf diesen Abend gelegt hatten. Es war nicht nur irgendein sinnloses Ritual, sondern die Erfüllung ihres innigsten Wunsches, auch wenn sie selbst vielleicht sich dessen nicht einmal bewußt war und ihn tief in ihrem Inneren vergraben hatte. Aber anschließend würde es für sie wirklich keine Rückkehr mehr geben, und wahrscheinlich auch nicht für Garth. Er mußte die beiden warnen.

»Dann mußt du alleine gehen.« Ssains Stimme klang so ausdruckslos wie vorher, aber Torian glaubte, einen Unterton von Trauer darin zu erkennen. Es war die Art, wie man mit einem Todgeweihten sprach, durchfuhr es ihn. Er zögerte noch einige Sekunden und ließ seinen Blick über die Gesichter der Echsenkrieger gleiten, dann wandte er sich mit einem übertrieben heftigen Ruck um und stürmte ohne ein weiteres Wort davon. Er wußte, wie undankbar sein Verhalten erscheinen mußte, aber er war sich auch im klaren, daß er nachgeben und seinen Aufbruch bis zum nächsten Tag verschieben würde, wenn er noch eine einzige Sekunde länger wartete.

Er lief nur ein kurzes Stück und ging dann langsamer, aber selbst das Gehen fiel ihm schwer. Seine Beine schmerzten. Tonnenschwere Gewichte schienen an seinen Füßen zu hängen und mit jedem Schritt schwerer zu werden, und schon nach ein paar Minuten war er schweißüberströmt. Dennoch quälte sich Torian weiter voran. Er mußte den ganzen See umrunden, was einen Fußmarsch von mindestens zwei, eher sogar drei Stunden bedeutete – falls er das Dorf überhaupt erreichte. Er hatte die Grenzen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit längst überschritten und hielt sich nur noch mit der puren Kraft seines Willens aufrecht. Trotz der Erschöpfung gönnte er sich keine Pause. Jede Minute war kostbar. Schon jetzt hatte er kaum noch eine Chance, rechtzeitig zu kommen, doch er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Es mußte ihm einfach gelingen.

Torian folgte dem Verlauf des Ufers, achtete jedoch sorgsam darauf, mindestens fünf, sechs Meter Abstand zum See zu halten. Manchmal glaubte er, dicht unter der Wasseroberfläche einen gewaltigen, schwarzen Schatten von unbestimmbarer Form zu erkennen, und dieser Anblick trieb ihn an, noch schneller zu gehen.

Wenn nur diese entsetzliche Müdigkeit nicht wäre!

Längst schon waren seine Bewegungen in ein mühsames Taumeln übergegangen. In seinen Ohren war ein so lautes Rauschen, daß er kaum glauben konnte, daß es sich nur um sein eigenes Blut handelte. Manchmal glaubte er, eine Gestalt an seiner Seite zu spüren: den Schlaf, der zu seinem stummen, unsichtbaren Begleiter geworden war und nach ihm zu greifen versuchte. Immer häufiger spielte Torian mit dem Gedanken, wenigstens für ein paar Sekunden Rast zu machen, und einmal ertappte er sich sogar dabei, daß er zu Boden gesunken war, während er sich einbildete, immer noch in Bewegung zu sein.

Nein! dachte er entsetzt und riß die Augen auf. Er dachte an Garth und Shyleen, und der Gedanke gab ihm die nötige Kraft, sich wieder auf die Beine zu quälen. Er durfte sich nicht setzen, und schon gar nicht durfte er die Augen schließen, auch nicht für ein paar Sekunden, denn dann würde er einschlafen. Er mußte weiter.

Weiter! hämmerte er sich ein. Weiter, weiter, weiter, und im Rhythmus des Wortes setzte er einen Fuß vor den anderen.

In endloser Langsamkeit verstrichen die Minuten. Jede einzelne dehnte sich für Torian zu Stunden. Immerhin war er mittlerweile so weit, daß er die Schmerzen in seinen Beinen schon nicht mehr spürte. Aber er war immer noch müde. Wie eine monotone, sich ständig wiederholende Litanei spukte das Wort durch seinen Kopf.

Er war müde. Er war so müde. So ... müde.

So ... mü ... de.

So ...

Epilog

Der Tag versprach schön zu werden – über den Bergen im Osten zeigte sich das Rot der aufgehenden Sonne als schmaler, lodernder Streifen, der die Gipfel in ein verwirrendes Muster aus Schatten und allen nur denkbaren Rot- und Orangetönen tauchte, und selbst der Wind, der die Flanken des Gebirges herabwehte, war warm.

Torian streifte den leichten Mantel ab, den er um seine Schultern gelegt hatte, ehe er den Palast verließ, und sank auf einen Felsen nieder. Sein Blick tastete über das Tal, das im letzten Grau der Dämmerung wie ein in dunklen, aber nicht düsteren Farben gemaltes Bild vor ihm lag. Der Fluß, der längst keine reißende Todesfalle mehr war, sondern ein mächtiger, ruhig dahingleitender Strom, schien das Bild in zwei ungleiche Hälften zu zerschneiden. Aber dieser Eindruck war jetzt wirklich nur noch eine Täuschung. Selbst im schwachen Licht des Morgens konnte Torian die Umrisse des neuen Palastes erkennen, der drüben, auf der anderen Seite der Ebene, im Entstehen begriffen war. Es war zwanzig Jahre her, seit er eigenhändig seinen Grundstein gelegt hatte, und es würde weitere zwanzig Jahre dauern, ehe er fertig war, aber welche Rolle spielte schon Zeit?

Torian lächelte, als ihm bewußt wurde, wie sehr sich sein Leben verändert hatte, seit es nichts mehr gab, was er hätte versäumen können. Zwei Sekunden oder zweihundert Jahre, was bedeutete das schon, für einen Mann wie ihn, der in Äonen rechnen konnte? Sie hatten fast ein Jahrhunden gebraucht, um die letzten Echsen aus dem Tal zu vertreiben, und ein weiteres, um das mörderische Gras und all die anderen tödlichen Gefahren zu beseitigen, die sich hinter dem vermeintlich paradiesischen Äußeren des Tales verbargen, und diese Zeit war ihm lang vorgekommen, unendlich lang. Er hatte erst sehr, sehr viel später begriffen, daß es gar nicht wichtig gewesen wäre, ob sie nun ein oder hundert Jahrhunderte brauchten. Am Ende würden sie siegen, ganz einfach, weil sie alle Zeit der Welt für sich hatten.

Er kam oft hierher, meist in den frühen Morgenstunden, wenn in Laa’an noch alles schlief, um ein wenig allein zu sein, denn dies — allein zu sein; Zeit nur für sich und sonst nichts und niemanden zu haben – war das einzige, was er manchmal vermißte. Aber dieser Verlust war ein geringer Preis für das, was er bekommen hatte. Er war glücklich, zum ersten Mal in seinem Leben – obwohl er sich kaum noch, und wenn, dann nur sehr ungern an das erinnerte, was vor seiner Ankunft in diesem Tal gewesen war – wirklich glücklich, und das nicht nur für wenige Augenblicke, sondern jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr. Er war am Ende einer Suche angekommen, deren Einzelheiten ihm längst entfallen waren, von der er nur noch wußte, daß sie sehr lang gewesen war.

Und doch spürte er manchmal ein Gefühl der Unrast, ein Drängen tief in seinem Inneren, das er sich nicht erklären konnte. Vielleicht war es einer der Gründe, weshalb er so oft hierherkam, an diesen Ort, an dem er sich stärker als sonst irgendwo eins mit seiner Umwelt fühlte. Er liebte diese Stunden der Einsamkeit und Melancholie, obwohl er manchmal einen leichten Hauch von Trauer verspürte, so als hätte er etwas verloren, das ihm einmal viel bedeutet hatte.

Oft schweiften seine Gedanken in solchen Momenten ziellos umher und tasteten in die Unendlichkeit hinaus; zum Himmel hinauf, an dem selbst jetzt bei genauem Hinsehen noch schwach und vereinzelt Sterne sichtbar waren, welche die Morgendämmerung nicht hatte fortwischen können, aber auch zu den hohen Bergen und dem, was dahinter liegen mochte.

Manchmal – und jetzt war wieder so ein Augenblick – grübelte er auch einfach nur so vor sich hin, ließ seine Gedanken treiben und versuchte, einen Sinn hinter allem zu erkennen. Es gab Zeiten, da kam ihm die Welt, sein Leben wie ein Traum vor, ein flüchtiger Rausch der Sinne, und er begriff sich als das, was er war: ein winziges Rädchen im gewaltigen Werk der Schöpfung. Torian mochte diese Gedankenspielereien, das Suchen nach Wirklichkeiten, und er ließ seiner Phantasie freien Lauf, sich unzureichende Erklärungen für die Existenz der Welt auszudenken, und fremde Welten zu ersinnen. Er hatte manchmal das vage Gefühl, daß es noch etwas anderes gab, ein Dasein, das sich von seinem jetzigen unterschied, aber das waren nur Tagträume und Spinnereien, die zu keinem Ergebnis führten. Irgendwann stießen seine Gedanken stets an eine Mauer, die er nicht zu durchdringen vermochte, wenn er versuchte, das Wesen der Unendlichkeit zu erfassen. Der Geist des Menschen war eben nicht dazu geeignet, den Sinn der Schöpfung zu begreifen.

Das Geräusch leiser Schritte drang in seine Gedanken. Torian sah überrascht auf — und auch ein wenig verärgert, denn er schätzte es gar nicht, wenn er hier oben gestört wurde — und blinzelte gegen das helle Rot des Sonnenaufganges. Aber sein Ärger wurde zur Freude, als er erkannte, wer es war, der den gewundenen Weg von der Stadt heraufkam: niemand anderes als Ayla, in deren Begleitung sich zwei vielleicht zehnjährige Kinder befanden: Relay und Bell, sein eigener Sohn und Shyleens und Garth’ Tochter.

Er stand auf, ging den dreien entgegen und küßte Ayla flüchtig, ehe er die beiden Kinder auf die Arme nahm und ihre stürmische Begrüßung genoß. Ayla ließ die beiden eine Weile gewähren, ehe sie sie mit sanfter Gewalt von ihm löste und den Jungen mit einem Klaps auf den Rücken davonscheuchte.

»Manchmal sind die beiden eine Plage«, bemerkte sie. Aber sie lächelte dabei, und Torian spürte, wie wenig ernst sie diese Worte meinte.

»Aber sie geben einmal ein hübsches Paar ab«, sagte er.

»So hübsch wie wir?« wollte Ayla wissen.

»Mindestens« erwiderte Torian. »Irgendwann.« Er legte Ayla den Arm um die Schulter, drehte sich wieder herum und führte sie zu der Stelle zurück, an der er gesessen hatte, ehe sie gekommen war. Eine Weile standen sie einfach schweigend da und sahen dem Weichen der Nacht zu, dann fragte Ayla:

»Wirst du gehen?«

»Gehen?« Torian runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Ayla zog eine Schnute. »Behandle mich nicht wie ein dummes Kind«, hat sie. »Ich habe gehört, was Garth und du besprochen haben.«

»Die Kundschafter.« Torian nickte und sah wieder nach Westen. Auch am anderen Ende des Tales wurde es jetzt Tag. Er sprach nicht weiter.

»Sie haben endlich den Weg über die Berge gefunden«, sagte Ayla schließlich. Sie seufzte. »Ihr wollt ein Heer aufstellen.«

»Vielleicht«, gab Torian zu. »Vielleicht irgendwann einmal. Zuerst einmal werden ein paar Männer reichen, welche die Welt dort draußen erkunden.«

»Und du wirst einer dieser Männer sein, vermute ich.«

»Und wenn es so wäre?«

Ayla schwieg lange. In ihrer Stimme war eine leise Spur von Trauer, als sie endlich fortfuhr. »Ich... wäre nicht sehr glücklich. Aber ich würde dich gehen lassen.«

»Ich würde zurückkommen«, versprach Torian. »Aber ich muß wissen, wie es dort aussieht – auf der anderen Seite der Berge.«

»Und warum?«

Diesmal war es Torian, der nicht sofort antwortete; ganz einfach, weil er die Antwort nicht wußte. »Vielleicht, weil es meine Natur ist«, erklärte er schließlich. »Ich bin lange genug Gott gewesen.« Er machte eine Geste mit der freien Hand, die das gesamte Tal einschloß. »Es gibt hier nicht mehr sehr viel für mich zu tun, weißt du?«

Ayla nickte. »Ich weiß es schon lange. Du hast... viel geschaffen. Aus unserem Dorf ist eine mächtige Festung geworden, und wir haben endlich Frieden gefunden.« Sie lächelte. »Erträgst du es nicht?«

»Frieden?« Torian nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Doch. Aber ich ertrage es nicht, untätig zu sein.« Er deutete nach Westen. »Es gibt neue Aufgaben dort. Und neue Herausforderungen.«

Er spürte, wie Ayla traurig zu werden begann, und drückte sie fester an sich. »Irgendwann einmal«, sagte er. »Es ist meine Natur, Ayla. Nur so kann ich glücklich werden.«

»Und das sollst du auch», räumte Ayla ein. Plötzlich lächelte sie wieder. »Aber noch ist es nicht so weit.«

»Ja«, bestätigte Torian. Er küßte Ayla, sanft und zärtlich, aber sehr lange, und für einen ganz kurzen Moment spürte er wieder dieses Gefühl von Geborgenheit und Wärme, das sie ihm vom allerersten Moment an vermittelt hatte und das nicht weniger geworden war, in all den Jahrhunderten, die seither vergangen waren. Er lächelte, als er sich von Ayla löste und sie ansah, und er lächelte erneut, als er an die unbekannte Welt dachte, die hinter den Bergen im Westen lag und nur darauf wartete, von Garth und ihm erobert und von Shyleen beherrscht zu werden.

Irgendwann einmal. Was zählten schon ein paar Jahre oder auch Jahrhunderte? Er hatte viel Zeit.

Alle Zeit der Welt.

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