19

In ihrem Geist Raistlins ruhige Stimme vernehmend, die sie unwiderstehlich anzog, lief Crysania, ohne zu zögern, in das Zimmer, das tief unter dem Tempel lag. Sie sah sich um.

Gegenüber dem Einsturz des Tempels war sie blind gewesen. Selbst jetzt, als sie das Blut an ihrem Kleid sah, konnte sie sich nicht erinnern, wie es dorthin gekommen war. Aber hier in dem Laboratorium traten die Dinge mit lebhafter Klarheit hervor, auch wenn es nur von dem Licht des Kristalls am magischen Stab beleuchtet wurde.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch und spürte eine Berührung an ihrem Arm. Beunruhigt herumwirbelnd, sah sie dunkle, formlose Kreaturen, die in Käfigen gefangengehalten waren. Crysanias warmes Blut riechend, bewegten sie sich im Licht des Stabes, und es war die Berührung einer dieser greifenden Hände gewesen, die Crysania gespürt hatte. Schaudernd wich sie zurück und stieß gegen etwas Festes.

Es war ein offener Korb, in dem ein Körper lag, der einst einem jungen Mann gehört haben konnte. Aber die Haut spannte sich wie Pergament über seine Knochen, sein Mund war in einem stummen Schrei geöffnet. Der Boden unter ihren Füßen gab nach, und der Körper im Korb sprang wild auf und starrte sie aus leeren Augenhöhlen an.

Crysania wollte schreien, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle, ihr Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Doch dann hörte sie eine sanfte Stimme.

»Komm, meine Liebe«, sagte die Stimme, die sie auch in ihrem Geist gehört hatte. »Komm. Du bist jetzt in Sicherheit. Die Kreaturen von Fistandantilus können dir nichts antun, solange ich bei dir bin.«

Crysania spürte das Leben in ihren Körper zurückkehren. Raistlins Stimme brachte Trost. Der Boden hörte zu beben auf, der Staub legte sich.

Dankbar öffnete Crysania die Augen. Raistlin stand in einiger Entfernung von ihr, musterte sie aus dem Schatten seiner Kapuze, und seine Augen funkelten im Licht seines Stabes. Aber während Crysania ihn ansah, erhaschte sie einen Blick auf die sich krümmenden eingesperrten Kreaturen. Schaudernd hielt sie den Blick auf Raistlins blasses Gesicht gerichtet. »Fistandantilus?« fragte sie mit trockenen Lippen. »Er hat das hier eingerichtet?«

»Ja, dies ist sein Laboratorium«, erwiderte Raistlin kühl. »Er hat es vor vielen Jahren eingerichtet. Es war allen Klerikern unbekannt. Mit seiner mächtigen Magie grub er wie ein Wurm unter dem Tempel, verwandelte festen Stein in Treppen und geheime Türen und schützte sie mit Zaubersprüchen, so daß nur wenige von ihrer Existenz wußten.«

Crysania sah ein höhnisches Lächeln über Raistlins Gesicht gleiten, als er sich dem Licht zuwandte.

»Im Laufe der Jahre hat er es nur wenigen gezeigt. Nur einer Handvoll Lehrlingen wurde es überhaupt gestattet, sein Geheimnis zu teilen.« Raistlin zuckte die Schultern. »Und keiner von ihnen überlebte, um etwas auszuplaudern. Er zeigte es einem jungen Lehrling, einem zerbrechlichen, scharfzüngigen jungen Mann, der jede Drehung und Wendung der verborgenen Korridore beobachtete und auswendig lernte, der jedes Zauberwort, mit dem die Geheimtüren zu öffnen sind, studierte, sie immer wieder aufsagte, sie vor dem Einschlafen, Nacht für Nacht, wiederholte. Und folglich stehen wir hier, du und ich – für den Augenblick sicher vor dem Zorn der Götter.«

Mit einer Handbewegung forderte er Crysania auf, in den hinteren Teil des Zimmers zu treten, wo er neben einen großen, mit Schnitzereien verzierten Holzschreibtisch trat. Dort lag ein in Silber gebundenes Zauberbuch, in dem er gelesen hatte. Silberner Puder war kreisförmig um den Schreibtisch verstreut. »Du hast recht. Halte die Augen ruhig auf mich gerichtet. Die Dunkelheit ist dann nicht mehr so beängstigend, nicht wahr?«

Crysania konnte nicht antworten. Sie stellte fest, daß sie ihm wieder einmal ihre Schwäche gezeigt hatte. Sie errötete und sah schnell weg. »I...ich war nur erschreckt, das ist alles«, sagte sie. Aber sie konnte nicht den Schauder unterdrücken, als sie wieder auf den Korb blickte. »Was ist oder was war das?« flüsterte sie entsetzt.

»Einer von Fistandantilus’ Lehrlingen«, antwortete Raistlin. »Der Magier saugte die Lebenskraft aus ihm, um sein eigenes Leben zu verlängern. So etwas hat er häufig getan.«

Raistlin hustete. Sein Blick verdunkelte sich angesichts einer entsetzlichen Erinnerung, und Crysania sah, wie sein gewöhnlich leidenschaftsloses Gesicht vor Angst zuckte. Aber bevor sie weitere Fragen stellen konnte, ging die Tür. Der schwarzgekleidete Magier gewann schnell die Fassung wieder. Sein Blick ging an Crysania vorbei. »Ah, tritt ein, mein Bruder. Ich habe gerade an die Prüfungen gedacht, und dann denke ich natürlich auch an dich.«

Caramon! Erleichtert wandte sich Crysania um und wollte den großen Mann, dessen freundliches Gesicht sie tröstete, begrüßen. Aber die Grußworte erstarben ihr auf den Lippen. Sie wurden von der Dunkelheit verschluckt, die mit dem Eintreten des Kriegers noch dichter zu werden schien.

»Da wir gerade bei Prüfungen sind, bin ich erfreut, daß du deine überlebt hast, Bruder«, sagte Raistlin, und sein höhnisches Lächeln kehrte zurück. »Diese Dame« – er wies auf Crysania – »wird einen Leibwächter nötig haben dort, wohin wir reisen. Ich kann dir gar nicht sagen, wieviel es mir bedeutet, eine Person dabei zu haben, die ich kenne und der ich vertrauen kann.«

Crysania sah Caramon zusammenzucken, als ob Raistlins Worte winzige Giftpfeile wären, die in sein Fleisch schossen. Der Magier schien es jedoch nicht zu bemerken, oder es kümmerte ihn nicht. Er las wieder in seinem Zauberbuch, murmelte Worte und zeichnete mit seinen Händen Symbole in die Luft.

»Ja, ich habe deine Prüfung überlebt«, erwiderte Caramon ruhig. Er ging in den Raum und trat in das Licht des Stabes.

Crysania hielt vor Angst den Atem an. »Raistlin!« schrie sie dann, als der große Mann sich mit dem blutigen Schwert in der Hand näherte. »Raistlin, paß auf!« Sie stolperte gegen den Schreibtisch dicht an der Stelle, wo der Magier stand, und trat unwissend in den silbernen Kreis. Silberstaub hing am Saum ihrer Robe und schimmerte im Licht des Stabes.

Über die Unterbrechung verärgert, sah der Magier auf.

»Ich habe deine Prüfung überlebt«, wiederholte Caramon, »so wie du die Prüfung im Turm überlebt hast. Dort hat man deinen Körper zerstört. Hier hast du mein Herz zerstört. An seiner Stelle ist nichts mehr, nur eine kalte Leere, so schwarz wie deine Roben. Und wie diese Schwertklinge ist sie mit Blut befleckt. Ein erbärmlicher Minotaurus ist an dieser Klinge gestorben. Ein Freund gab sein Leben für mich, ein anderer starb in meinen Armen. Du hast den Kender in den Tod geschickt, nicht wahr? Und wieviel sind noch gestorben, nur um deine verruchten Pläne zu fördern?« Caramons Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Damit ist es jetzt zu Ende, mein Bruder. Niemand mehr wird deinetwegen sterben. Außer einem – und das bin ich. Das paßt dir doch, Raist? Wir sind zusammen auf die Welt gekommen, und zusammen werden wir sie verlassen.«

Er trat einen weiteren Schritt vor. Raistlin schien etwas sagen zu wollen, aber Caramon unterbrach ihn. »Du kannst mich mit deiner Magie nicht aufhalten, nicht jetzt. Ich weiß über diesen Zauber Bescheid. Ich weiß, daß er deine ganze Kraft, deine ganze Konzentration in Anspruch nehmen wird. Wenn du nur einen Bruchteil deiner Magie gegen mich anwendest, wirst du keine Kraft mehr haben, diesen Ort zu verlassen, und mein Ziel wird erreicht sein. Wenn du nicht durch meine Hände stirbst, dann durch die Hände der Götter.«

Raistlin sah seinen Bruder schweigend an, dann zuckte er die Schultern und wandte sich ab, um weiter in seinem Buch zu lesen. Erst als Caramon noch einen Schritt machte und seine goldene Rüstung klirrte, seufzte der Magier auf und warf seinem Zwillingsbruder einen finsteren Blick zu. Seine Augen, die aus seiner Kapuze hervorglitzerten, schienen die einzigen Lichtpunkte im Zimmer zu sein. »Du irrst dich, mein Bruder«, sagte er sanft. »Es wird noch jemand sterben.« Sein Blick glitt zu Crysania hin. Ihre weißen Roben schimmerten in der Dunkelheit zwischen den beiden Brüdern.

Caramons Augen wurden weich vor Mitleid, als auch er zu Crysania hinsah, aber er blieb entschlossen. »Die Götter werden sie zu sich nehmen«, sagte er leise. »Sie ist eine wahre Klerikerin. Kein wahrer Kleriker ist bei der Umwälzung gestorben. Darum hat sie Par-Salian hierher in die Vergangenheit geschickt.« Er streckte seine Hand aus. »Schau, dort steht jemand und wartet.«

Crysania brauchte sich nicht umzudrehen, sie spürte Loralons Gegenwart.

»Geh zu ihm, Verehrte Tochter«, sagte Caramon zu ihr. »Dein Platz ist im Licht, nicht in der Dunkelheit.«

Raistlin sagte nichts und rührte sich nicht. Er stand ruhig am Schreibtisch; seine schlanke Hand lag auf dem Zauberbuch.

Crysania bewegte sich nicht. Sie hörte die Worte, aber sie hatten keine Bedeutung für sie. Sie konnte nur sich selbst sehen, wie sie in der Hand das glänzende Licht trug und das Volk anführte. Der Schlüssel... Das Portal... Sie sah Raistlin den Schlüssel in der Hand halten, er winkte sie zu sich. Wieder spürte sie die Berührung von Raistlins Lippen, die auf ihrer Stirn brannten.

Ein Licht flackerte auf und erstarb. Loralon war verschwunden.

»Ich kann nicht«, versuchte Crysania zu sagen, aber sie brachte keinen Ton hervor. Es war auch nicht notwendig.

Caramon begriff. Er sah sie lang an, dann seufzte er. »Dann soll es so sein«, sagte er kühl, als auch er in den silbernen Kreis trat. »Noch ein Tod wird uns nicht weiter stören, nicht wahr, mein Bruder?«

Crysania starrte fasziniert auf das blutbeschmierte Schwert, das im Licht des Stabes glänzte. Lebhaft stellte sie sich vor, wie es sich durch ihren Körper bohrte, und als sie in Caramons Augen sah, erkannte sie, daß er sich das Gleiche vorgestellt hatte und daß es ihn nicht abschreckte. Sie war nichts für ihn, bloß ein Hindernis, das ihn von seinem eigentlichen Ziel abhielt, seinem Bruder.

Welch entsetzlicher Haß, dachte Crysania, und als sie tief in Caramons Augen sah, die den ihren jetzt so nah waren, hatte sie eine plötzliche Einsicht – welch entsetzliche Liebe!

Caramon sprang mit ausgestreckter Hand auf sie zu, wollte sie ergreifen und zur Seite schleudern. In ihrer Panik wich Crysania seinem Griff aus und stolperte nach hinten gegen Raistlin. Caramons Hand erfaßte einen Ärmel ihrer Robe und riß ihn entzwei. In seiner Wut warf er den weißen Stoff auf den Boden, und jetzt wußte Crysania, daß sie sterben würde. Immer noch stand sie zwischen ihm und seinem Bruder.

Caramons Schwert blitzte auf.

In ihrer Verzweiflung umklammerte Crysania das Medaillon von Paladin, das um ihren Hals hing. »Halt!« schrie sie und schloß vor Angst die Augen. Ihr Körper zuckte zusammen, wartete auf den schrecklichen Schmerz, wenn der Stahl sich durch ihr Fleisch schneiden würde. Dann hörte sie ein Stöhnen und das Klirren eines Schwertes, das zu Boden fiel. Erleichterung strömte durch ihren Körper, ließ sie kraftlos werden.

Aber schlanke Hände fingen sie auf und hielten sie fest, Arme umschlossen sie, eine sanfte Stimme sagte triumphierend ihren Namen. Crysania war in warme Schwärze eingehüllt, ertrank in warmer Schwärze. Und in ihrem Ohr hörte sie ein Flüstern in der seltsamen Sprache der Magie.

Wie liebkosende Hände krochen Raistlins Worte über ihren Körper. Silbernes Licht flackerte auf, verschwand wieder. Der Griff von Raistlins Armen um Crysania wurde in Ekstase fester, und sie wirbelte umher, gefangen in dieser Ekstase, wirbelte mit ihm fort in die Schwärze.

Sie legte die Arme um ihn, schmiegte den Kopf an seine Brust und ließ sich in die Dunkelheit sinken. Als sie fiel, vermischten sich die Worte der Magie mit dem Gesang ihres Blutes und dem Gesang der Steine im Tempel...

Aber durch all dies drang ein unharmonischer Ton – ein rauhes, herzzerreißendes Stöhnen.

Tolpan Barfuß hörte die Steine singen, und er lächelte verträumt. Plötzlich erwachte er. Er lag auf einem kalten Steinboden, der mit Staub und Schutt bedeckt war. Der Boden unter ihm begann wieder zu beben. Tolpan wußte aufgrund des seltsamen Gefühls der Angst, das sich in seinem Inneren erhob, daß die Götter es dieses Mal ernst meinten. Dieses Mal würde das Erdbeben nicht aufhören. »Crysania! Caramon!« schrie er, aber er hörte nur das Echo seiner schrillen Stimme, die hohl gegen die zitternden Wände prallte.

Sich aufrappelnd, den Schmerz in seinem Kopf unterdrückend, sah Tolpan die Fackel immer noch über der dunklen Türöffnung leuchten, durch die Crysania getreten war; sie war der scheinbar einzige Teil des ganzen Gebäudes, der von dem krampfhaften Sichheben des Bodens unberührt geblieben war. Tolpan ging hinein und erkannte Zauberutensilien wieder. Er suchte nach Lebenszeichen, aber alles, was er sah, waren die entsetzlichen eingesperrten Kreaturen, die sich gegen ihre Zellentüren warfen, die wußten, daß das Ende ihrer qualvollen Existenz nahte, und dennoch nicht gewillt waren, das Leben aufzugeben, auch wenn es noch so schmerzhaft war.

Tolpan starrte verstört um sich. Wo waren alle hingegangen? »Caramon?« fragte er mit leiser Stimme. Aber es kam keine Antwort, nur ein entferntes Rumoren, als das Beben des Bodens schlimmer wurde. Dann erhaschte Tolpan im düsteren Schein der Fackel einen Blick auf etwas Metallisches, das auf dem Boden neben dem Schreibtisch glänzte. Er stolperte durch das Zimmer.

Seine Hand schloß sich um den goldenen Knauf des Schwertes eines Gladiators. Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und starrte auf die silberne, mit schwarzem Blut befleckte Klinge. Dann hob er noch etwas auf, das neben dem Schwert auf dem Boden lag, einen Fetzen weißen Stoffes. Er sah goldene Stickereien, das Symbol Paladins darstellend, im Fackellicht undeutlich glänzen. Auf dem Boden war mit Puder ein Kreis gezeichnet, Puder, der einst silbern gewesen sein konnte, aber jetzt schwarzverbrannt war.

»Sie sind gegangen«, sagte Tolpan leise zu den gefangenen Kreaturen. »Sie sind gegangen... Ich bin allein.«

Ein plötzliches Schaukeln des Bodens ließ den Kender zu Boden stürzen. Ein Krachen ertönte, so laut, daß er fast taub wurde. Als er zur Decke blickte, riß sie weit auf. Der Stein zersprang. Die Grundmauern des Tempels teilten sich. Und dann stürzte der ganze Tempel zusammen. Die Mauern flogen auseinander. Der Boden brach auf.

Unfähig, sich zu bewegen, beschützt von einem mächtigen Zauber, stand Tolpan im Laboratorium von Fistandantilus und sah zum Himmel empor.

Und er sah, wie vom Himmel Feuer regnete.

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