6

Der Oger führte Caramon und Tolpan in einen großen Raum. Caramon hatte den fiebrigen Eindruck, daß er mit Leuten gefüllt war.

»Er neuer Mann«, grunzte Raag und stieß einen gelben, schmutzigen Finger in Caramons Richtung, als der große Mann neben ihm stand. Das war Caramons Einführung in die »Schule«. Er errötete, sich des Eisenbandes um seinen Hals unangenehm bewußt, das ihn als das Eigentum eines anderen brandmarkte, und hielt die Augen auf den strohbedeckten Holzboden gerichtet. Als er nur ein Murmeln auf Raags Vorstellung hörte, sah er auf. Jetzt erkannte er, daß er sich in einem Speisesaal befand. Zwanzig oder dreißig Männer der verschiedensten Rassen und Nationalitäten saßen in kleinen Gruppen zusammen und aßen zu Abend.

Einige Männer sahen Caramon interessiert an, doch die meisten beachteten ihn überhaupt nicht. Einige wenige nickten, die Mehrheit aß weiter. Caramon war sich nicht sicher, was er tun sollte, aber Raag löste das Problem. Er legte eine Hand auf Caramons Schulter und schob ihn grob zu einem Tisch. Caramon stolperte und stürzte fast, schaffte es jedoch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, bevor er gegen den Tisch knallte. Er wirbelte herum und funkelte den Oger wütend an. Raag stand da und grinste ihn an, seine Hände zuckten.

Ich werde provoziert, erkannte Caramon, der diesen Blick schon viele Male in Kneipen gesehen hatte, wo immer jemand versuchte, den großen Mann zu einem Kampf anzustacheln. Und diesen Kampf würde er nicht gewinnen können. Obwohl Caramon fast zwei Meter groß war, erreichte er nicht einmal die Schulter des Ogers, und Raags Riesenhand konnte sich zweimal um Caramons dicken Hals legen. Caramon schluckte, rieb sein verletztes Bein und setzte sich auf die lange Holzbank.

Mit einem Schulterzucken und einem Gemurmel der Enttäuschung wandten sich die Männer wieder ihrem Essen zu. Von einem Tisch in einer Ecke, an dem eine Gruppe Minotaurier saß, kam Gelächter. Raag grinste sie an und verließ den Raum.

Caramon, der vor Unsicherheit errötete, duckte sich auf der Bank und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Jemand saß ihm gegenüber, aber der große Krieger brachte es nicht über sich, dem Blick des Mannes zu begegnen.

Tolpan hatte jedoch keine derartigen Hemmungen. Er kletterte neben Caramon auf die Bank und musterte ihren Nachbarn mit Interesse. »Ich bin Tolpan Barfuß«, sagte er und streckte seine kleine Hand dem großen schwarzhäutigen Mann entgegen, der ebenfalls ein Eisenband trug und ihnen gegenübersaß. »Ich bin auch neu«, fügte er hinzu.

Der schwarze Mann sah von seinem Essen auf, blickte Tolpan an, übersah dessen Hand und wandte seinen Blick dann Caramon zu. »Ihr beide seid Partner?«

»Ja«, antwortete Caramon. Plötzlich wurde er sich des Essensgeruchs bewußt und schnupperte hungrig; das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er sah auf den Teller des Mannes, der mit Rehfleisch, Kartoffeln und Brotscheiben beladen war, und seufzte. »Sieht jedenfalls so aus, als ob sie uns gut ernähren.«

Caramon bemerkte, wie der schwarzhäutige Mann auf seinen dicken Bauch sah und dann amüsierte Blicke mit einer hochgewachsenen, außergewöhnlich schönen Frau austauschte, die neben ihm saß und deren Teller gleichfalls vollbeladen war.

Als Caramon sie anblickte, weiteten sich seine Augen. Unbeholfen versuchte er, sich zu erheben und zu verbeugen. »Euer Diener, meine Dame...«, begann er.

»Setz dich, du Hornochse!« keifte die Frau wütend. »Du bringst sie alle zum Lachen!«

In der Tat kicherten mehrere Männer. Die Frau drehte sich um und funkelte sie an, ihre Hand schoß zu einem Dolch, den sie in ihrem Gürtel trug. Beim Anblick ihrer aufblitzenden grünen Augen schluckten die Männer ihr Lachen hinunter und kümmerten sich wieder um ihr Essen. Die Frau überzeugte sich erst, daß alle eingeschüchtert waren, dann wandte auch sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mahl zu und stieß ihre Gabel in das Fleisch.

»Es... es tut mir leid«, stammelte Caramon. Sein breites Gesicht lief rot an. »Ich wollte nicht...«

»Vergiß es«, sagte die Frau mit heiserer Stimme. Ihr Akzent war seltsam. Caramon konnte ihn nicht einordnen. Sie schien ein Mensch zu sein, aber ihre Aussprache war seltsam, und ihr Haar wies eine höchst sonderbare Farbe auf – es war ein mattes Bleigrün. Es war dick und glatt, und sie trug es in einem langen Zopf, der auf ihren Rücken fiel. »Ich weiß, du bist neu hier. Du wirst mich nicht anders als die anderen behandeln. Weder innerhalb noch außerhalb der Arena. Kapiert?«

»Die Arena?« fragte Caramon verständnislos. »Du – du bist ein Gladiator?«

»Und zwar einer der besten«, ergänzte der schwarzhäutige Mann, der ihnen gegenübersaß, mit einem Grinsen. »Ich bin Pheragas aus dem nördlichen Ergod, und das ist Kiiri, die Sirene...«

»Eine Sirene! Aus dem Meer?« fragte Tolpan. »Eine von diesen Frauen, die ihre Gestalt verändern können und...«

Die Frau warf dem Kender einen so zornigen Blick zu, daß Tolpan blinzelte und in Schweigen verfiel. Dann ging ihr Blick zu Caramon. »Findest du das komisch, Sklave?« fragte Kiiri; ihre Augen waren auf Caramons neues Halsband gerichtet.

Caramon legte seine Hand darüber und errötete wieder. Kiiri lachte kurz und bitter auf, aber Pheragas musterte ihn mit Mitleid. »Du wirst dich im Lauf der Zeit daran gewöhnen«, sagte er mit einem Schulterzucken.

»Ich werde mich niemals daran gewöhnen!« widersprach Caramon und ballte seine große Hand zusammen.

Kiiri blickte ihn schnell an. »Du wirst es, oder dein Herz wird brechen, und du wirst sterben«, sagte sie kühl. Sie war so schön, und ihr Verhalten war so stolz, daß ihr Eisenband eine Kette aus feinstem Gold hätte sein können, dachte Caramon. Er wollte gerade etwas erwidern, als er von einem dicken Mann mit einer weißen, fettigen Schürze unterbrochen wurde, der einen Teller mit Essen vor Tolpan warf.

»Danke schön«, sagte der Kender höflich.

»Gewöhn dich ja nicht an diese Gefälligkeit«, fauchte der Koch. »Danach holst du dir deinen Teller selbst, so wie jeder andere auch. Hier« – er schleuderte eine Holzscheibe vor den Kender —, »das ist deine Speisenrechnung. Zeig das vor, oder du ißt nicht. Und hier ist deine«, fügte er hinzu und warf eine vor Caramon.

»Wo ist mein Essen?« fragte Caramon und steckte die Holzscheibe ein.

Der Koch knallte eine Schüssel vor den großen Mann und drehte sich um.

»Was ist das?« knurrte Caramon und starrte auf die Schüssel.

Tolpan lehnte sich hinüber. »Hühnerbrühe«, sagte er hilfsbereit.

»Ich weiß, was das ist«, sagte Caramon mit tiefer Stimme. »Ich meine, das ist ein Witz. Aber ich finde das nicht witzig«, fügte er hinzu und sah finster zu Pheragas und Kiiri, die ihn angrinsten. Caramon ergriff den Koch und zog ihn zurück. »Nimm dieses Spülwasser mit und bring mir etwas zu essen!«

Mit überraschender Schnelligkeit riß sich der Koch von Caramons Griff los, drehte den Arm des großen Mannes nach hinten und stieß sein Gesicht in die Suppenschüssel. »Iß und genieß es«, fauchte er und zog Caramons triefenden Kopf an den Haaren aus der Suppe. »Weil es das einzige ist, was du ungefähr einen Monat zu sehen bekommst.«

Tolpan unterbrach sein Mahl. Er bemerkte, daß alle Anwesenden ebenfalls mit dem Essen aufgehört hatten, sicher, daß diesmal ein Kampf stattfinden würde.

Caramons Gesicht, an dem die Suppe herabtropfte, war leichenblaß. Auf den Wangen erschienen rote Flecken, und seine Augen funkelten gefährlich.

Der Koch beobachtete ihn selbstgefällig.

Caramon ballte die Hände; die Knöchel liefen weiß an. Eine der großen Hände hob sich, und langsam begann Caramon die Suppe aus seinem Gesicht zu wischen.

Mit einem verächtlichen Schnaufen wandte sich der Koch ab und stolzierte von dannen.

Tolpan seufzte. Das war jedenfalls nicht der alte Caramon, dachte er traurig und erinnerte sich an den Mann, der zwei Drakonier getötet hatte, indem er mit bloßen Händen ihre Köpfe zusammengestoßen hatte, an den Caramon, der einst fünfzehn Raufbolde mit den verschiedensten Verletzungen zurückgelassen hatte, als sie versuchten, den großen Mann auszurauben. Tolpan schluckte die scharfen Worte hinunter, die auf seiner Zunge lagen, und wandte sich wieder dem Essen zu.

Caramon aß langsam, löffelte die Suppe und schluckte sie hinunter, ohne daß er sie zu schmecken schien. Tolpan sah, wie die Frau und der schwarzhäutige Mann wieder Blicke tauschten, und kurz befürchtete er, daß sie über Caramon lachen würden. Kiiri wollte tatsächlich etwas sagen, aber als sie zum vorderen Teil des Raumes blickte, schloß sie den Mund und aß weiter. Tolpan sah Raag wieder den Speisesaal betreten, zwei stämmige Menschen trotteten hinter ihm her.

Sie gingen durch den Raum und blieben hinter Caramon stehen. Raag stieß den großen Krieger an.

Caramon sah sich langsam um. »Was ist los?« fragte er mit einer abgestumpften Stimme, die Tolpan nicht wiedererkannte.

»Du kommst jetzt mit«, sagte Raag.

»Ich esse gerade«, begann Caramon, aber die zwei Menschen ergriffen den großen Mann an den Armen und zogen ihn von der Bank, bevor er seinen Satz beenden konnte. Dann bemerkte Tolpan einen Funken von Caramons altem Kampfgeist. Sein Gesicht lief zu einem dunklen Rot an, und er richtete einen unbeholfenen Schlag gegen einen der Kerle. Aber der Mann, der ihn höhnisch angrinste, wich ihm mühelos aus. Sein Partner trat Caramon heftig in den Bauch. Caramon brach stöhnend zusammen. Die zwei Menschen zogen ihn auf die Füße hoch. Mit hängendem Kopf ließ sich Caramon wegführen.

»Warte! Wo...« Tolpan erhob sich, spürte aber eine starke Hand sich über der seinen schließen.

Kiiri schüttelte warnend den Kopf, und Tolpan setzte sich wieder. »Was werden sie mit ihm anstellen?« fragte er.

Die Frau zuckte die Schultern. »Beende dein Mahl«, sagte sie mit strenger Stimme.

Tolpan legte seine Gabel hin. »Ich bin eigentlich nicht sehr hungrig«, murmelte er verzagt.

Der ihm gegenübersitzende schwarzhäutige Mann lächelte den Kender an. »Komm schon«, sagte er, erhob sich und streckte Tolpan freundlich seine Hand entgegen. »Ich zeige dir dein Zimmer. Wir machen das alle am ersten Tag durch. Mit deinem Freund wird alles in Ordnung sein – im Lauf der Zeit.«

»Im Lauf der Zeit«, höhnte Kiiri und schob ihren Teller beiseite.

Tolpan lag allein in dem Zimmer, das er angeblich mit Caramon teilen sollte. Es war sehr karg und sah mehr wie eine Gefängniszelle als wie ein Zimmer aus.

Aber Kiiri hatte ihm erklärt, daß alle Gladiatoren in solchen Zimmern untergebracht seien. »Sie sind sauber und warm«, sagte sie. »Außerdem würden wir verweichlichen, wenn wir im Luxus schwelgen dürften.«

Nun, da bestand sicherlich keine Gefahr, soweit der Kender es beurteilen konnte, als er die nackten Steinwände, den strohbedeckten Boden, einen Tisch mit einem Wasserkrug und einer Schüssel und zwei kleine Kommoden, in denen sie wohl ihre Besitztümer aufbewahren sollten, betrachtete. Ein einziges Fenster hoch oben in der Decke ließ einen Sonnenstrahl herein. Tolpan lag auf dem harten Bett und sah die Sonne durch das Zimmer wandern. Der Kender wäre gern auf Erkundung gegangen, hatte aber das Gefühl, daß er nicht viel Freude daran hätte, solange er nicht wußte, was sie mit Caramon angestellt hatten.

Der Sonnenstrahl auf dem Boden wurde länger und länger. Eine Tür öffnete sich, und Tolpan sprang aufgeregt auf, aber es war nur ein anderer Sklave, der einen Sack auf den Boden warf und dann wieder die Tür verschloß. Tolpan untersuchte den Sack, und sein Herz sank. Es waren Caramons Sachen! Tolpan untersuchte sie eingehend und ängstlich, forschte nach Blutflecken. Nichts. Sie schienen unversehrt zu sein... seine Hand schloß sich um etwas Hartes in einer Geheimtasche.

Schnell zog Tolpan es hervor. Er hielt den Atem an. Das magische Gerät von Par-Salian! Wie haben sie es nur übersehen können? fragte er sich, als er bewundernd den mit Juwelen besetzten Anhänger in seiner Hand betrachtete. Zweifellos verfügte es über die Kraft, nicht entdeckt zu werden, wenn es nicht entdeckt werden wollte.

Tolpan seufzte vor Zufriedenheit, als er es hielt und das Sonnenlicht auf den Juwelen funkeln sah. Das war der schönste, phantastischste Gegenstand, den er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Er wollte ihn behalten. Ohne zu denken, erhob sich sein kleiner Körper und steuerte auf seine Beutel zu.

»Tolpan Barfuß«, sagte eine Stimme, die unbehaglicherweise wie die Flints klang, »dies ist eine ernste Angelegenheit, in die du dich einmischest. Dies ist der Weg zurück. Par-Salian selbst, der große Par-Salian, überreichte es Caramon in einer Zeremonie. Es gehört Caramon. Es ist sein, du hast keinen Anspruch darauf!«

Tolpan erbebte. Mit Sicherheit hatte er in seinem ganzen Leben noch nie solche Gedanken gehegt. Zweifelnd betrachtete er das Gerät. Vielleicht legte es diese ungemütlichen Gedanken in seinen Kopf! Eilig trug er das Gerät zurück und legte es in Caramons Kommode. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme verschloß er die Kommode und stopfte den Schlüssel in Caramons Kleidung. Sich noch elender fühlend, legte er sich wieder auf sein Bett.

Das Sonnenlicht war gerade verschwunden, und der Kender wurde immer nervöser, als er von draußen ein Geräusch hörte. Die Tür wurde heftig aufgestoßen.

»Caramon!« schrie Tolpan entsetzt und sprang auf.

Die zwei stämmigen Menschen schleiften den großen Mann über die Türschwelle und warfen ihn auf das Bett. Dann zogen sie grinsend ab und schlugen die Tür hinter sich zu. Von dem Bett kam ein leises Stöhnen.

»Caramon!« murmelte Tolpan. Eilig ergriff er den Wasserkrug, schüttete Wasser in die Schüssel und trug sie zum Bett des großen Kriegers. »Was haben sie getan?« fragte er leise und befeuchtete die Lippen des Mannes mit Wasser.

Caramon stöhnte wieder und schüttelte schwach den Kopf. Tolpan warf schnell einen Blick auf den Körper des großen Mannes. Er wies keine sichtbaren Verletzungen auf, kein Blut, keine Schwellung, keine Striemen oder Anzeichen von Peitschenhieben. Dennoch war er gefoltert worden, das war offensichtlich. Der große Mann litt unerträgliche Schmerzen. Sein Körper war mit Schweiß bedeckt. Ständig zuckten verschiedene Muskeln, und ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr seinen Lippen.

»War... war es die Streckfolter?« fragte Tolpan. »Das Rad vielleicht? Daumenschrauben?« Keines dieser Folterwerkzeuge hinterließ Spuren am Körper, zumindest hatte er das gehört.

Caramon murmelte ein Wort.

»Was?« Tolpan beugte sich zu ihm, befeuchtete sein Gesicht mit Wasser. »Was hast du gesagt? Gym... gym... und was? Ich habe es nicht verstanden.« Seine Augenbrauen furchten sich. »Ich habe niemals von einer Folter gehört, die Gym... heißt«, murmelte er. »Ich frage mich, was das sein könnte.«

Caramon wiederholte es, stöhnte wieder.

»Gym... gym... gymnastik!« rief Tolpan triumphierend. Dann ließ er den Wasserkrug auf den Boden fallen. »Gymnastik? Das ist aber keine Folter!«

Caramon stöhnte wieder.

»Das sind Turnübungen!« kreischte Tolpan. »Meinst du etwa, daß ich hier warte, vor Sorgen krank bin, mir alle möglichen entsetzlichen Dinge ausmale, und du treibst nur Gymnastik?«

Caramon hatte gerade noch die Kraft, sich aufzurichten. Er streckte seine große Hand aus, ergriff Tolpan am Kragen seines Hemdes und zog ihn zu sich. »Ich wurde einmal von Goblins gefangengenommen«, sagte er in heiserem Flüsterton, »und sie fesselten mich an einen Baum und verbrachten die ganze Nacht damit, mich zu foltern. Ich wurde von Drakoniern in Xak Tsaroth verletzt. Kleine Drachen kauten an meinem Bein in den Verliesen der Königin der Finsternis. Und ich schwöre dir, daß ich jetzt mehr Schmerzen habe, als ich je in meinem ganzen Leben durchgemacht habe! Laß mich allein, laß mich in Ruhe sterben.« Mit einem Stöhnen fiel Caramons Hand zur Seite. Er schloß die Augen.

Ein Grinsen unterdrückend, kroch Tolpan zurück zu seinem Bett. »Er glaubt, daß er jetzt Schmerzen hat«, sinnierte er. »Warte nur bis zum Morgen!«

Der Sommer in Istar endete. Der Herbst kam, einer der schönsten, an den sich jeder erinnerte. Caramons Ausbildung begann, und der Krieger starb nicht, obgleich es Zeiten gab, in denen er dachte, daß der Tod einfacher wäre. Auch Tolpan war mehr als einmal versucht, das große verwöhnte Kind aus seinem Elend zu befördern. Eine Gelegenheit ergab sich eines Nachts, als er von einem herzzerreißenden Schluchzen geweckt wurde.

»Caramon?« fragte Tolpan verschlafen und richtete sich in seinem Bett auf.

Keine Antwort, nur ein weiteres Schluchzen.

»Was ist los?« fragte Tolpan besorgt. Er verließ sein Bett und tappte über den kalten Steinboden. »Hast du geträumt?« Er konnte Caramon im Mondschein nicken sehen. »Hast du von Tika geträumt?« fragte er und fühlte Tränen in seine Augen steigen angesichts der Trauer des Mannes.

»Ein Muffin!« schluchzte Caramon.

»Was?« fragte Tolpan verblüfft.

»Ein Muffin!« blubberte Caramon. »O Tolpan! Ich bin so hungrig. Und ich habe von einem Muffin geträumt, so wie Tika sie immer gebacken hat, ganz mit klebrigem Honig bedeckt und mit diesen kleinen gemahlenen Nüssen...«

Tolpan hob einen Schuh auf, schleuderte ihn auf Caramon und ging voller Abscheu in sein Bett zurück.

Aber am Ende des zweiten Monats ihrer strengen Ausbildung musterte Tolpan Caramon, und der Kender mußte sich eingestehen, daß es genau das war, was der große Mann auch nötig hatte. Die Fettrollen um die Taille des großen Mannes waren verschwunden, die schwabbeligen Oberschenkel waren wieder hart und muskulös, in seinen Armen und an Brust und Rücken spielten Muskeln. Seine Augen waren hell und wachsam, ohne den abgestumpften leeren Blick. Der Zwergenspiritus war aus seinem Körper ausgeschwitzt, die Nase war nicht mehr rot. Sein Körper war von der Sonne gebräunt. Der Zwerg hatte entschieden, daß Caramon sein braunes Haar lang wachsen lassen sollte, wie es in Istar zur Zeit Mode war, und jetzt lockte es sich um sein Gesicht und über seinen Rücken.

Auch war er nun ein geübter Kämpfer. Arak importierte Ausbilder aus der ganzen Welt, und jetzt lernte Caramon Techniken von den Besten. Seine natürliche Begabung ließ ihn schnell lernen, und es dauerte nicht lange, bis der große Mann Kiiri mühelos hochwarf und dann Pheragas eiskalt in sein eigenes Netz einwickelte und ihn mit dem eigenen Dreizack am Boden festheftete.

Caramon war glücklich, wie er es schon lange Zeit nicht mehr gewesen war. Er verabscheute immer noch das Eisenband, und es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht danach sehnte, es zu zerreißen und wegzulaufen. Aber diese Gefühle ließen nach, je mehr er sich für seine Ausbildung interessierte. Er hatte immer das Soldatenleben genossen. Es gefiel ihm, wenn ihm jemand sagte, was und wann er etwas tun sollte.

Immer offen und ehrlich, setzte der schwierigste Teil seiner Ausbildung ein, als er zum Schein verlieren sollte. Er sollte in vorgeblichem Schmerz aufschreien. Er mußte lernen zusammenzubrechen, als wäre er schwer verwundet, wenn sein Gegner sich mit dem einklappbaren Schwert auf ihn stürzte.

»Nein! Nein! Nein, du Blödmann!« schrie Arak immer wieder. Caramon verfluchend, ging der Zwerg eines Tages zu ihm hin und schlug ihn hart ins Gesicht.

Caramon schrie in echtem Schmerz auf, wagte aber nicht zurückzuschlagen, da Raag ihn schadenfroh beobachtete.

»Nun...«, sagte Arak und trat triumphierend zurück; seine Fäuste waren geballt, an den Knöcheln klebte Blut. »Erinnere dich an diesen Schrei. Die Zuschauer lieben das.«

Aber im Schauspielen war Caramon hoffnungslos. Und dann kam dem Zwerg eines Tages eine Idee.

Sie kam ihm, während er die Ausbildung verfolgte. Zufällig war eine kleine Zuschauerschaft anwesend. Arak erlaubte das gelegentlich, da er herausgefunden hatte, daß es für das Geschäft einträglich war. Diesmal war es ein Edelmann, der mit seiner Familie aus Solamnia angereist war. Der Edelmann hatte zwei bezaubernde Töchter, und seit sie die Arena betreten hatten, ließen sie die Augen nicht von Caramon.

»Warum haben wir ihn neulich abends nicht kämpfen sehen?« fragte eine ihren Vater.

Der Edelmann sah fragend den Zwerg an.

»Er ist neu«, antwortete Arak schroff. »Er ist noch in der Ausbildung, aber so gut wie fertig. In der Tat habe ich daran gedacht, ihn auftreten zu lassen – wann, sagtet Ihr, kommt Ihr zu den Spielen zurück?«

»Eigentlich nicht mehr«, begann der Edelmann, aber seine Töchter schrien bestürzt auf. »Nun«, fügte er hinzu, »vielleicht – wenn wir noch Karten bekommen.«

Die Mädchen klatschten in die Hände, ihre Augen kehrten zu Caramon zurück, der gerade mit Pheragas mit dem Schwert übte. Der gebräunte Körper des jungen Mannes glitzerte vor Schweiß, sein Haar klebte um sein Gesicht, er bewegte sich mit der Anmut eines gut durchtrainierten Athleten. Als der Zwerg den bewundernden Blick der Mädchen sah, fiel es ihm plötzlich auf, daß Caramon ein bemerkenswert gutaussehender junger Mann war.

»Er muß gewinnen«, sagte eines der Mädchen seufzend. »Ich könnte es nicht ertragen, ihn verlieren zu sehen!«

»Er wird gewinnen«, sagte das andere Mädchen. »Er ist zum Gewinnen geboren. Er sieht wie ein Sieger aus.«

»Natürlich! Das löst all meine Probleme!« sagte der Zwerg plötzlich. »Der Sieger! So werde ich ihn ankündigen! Niemals besiegt! Versteht nicht zu verlieren! Hat geschworen, sich das Leben zu nehmen, wenn ihn einer schlagen sollte!«

»O nein«, schrien beide Mädchen entsetzt. »Erzähl uns nicht so etwas.«

»Es ist die Wahrheit«, erklärte der Zwerg feierlich und rieb sich die Hände. »Sie kommen meilenweit angereist«, sagte er an jenem Abend zu Raag, »und hoffen, an dem Abend dabei zu sein, wenn er siegt. Er wird ein Herzensbrecher werden. Das kann ich jetzt schon sehen. Und ich habe auch das richtige Kostüm...«

Während seiner Ausbildung verlor Caramon niemals sein wahres Ziel aus dem Auge. Er hatte aus dem Tempel eine knappe Botschaft von Crysania erhalten, und so wußte er, daß es ihr gut ging. Aber von Raistlin erfuhr er nichts.

Zuerst gab Caramon die Hoffnung auf, seinen Bruder oder Fistandantilus zu finden, da es ihm nicht erlaubt war, die Arena zu verlassen. Aber ihm wurde schnell klar, daß Tolpan leicht Plätze und Straßen aufsuchen konnte. Die Leute hatten eine Neigung, Kender auf die gleiche Art zu behandeln wie Kinder – als ob sie nicht da wären. Und Tolpan war noch geschickter als die meisten Kender, sich im Schatten aufzulösen, sich hinter Vorhängen zu verbergen oder durch Korridore zu schleichen. Er konnte leicht den Tempel betreten.

Zusätzlich war es ein Vorteil, daß der Tempel so groß war und von so vielen Besuchern wimmelte, daß ein Kender mühelos übersehen wurde. Ein weiterer Vorteil war, daß es viele Kendersklaven gab, die in den Küchen arbeiteten, und sogar einige Kenderkleriker, die sich frei bewegen konnten.

Tolpan hätte liebend gern mit ihnen Freundschaft geschlossen und Fragen über seine Heimat gestellt. Aber er traute sich nicht. Caramon hatte ihn gebeten, nicht zu viel zu reden, und zum ersten Mal nahm Tolpan diese Bitte ernst. Da er es als nervenaufreibend empfand, sich ständig vorzusehen, nicht über Drachen oder andere Dinge zu reden, entschied er, daß es einfacher wäre, die Versuchung insgesamt zu meiden. Er begnügte sich also damit, im Tempel herumzuschnüffeln und Informationen zu sammeln.

»Ich habe Crysania gesehen«, berichtete er eines Abends Caramon, nachdem sie vom Essen gekommen waren. Tolpan lag auf seinem Bett, während Caramon mit Keule und Kette mitten im Zimmer trainierte. Arak wollte, daß er auch mit anderen Waffen außer dem Schwert umgehen konnte.

»Wie geht es ihr?« fragte Caramon.

Tolpan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sie sieht nicht krank aus. Aber sie sieht auch nicht glücklich aus. Ihr Gesicht ist blaß, und als ich versuchte, mit ihr zu reden, hat sie mich einfach stehen lassen. Ich glaube nicht, daß sie mich erkannt hat.«

Caramon runzelte die Stirn. »Sieh zu, daß du Näheres herausfindest«, sagte er. »Vergiß nicht, daß auch sie Raistlin sucht. Vielleicht hat es etwas mit ihm zu tun.«

»In Ordnung«, erwiderte der Kender, dann duckte er sich, als die Keule über seinen Kopf schwirrte. »Bitte, paß auf! Geh ein bißchen zurück.« Er tastete besorgt nach seinem Kopf, um zu fühlen, ob er noch da war.

»Was Raistlin betrifft«, fuhr Caramon mit gedämpfter Stimme fort, »vermutlich hast du heute nichts über ihn herausgefunden, oder?«

Tolpan schüttelte den Kopf. »Ich habe gefragt und gefragt. Fistandantilus hat Lehrlinge. Aber niemand hat einen gesehen, der Raistlins Beschreibung entspricht. Und weißt du, Leute mit goldener Haut und Stundenglasaugen treten schon in der Menge hervor. Aber ich werde bestimmt bald etwas herausfinden. Ich habe gehört, daß Fistandantilus zurück ist.«

»So?« Caramon hörte auf, die Keule zu schwingen, und wandte sich Tolpan zu.

»Ja. Ich habe ihn zwar nicht gesehen, aber einige Kleriker haben darüber geredet. Ich glaube, er ist letzte Nacht wieder aufgetaucht, in der Empfangshalle des Königspriesters. Einfach so. Da war er.«

»Ja«, knurrte Caramon. Er blieb so lange Zeit ruhig, daß Tolpan gähnte und gerade in Schlaf sinken wollte. Caramons Stimme brachte ihn wieder in den Wachzustand zurück.

»Tolpan«, sagte Caramon, »das ist unsere Gelegenheit.«

»Unsere Gelegenheit wozu?« Der Kender gähnte wieder.

»Unsere Gelegenheit, Fistandantilus umzubringen«, antwortete der Krieger gelassen.

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