John Norman Die Wilden Von Gor

1

»Wie viele sind es?« fragte ich Samos.

»Zwei«, antwortete er.

»Lebendig?«

»Ja.«

Um die zweite Ahn, mitten in der Nacht, war Samos’ Herald am seeähnlichen Hof meiner Besitzung im kanaldurchzogenen Port Kar erschienen, in jener Stadt voller Schiffe, die das schimmernd grüne Thassa gleich einem Juwel beherrschte. Zweimal hatte er mit dem Speerschaft gegen die Stangen meines Wassertors geschlagen. Dann hatte er den Siegelring Samos’ aus Port Kar vorgewiesen, des ersten Kapitäns des Kapitänsrates. Ich sollte geweckt werden. Es war ein kühler Morgen gegen Frühlingsanfang.

»Hat sich Tyros erhoben?« fragte ich den blonden Thurnock, einen Riesen von Mann, der an meiner Lagerstatt erschien.

»Ich glaube nicht, Kapitän«, antwortete er.

Das Mädchen neben mir zog angstvoll die Felle hoch.

»Hat man Schiffe aus Cos gesichtet?« erkundigte ich mich.

»Ich glaube nicht, Kapitän«, lautete die Antwort.

Das Mädchen regte sich unbehaglich neben mir. Unter den Fellen war sie nackt.

»Dann kommt er also nicht in einer Angelegenheit, die Port Kar betrifft?«

»Möglicherweise nicht, Kapitän«, antwortete Thurnock. »Ich glaube, es geht um andere Dinge.«

Die kleine Tharlarionöl-Lampe, die er in der Hand hielt, beleuchtete sein bärtiges Gesicht.

»Es ist schon zu lange ruhig gewesen«, sagte ich leise.

»Kapitän?«

»Nichts.«

»Es ist früh«, flüsterte das Mädchen neben mir.

»Wer hat dir Erlaubnis gegeben zu sprechen?« fragte ich.

»Du wirst Samos also eine Audienz gewähren?« fragte Thurnock.

»Ja.«

»Dann werde ich dem Gesandten Samos’ mitteilen, daß du in Kürze bei ihm sein wirst.«

Daraufhin verließ er den Raum und stellte die kleine Tharlarionöl-Lampe auf ein Regal neben der Tür.

Das Feuer in dem Kohlebecken links von der breiten Steincouch war während der Nacht erloschen. Es war feucht und kalt im Raum; die Kühle der Höfe und Kanäle machte sich bemerkbar. Die mächtigen Steinmauern waren bestimmt ebenfalls von der feuchten, kalten Luft durchdrungen, ebenso die Fenstergitter hinter den zugeschnallten Ledervorhängen.

Ich verließ mein Nachtlager und begab mich zu einem Bronzebecken mit kaltem Wasser an einer Wand. Dort ging ich in die Hocke und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und über den Körper.

»Was bedeutet es, Herr«, wagte sich das Mädchen vor, »daß ein Abgesandter des Hauses Samos, des Ersten Kapitäns von Port Kar, so früh und so verstohlen in das Haus meines Herrn kommt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich, trocknete mich ab und schaute sie an. Sie hatte sich auf den linken Ellenbogen gestützt. Meinen Blick bemerkend, raffte sie sich hastig in die gebotene kniende Stellung auf.

»Und selbst wenn du es wüßtest, würdest du es mir nicht sagen, nicht wahr?« fragte sie.

»Nein.«

»Ich bin Sklavin.«

»Ja.« Ich kehrte zur Couch zurück und setzte mich auf die Felle. »Du machst dir vielleicht Gedanken, in welcher Angelegenheit der Abgesandte Samos’ gekommen ist?« fragte ich.

»Ich, Herr?« rief sie erschrocken.

»Gewiß«, sagte ich. »Du hast früher einmal den Kurii gedient, den anderen, den Gegnern der Priesterkönige.«

»Ich habe dir alles gesagt, was ich wußte!« rief sie. »In den Verliesen des Samos habe ich alles gesagt! Ich war verängstigt! Ich habe nichts verschwiegen!«

»Daraufhin warst du wertlos«, stellte ich fest.

»Außer vielleicht als Sklavin, die einem Mann zu Gefallen sein kann«, gab sie zu bedenken.

»Ja«, sagte ich lächelnd.

Samos hatte persönlich verfügt, daß sie zu versklaven sei. In Ar hatte ich ihr das Dokument ausgehändigt und kurz darauf nach eigenem Gutdünken vollstreckt. In einem früheren Leben war sie Miß Elicia Nevins von der Erde gewesen, eine Agentin der Kurii auf Gor. In Ar, einer Stadt, aus der ich einmal verbannt worden war, hatte ich sie gefangen und versklavt. In den Gemächern, die bisher die ihren gewesen waren, war sie meine Beute geworden und hatte mein Brandzeichen erhalten und meine Fesseln angelegt bekommen, und zuletzt den schimmernden Stahlkragen der Unterwerfung.

Dieses Mädchen, die ehemalige Elicia Nevins, die ehemalige hochmütige und stolze Agentin der Kurii, kniete nun als liebliche Sklavin vor mir und griff nach meinen Sandalen. Dabei bot sie einen prächtigen Anblick.

»Woran denkst du, Herr?« fragte sie besorgt.

»Ich dachte an das erste Mal, als ich dich unterwarf. Erinnerst du dich?«

»Ja, Herr, ich habe nichts vergessen.«

Nachdem ich sie gefangen und versklavt hatte, war ich im Sattel eines Tarn, das Mädchen quer vor mir liegend, aus Ar geflohen. In Port Kar hatte ich sie Samos zu Füßen geworfen. In einem seiner Verliese hatten wir die Sklavin anschließend verhört und viel erfahren. Da sie für Samos dann keinen Wert mehr besaß, hatte ich sie als Sklavin zu mir genommen.

»Bist du dankbar, daß dir der Tod erspart blieb?« fragte ich.

»Ja, Herr«, erwiderte sie. »Und ganz besonders, daß du mich behalten hast, als deine Sklavin.«

Nichts erfüllt eine Frau mehr als ihre Sklaverei.

Ich stand auf und zog die Felle von der Couch enger um mich. Mit einem Gürtel band ich das Fellgewand fest. Von einem Haken an der Wand nahm ich die Scheide mit dem Kurzschwert. Ich zog die Klinge, wischte sie an den Pelzen ab, die mich bekleideten, und steckte sie zurück. Die meisten goreanischen Waffenscheiden sind nicht feuchtigkeitssicher, da dies die Klinge entweder zu eng eingeschnürt oder eine hinderliche Klappe vorausgesetzt hätte. Nach goreanischer Art warf ich mir nun den Schwertgurt über die linke Schulter, so daß mir der Waffengriff an der linken Hüfte pendelte, für meine Hand leicht zu erreichen.

Dann kehrte ich zur Couch zurück und blieb vor dem Mädchen stehen.

»Ich liebe dich, Herr«, sagte sie, »und gehöre dir.«

Ich wandte mich ab und verließ den Raum. Wenige Ahn später, gegen Morgen, würden Männer zu ihr kommen, sie losbinden und mit den anderen Frauen zur Arbeit schicken.


»Wie viele sind es?« fragte ich Samos.

»Zwei«, antwortete er.

»Lebendig?«

»Ja.«

»Kein sehr schöner Ort für eine Zusammenkunft«, stellte ich fest. Wir befanden uns in den zerfallenen Ruinen eines Tarnstalls, der sich auf einer großen Plattform am Rand der Rence-Sümpfe erhoben hatte. Beim Aufstieg zur Plattform und beim Überqueren der Fläche hatten die uns begleitenden Wächter, die nun draußen geblieben waren, mit ihren Speerschäften mehr als einen wendigen Tharlarion vertrieben, der sich zornig fauchend in den Sumpf fallen ließ. Die Anlage bestand aus einem Tarnstall, dessen Dach ziemlich zerstört war, und einem Vorgebäude, in dem Vorräte und Tarnhüter untergebracht gewesen waren. Der Bau stand seit Jahren verlassen. Wir befanden uns im Innern des Vorgebäudes. Durch das zerstörte Dach vermochte ich stellenweise den goreanischen Nachthimmel und einen der drei Monde dieser Welt auszumachen. Weiter vor uns war eine Wand weitgehend eingestürzt und offenbarte einen Blick in den großen Tarnstall, einst ein riesiges, konvexes, käfigähnliches Gewirr mächtiger verwobener Äste, eine Kuppel aus miteinander verflochtenem Holz; nach Jahren der ungehinderten Einwirkung von Wind und Wetter existierten von diesem eindrucksvollen und komplizierten Bau nur noch einige skeletthafte Überreste in den unteren Bereichen.

»Mir gefällt dieser Ort nicht«, stellte ich fest.

»Den anderen aber um so mehr«, erwiderte Samos.

»Es ist zu dunkel«, meinte ich. »Hier gibt es zu viele Gelegenheiten für Hinterhalte und sonstige Überraschungen.«

»Die anderen haben diese Stelle gewählt.«

»Sicher«, sagte ich.

»Ich glaube nicht, daß wir in Gefahr sind«, meinte er. »Außerdem haben wir Wächter mitgebracht.«

»Hätten wir uns nicht in deinem Haus treffen können?« wollte ich wissen.

»Gewiß erwartest du nicht, daß sich solche Wesen ohne weiteres unter Menschen mischen.«

»Nein, natürlich nicht«, räumte ich ein.

»Ob sie wohl wissen, daß wir hier sind?«

»Wenn sie leben, wissen sie es.«

»Vielleicht.«

»Was ist der Zweck der Zusammenkunft?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete Samos.

»Es ist doch ungewöhnlich, daß solche Wesen mit Menschen verhandeln.«

»Stimmt.« Samos blickte sich in dem verfallenen Gebäude um. Auch ihm gefielen die Ruinen nicht sonderlich.

»Was sie wohl von uns wollen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aus irgendeinem Grund scheinen sie die Hilfe der Menschen zu brauchen«, sagte ich nachdenklich.

»Das erscheint mir unglaublich«, meinte Samos.

»Im Grunde hast du recht.«

»Vielleicht wollen sie um Frieden bitten?«

»Nein«, sagte ich.

»Woher willst du das wissen?«

»Sie sind den Menschen zu ähnlich.«

»Ich mache die Lampe an.« Samos hockte sich nieder und zog einen kleinen Feueranzünder aus seinem Beutel, eine Vorrichtung, die einen winzigen Vorrat Tharlarionöl und darüber einen ölgetränkten Docht enthielt. Entzündet wurde das alles durch den Funken eines kleinen Stahlrades, das über einen Daumengriff mit einem Stück Feuerstein in Berührung gebracht wurde.

»Muß das Treffen denn unbedingt so geheim ablaufen?« fragte ich.

»Ja.«

Wir hatten diesen Ort in einer umschlossenen Barke erreicht, mit der wir durch das Tor in das nordöstliche Delta gefahren waren. Ich hatte durch die engen Lamellenfenster nur mühsam verfolgen können, wohin unsere Fahrt ging.

Ich hörte das Rädchen gegen den Feuerstein kratzen. Dabei nahm ich den Blick nicht von den Gebilden, die am entfernten Ende des Raums, hinter einem großen Tisch halb verborgen, auf dem Boden hockten. Der offene Bereich hinter den dunklen Erscheinungen führte in den zerstörten Tarnkäfig. Es ist nicht ratsam, den Blick von solchen Wesen zu wenden, wenn sie sich in der Nähe befinden, oder ihnen gar den Rücken zuzudrehen. Ich wußte nicht, ob sie schliefen oder nicht. Vermutlich waren sie hellwach. Meine Hand lag auf meinem Schwertgriff. Wesen dieser Art, das wußte ich nur zu gut, konnten sich erstaunlich schnell bewegen.

Der Docht des Feueranzünders brannte. Vorsichtig hielt Samos die winzige Flamme an den Docht der geöffneten Laterne, die ebenfalls mit Tharlarionöl betrieben wurde.

Das zusätzliche Licht stärkte meine Überzeugung, daß die Geschöpfe nicht schliefen. Beim Scharren des Feueranzünders war es nur zu einer winzigen Muskelreaktion gekommen. Wären sie aus dem Schlaf gerissen worden, hätte es bestimmt eine heftigere Bewegung gegeben. So ging ich weiter davon aus, daß sie von Anfang an unsere Gegenwart registriert hatten.

»Je weniger Leute von den Kriegen zwischen den Welten wissen, desto besser«, bemerkte Samos. »Was nützt es schon, eine unvorbereitete Bevölkerung aufzuscheuchen? Sogar die Wachen, die wir draußen zurückgelassen haben, wissen nicht genau, in welcher Angelegenheit wir hier sind. Wer würde außerdem glauben, daß es solche Geschöpfe gibt, wenn er sie nicht gesehen hat? Er würde sie als Mythos oder als Sagen über wundersame Tiere wie Pferd, Hund und Greif abtun.«

Ich lächelte. Pferde und Hunde gab es auf Gor nicht. Die Goreaner kannten diese Geschöpfe nur aus Legenden, die bestimmt aus vergessenen Zeiten stammten, aus Erinnerungen, die vor langer Zeit von einer anderen Welt nach Gor gebracht worden waren. Solche Geschichten reichten wahrscheinlich viele tausend Jahre zurück, in die Zeit der frühen Eroberungsreisen, unternommen von abenteuersuchenden, neugierigen Angehörigen einer fremden Rasse, die den meisten Goreanern als Priesterkönige bekannt ist. Heute allerdings lebt in nur wenigen Priesterkönigen noch solche Neugier oder begeisterte Neigung nach Entdeckungen und Abenteuern. Die Rasse der Priesterkönige war alt geworden. Alt ist man wahrscheinlich nur, wenn man das Bedürfnis verloren hat, Neues zu erfahren. Solange man sich seine Neugier und sein Mitgefühl bewahrt, kann man nicht wirklich alt genannt werden.

Unter den Priesterkönigen hatte ich insbesondere zwei Freunde, Misk und Kusk, die, so gesehen, wohl niemals alt werden konnten. Aber es waren nur zwei, zwei von einer Handvoll Überlebender einer einstmals mächtigen Rasse. Vor langer Zeit war es mir zwar gelungen, das letzte weibliche Ei der Priesterkönige in das Nest zurückzubringen. Zu den Überlebenden, die davor bewahrt werden konnten, durch die vorhergehende Generation ermordet zu werden, gehörte außerdem ein junges Männchen. Ich hatte aber keine Informationen darüber, was sich seit der Rückkehr des Eis im Nest ereignet hatte. Ich wußte nicht, ob es reproduktionsfähig gewesen war oder nicht. Ich hatte keine Ahnung, ob inzwischen im Nest eine neue Mutter herrschte oder nicht. Und wenn es so war, wußte ich nicht, was aus der älteren Generation geworden war oder wie die jüngere aussah. Würden die jungen Priesterkönige die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, so gut verstehen wie ihre Vorfahren? Würde die junge Generation, wie die ältere, solche riesigen, zottigen, dunklen Geschöpfe begreifen, wie sie wenige Fuß von mir entfernt lagen? »Ich glaube, du hast recht, Samos«, sagte ich.

Er hob die Laterne, die mit voller Leuchtkraft strahlte.

So betrachteten wir die Wesen vor uns.

»Sie werden sich langsam bewegen«, meinte ich, »um uns nicht zu erschrecken. Ich finde, wir sollten ebenso handeln.«

»Einverstanden«, sagte Samos.

»Im Tarnkäfig warten Tarns«, stellte ich fest. Ich hatte soeben eine Bewegung bemerkt: Mondlicht spiegelte sich auf einem sichelförmigen langen Schnabel. Dann sah ich, wie das Geschöpf zweimal in schneller Folge mit den Flügeln schlug. In den Schatten waren mir die Tiere bisher nicht aufgefallen.

»Zwei«, sagte Samos. »Die Reittiere dieser beiden.«

»Wollen wir uns dem Tisch nähern?« fragte ich.

»Ja.«

»Langsam.«

Behutsam gingen wir auf den Tisch zu. Dann standen wir davor. Im Licht der Laterne vermochte ich auszumachen, daß eines der Wesen ein dunkelbraunes Fell hatte, während das des anderen Fremden beinahe schwarz war. Sie wirkten riesig. Wie sie so umschlungen vor uns lagen, ragte der Kamm des lebendigen Hügels, der Rücken eines der beiden Wesen, einige Zoll über die Tischplatte. Die Köpfe waren nicht auszumachen, ebenso blieben Füße und Hände verborgen. Wegen des Tisches hätte ich nicht ohne weiteres die Klinge ziehen und nach den beiden hauen können. Die Position, die uns hier geboten wurde, war sicher kein Zufall. Auch aus meiner Sicht war es kein Unglück, den schweren Tisch vor mir zu haben ... ich hätte es sogar lieber gesehen, wenn er noch breiter gewesen wäre.

Samos stellte die Laterne auf die Holzplatte. Dann verharrten wir abwartend.

»Was soll nun geschehen?« fragte Samos.

»Keine Ahnung.« Ich hatte zu schwitzen begonnen. Ich fühlte mein Herz schlagen. Meine rechte Hand, vor dem Körper herumgebeugt, lag auf dem Schwertgriff. Mit der linken hielt ich die Waffenscheide fest.

»Vielleicht schlafen sie«, flüsterte Samos.

»Nein.«

»Sie geben aber nicht zu erkennen, daß sie uns wahrgenommen haben«, meinte Samos.

»Sie wissen genau Bescheid.«

»Was sollen wir tun?« fragte Samos. »Soll ich einen berühren?«

»Lieber nicht«, gab ich angespannt zurück. »Eine unerwartete Berührung könnte einen Angriffsreflex auslösen.«

Samos zog die Hand zurück.

»Außerdem sind solche Wesen meistens stolz und eitel. Selten ist ihnen die Berührung durch einen Menschen willkommen. Selbst ein unabsichtlicher Verstoß gegen diese Grundregel hat im allgemeinen zur Folge, daß der Betreffende sofort zerrissen wird.«

»Angenehme Zeitgenossen«, meinte Samos.

»Wie alle vernunftbegabten Wesen haben sie ein Gefühl für Anstand und Etikette.«

»Wie kannst du sie vernunftbegabt nennen?« fragte Samos.

»Offensichtlich sind sie durch ihre Intelligenz und ihre Raffinesse als Vernunftwesen qualifiziert«, antwortete ich. »Es interessiert dich vielleicht zu erfahren, daß sie ihrerseits die Menschen als unvernünftig einstufen, als unterlegene Spezies, als Wesen, die für sie kaum etwas anderes als Nahrung sind.«

»Warum wollen sie dann aber verhandeln?« fragte Samos.

»Das weiß ich nicht. Für mich ist dies ein ausgesprochen faszinierender Aspekt für die dunklen Umtriebe dieses Morgens.«

»Sie begrüßen uns nicht«, sagte Samos gereizt. Immerhin war er Agent der Priesterkönige und darüber hinaus Erster Kapitän des Kapitänsrates, der in Port Kar herrschenden Körperschaft.

»Nein«, bestätigte ich.

»Was tun wir?«

»Abwarten«, schlug ich vor.

Von draußen drang der Schrei einer Ul herein, einer riesigen zahnbewehrten, geflügelten Raubechse, die über den Sumpf flatterte.

»Wie wurde dieses Zusammentreffen arrangiert?« fragte ich.

»Der erste Kontakt erfolgte durch einen zugespitzten und beschwerten Nachrichtenzylinder, der vor zwei Tagen aufrecht im Sand meines Exerzierhofes steckte«, sagte Samos. »Offensichtlich während der Nacht vom Rücken eines Tarn abgeworfen.«

»Von einem dieser beiden?« fragte ich.

»Das erscheint mir über der Stadt unwahrscheinlich«, gab Samos zurück.

»Ja.«

»Sie haben menschliche Bundesgenossen.«

»Ja.« Bei meinen Abenteuern auf Gor waren mir mehrere Bundesgenossen solcher Wesen begegnet, Männer wie auch Frauen.

Wieder schrie die Ul. Die Tarns draußen im Käfig bewegten sich unruhig. Allerdings bestand für sie keine Gefahr, denn sie waren groß genug, jede Ul in Stücke zu reißen.

»Wir sind töricht gewesen«, sagte ich zu Samos.

»Inwiefern?«

»Gewiß ist das Protokoll in solchen Dingen ziemlich klar – zumindest aus der Sicht unserer Freunde.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Versetze dich mal in ihre Lage«, sagte ich. »Sie sind größer und stärker als wir und wahrscheinlich auch wilder und bösartiger. Außerdem sehen sie sich in der Intelligenz als überlegen an, als dominante Rasse.«

»Und?«

»Und natürlich erwarten sie, daß wir sie zuerst ansprechen – und nicht umgekehrt.«

»Ich soll solche Kreaturen begrüßen, ich, der ich Erster Kapitän der hohen Stadt Port Kar bin, des Juwels auf dem Thassa?«

»Genau.«

»Niemals!«

»Soll ich das für dich übernehmen?«

»Nein.«

»Dann sprich du zuerst.«

»Wir ziehen uns zurück.«

»An deiner Stelle würde ich es nicht riskieren, die beiden zu erzürnen«, sagte ich.

»Meinst du, sie würden reagieren?« fragte er.

»Ich rechne fest damit. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie sich so einfach mit der Nutzlosigkeit ihres Vorstoßes abgeben würden.«

»Vielleicht sollte ich wirklich als erster sprechen.«

»Ich würde es dir empfehlen.«

»Schließlich haben sie um diese Zusammenkunft gebeten«, fuhr er fort.

»Genau«, ermutigte ich ihn. »Außerdem wäre es doch gewiß schade, in Stücke gerissen zu werden, ohne überhaupt zu wissen, was sie von uns wollten.«

»Zweifellos«, sagte Samos grimmig.

»Ich kann sehr überzeugend sprechen«, sagte ich.

»Ja.« Samos räusperte sich. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, das erste Wort zu haben, doch er würde es tun. Wie viele Sklavenhändler und Piraten war Samos im Grunde ein ordentlicher Kerl.

»Tal«, sagte Samos laut und sichtlich an die zottigen Geschöpfe gewandt. »Tal, ihr großen Freunde.«

Das Fell geriet in Bewegung, riesige Muskeln begannen sich langsam und gleichmäßig darunter zu rühren. So wie die beiden gelegen hatten, wäre es schwierig gewesen, eine verwundbare Stelle auszumachen oder gar zu treffen. Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen trennten sich die beiden Wesen und schienen dann vor uns zu wachsen. Samos und ich traten zurück. Köpfe und Arme wurden sichtbar. Urplötzlich reflektierten die großen Augen des einen das Licht, und einen Moment lang strahlten sie wie glühende rote Kupferscheiben.

Nachdem sich der Winkel der Beleuchtung verändert hatte, konnte ich sie nun deutlich als große runde Augäpfel ausmachen, über denen sich die Lider blinzelnd bewegten. Ich sah, wie sich die Pupillen verengten. Solche Wesen sind vor allem Nachtschwärmer. Bei Dunkelheit sehen sie weitaus besser als der Mensch. Die Anpassung an neue Lichtverhältnisse erfolgt ebenfalls viel schneller als beim Menschen, Eigenschaften, die sich bei der blutigen Evolution der Rasse herausgeschält hatten. Als die Augen des Wesens aufblitzten, hatte sich das Licht gleichzeitig in den langen spitzen Reißzähnen gespiegelt, und ich hatte gesehen, wie sich die lange dunkle Zunge über die Lippen bewegte und wieder im Maul verschwand.

Die Kreaturen schienen mit dem Wachsen gar nicht aufzuhören, aber schließlich standen sie aufrecht vor uns. Die Hinterbeine, acht bis zehn Zoll durchmessend, sind um einiges kürzer als die Arme, die am Bizeps etwa acht Zoll und an den Handgelenken ungefähr fünf Zoll dick waren. Das größere der beiden Geschöpfe war etwa neun Fuß groß, das kleine ungefähr achteinhalb. Das Gewicht des größeren schätzte ich auf neunhundert Pfund, das des kleineren auf achthundert Pfund – dabei handelte es sich um durchschnittliche Größen und Gewichte für solche Geschöpfe. Hände und Füße besaßen jeweils sechs Zehen oder Finger, die lang und vielfach untergliedert waren. Die Nägel oder Klauen der Hände sind gewöhnlich abgefeilt, was vermutlich den Umgang mit Werkzeugen und Instrumenten erleichtert. Die einziehbaren Klauen der Füße werden im allgemeinen nicht bearbeitet. Normalerweise tötet ein solches Geschöpf seinen Gegner, indem er ihn am Kopf oder Schultern packt, mindestens mit den Zähnen, und dann mit den reißenden Hinterbeinen attackiert.

»Tal«, wiederholte Samos nervös.

Ich blickte über den Tisch auf die Geschöpfe. Ihre Augen leuchteten intelligent.

»Tal«, sagte Samos noch einmal.

Die Köpfe waren gut einen Fuß breit. Die Schnauzen besaßen zwei Nüstern und waren ledrig-abgeflacht. Die Ohren standen lang, breit und spitz empor. Die Kreaturen standen aufrecht und widmeten uns ihre Aufmerksamkeit. Dies gefiel mir, da ich daraus ableitete, daß sie keine Angriffsabsichten hatten. Wenn ein solches Geschöpf attackiert, legt es die Ohren flach am Kopf an.

»Sie antworten nicht«, sagte Samos.

Ich wandte den Blick nicht von den Wesen und zuckte die Achseln. »Warten wir ab«, sagte ich. Ich wußte nicht, auf welches fremdländische Protokoll die Kreaturen Wert legten.

Die beiden pelzigen Abgesandten standen zwar aufrecht, sie wußten sich auf allen vieren aber ebenfalls zu bewegen, wobei sie die Handknöchel aufstützten. Die aufrechte Haltung erweitert den Sichtbereich und hat sicher zur Entwicklung und Verbesserung des doppeläugigen Sehens beigetragen. In der waagerechten Stellung entwickeln diese Wesen eine große Geschwindigkeit, was vermutlich zur Ausprägung von Geruchs- und Hörsinn geführt hat.

»Einer ist ein Blut«, sagte ich.

»Was ist das?«

»In der militärischen Hierarchie dieser Wesen ergeben sechs Geschöpfe eine Hand, und der Anführer wird Auge genannt. Zwei Hände und zwei Augen bilden eine größere Einheit, ›Kur‹ oder ›Ungeheuer‹ genannt, die von einem Anführer oder Blut kommandiert wird. Zwölf solche Einheiten ergeben eine Bande, wieder unter dem Kommando eines Blut, der diesmal aber einen höheren Rang hat. Zwölf Banden, wieder von einem noch höherstehenden Blut geleitet, bilden einen Marsch. Zwölf Märsche sind angeblich ein Volk. Diese Faktoren und Divisionen haben anscheinend mit einer auf zwölf basierenden Mathematik zu tun, die ihrerseits vielleicht auf die Sechsfingrigkeit dieser Geschöpfe zurückgeht.«

»Warum wird der Anführer aber ein Blut genannt?« wollte Samos wissen.

»Anscheinend gibt es unter solchen Wesen den überlieferten Glauben, das Denken sei mehr eine Funktion des Blutes als des Gehirns, eine Terminologie, die sich in der Umgangssprache anscheinend gehalten hat. Ähnliche Anachronismen gibt es in vielen Sprachen, auch im Goreanischen.«

»Wer kommandiert über ein Volk?« wollte Samos wissen.

»Ein Wesen, das, soweit ich diese Dinge verstehe, ›Blut‹ des Volkes genannt wird.«

»Woher weißt du, daß einer dieser beiden ein ›Blut‹ ist?«

»Am linken Handgelenk des größeren Tiers befinden sich zwei Ringe aus einer rötlichen Legierung«, sagte ich. »Sie sind angeschmiedet. Keine goreanische Feile könnte dieses Metall durchtrennen.«

»Dann ist er also von hohem Rang?«

»Von niedrigerem Rang, als wenn er nur einen Ring trüge«, erwiderte ich. »Zwei solche Ringe kennzeichnen den Anführer einer Bande. So hat er den Rang eines Mannes, der das Kommando über einhundertundachtzig Artgenossen führt.«

»Was also einem Hauptmann entspräche«, sagte Samos.

»Ja.«

»Wenn er ein Blut ist, kommt er mit ziemlicher Sicherheit aus den Stahlwelten«, äußerte Samos.

»Ja.«

»Der andere trägt zwei Goldringe in den Ohren.«

»Der ist ein eitler Bursche«, sagte ich. »Solche Ringe dienen lediglich als Schmuck. Möglicherweise handelt es sich um einen Diplomaten.«

»Das größere Ungeheuer scheint das Kommando zu führen.«

»Er ist ein Blut«, sagte ich.

Von der rechten Schulter zur linken Hüfte der kleineren Kreatur verlief ein breiter Ledergurt. Ich vermochte nicht auszumachen, was daran befestigt war.

»Wir haben die beiden begrüßt«, sagte Samos. »Warum reden sie nicht?«

»Offensichtlich haben wir sie noch nicht richtig angesprochen«, meinte ich.

»Wie lange werden sie unsere Unwissenheit wohl noch dulden?«

»Keine Ahnung. Solche Kreaturen sind nicht gerade als geduldig bekannt.«

»Meinst du, sie werden uns umbringen wollen?«

»Dazu hätten sie bereits jede Gelegenheit gehabt, wenn das ihre Absicht wäre«, meinte ich.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Samos.

»Es handelt sich um einen offiziellen Anlaß, und wir haben es mit einem Blut zu tun«, sagte ich. »Zweifellos kommt er aus den Schiffen. Ich glaube, ich weiß die Antwort.«

»Was empfiehlst du?«

»Wie oft hast du die beiden jetzt begrüßt?« fragte ich.

Samos überlegte kurz. »Viermal. Viermal habe ich ›Tal‹ gesagt.«

»Ja«, sagte ich. »Wenn eines dieser Ungeheuer die Hand eines anderen berührt, beide mit offener Hand, zum Zeichen, daß darin keine Waffen ruhten, daß die Berührung in friedlicher Absicht erfolgte – an wie vielen Stellen würde dann die Berührung erfolgen?«

»An sechs«, antwortete Samos.

»Solche Geschöpfe haben in der Regel keine Lust, von Menschen berührt zu werden«, sagte ich. »Die menschliche Entsprechung einer solchen Begrüßung könnte also in sechs vergleichbaren Stimmsignalen liegen. Wie dem auch immer sei, ich finde, die Zahl sechs ist hier auf jeden Fall von Bedeutung.«

Und schon hob Samos die linke Hand. Langsam, ohne zu sprechen, deutete er nacheinander auf vier Finger. Dann nahm er den Daumen der linken Hand in die rechte Hand. »Tal«, sagte er. Und er hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Tal«, wiederholte er noch einmal.

Daraufhin begann sich das kleinere der beiden Geschöpfe langsam zu bewegen, was mir eine Gänsehaut verursachte. Meine Nackenhaare sträubten sich.

Das Wesen drehte sich um, bückte sich und hob einen riesigen Schild empor, wie er zu einem solchen Wesen paßte. Den Schild hob er zwischen uns, waagerecht, die konvexe Seite nach unten. Die Schildgurte waren intakt. Anscheinend legte das Wesen den Schild neben dem Tisch auf dem Boden ab, rechts von uns. Dann ging er ein Stück nach hinten und bückte sich erneut. Diesmal hob es einen riesigen Speer, gut zwölf Fuß lang, bewehrt mit einer langen zulaufenden Bronzespitze. Mit beiden Händen hielt die Kreatur den Speer waagerecht vor sich, hob ihn feierlich empor und in unsere Richtung und zog ihn wieder zurück. Anschließend legte sie den Speer rechts von uns auf den Boden. Der Speerschaft maß etwa drei Zoll im Durchmesser. Die Bronzespitze allein mochte zwanzig Pfund wiegen.

»Eine Ehrenbezeigung«, sagte Samos.

»Die der unseren folgt«, gab ich zurück.

Die Bedeutung der Geste, bei der Waffen hochgehoben und fortgelegt wurden, war klar. Sie entsprach überdies der auf Gor üblichen Methode, einen Waffenstillstand vorzuschlagen. Daß die Geschöpfe auf diesen – menschlichen – Brauch zurückgriffen, was für mich ein begrüßenswertes Entgegenkommen. Sie schienen Wert darauf zu legen, höflich aufzutreten. Ich fragte mich, was sie wollten. Wenn man es genau analysieren wollte, war es allerdings nur die hellere und kleinere der beiden Kreaturen, das Wesen mit den Ringen in den Ohren, die diese Gesten vollzogen hatte. Vielleicht war es tatsächlich Diplomat. Das größere Tier, der Blut, hatte nur reglos dabeigestanden. Doch waren diese Gesten eindeutig in seiner Gegenwart vollzogen worden – ein ausreichender Beweis, daß er sie guthieß. Mit Kriegeraugen bemerkte ich, daß der Speer so abgelegt worden war, daß ein normal Rechtshändiger ihn mühelos greifen konnte.

»Wie man sieht, wollen sie sich nicht ergeben«, sagte Samos.

»Nein«, erwiderte ich. Die Schildgurte, die ich eben gesehen hatte, waren nicht abgerissen oder durchgeschnitten gewesen, was den Schild nutzlos gemacht hätte. Ebensowenig hatte man uns den Speer durchbrochen präsentiert. Die Kreaturen wollten sich nicht ergeben.

Die Lippen des kleinen Wesens wurden zurückgezogen und entblößten Reißzähne. Samos wich zurück und griff unwillkürlich nach dem Schwert.

»Nein«, sagte ich leise zu ihm. »Er versucht nur ein menschliches Lächeln nachzuahmen.«

Von dem breiten Lederstreifen, der mir vorhin schon aufgefallen war, löste das Wesen nun ein mit Knöpfen übersätes, metallisches, rechteckiges Gerät und stellte es auf den Tisch.

»Ein Übersetzungsgerät«, sagte ich zu Samos. Vor einigen Jahren hatte ich solche Apparate im Norden gesehen.

»Ich traue den Burschen nicht«, sagte Samos.

»Einige von ihnen, die eine Spezialausbildung haben, verstehen Goreanisch«, sagte ich warnend.

»Oh!« sagte Samos.

Das kleinere Geschöpf wandte sich dem großen Artgenossen zu und sagte etwas zu ihm. Die Sprache dieser Wesen ähnelt einer Folge von Fauch-, Knurr-, Keuch- und kehligen Schnarrartikulationen. Es handelt sich eindeutig um tierische Laute, wie man sie von großen starken Raubtieren erwarten konnte; andererseits werden sie mit einer Flüssigkeit, Genauigkeit und Feinheit gesprochen, die unverkennbar ist: Voller Unbehagen muß man erkennen, daß man einer Sprache zuhört.

Das größere Wesen neigte den riesigen zottigen Kopf und hob ihn wieder. Aus dem geschlossenen Mund ragten die Spitzen zweier langer gekrümmter Hauer. Augen belauerten uns.

Das kleinere der beiden Angesandten beschäftigte sich mit dem Gerät auf dem Tisch.

Das Senken des Kopfes ist eine fast überall bekannte Geste der Zustimmung oder Unterwerfung. Ablehnung wird dagegen auf die unterschiedlichste Weise signalisiert. Kopfschütteln, Abwenden, ein ablehnendes Verziehen des Mundes oder das Ausspucken einer unerwünschten Substanz aus dem Mund, ein Zurückweichen, ein Heben des Kopfes mit gleichzeitiger Entblößung der Zähne und die Anspannung sämtlicher Muskeln.

»Es ist für diese Wesen sehr schwer, Goreanisch zu sprechen oder eine andere menschliche Sprache.« Dies lag natürlich an der Gestaltung von Mundhöhle, Hals, Zunge, Lippen und Zähnen, die ungeeignet waren, menschliche Phoneme hervorzubringen. Wird es dennoch versucht, kann das Ergebnis schrecklich sein. Ich erschauderte. Ein- oder zweimal hatte ich mitanhören müssen, wie ein solches Wesen Goreanisch sprach. Es war sehr beunruhigend gewesen, Laute, die einer menschlichen Sprache glichen, aus einer solchen Kehle aufsteigen zu hören. Mir war es nur recht, daß wir ein Übersetzungsgerät hatten.

»Sieh doch!« sagte Samos.

Ein kleines rotes Licht begann auf der Maschine zu leuchten.

Das schmalere Ungeheuer richtete sich auf und begann zu sprechen.

Natürlich verstanden wir zunächst nichts von dem, was da gesagt wurde. Reglos lauschten wir im matten hellgelben flackernden Licht der offenen Laterne, inmitten der tanzenden Schatten, die den verlassenen Tarnstall füllten.

Ich weiß noch, daß mir das Funkeln der goldenen Ringe in den Ohren auffiel, und das feuchte Schimmern des Speichels auf den dunklen Lippen und Reißzähnen.

»Ich bin Kog«, tönte es aus dem Übersetzungsgerät. »Ich stehe unter den Ringen. Neben mir steht Sardak, der in den Ringen steht. Ich spreche für die Völker und die Häuptlinge der Völker, jener, die über den Ringen stehen. Ich bringe dir Grüße von den Dominanten und von den Empfängern und Trägern. Keine Grüße bringe ich dir von allen, die der Ringe nicht würdig sind, von den Ausgestoßenen, Namenlosen und Zaghaften. Ebensowenig grüße ich dich von unseren Haustieren, seien sie nun Menschen oder nicht. Kurz, ich bringe dir Ehre, indem ich dir Grüße übermittle von jenen, die dazu befugt sind, und keine Grüße von allen, die dieser Geste unwürdig wären. Somit bringe ich dir Grüße von den Völkern, von den Schiffen und den Stahlwelten. Folglich auch die Grüße der Klippen der tausend Stämme.« Diese Worte und Wortgruppen tönten aus dem Übersetzungsgerät, in den Pausen, die das Wesen in seinen Äußerungen einlegte. Es klang monoton-mechanisch. Die Intonationen wie auch Tonlagen und Betonungen, denen man bei einer lebendigen Sprache so viel entnehmen kann, fehlen bei einer solchen Reproduktion oder sind nur ansatzweise vorhanden. Ähnliches ist zur Übersetzung zu sagen, die oft unvollkommen oder zumindest umständlich und abgehackt erscheint. Es dauert ohnehin einige Augenblicke, ehe man der Produktion einer solchen Maschine einigermaßen folgen kann – doch hat man sich einmal darauf eingestellt, hat man wenig Mühe, das Wesentliche zu verstehen. In meiner Darstellung der Äußerungen der Maschine habe ich mir hier und dort Freiheiten herausgenommen. Insbesondere habe ich gewisse Formulierungen geglättet und etliche grammatische Unregelmäßigkeiten ausgemerzt. Und obwohl ich das Gespräch auf englisch wiedergebe, also in einer zweiten Übersetzung, erscheint mir ein gewisser Eindruck des Originals bewahrt. Andererseits kann ich nicht behaupten, alle Aspekte der Übersetzung verstanden zu haben. Zum Beispiel ist mir die Ringstruktur und die Bemerkung über die Stammesklippen unklar.

»Ich glaube, man erwartet eine Antwort von dir«, sagte ich zu Samos.

»Ich bin Samos«, sagte dieser, »und danke dir für deine höfliche und willkommene Begrüßung.«

Fasziniert lauschte ich dem Ergebnis der Übersetzung, die sich – bis auf eine Ausnahme – als eine Folge von grollenden, kehligen Lauten anhörte, die aus der Maschine aufstieg. Anscheinend akzeptierte und registrierte das Übersetzungsgerät goreanische Phoneme und suchte dann seine Speicher nach entsprechenden Lautkombinationen ab, die goreanische Begriffseinheiten oder Morpheme ergaben. So waren denn Morpheme – oder linguistische Begriffseinheiten – also solche in der Maschine nicht anzutreffen, zumindest nicht als voll erfaßbare Begriffe. Bei einem menschlichen Übersetzer wird ein empfangener Laut untersucht und morphemisch verstanden, ein Verstehen, das sodann in die neuen Phonemstrukturen umgewandelt wird. Bei der Maschine findet die Korrelation lediglich zwischen Tonstrukturen statt, und das Verstehen wird vom Zuhörer beigesteuert. Gewiß, es setzt ein nicht geringes sprachliches Talent voraus, ein solches Gerät zu entwerfen und zu programmieren. In der Übersetzung hörten wir ein goreanisches Wort, den Namen ›Samos‹. Stößt die Maschine auf ein Phonem oder eine Phonemkombination, die sich nicht mit einer Entsprechung in der neuen Sprache übereinbringen läßt, präsentiert sie die Eingabe als Teil der Sprachausgabe. Würde man dem Gerät zum Beispiel unsinnige Laute ansagen, so kämen diese Laute wie eingegeben zurück, es sei denn, zufällig wäre doch eine sinnvolle Lautfolge getroffen worden.

Die Kreaturen hörten nun also den Namen Samos. Ob oder wie gut sie ihn aussprechen konnten, würde von dem Laut abhängen und ihrer eigenen Stimmanlage. Anders liegt der Fall bei den Namen der beiden Unterhändler, ›Kog‹ und ›Sardak‹. Diese Namen waren in goreanischen Phonemen ausgegeben worden und nicht mit Lauten der Fremdsprache. Das ließ natürlich darauf schließen, daß zumindest diese beiden Namen in das Übersetzungsgerät einprogrammiert worden waren. Samos und ich hätten den wahren Namen der beiden Geschöpfe vermutlich nie aussprechen können, so hatte man uns eine unseren Zungen akzeptable Version geboten.

»Ich bringe euch Grüße«, sagte Samos, »vom Kapitänsrat in Port Kar, Juwel auf dem Schimmernden Thassa.«

Die beiden Geschöpfe zogen die Lippen zurück. Ich lächelte ebenfalls. Samos war wirklich vorsichtig. Was wußte der Kapitänsrat schon von solchen Wesen oder von den Auseinandersetzungen zwischen ganzen Welten? Samos hatte sich nicht als Mitglied jener Streitkräfte zu erkennen gegeben, die gegen den unbändigen Imperialismus unserer zügellosen Gegenüber zu Felde zogen. Ich hatte zwar schon den Priesterkönigen gedient, sah mich aber nicht automatisch in ihrem Lager. In solchen Dingen zumindest war meine Lanze frei. Ich würde mir meine eigenen Kämpfe suchen, eigene Abenteuer.

»Außerdem bringe ich euch Grüße«, fuhr Samos fort, »von den freien Menschen aus Port Kar. Natürlich grüße ich nicht von jenen, die es nicht wert wären, euch zu begrüßen, zum Beispiel unsere Sklaven.«

Kog neigte kurz den Kopf. Ich fand, Samos machte seine Sache gut.

»Ich spreche für die Völker, für die Stahlwelten«, sagte Kog.

»Sprichst du für alle Völker, für alle Stahlwelten?« wollte Samos wissen.

»Ja.«

»Sprichst du für alle Mitglieder der Völker, für alle Lebewesen auf den Stahlwelten?« hakte Samos nach, und ich hielt das für eine sehr interessante Frage, die sich auf das unmerklichste von den vorhergehenden Fragen unterschied. Wir wußten, daß es bei diesen Wesen Meinungsunterschiede gab hinsichtlich der Taktik, wenn nicht gar in bezug auf die anzustrebenden Ziele. Wir hatten dies in der Tahari erfahren müssen.

»Ja«, antwortete Kog, ohne zu zögern.

Als Kog dieses Wort äußerte, beobachtete ich nicht ihn, sondern seinen Begleiter. In dessen Augen aber bemerkte ich kein Zucken des Zweifels oder Unbehagens, seine Ohren blieben still. Allerdings zog er etwas die Lippen zurück und schien sich über meinen Versuch zu amüsieren, sein Verhalten zu deuten.

»Sprichst du für die Priesterkönige?« fragte Kog.

»Das kann ich nicht«, antwortete Samos.

»Interessant.«

»Wenn du mit Priesterkönigen sprechen willst«, bemerkte Samos, »mußt du dich ins Sardargebirge begeben.«

»Was sind Priesterkönige?« fragte Kog.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Samos.

Die Wesen hatten offenbar keine klare Vorstellung von den Priesterkönigen. Sie hatten keine direkten Erfahrungen mit diesen Wesen, kannten nur ihre Macht. Wie gebrannte Tiere machten sie einen Bogen darum. Klugerweise verzichteten die Priesterkönige darauf, die direkte Konfrontation zu suchen. Die zögernde und tastende Taktik der pelzigen Wesen ging sicher weitgehend auf ihre Ahnungslosigkeit und Furcht vor der wahren Natur und Macht jener entrückten und geheimnisvollen Bewohner des Sardargebirges zurück. Sollten sie aber gewahr werden, wie es um die Priesterkönige nach dem katastrophalen Nestkrieg wirklich bestellt war, würden die Stahlwelten gewiß sofort zum Angriff übergehen. Innerhalb weniger Wochen würden die silbernen Schiffe an den Ufern Gors anlegen.

»Wir kennen die Natur der Priesterkönige«, sagte Kog. »Sie sind uns sehr ähnlich.«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Samos.

»Sie müssen es sein«, fuhr Kog fort, »sonst könnten sie keine dominante Lebensform sein.«

»Mag sein, ich weiß es nicht.«

Während dieses Gesprächs hatte das größere der beiden Geschöpfe mich beobachtet. Ich lächelte es an und erhielt ein ärgerliches Ohrenzucken zur Antwort. Im nächsten Moment aber zeigte es sich wieder wie zuvor: königlich, wild, unnahbar, reglos, hellwach.

»Kannst du dann für die Menschen der beiden Welten sprechen?« fragte Kog. Zweifellos meinte er die Erde und Gor.

»Nein«, sagte Samos.

»Aber du bist ein Mensch«, sagte Kog.

»Ich bin nur ein Mensch«, erwiderte Samos.

»Ihre Rasse kennt noch keine Speziesvereinigung«, bemerkte das größere Wesen – Worte, die vom Übersetzungsgerät aufgefangen und übermittelt wurden, als hätten sie mir gegolten.

»Das stimmt«, sagte Kog. Beim Klang dieser Worte fragte ich mich, ob unsere Gegenüber so etwas wie eine Speziesvereinigung kannten. Ich bezweifelte es eher. Solche Wesen waren wie die Menschen territorialistisch, individualistisch und aggressiv veranlagt und konnten die glatten Idealismen von eher vegetativ eingestellten Organismen nicht sehr interessant, attraktiv oder praktisch finden.

Geschöpfe sind sich niemals gleich – auch ist das gar nicht erforderlich. Der Natur mag ein Dschungel ebenso verlockend erscheinen wie ein Garten. Leoparden und Wölfe gehören ebenso in die naturgegebene Ordnung wie Spaniels und Kartoffeln. So glaubte ich nicht, daß die Speziesvereinigung ein Segen sein würde, sondern sah darin eher eine Falle und einen Fluch, eine Krankheit, ein soziales Sanatorium, in dem die Großen und Starken sich den blinzelnden, kriechenden kleinen Wesen anpassen oder zumindest so tun mußten. Natürlich geht es hier auch um Wertvorstellungen, und dazu muß man Entscheidungen fällen. Es ist nur natürlich, daß die Kleinen und Schwachen eine Entscheidung treffen, und die Großen und Starken eine andere. Es gibt keine umfassende Menschheit, kein einziges Hemd, kein allgemeingültiges Paar Schuhe, keine noch so graue Uniform, die allen Menschen paßt. Tausend verschiedene Menschheiten sind möglich. Wer dies abstreitet, sieht über seinen eigenen Horizont nicht hinaus. Wer dies abstreitet, leugnet Unterschiede und würgt damit die besseren Zukunftsentwicklungen ab.

»Es ist bedauerlich«, sagte Sardak zu Kog, »daß sie die Speziesvereinigung noch nicht erlangt haben. Dann fiele es uns nämlich um so leichter, sie in unsere Viehgehege zu treiben, sobald die Priesterkönige ausgeschaltet sind.«

»Stimmt«, sagte Kog.

Soweit ich beurteilen konnte, war Sardaks Äußerung zutreffend. Weitgehend zentralisierte Gesellschaftsformen lassen sich am leichtesten unterwandern und beeinflussen. Wird auch nur eine Faser eines solchen komplizierten Netzes durchschnitten, kann eine ganze Welt zugrunde gehen. Vor langer Zeit eroberten einhundertunddreiundachtzig Männer ein ganzes Imperium.

»Kannst du dann für den Kapitänsrat aus Port Kar sprechen?« fragte Kog.

»Nur in Angelegenheiten, die sich auf Port Kar beziehen, und dann auch nur nach einer Entscheidung des Rates, die nicht ohne Konsultationen fallen kann«, erwiderte Samos. Dies stimmte so im Grund nicht, war im wesentlichen aber zutreffend. Unter den gegebenen Umständen war die Antwort angemessen. Die Geschöpfe wußten natürlich nicht, wie der Kapitänsrat arbeitete.

»Du hast doch aber gewisse Führungsvollmachten, nicht wahr?« erkundigte sich Kog. Ich bewunderte die Geschöpfe. Sie hatten sich gut auf ihre Mission vorbereitet.

»Ja«, erwiderte Samos vorsichtig. »Diese Vollmachten haben aber vermutlich nichts mit Dingen von der Art zu tun, wie sie bei dieser Zusammenkunft zur Sprache kommen werden.«

»Ich verstehe«, sagte Kog. »Für wen sprichst du dann?«

»Ich spreche«, sagte Samos, und ich fand seine Antwort ziemlich kühn, »für Samos aus Port Kar, für mich selbst.«

Kog schaltete das Übersetzungsgerät aus, wandte sich an Sardak und sprach einen Moment mit ihm. Anschließend aktivierte er das Übersetzungsgerät erneut. Diesmal begann das kleine rote Licht sofort zu leuchten.

»Das genügt uns«, sagte Kog.

Samos trat einen Schritt zurück.

Nun wandte sich Kog einer Lederrolle zu und löste mit seinen langen, pelzigen, tentakelähnlichen Fingern den Verschluß.

Vermutlich glaubten die beiden Kreaturen nicht daran, daß Samos wirklich nur für sich allein sprechen konnte. Auf jeden Fall vermuteten sie, daß er verstrickt war in die Angelegenheiten der Priesterkönige. Ihnen blieb also kaum etwas anderes übrig, als mit ihm zu verhandeln.

Aus der langen Lederrolle zog Kog ein Gebilde, das sich auf den ersten Blick wie eine eng zusammengerollte, leicht gegerbte Haut ausmachte. Sie war hell, beinahe hell, und mit Schnüren verschlossen. Ein schwacher rauchiger Duft stieg auf, der vermutlich von dem Rauch des Turlbusches stammte. Häute dieser Art können wasserdicht gemacht werden, indem man sie um ein kleines Holzgestell wickelt und dies über ein kleines Feuer stellt, in das man dann Blätter und Äste des Turl-Busches streut, um den gewünschten Rauch zu erzeugen.

Kog legte die weiche Haut auf den Tisch. Sie war nicht nur einfach an Wind und Sonne getrocknet, sondern durchgegerbt. In ihrer Rohform läßt sich Tierhaut zu Schilden, Truhen und Schnüren verarbeiten. Komplizierter ist es dagegen, eine Haut weich zu gerben: Die abgezogene Haut muß mit Fetten und Ölen gesättigt werden, die im allgemeinen aus der Gehirnmasse von Tieren gewonnen werden. Diese werden fest in die Haut eingerieben, meistens mit einem flachen weichen Stein. Die Haut wird dann mit warmem Wasser benetzt und eng zusammengerollt, woraufhin sie einige Tage lang fortgelegt wird, an einen dunklen, kühlen Ort. Während dieser Zeit dringen die weichmachenden Elemente, die Fette und Öle, voll in das Material ein. Die Haut wird anschließend wieder aufgerollt und im Verlauf einiger Stunden durch Reiben, Kneten und Strecken mit der Hand weichgegerbt. Das Ergebnis ist eine braune bis cremigfarbene Fläche, die sich so einfach wie Stoff bearbeiten und schneiden läßt.

»Du kennst sicher einen gewissen Zarendargar?« fragte Kog.

»Wer ist Zarendargar?« fragte Samos.

»Verschwenden wir hier keine Zeit miteinander«, sagte Kog.

Samos erbleichte.

Insgeheim war ich beunruhigt, daß auf der Plattform vor dem Tarngebäude Wächter warteten. Sie waren mit Armbrüsten bewaffnet. Die Eisenbolzen dieser Waffen, jeweils etwa ein Pfund schwer, drangen auf eine Entfernung von zwanzig Metern noch vier Zoll tief in kompaktes Holz ein. Allerdings mochten Samos und ich schon halb aufgefressen sein, ehe die Männer überhaupt eingreifen konnten.

Kog musterte Samos eindringlich.

»Zarendargar«, sagte Samos, »ist ein bekannter Kommandant der Stahlwelten, ein Kriegsgeneral. Er kam bei der Vernichtung einer Versorgungsanlage in der Arktis ums Leben.«

»Zarendargar lebt«, behauptete Kog.

Diese Äußerung überraschte mich. Ich hielt es nicht für möglich, daß Zarendargar lebte. Die Zerstörung des Komplexes war umfassend gewesen. Ich hatte sie in der arktischen Nacht aus vielen Pasang Entfernung beobachtet. Die Anlage mußte in eine radioaktive Hölle verwandelt worden sein. Selbst das vereiste Meer ringsum hatte zu brodeln und zu wogen begonnen.

»Zarendargar kann nicht mehr leben«, sagte ich und richtete damit zum erstenmal das Wort an die Ungeheuer. Vielleicht hätte ich nichts sagen sollen, doch ich hatte das fragliche Ereignis aus der Nähe verfolgt. Ich hatte die Explosion gesehen. Trotz der Entfernung war ich von dem Licht halb geblendet und Sekunden später, von Detonation, Schockwelle und Hitze beinahe von den Füßen gerissen worden. Die Form, Höhe und Schrecklichkeit der aufsteigenden Wolke würde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. »Nichts hätte dieser Hölle entkommen können«, fuhr ich fort, »geschweige denn dem umliegenden Meer.«

Kog richtete den Blick auf mich.

»Ich war dabei«, fuhr ich fort.

»Das wissen wir«, bemerkte Kog.

»Zarendargar ist tot«, beharrte ich.

Kog entrollte das weiche Leder auf dem Tisch. Er schob es so zurecht, daß Samos und ich einen freien Ausblick darauf hatten. Meine Nackenhaare begannen sich zu sträuben.

»Kennst du so etwas?« wandte sich Kog an Samos.

»Nein«, antwortete dieser.

»Ich habe solche Häute schon gesehen«, sagte ich, »doch nur auf einer anderen Welt. An Orten, die dort Museen genannt werden. So etwas wird heute nicht mehr gefertigt.«

»Kommt dir die Haut alt vor?« fragte Kog. »Verblaßt? Brüchig, rissig, zerschlissen, dünn, zerbrechlich?«

»Nein«, gab ich zurück.

»Schaut euch die Farben an«, fuhr Kog fort. »Erscheinen sie euch alt? Verblaßt?«

»Nein«, sagte ich. »Sie sind frisch und stark.«

»Eine Analyse, die sich auf den Austrocknungsgrad und die molekulare Veränderung bezog, ergab, daß dieses Material und die darauf verteilten Pigmente keine zwei Jahre alt sind. Diese Hypothese wird durch Vergleichsversuche unterstützt, bei denen dieses Leder gegen Muster von bekanntem Alter gesetzt werden, außerdem durch unabhängige historische Beweise, deren Beschaffenheit auf der Hand liegen müßte.«

»Ja«, sagte ich. Mir war bekannt, daß die Kreaturen auf den Stahlwelten über eine fortschrittliche Technologie verfügten. So bezweifelte ich nicht, daß die physikalischen und chemischen Verfahren, die sie anwenden konnten, eine genaue Datierung des Leders und der Farben ermöglichten. Die historischen Beweise würden ebenfalls schlüssig sein. Zwar würde es sich um historische Daten handeln, die nur den anderen zur Verfügung standen und nicht mir. Ich selbst hatte keine Möglichkeit, die angewandten Daten zu überprüfen: Daß die Geschöpfe auf dieser Welt primitive Waffen trugen, war auf ihre Angst vor den Priesterkönigen zurückzuführen. Im Besitz solcher Waffen mochte man sie für Angehörige ihrer Rasse halten, die inzwischen auf Gor heimisch geworden waren, Abkömmlinge von Individuen, die vor langer Zeit auf dem Planeten gestrandet sein mochten. Die Priesterkönige ignorierten diese Ungeheuer weitgehend. Sie durften sich nach Belieben niederlassen und sich sogar nach ihren überlieferten Gesetzen und Gebräuchen richten, vorausgesetzt, sie verstießen nicht gegen Waffengesetze und Technologieeinschränkungen. Die Kreaturen fielen allerdings, sobald sie der Disziplin der Schiffe ledig waren, innerhalb weniger Generationen in die Barbarei zurück. Im großen und ganzen hielten sie sich in Bereichen auf, die nicht von Menschen bewohnt wurden. Die Priesterkönige sorgen für ihre Welt, dennoch liegt ihr Interesse vordringlich unter der Oberfläche Gors, und so kommt es, daß das Leben auf Gor seinen Lauf nimmt, die natürlichen Ökosysteme des Planeten zu erhalten. Sie sind weise, doch zögern selbst sie, genaue und subtile Systeme zu stören, die sich im Lauf von vier Milliarden Jahren entwickelt haben. Wer kann wissen, wo ein vom Weg abgekommenes Molekül in tausend Jahren landet?

Ich betrachtete Kog und Sardak. Geschöpfe ihrer Rasse hatten vor vielen tausend Jahren, so ging das Gerücht, ihre Heimatwelt vernichtet. Nun suchten sie eine neue Heimat. Die Priesterkönige, entrückt, goldhäutig, unaggressiv und tolerant, waren gewissermaßen alles, was die Erde und Gor noch vor den Sardaks und Kogs schützte.

»Diese Haut«, sagte Kog zu Samos, »erzählt eine Geschichte.«

»Ich verstehe«, sagte Samos.

»Es handelt sich um ein Artefakt der roten Wilden«, fuhr Kog fort. »Es stammt von einem der Stämme im Ödland.«

»Ja«, sagte Samos.

Die roten Wilden, wie sie allgemein auf Gor genannt werden, unterscheiden sich rassisch wie auch kulturell von den roten Jägern des Nordens. Im Wuchs sind sie eher schlank und haben längere Gliedmaßen, ihre Töchter bekommen früher die Regel, und die Säuglinge werden ohne den blauen Fleck auf dem Kreuzbein geboren, den die roten Jäger aufweisen. Kulturell gesehen sind sie nomadisch und hängen weitgehend von der pflanzenfressenden Kaiila ab, weitgehend dasselbe Tier, wie es auch in der Tahari gefunden wird, nur ohne die breiten Pfoten, die gut für den weichen Sand geeignet sind, und von den behäbigen, geselligen, jähzornigen Kailiauks, die dreizackige Hörner besitzen. Präzise angemerkt, verfügen einige Stämme nicht über die Kaiila, weil sie das Tier nie zähmen konnten, während einige andere sogar den Tarn gemeistert haben, was sie zu den gefährlichsten Stämmen überhaupt macht.

Obwohl es unter diesen Menschen zahlreiche physische und kulturelle Unterschiede gibt, bezeichnet man sie im allgemeinen kollektiv als rote Wilde. Vermutlich liegt dies daran, daß alles in allem so wenig über sie bekannt ist, und an der Schläue und Rücksichtslosigkeit vieler Stämme. Sie scheinen für die Jagd und den Kampf gegen andere Stämme zu leben, der für sie offenbar so etwas wie ein Sport und eine Religion ist. Interessanterweise stehen die meisten Stämme in ihrem Haß auf die Weißen fest zusammen, ein Haß, der im Notfall sofort alle sonstigen Konflikte und Rivalitäten vergessen läßt. Wenn es darum geht, Weiße anzugreifen, die in ihr Gebiet eingedrungen sind, reiten sogar langjährige Blutfeinde zusammen, um die Kriegslanze auszugraben. Das Zusammenströmen der Stämme vor einem solchen Kampf, Freunde und Feinde, soll ein erhebender Anblick sein. Hierin kommt ein Phänomen zum Ausdruck, das bei diesen Völkern ›Erinnerung‹ genannt wird.

»Die Geschichte beginnt hier«, sagte Kog und deutet auf den Mittelpunkt der Fläche. An diesem Punkt begann eine Serie von Zeichnungen und Piktogrammen, in einer weiten Spirale angeordnet, der man folgen mußte, indem man die Haut langsam drehte. So entwickelte sich die Erzählung Bild für Bild, wie sie erlebt wurde.

»In mancher Beziehung ist diese Geschichte nicht untypisch«, erläuterte Kog. »Die Symbole hier stellen ein Stammeslager dar. Weil nur wenige Behausungen zu sehen sind, handelt es sich um ein Winterlager. Dies ergibt sich auch aus den Punkten, die Schnee darstellen.«

Ich betrachtet die Zeichnungen. Sie waren sehr sorgfältig und bunt ausgeführt. Alles in allem waren sie sehr klein und fein gestaltet und glichen Miniaturen. Der Mann, der die Farbpigmente auf die Lederfläche übertragen hatte, war geduldig und geschickt vorgegangen. Er hatte sich große Mühe gegeben. Den roten Wilden bedeutete die Wahrheit sehr viel.

»Diese wie eine Säge gezackte Linie«, erklärte Kog«, deutete an, daß im Lager Hunger herrscht: das nagende Gefühl im Magen. Dieser Mann, in dem wir den Künstler sehen und den wir Zwei Federn nennen wollen, wegen der beiden Federn neben ihm, legt Skier an und verläßt das Lager. Er nimmt Pfeil und Bogen mit.«

Ich verfolgte, wie Kog langsam das Leder drehte. Die Zeichnungen werden zunächst mit einem spitzen Stock auf dem Leder eingeritzt. Viele erhalten anschließend schwarze Umrisse. Die auf diese Weise entstehenden umschlossenen Flächen werden anschließend eingefärbt. Vorwiegend kommen dabei gelbe, rote, braune und schwarze Pigmente zur Verwendung. Diese werden vorwiegend aus zerstoßener Erde, Ton und zerkochten Wurzeln gewonnen. Blaue Farbe stellt man aus blauem Schlamm, Gantkot und zerkochtem fauligen Holz her. Grüne Schattierungen lassen sich aus verschiedenen Quellen gewinnen: Erde, zerkochtes fauliges Holz, Kupfererz und Algen. Die Pigmente, die im allgemeinen mit heißem Wasser oder Leim angemixt sind, werden mit einem zerkauten Stock oder einer kleinen Bürste oder einem Stift aus porösem Knochen aufgetragen, normalerweise mit dem Schulterblattrand eines Kailiauk oder dem Endstück des Beckenknochens. Beide Knochen enthalten Honigwabenstrukturen, die das glatte Auftragen von Farben ermöglichen.

»Dieser Mann ist zwei Tage lang unterwegs«, sagte Kog und deutete auf zwei gelbe Sonnen am Himmel des Leders. »Am dritten Tag stößt er auf die Fährte eines Kailiauk, der er folgt. Er trinkt geschmolzenen Schnee, den er im Mund behält, bis er sich erwärmt. Er ißt getrocknetes Fleisch. Am dritten Tag macht er sich kein Feuer an. Daraus können wir schließen, daß er sich nun im Land seiner Feinde befindet. Gegen Abend des vierten Tages sichtet er weitere Spuren. Andere Jäger, auf Kaiila reitend, folgen den Kailiauk wie unser Mann. Es ist schwierig, ihre Zahl zu bestimmen, denn sie reiten hintereinander, so daß die Hufabdrücke eines Tiers die der anderen überdecken und auslöschen. Unserem Mann ist das Herz schwer geworden. Soll er zurückkehren? Er weiß nicht, was er tun soll. Er muß die Sache erst einmal überträumen.«

»Es könnte alles nur ein Zufall sein«, meinte Samos.

»Das glaube ich nicht«, meinte Kog.

»Diese Haut«, meinte Samos, »gibt vielleicht nur die verrückten Phantastereien eines unwissenden Wilden wieder. Vielleicht auch nur einen seltsamen Traum.«

»Die Anordnung und Klarheit des Berichts deutet eher auf eine reale Grundlage«, erwiderte Kog,

»Hier wird uns ein Traum geschildert«, beharrte Samos.

»Vielleicht«, räumte Kog ein.

»Solche Menschen unterscheiden nicht so klar zwischen Traum und Wirklichkeit.«

»O doch!« widersprach Kog. »Nur halten sie beides für real.«

»Bitte fahr fort!« bat ich.

»Hier, in seinem Traum«, sagte Kog und deutete auf eine Reihe von Piktogrammen, die einer kleinen Spirale folgten, »sehen wir, daß der Kailiauk den Mann zu einem Mahl einlädt. Vermutlich ein günstiges Vorzeichen. Zu dem Fest in das Haus des Kailiauk aber kommt ein schwarzer Gast. Seine Umrisse sind verwischt, wie du siehst. Der Mann hat Angst. Er spürt große Macht in dem schwarzen Gast. Der Kailiauk beruhigt den Mann, er brauche keine Angst zu haben. Der Mann nimmt aus den Händen des schwarzen Gastes Fleisch entgegen. Es soll sein Verbündeter und Beschützer sein. Er kann es als Medizin einnehmen. Der Mann erwacht. Er hat große Angst vor dieser seltsamen Medizin. Der Traum ist aber sehr stark, und er weiß, daß er nicht darum herumkommt. Von nun an weiß er, daß seine Medizin mit dem geheimnisvollen schwarzen Gast gleichzusetzen ist.«

»Von woher kam nach Auffassung des Mannes diese heilende Medizin?« fragte Samos.

»Gewiß nahm er an, er erhielt sie aus der Medizinwelt«, antwortete Kog.

»Das scheint mir ein interessanter Vorahnungstraum zu sein«, äußerte ich.

»Der Traum ist gewiß vieldeutig«, sagte Samos. »Siehst du? Die Umrisse des schwarzen Gastes sind undeutlich.«

»Das stimmt«, sagte ich. »Trotzdem scheinen seine Größe, seine Schrecklichkeit, seine Macht deutlich zu werden – besonders bei dem Fest.«

»Du bemerkst sicher auch«, fuhr Kog fort, »daß er hinter dem Feuer sitzt. Das ist der Ehrenplatz.«

»Könnte alles nur Zufall sein«, meinte Samos.

»Richtig«, sagte ich. »Trotzdem ist das alles sehr interessant.«

»Natürlich sind auch andere Erklärungen möglich«, fuhr Samos fort. »Vielleicht hat der Mann schon früher einmal solche Dinge gesehen oder von ihnen gehört und sie wieder vergessen.«

»Das erscheint mir durchaus möglich«, sagte ich.

»Aber warum sollte dann der schwarze Gast im Traum erscheinen, in diesem Traum?« wollte Samos wissen.

»Möglicherweise wegen der Not des Mannes, wegen der Gefahr, in der er sich befindet«, vermutete ich. »In einer solchen Situation könnte er sich einen mächtigen Helfer wünschen. Und der Traum könnte einen herbeigerufen haben.«

»Natürlich!« sagte Samos.

»In Anbetracht der Ereignisse des nächsten Tages«, meinte Kog, »erscheinen gewisse andere Erklärungen doch mehr auf der Hand zu liegen. Damit soll natürlich nicht ausgeschlossen sein, daß der Mann in seiner Verzweiflung und Not nicht doch einen mächtigen Verbündeten willkommen geheißen hätte.«

»Worauf willst du hinaus?« fragte ich.

»Daß er schon früher, im Lauf des Tages, Zeichen des Medizinhelfers wahrgenommen hatte, die er aber erst im Traum interpretierte.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Noch plausibler erschiene mir«, warf Kog ein, »daß der schwarze Gast im mondhellen Schnee dem Mann tatsächlich erschien. Der Mann, hungrig, erschöpft, den Traum suchend, zwischen Schlafen und Wachen schwebend, ohne richtig mitzubekommen, was sich da tat, sah ihn. Dann baute er ihn in seinen Traum ein und deutete ihn, so gut er ihn begreifen konnte.«

»Ein interessanter Gedanke«, sagte ich.

»Man muß es doch als unwahrscheinlich bezeichnen«, wandte Samos ein, »daß sich die Wege des Mannes und des Helfers in der weglosen, schneebedeckten Weite des Ödlandes kreuzen würden.«

»Nicht, wenn beide dem Kailiauk gefolgt wären«, meinte Kog.

»Warum soll der Medizinmann den Mann nicht aufgefressen haben?« wollte ich wissen.

»Weil er vielleicht den Kailiauk jagte, nicht den Mann«, antwortete Kog. »Weil er vielleicht Sorge hatte, daß andere Menschen ihn verfolgen und töten würden, wenn er einen Menschen umbrachte.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Außerdem schmeckt Kailiauk besser als ein Mensch«, fügte Kog hinzu. »Ich habe beides schon gegessen.«

»Ah«, sagte ich.

»Wenn der Helfer den Mann besucht hätte«, fragte Samos, »müßte es dann nicht Spuren im Schnee geben?«

»Zweifellos«, sagte Kog.

»Und gab es welche?« wollte Samos wissen.

»Nein«, erwiderte Kog.

»Dann war alles nur ein Traum.«

»Das Fehlen von Spuren würde für den Mann ein Beweis sein, daß der Helfer aus der Medizinwelt kam«, sagte Kog.

»Natürlich«, pflichtete ihm Samos bei.

»Dementsprechend würde der Mann nicht nach Spuren suchen.«

»Du hast also die Hypothese«, vermutete Samos, »daß solche Spuren existierten.«

»Selbstverständlich«, sagte Kog, »die dann in der Nähe des Lagers fortgefegt wurden.«

»Aus der Sicht des Mannes wäre also der schwarze Gast mit der Verstohlenheit und Rätselhaftigkeit eines Besuchers von der Medizinwelt aufgetaucht und wieder verschwunden«, sagte Samos.

»Ja«, äußerte Kog.

»Interessant.«

»Völlig klar ist, wie der Mann die Situation sah«, sagte Kog, »ob er nun recht hatte oder nicht. Auf ähnliche und unbestreitbare Weise klar sind die Ereignisse des nächsten Tages: Sie sind eindeutig dargestellt.« Mit seinen beweglichen sechsgliedrigen langen Fingern drehte er das Leder um ein Viertel und setzte die Geschichte fort.

»Am nächsten Morgen nahm der Mann, beflügelt durch den Traum, seine Jagd wieder auf. Es begann zu schneien.« Ich bemerkte die Punkte zwischen der flachen Ebene der Erde und dem Halbkreis des Himmels. »Durch Schnee und Wind wurden die Spuren verwischt. Trotzdem gab der Mann nicht auf; er kannte die Richtung, die der Kailiauk genommen hatte, und folgte im übrigen den natürlichen Konturen des Landes, so wie es auch ein langsam dahinwanderndes Tier tun mochte, das hier und dort auf der Suche nach Wurzeln oder Gras den Schnee aufwühlte. Er hatte keine Sorge, die Spur zu verlieren. Wegen seines Traums blieb er zuversichtlich. Auf Skiern kam er im Schnee schneller voran als der Kailiauk. Über lange Strecken kam er bei solchem Schnee sogar an das Tempo dahinwatender Kaiila heran. Überdies sind die Kailiauk, wie du weißt, bei Nacht selten unterwegs.«

Bei den fraglichen Kailiauk handelte es sich übrigens um die Gattung, die im Ödland anzutreffen war, ein großes gefährliches Tier, das an den Schultern oft zwanzig, fünfundzwanzig Hand groß ist und bis zu viertausend Pfund wiegen kann. Gejagt wird es nur selten zu Fuß, außer bei tiefem Schnee, der es praktisch hilflos macht. Vom Rücken einer Kaiila dagegen, neben dem angstvoll galoppierenden Tier herreitend, kann ein erfahrener Jäger mit einem einzigen Schuß zum Ziel kommen. Er reitet dicht an das Tier heran, knapp einen Meter von seiner Flanke entfernt, sich außerhalb der Reichweite des Dreizacks haltend. Auf diese Entfernung kann der Armbrustbolzen bis zu den Flugfedern einsinken. Das Ziel ist idealerweise die Höhlung des Unterleibs hinter der letzten Rippe oder ein Punkt dicht hinter dem linken Schulterblatt, wo das achtkammrige Herz getroffen wird.

»Zur Mittagsstunde«, berichtete Kog, der langsam das Leder drehte, »sehen wir, daß das Wetter aufgeklart hat. Der Wind ist schwächer geworden, es hat zu schneien aufgehört. Die Sonne ist hinter den Wolken hervorgekommen. Wir können daraus schließen, daß es ein strahlender Tag ist. Wahrscheinlich ist auch bereits die Temperatur gestiegen. Wie wir sehen können, hat der Mann seinen weitärmeligen Jagdmantel geöffnet und seine Pelzmütze abgesetzt.«

»Bevor ich dieses Leder sah«, sagte Samos, »war mir nicht bekannt, daß die Wilden solche Dinge tragen.«

»Das tun sie«, sagte Kog. »Im Ödland ist der Winter streng, und man jagt nicht in dünner Bekleidung.«

»Hier«, sagte Samos, »legt sich der Mann nieder.«

»Nein, er überquert eine Anhöhe«, berichtete Kog, »und zwar sehr vorsichtig.«

Ich nickte. Es ist nicht ratsam, vor dem Himmel eine Silhouette zu bilden. Aus solchem Winkel ist eine Bewegung nicht schwer auszumachen. Ähnlich sinnvoll ist es, sich ein Terrain zunächst gründlich anzusehen, ehe man es betritt. Diese Arbeit, diene sie nun der Stammeswanderung oder einem Kampfvorstoß, wird im allgemeinen von Kundschaftern getan. Ist ein Mann allein unterwegs, muß er natürlich sein eigener Kundschafter sein. So kommt es vor, daß einsame Reisende oder kleine Gruppen offene Flächen ohne Deckung meiden, soweit das möglich ist. Beim Ritt durch offenes Gelände wird übrigens oft mit einem Trick gearbeitet: Man legt ein Kailiauk-Fell um und beugt sich flach über den Hals seiner Kaiila. Aus der Entfernung, besonders wenn man die Kaiila stillstehen läßt, wird man dann vielleicht für ein einziges Tier gehalten, einen einsamen Kailiauk.

Bei den roten Wilden werden Kundschafter manchmal Sleen genannt. Der Sleen ist Gors tüchtigster und hartnäckigster Fährtensucher. Oft werden sie zur Jagd auf Sklaven eingesetzt. Bei den meisten Stämmen trägt der Kundschafter überdies einen Sleenpelz, der nach Art eines Umhangs mit Kapuze Kopf und Rücken bedeckt. Vielleicht steckt dahinter der Glaube, daß dem Kundschafter auf diese Weise etwas von der Wildheit und Schläue des Sleen vermittelt wird. Einige Kundschafter meinen sich in einen Sleen zu verwandeln, wenn sie das Fell tragen. Dies hat mit den geheimnisvollen Beziehungen zu tun, die ihrer Überzeugung nach zwischen der Welt der Realität und der Medizinwelt bestehen, wonach diese beiden Welten zuweilen aufeinander einwirken und eins werden. Und gewiß: Praktisch gesehen, ist das Fell eine ausgezeichnete Tarnung. So kann man einen Kundschafter, der auf allen vieren hockend über eine Anhöhe schaut, ohne weiteres für einen wilden Sleen halten. Diese Tiere kommen im Ödland relativ häufig vor; sie ernähren sich vorwiegend von Tabuks.

»Und nun schaut!« fuhr Kog fort und drehte das Leder. »Dies sah der Jäger an jenem strahlenden Tau-Morgen.«

»Behauptet er«, sagte Samos.

In der Senke unterhalb der Anhöhe lag ein getöteter Kailiauk, ein dunkler Umriß im Schnee. Und was dahinter hockte, war ebenfalls klar: riesig, wachsam, katzenähnlich, einem Larl gleichend.

»Seht ihr?« fragte Kog.

»Der schwarze Gast«, sagte Samos.

»Ja«, sagte Kog. »Jetzt deutlich dargestellt, in seiner eigenen Gestalt.«

Ich brachte kein Wort heraus.

»Bestimmt hat sich der Künstler alles nur ausgedacht«, sagte Samos.

»Außerdem sind hier fünf Kaiilareiter mit Kaiilalanzen zu sehen. Sie bewegen sich zwischen dem Kailiauk und dem schwarzen Gast und dem Mann.«

»Das sind die anderen Jäger, die dem Kailiauk ebenfalls gefolgt waren«, sagte Samos.

»Ja«, äußerte Kog.

»Seht, wie die leichten Kaiilalanzen von den Berittenen gehalten werden!« sagte Kog.

»Der erste«, antwortete Samos, »hat die Spitze in Angriffsposition gebracht.«

»Dann wird er als erster sterben«, sagte ich.

»Natürlich«, gab Kog zurück.

Einer der anderen Kaiilareiter hielt die Lanze in der rechten Hand, den Schaft auf den Oberschenkel gestützt. Somit war er der zweite Mann, gegen den der Mann antreten mußte. Ein dritter Reiter hielt die Lanze quer vor sich in der linken Armbeuge. Er mußte der dritte Angreifer sein. Die anderen beiden Kaiilareiter trugen die Lanzen noch in ihren Schulterschlingen auf dem Rücken. Sie mochten zuletzt an die Reihe kommen.

»Der Mann nimmt seinen Bogen aus dem perlenbesetzten, befransten Behältnis«, fuhr Kog fort. »Er spannt den Bogen.« Eine solche Waffe wird natürlich ohne gespannte Sehne transportiert, bis sie gebraucht wird. Auf diese Weise bewahrt man die Spannkraft des Holzes und die Stärke und Biegsamkeit der Bogensehne. »Aus seinem Köcher«, fuhr Kog fort, »nimmt er sechs Pfeile. Drei hält er mit dem Bogen in der linken Hand, einen setzt er auf die Sehne, zwei hält er im Mund.«

»Der erste Berittene ist zum Angriff bereit«, sagte Samos.

»Unser Jäger fährt auf seinen Skiern den zwischen ihm und seinen Feinden liegenden Hang hinab«, sagte Kog. »Dabei hält er den Bogen schußbereit.«

Reichweite und Durchschlagskraft des kleinen Bogens sind zwar beträchtlich, man kann sie aber kaum mit denen des Bauernbogens oder Langbogens vergleichen. So versucht der rote Wilde bei jeder Gelegenheit die Chance auf einen Treffer zu erhöhen, indem er die Entfernung zwischen sich und dem Ziel vermindert. Dies paßt im übrigen zu seiner Neigung, den Nahkampf zu verherrlichen.

Bei den meisten Stämmen gehört es zu den ehrenvollsten Kampfzielen, einen Gegner nicht etwa zu töten, sondern ihn mit der offenen Hand zu berühren oder zu schlagen. Je gefährlicher die Umstände dabei im großen und ganzen sind, desto größer der Ruhm. Einen Feind zu töten, zählt in der Heraldik der roten Wilden also weit weniger, als ihn auf andere Weise zu besiegen, am besten auf eine Weise, die größere Geschicklichkeit und größeren Mut unter Beweis stellt. So zählt die Berührung eines bewaffneten Gegners mit der offenen Hand bei den meisten Stämmen als erster Coup. Der zweite und dritte Mann, die eine solche Tat schafften, würden den zweiten und dritten Coup zugesprochen erhalten. Einen Feind mit Pfeil und Bogen aus dem Hinterhalt zu erschießen, galt dagegen wohl nur als fünfter oder sechster Coup.

Es muß hier nicht betont werden, wie wichtig den roten Wilden das Zählen solcher Coups ist, die darüber entscheiden, welche Federn und sonstiger Schmuck ein Krieger tragen darf. Bei vielen Stämmen gibt es darüber hinaus auch praktische Aspekte. Zum Beispiel besteht bei einem Mann, der nicht ständig Coups gesammelt hat, kaum die Chance, innerhalb eines Stammes aufzusteigen oder Anführer oder gar Häuptling zu werden. In vielen Stämmen ist ein Mann, der keine Coups erzielt hat, nicht berechtigt, eine Frau zu nehmen. Bei anderen Stämmen ist dies wohl bei Männern über fünfundzwanzig zulässig, doch darf er seiner Gefährtin das Gesicht nicht anmalen. Damit wird den anderen Frauen ihre Schande klargemacht.

Die Einrichtung des Coupzählens hat mehrere offenkundige Auswirkungen auf die soziale Struktur und Ordnung der roten Wilden. Insbesondere beeinflußt sie, insgesamt gesehen, die gesellschaftlichen Hierarchien zur Aggressivität und kriegerischen Auseinandersetzung. Eigenschaften, die in einer beinahe natürlich zu nennenden Harmonie und Balance gewisse delikate Beziehungen zwischen Nahrungsmengen, Territorien und Bevölkerungszahlen schützen und erhalten. So gesehen, können die Stammeskrieger als ein Beispiel arteigener Aggression gelten, mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen der Dezentralisierung und Auslese verschiedener Bevölkerungsgruppen. Wenn man diese Dinge irgendwie interessant findet, lassen sich das Coupzählen und die Stammesfehden im übrigen als Mittel sehen, Farbe, Spannung und Schwung in das Leben der roten Wilden zu bringen. Sie leben in einer Welt, in der Gefahren nicht unbekannt sind. Gewiß könnten sie anders leben, doch sie haben diese Entscheidung nicht getroffen. Sie leben mit den Sternen und den Weiden und den Kaiila und dem Kailiauk. Sie haben sich nicht dazu überwunden, die rundbäuchigen biertrinkenden Götter der seßhafteren Völker für sich zu übernehmen. Man sollte hier auch nicht vergessen, daß das Coupzählen, statistisch gesehen, dazu führt, daß nur die kräftigeren und gesünderen, die wacheren, intelligenteren Krieger Nachkommen haben. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu gewissen Völkern, bei denen die gesündesten, besten Männer in den Krieg geschickt werden, während die geringwertigen und schwächeren sicher zu Hause bleiben, Geld verdienen und sich vermehren.

Bei den meisten Stämmen wird ein Mann, der sich weigert, auf den Kriegspfad zu gehen, in Frauenkleider gesteckt und künftig nur noch als Frau angesehen und beschäftigt.

Interessanterweise stehen die Weißen außerhalb der Coupstruktur. Anscheinend werden sie insgesamt nicht als würdige Gegner angesehen, als Gegner, der einen Coup bringt. Nicht daß die roten Wilden etwas dagegen hätten, Weiße zu töten. Nur erfüllt es sie im allgemeinen nicht mit Stolz. Ein Mann aus den großen Städten würde auch nicht damit rechnen, geehrt zu werden, nur weil er einen Tarsk oder eine Urt getötet hat. So wird sich der rote Wilde selten Mühe geben, einen Weißen zu töten; er sieht darin meistens keinen großen Nutzen. Er kann sich diese Tat nicht als Coup anrechnen.

»Der Mann befindet sich keine fünfzig Fuß mehr von den berittenen Jägern entfernt«, fuhr Kog fort. »Im weichen Schnee ist er lautlos den Hang herabgeglitten.«

»Gewiß hat ihn der schwarze Gast gesehen, wie wir ihn nennen, das Wesen, das hinter dem Kailiauk hockt.«

»Natürlich«, sagte Kog, »aber er hat mit keinem Zeichen erkennen lassen, daß er etwas bemerkt hat.«

»Mit keinem Zeichen«, sagte ich, »das von den Reitern registriert worden wäre.«

»Ja«, sagte Kog und entblößte kurz die Zähne. Solche Anzeichen gibt es immer. Es ist nur die Frage, ob sie auffallen. Manchmal sind es Winzigkeiten wie das Zusammenziehen einer Pupille.

»Der Bogen ist zurückgezogen«, sagte Kog.

Der kleine Bogen bietet viele Vorteile. Zuerst wäre da die Schnelligkeit zu nennen, mit der Pfeile abgeschossen werden können. In der goreanischen Schwerkraft kann ein geschickter Krieger zehn Pfeile in die Luft schießen, ehe der erste den Boden berührt. Keine andere goreanische Waffe vermag diese Geschwindigkeit zu erreichen. Auf kurze Entfernung kann seine Wirkung vernichtend sein. Zwei weitere Vorteile sollten erwähnt werden: Man kann den kleinen Bogen leicht hin und her bewegen und mühelos verstecken, zum Beispiel unter einem Mantel. Ohne weiteres läßt sich die Waffe von einer Seite der Kaiila auf die andere nehmen. Bei dieser Kampfart ist es übrigens nicht unüblich, daß der Krieger hinter dem Körper seiner dahingaloppierenden Kaiila Deckung sucht, um sich, nachdem er den Feind umkreist hat, plötzlich aufzurichten und über den Rücken des Tieres zu schießen – und manchmal auch unter seinem Hals hindurch. Ein Bein über dem Rücken des Tiers, eine Faust in der Mähne, oder ein durch eine lederne Halsschlaufe geschobener Arm liefern den Halt für solche Taten.

Überhaupt sind die Wilden vorzügliche Reiter. Oft schon ehe es laufen kann, wird ein Kind des Stammes auf den Rücken einer Kaiila gehoben, wobei es sich mit den winzigen Händen in der seidigen Mähne festhält. Manchmal baumelt an der Halsschlaufe ein mehrere Fuß langer Gurt. Er dient zum Zupacken für Krieger, die zu Boden gerissen wurden, um ihr Tier wieder einzufangen oder sich vom Schwung des Galopps mitzerren und nach Möglichkeit wieder auf den Rücken schwingen zu lassen. Dieser Gurt wird übrigens öfter bei der Jagd als im Kampf eingesetzt. Zu leicht ließe er sich von einem zu Fuß kämpfenden Gegner ergreifen, mit der Folge, daß sich die Kaiila nicht mehr frei bewegen könnte oder vielleicht sogar umgerissen würde. Überflüssig anzumerken, daß es äußerst gefährlich ist, bei der Kailiaukjagd vom Kaiilarücken zu fallen, weil eine solche Jagd meistens gegen eine in Panik dahindonnernde Herde geht oder auch gejagte einzelne Tiere plötzlich kampflustig kehrtmachen können.

Bei der Kailiaukjagd zerstreuen sich die Jäger meistens, jeder sucht sich seine eigenen Tiere. Dementsprechend sind selten Stammesgenossen in der Nähe, um Hilfe zu leisten. Darin liegt ein großer Unterschied zu dem Kämpfen mit der Kaiila: Bei solchen Attacken sind Freunde und Verbündete gewöhnlich nahe und bereit, einen Gefallenen aufzulesen oder ihm wieder auf den Rücken seiner Kaiila zu helfen. Der rote Wilde sieht das Kämpfen nicht unter Leistungs- oder Tüchtigkeits-Gesichtspunkten. Lieber rettet er einen Kameraden, als zehn Feinde zu töten. Dies hat mit der Tatsache zu tun, daß alle demselben Stamm angehören und meistens auch derselben Krieger-Gemeinschaft. So kennen sie einander den größten Teil ihres Lebens; als Kinder hatten sie zusammen gespielt und in den Sommerlagern die Kaiila-Herden gemeinsam bewacht, vielleicht waren sie sogar zusammen auf ihre erste Kailiauk-Jagd gegangen. Nun, als Männer, beschreiten sie in Gemeinschaft den Kriegspfad, sie sind Kameraden und Freunde, jeder ist dem anderen wichtiger als tausend Coups.

Hier liegt die Erklärung für manche Absonderlichkeit in den Stammeskriegen. Zwar ziehen Kriegergruppen ziemlich häufig los, aber weniger häufig gegen andere Krieger als um Kaiilas zu stehlen; bei diesem Sport geht es darum, möglichst viele Tiere zu erbeuten, ohne den Gegner überhaupt in einen Kampf zu verwickeln; so ist es zum Beispiel ein toller Coup, eine Kaiila-Leine durchzuschneiden, die am Handgelenk eines schlafenden Gegners befestigt ist, und sich mit dem Tier davonzumachen, ehe er aufwacht; einen schlafenden Feind zu töten, ist dagegen nur ein unbedeutender Coup; wie soll der Betreffende außerdem begreifen, daß er getötet und wie raffiniert er überlistet wurde! Wie schön, sich seine Wut und seinen Kummer beim Erwachen vorzustellen – ist das dem Dieb nicht wichtiger als sein Skalp? Gibt es wirklich einmal Kämpfe, kommt es kaum zu größeren Schlachten. Die typische Kriegshandlung ist der Überfall, meistens von einer kleinen Gruppe unternommen, etwa fünfzehn Kriegern. Sie dringen auf feindliches Gebiet vor, schlagen zu, meistens im Morgengrauen, und verschwinden wieder, beinahe so schnell, wie sie gekommen sind, mit Skalps und Beute; manchmal wird auch die eine oder andere Frau des Gegners mitgenommen; in den meisten Stämmen bedeutet es eine große Ehre, die Frau eines Feindes zu besitzen. Männliche Gefangene werden selten gemacht; wegen der großen Kameradschaft und der sportlichen Aspekte, die mit der Kriegsführung verfolgt werden, weigert sich eine Gruppe roter Krieger im allgemeinen, auch nur einen einzelnen Gegner in felsiges oder Buschgebiet zu verfolgen; das ist einfach zu gefährlich. Auf ähnliche Weise lassen sich die Roten beinahe niemals auf eine kämpferische Konfrontation ein, wenn sie in der Unterzahl sind; oft fliehen sie sogar vor einem offenkundigen Sieg, wenn der Preis dafür ihnen zu hoch erscheint. Manchmal weicht eine große Zahl roter Wilder sogar vor dem überraschenden Angriff einer kleinen Zahl von Gegnern zurück; sie kämpfen lieber unter selbstgewählten Bedingungen und zu einer selbst bestimmten Zeit; außerdem hatten sie vielleicht nicht genug Zeit, ihre Kriegsmedizin vorzubereiten.

»Er kann doch unmöglich damit rechnen, fünf Männer zu besiegen – selbst mit dem kleinen Bogen«, sagte Samos.

»Es erscheint unwahrscheinlich«, räumte ich ein.

»Er glaubt in der Gegenwart des Medizinhelfers zu sein«, sagte Kog. »Er ist unerschrocken.«

»Dreh das Leder!« sagte ich.

Im Licht der offenen Laterne schob die Kreatur das Leder auf dem schweren Tisch herum.

»Der erste berittene Krieger ist hier bereits tot«, sagte er. »Der Mann, der die Lanze in Angriffsstellung hatte. Die Kaiila der anderen sind geflohen.«

Ich nickte. Ich hatte diese Entwicklung befürchtet. Die hochmütige Kaiila, die ein seidenweiches Fell besitzt, ist ein extrem vorsichtiges, nervöses Tier.

»Der zweite Kaiilajäger, der seine Lanze schon bereit hatte, ist von seinem Tier in den Schnee geworfen worden. Somit muß unser Mann sich schleunigst auf den dritten Reiter einstellen, der die Lanze quer vor sich gehalten hatte. Er tötet ihn. Nun tritt der schwarze Gast in Aktion. Er springt über den toten Kailiauk. Er packt den Mann, der in den Schnee gestürzt ist.«

Es war kein schönes Bild.

»Die beiden letzten Jäger, die Lanzen über dem Rücken, ergreifen die Flucht«, fuhr Kog fort. »In einiger Entfernung drehen sie sich um und betrachten den Kailiauk, den schwarzen Gast und den Mann. Das Blut des zweiten Jägers verfärbt die Schnauze des schwarzen Gastes und das zottige Fell seiner Brust. Die beiden überlebenden Jäger ergreifen die Flucht. Nun sind der schwarze Gast und der Mann allein mit dem Kailiauk und den drei reiterlosen Kaiila. Wieder hockt sich der schwarze Gast hinter den Kailiauk. Der Mann steckt Bogen und Pfeile fort. Der schwarze Gast lädt ihn ein, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.«

»Eine interessante Erfindung, diese Geschichte«, sagte Samos.

»Dreh das Leder!« forderte ich Kog auf.

»Der schwarze Gast ist gegangen«, fuhr Kog fort. »Der Mann schneidet sich Fleisch vom Kailiauk ab.«

Wieder drehte Kog die Bildfolge weiter.

»Der Mann kehrt in sein Lager zurück. Und zwar mit drei Kaiila, von denen er eine reitet. Die anderen beiden sind schwer beladen mit Fleisch von dem Kailiauk. Nun wird kein Hunger mehr herrschen in seinem Lager. Mitgebracht hat er außerdem das Fell des Kailiauk, vor sich eingerollt, und drei Skalps. Er wird sich einen Schild daraus machen.«

Wieder drehte Kog das Leder.

»Dies ist der Schild, den er sich fertigen wollte«, sagte er und deutete auf das letzte Bild. Dieses letzte Bild war viel größer als die anderen, etwa sechs oder sieben Zoll hoch.

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Der Schild zeigt in deutlicher Zeichnung das Ebenbild des schwarzen Gastes, des Medizinhelfers.«

»Ja«, sagte ich.

»Erkennst du ihn?« fragte Kog.

»Ja«, sagte ich. »Es ist Zarendargar, Halb-Ohr.«

»Dessen kannst du nicht sicher sein«, meinte Samos.

»Wir glauben auch, daß es sich um Zarendargar handelt, der von manchen Menschen Halb-Ohr genannt wird«, sagte Kog.

»Dann lebt er also!« rief ich.

»Sieht so aus«, meinte Kog.

»Warum hast du uns das Bild gezeigt?« fragte ich.

»Wir erstreben eure Hilfe«, sagte Kog.

»Ihn aus dem Ödland zu retten?« fragte ich.

»Nein, ihn zu töten!« antwortete Kog.

»Das ist unerhört!« sagte Samos. »Diese ganze Geschichte ist doch die reinste Phantasterei!«

»Du wirst bemerken, daß die Geschichte auf dieser Tierhaut entwickelt wurde.«

»Und?« fragte Samos.

»Es handelt sich um eine Kailiaukhaut«, sagte Kog.

»Na und?« wiederholte Samos.

»Die roten Wilden sind für das Überleben auf den Kailiauk angewiesen«, erklärte Kog. »Dieses Tier liefert den größten Teil der Nahrung und andere Dinge zum Leben. Fleisch und Haut, Knochen und Sehnen, davon leben die Roten. Sie gewinnen aus dem Kailiauk nicht nur Nahrung, sondern auch Kleidung und Unterkunft, Werkzeuge und Waffen.«

»Das weiß ich doch!« rief Samos.

»In allen Geschichten und Überlieferungen verehren die Wilden den Kailiauk. Seine Bilder und Relikte spielen eine große Rolle bei ihrer Medizin.«

»Ich weiß.«

»Außerdem glauben sie, daß der Kailiauk sie verlassen würde, wenn sie seiner nicht wert wären. Und sie glauben, daß dies vor langer Zeit schon einmal passiert ist.«

»Und?« fragte Samos.

»Folglich werden diese Leute auf der Haut des Kailiauk keine Lügen erzählen«, sagte Kog. »Dies wäre der letzte Ort in der ganzen Welt, an dem sie lügen würden. Auf die Haut des Kailiauk darf man nur die Wahrheit malen.«

Samos schwieg.

»Beachte außerdem«, fuhr Kog fort, »daß auf dem Schild das Bild des schwarzen Gastes erscheint!«

»Das sehe ich«, sagte Samos.

»Bei den roten Wilden gibt es den Glauben, daß ihr Schild sie nicht mehr schützen wird, wenn sie seiner unwürdig sind oder nicht die Wahrheit sagen. Er würde sich zur Seite bewegen oder die Pfeife und Lanzen der Feinde nicht mehr abhalten. Viele Krieger behaupten, so etwas gesehen zu haben. Die Schilde sind ebenfalls aus Kailiaukleder gemacht, aus der dicken Schwarte im Nacken, wo Haut und Muskulatur besonders ausgeprägt sind, um das Gewicht des Dreizacks zu tragen und die Stöße anderer Dreizacke abzuwehren, besonders bei den Frühlingskämpfen vor der Paarungszeit.«

»Nun gut, dann will ich glauben, daß der Künstler ehrlich gesprochen hat, daß er glaubt, die Wahrheit verkündet zu haben.«

»Soviel ist klar«, sagte Kog.

»Dennoch könnte das Ganze nur die zutreffende Wiedergabe einer Vision oder eines Traumes sein!«

»Der Teil des Leders, der sich auf den Traum oder die Vision bezieht«, sagte Kog, »ist deutlich abgesetzt von den anderen Teilen, die angeblich wirkliche Ereignisse darstellen. Es gibt außerdem keinen Grund zu der Annahme, der Künstler könnte oder würde über die Natur dieser Ereignisse, oder auch nur in ihrer weiteren Bedeutung, im Irrtum begriffen sein.«

»Der schwarze Gast muß nicht Zarendargar sein«, meinte Samos. »Die Ähnlichkeit könnte zufällig sein.«

»Wir halten das nicht für wahrscheinlich«, entgegnete Kog. »Die Entfernungen und Zeiten und die Altersbestimmung der Haut, die Einzelheiten der Darstellungen – alle diese Dinge deuten darauf hin, daß es sich um Zarendargar handelt. Überhaupt würden Angehörige ihrer Rasse oder ihre Nachkommen, die in die Barbarei zurückfallen, sich nur selten in die Einöde verirren. Es gibt dort zu wenig Deckung, und im Sommer ist die Hitze zu groß.«

»Die auf der Haut erzählte Geschichte spielte sich im Winter ab«, sagte Samos.

»Das ist zutreffend«, sagte Kog, »aber dafür gibt es im Ödland kaum Wild. Außerdem ist das Land zu offen, und Fährten lassen sich kaum verbergen. Unsere Artgenossen ziehen es vor, in Wald- oder Berggebieten zu überwintern.«

»Normalerweise suchen sie solchen Schutz«, bestätigte ich.

»Ja«, beharrte Kog.

»Dann nimmst du also an«, fuhr ich fort, »daß Zarendargar sich versteckt.«

»Ja«, erwiderte Kog, »im gefährlichen Ödland, wo wir ihn nicht vermuten.«

»Er weiß, daß man ihn suchen wird?« fragte ich.

»Ja«, sagte Kog, »ihm ist bekannt, daß er versagt hat.«

Ich dachte an die Vernichtung des riesigen Versorgungskomplexes in der goreanischen Arktis.

»Ich bin Zarendargar begegnet«, sagte ich, »und finde es nicht wahrscheinlich, daß er sich verstecken würde.«

»Wie willst du seine Anwesenheit im Ödland anders erklären?« wollte Kog wissen.

»Das kann ich nicht«, sagte ich.

»Wir suchen ihn seit zwei Jahren«, fuhr Kog fort. »Diese Haut ist unsere erste Spur.«

»Wie ist sie in deinen Besitz gelangt?« fragte ich.

»Sie wurde bei einem Tauschgeschäft erworben«, antwortete Kog. »Nach einer gewissen Zeit fielen sie einem unserer Agenten auf, der sie auf die Stahlwelten schickte.«

»So ein Leder scheint mir etwas zu sein, von dem sich der Künstler nicht gerade freiwillig trennen würde«, sagte ich.

»Da kannst du recht haben.«

Ich erschauderte. Zweifellos war der Künstler ermordet worden. Auf dem Tauschweg war der Gegenstand sodann in eine der großen Städte gelangt, vermutlich nach Thentis, der dem Ödland am nächsten liegenden Metropole.

»Wir suchen Zarendargar«, wiederholte Kog. »Wir sind seine offiziell ernannten Henker.«

Trotzdem kam mir die Angelegenheit irgendwie rätselhaft vor, wenngleich ich nicht genau zu sagen vermochte, was mich störte. Zum einen bezweifle ich, daß Zarendargar untergetaucht war. Doch anders ließ sich sein Aufenthalt im Ödland nicht erklären. Außerdem glaubte ich nicht recht, daß der Künstler wirklich tot war. Er schien mir ein fähiger, listiger Krieger zu sein. Andererseits war das Fell offenbar bei einem Tauschgeschäft eingesetzt worden. All die offenen Fragen beunruhigten mich. Ich verstand sie nicht.

»Sein Verbrechen war das Versagen?« fragte ich.

»Versagen wird auf den Stahlwelten nicht geduldet«, gab Kog zur Antwort, »nicht bei einem Wesen, das über den Ringen steht.«

»Sicher ist ihm ein fairer Prozeß gemacht worden«, mutmaßte ich.

»Das Urteil erging im Einklang mit den Statuten der Stahlwelten«, erwiderte Kog, »und zwar durch den hohen Rat, bestehend aus den zweiundsiebzig Mitgliedern, die aus den Vertretern der tausend Klippen ausgewählt worden waren.«

»Der Rest war also Richter und Geschworenenversammlung zugleich?« fragte ich.

»Ja«, sagte Kog, »so wie es auch in euren Städten oft gehandhabt wird.«

»Zarendargar war bei seinem Prozeß nicht anwesend«, gab ich zu bedenken.

»Wenn die Anwesenheit des Verbrechers erforderlich wäre, gäbe es in vielen Fällen keine Möglichkeit, ein Urteil zu sprechen.«

»Das stimmt«, sagte ich.

»Eine solche Einschränkung der juristischen Abläufe ist nicht statthaft.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Wurden denn auch Beweise vorgetragen, die für Zarendargar sprachen?«

»In einem solchen Fall«, entgegnete Kog, »sind Beweise gegen das Gericht nicht zulässig.«

»Aha ... und wer sprach für Zarendargar?«

»Es ist nicht recht, sich für einen Verbrecher einzusetzen.«

»Ich verstehe.«

»Wie du sehen wirst, wurde das Gesetz genau befolgt.«

»Vielen Dank«, sagte ich, »in dieser Angelegenheit bin ich zufriedengestellt.«

Kog zog die Lippen über die scharfen Zähne.

»Aber vielleicht darf ich noch fragen, ob die Entscheidung einstimmig ausgefallen ist.«

»Einstimmigkeit ist ein Hindernis für die Anwendung eines praktischen, wirksamen Rechts«, sagte Kog.

»Fiel das Urteil einstimmig?« fragte ich noch einmal.

»Nein.«

»Fiel es knapp aus?«

»Warum fragst du?«

»Ich bin neugierig.«

»Ja, interessanterweise war es eine knappe Entscheidung.«

»Danke«, sagte ich. Ich hatte gewußt, daß es bei diesen Kreaturen unterschiedliche Gruppierungen gab. Aufgegangen war mir das bereits in der Tahari. Außerdem hatten einige Ratsangehörige, auch wenn sie nicht zu Zarendargar standen, seinen Wert für die Stahlwelten erkannt. Zweifellos war er einer der besten Generäle.

»Es gibt dabei keine Trennung zwischen Gesetzgeber und Justiz.«

»Die Gesetze existieren doch nur, um den herrschenden Mächten zu dienen«, erklärte Kog. »Unsere Institutionen sichern diese Ordnung, erleichtern und bestätigen sie, was nicht das Unwichtigste ist. Somit sind unsere Institutionen weniger unehrlich und heuchlerisch als die Ämter mancher anderer Gruppierung, die unter falschem Vorwand arbeiten und Gesetze schaffen, die keine Waffe sind.«

»Wer garantiert uns, daß ihr beide dazu berufen seid, das Edikt des Rates zu vollstrecken?« fragte ich.

»Zweifelst du am Wort eines Angehörigen der Völker?« gab Kog zurück.

»Im Grunde nicht«, sagte ich. »Ich interessiere mich lediglich für eure Vollmacht.«

»Die du nicht lesen könntest, selbst wenn wir sie dir vorzeigten«, erwiderte das Wesen.

»Damit hast du recht.« Mich erstaunte die Geduld, die diese Geschöpfe an den Tag legten. Normalerweise waren sie schnell erregt, sogar gegenüber Artgenossen. Samos und ich aber waren bisher nicht angegriffen worden. Die beiden schienen ein wirklich dringendes Anliegen zu haben.

»Ich leiste dir einen Schwur auf die Ringe Sardaks«, sagte Kog und legte die Tatze auf die beiden rötlich schimmernden Ringe, die Sardaks linkes Handgelenk umschlossen.

»Das reicht mir völlig«, sagte ich großmütig. Ich hatte natürlich nicht die geringste Vorstellung, welche Bedeutung dieser Geste Kogs beizumessen war, doch unter den gegebenen Umständen mußte sie wohl ziemlich schwerwiegend sein. Mir war klar, daß Sardak Kogs Blut oder Anführer sein mußte. Wenn Kog einen falschen Schwur leistete, so oblag es gewiß dem anderen, ihn zu töten. Sardak rührte sich nicht.

»Zweifellos seid ihr die, als die ihr euch ausgebt«, räumte ich ein.

»Und selbst wenn wir es nicht wären, könnten wir trotzdem Geschäfte machen.«

»Geschäfte?« fragte ich.

»Aber ja doch«, sagte Kog. »Wir sind hier zusammengekommen, um jeder Seite Gewinne zu bringen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Zarendargar ist für die Menschen ein gefährlicher Gegner«, erklärte Kog. »Er ist erwiesenermaßen ein Feind der Kailiauk. Er ist auch euer Feind. Welch Glücksumstand also, daß wir in dieser Angelegenheit unsere Kräfte zusammenlegen können! Es liegt in eurem Interesse, Zarendargar umbringen zu lassen, und wir haben dieselbe Aufgabe. Ich schlage also vor, daß wir uns verbünden, um dieses Ziel zu erreichen.«

»Warum begehrt ihr in dieser Angelegenheit unsere Hilfe?« fragte ich.

»Zarendargar befindet sich im Ödland, einer weitläufigen, gefährlichen Gegend«, sagte Kog. »Dort wimmelt es von rothäutigen Wilden. Für das Eindringen in ein solches Land und die Suche nach Zarendargar erscheint es uns angebracht, die Hilfe von Menschen hinzuzuziehen, Wesen, die die roten Wilden gewissermaßen als Artgenossen ansehen, Wesen, mit denen sie, wenn der Preis stimmt, vielleicht sogar zusammenarbeiten können. Ihr wißt sicher, daß die Wilden hervorragende Spurenleser sind und die Suche vielleicht anregend finden. Außerdem haben sie möglicherweise Interesse daran, ihr Land von einem so gefährlichen Eindringling wie Zarendargar zu befreien.«

»Sie würden ihn wie ein Tier hetzen und töten?« fragte ich.

»Vermutlich«, sagte Kog. »Und ihr könnt euch sicher vorstellen, daß uns bei den Verhandlungen mit den Wilden die Menschen nützen könnten.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Wie lautet eure Antwort?« fragte Kog.

»Nein«, erwiderte ich.

»Ist das euer letztes Wort?«

»Ja«, sagte ich.

Plötzlich brüllten Kog und Sardak los. Der zwischen uns stehende Tisch wurde emporgeschleudert. Samos und ich torkelten erschrocken rückwärts. Die Laterne, die loderndes Öl versprühte, prallte gegen eine Seitenwand des Raumes. »Vorsicht, Samos!« brüllte ich. Schon stand ich mit kampfbereit erhobener Klinge da. Kog zögerte und kerbte mit seinen Klauenfüßen die Dielen ein.

»Wächter!« brüllte Samos. »Wächter!« Die Wand rechts von uns war mit brennendem Öl bedeckt. Die Augen der beiden Kreaturen schimmerten wie Kupfer. Sardak langte zu und riß den riesigen Speer hoch, den Kog abgelegt hatte. »Vorsicht, Samos!« rief ich.

Armbrustbewaffnete Wächter eilten hinter uns in den Raum. Mit einem Wutschrei schleuderte Sardak den schweren Speer. Er verfehlte Samos und durchbohrte vierzig Fuß hinter uns die Wand zur Hälfte. Kog schleuderte den Schild, der wie eine große, flache, konkave Schale zwischen uns durch die Luft wirbelte und unter dem Dach hinter uns einige Bretter losbrach. »Schießt!« rief Samos seinen Leuten zu. »Schießt!«

Mit titanischem Flügelschlag erhoben sich die beiden Tarns, im Sattel die zottigen Geschöpfe tragend, aus den Ruinen des Tarnkäfigs. Der von den mächtigen Flügeln erzeugte Wind ließ mich taumeln und veranlaßte mich, vor dem herumfliegenden Staub die Augen zu schließen. Die Flammen des brennenden Öls an der rechten Wand wurden von dem Luftstrom beinahe waagerecht zur Seite gedrückt, ehe sie sich wieder aufrichteten. Dann blickte ich die beiden Ungeheuer auf ihren Tarns als Silhouetten vor einem der drei goreanischen Monde, über die Sümpfe dahinrasend. »Sie sind geflohen«, sagte Samos.

»Ja«, gab ich zurück. Sie hatten sich zurückgehalten, solange sie dazu in der Lage waren. Welch ungeheure Willensanstrengung steckte dahinter, wußte ich doch, wie wild und ungezügelt sie waren! Ich mußte ihre Leistung um so mehr bewundern, wenn ich an die zahlreichen Provokationen dachte, die ich bewußt ausgesprochen hatte, um die Ernsthaftigkeit ihres Auftrags zu testen und zu ermessen, wie sehr sie auf menschliche Hilfe angewiesen waren.

»Schau dir das an!« sagte einer von Samos’ Männern und löste den mächtigen Speer aus der Wand.

»Und das hier«, sagte ein anderer und hob den schweren Schild.

Samos’ Leute untersuchten Speer und Schild.

»Ihr müßt vergessen, was ihr hier gesehen habt«, sagte Samos.

»Was waren das für Geschöpfe?« fragte ein Mann, der neben mir stand.

»Wir nennen sie Kurii, Ungeheuer«, sagte ich.

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