Etwa gegen drei Uhr nachmittags jenes 29. September 1856 befand sich die Akademie der Wissenschaften zu Lyon mitten in einer ihrer Sitzungen – das heißt im schönsten Schlummer. Zur Entschuldigung der Herren Akademiemitglieder muß allerdings gesagt werden, daß sie seit dem Mittagessen einer gedrängten Zusammenfassung der Arbeiten des geschätzten Doktors Maurice Schwartz de Schwartzhausen ausgesetzt waren, der erschöpfend darüber referierte, daß Spinnen, die ein ausgiebiges Frühstück genossen haben, markantere Abdrücke ihrer linken hinteren Gliedmaßen im Sand hinterlassen als solche, die nicht den Genuß einer kalorienreichen Mahlzeit gehabt haben. Dabei hatte sich keiner der Schläfer der Müdigkeit kampflos überlassen. So hatte einer, bevor er die Ellenbogen auf den Tisch gestützt hatte und ihm der Kopf auf die Hände gesunken war, versucht, mit der Feder das Profil eines römischen Senators auf einen Block zu kritzeln, doch der Schlaf übermannte ihn, als seine gelehrte Hand gerade im Begriff war, die Falten der Toga zu skizzieren; ein anderer hatte aus einem weißen Blatt Papier ein Segelschiff gefaltet, und nun schien die sanfte Brise seines Schnarchens die Segel des Schiffes zu blähen. Allein der Akademiepräsident, den Rücken fest gegen die Lehne seines Stuhles gepreßt, schlief würdevoll und bewahrte, die Hand auf der Glocke, eine imposante Haltung.
Währenddes floß der Redestrom ununterbrochen, und der ehrenwerte Doktor Maurice Schwartz de Schwartzhausen verlor sich in unendlichen Betrachtungen über den Ursprung und die möglichen Konsequenzen seiner Entdeckung. Doch da schlug es drei Uhr, und jedermann erwachte. Der Präsident ergriff sogleich das Wort:
„Meine Herren“, sagte er, „die ersten fünfzehn Kapitel dieses herrlichen Manuskriptes, dessen Problem wir soeben mit soviel Aufmerksamkeit genossen haben, enthalten so neue und tiefgründige Erkenntnisse, daß die Akademie in Würdigung der genialen Leistung von Doktor Schwartz sich glücklich schätzen wird, so glaube ich, in der nächsten Woche der Lektüre der fünfzehn folgenden Kapitel folgen zu dürfen. Bis dahin wird jeder von uns genügend Zeit haben, über diesen einmaligen Forschungsgegenstand gründlicher nachzudenken und dem Autor, wenn angebracht, seine Fragen zu unterbreiten.“
Da Doktor Schwartz mit diesem Vorschlag einverstanden war, beeilte man sich, von etwas anderem zu sprechen.
Nun erhob sich ein kleiner Mann. Er hatte einen Bart, weißes Haar, lebhafte Augen, ein spitzes Kinn, und seine Knochen schienen nur mit Haut überzogen, so abgezehrt und mager war er. Er bat ums Wort, und augenblicklich schwiegen alle, denn er gehörte zu jener Sorte Menschen, denen man wachen Sinnes zuhört und die etwas zu sagen haben.
„Meine Herren“, begann er, „unser ehrenwerter und sehr zu bedauernder Kollege Monsieur Delaroche ist letzten Monat in Suez verstorben, als er im Begriff stand, sich nach Indien einzuschiffen, um im Ghatsgebirge an der Quelle des Godavari nach dem Gurukaramta zu suchen, dem wichtigsten heiligen Buch der Hindus, älter als die Vedaschrift, und das die Eingeborenen bisher vor den Europäern geheimhalten konnten. Dieser aufrechte Mann, dessen alle Freunde der Wissenschaft ewig in Ehrfurcht gedenken werden, hat angesichts seines Todes beschlossen, sein Werk nicht unvollendet zu lassen. Er will demjenigen einhunderttausend Franc zukommen lassen, der sich auf die Suche nach dieser wunderbaren Schrift macht, deren Existenz – will man Äußerungen der Brahmanen Glauben schenken – nicht länger angezweifelt werden kann. Durch sein Testament setzt er Ihre erlauchte Akademie als Vollstrecker seines letzten Willens ein und bittet Sie, einen geeigneten Wissenschaftler mit der Suche nach dem wertvollen Schriftstück zu beauftragen. Diese Wahl wird allerdings mehr als nur eine Schwierigkeit verursachen, denn der Reisende, den unsere Akademie nach Indien schicken will, muß robust sein, um dem Klima zu widerstehen, er muß couragiert sein, um den Zähnen der Tiger, dem Rüssel der Elefanten und den Fallen räuberischer Hindus zu entgehen; und er muß zu guter Letzt listig wie ein Fuchs sein, um den Argwohn der Engländer zu zerstreuen, denn die Königlich-Britisch-Asiatische Gesellschaft in Kalkutta hat bisher ebenfalls, wenn auch vergeblich, Nachforschungen angestellt, und sie dürfte kaum einem Franzosen die Ehre gönnen, das heilige Buch als erster entdeckt zu haben. Darüber hinaus muß dieser Mann Sanskrit, Parsi und alle lebenden und toten Sprachen Indiens beherrschen. Es ist also kein Kinderspiel, und ich schlage deshalb der Akademie vor, für diese Wahl einen Wettbewerb auszuschreiben.“
Was auch auf der Stelle geschah; danach konnte sich endlich jeder zu Tisch begeben.
Einige Zeit später stellten sich eine Unzahl von Bewerbern vor und wetteiferten um die Zustimmung der Akademie; aber der eine war von schwächlicher Konstitution, der andere wußte zuwenig, ein dritter konnte von den orientalischen Sprachen nur Chinesisch und Türkisch oder – man denke – Pidgin-Englisch. Kurz, es vergingen mehrere Monate, ohne daß die Akademie unter den sich vorstellenden Kandidaten eine Wahl hätte treffen können.
Schließlich, es war der 26. Mai 1857, die Akademie tagte wieder einmal vollzählig – was nicht heißen soll, daß sie wiederum schlief –, wurde dem Präsidenten die Karte eines Fremden überbracht, der wünschte, sofort empfangen zu werden.
Auf der Karte standen nur zwei Worte: Kapitän Corcoran. „Corcoran“, sagte der Präsident, „Corcoran? Kennt jemand diesen Namen?“
Natürlich kannte ihn niemand. Aber die gelehrten Herren, die neugierig wie alle gelehrten Herren waren, wollten den Fremden sehen. Und so öffnete sich binnen kurzem die Tür, und auf der Schwelle stand besagter Kapitän Corcoran.
Er war ein großer junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der sich natürlich gab, ohne gezierte Bescheidenheit und Stolz. Sein Gesicht war hell und bartlos. In seinen meergrünen Augen spiegelten sich Freimut und Kühnheit. Bekleidet war er mit einem Umhang aus Kamelhaarwolle, einem roten Hemd und einer weißen Drillichhose. Die beiden Enden seiner auf Matrosenart gebundenen Schleife hingen leger auf seine Brust herab.
„Meine Herren“, sagte er schlicht, „ich habe gehört, daß Sie in Schwierigkeiten sind, und möchte Ihnen deshalb meine Dienste anbieten.“
„In Schwierigkeiten!“ unterbrach ihn der Präsident aufgebracht. „Sie irren, mein Herr! Die Akademie der Wissenschaften zu Lyon ist nie in Schwierigkeiten, jedenfalls nicht mehr als jede andere Akademie auch. Ich würde auch zu gern wissen, was eine wissenschaftliche Gesellschaft in Schwierigkeiten bringen sollte, die unter ihren Mitgliedern – wenn ich das als der Mann, der die Ehre hat, den Vorsitz zu führen, sagen darf – soviel hervorragende Genies, soviel edle Seelen und noble Charaktere…“
Hier wurde der Redner durch starken Beifall unterbrochen.
„Nun, wenn es so ist“, erwiderte Corcoran, „und Sie meine Dienste nicht brauchen, dann habe ich die Ehre, mich zu empfehlen.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt zur Tür.
„He, Monsieur, nicht gar so schnell! Sagen Sie uns wenigstens den Grund Ihres Besuches“, hielt ihn der Präsident zurück.
„Nun ja“, erwiderte Corcoran, „Sie suchen das Gurukaramta, nicht wahr?“
Der Präsident lächelte wohlwollend und ironisch zugleich.
„Und Sie, Monsieur“, sagte er, „wollen es finden?“
„Ja, ich.“
„Sie kennen die testamentarischen Bedingungen von Monsieur Delaroche, unserem klugen und bedauernswerten Kollegen?“
„Ich kenne sie.“
„Sie sprechen englisch?“
„Wie ein Professor aus Oxford.“
„Können Sie uns den Beweis liefern?“
„Yes, Sir“, antwortete Corcoran. „You are a stupid fellow. Möchten Sie weitere Beweise meiner Sprachkenntnis?“
„Nein, nein“, beeilte sich der Präsident zu versichern, der in seinem ganzen Leben die Sprache Shakespeares noch nie gehört hatte, außer im Theater des Palais Royal. „Sehr überzeugend, Monsieur… Und Sie verstehen auch Sanskrit, vermute ich?“
„Falls zufällig einer der Herren einen Band des Bhagavadgita bei sich haben sollte, könnte ich es Ihnen sofort beweisen.“
„Oh, oh“, flötete der Präsident. „Nicht nötig. Und Parsi und Hindi?“
Corcoran hob die Schultern.
„Kinderspiel.“
Und sofort begann er in einer allen unbekannten Sprache eine Rede, die länger als zehn Minuten dauerte. Die Akademiemitglieder betrachteten ihn verblüfft.
„Bei dem Planeten, den Monsieur Le Verrier entdeckt hat!“ meinte der Präsident entzückt. „Ich habe nicht ein Wort verstanden!“
„Nun“, erwiderte Corcoran, „das ist Hindi. Man spricht es unter anderem in Kaschmir, Nepal, im Königreich Lahore, Multan, Audh, Bengalen, Dekan, an der Malabarküste, in Coimbatore, Maisur, Assam, Kornatak, Bihar, Berar, Nagpur, Radschastan, im Pandschab und an der Koromandelküste.“
„Sehr gut, Monsieur! Sehr gut!“ rief der Präsident. „Es bleibt uns nunmehr nur noch eine Frage, die wir an Sie stellen müssen. Entschuldigen Sie meine Indiskretion, aber wir sind durch das Testament unseres bedauernswerten Freundes mit einer so großen Verantwortung betraut, daß wir gern wissen möchten…“
„Gut, gut“, unterbrach ihn Corcoran. „Reden Sie frei von der Leber weg, aber beeilen Sie sich bitte, denn Louison wartet auf mich.“
„Louison!“ erwiderte der Präsident indigniert. „Wer ist diese Person?“
„Eine Freundin, die mich auf all meinen Reisen begleitet.“
Bei diesen Worten hörte man im Nachbarzimmer das Geräusch trippelnder Schritte. Kurz darauf wurde eine Tür mit großem Knall zugeschlagen.
„Was ist das?“ fragte der Präsident.
„Das wird Louison sein, die sich langweilt.“
„Na schön, soll sie warten“, fuhr der Präsident fort. „Unsere Akademie ist, so vermute ich, nicht dazu da, um Madame oder Mademoiselle Louison zu Diensten zu sein.“
„Wie Sie meinen“, sagte Corcoran.
Und indem er sich selbst einen Stuhl griff, da niemand die Höflichkeit besessen hatte, ihm einen anzubieten, setzte er sich bequem zurecht, um den Erklärungen des Akademiepräsidenten zuzuhören.
Nun, der Gelehrte hatte Schwierigkeiten, den Anfang zu finden, denn man hatte vergessen, Wasser und Zucker – die beiden Quellen der Beredsamkeit – auf den Tisch zu stellen. Um dem abzuhelfen, zog er die Klingelschnur. Aber niemand erschien.
Er läutete ein-, zwei-, drei-, fünfmal, doch jedesmal vergeblich.
„Monsieur“, sagte Corcoran, der Erbarmen mit dem Martyrium des Präsidenten zeigte, „läuten Sie nicht mehr. Der Diener wird Ärger mit Louison bekommen und daraufhin den Saal verlassen haben.“
„Mit Louison!“ rief der Präsident erstaunt. „Ist denn diese Person von einem derart abscheulichen Charakter?“
„Nein. Nicht schlechter als andere. Aber man muß sie zu nehmen wissen. Er wird sie beleidigt haben. Sie ist noch sehr jung, da wird sie sicher zornig geworden sein.“
„Sehr jung. Wie alt ist denn Mademoiselle Louison?“
„Etwas über fünf“, entgegnete Corcoran.
„Oh! In diesem Alter erreicht man immer, was man will.“
„Ich weiß nicht. Sie kratzt und beißt mitunter…“
„Aber Monsieur“, sagte der Präsident, „man braucht sie doch nur in ein anderes Zimmer zu schaffen.“
„Das ist schwierig. Louison ist eigensinnig; sie ist nicht gewöhnt, daß man anderer Meinung ist als sie. Sie ist in den Tropen geboren, und dieses mörderisch heiße Klima hat die natürliche Hitze ihres Temperaments noch verstärkt…“
„Hören Sie“, sagte der Präsident, „eine Akademie hat Wichtigeres zu tun, als sich über Mademoiselle Louison den Kopf zu zerbrechen. Ich komme auf unser Problem zurück. Sie sind kerngesund, Monsieur?“
„Ich vermute es“, antwortete Corcoran. „Ich hatte zweimal die Cholera, einmal Gelbfieber und lebe immer noch. Ich habe noch alle meine zweiunddreißig Zähne, und was meine Haare betrifft – überzeugen Sie sich selbst, ob das eine Perücke ist.“
„Schon gut. Ich hoffe, Sie sind kräftig?“
„Pah“, sagte Corcoran. „Zwar nicht ganz so wie mein verstorbener Vater, aber für den Alltag reicht es.“
Dabei blickte er sich um und bemerkte, daß das Fenster mit großen Eisenstäben vergittert war. Mit einer Hand nahm er einen der Stäbe und bog ihn ohne sichtliche Kraftanstrengung zu sich herab, als ob er einen Draht in der Hand hätte.
„Teufel, das ist vielleicht ein kräftiger Bursche!“ rief ein ausnehmend schmächtiges Akademiemitglied bewundernd.
„Na ja“, erwiderte Corcoran bescheiden, „aber so toll ist es nun auch wieder nicht. Wenn Sie mir eine Sechsunddreißigerkanone in die Hand drückten, ich würde mich verpflichten, sie in die Berge von Fourvières zu schleppen.“
Die Bewunderung der Anwesenden begann in Begeisterung umzuschlagen.
„Und“, fuhr der Präsident fort, „wie ich vermute, haben Sie auch schon Pulver gerochen?“
„Ein dutzendmal“, sagte Corcoran. „Nicht der Rede wert. Im Chinesischen Meer und vor Borneo, wissen Sie, da muß ein Handelskapitän immer ein paar Siebzehnpfünder an Bord haben, um sich der Piraten zu erwehren.“
„Sie haben Piraten getötet?“
„Um mein Leben zu verteidigen, jawohl“, antwortete der Seemann, „und zweihundert bis dreihundert werden es wohl gewesen sein. Oh, das habe natürlich nicht ich allein besorgt. Ich für meinen Teil werde vielleicht kaum fünfundzwanzig oder dreißig ins Jenseits geschickt haben. Die übrigen gehen auf das Konto meiner Mannschaft.“
In diesem Moment wurde die Sitzung unterbrochen. Im Nebenzimmer hörte man, wie mehrere Stühle umgeworfen wurden.
„Das ist ja unglaublich!“ schrie der Präsident erbost. „Was ist denn dort nur los!“
„Wie ich Ihnen schon sagte, man darf Louison nicht nervös machen“, entgegnete Corcoran. „Wollen Sie, daß ich sie hierherbringe, um sie zu beruhigen? Sie kann eben nicht lange ohne mich sein, ein rechtes Kind.“
„Monsieur!“ entrüstete sich einer der Herren Akademiemitglieder mit säuerlicher Miene. „Wenn man ein verrotztes Kind bei sich hat, dann wischt man ihm die Nase ab, ein verzogenes weist man zurecht, und ein schreiendes steckt man ins Bett; aber man läßt es nicht im Vorzimmer einer wissenschaftlichen Vereinigung warten!“
„Sie haben keine weiteren Fragen?“ erkundigte sich Corcoran, ohne dem Vorwurf Beachtung zu schenken.
„Pardon! Eine noch, Monsieur“, sagte der Präsident und schob mit dem Zeigefinger der rechten Hand den goldgefaßten Zwicker auf seiner Nase zurecht. „Sind Sie…? Nun, sehen Sie, Sie sind anständig, stark und gesund, das sieht man. Sie haben Bildung, und davon haben Sie uns ein schönes Beispiel gegeben, als Sie Hindi sprachen, obwohl niemand von uns diese Sprache versteht; aber sehen Sie…, sind Sie…, wie soll ich sagen…, schlau und listig? Denn Sie werden sicher Verständnis dafür haben, daß man das sein muß, wenn man zu diesen perfiden und grausamen Völkern reist. Und welches Interesse die Akademie hat, Ihnen die von unserem berühmten Freund Delaroche ausgesetzte Summe zuzuerkennen, welches Interesse sie hat, das hervorragende Gurukaramta, das die Engländer in ganz Indien vergeblich gesucht haben und dessen Schicksal wir in die Hände eines von uns so gewissenhaft ausgesuchten Mannes, wie Sie es sind, legen…“
„Ob ich schlau und listig bin, weiß ich nicht“, unterbrach ihn Corcoran. „Aber ich weiß, daß mein Schädel der eines Bretonen aus Saint-Malo ist, und die Fäuste an meinen Armen sind von etlichem Gewicht, mein Revolver ist ein gutes Fabrikat, und ich kenne niemanden, der je ungestraft Hand an mich gelegt hätte. Nur Feiglinge werden übertölpelt. Wir Corcorans machen unseren Nacken steif, wenn Gefahr im Anzug ist.“
„Mein Gott“, sagte da der Präsident, „was ist das nur für ein entsetzlicher Lärm. Ich vermute, das ist immer noch Mademoiselle Louison, die sich da amüsiert? Gehen Sie, Monsieur, um sie für einen Augenblick zu beruhigen.“
„Hierher, Louison! Hierher!“ rief Corcoran, ohne sich aus seinem Stuhl zu erheben.
Auf diese Aufforderung hin sprangen die beiden Türflügel mit Getöse auf, und ein Königstiger von außerordentlicher Größe und Schönheit schritt herein. Mit einem Satz sprang das Tier über die Köpfe der Herren Akademiemitglieder hinweg und ließ sich zu Füßen von Corcoran nieder.
„Na, Louison, meine Liebe“, sagte der Kapitän. „Du lärmst im Vorzimmer, du bringst die ganze Gesellschaft durcheinander. Das ist höchst unangenehm. Kusch! Wenn du weiter so machst, werde ich dich nirgends mehr mit hinnehmen!“ Diese Drohung schien Louison furchtbar zu erschrecken.
Was auch immer die Drohung Corcorans, sie nirgends mehr mit hinzunehmen, für Eindruck auf Louison gemacht haben mag, die Mitglieder der erlauchten Akademie der Wissenschaften zu Lyon hatten andere Sorgen. Und wenn man bedenkt, daß ihre natürliche Beschäftigung darin bestand, Wissenschaftler zu sein und nicht mit Bengaltigern zu spielen, so wird man ihnen vielleicht ihre menschliche Schwäche verzeihen. Und die bestand darin, daß sie sich als erstes nach der Tür umschauten und sich dann durch sie ins Nebenzimmer stürzten, durch das sie das Vorzimmer zu erreichen hofften, von dem eine Treppe nach unten auf die Straße führte.
Einmal dort angekommen, schien es ihnen nicht weiter schwierig, Terrain zu gewinnen. Und da das Akademiemitglied, das sich am weitesten von seiner Wohnung entfernt befand, nicht mehr als ein bis zwei Meilen zu seinem Domizil zurückzulegen hatte, gab es also große Chancen, sich innerhalb weniger Minuten aus der Gesellschaft Louisons zu entfernen.
Wie lange es auch dem Autor dieser Zeilen scheinen mag, das Ereignis zu Papier zu bringen, der Entschluß zu fliehen wurde jedenfalls mit einer so großen und einmütigen Schnelligkeit – schneller als Akademiemitglieder zu denken pflegen – durchgeführt, daß sich in Bruchteilen von Sekunden alle Akademiemitglieder erhoben hatten und durch die Tür drängten.
Selbst der Präsident, obwohl doch immer der Erste unter Gleichen (er muß schließlich ein Beispiel geben) und obwohl er besonderen Eifer gezeigt hatte, gelangte nur als neunzehnter zu der durch Louisons Anprall zersplitterten Zimmertür.
Doch niemand sah sich imstande, die Türschwelle zu überschreiten. Denn Louison, der es gar nicht gefiel, eingeschlossen zu sein, ahnte ihr Schicksal und wollte nun ihrerseits ebenfalls ins Freie gelangen.
Mit einem Satz übersprang sie zum zweiten Mal die Köpfe der gelehrten Herren und fiel dem ständigen Sekretär, dem es gelungen war, als erster den Raum zu verlassen, direkt vor die Füße. Dieser würdige Herr trat einen Schritt zurück, und er wäre gern noch weiter zurückgewichen, wenn nicht buchstäblich die zahlreichen Füße der ihm auf den Fuß Folgenden ein unüberwindliches Hindernis gebildet hätten.
Jeder wollte natürlich so schnell wie möglich zurückweichen, als man merkte, daß sich Louison von der Nachhut zur Avantgarde begeben hatte, dadurch wurde der ständige Sekretär etwas entlastet. Allein seine Perücke hatte gelitten.
Währenddessen spazierte Louison erleichtert durch das Wartezimmer wie ein junger Leopard auf Jagd. Sie betrachtete die Herren Akademiemitglieder aus lebhaften, schelmischen Augen und schien auf die Anweisungen von Kapitän Corcoran zu warten.
Die Akademiemitglieder waren ratlos. Weggehen war wegen möglicher Launen Louisons nicht ungefährlich. Hierbleiben aber auch. Man stand in Gruppen beisammen, drängte sich in einer Ecke des Sitzungssaals aneinander. Sessel wurde auf Sessel gehäuft, um eine Barrikade zu errichten.
Schließlich äußerte der Präsident, der ein fähiger Mann war, wie man ja schon unschwer aus seinen bisherigen Reden schlußfolgern konnte, energisch die Absicht, daß der Kapitän Corcoran den anwesenden Mitgliedern der ehrenwerten Versammlung nicht nur eine Ehre, sondern auch ein großes Vergnügen bereiten würde, wenn er auf direktestem und kürzestem Wege mit seiner Katze verschwinden könnte.
Obwohl „verschwinden“ nicht gerade die feine Mehrdeutigkeit eines diplomatischen Ausdrucks verriet, war Corcoran kaum darüber beleidigt, wohl wissend, daß es Momente gibt, da man kaum Zeit findet, seine Worte zu wählen.
„Meine Herren“, sagte er, „ich bedaure außerordentlich…“
„Bedauern Sie nicht, Herrgott noch mal, sondern verschwinden Sie!“ schrie der ständige Sekretär. „Ich weiß nicht, was Ihre Louison in meiner Person sieht, aber es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn sie mich anstarrt.“
Tatsächlich war Louison sehr neugierig. In dem Durcheinander war dem Sekretär – ohne daß dieser darauf geachtet hatte – seine Perücke auf die rechte Schulter geglitten, so daß Louison einen kahlen Schädel erblickte, und dieses neue Schauspiel schien sie über alle Maßen zu entzücken.
Wortlos wandte sich Corcoran mit Louison zu der zweiten Tür. Aber diese Tür war von außen verbarrikadiert worden. Corcoran gab ihr mit der Schulter einen Stoß, daß die Tür ächzte, das Mauerwerk erzitterte und das ganze Haus zu wanken schien. Er wollte gerade zu einem zweiten Stoß ansetzen, als ihn der Präsident zurückhielt.
„Es wäre sicherlich nicht zu unserem Wohl, wenn Sie das Haus über unseren Köpfen zusammenstürzen lassen würden.“
„Was tun?“ erwiderte der Kapitän. „Ah! Ich weiß…, wir werden durch das Fenster klettern, Louison und ich.“
Corcoran schwang sich auf das Fensterbrett und schickte sich an, indem er sich an Skulpturen und Mauervorsprüngen festhielt, auf die Straße zu springen.
„He, Kapitän!“ rief da der Präsident. „Wollen Sie uns etwa mit Louison allein lassen? Schaffen Sie uns erst das Tier vom Hals.“
„Ich kann Ihre Sorge verstehen“, antwortete Corcoran. „Aber wenn ich Louison am Hals packe und durch das Fenster werfe, dann wird sie nicht auf mich warten, sondern durch die Straßen laufen – denn sie ist launisch – und vielleicht zehn oder zwölf Leute verschlungen haben, bevor ich ihnen zu Hilfe eilen könnte. Sie kennen ihren Appetit nicht! Und jetzt ist es schon vier Uhr, und sie hat noch nicht zu Mittag gegessen. Denn sie speist immer um ein Uhr zu Mittag, wie die Königin Victoria. Säbel und Kanonenrohr! Sie hat heute noch nicht zu Mittag gegessen. Verfluchter Leichtsinn!“
Bei den Worten „zu Mittag gegessen“ glänzten Louisons Augen vor Vergnügen.
Sie betrachtete ein Akademiemitglied, einen stattlichen, dicken, frischen und rosigen Biedermann, riß zwei-, dreimal das Maul weit auf und schnalzte zufrieden mit der Zunge. Von dem Akademiemitglied wanderte ihr Blick zu Corcoran. Sie schien ihn fragen zu wollen, ob der Zeitpunkt für das Mittagessen jetzt gekommen sei. Das Akademiemitglied bemerkte diesen Blick und erbleichte.
„Nun gut“, meinte Corcoran, „ich bleibe… Und du, meine Liebe“, fügte er hinzu und streichelte Louison, „verhalte dich ruhig. Wenn du heute nicht ißt, dann holst du es eben morgen nach. Man kann nicht immerzu nur ans Fressen denken.“ Bei diesen Worten fauchte Louison leicht.
„Ruhe, meine Dame!“ herrschte sie der Kapitän an und hob die Peitsche. „Ruhig! oder du machst mit der Peitsche Bekanntschaft.“
Waren es die Worte des Kapitäns, oder hatte der Anblick der Peitsche die Tigerin beruhigt? Sie legte sich flach auf den Bauch und rieb ihren schönen Kopf am Bein ihres Freundes, wobei sie wie eine Katze schnurrte.
„Meine Herren“, sagte der Präsident, „ich fordere Sie auf, sich wieder zu setzen. Wenn die Tür verschlossen und verbarrikadiert ist, so ohne Zweifel deshalb, weil der Portier Hilfe herbeiholt. Wappnen wir uns mit Geduld und warten ab, und wenn Sie wollen, können wir auf der Stelle die schöne Arbeit unseres gelehrten Kollegen Monsieur Crochet über den Ursprung und die Wortbildung der Mandschusprache prüfen.“
„Ich glaube“, fiel der ständige Sekretär ein, „daß die ehrenwerte Versammlung sich momentan nicht der Ruhe erfreut, die für wissenschaftliche Untersuchungen förderlich ist, so daß es angemessen wäre, wenn wir die Mandschuangelegenheit auf einen anderen Tag verschieben. Aber wenn es dem Kapitän recht ist, könnte er sich für die Aufregung revanchieren und uns erzählen, weshalb wir uns heute Mademoiselle Louison gegenübersehen…“
„Ja“, unterstützte ihn der Präsident, „Kapitän, erzählen Sie uns Ihre Abenteuer, vor allem die Geschichte Ihrer wilden Begleiterin.“
Corcoran verbeugte sich ehrerbietig und begann seine Schilderung.
„Vielleicht haben Sie, meine Herren, schon einmal etwas von dem berühmten Robert Surcouf aus Saint-Malo gehört. Sein Vater war der leibliche Neffe des Schwagers meines Urgroßvaters. Der berühmte und kluge Yves Quaterquem, heute Mitglied des Institut de Paris, der, wie jeder weiß, die Methode entdeckt hat, Luftschiffe fliegen zu lassen, ist mein Cousin. Mein Großonkel Alain Corcoran, Spitzname ‘Rotbart’, hatte die Ehre, mit dem verstorbenen Vicomte Francois de Chateaubriand, dem berühmten Autor der Atala, dasselbe College zu besuchen und ihm am 23. Juni 1782 während der Pause zwischen halb fünf und fünf Uhr nachmittags seine geballte Faust aufs Auge zu setzen. Sie sehen, meine Herren, ich stamme aus gutem Hause; wir Corcorans können die Stirn hoch tragen und geradewegs in die Sonne blicken.
Über mich gibt es wenig zu erzählen. Ich bin mit der Angel in der Hand geboren worden. In dem Alter, in dem andere Kinder mehr schlecht als recht das Alphabet lernen, bin ich schon mit dem Boot meines Vaters hinausgefahren; und als mein Vater umkam, als er einem in Seenot geratenen Fischkutter zu Hilfe eilen wollte, schiffte ich mich auf dem Schoner Keusche Susanne ein, einem Walfänger aus Saint-Malo, der in der Beringstraße fischte; nach dreijähriger Kreuzfahrt zwischen Nord- und Südpol wechselte ich von der Keuschen Susanne zur Schönen Emilie, von der Schönen Emilie auf den Stolzen Artaban und vom Stolzen Artaban auf den Sturmsohn, eine Brigg, die mit aller verfügbaren Leinwand ihre neunzehn Knoten in der Stunde macht.“
„Monsieur“, unterbrach ihn der ständige Sekretär der Akademie, „Sie hatten uns die Geschichte von Louison versprochen.“
„Nur Geduld“, erwiderte Corcoran, „hier ist sie.“ Aber ein entfernter Trommelwirbel schnitt ihm das Wort ab.
„Was ist denn da nun schon wieder los?“ fuhr der Präsident beunruhigt auf.
„Ich ahne es“, entgegnete Corcoran. „Das wird der verschreckte Portier sein, der die Tür verbarrikadiert hat und bei dem nächstbesten Militärposten um Hilfe gebeten haben wird.“
„Mein Gott“, sagte ein Akademiemitglied, „es wäre besser gewesen, die Tür offenzulassen. Ich jedenfalls werde meine Zeit nicht damit vertun, mir die Geschichte von Louison anzuhören.“
„Achtung!“ rief der Kapitän. „Jetzt wird es ernst. Man läutet zum Angriff.“
Tatsächlich erscholl von dem nächstgelegenen Glockenturm ein aufgeregtes Bimmeln und setzte sich in Windeseile bei allen anderen Türmen der Stadt fort.
„Bomben und Kanonen!“ fluchte der Kapitän lachend. „Die Sache wird ernst; meine arme Louison, ich fürchte, man wird dich belagern wie eine Festung…
Aber um auf meine Geschichte zurückzukommen, meine Herren, es war gegen Ende des Jahres 1853, ich hatte in Saint-Nazaire den Sturmsohn bauen lassen und stand im Begriff, im Hafen von Batavia sieben- oder achthundert Fässer Bordeauxwein zu entladen. Das Geschäft ging gut, ich war zufrieden, zufrieden mit mir, meinem Nächsten, der göttlichen Vorsehung und dem Zustand meiner Geschäfte; deshalb entschloß ich mich eines Tages zu einer Zerstreuung, die man auf dem Meer nicht allzuoft hat: der Tigerjagd.
Sie wissen sicher, meine Herren, daß der Tiger – übrigens das schönste Tier der Schöpfung, nehmen Sie nur Louison – vom Himmel leider mit einem außergewöhnlichen Appetit gesegnet wurde. Er frißt gern Rind, Flußpferd, Rebhuhn, Hase; aber am meisten bevorzugt er den Affen wegen dessen Ähnlichkeit mit dem Menschen und natürlich den Menschen, weil der höher steht als ein Affe. Darüber hinaus ist er ein Feinschmecker, er frißt nicht zweimal vom selben Stück. Wenn zum Beispiel Louison zum Frühmahl eine Schulter des Herrn ständigen Sekretärs verspeist hätte, so würde sie mitnichten zum Abendbrot die andere Schulter anrühren. Sie ist leckermäulig wie die Katze eines Erzbischofs.“
Hier zog der ständige Sekretär eine Grimasse.
„Mein Gott, Monsieur“, fuhr Corcoran fort, „ich weiß wohl, daß Louison unrecht hat, daß beide Schultern gleich gut sind; aber das ist eben ihr Charakter, so was ändert sich nicht mehr.
Nun, ich brach von Batavia aus auf, trug mein Gewehr über der Schulter und hatte riesige Schuhe an den Füßen wie ein Pariser, der in der Ebene von Saint-Denis Hasen jagen will. Mein Schiffseigner, Herr Cornelius van Crittenden, wollte mich von zwei Malaien begleiten lassen, die den Tiger aufspüren und sich statt meiner von ihm fressen lassen sollten, falls er zufällig schneller gewesen wäre als ich. Sie werden sehr wohl verstehen, daß ich, René Corcoran, dessen Urgroßvater der Onkel des Vaters von Robert Surcouf war, bei diesem Vorschlag in lautes Gelächter ausbrach. Entweder man ist aus Saint-Malo, oder man ist es nicht, nicht wahr? Nun, ich bin aus Saint-Malo, und soviel ich weiß, hat man noch nie gehört, daß ein Tiger einen aus Saint-Malo gefressen hätte. Doch das beruht auf Gegenseitigkeit, denn auch in Saint-Malo hat man bei Tisch noch nie einen Tiger vorgesetzt bekommen.
Da ich aber trotzdem Hilfe brauchte, um mein Zelt und meinen Proviant zu transportieren, folgten mir die beiden Malaien mit einem kleinen Karren.
Einige Meilen hinter Batavia stieß ich auf einen Fluß von respektabler Tiefe, der den Affenwald, der etwa so groß wie das Seine-Departement war, allerdings mit mehr fleischfressenden Pflanzen versehen, durchquert. In diesem stockfinsteren Dickicht gab es Löwen, Tiger, Boas constrictor, Panther, Kaimane, kurz, die wildesten Tiere der Schöpfung – ausgenommen den Menschen, denn dieser tötet nie aus Zwang, sondern nur um des Vergnügens willen.
Etwa ab zehn Uhr vormittags wurde die Hitze so unerträglich, daß selbst die Malaien, die ja immerhin an ihr eigenes Klima gewöhnt waren, um ein Einsehen baten und sich im Schatten lagerten. Ich hockte mich, eine Hand am Karabiner, auf unseren Karren, denn ich befürchtete irgendeine Überraschung. Bald war ich eingeschlafen.
Es muß etwa gegen zwei Uhr nachmittags gewesen sein, als ich plötzlich durch ein entsetzliches Geschrei geweckt wurde. Ich kniete mich nieder, entsicherte den Karabiner und erwartete den Feind mit Ungeduld.
Die Schreie kamen von meinen beiden Malaien, die erschreckt herbeigelaufen kamen, um hinter dem Karren Deckung zu suchen.
‘Herr! Herr!’ schrie einer von ihnen, ‘es ist der Gebieter, der sich uns nähert. Nehmt Euch in acht!’
‘Welcher Gebieter?’ fragte ich.
‘Der Herr Gebieter Tiger!’
‘Na fein, er erspart mir die Hälfte des Weges. Habt ihr denn schon etwas von diesem schrecklichen Gebieter gesehen?’
Indem ich das sagte, sprang ich von dem Karren herunter und schritt dem Feind entgegen. Man sah ihn noch nicht, aber man konnte am Erschrecken und der Flucht aller anderen Tiere spüren, daß er näher kam. Die Affen beeilten sich, auf die Bäume zu klettern. Aus sicherer Höhe schnitten sie ihm ihre Grimassen und bewiesen ihren Mut. Die kühnsten versuchten sogar, ihm einige Kokosnüsse auf den Kopf zu werfen. Ich unterschied nur an der Bewegung der geknickten und raschelnden Blätter die Richtung, aus der er sich näherte. Nach und nach kam diese Bewegung immer mehr auf mich zu, und da der Weg kaum breit genug war, um zwei Karren durchzulassen, befürchtete ich, ihn zu spät zu sehen und nicht genügend Zeit zu haben, um ihn vor die Flinte zu bekommen, denn das Blätterdach verbarg ihn vollends.
Da erkannte ich glücklicherweise, daß er ganz in meiner Nähe sein mußte, doch er beachtete mich anscheinend nicht weiter, weil er auf dem Weg zum Fluß war, um seinen Durst zu stillen.
Endlich sah ich ihn, aber nur im Profil. Sein Maul war blutverschmiert, er sah zufrieden aus und watschelte mit weit auseinander gespreizten Beinen wie ein Rentner, der nach einem guten Frühstück auf dem Boulevard des Italiens seine Zigarre spazierenträgt.
Zehn Schritt von mir entfernt schien ihm das trockene Schnappen meines Karabinerhahns einige Unruhe zu verursachen. Er wandte halb den Kopf, nahm mich durch das Gestrüpp, das uns voneinander trennte, wahr, blieb stehen und überlegte.
Ich richtete mein Auge fest auf ihn, aber um ihn mit einem Schuß töten zu können, hätte ich auf die Stirn oder das Herz zielen müssen, und obwohl er sich wie ein Salonlöwe beim Fotografen in Positur gesetzt hatte, verbarg er mir diese Stellen.
Nun, wie dem auch sei, auf jeden Fall ersparte mir die göttliche Vorsehung, daß ich an jenem Tag zu einem bedauernswerten Mörder wurde, denn dieser Tiger – oder vielmehr diese Tigerin – war niemand anders als meine liebe und charmante Freundin Louison, die uns jetzt so aufmerksam zuhört.
Louison hatte soeben gespeist, und das war ein großes Glück für mich – aber auch für sie. Sie dachte nur daran, in Ruhe zu verdauen. Nachdem sie mich einige Sekunden zweideutig angesehen – genau mit demselben Blick, mit dem sie gerade den ständigen Sekretär mustert – hier wechselte der Sekretär den Platz und ließ sich hinter dem Präsidenten nieder –, setzte sie ihren Weg gemächlich fort und wandte sich zum Fluß, der nur einige Schritt von uns entfernt war.
Ich marschierte hinter ihr her, den Karabiner im Anschlag und eine günstige Gelegenheit zum Schuß abwartend.
Aber da geschah die Überraschung. Als ich mich nichtsahnend einem am Flußufer liegenden Baumstamm näherte, sah ich plötzlich, daß dieser Baumstamm Tatzen und eine Hornhaut hatte, die in der Sonne glänzte; die Augen waren geschlossen, der Rachen stand offen.
Es war ein Krokodil, das sich wie ein Sommerfrischler auf dem Sand sonnte und dabei vor sich hin dämmerte. Kein Traum schien diesen stillen Schlummer aufzuregen. Es schnarchte friedlich, wie eben ein Krokodil, das nichts auf dem Kerbholz hat, schnarcht.
Dieser tiefe, friedliche Schlaf, diese gottergebene und selbstvergessene Pose, ich weiß nicht, was noch, vielleicht auch die für weibliche Wesen so typische Eingebung des Teufels schien Louison zu reizen. Ich sah, wie sie ihre Lippen bleckte. Sie lächelte wie ein Schülerbübchen, das seinem Schulmeisterlein einen Streich spielen will.
Lang und behutsam steckte sie ihre Pfote – so lang wie sie war – in den geöffneten Rachen des Krokodils. Sie versuchte doch tatsächlich, sich die Zunge des Schläfers als Dessert einzuverleiben; Louison war eben sehr naschhaft – ein Fehler ihres Geschlechts und ihres Alters.
Aber für ihre Hinterlist wurde sie streng bestraft.
Sie hatte kaum die Zunge des Krokodils berührt, als dessen Rachen zuschnappte. Dafür öffnete es die Augen – große Augen von meergrüner Farbe, die ich noch heute vor mir sehe – und betrachtete Louison mit einem Ausdruck des Staunens, des Zorns und des Schmerzes, der unmöglich zu beschreiben ist.
Louison war in einer mißlichen Lage. Die arme Kleine wand sich wie ein Teufel zwischen den spitzen Zähnen des Krokodils. Glücklicherweise hatte sie sich so kräftig in die Zunge des Krokodils gekrallt, daß das Unglückstier nicht wagte, all seine Kraft anzuwenden und ihr die Pfote abzubeißen; das hätte es sicher getan, wenn sich seine Zunge nicht in den Händen des Feindes befunden hätte.
Bis hierher war der Kampf gleich, und ich wußte nicht, wem ich mehr Glück gönnen sollte, denn schließlich war Louisons Absicht nicht löblich gewesen und ihr Scherz für ihren Gegner ziemlich unangenehm – aber Louison war so schön! Sie bewies soviel Anmut in ihrer Erscheinung, soviel Geschmeidigkeit in ihren Gliedern, soviel Würde in ihren Bewegungen. Sie ähnelte einer jungen Katze, die unter den Augen der Mutter in der Sonne spielt.
Aber zum Teufel! Sie wälzte sich ja schließlich nicht aus Spaß im Sand und stieß Schreie aus, die den Urwald ringsumher erzittern ließen. Die in gebührender Entfernung auf ihren Kokospalmen hockenden Affen beobachteten keckernd diesen schrecklichen Kampf. Die Paviane schnitten Louison Fratzen und äfften – den Daumen an der Nasenspitze und die übrigen Finger abgespreizt – die bekannte Geste der Pariser Gassenjungen nach. Einer von ihnen, der mehr Mut als die anderen zeigte, schwang sich von Ast zu Ast bis etwa sechs oder sieben Fuß über die Erde herab und kraulte ihr, sich mit dem Schwanz an einem Stamm festhaltend, mit den Fingerkuppen die Schnauze. Bei diesem Anblick brachen alle Paviane in lautes Gelächter aus; aber Louison machte eine so energische und drohende Bewegung, daß der junge Pavian, der sie gereizt hatte, den Schwanz einkniff und sich trollte, glücklich darüber, den mörderischen Zähnen seines Feindes entronnen zu sein.
Währenddessen versuchte das Krokodil die arme Tigerin in den Fluß zu ziehen. Sie verdrehte die Augen zum Himmel, als wolle sie ihn um Erbarmen anflehen oder doch wenigstens zum Zeugen ihres Martyriums machen, und senkte sie – zufällig? – wieder auf mich.
Was für schöne Augen! Welche Erhabenheit und hinschmelzende Ergriffenheit in diesem Blick voller Todesangst. Arme Louison!
Im selben Augenblick hatte das Krokodil Louison halb unter Wasser gezogen. Da entschloß ich mich.
Das kochende Wasser des Flusses zeigte Louisons Anstrengungen, sich zu befreien. Ich wartete eine halbe Minute, den Karabiner im Anschlag, den Finger am Abzug, das Auge auf das Ziel fixiert.
Louison, die, wenn Sie so wollen, ein Tier, aber keine Bestie ist, hatte sich in ihrer Verzweiflung mit der freien Pfote an einen echten Baumstamm geklammert, der am Ufer des Flusses lag.
Dieser Reflex rettete ihr Leben.
Sich mit aller Kraft gegen die Absicht des Krokodils sträubend, gelang es ihr, den Kopf über Wasser zu halten und, sich an den Stamm klammernd, der schlimmsten Gefahr – ertränkt zu werden – zu entgehen.
Mit der Zeit mußte auch das Krokodil das Bedürfnis verspüren, Luft zu holen; und so kam es, halb gutwillig, halb gezwungen, mit Louisons Pfote im Rachen an die Oberfläche. Darauf hatte ich gewartet. In Sekundenschnelle war sein Schicksal entschieden. Es ins Visier nehmen, abdrücken, ins linke Auge treffen und das Gehirn hinwegblasen – das alles war eine Sache von zwei Sekunden. Das unglückliche Tier öffnete den Rachen und wollte stöhnen. Es peitschte den Sand und das Wasser mit seinen vier Tatzen und verschied.
Die Tigerin hatte schon – viel schneller, als ich schießen konnte – ihre zerfetzte Pfote aus dem Rachen ihres Feindes gezogen.
Ihre erste Regung, muß ich sagen, war keine Bekundung des Vertrauens oder der Dankbarkeit. Vielleicht meinte sie, von mir mehr befürchten zu müssen als von dem Krokodil. Sie versuchte zunächst zu fliehen. Doch das arme Tier, nur auf drei Pfoten angewiesen, kam nicht sehr weit. Schon nach zehn Schritten hatte ich sie erreicht.
Ich versichere Ihnen, meine Herren, daß ich schon sehr viel Sympathie für sie empfand. Erstens hatte ich ihr einen unschätzbaren Dienst erwiesen, und wie Sie wohl wissen, gewinnt man seine Freunde viel eher durch die Dienste, die man ihnen erweist, als durch jene, die uns von ihnen erwiesen werden. Und zweitens schien sie mir doch einen guten Charakter zu haben, denn der Scherz, den sie sich mit dem Krokodil geleistet hatte, bewies doch eine natürliche Freude am Spiel; und der Spieltrieb, das wissen Sie ja selbst, meine Herren, ist schließlich charakteristisch für ein gutes Herz und ein ruhiges Gewissen.
Und darüber hinaus war ich allein in einem fremden Land, fünftausend Meilen von Saint-Malo entfernt, ohne Freunde, ohne Eltern, ohne Familie. Mir schien, daß die Gesellschaft eines Freundes, der mir das Leben verdankt, selbst wenn dieser Freund vier Pfoten, furchterregende Krallen und schreckliche Zähne hatte, immer noch besser war als nichts.
Hatte ich unrecht?
Nein, meine Herren. Und in der Folgezeit hat es sich wohl bewiesen.
Als ich mich ihr näherte, entdeckte ich, daß sie kaum auf ihren drei Pfoten stehen konnte und sich deshalb schicksalsergeben auf den Rücken legte, um meinen Angriff zu erwarten. Sie fauchte mich an, bleckte die Zähne, zeigte mir ihre Krallen und schien entschlossen, mich zu verschlingen oder doch zumindest ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Aber wir aus Saint-Malo wissen, wie man die wildesten Bestien zähmt.
Ich näherte mich ihr mit einem friedlichen Ausdruck, legte meinen Karabiner griffbereit in den Sand, beugte mich über die Tigerin und streichelte ihr wie einem Kind sanft den Kopf.
Zunächst betrachtete sie mich mißtrauisch, als wolle sie mich prüfen. Aber als sie sah, daß meine Absichten lauter waren, drehte sie sich bäuchlings, leckte sanft meine Hand und streckte mir ihre verletzte Pfote entgegen. Sorgfältig betrachtete ich sie. Der Knochen war heil geblieben; die Zähne des Krokodils waren auch nicht allzu tief ins Fleisch gedrungen, da sich Louison ja in die Zunge ihres Feindes gekrallt hatte.
Sorgfältig wusch ich die Wunde aus. In meiner Jagdtasche steckte ein Fläschchen mit Alkalilauge, wovon ich ihr einige Tropfen auf die Verletzung träufelte. Dann machte ich der Tigerin ein Zeichen, mir zu folgen.
Sei es aus Dankbarkeit, sei es aus dem Wunsch heraus, mit Sachkenntnis verbunden zu werden, sie ließ sich leiten und folgte mir bis zu dem Karren, auf dem die beiden Malaien, die mich begleiteten, vor Angst zu sterben schienen, als sie ihrer ansichtig wurden. Sie fielen förmlich aus dem Wägelchen, und nichts konnte sie bewegen, ihn wieder zu besteigen.
Am folgenden Tag kehrten wir nach Batavia zurück. Cornelius van Crittenden war ziemlich erstaunt, als er mich mit meiner neuen Freundin anrücken sah, der ich sofort den Namen Louison gegeben hatte und die mir durch die Straßen folgte wie ein junger Hund.
Ich blieb acht Tage in Batavia, danach lichtete ich den Anker und nahm die junge Tigerin mit mir, die bis heute meine treue Gefährtin geblieben ist. Eines Nachts hat sie mir sogar in den Gewässern vor Borneo das Leben gerettet.
Meine Brigg wurde drei Meilen vor der Insel Borneo von einer Flaute überrascht. Gegen Mitternacht, als meine Mannschaft, die nur aus zwölf Männern bestand, und ich schlafen gegangen war, stiegen plötzlich etwa hundert malaiische Piraten an Bord und warfen den Bootsmann, der Wache hatte, ins Meer.
Dieser Mord wurde so rasch und lautlos begangen, daß niemand auch nur den geringsten Laut gehört und dem armen Bootsmann zu Hilfe hätte eilen können.
Die Piraten stiegen vom Deck zu meiner Kajüte herab und versuchten deren Tür aufzubrechen. Aber drinnen schlief Louison zu meinen Füßen. Sie war durch den Lärm wach geworden und begann in ihrer unnachahmlichen Art zu fauchen. In zwei Sekunden war ich auf den Beinen, eine Pistole in jeder Hand, mein Entermesser zwischen den Zähnen.
Im selben Augenblick hatten die Piraten die Tür eingeschlagen und waren in meine Kabine gestürzt.
Den ersten erledigte ich mit einem Schlag meines Pistolenknaufs, der zweite fiel durch eine Kugel, den dritten schleuderte Louison zu Boden und tötete ihn durch einen Biß ins Genick, dem vierten spaltete ich mit meinem Entermesser den Schädel. Ich rief meine Matrosen zu Hilfe und versuchte mich zur Brücke durchzuschlagen. Während dieses Kampfes hielt sich Louison prächtig. Mit einem Satz riß sie drei Malaien zu Boden, die mir auf den Fersen waren. Mit einem anderen Satz stürzte sie sich mitten in das Handgemenge. Ihre Bewegungen hatten die furchtbare Wirkung eines Blitzschlages.
In zwei Minuten hatte sie sechs der Piraten getötet. Die Nägel ihrer Krallen dringen wie Degenstiche in das Fleisch der Unglücklichen. Obwohl sie aus drei Wunden blutete, schien sie das kaum zu schwächen; eher stürzte sie sich um so kühner in das Kampfgetümmel und deckte mich mit ihrem Körper.
Endlich erschienen meine Matrosen, mit Revolvern und Eisenstangen bewaffnet. Damit war der Ausgang des Kampfes entschieden. Etwa zwei Dutzend der Piraten warfen wir ins Wasser, die anderen sprangen von selbst hinterher, um schwimmend ihre Dschunken zu erreichen. Wir hatten keinen einzigen Mann verloren, abgesehen von dem Bootsmann, der ganz zu Anfang des Überfalls von ihnen erwürgt worden war.
Seit dieser Nacht, in der Louison mir das Leben gerettet hatte, trennten wir uns niemals mehr. Ich bitte Sie deshalb, die Eigenmächtigkeit zu entschuldigen, meine Tigerin mit hierhergebracht zu haben, meine Herren. Ich hatte sie im Vorzimmer gelassen, aber der Saaldiener wird sie gesehen und es mit der Angst gekriegt haben. Er hat die Tür verbarrikadiert und die Sturmglocke geläutet, um Hilfe herbeizuholen.“
„Das alles ändert nichts daran“, sagte der Präsident mit einem bedauernden Unterton in der Stimme, „daß wir durch Ihren Fehler – oder besser durch den Fehler von Mademoiselle Louison und des Portiers – den ganzen Nachmittag in Gesellschaft eines wilden Tieres verbringen mußten und daß unsere Mahlzeit inzwischen kalt geworden ist.“
Hier wurde – was an diesem denkwürdigen Nachmittag ja nun wirklich nichts Ungewöhnliches mehr war – der Präsident der Wissenschaften zu Lyon wiederum durch einen entsetzlichen Lärm unterbrochen. Trommelwirbel war zu vernehmen, und einige Dutzend Köpfe reckten sich zum Fenster hinaus.
„Gott sei Dank!“ schrie der ständige Sekretär. „Die Nationalgarde rückt an! Wir werden befreit!“
Und tatsächlich füllten etwa dreitausend Personen die umliegenden Straßen und den Platz vor der Akademie. Eine Infanteriekompanie stand mit angelegtem Gewehr dem Akademiegebäude gegenüber. Ein Polizeikommissar, mit einer dreifarbigen Schärpe umgürtet, tauchte auf dem Platz auf, gab den Trommlern ein Zeichen zu schweigen und rief mit schriller Stimme: „Im Namen des Gesetzes, ergebt euch!“
„Herr Kommissar“, schrie der Präsident aus einem der Fenster zurück, „es geht nicht darum, daß wir uns ergeben, sondern daß man uns das Tor öffnet!“
Der Kommissar gab alsdann den Arbeitern, die er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte, ein Zeichen, das Eingangstor von allen Hindernissen zu räumen, die der Saaldiener der Akademie aufeinandergetürmt hatte, um Louison den Weg zu versperren.
Als sein Befehl ausgeführt war, schrie der Offizier, der die Infanteriekompanie befehligte und der zeigen wollte, daß er auch etwas zu sagen hatte:
„Legt das Gewehr – an!“
Und so standen die braven Soldaten, bereit, Louison zu füsilieren, sobald sie sich zeigen würde.
„Meine Herren“, sagte Corcoran zu den Akademiemitgliedern, „Sie können hinausgehen. Wenn Sie in Sicherheit sind, werde auch ich das Gebäude verlassen. Haben Sie keine Angst.“
„Vor allem, Kapitän, keine Unvorsichtigkeiten!“ legte ihm der Präsident ans Herz, indem er ihm die Hand schüttelte und adieu sagte.
Die Akademiemitglieder machten, daß sie hinauskamen. Louison betrachtete sie erstaunt und schien willens, sich an ihre Fährten zu heften, aber Corcoran hielt sie zurück.
Als sie beide allein in dem Gebäude zurückgeblieben waren, hieß Corcoran die Tigerin, ihm in den Sitzungssaal zu folgen. Dort beugte er sich über die Fensterbrüstung, um mit dem Kommissar zu sprechen.
„Herr Kommissar“, rief er hinaus, „ich bin bereit, meine Tigerin friedlich hinauszuführen, wenn man mir verspricht, daß ihr kein Haar gekrümmt wird! Wir werden geradewegs zu meinem Dampfschiff gehen, das auf der Rhone ankert, und ich verspreche Ihnen, Louison in meiner Kabine einzuschließen, so daß sie niemand mehr erschrecken wird.“
„Nein! Nie und nimmer! Tod dem Tiger!“ schrie die Menge, die bei dem Gedanken an eine Tigerjagd schier aus dem Häuschen geriet, vor Begeisterung.
„Verschwinden Sie, Monsieur!“ rief der Kommissar.
Corcoran versuchte es noch einmal, aber nichts konnte den pflichteifrigen Beamten umstimmen.
Also ging der Mann aus Saint-Malo zum Schein auf die Forderung des Kommissars ein. Er beugte sich zu Louison hinab und umarmte sie zärtlich. Man hätte meinen können, er flüstere ihr etwas ins Ohr. „Sind diese Mätzchen bald zu Ende!“ belferte der Offizier.
Corcoran betrachtete ihn mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß.
„Ich bin bereit“, sagte er schließlich, „aber ich bitte Sie, schießen Sie nicht, bevor ich durch das Tor gekommen bin. Ich möchte nicht mitansehen müssen, meinen einzigen Freund vor meinen Augen sterben zu sehen.“
Man fand sein Ersuchen vernünftig, und einige Personen begannen sogar, auf das Schicksal Louisons Wetten abzuschließen. Die Tigerin hatte sich hinter der Saaltür ausgestreckt und beobachtete Corcoran, der die Treppe hinunterschritt. Sie zeigte sich nicht, als würde sie die Gefahr ahnen, die sie bedrohte. Draußen herrschte angespannte Erwartung.
Plötzlich jedoch drehte sich Corcoran, der sich schon hinter dem Infanteriebataillon befand, um und rief dreimal: „Louison! Louison! Louison!“
Bei diesem Ruf erschien Louison am Fenster und sprang mit einem gewaltigen Satz, noch bevor der Offizier den Befehl zum Feuern hätte geben können, über die Köpfe der Soldaten hinweg und schickte sich an, Corcoran mit großen Sätzen zu folgen.
„Schießt! So schießt doch!“ schrie die erschreckte Menge.
Aber der Offizier gab Befehl, die Waffen zu senken. Um den Tiger zu erlegen, hätte man möglicherweise fünfzig Personen töten oder verletzen können. Man gab sich also damit zufrieden, Corcoran und Louison bis zum Hafen zu folgen, wo sich beide auf das Dampfschiff begaben.
Am nächsten Tag erreichte Kapitän Corcoran Marseille und erwartete dort die Instruktionen der Akademie der Wissenschaften zu Lyon. Die Instruktionen, vom ständigen Sekretär selbst zu Papier gebracht, wären es wert gewesen, der Nachwelt erhalten zu bleiben; ein unglückseliger Zwischenfall verpflichtete jedoch den Kapitän später, sie dem Feuer zu übergeben. Es mag vielleicht die Bemerkung genügen, daß sie dieser überaus gelehrten Akademie, die sie verfaßt, und dem berühmten Reisenden, für den sie bestimmt, würdig waren.
Lord Henry Braddock, Generalgouverneur Indiens, an Colonel Barclay, Resident Seiner Majestät am Hofe Holkars, Fürst der Marathen, in Bhagavapur
„Kalkutta, den 1. Januar 1857
Man hat mich von verschiedenen Seiten informiert, daß sich etwas gegen uns zusammenbraut und man Anzeichen eines möglichen Aufstandes bei den Eingeborenen in Lucknow, Patna, Benares, Delhi, bei den Radschputen und sogar bei den Sikhs festgestellt hat.
Wenn sich bei den Marathen ebenfalls Anzeichen einer Revolte bemerkbar machen sollten, wäre ganz Indien innerhalb von drei Wochen im vollsten Aufruhr. Das muß um jeden Preis verhindert werden.
Sie werden sofort nach Erhalt vorliegenden Schreibens Vorsorge treffen, unter irgendeinem Vorwand Holkars Streitkräfte zu entwaffnen und seine Kanonen, seine Gewehre, seine Munition, vor allem aber sein Vermögen in unsere Hände zu überführen. Dadurch wird er außerstande sein, englischen Interessen zu schaden. Sein Vermögen wird in dem Falle ein Faustpfand für uns sein, wenn er trotz gewisser Vorsichtsmaßnahmen einen Verzweiflungsschlag gegen uns planen sollte. Darüber hinaus sind die Schubladen der Kompanie leer, und ein finanzieller Zuschuß käme gerade recht.
Sollte er sich weigern, so wäre das der Beweis für umstürzlerische Pläne, in diesem Fall kann er nicht auf Pardon hoffen. Sie werden sofort die Befehlsgewalt über das dreizehnte, fünfzehnte und einunddreißigste europäische Infanterieregiment übernehmen, das Ihnen Sir William Maxwell, Gouverneur von Bombay, zusammen mit vier oder fünf Regimentern eingeborener Kavallerie und Sepoyinfanterie zur Verfügung stellen wird. Sie werden notfalls Bhagavapur belagern und einige Bedingungen, um die Sie Holkar bittet, ohne großes Aufheben erfüllen.
Das beste wäre, wenn er im Kampf fiele wie Tipu Sahib, denn die Ostindische Kompanie hat zu viele dieser widerspenstigen Vasallen auf dem Hals, und wir wären die Sorge los, diesen Leuten, die uns darüber hinaus bis in alle Ewigkeit verdammen werden, noch eine Pension zu zahlen.
Im übrigen verlasse ich mich auf Ihre Diskretion, aber beeilen Sie sich, denn man fürchtet einen Tumult, und in diesem Fall wäre es besser, den Aufständischen (falls es zu einem Aufstand kommen sollte) vorher ihre Führer und ihre Waffen zu nehmen!
Braddock, Generalgouverneur“
Colonel Barclay, englischer Resident in Bhagavapur, an Fürst Holkar
„Bhagavapur, den 18. Januar 1857
Der Unterzeichner macht es sich zur Pflicht, Seine Hoheit, Fürst Holkar, zu benachrichtigen, daß ihm zu Ohren gekommen ist, obengenannter Fürst habe seinem Premierminister fünfzig (50) Stockschläge verabfolgen lassen, ohne daß dem Unterzeichner eine Aktion seitens des Premierministers bekannt geworden wäre, die eine solche Behandlung rechtfertigte.
Der Unterzeichner muß Seine Hoheit desgleichen davon in Kenntnis setzen, daß des Nachts mehrmals schwer beladene Fuhrwerke in die Festung von Bhagavapur gebracht wurden und daß aufgrund mehrerer Indizien, die weiter zu erläutern der Unterzeichner nicht für notwendig erachtet, Grund zu der Annahme besteht, es handle sich bei besagtem Material um Waffen, Nahrungsmittel und Munition, was unserem Vertrag zuwiderläuft und nur zu allzu gerechtfertigter Sorge der ehrenwerten und allmächtigen Ostindischen Kompanie führen wird.
In Konsequenz dieser Vorfälle und nachdem er diesbezügliche Befehle des Generalgouverneurs erhalten hat, will der Unterzeichner diesmal sein Ohr vor vielleicht allzu gutmeinenden Informanten noch einmal verschließen und sich, um Fürst Holkar eine günstige Gelegenheit zu bieten, sich zu rechtfertigen, für heute damit bescheiden, Seine Hoheit aufzufordern, sämtliche Waffen einschließlich Kanonen und Gewehre und sein gesamtes persönliches Vermögen dem Unterzeichner zu überantworten, der alles nach Kalkutta schicken wird, woselbst es solange im Gewahrsam des Generalgouverneurs bleibt, bis die Unschuld obengenannten Fürsten, an der der Unterzeichner persönlich keinen Zweifel hegt, bewiesen sein wird.
Möge seine Hoheit bis in alle Ewigkeit den wohlwollenden Schutz der sehr ehrenwerten und allmächtigen Ostindischen Kompanie erfahren.
Colonel Barclay“
Fürst Holkar an Colonel Barclay, sogenannter englischer Resident, daselbst
„Der Unterzeichner rechnet es sich als Ehrenpflicht an, Colonel Barclay aufzufordern, unverzüglich Bhagavapur zu verlassen, wenn er nicht auf Befehl des Unterzeichners einen Kopf kürzer gemacht werden möchte.
Holkar“
Colonel Barclay an Lord Henry Braddock, Generalgouverneur
„Mylord, ich habe die Ehre, Eurer Lordschaft eine Kopie des Briefes, den ich gemäß Euren Instruktionen an Fürst Holkar schickte, sowie die Antwort desselben beizulegen.
Desgleichen breche ich unverzüglich nach Bombay auf, wo ich entsprechend der Order Eurer Lordschaft das Kommando über das Armeekorps übernehme, das Holkar zur Vernunft bringen wird.
Mögen Eure Lordschaft den Ausdruck (und so weiter und so fort…)
Colonel Barclay“
Es mochten etwa sechs Wochen seit jenem aufschlußreichen Briefwechsel zwischen den Herren Holkar, Braddock und Barclay, den zu lesen wir eben das Vergnügen hatten, vergangen sein, als Fürst Holkar nachdenklich auf einem Perserteppich im höchsten Turmzimmer seines Palastes saß und melancholisch auf die Bergkette des Vindhyagebirges blickte. Neben ihm kauerte seine einzige Tochter, Sita, die versuchte, im Gesicht des Vaters dessen Gedanken zu lesen.
Holkar war ein edler Greis von noblem indischem Geschlecht, der Nachfahre jener Marathenfürsten, die den Engländern von jeher den Besitz Indiens streitig machten. Durch göttliche Fügung waren seine Vorfahren einer Eroberung durch die Perser und die Mogulkaiser entgangen und hatten hinter ihren Bergen den reinen Glauben an die Lehre Brahmas bewahrt. Holkar selbst konnte sich rühmen, in direkter Linie von dem berühmten Rama, dem bekanntesten der alten Helden – Sieger über den Dämonenfürsten Ravana –, abzustammen. Aus Ehrfurcht vor diesem göttlichen Ursprung hatte er seiner Tochter den Namen Sita gegeben.
Früher hatte er verzweifelt gegen die Engländer gekämpft. Sein Vater war im Krieg gegen sie getötet worden, und er, damals noch jung, hatte das Erbe des alten Fürsten angetreten, allerdings um den Preis, den Engländern tributpflichtig zu sein. Dreißig Jahre hatte er gehofft, sich eines Tages zu rächen, aber sein Bart war weiß geworden, seine beiden Söhne waren ums Leben gekommen, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und er kümmerte sich nunmehr nur noch darum, in Frieden leben zu können und das Fürstentum seiner einzigen Tochter, der schönen Sita, zu überlassen.
Es war gegen fünf Uhr abends. Aus Bhagavapur, der Hauptstadt Holkars, drang keinerlei Lärm bis zu ihnen. Die Wächter waren auf ihrem Posten, die Augen starr auf den Horizont gerichtet. Die Soldaten hatten sich auf ihre Fersen gehockt und spielten wortlos Schach. Einige Offiziere, mit langen Krummsäbeln bewaffnet, ritten durch die Straßen und kontrollierten die Einhaltung der Befehle. Jedermann hüllte sich in Schweigen, sobald er ihrer ansichtig wurde. Eine tödliche Trauer schien von Bhagavapur Besitz ergriffen zu haben. Auch Holkar war niedergeschlagen. Er sah den Sturm kommen. Er wußte seit langem, daß die Engländer ihn stürzen wollten; worum er sich einzig und allein noch sorgte, das war die Zukunft seiner Tochter. Was ihn selbst betraf, so war er bereit, sich dem Willen Brahmas zu beugen und in das Große Sein einzugehen, die Ewige Substanz wiederzufinden, aber er konnte doch Sita nicht ohne Stütze zurücklassen.
„Wie schwer doch der Wille Brahmas zu erfüllen ist“, sagte er schließlich seufzend, indem er auf seine verborgensten Gedanken laut antwortete.
„Mein Vater“, entgegnete die schöne Sita, „worüber sorgt Ihr Euch?“
Vergeblich hätte man zwischen Kap Komorin und dem Himalaja ein anmutigeres junges Mädchen als Sita gesucht. Sie war schlank und gerade gewachsen wie eine Palme, ihre Augen waren wie Lotosblüten. Und dazu war sie gerade ganze fünfzehn Jahre jung; in Indien ist das das Alter der größten Schönheit.
„Verflucht sei der Tag“, sagte Holkar bitter, „an dem ich dich zur Welt kommen sah, dich, die Freude meiner Augen und meine letzte Liebe auf Erden, da ich sterben und dich den Händen dieser rotberockten Barbaren überlassen muß.“
„Aber“, erwiderte Sita, „habt Ihr denn gar keine Hoffnung zu siegen?“
„Selbst wenn ich diese Hoffnung hätte, glaubst du, ich könnte sie meinen Soldaten einflößen? Allein der Anblick dieser unreinen Männer, die unsere heiligen Kühe verschlingen und sich von rohem Fleisch und Blut ernähren, erschreckt unsere Brahmanen. Warum bin ich nicht vor meinem letzten Sohn gestorben? Ich hätte nicht den Untergang all dessen miterleben müssen, was mir auf Erden teuer ist.“
„Ihr vergeßt mich“, sagte Sita und erhob sich, um ihre Arme um den Hals des Greises zu schlingen.
„Ich vergesse dich nicht, meine liebe Tochter, aber ich habe Angst um dich; für deine Brüder fürchtete ich nur den Tod… Ich habe heute die Nachricht erhalten, daß Colonel Barclay mit einer Armee durch das Narbadatal auf Bhagavapur zieht. Er steht sieben Meilen von hier entfernt, das heißt zwei Tagesmärsche, denn diese dickbäuchige Rasse führt so viele Tiere, Proviant, Wagen, Kanonen und Munition jeden Kalibers mit sich, daß sie nicht mehr als zwei oder drei Meilen pro Tag zurücklegt. Leider kann ich sie aber auch bei ihrem Anmarsch nicht in Scharmützel verwickeln, weil ich meiner Armee nicht mehr sicher bin. Ich habe diesen elenden Rao in Verdacht, ein Verräter zu sein. Wenn ich erst einen Beweis dafür habe, wird mir diese Kreatur seinen Verrat teuer bezahlen… Aber“, fuhr er plötzlich erschrocken auf, nachdem er eine Weile den Horizont gemustert hatte, „was bedeutet denn dieser Steamer, den ich hinter der Flußbiegung erblicke? Sollte das schon die Vorhut Barclays sein?“
Im selben Augenblick dröhnte ein Kanonenschuß. Er war von der Festung auf das Schiff abgegeben worden und bedeutete, daß es beidrehen sollte. Die Kugel flog pfeifend über das Schiff hinweg und bohrte sich ins gegenüberliegende Ufer.
Bei diesem Signal hißte der Kapitän des Schiffes die Trikolore und begann unverzüglich mit dem Anlegemanöver. Die erstaunten Hindus versuchten nicht, ihn an diesem Manöver zu hindern, und Kapitän Corcoran (denn er war es) setzte bald darauf seinen Fuß auf indischen Boden und begab sich entschlossen zum Eingang des Palastes. Ein Sergeant und einige Soldaten versuchten ihm den Weg zu versperren, indem sie ihre Spieße vor ihm kreuzten; aber Corcoran, ohne auf ihre Fragen zu antworten (nicht weil er die Sprache des Landes nicht verstand, sondern weil es in diesen Ländern zwecklos ist, sich mit Untergebenen einzulassen) oder ihre drohende Gebärde zu beachten, drehte sich nur leicht um und ließ einen kurzen, schrillen Pfiff ertönen.
Der Pfiff war kaum erklungen, als auch schon die Wachen zu zittern begannen. Doch wurde ihr Zittern nicht etwa durch den Pfiff verursacht, vielmehr durch dessen Folge: Auf dem Schiff zeigte sich ein wunderschöner Tiger und beantwortete den Pfiff mit einem satten, besser gesagt, hungrigen Knurren. „Hierher, Louison!“ rief Corcoran.
Und er pfiff zum zweiten Mal.
Beim zweiten Signal sprang Louison vom Schiff ans Ufer, an dem Corcorans Brigg schon vertäut wurde. Und eine Minute später waren die Offiziere, die Soldaten, die Kanoniere, die Schützen, die Neugierigen, die Männer, die Frauen und die kleinen Kinder nach allen Seiten auseinandergestoben und hatten Corcoran allein auf dem Platz zurückgelassen, ausgenommen den unglücklichen Befehlshaber der Torwache, derselbe, der den Schuß auf das Schiff abgegeben und den unser Freund Corcoran am Schlafittchen gepackt hatte.
„Lassen Sie mich los!“ erboste sich der Hindu und wand sich mit allen Kräften, „lassen Sie mich los, oder ich werde die Garde rufen!“
„Wenn du einen Schritt ohne meine Erlaubnis tust, werde ich dich Louison zum Souper überreichen“, erwiderte Corcoran.
Diese Drohung machte den Offizier gefügsamer und gehorsamer als ein Lamm.
„Ach!“ rief er, „Herr Allmächtiger, dessen Namen ich nicht kenne, halten Sie den Tiger zurück, sonst bin ich ein toter Mann!“
Tatsächlich schlich Louison, die seit langem frisches Fleisch entbehrt hatte, mit ausgehungertem Blick um den Hindu herum. Sie mochte ihn wahrscheinlich recht appetitlich finden, nicht zu jung, nicht zu alt, nicht zu dünn, nicht zu dick, sondern zart, wohlgenährt und im vollen Saft. Glücklicherweise hielt sie Corcoran zurück.
„Welches ist dein Dienstgrad?“ fragte er.
„Leutnant, Herr“, antwortete der Hindu.
„Führ mich in den Palast Holkars.“
„Mit Ihrem…, diesem…?“ fragte der Hindu zögernd und zeigte auf Louison.
„Parbleu!“ erwiderte Corcoran ungehalten. „Glaubst du, daß ich mich meiner Freunde schäme, wenn ich bei Hofe bin?“
O Brahma und Buddha! dachte der arme Hindu. Was für eine verrückte Idee habe ich da nur gehabt, einen Kanonenschuß auf dieses friedliche Schiff abzufeuern? Welchen Grund mag ich wohl gehabt haben, diesen harmlosen Weltenbummler nach seinem Namen zu fragen? O Rama, unsichtbarer Held, leih mir deine Kraft und deinen Mut, damit ich diesen Tiger von meiner Seite vertreibe, oder gib mir lieber deine Schnelligkeit, damit ich meine Beine unter den Arm nehmen und in meinem Haus Unterschlupf finden kann.
„Na, wie steht’s?“ fragte Corcoran. „Bist du mit deinen Überlegungen fertig? Louison wird ungeduldig.“
„Aber Herr“, entgegnete der Hindu, „wenn ich Sie in den Palast von Fürst Holkar führe, mit einem Tiger auf Ihren Fersen – ach, wohl eher auf meinen –, wird Ihnen der Fürst den Kopf abschlagen lassen.“
„Glaubst du?“ meinte Corcoran.
„Ob ich es glaube, Herr! Ob ich es glaube! Fürst Holkar begibt sich nie abends zur Ruhe, ohne nicht vorher fünf oder sechs Personen gepfählt zu haben.“
„Sieh einer an… Dieser Holkar gefällt mir… Ich habe mich entschieden; wir werden sehen, wer von uns beiden den anderen pfählen wird.“
„Aber Herr, er wird sicher mit mir beginnen!“
„Ach was, keine Ausflüchte mehr! Geh voran, oder ich hetze dir Louison auf den Hals.“
Diese Drohung ließ den Mut des Hindus wieder anwachsen. Da er sechs Schritt hinter sich die Krallen und Zähne der Tigerin fast körperlich spürte, war er nicht mehr so sicher, ob ihn Holkar pfählen würde. Im stillen sandte er noch ein letztes Gebet an Brahma, den Vater alles Seienden, und marschierte dann entschlossenen Schrittes durch das Tor des Palastes. Corcoran folgte ihm dichtauf, und Louison strich glücklich um die Beine ihres Herrn.
Dank dieser doppelten Eskorte betrat Corcoran unangefochten den Palast. Jeder ging ihm so weit wie möglich aus dem Weg. Aber als er zu Füßen des Turmes angekommen war, in dem sich Fürst Holkar mit seiner Tochter niedergelassen hatte, weigerte sich der Hindu weiterzugehen.
„Herr“, sagte er, „wenn ich mit Ihnen nach oben steige, ist mein Tod gewiß. Bevor ich auch nur ein einziges Wort zu meiner Rechtfertigung vorbringen könnte, hätte mich Holkar schon geköpft; und Sie selbst, Herr, falls Sie weiter auf diesem tollkühnen Vorhaben bestehen, werden ebenfalls…“
„Schon gut!“ unterbrach ihn Corcoran. „Holkar ist nicht so bösartig, wie man ihn schildert, und ich bin sicher, er wird meine Freundin Louison nicht zurückweisen. Für dich mag das tatsächlich anders sein.“
„Herr“, sagte der Hindu ehrerbietig, „kein Kopf sitzt so gut auf meinen Schultern wie mein eigener, und wenn es diesem großen Fürsten gefällt, ihn abzuschlagen, so kenne ich keine Salbe, die ihn wieder festmachen könnte… Mögen Brahma und Buddha mit Ihnen sein!“
Mit diesen Worten verschwand er.
Corcoran versuchte nicht, ihn zurückzuhalten, sondern stieg unverzüglich die zweihundertsechzig Stufen empor, die zu der Terrasse führten, von der Fürst Holkar schweigend auf das Narbadatal hinabsah.
Louison war ihrem Herren vorausgeeilt und erschien als erste auf der Terrasse.
Bei ihrem Anblick stieß die schöne Sita einen Schrei aus. Fürst Holkar drehte sich blitzschnell um, zog eine Pistole aus seinem Gürtel und gab einen Schuß auf das Tier ab.
Glücklicherweise schlug die Kugel ins Mauerwerk, prallte von dort ab und streifte Corcoran, der dicht hinter seiner Freundin die Terrasse betreten hatte, an der Hand.
„Ihr seid schnell, Fürst Holkar!“ rief der Kapitän, ohne sich weiter um die geringfügige Schramme zu kümmern. „Hierher, Louison!“
Der Ruf kam gerade noch zur rechten Zeit, denn die Tigerin war im Begriff, sich auf ihren Feind zu stürzen und ihn in Stücke zu reißen.
„Hierher, mein Kind!“ rief Corcoran noch einmal. „So ist’s brav. Kusch, zu meinen Füßen! Sehr schön… Und jetzt geh zu der Prinzessin und erweise ihr deinen Respekt…, fürchten Sie nichts, Madame, Louison ist brav wie ein Lamm. Sie will Sie um Verzeihung bitten, weil sie Sie erschreckt hat… Los, Louison, geh, bitte die Prinzessin um Verzeihung!“
Louison gehorchte, schlich zu der Prinzessin und legte sich zu deren Füßen nieder. Sita kraulte sie mit der Hand, was der Tigerin sehr zu gefallen schien.
Währenddessen verhielt sich Holkar noch immer mißtrauisch.
„Wer sind Sie?“ fragte er verärgert. „Wie haben Sie bis hierher vordringen können? Bin ich etwa schon von meinen eigenen Sklaven verraten und den Engländern ausgeliefert worden?“
„Fürst“, erwiderte Corcoran ruhig, „Ihr seid nicht verraten worden, und wenn es etwas gibt, wofür ich Gott überaus dankbar bin – neben dem Glück, daß er aus mir einen Bretonen namens Corcoran gemacht hat –, dann dafür, daß er mich nicht als Engländer hat zur Welt kommen lassen.“
Holkar ergriff, ohne ihm zu antworten, ein kleines silbernes Hämmerchen und schlug damit auf einen Gong.
Niemand erschien.
„Fürst Holkar“, sagte Corcoran lächelnd, „im Palast ist niemand, der Euch hören könnte. Beim Anblick Louisons haben alle die Flucht ergriffen. Aber beruhigt Euch, Louison ist ein wohlerzogenes Mädchen und weiß sich zu benehmen… Und nun, mein Fürst, welchen Verrat fürchtet Ihr?“
„Wenn Sie kein Engländer sind“, erwiderte Holkar, „was sind Sie dann, und woher kommen Sie?“
„Fürst“, sagte Corcoran, „es gibt in diesem riesigen Universum zwei Arten von Menschen oder, wenn Sie so wollen, zwei führende Völker – ohne das Eure vergessen zu wollen –, das sind die Franzosen und die Engländer. Sie sind einander spinnefeind, wie Hund und Katze, wie Tiger und Büffel, wie Panther und Klapperschlange. Es sind zwei gierige Rassen – die eine giert nach Ruhm, die andere nach Geld –, aber beide sind sie gleichermaßen kampflustig und bereit, sich in alle Angelegenheiten einzumischen, in die einzumischen man sie nicht gebeten hat. Ich gehöre zu dem ersteren dieser beiden Völker. Ich bin Kapitän Corcoran…“
„Was?“ rief Holkar erstaunt aus. „Sie sind dieser berühmte Kapitän, der die Brigg Sturmsohn kommandiert?“
„Berühmt oder nicht“, sagte Corcoran, „ich bin jedenfalls dieser Kapitän.“
„Sie sind tatsächlich derjenige“, fragte ihn Holkar, noch immer erstaunt, „der bei Singapur von zweihundert malaiischen Piraten überrascht wurde und nicht mehr als sieben Mann bei sich hatte und dennoch diese Briganten allesamt ins Meer geworfen hat?“
„Das war ich in der Tat“, antwortete Corcoran. „Wo habt Ihr denn diese tolle Geschichte gelesen?“
„In der Bombay-Times. Denn diese verdammten Engländer sind immer als erste informiert, wenn etwas auf dem Ozean passiert; sie haben sogar einige Zeit versucht, aus diesem Corcoran einen Engländer zu machen.“
„Ein Engländer! Ich!“ schrie der Bretone empört.
„Ja, aber die Irreführung hielt nicht lange vor. Man hängte, wie Sie vielleicht erfahren haben, ein Dutzend dieser malaiischen Spitzbuben, aber ein dreizehnter entkam, während man die Gefangenen zum Galgen führte, verschwand in den Straßen von Singapur und verbarg sich dort einige Zeit, bis er eine Gelegenheit fand, sich auf einer chinesischen Dschunke nach Kalkutta einzuschiffen. Und von Kalkutta ist er hierher gekommen, um in meinem Land Unterschlupf zu finden. Er ist ein mohammedanischer Inder. Er hat uns erzählt, bei welchem Abenteuer er einmal auf den berühmten Kapitän Corcoran getroffen ist.“
In diesem Augenblick erschien auf der Schwelle zu der Terrasse ein Sklave. Er war ein ziemlich großer Mann, gut gebaut und für europäische Augen sogar schön, nur seine Glieder waren vielleicht ein bißchen zu mager und zeugten von mehr Schnelligkeit als Kraft. Beim Anblick Corcorans, vor allem aber Louisons, die ein heiseres Fauchen hören ließ, wollte sich der Sklave zur Flucht wenden. Holkar rief ihn zurück.
„Ali“, sagte er.
„Herr?“
„Schau dir diesen Fremden mit dem weißen Gesicht gut an. Kennst du ihn?“
Ali hob zögernd den Blick, aber kaum hatte er Corcoran angeschaut, als er ausrief:
„Herr, das ist er!“
„Wer, er?“
„Der Kapitän! Und das ist sie!“ fügte er hinzu, wobei er auf die Tigerin zeigte. „Herr, liefert mich ihr nicht aus!“
„Ruhig Blut“, sagte Corcoran amüsiert, „Louison und ich sind nicht nachtragend. Geh nur, du hättest gehängt werden sollen und hast es verstanden, deinen Kopf noch rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen, die sich schon um deinen Hals legte. Ich habe nichts mehr gegen dich.“
„Woher rührt nur dieser entsetzliche Lärm in den Straßen von Bhagavapur?“ fragte Holkar den Sklaven. „Was sollen diese Schreie bedeuten, die bis hierher dringen, was diese Gewehrschüsse und der Trommelwirbel?“
„Herr“, erwiderte Ali, „deswegen bin ich so schnell wie möglich zu Euch geeilt, ohne gerufen worden zu sein. Als Kapitän Corcoran den Fuß auf den Kai setzte, hat man geglaubt, es sei ein Abgesandter der Engländer. Euer ehemaliger Minister Rao hat verbreitet, daß Ihr durch einen Pistolenschuß getötet worden seid und daß eine englische Armee zwei Meilen vor der Stadt steht. Er hat einen Teil der Truppen aufgewiegelt und spricht von seinen Rechten auf die Krone.“
„Ah! Dieser Verräter!“ schrie Holkar. „Ich werde ihn pfählen lassen!“
„Unterdessen versichert er dem Volk auf der Straße, daß er die Unterstützung der Engländer habe. Soeben hat er mit dem Sturm auf den Palast begonnen.“
„Haha, hoho“, machte Corcoran. „Die Sache wird interessant!“
Bis hierher hatte die schöne Sita tiefstes Stillschweigen bewahrt; aber als sie die Gefahr ahnte, in der ihr Vater schwebte, lief sie auf Kapitän Corcoran zu und ergriff dessen Hände. „Mein Gott“, hauchte sie, „retten Sie ihn.“
„Parbleu“, erwiderte Corcoran. „Man soll später nicht sagen, ich hätte den Bitten und Tränen so schöner Augen widerstanden… Fürst Holkar, könnt Ihr mir einen Revolver und eine Reitpeitsche geben? Mit diesen beiden Waffen antworte ich auf alles, besonders auf die Fragen des Verräters Rao.“
Ali hastete davon und brachte Revolver und Reitpeitsche. Danach stiegen der Fürst, Corcoran und Ali die Stufen des Turmes hinab, während die schöne Sita für ihre Verteidiger den Schutz Brahmas erflehte.
Eine kleine Anzahl treuer Soldaten schien bereit, den Eingang des Palastes zu verteidigen, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie der Menge weichen würden. Drei putschende Regimenter belagerten den Eingang und ließen aufrührerische Schreie hören. Rao kommandierte sie zu Pferd und stachelte sie an, den Sturm zu beginnen. Von allen Seiten schwirrten Kugeln durch die Luft, und die Rebellen schleppten Kanonen heran, um den Eingang zu beschießen. Corcoran sah, daß keine Minute mehr zu verlieren war.
„Öffnet das Tor!“ befahl er.
Das sichere Auftreten des Kapitäns machte seinen Begleitern Mut. Das Tor wurde geöffnet, und dieser Vorgang verblüffte die meuternden Regimenter, die sich auf eine Belagerung vorbereitet hatten, derart, daß sie instinktiv zurückwichen. Die Schießerei hörte schlagartig auf, und über den Platz breitete sich Schweigen.
Corcoran fragte mit schneidender Stimme:
„Wo ist Rao?“
„Hier bin ich“, erwiderte Rao, der sich, begleitet von seinem Adjutanten, zu Pferde näherte. „Ergibt sich Holkar freiwillig?“
„Teufel auch“, meinte Corcoran, „dieser Kerl ist ja geradezu von dreister Unverschämtheit.“ Und er pfiff leicht. Bei diesem Pfiff tauchte Louison auf.
„Meine Liebe“, sagte Corcoran zu ihr, „pflück mir diese Blume des Bösen von seinem Pferdchen, aber krümm ihm kein Härchen. Nimm ihn sanft zwischen Ober- und Unterkiefer, ohne ihn zu stoßen oder zu zerkratzen, und bring ihn her… Hast du mich verstanden, Liebling?“
Und er zeigte auf Rao.
Dieser bemerkte die Geste und wollte sofort mit seinem Pferd kehrtmachen, leider scheute sein Pferd und keilte aus. Die Pferde der anderen Offiziere zeigten auch nicht mehr Disziplin. Die Offiziere drehten ihren Truppen den Rücken und versuchten, aus dem Durcheinander quer durch die Infanterie zu entkommen, aus Angst, von Louison mit dem Verräter und Anführer Rao verwechselt zu werden.
Dieser wäre gern dem heldenhaften Beispiel seiner Offiziere gefolgt, aber das Schicksal hatte kein Erbarmen mit ihm. Schon hatte ihn Louison aus seinem Sattel gezerrt, ihn wie eine Katze, die eine Maus im Maul hat, gepackt und ihn bald darauf halb ohnmächtig zu Füßen des Kapitäns niedergelegt.
„Fein, mein Kind“, sagte der Kapitän zufrieden, „ich werde dir Zucker zum Nachtisch geben. Ali, entwaffne den alten Spitzbuben und bewache ihn, während ich mit diesen verblendeten Aufrührern sprechen werde.“
Darauf näherte er sich, die Reitpeitsche in der Hand, bis auf fünf Schritt der ersten Reihe der aufständischen Soldaten, deren Gewehre angelegt und zum Feuern bereit waren.
„Ist jemand unter euch, der gehängt werden möchte?“ rief er. „Oder gepfählt oder enthauptet oder lebendig gehäutet oder Louison vorgeworfen… Keine Freiwilligen?“
Der Schreck war tatsächlich allen in die Glieder gefahren. Allein der Anblick des Kapitäns, der vom Himmel gefallen zu sein schien, verwirrte die abergläubischen Inder. Darüber hinaus erschreckten sie die Zähne und Krallen Louisons noch mehr. Und schließlich, für wen und wofür sollten sie eigentlich noch rebellieren, Rao war doch bereits in den Händen Holkars.
Also beeilte sich jeder von ihnen, laut zu versichern: „Es lebe Fürst Holkar!“
„So ist es recht!“ sagte Corcoran. „Ich merke, daß ihr eurem rechtmäßigen Fürsten in Treue fest verbunden seid. Und jetzt entwaffnet mir die drei Obersten, die drei Majore und die drei Hauptleute… So ist’s recht…, bindet ihnen Hände und Füße und legt sie aufs Pflaster…, sehr schön. Und nun, liebe Leute, kehrt ruhig in eure Kasernen zurück, und wenn mir zu Ohren kommt, daß ein einziger von euch zu murren wagt, dann werde ich ihn Louison zum Frühstück überreichen… Gute Nacht. Und wir, Fürst Holkar, können nun endlich soupieren.“
Die Tafel war in einem Innenhof unter dem weitgestreckten Himmelsgewölbe und in der Nähe eines Springbrunnens, dessen Wasserstrahl die heiße Luft erfrischte, angerichtet. Holkar, seine lotosäugige Tochter und Kapitän Corcoran hatten sich nach europäischer Art zu Tisch gesetzt. Zwei Dutzend Diener schwirrten um sie herum, räumten auf, räumten ab. Die Tischgesellschaft aß schweigend und mit der würdevollen Gelassenheit asiatischer Souveräne.
Neben der Tafel hatte sich Louison zwischen ihrem Herrn und der schönen Sita niedergelassen und erhielt von beiden ihre Nahrung, was sie veranlaßte, ihren schmeichelnden Blick sowohl dem einen als auch der anderen zukommen zu lassen.
Sita, dankbar für den erwiesenen Dienst und stolz auf den Gehorsam der Tigerin, behandelte sie wie ihr Lieblingswindspiel, gab ihr Zucker, verwöhnte sie; und Louison, zu intelligent, als daß sie die guten Absichten Sitas nicht bemerkt hätte, bewies ihr ihre Wohlgesonnenheit, indem sie behaglich mit dem Schweif wedelte und wohlig den Hals räkelte, wenn das junge Mädchen ihre Hand auf den Kopf der neuen Freundin senkte.
Schließlich gab Holkar ein Zeichen; die Dienerschaft zog sich zurück und ließ ihn mit seiner Tochter und dem Kapitän allein. „Kapitän“, sagte er und ergriff dessen Hand, „Sie haben mir mein Leben und meinen Thron gerettet. Wie kann ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen?“
Corcoran hob verwundert den Kopf.
„Fürst Holkar“, erwiderte er, „der Dienst, den ich Euch erwiesen habe, ist so gering, daß es besser wäre, wir würden beide darüber kein Wort mehr verlieren. Zweifellos kommt Louison bei dieser Angelegenheit das Hauptverdienst zu. Sie hat soviel Takt und Geschick bewiesen, daß man es nicht genug loben kann. Sie hatte schlecht gefrühstückt. Sie hatte Hunger. Sie war schlecht gelaunt. Ihr hattet einen Pistolenschuß auf sie abgegeben… Ich werfe es Euch nicht vor. Es war in der Tat ein entschuldbarer Irrtum… Ihr habt sie verfehlt, sie hätte Euch mit einem Biß zerfetzen können. Sie aber hat ihren Appetit gezügelt und ihre tierischen Gewohnheiten unterdrückt. Das ist sehr viel, wenn Ihr die schlechte Kinderstube, die sie in den Wäldern von Jawa genossen hat, bedenkt. Unterdessen wiegelt ein Schurke Eure Soldaten auf und putscht gegen Euch. Und Ihr wollt auch noch vor sie hintreten und Euch wie ein Huhn schlachten lassen; aber Louison ahnt Euer Schicksal, sie springt, packt den armseligen Rao von hinten am Gürtel – ich fürchte, er wird wohl niemals mehr leicht und locker sitzen können – und legt ihn Euch zu Füßen… Frank und frei heraus: wenn es hier einen Wohltäter gibt, so ist das Louison. Ich bin nur dem Weg gefolgt, den sie eingeschlagen hat.“
„Herr Corcoran“, sagte da die schöne Sita, „ich verdanke Ihnen mein Leben und meine Ehre. Ich werde das niemals vergessen.“
Und sie ergriff die Hand des Kapitäns und küßte sie dankbar.
„Ich weiß, Kapitän“, sagte Holkar, „daß Sie einer großzügigen Nation entstammen und daß Sie sich Ihren Verdienst nicht bezahlen lassen; aber kann ich Ihnen nicht meinerseits irgendwie nützlich sein?“
„Nützlich sein! Mein lieber Fürst!“ rief Corcoran aus. „Eure Nützlichkeit ist sogar mehr als notwendig für mich… Ihr müßt wissen, daß ich hierhergekommen bin, um ein altes Schriftstück zu suchen, dessen geringster Geistesblitz schon alle Doktoren (phil.) Frankreichs und Englands vor Freude zittern läßt! Ihr müßt wissen, daß die Akademie der Wissenschaften zu Lyon die Kosten meiner Reise trägt, und so reisen Louison und ich im Interesse der Wissenschaft und unter dem Schutz der französischen Regierung; wir haben Empfehlungsschreiben jeder Art und für jedermann bei der englischen Verwaltung in Indien, und für Euch selbst habe ich einen Brief von dem berühmten Sir William Barrowlinson, Präsident der Geographical, Colonial, Statistical, Geological, Orographical, Hydrographical and Photographical Society, die ihren Sitz in London, hundertdreiundachtzig Oxford Street, hat. Hier ist er.“
Dabei zog er aus seinem Portefeuille einen mit rotem Siegellack verschlossenen Brief hervor, auf dem das Wappen des gelehrten Barons und sein Wahlspruch prangte, der (so behauptete Sir William wenigstens) von einem seiner Vorfahren stammte, der ein Waffengefährte Wilhelm des Eroberers gewesen sein wollte: Regi meo fidus.
(In der Tat hatte Sir William Barrowlinson tausend Gründe, seinem König treu zu sein, wie die Devise besagte, denn besagter König hatte besagten Barrowlinson im Alter von zwanzig Jahren zu einem der einflußreichsten Teilhaber der Ostindischen Handelskompanie gemacht, und ihn mit solchen Ehren überhäuft und derart wichtigen Funktionen betraut, daß man ihn, hätte nicht eine bejammernswerte Gastritis der Karriere von Sir William eine Grenze gesetzt, mit zweiunddreißig oder dreiunddreißig Jahren als Generalgouverneur von Indien gesehen hätte, das heißt als absoluten Herrscher über hundert Millionen Menschen. Aber die Gastritis zwang ihn, nach England zurückzukehren und sich mit einer jährlichen Leibrente von zehntausend Pfund zu bescheiden. Vermittels dessen wurde er Mitglied des Parlaments, übersetzte mehr schlecht als recht fünfzehn bis achtzehn Seiten der Veda, ließ die unter seinem Namen laufende weitere Übersetzung von einem Sekretär besorgen, wurde für würdig erachtet, bei der Geographical, Colonial, Statistical, Geological, Orographical, Hydrographical and Photographical Society zu präsidieren, und kam so in den Genuß, korrespondierendes Mitglied des Institut de France zu werden.)
Von dem mächtigen Herrn kam also das Empfehlungsschreiben, das Kapitän Corcoran Fürst Holkar überreichte. Es hatte folgenden Wortlaut:
„London,… 1857
Der Unterzeichner, Sir William Barrowlinson, hat die Ehre, Seiner Königlichen Hoheit, Fürst Holkar, die Ankunft eines jungen französischen Gelehrten, Monsieur Corcorans, anzukündigen, der sich im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Lyon und in unserem eigenen bemüht, das Original des Ramabagavattana zu finden, das man an den Quellen des Narbada vermutet, an einer Stätte, die Seine Hoheit, Fürst Holkar (das wenigstens ist die Meinung des Unterzeichners), besser kennen muß als irgendwer sonst. Der Unterzeichner wagt zu hoffen, daß die engen Beziehungen guter Freundschaft und Nachbarschaft zwischen Seiner Königlichen Hoheit, Fürst Holkar, und der ehrenwerten, allmächtigen und unbesiegbaren Ostindischen Kompanie, die seit langem schon bestehen und die fortzubestehen nie aufhören mögen (das jedenfalls ist die feste Hoffnung des Unterzeichners), Seine Hoheit bewegen mögen, die wissenschaftlichen Forschungen, deren sich Kapitän Corcoran im Namen der Akademie der Wissenschaften zu Lyon und getragen von der Autorität Ihrer Allergnädigsten und Allerhöchsten Majestät, Königin Victoria, der ersten ihres Namens, Herrscherin der drei vereinigten Königreiche England, Schottland und Irland, befleißigt, mit allen möglichen Mitteln zu unterstützen.
Hinsichtlich obengenannter Tatsache macht es sich der Unterzeichner, Sir William Barrowlinson, Präsident der Geographical, Colonial, Statistical, Geological, Orographical, Hydrographical and Photographical Society, zur Pflicht, Seine Allerhöchste Durchlaucht darum zu bitten, genanntem Kapitän alle materiellen Mittel, als da sind Pferde, Elefanten, Tragsänften, Arbeiter, Reiter, Sowars, Sepoys und vor allem jederart Instrumentarium, das jener für seine Expedition braucht, zur Verfügung zu stellen; der Unterzeichner, Sir William Barrowlinson, verpflichtet sich durch vorliegendes Schreiben, sowohl in seinem eigenen Namen als auch im Namen der Akademie der Wissenschaften zu Lyon, für alle Kosten aufzukommen und die Summe zurückzuzahlen, die Seine Hoheit dank seiner unendlichen Großzügigkeit dem jungen und gelehrten Reisenden als Kredit bewilligt.
Der Unterzeichner macht es sich darüber hinaus zur Pflicht, Seine Hoheit davon zu unterrichten, daß die Mission des Kapitäns Corcoran (hierfür verbürgt sich der Unterzeichner bei seiner Ehre) frei jedweder politischen Betätigung ist und bleiben wird.
Der Unterzeichner gibt schließlich seiner Überzeugung Ausdruck, daß der Gentleman, den Seiner Hoheit zu empfehlen er die Ehre hat, sich in jeder Hinsicht würdig erweisen möge; würdig jener noblen Nation, deren Bürger er ist, der ruhmreichen Nation, die ihn beschützt, der Wissenschaft, der er dient, der berühmten und gelehrten Akademie, die ihn hergeschickt hat, wie vor allem auch dem Unterzeichner, der ihn empfiehlt.
In diesem Sinne grüßt der Unterzeichner mit allem gebotenen Respekt und aller Aufrichtigkeit Seine Hoheit, hoffend, daß die Zeit der Freundschaft, mit der Fürst Holkar früher den Unterzeichner ausgezeichnet, nicht Abbruch getan haben möge, an die sich der Unterzeichner bis in alle Ewigkeit mit steter Dankbarkeit erinnern wird.
Sir William Barrowlinson
Baron, M.P.“
Sobald Fürst Holkar die Lektüre des Briefes beendet hatte, ergriff er Corcorans Hand und sagte zu ihm:
„Mein lieber Freund, es bedarf zwischen uns nicht dieser Briefe, und das Schreiben von Sir William Barrowlinson hätte Ihnen jetzt, wo ich mich nicht gerade gut mit den Engländern stehe, kaum von Nutzen sein können, würde ich nicht wissen, wer Sie sind, und hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, mit welchem Mut Sie mir das Leben gerettet haben. Unglücklicherweise marschiert Colonel Barclay, wie ich weiß, auf Bhagavapur zu, und ich fürchte, daß ich Sie bei Ihren weiteren Forschungen kaum werde unterstützen können. Ich fürchte sogar, daß Ihnen meine Freundschaft in den Augen der Engländer schaden könnte.“
„Fürst Holkar“, sagte der Kapitän, „macht Euch weder um mich noch um die Engländer Sorgen: Wenn mich Colonel Barclay anders denn als Freund behandeln sollte – selbst wenn er durch dreißig Regimenter beschützt wird –, dann mag er erfahren, wie schwer meine Faust sein kann, wenn sie zuschlägt. Macht Euch um mich keine Sorgen; aber vielleicht könnte ich als Vermittler dienlich sein und Frieden…“
„Frieden mit diesen Barbaren!“ schrie Holkar, und seine Augen funkelten vor Zorn. „Sie haben meinen Vater und meine beiden Söhne getötet. Sie haben mir die Hälfte meines Staates geraubt und die andere gebrandschatzt. Bei der leuchtenden Erscheinung Indras, dessen Streitwagen das Firmament durchzieht und Licht in die entferntesten Winkel des Universums bringt, wenn ich nur meine Schätze und mein Leben hergeben müßte, um den letzten dieser roten Barbaren ins Meer zu werfen, ich würde keine Minute zögern; jawohl, ich schwöre es, daß ich noch heute wie meine Vorfahren die Ewige, Unwiderrufliche und Unvergängliche Substanz annehmen würde.“
„Und Ihr würdet mich allein auf der Erde zurücklassen?“ unterbrach ihn die schöne Sita mit vorwurfsvoller Stimme.
„Oh, mein liebes Kind, vergib mir“, sagte der Alte und nahm seine Tochter in die Arme. „Allein die Erwähnung der Engländer macht mich schon rasend. Ich bitte den Kapitän, mich vielmals zu entschuldigen…“
„Keine Ursache, verehrter Gastgeber“, sagte Corcoran. „Es, muß Euch nicht leid tun, die Engländer zu verfluchen. Für mich – ausgenommen Sir William Barrowlinson, der mir ein braver Mann zu sein scheint, obwohl etwas weitschweifig in seinen Erklärungen und seinem Stil – ist ein Engländer nicht mehr wert als ein saurer Hering oder eine Ölsardine. Ich bin Bretone und Seemann – das sagt alles. Zwischen den Angelsachsen und mir gibt es keine falschen Sentimentalitäten.“
„Ha! Sie gefallen mir, Kapitän“, sagte Holkar. „Ich hatte anfangs Sorge, daß Sie sich von Ihren Freunden abwenden könnten, und wenn ich an die Zukunft denke, die die Engländer meiner armen Sita zugedacht haben, gefriert mir das Blut in meinen alten Adern, und ich würde am liebsten allen Engländern, die sich in Indien befinden, den Kopf abschlagen lassen… Aber reden wir nicht mehr davon; lies uns doch, liebe Tochter, zur Erbauung und um meinen Jähzorn zu besänftigen, doch lieber etwas aus einem unserer herrlichen Bücher vor, die den Ruhm der Vorfahren begründet und ihnen die Mußestunden verzaubert haben.“
„Möchtet Ihr“, fragte Sita, „daß ich Euch diesen Teil aus dem Ramayana vorlese, in dem König Dasharatha in so bewegenden Worten auf dem Totenbett sein Schicksal beklagt, daß sein geliebter Sohn Rama, der unsichtbare Held, in dieser Stunde nicht bei ihm ist, und er sich bezichtigt, selbst die Sühne der Götter auf sich gezogen zu haben, weil er in seiner Jugend einen unbeabsichtigten Mord begangen hat.“
„Ja gut, lies“, erwiderte Holkar.
Daraufhin erhob sich Sita, holte das Buch und begann zu lesen:
Noch am selben Tage kehrte Sumantra mit der trauernden Menge nach Ayodhya zurück und berichtete seinem Herrn Dasharatha und Kausalya von Ramas Abschied. Der König brach in Tränen aus und sank kraftlos auf sein Lager. Er verbrachte die kommenden Tage in tiefem Schmerz und erinnerte sich der Taten, die er während der langen Jahre seiner Herrschaft vollbracht hatte. Sein Geist war umdüstert, und er glaubte sich dem Tode nahe. So vergingen sechs unglückselige Nächte, die er an der Seite der klagenden Kausalya verbrachte. Beim Nachdenken über sein Leben kam ihm eine böse Tat in den Sinn, die ihn immer stärker zu bedrücken begann.
„O Kausalya, es ist die lautere Wahrheit, daß der Mensch entsprechend seiner guten und bösen Taten später die Früchte sammelt. Darum höre, was ich in meinem Übermut als Jüngling anrichtete. Um als guter Bogenschütze geachtet zu werden, lenkte ich die Pfeile auf ferne Ziele. Wie ein Kind, das in Unwissenheit Schaden anrichtet, mähte ich die Kronen der Bäume nieder, deren Wurzeln ich in Erwartung süßer Früchte mit Wasser benetzt hatte. An einem jener Tage, als wir noch nicht durch Heirat vereint waren, nahm ich Bogen und Pfeile in meinen Wagen und ging auf die Jagd. Es war heiß, aber man spürte schon die Regenzeit, alles lechzte nach Wasser, die Erde, die Vögel, der Fluß und die Tiere des Waldes. Ich schlug mein Lager an einer seichten Furt der Tamasa auf, wo in der Nacht die Büffel, Tiger und Elefanten zur Tränke kamen. Lange wartete ich, bis ich das Nahen eines Elefanten zu hören glaubte. Ich nahm einen Pfeil aus dem Köcher, tauchte seine Spitze in Schlangengift und schoß ihn auf das noch unsichtbare Ziel. Da hörte ich plötzlich den klagenden Schrei eines Jünglings und sah eine Gestalt vor einem Gebüsch zu Boden sinken. ‘Wer hat auf einen Asketen geschossen?’ rief der Getroffene.
‘Wer hat auf einen geschossen, der nicht einen einzigen Feind im Walde hat?’
Voll Schrecken lief ich zu ihm, um ihm zu helfen. ‘Um Wasser zu holen, bin ich hierhergekommen’, sagte der junge Asket. ‘Hab ich dir jemals unrecht getan, daß du mich mit deinem Pfeil verwunden mußtest? Wer einen Heiligen verletzt, kann kein tugendhafter Mensch sein.’“
König Dasharatha schwieg, erschöpft durch die Erinnerung. Dann fuhr er fort: „Ich war überwältigt vor Gram, als ich den Heiligen mit meinem Pfeil in der Seite vor mir liegen sah. Sein Haar war zerzaust, sein Körper mit Blut besudelt, und aus der Koskosnußschale war das Wasser in die Erde gesickert. Ich ließ den Bogen fallen und beugte mich zu dem Sterbenden nieder. Er sah mich mit einem schrecklichen Blick an und sprach zu mir: ‘Du hast mich mit deinem mörderischen Pfeil getroffen und ebenso meinen Vater und meine Mutter, die vor Kummer sterben werden. Halb verdurstet und hungrig warten sie auf meine Rückkehr, ich aber liege hier und verblute. Sind das die Früchte meines heiligen Lebens in der Einsamkeit der Wälder? Habe ich die Lehren der Veden und Puranas gehört, damit meine blinden, hilflosen Eltern jetzt den Tod leiden? O Königssohn, eile zur Hütte meines Vaters und erzähl ihm, was du mir angetan. Ich fürchte, daß dich der Fluch einst vernichten wird wie ein Feuer den Wald.’
O Kausalya, ich zitterte vor Furcht und Schmerz und wagte es nicht, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, weil ich glaubte, der junge Asket würde dann verbluten. Doch er erriet meine Gedanken und sagte leise: ‘Hab keine Angst, Sohn eines Königs, obwohl deine Tat schwer wiegt, hast du doch keine Todsünde begangen, denn ich gehöre nicht zum Stand der Brahmanen. Meine Mutter gehört zur Kaste der Shudra und mein Vater zu den Vaishyas.’
Er flüsterte die letzten Worte, so daß sie kaum zu verstehen waren. Sein Antlitz erbleichte, und als ich den Pfeil aus der Wunde zog, starb er. Ich bettete ihn auf ein weiches Lager aus Kushagras und eilte zur Hütte seiner Eltern. Der blinde Vater glaubte die Schritte seines Sohnes zu hören und erhob sich, als ich mich näherte. Ich sagte ihm, wer ich sei, und berichtete ihm weinend vom Tod seines edlen Sohnes. Der Vater brach in Wehklagen aus und sprach: ‘O Königssohn, hättest du mir nicht selbst von deiner bösen Tat erzählt, würde der Zorn der Götter dich auf der Stelle vernichtet haben. Du erhältst dir dein Leben einzig und allein, weil du aufrichtig zu uns armen Eltern warst und die Sünde ohne Absicht begingst. Führ mich mit meinem Weib jetzt zu der Stelle, wo du meinen Sohn getötet hast!’
Mein Schmerz war groß, als ich sah, wie der blinde Vater sich niederbeugte und mit den Fingern über den toten Leib seines Sohnes strich. Niemals vergesse ich seine Worte: ‘Mein geliebter Sohn, warum bist du so still und leblos? Wenn du böse auf mich bist, so sag mir, womit ich dich erzürnt habe.’
Nachdem er so gesprochen, erinnerte er sich, was geschehen. ‘O Yama, du Gott des Todes, nimm meinen unschuldigen Sohn, den dieser Sünder getötet, im Wohnsitz der Helden auf. Gib ihm deinen Segen, Yama, und befreie uns von Schmerz und Furcht. Auch wenn du niederer Herkunft bist, mein Sohn, wirst du durch das heilige Feuer zum Himmel aufsteigen, und dieser junge Königssohn, der dich getötet, wird ein elendes Ende nehmen!’
Dann sah ich, o Königin, wie die Eltern des Jünglings Holz sammelten und den toten Leib ihres geliebten Sohnes den Flammen übergaben. Ich aber verließ sie mit Kummer im Herzen. Die Zeit ließ mich den Fluch des Vaters vergessen, heute aber ist der Tag gekommen, wo ich für die böse Tat bestraft werde, die ich ohne Absicht in meiner Jugend beging.
Komm näher zu mir, meine Gemahlin, der Kummer um meinen geliebten Rama bricht mir das Herz. Meine Augen sind trübe, ich kann nichts mehr sehen, auch die Erinnerungen schwinden. Wo ist mein tugendhafter Rama, der Held der Wahrheit? Gesegnet seien alle, die das Antlitz meines Sohnes erblicken, wenn er einst nach Ayodhya zurückkehrt. O Rama, mir bricht das Herz, weil du fern von mir bist. O Kausalya, o tugendhafte Sumitra und auch du, grausame Kaikeyi, die das Glück meiner Familie zerstört. Ich scheide nun von euch!“
Überwältigt vom Leid, starb König Dasharatha in Gegenwart von Ramas Mutter Kausalya und der Königin Sumitra.[1]
Hier unterbrach die schöne Sita ihre Lektüre. Holkar hatte ihr gedankenversunken zugehört. Corcoran war tiefbewegt und betrachtete bewundernd das weiche und anmutige Antlitz des jungen Mädchens.
Währenddessen war es bereits Mitternacht geworden, und Holkar war im Begriff, seinen Gast zu entlassen, als Ali in den Hof trat und sich wortlos an seinen Herrn wandte, wobei er die Hände dachförmig zum Gruß vor den Lippen zusammenlegte.
„Was ist? Was willst du?“ fragte Holkar.
„Kann ich sprechen?“ fragte der Sklave, wobei er mit den Augen auf Corcoran wies.
Dieser wollte sich diskret zurückziehen, doch Holkar hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
„Bleiben Sie“, sagte er, „Sie stören keineswegs… Und du, sprich“, sagte er, an Ali gerichtet.
„Herr“, fuhr Ali fort, „soeben ist eine Nachricht von Tantia Topee eingetroffen.“
„Von Tantia Topee!“ rief Holkar, und seine Augen blitzten vor Freude. „Kommt er also doch.“
Ein Bote betrat den Hof. Es war ein halbnackter Fakir mit bronzefarbener Haut, dessen unbeweglicher Gesichtsausdruck weder Schmerz noch Freude zu kennen schien. Er warf sich vor Holkar nieder und wartete schweigend, daß dieser ihm den Befehl geben würde, sich zu erheben.
„Wer bist du?“ fragte Holkar.
„Ich heiße Sugriva.“
„Brahmane?“
„Brahmane. Tantia Topee schickt mich.“
„Welches ist das Zeichen deiner Mission?“
„Dies hier“, erwiderte der Fakir.
Dabei zog er aus seinem Lendenschurz, der ihm als einziges Kleidungsstück diente, eine Art bizarr geschnittenes Tuch, auf das einige Worte in Sanskrit gestickt waren.
Holkar schrie auf, nachdem er das Tuch einige Zeit aufmerksam gemustert hatte.
„Der Augenblick ist gekommen“, sagte er.
„Ja“, antwortete der Fakir. „Der Aufstand hat heute in Meerut begonnen.“
„Kapitän“, sagte Holkar, „Sie haben mir anvertraut, daß Sie die Engländer nicht mögen.“
„Nun, ich verabscheue sie nicht gerade“, entgegnete Corcoran, „aber ich mache mir auch keine großen Gedanken, was ihnen widerfahren könnte.“
„Nun wohl, Kapitän! Es dauert nicht mehr lange, und Colonel Barclay wird mit seiner Armee umkehren.“
„Wirklich?“ erwiderte Corcoran. „Und der Fakir hat Ihnen diese Neuigkeiten übermittelt?“
„Ja“, antwortete Holkar. „Dieser Fakir ist ein verläßlicher Mann, der meinem Freund Tantia Topee als Bote dient.“
„Und wer ist Euer Freund Tantia Topee?“
„Das werde ich Ihnen morgen sagen. Colonel Barclay wird nicht vor drei Tagen hiersein; wir haben also noch zwei Tage Zeit. Wenn Sie wollen, werden wir morgen auf Rhinozerosjagd gehen. Das Rhinozeros ist ein königliches Wild, und in ganz Indien findet man heute nicht mehr als zweihundert Stück davon. Ein seltenes Vergnügen. Bis morgen, Kapitän.“
„Übrigens“, warf Corcoran noch ein, bevor er den Innenhof verließ, „was habt Ihr eigentlich mit diesem Rao gemacht? Wollt Ihr ihn nicht aburteilen lassen?“
„Rao!“ entgegnete Holkar. „Er wurde bereits abgeurteilt, Kapitän. Vor dem Abendessen hatte ich bereits den Befehl gegeben, ihn zu pfählen.“
„Teufel noch eins!“ rief Corcoran aus. „Ihr habt es ja eilig, Fürst Holkar.“
„Mein Freund“, erwiderte Holkar, „wie gefangen, so gehangen – das ist meine Maxime. Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß ich hier einen Gerichtshof abhalte wie in Kalkutta? Bevor der Staatsanwalt die Anklage verlesen und der Verteidiger sein Plädoyer gehalten hätte, bevor ihn die Richter für schuldig befunden hätten, wären die Engländer vielleicht schon in Bhagavapur und würden das Leben dieses Schurken, ihres Komplizen, gerettet haben. Nein, nein, er wird gleich für alles bezahlen, er wird gepfählt.“
„Ich frage nur aus Neugier danach“, sagte Corcoran und streckte sich, denn er verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis nach Schlaf. „Gute Nacht, Fürst Holkar.“
Und Ali, der ihm den Weg wies, folgend, betrat er seine Schlafkammer.
Aber dem tüchtigen Kapitän war es nicht beschieden, in dieser Nacht Ruhe zu finden. Kaum hatte er sich auf seinem Bett ausgestreckt, als von draußen Lärm zu ihm drang. Corcoran richtete sich auf, stützte sich auf einen Ellenbogen, pfiff kurz nach Louison und flüsterte: „Achtung, Louison! Aufgepaßt!“
Louison blickte den Kapitän aufmerksam an, spitzte die Ohren, wedelte leicht mit dem Schwanz, um anzuzeigen, daß sie den Befehl Corcorans verstanden habe, erhob sich geschmeidig, schritt direkt zur Zimmertür, lauschte und trottete seelenruhig zu Corcoran zurück, als wolle sie von ihm neue Befehle entgegennehmen.
„Aha“, sagte dieser, „ich verstehe, meine Liebe. Du meinst, daß es keinen Anlaß zur Sorge gibt? Um so besser, denn ich möchte ein wenig schlafen. Und du?“
Die Tigerin spitzte leicht ihre Lippen mit dem Schnurrbart, dessen Spitzen spitzer als eine Degenspitze (überspitzt gesagt) waren. Auf diese Art lächelte sie.
Doch da vernahmen sie Schritte auf der Galerie, und Louison wandte sich wieder der Tür zu, aber es schien dennoch keine Gefahr im Anzug zu sein, denn ebenso rasch wandte sie sich wieder um und ließ sich zu Füßen ihres Herrn nieder. Jemand klopfte an die Tür.
Corcoran erhob sich halb bekleidet, griff zu seinem Revolver und ging öffnen. Es war Ali, der gekommen war, um ihn zu wecken.
„Herr“, sagte er mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht, „Fürst Holkar bittet Euch, zu ihm zu eilen. Es ist ein großes Unglück geschehen. Rao, von dem man glaubte, er wäre gepfählt worden, hat seine Wärter bestochen und ist mit ihnen geflohen!“
„Na so was“, entgegnete Corcoran. „Scheint nicht auf den Kopf gefallen zu sein, dieser Rao.“
Während ihm Ali in kurzen Worten den Vorfall schilderte, kleidete sich Corcoran an. „Seine Hoheit fürchtet vor allem“, sagte Ali, „daß er sich zu den Engländern durchschlagen wird, die vor der Stadt stehen. Sugriva ist bereits auf sie getroffen.“
„Es ist gut. Zeig mir den Weg, ich komme.“
Holkar saß auf einem herrlichen Perserteppich und schien völlig in Gedanken versunken. Beim Eintreten des Kapitäns machte er ihm mit der Hand ein Zeichen, sich neben ihm niederzulassen. Dann befahl er dem Sklaven, sich zurückzuziehen.
„Mein verehrter Gast“, sagte er nach einer Weile des Schweigens, „kennt das Unglück, das soeben über mich hereingebrochen ist?“
„Man hat es mir berichtet“, antwortete Corcoran. „Rao ist entflohen; aber das ist doch kein Unglück. Rao ist eben ein Spitzbube, der sich woanders verdingen will.“
„Ja, aber er hat zweihundert Reiter aus meiner Garde mit sich genommen, und die sind ebenfalls zu den Engländern übergelaufen.“
„Hm, hm“, meinte Corcoran nachdenklich.
Und da er merkte, daß Holkar durch diesen Vorfall mehr als niedergeschmettert war, hielt er es für seine Franzosenpflicht, ihm wieder Mut zu machen.
„Na schön“, sagte er lächelnd, „alles in allem sind das zweihundert Verräter weniger. Oder hättet Ihr vorgezogen, daß sie hier in Bhagavapur, direkt an Eurer Seite, geblieben wären anstatt zu Colonel Barclay überzulaufen?“
„Sie haben gut reden!“ sagte Holkar. „Dabei habe ich vor einer Stunde so gute Nachrichten erhalten.“
„Von diesem Tantia Topee?“
„Genau, von ihm. Hören Sie, Kapitän, nach allem, was Sie für mich getan haben, vor allem gestern abend, will ich Ihnen gegenüber ganz offen reden…, also, ganz Indien steht bereit, um zu den Waffen zu greifen.“
„Wozu?“
„Um die Engländer zu verjagen.“
„Ahhhh!“ rief Corcoran aus. „Das leuchtet mir ein! Eine vernünftige Idee! Die Engländer verjagen…, das heißt, Fürst Holkar, wenn sie in meine alte Bretagne gekommen wären, diese Engländer, wie sie hierhergekommen sind, dann würde ich sie nacheinander am Hals und an der Hose packen und sie als Fischfutter ins Meer werfen. Die Engländer verjagen! Aber dafür bin ich auch, Fürst Holkar, aber sicher wäre ich dafür, wenn ich Sie wäre, und ich geb Euch mein Wort darauf… Die Engländer verjagen. Also gut! Ich vergesse meine wissenschaftlichen Arbeiten und den Brief von Sir William Barrowlinson… Und mein Versprechen, mich nicht in innere Angelegenheiten einzumischen, solange ich mich zwischen Himalaja und Kap Komorin befinde, ist mir egal. Eine famose Idee. Und von wem stammt diese Idee?“
„Von allen“, erwiderte Holkar. „Von Tantia Topee, von Nana Sahib, von mir, schließlich von allen Indern.“
„Und Ihr glaubt, das Vorhaben könnte gelingen?“
„Wir hoffen es wenigstens“, sagte Holkar, „aber ich fürchte, ich selbst werde es nicht mehr erleben. Vor drei Monaten war dieser Rao noch mein Premierminister, und jetzt verrät er mich an Colonel Barcley, in der Hoffnung, als Preis für seinen Verrat meinen Staat und meine Tochter zu bekommen. Da ich ihn schon lange in Verdacht hatte, habe ich ihm neulich zur Abschreckung fünfzig Stockschläge verabreichen lassen. Das ist nun daraus geworden…“
„‘Daraus geworden’! Dieser schleimige Wicht hoffte Euer Schwiegersohn zu werden!“ entrüstete sich der Kapitän.
„Ja, dieser Sohn einer Hündin – sein Vater war ein Parsenhändler aus Bombay – wollte die Tochter des letzten der Raghuiden, des edelsten Geschlechts in Indien, ehelichen.“
Bei diesen Worten wurde der Kapitän hellhörig. Bis jetzt hatte er nur einen Wunsch gehabt: Rao wieder zu ergreifen… Aber dieser Schurke erdreistete sich, Sita zu begehren, das schönste Mädchen in ganz Indien…, ein Engel an Anmut, Schönheit, Unschuld… Diesen Rao sollte man nicht nur pfählen, sondern obendrein auch noch hängen…
Das waren in etwa die Gedanken des Kapitäns. Und wer sich über das Interesse wundern sollte, das er diesem jungen Mädchen entgegenbrachte, von dem er am Abend zuvor weder Namen gewußt noch das Gesicht gesehen hatte, dem sei gesagt, daß er ein Mann spontaner Gefühlsregungen war, daß er Abenteuer liebte (ohne ein Abenteurer zu sein) und daß es ihm ganz und gar nicht mißfiel, eine junge und schöne Prinzessin zu beschützen, die bedroht wurde. Vor allem dann, wenn diejenigen, die sie bedrohten, Engländer waren.
„Fürst Holkar“, sagte er schließlich, „es gibt nur einen Ausweg. Wir müssen unsere Rhinozerosjagd auf einen anderen Tag verschieben und Rao, koste es, was es wolle, verfolgen. Der Schurke kann noch nicht weit gekommen sein.“
„Daran habe ich auch schon gedacht“, meinte Holkar, „aber er hat acht Stunden Vorsprung und wird zweifellos schon bei der englischen Armee eingetroffen sein… Schieben wir besser nichts auf, tun wir, als ob nichts geschehen wäre, das wird die Engländer täuschen. Meine Anordnungen für die Jagd sind gegeben. Wir werden gegen sechs Uhr aufbrechen, das ist bei Sonnenaufgang, später ist die Hitze unerträglich. Wir werden meine Tochter im Palast zurücklassen, unter guter Bewachung natürlich, denn Rao könnte Verbindung zu einigen Leuten in der Stadt haben. Wir werden gegen zehn Uhr wieder zurück sein… Unterdessen wird Ali hier im Palast bleiben, Sugriva hingegen sich den Engländern an die Fersen heften, ihr Treiben beobachten und sich etwas umsehen.“
„Aber“, wandte Corcoran noch einmal ein, „was zwingt uns, heute auf Rhinozerosjagd zu gehen, wenn Ihr eine ernsthafte Gefahr befürchtet?“
„Lieber Freund“, entgegnete Holkar, „der letzte der Raghuiden will, wenn er schon vernichtet werden soll, nicht enden wie ein Bär, den man in seinem Bau ausräuchert. Dieses Beispiel wäre eines Nachkommens Ramas nicht würdig.“
„Na schön“, meinte Corcoran, der es nicht lassen konnte, stets das Schlimmste zu befürchten, „gestattet wenigstens, daß ich Eurer Tochter eine weit sicherere und stärkere Leibwache zur Verfügung stelle, als es Ali und die gesamte Garnison von Bhagavapur sein mögen.“
„Wer wäre das denn?“
„Louison natürlich.“
Im selben Augenblick erhob sich die Tigerin, die gespürt hatte, daß man von ihr sprach, auf ihre Hinterpfoten und legte ihre Vordertatzen auf Corcorans Schultern. Da ging die Tür auf, und Sita betrat den Raum.
„Mein liebes Kind“, sagte Holkar, „morgen werden wir auf Rhinozerosjagd gehen…“
„Mit mir?“ unterbrach ihn das Mädchen.
„Nein, du wirst im Palast bleiben. Rao könnte mit seinen Reitern die Gegend unsicher machen, und ich möchte nicht, daß du ihm begegnest.“
„Aber Vater“, erwiderte Sita, die sich auf das Vergnügen, das ihr die Jagd jedesmal bereitete, schon gefreut hatte, „ich reite ausgezeichnet, das wißt Ihr, und ich werde Euch keinen Augenblick verlassen.“
„Vielleicht wäre sie bei uns wirklich sicherer als hier“, gab Corcoran zu bedenken. „Ich verspreche Euch, besonders auf sie zu achten.“
„Nein“, sagte der Greis. „Ein Zusammentreffen mit dem Feind wäre gefährlicher. Ich würde lieber Ihr Angebot mit Louison annehmen.“
„Wie, Kapitän Corcoran“, sagte Sita und klatschte dabei freudig in die Hände, „Sie überlassen mir Louison für einen ganzen Tag?“
„Ich würde sie Ihnen für immer und ewig schenken“, entgegnete der Bretone, „wenn ich annehmen könnte, daß sie sich verschenken lassen würde, aber sie ist etwas kapriziös und hört nur auf mich. He, Louison! Bis zu meiner Rückkehr hörst du auf die Prinzessin; wenn jemand mit ihr sprechen will, dann knurrst du gehörig mit, und wenn ihr jemand mißfällt, dann verleib ihn dir ein! Wenn sie im Park spazierengehen will, dann begleite sie und laß sie nicht aus den Augen; sie ist deine Herrin und Fürstin! Also, du weißt, was du zu tun hast?“
Louison betrachtete abwechselnd den Kapitän und Sita und ließ ein zufriedenes Schnurren hören.
„Ein solcher Wächter“, bemerkte Corcoran, „wiegt eine ganze Reitereskadron an Mut und Schnelligkeit auf; was die Intelligenz betrifft, da kommt Louison niemand gleich…, sie begeht keine Indiskretion, kennt keine Eitelkeit, weiß immer die richtigen von den falschen Freunden zu unterscheiden; sie ist kein Feinschmecker, ihr genügt ein Stück rohes Fleisch…, schließlich hat Louison einen besonderen Sinn, Leute zu durchschauen. Ich habe mehr als einmal erlebt, daß sie mir durch ein im richtigen Moment zu vernehmendes Gebrüll indiskrete Frager vom Hals gehalten hat.“
„Herr Corcoran“, sagte Sita, „kein Schatz der Welt könnte eine solche Freundschaft aufwiegen. Aber ich nehme sie an im Austausch gegen die meinige.“
Während man derart miteinander besprach, was zu tun sei, war es inzwischen Tag geworden. Corcoran küßte ein letztes Mal Louison auf die Stirn, verneigte sich respektvoll vor Sita und stieg, ebenso wie Holkar, zu Pferd. Ein Trupp von vier- bis fünfhundert Männern folgte ihnen. Louison sah sie mit Bedauern davonreiten, aber schließlich schien sie sich in ihr Schicksal zu fügen. Auf einen Ruf Sitas hin begab sie sich in den Palast und erwartete, sich neben die Prinzessin lagernd, die Rückkehr der Jäger.
Unglücklicherweise war Louison trotz ihrer unbestreitbaren Qualitäten nicht frei von Eigenarten des weiblichen Geschlechts; mit anderen Worten, sie hatte kaum die Jäger am Horizont verschwinden sehen und den berauschenden Duft der Wälder, den eine leichte Brise herantrug, eingeatmet, als sie den unbändigen Wunsch verspürte, so schnell wie möglich Kapitän Corcoran nachzulaufen; den Palast und ihre Wärterpflicht empfand sie plötzlich als höchst lästig.
Kurz gesagt, sie war kapriziös, launisch, leichtsinnig und liebte das Vergnügen. Vielleicht träumte sie auch davon, an einer Rhinozerosjagd teilzunehmen; aber das werden wir wohl nie erfahren, denn den Fehler, jedem Erstbesten ihre Gedanken auf die Nase zu binden, diesen Fehler hatte sie nun gerade nicht.
Wie dem auch sei, sie begann mit einemmal demonstrativ zu gähnen, buckelte und streckte sich so lang wie möglich, stieß kleine Seufzer aus, die eine so tiefe und verzweifelte Langeweile erkennen ließen, daß Sita trotz ihres Wunsches, sie bei sich zu haben, unruhig wurde und ihr lieber die Freiheit gab.
Kaum war das Tor des Palastes geöffnet worden, als die Tigerin mit einem Satz davonstürmte, über die Köpfe der verdutzten Schildwache hinwegsetzte, die Hecke, die den Park vom übrigen Teil der Stadt trennte, übersprang; durch zwei oder drei Straßen lief und zwei bis drei Dutzend friedliche Bürger verschreckte, die vor ihren Verkaufsständen lungerten, bis sie schließlich an das Haupttor von Bhagavapur gelangte. Die Wachsoldaten hüteten sich wohl, sie aufzuhalten, sondern erwiesen ihr lieber die Ehrenbezeigung, die einem hohen Offizier gebührt.
Währenddessen waren Fürst Holkar und Kapitän Corcoran ganz bei der Jagd, und obwohl sie Gründe genug hatten, beunruhigt zu sein, scherzten sie fröhlich miteinander und schienen nur an das Rhinozeros zu denken.
„Haben Sie schon einmal ein Rhinozeros gejagt?“ fragte Holkar den Bretonen.
„Noch nie“, antwortete der Kapitän. „Ich habe zwar schon Jagd gemacht auf Löwen, Panther, Elefanten, Flußpferde; aber das Rhinozeros ist für mich eine unbekannte Beute.“
„Es ist ein sehr seltenes und wertvolles Wild“, sagte Holkar. „Es ist stark und groß. Ich selbst habe zwei oder drei erlegt, die nicht weniger als sechs Fuß hoch und zwölf bis fünfzehn Fuß lang waren. Das Rhinozeros ist schwer und massig, es hat eine warzige Haut, die härter als ein Küraß ist, einen gedrungenen Schädel, gerade und bewegliche Ohren wie ein Pferd, eine platte Schnauze, auf der sich das Horn befindet, seine gefährlichste Waffe. In einer Stunde werden Sie sehen, wie es damit umgeht. Wenn wir bei dieser Jagd erfolgreich sind, was keineswegs sicher ist, denn seine Haut spottet unseren Kugeln, und es ist viel widerstandsfähiger als alle anderen Tiere, einschließlich des Elefanten, dann verspreche ich Ihnen einen Rhinozerosbraten, der nicht zu verachten ist. So etwas bekommt man nur an fürstlichen Tafeln vorgesetzt…“
Derart miteinander schwatzend, gelangten Holkar und Corcoran zu einem Kreuzweg, der sich vor dem Waldrand befand.
„Bis hierher“, sagte Holkar und stieg vom Pferd. „Unsere Pferde ertragen weder den Anblick noch den Geruch und schon gar nicht den Angriff des Rhinozeros; wir werden jetzt auf Elefanten umsteigen.“
Tatsächlich erwartete schon eine Gruppe jagdmäßig ausgerüsteter und gepanzerter Elefanten die fürstliche Gesellschaft.
„Wozu dient denn der Mann, der dem Elefanten hinter dem Ohr sitzt?“ fragte Corcoran.
„Das ist der Führer des Tieres“, erwiderte Holkar. „Ihm allein gehorcht es.“
„Und der andere“, fuhr der Kapitän fort, „der sich respektvoll zurückhält und auf meine Befehle zu warten scheint?“
„Oh, lieber Freund, das ist derjenige, der gefressen werden soll.“
„Gefressen! Von wem denn? Ich verspüre absolut keinen Hunger, und ich denke, daß dieser Mann kaum das Frühstück sein kann, das Ihr mir zugedacht habt…“
„Vom Tiger gefressen, Kapitän.“
„Vom Tiger? Von welchem Tiger denn? Ich denke, wir sind auf Rhinozerosjagd.“
„Lieber Freund“, entgegnete Holkar lachend, „das ist ein englischer Brauch, den wir übernommen haben, und Sie werden gleich sehen, wie ausgezeichnet er ist. Die Engländer haben die Erfahrung gemacht, daß man in unseren Wäldern nie vor unverhofften Begegnungen sicher ist – so trifft man zum Beispiel zufällig auf einen Tiger, einen Jaguar oder einen Panther. Nun, so ein Tier, das früh am Morgen munter wird wie wir, das Hunger hat wie wir – eher noch mehr –, das von der Jagd lebt, wartet ja stets auf eine Gelegenheit, um zuschnappen zu können… Und da es dieses Tier darüber hinaus nicht liebt, die Leute von vorn anzugreifen, springt es fast immer von hinten auf sie und meist in dem Moment, wo man es am wenigsten erwartet, und schleppt seine Beute in den Dschungel, wo es sie sich schmecken läßt.
Nun, die Engländer, die sehr gescheite und sehr vorsichtige Menschen sind, wirkliche Gentlemen, die ihre eigene Haut für wertvoller halten als die aller anderen Individuen der Menschheit, die Engländer also haben sich ausgedacht, außer dem Führer des Elefanten noch einen armen Teufel rittlings auf den Dickhäuter zu setzen, wenn sie auf Jagd gehen oder spazierenreiten, der dem Tiger – falls er zufällig in der Gegend umherstreift – als Beute dienen soll; denn schließlich, so sagen sie sich, ist es nicht in Ordnung, wenn sich ein Gentleman in Positur setzt, um wie ein armer Teufel gefressen zu werden; hat nicht die göttliche Vorsehung die armen Teufel geschaffen, damit sie statt der Gentlemen gefressen werden? Ist das nicht bewundernswert vernünftig, lieber Freund, und wären Sie selbst nicht darüber entzückt, wenn der Junge hinter Ihnen statt Ihrer dem Tiger als Mahlzeit dienen würde?“
„Verdammt noch mal, nein!“ erwiderte Corcoran, „und ich bitte Euch, ihn sofort von da oben herunterkommen zu lassen und auf kürzestem Weg nach Bhagavapur zurückzuschicken. Wenn ich irgend jemandem als Futter dienen soll, Mensch oder Tier, so hoffe ich, mich vorher wenigstens entsprechend zu verteidigen… Aber was bedeutet das?“
Die Elefanten hatten mit einemmal ihre Rüssel emporgereckt, trompeteten schrill und zeigten zweifellos Anzeichen großer Furcht. Sogar die Führer gaben zu erkennen, daß sie ihrer nicht mehr Herr wurden.
„Das bedeutet“, erwiderte Holkar, „daß nicht weit von uns im Dschungel etwas vorgeht, was wir noch nicht sehen, was aber sehr gefährlich sein muß, nach dem Entsetzen unserer Elefanten zu urteilen. Halten Sie sich bereit, Kapitän, und beobachten Sie genau Ihre Umgebung.“
Im selben Moment bäumten sich die Pferde auf, mehrere Reiter der Eskorte wurden abgeworfen, die Elefanten ergriffen die Flucht, trotz der verzweifelten Anstrengung ihrer Führer.
Die Ursache dieser Verwirrung war Louison. Sie preschte heran, übersprang die Gräben, die Büsche, das Dickicht mit der Geschwindigkeit einer unter Volldampf stehenden Lokomotive. Bei ihrem Anblick griff jeder augenblicklich zu den Waffen, um den Tiger zu erlegen, doch gelang es Corcoran, die Eskorte zu beruhigen.
„Ruhig, keine Angst!“ rief er. „Es ist nur Louison… Mein Gott, Mademoiselle“, fügte er mit einem Blick, der streng wirken sollte, an sie gerichtet hinzu, „was macht Ihr denn hier?“ Louison antwortete natürlich nicht, bewegte aber ihren Schwanz in sehr beredter Manier.
„Ja, ich ahne schon… Mademoiselle langweilen sich im Palast und wollen lieber ein Rhinozeros jagen… Na gut! Platz! Ich mag dieses schmeichlerische Getue nicht, wenn du einen Fehler gemacht hast…, nicht wahr? Also, dann komm mit, jage, aber sei friedlich und untersteh dich, jemanden zu erschrecken!“
Von der Erlaubnis, an der Jagd teilzunehmen, und einem so günstigen Ausgang ihrer Eigenmächtigkeit entzückt, versäumte Louison nicht, für ihr überraschendes Auftauchen um Pardon zu bitten; bald darauf war sie zum Freund der ganzen Eskorte Holkars geworden – jedenfalls wagte niemand, ihr offen zu zeigen, daß man sie lieber tausendfünfhundert Meilen von Bhagavapur entfernt in einem soliden Käfig stecken gesehen haben würde.
Kurze Zeit später verkündeten die Schreie der Treiber, daß man auf die Spur eines Rhinozeros’ gestoßen war und es bald auf einem Pfad aus dem Dschungel hervorbrechen würde, an dessen Einmündung sich mehrere Jäger aufgestellt hatten, unter ihnen auch Holkar und Kapitän Corcoran.
Tatsächlich ließ das Wild auch nicht lange auf sich warten; es erschien, gefolgt von den Treibern, die es mit Steinen bewarfen, übrigens ohne ihm irgendwelchen Schaden zufügen zu können. Diese Steine, so groß sie auch sein mochten, prallten von seinem dicken Panzer ab wie Buletten von einem Gendarmenhelm. Es bewegte sich in leichtem Trab, ohne sich durch die Zahl seiner Feinde in irgendeiner Weise beunruhigt zu zeigen.
„Achtung! Nehmt eure Plätze ein!“ schrie Holkar. „Es kommt! Die einzige Stelle, wo es tödlich zu verwunden ist, sind die Augen und eine Stelle hinter dem Ohr, ihr könnt es nur von der Seite her angreifen, denn vorn ist es überall gepanzert.“
Er hatte kaum ausgeredet, als sich auch schon ein allgemeines Gewehrgeknatter hören ließ. Mehr als sechzig Kugeln prallten mit einemmal auf den Körper des Tieres, ohne dessen Haut zu ritzen. Allein Corcoran hatte nicht geschossen, und das war sein Glück.
Das Rhinozeros, von dieser Attacke entweder aus der Fassung gebracht, zumindest jedoch irritiert, hob den Kopf und stürzte sich plötzlich mit voller Wucht auf den Elefanten, den der Bretone bestiegen hatte. Unter diesem unerwarteten Stoß wankte der angegriffene Elefant und versuchte seinen Feind mit dem Rüssel zu packen, um ihn von der Erde hochzuheben und gegen einen Baum zu schmettern; doch das Rhinozeros ließ ihm keine Zeit dazu, mit einem einzigen wuchtigen Stoß seines Horns, das dem Elefanten bis tief ins Herz drang, brachte es ihn zu Fall. Sanft und schwer sank er wie eine entwurzelte Eiche zu Boden.
Sofort ließ das Rhinozeros von diesem Gegner ab und wandte sich Corcoran zu, der ebenso wie sein Reittier umgeworfen worden war, um diesen aufzuspießen.
Die Situation des Kapitäns war nicht gerade beneidenswert. Die mutigsten Jäger wagten sich nicht näher heran, er selbst hatte sich mit seinem Fuß im Leibgurt des Elefanten verhakt und konnte sich nicht aufrichten. „Zu mir, Louison!“ schrie er.
Glücklicherweise hatte die Tigerin nicht erst auf diesen Hilferuf gewartet. Als sie die Gefahr bemerkt hatte, in der sich ihr Freund befand, war sie mit einem Satz herangeschnellt, auf das Rhinozeros gesprungen, hatte sich in dessen Ohr verbissen und es so, trotz der verzweifelten Versuche des Tieres, die Tigerin abzuschütteln, gezwungen, von Corcoran abzulassen. Dank dieser sofortigen Hilfe konnte sich der Kapitän aus dem Gurt befreien. Jetzt stand er seinem Gegner Auge in Auge gegenüber.
„Gut gemacht, Louison“, sagte er. „Halt es so fest…, so ist es recht…, warte, laß mich die tödliche Stelle finden…, ah, hier ist sie!“
Mit diesen Worten steckte er die Mündung seines Gewehrs ins Ohr des Rhinozeros und drückte ab. Das tödlich getroffene Tier zuckte so gewaltig, daß es Louison fünfzehn Schritt von sich weg auf den Rücken eines Jägers schleuderte; dann fiel es tot um.
„Verehrter Gast“, sagte Holkar, „Sie sind mit dem Glück im Bunde, und ich würde die Hälfte meines Reiches hergeben, um einen ebenso aufmerksamen, treuen, mutigen und gerechten Freund zu besitzen wie Louison… Für heute ist die Jagd beendet. Morgen werden wir vielleicht etwas Besseres finden. Vorwärts!“
Man hob das Rhinozeros auf einen Wagen und machte sich auf den Rückweg nach Bhagavapur. Den ganzen Weg über empfing Louison den Dank ihres Herrn und bewies ihrerseits durch ein wohlwollendes Schnurren, welche Freude es ihr gemacht hatte, ihn gerettet zu haben.
Allerdings wurde der Rückweg nicht so fröhlich, wie man gehofft hatte. Jeder schien zu wissen, daß die nächsten Tage über Wohl und Wehe des Marathenreiches entscheiden würden. Corcoran, ohne es auszusprechen, machte sich Vorwürfe, mit dieser Jagd einverstanden gewesen zu sein; Holkar machte sich Vorwürfe, diese Jagd zu diesem Zeitpunkt vorgeschlagen zu haben, und beide ängstigten sich um Sita.
Plötzlich, sie waren etwa noch eine halbe Wegstunde von Bhagavapur entfernt, nahmen sie von einem Hügel aus, von dem man das ganze Narbadatal und die Stadt sehen konnte, eine Rauchsäule wahr, die aus den Vororten der Stadt kommen mußte; gleichzeitig vernahmen sie aus dieser Richtung unterdrückten Lärm, in dem Geschützdonner, Gewehrfeuer und Geschrei von Frauen und Kindern deutlich herauszuhören waren. „Fürst Holkar“, sagte Corcoran, „hören und sehen Sie. Bhagavapur brennt oder ist gestürmt worden!“
Holkar erbleichte. „Meine Tochter!“ schrie er. „Meine arme Sita!“
Mit diesen Worten stieß er seinem Pferd die Sporen in den Bauch und galoppierte davon. Corcoran folgte ihm ebenso schnell. Der Rest der Eskorte, obwohl die Reiter das Beste aus ihren Pferden herausholten, blieb weit hinter ihnen zurück.
Bald waren sie an das nächstgelegene Stadttor gekommen und hatten einen Offizier befragt, was vorgefallen sei.
„Herr“, antwortete dieser auf Holkars Frage, „ich weiß nicht, was geschehen ist. Das Feuer ist an verschiedenen Stellen zugleich ausgebrochen, auch im Palast Eurer Hoheit, aber…“
Er sprach weiter, doch Holkar hörte ihn schon nicht mehr. „Zu meinem Palast!“ schrie er, gab seinem Pferd die Sporen und raste in gestrecktem Galopp in dessen Richtung. Ohne ein Wort folgte ihm Corcoran, Louison lief neben beiden her.
Im Palast herrschte ein heilloses Durcheinander. Auf den Stufen der großen Freitreppe sah man riesige Blutflecken. Auf der Galerie verstreut lagen Leichen. Fast alle Diener Holkars waren getötet worden.
Bei diesem Anblick raufte sich der Greis die Haare.
„Wo ist Sita?“
Plötzlich tauchte Ali vor ihnen auf. Er hatte einen Dolchstich in die Brust bekommen, doch war es nur eine Fleischwunde, die zwar stark blutete, aber nicht tödlich war.
„Ali! Ali! Was hast du mit meiner Tochter gemacht?“ fragte Holkar mit lauter Stimme.
„Herr!“ erwiderte Ali und warf sich ihm zu Füßen, „habt Erbarmen mit mir. Sie haben sie entführt.“
„Man hat meine Tochter entführt!“ rief Holkar aus. „Und du Hundesohn hast nichts getan, um sie zu retten, Unglückseliger! Wo ist sie! Wer hat sie entführt? Sprich, so sprich doch endlich!“
„Herr“, erwiderte Ali, „es war Rao. Er hatte Helfershelfer im Palast. Die Prinzessin wurde aus dem Hinterhalt von Männern gepackt, die zuvor die meisten Eurer Diener erdolcht hatten, und trotz ihrer Schreie und Klagen in ein bereitstehendes Boot geschleppt. Sie brachten sie auf das gegenüberliegende Ufer des Flusses, wo Rao sie mit einer Schar Berittener erwartete; alle zusammen sind sie dann weggeritten, man weiß nicht in welche Richtung, denn sie hatten Vorsorge getroffen, daß am Ufer alle Boote zerstört waren, deshalb hat man sie nicht verfolgen können.“ Holkar hatte diese Nachricht derart niedergeschmettert, daß er nichts mehr wahrnahm. Corcoran jedoch, dessen Aktivität durch diesen unerwarteten Coup eher angestachelt wurde, sann schon nach Mitteln, um Sita wieder in die Obhut ihres Vaters zurückzuführen.
„Woher kommt eigentlich die Rauchsäule, die wir über Bhagavapur wahrgenommen haben?“ fragte er.
„Weh und ach, Herr“, erwiderte Ali, „diese Banditen haben, um ihres Erfolges ganz sicher sein zu können, in fünf oder sechs Vierteln der Stadt Feuer gelegt, aber man wird es bald gelöscht haben.“
„Zunächst“, sagte Corcoran, „müssen wir ans andere Ufer schwimmen und dort die vorhandenen Boote klarmachen, um die Entführer zu verfolgen.“
„Kapitän, das Unglück ist größer, als Sie glauben“, antwortete Ali. „Wir haben vor kurzem erfahren, daß die Vorhut der englischen Armee nur fünf Meilen von hier steht, was diesem elenden Rao sicher den Mut gegeben hat, uns in Bhagavapur die Stirn zu bieten. In der Umgebung der Stadt hat man schon ein Kavalleriedetachement gesichtet.“
„Mögen sie kommen“, sagte Holkar lethargisch. „Sollen sie doch mein Leben nehmen, mein Geld. Ich habe meine Tochter verloren, die all das aufwog.“
Corcoran reichte ihm die Hand und sagte mit fester Stimme:
„Seid ein Mann, Fürst, und verliert nicht den Mut. Eure Tochter ist entführt worden, aber sie ist nicht tot und nicht entehrt. Wir werden sie wiederfinden, ich garantiere es Euch. Heiliges Kanonenrohr! Warum ist bloß Louison nicht bei ihr geblieben…, sie hätte man nicht erdolcht, verschreckt oder bestochen wie diese elenden Sklaven. Was kommen muß, ist gekommen… Holkar, ich werde Euch verlassen.“
„Sie verlassen mich! Und das in diesem Augenblick und unter diesen Umständen!“
„Ich werde Rao verfolgen, ihn ergreifen und eigenhändig an dem nächstbesten Baum aufknüpfen.“
„Ja, Sie haben recht“, pflichtete ihm Holkar bei, der durch die Hoffnung, seine Tochter wiederzusehen, klareren Kopf gewann. „Ich werde Sie begleiten.“
„Nein! Ihr bleibt hier!“ erwiderte Corcoran. „Ihr müßt hierbleiben, um den Engländern, die Eure Stadt belagern werden, Widerstand zu leisten. Mich hält im Augenblick in Bhagavapur nichts; ich werde Sita suchen und sie Euch zurückbringen – ich hoffe es wenigstens… Vorwärts, Louison, durch deinen Fehler haben wir Sita verloren, es ist an dir, sie wiederzufinden… Also, mach dich auf die Suche…“
Mit diesen Worten ergriff er Sitas Schleier, der noch ganz mit dem Irisduft ihres Parfüms durchsetzt war, und ließ die Tigerin daran schnuppern.
„Es ist Sita, die wir wiederfinden müssen“, sagte Corcoran zu ihr. „Such!“
Im selben Augenblick kamen die Schwimmer, die ans andere Ufer geschwommen waren, mit demselben Boot zurück, in dem man Sita über den Fluß gebracht hatte. Ohne noch weitere Worte zu verlieren, schifften sich Louison und ihr Herr mit einem Pferd und zwei Ruderern ein.
Nachdem sie den Narbada überquert hatten, sprangen Corcoran und Louison an Land, wobei ihr ersterer noch einmal Sitas Schleier vor die Nase hielt. Dieser zweite Appell an die Intelligenz der Tigerin wurde auch begriffen. Ohne zu zögern, bog sie in einen wenig begangenen Pfad ein, der zu einer weiten Lichtung führte, wo an den Spuren auf dem Erdboden leicht auszumachen war, daß hier eine größere Anzahl von Reitern Rast gemacht haben mußte.
Von der Lichtung aus trabte sie zu einem breiten und ausgetretenen Weg. Corcoran folgte der Tigerin im leichten Galopp. Etwa eine Meile weiter entdeckte Louison ein Stoffstück von Sitas Kleid, die ohne Zweifel – Absicht oder nicht? – an dem dornigen Gestrüpp hängengeblieben war. Mit einem weichen Fauchen wies sie den Kapitän darauf hin. Der stieg vom Pferd und nahm das kostbare Überbleibsel an sich. Dann setzten er und Louison ihren Weg fort.
Nach einiger Zeit hörte Corcoran seitlich von sich den Hufschlag einer Reitertruppe, und er hoffte schon, auf Sita und ihren Entführer gestoßen zu sein. Aber er hatte sich geirrt. Es war eine Eskadron des 25. englischen Kavallerieregiments, die die Gegend durchstreifte. Corcoran gab Louison zu verstehen, sich zu verstecken, und ritt der Eskadron entgegen.
„Wer da?“ schrie der englische Offizier, der die Eskadron befehligte, mit krächzender Stimme, als Corcoran näher herangeritten war.
„Gut Freund“, antwortete dieser.
„Wer sind Sie?“ fragte der Offizier.
Dieser Offizier war ein stattlicher junger Mann mit rotem Haar und ebenso rotem Backenbart, breiten Schultern, und er hatte sowohl das Aussehen eines exzellenten Reiters wie das eines durchtrainierten Boxers und vorzüglichen Kricketspielers.
„Ich bin Franzose“, sagte Corcoran.
„Was machen Sie hier?“ fragte der Offizier.
Der befehlsmäßige und brüske Ton des Engländers gefiel dem Bretonen durchaus nicht, deshalb antwortete er nur trocken:
„Ich reite spazieren.“
„Verehrter Herr“, sagte der Engländer, „ich scherze mitnichten. Wir sind in feindlichem Gebiet, und ich habe das Recht zu wissen, wer Sie sind.“
„Das ist durchaus gerechtfertigt“, erwiderte Corcoran. „Na schön, ich bin hierhergekommen, um die sagenumwobene Aufzeichnung der Gesetze Manus, das Gurukaramta, zu finden, das in dieser Gegend in einem Tempel versteckt sein soll. Vielleicht können Sie mir einen Hinweis geben, wo es ist?“
Der Engländer betrachtete ihn mit einem zweifelhaften Gesichtsausdruck, nicht wissend, ob Corcoran ernsthaft sprach oder sich über ihn lustig machte.
„Sie haben doch zweifellos Papiere bei sich, aus denen Ihre Identität hervorgeht?“ fragte er.
„Kennen Sie dieses Siegel?“ fragte Corcoran seinerseits.
„Nein.“
„Oho. Das ist das Siegel von Sir William Barrowlinson, ehemaliger Direktor der Ostindischen Kompanie und Präsident der Geographical, Colonial und aller möglichen sonstigen Societys, den Sie ohne Zweifel kennen werden.“
„O Sir, und ob ich ihn kenne! Er hat schließlich meine Ernennung zum Leutnant in der britischen Indienarmee unterschrieben.“
„Na also“, erwiderte Corcoran, „dies hier ist ein Empfehlungsbrief, den mir dieser Gentleman für den Generalgouverneur von Kalkutta mitgegeben hat.“
„In Ordnung“, sagte der Offizier. „Und woher kommen Sie?“
„Aus Bhagavapur.“
„Aha. Sie haben den Rebellen Holkar gesehen? Und, ist er bereit, sich zu unterwerfen? Oder zieht er es vor, sich mit uns zu schlagen?“
„Mein Herr“, sagte Corcoran, „wenn Sie näher an Bhagavapur heranreiten, werden Sie das zweifellos besser beurteilen können als ich.“
„Hat er denn wenigstens eine zahlreiche und disziplinierte Armee?“
„Von diesen Dingen habe ich nicht das Geringste gehört… Mit Verlaub, meine Herren, würden Sie liebenswürdigerweise die Freundlichkeit haben, mich meinen Weg fortsetzen zu lassen.“
„Geduld, Sir“, meinte der Offizier. „Wer sagt uns, daß Sie kein Spion Holkars sind?“
Corcoran betrachtete den Engländer eisig.
„Verehrtester“, erwiderte er, „wenn wir uns allein gegenüberständen, wären Sie wahrscheinlich höflicher.“
„Sir“, sagte der Engländer, „ich sorge mich nicht darum, höflich zu sein, sondern meine Pflicht gewissenhaft zu erfüllen. Sie folgen mir ins Stabsquartier…“
„Ich war gerade im Begriff, Sie um diesen Gefallen zu bitten“, entgegnete der Bretone.
Tatsächlich hatte er sich überlegt, daß es, um zu erfahren, wohin man Sita gebracht hatte, am besten sei, wenn er ins Stabsquartier der englischen Armee ritt, wo Rao gewiß Unterschlupf gefunden haben würde.
„Allerdings werden Sie mir hoffentlich gestatten“, fügte er hinzu, „einen guten Freund mitzunehmen.“
„Aber gewiß, Sir“, sagte der Engländer, „Sie können von mir aus alle Ihre Freunde mitnehmen.“
Corcoran pfiff, im selben Moment erschien Louison. Corcoran sehen, ihm entgegenlaufen und sich zu seinen Füßen niederlassen war Sekundensache. Die Pferde der Eskadron waren jedoch in dieser Sekunde von einer geradezu übernatürlichen Furcht befallen worden; sie versuchten ihre Reiter abzuwerfen und auf die freie Ebene zu galoppieren. Was die Reiter selbst betraf, so waren sie sicher ebenso erschreckt worden wie ihre Pferde, die militärische Ehre gab ihnen jedoch Halt, sonst hätten sie dem natürlichen Drang ihrer Reittiere nachgegeben. So blieb ihnen nichts weiter übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
„Sir“, sagte der Offizier, „solche Art Scherze sind ein bißchen stark… Wo haben Sie denn diesen Freund aufgegabelt?“
„Mich wundert Ihre Verwunderung“, erwiderte der Bretone. „Ihr Engländer glaubt euch doch in allen Sportarten auszukennen. Ihr lauft Pferden, Hunden, Füchsen, Hähnen und was weiß ich sonst noch für Bestien der Schöpfung nach. Nun, ich persönlich bevorzuge eben Tiger…, jeder nach seinem Geschmack. Oder haben Sie vor meinem Reisegefährten Angst?“
„Sir“, sagte der Engländer zornig, „ein englischer Gentleman hat vor nichts Angst; aber ich frage mich, ob die Gesellschaft eines Tigers für einen Gentleman der richtige Umgang ist.“
„Louison wird sich in diesem Augenblick sicher dieselbe Frage stellen“, meinte Corcoran seinerseits, „und überlegen, ob die Gesellschaft eines englischen Gentlemans für sie der richtige Umgang ist. Aber benehmen wir uns, wie es sich gehört. Herr Leutnant, wie heißen Sie?“
„John Robarts, Sir“, antwortete der Engländer schroff und steif.
„Sehr gut“, fuhr Corcoran fort. „Aufgepaßt, Louison, ich stelle dir hiermit den ehrenwerten John Robarts, Leutnant bei den fünfundzwanziger Husaren Ihrer Majestät der Königin, vor, hörst du, und du wirst ihm weder mit deinen Zähnen noch mit deinen Krallen zu nahe kommen, ausgenommen im Falle wirklicher Gefahr für dich…“
„Haben Sie diese unschickliche Komödie bald beendet?“ bemerkte der Engländer sarkastisch.
„Und Ihnen, Leutnant Robarts“, sagte Corcoran ungerührt, „erlaube ich mir, Miß Louison, meine beste Freundin, vorzustellen… Und nun bin ich gern bereit, Leutnant, wenn Sie meinen, daß ich es Ihrer Uniform gegenüber an dem nötigen Respekt habe mangeln lassen, Ihnen hier auf der Stelle Genugtuung zu geben.“
„Schon gut, Sir“, erwiderte Robarts, „wir reden später darüber. Genug geredet, folgen Sie uns.“
Es war kein langer Ritt.
Etwa eine Viertelstunde entfernt lag das englische Feldlager am Ufer eines kleinen Bächleins, der einige Meilen südlich in den Narbada mündete. Die Pferde, Soldaten, die Marketenderwagen und das ganze Kriegsgerät, das für eine britische Armee in Indien nötig ist, waren in pittoresker Unordnung gruppiert. John Robarts betrat in Begleitung von Corcoran und Louison das Zelt Colonel Barclays.
Colonel Barclay, der an diesem Tag die Funktionen eines Brigadegenerals wahrnahm, war einer der ehrenwertesten Offiziere der englischen Indienarmee. Er hatte seine sämtlichen Dienstgrade streng nach der Reihenfolge errungen und wurde, sei es im Frieden, sei es im Krieg, stets mit den heikelsten Missionen betraut. Bald ein Regiment an der Grenze kommandierend, bald mit dem Titel eines Residenten ausgestattet und dabei die Schritte und Absichten der gegenüber der Kompanie tributpflichtigen Fürsten überwachend, hatte er stets das Vertrauen der ihm unterstellten Soldaten besessen und war von Grund auf mit den Schachzügen und allen Ressorts der englischen Indienpolitik vertraut. Aber da er weder Bruder, Onkel, Sohn oder Neffe irgendeines Direktors der Kompanie war, wurden ihm meist die widerwärtigen und gefährlichen Aufgaben übertragen, und so hatte er es nur bis zum Colonel gebracht. Wenn er bei seiner Aktion gegen Holkar Erfolg haben würde, so hätte man schon einen Paradegeneral in petto gehabt – wohl versippt, versteht sich –, der das Kommando über die Armee übernehmen und die Frucht eines Barclayschen Sieges ernten würde. Aus diesem Grunde war bei dem Colonel eine stete Mißstimmung und ein – sicher gerechtfertigter – Vorbehalt gegen die Favoriten der sehr ehrenwerten und allmächtigen Kompanie entstanden. Andererseits machte ihn seine mittellose Herkunft besonders habgierig und ehrgeizig. Beides hinderte ihn jedoch nicht, seinen militärischen Pflichten überaus gewissenhaft nachzukommen.
Als John Robarts das Zelt des Colonels betreten hatte, drehte sich dieser um und fragte in seiner bärbeißigen Art:
„Was Neues, Robarts?“
„Wir haben einen wichtigen Gefangenen gemacht, Colonel. Es ist ein Franzose, der, glaube ich, für Holkar spioniert.“
„Laß ihn eintreten.“
„Es ist nur“, sagte Robarts, „er ist nicht allein.“
„Ist gut. Laß auch die anderen eintreten und stell zwei Wachen an den Zelteingang.“
„Aber Colonel…“
„Tu, was ich sage, und widersprich nicht deinem Colonel!“
Wenn er partout nicht auf meine Erklärungen hören will, soll er, es ist schließlich seine Sache, dachte Robarts. Er machte Corcoran ein Zeichen.
„Eintreten!“ sagte er.
Corcoran betrat das Zelt, begleitet von Louison, die sich auf eine Handbewegung von ihm zu seinen Füßen niederließ. Sie wurde durch den Tisch verdeckt, der Corcoran von Colonel Barcley trennte. Dieser hatte ihnen den Rücken zugekehrt und tat so, als hätte er Corcoran weder gesehen noch gehört. Die Folge davon war, daß er die Anwesenheit Louisons nicht wahrgenommen hatte.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Corcoran, dem es zu dumm wurde, daß der Colonel nicht das Wort an ihn richtete und ihn aufforderte, Platz zu nehmen, setzte sich schließlich unaufgefordert, nahm ein Buch vom Tisch und gab vor, es aufmerksam zu lesen.
Schließlich wurde auch Barclay klar, daß der Gefangene nicht zu denen gehörte, die man leicht einschüchtern konnte, deshalb gab er seine Taktik auf.
„Wer sind Sie?“ fragte er kurz angebunden.
„Franzose.“
„Ihr Name?“
„Corcoran.“
„Ihr Beruf?“
„Seemann und Gelehrter.“
„Was heißt das, Gelehrter?“
„Ich suche das Schriftstück der Gesetze Manus im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Lyon.“
„Was taten Sie, als man Sie aufgegriffen hat?“
„Ich war auf der Suche nach einem jungen Mädchen, das entführt wurde.“
„Inderin oder Engländerin?“
„Es handelt sich um Holkars Tochter.“ – Colonel Barclay betrachtete Corcoran mißtrauisch.
„Welches Interesse haben Sie als Franzose an Holkars Angelegenheiten?“ fragte er.
„Ich bin sein Gast“, erwiderte Corcoran.
„Schön, sehr schön“, sagte Barclay. „Haben Sie irgendein Papier, das Sie empfiehlt?“
Corcoran überreichte ihm den Brief von Sir William Barrowlinson.
„Es ist gut“, sagte Barclay, nachdem er ihn gelesen hatte. „Ich sehe, Sie sind ein Gentleman. Sie können Holkar über das Schicksal seiner Tochter beruhigen. Sie ist in meinem Lager. Rao hat sie vor kaum zwei Stunden hierhergebracht. Sie ist eine wichtige Geisel für uns; aber man hat ihr nichts getan, und man wird ihr auch nichts tun. Dafür garantiert die Ehre der englischen Armee. Übrigens respektiert Rao sie ebenfalls, denn er will sie heiraten, das ist der Preis für seine Hilfe.“
„Sagen wir lieber seines infamen Verrats.“
„Wie es Ihnen beliebt, ich streite mich nicht um Worte… Und nun, Mister Corcoran, wenn Sie die schöne Sita selbst sehen und ihrem Vater berichten wollen, daß sie gesund und unbeschadet ist und sich in loyalen Händen befindet, so werde ich mich dem nicht widersetzen. Ich werde sie rufen lassen.“
„Ich wagte nicht, Sie darum zu bitten, Colonel, und danke Ihnen für Ihr großzügiges Angebot.“
Der Colonel schlug auf einen Gong. Augenblicklich erschien John Robarts. Er wartete ungeduldig und neugierig auf das Ende der Unterhaltung. Er schien überrascht, Corcoran dem Colonel gegenüber friedlich neben dem Tisch sitzen zu sehen, Louison zwischen beiden und dem Blick des Colonels durch die herabhängende Tischdecke entzogen.
„Robarts“, sagte Barclay, „gehen Sie Miß Sita holen und bringen Sie sie mit der gebotenen Aufmerksamkeit, die ein englischer Gentleman einer Dame von vornehmer Abstammung schuldig ist, hierher.“
„Aber Colonel…“, antwortete Robarts, der Barclay vor Louison warnen wollte.
„Sie sind noch nicht weg, Leutnant?“ bemerkte Barclay mit einem unangenehmen Unterton in der Stimme.
Robarts beeilte sich diesmal zu gehorchen und verschwand gesenkten Kopfes.
„Sie kennen das Narbadatal noch nicht, Sir?“ fragte Barclay im Ton eines Touristenführers, der die Schönheit einer Landschaft zu loben hat. „Es ist ein bezauberndes Land. Man findet Gegenden, die tausendmal schöner als die in den Alpen oder den Pyrenäen sind… Sie können mir glauben, Sir, denn ich habe dort neun Jahre gelebt, ohne andere Gesellschaft als die Steine in den Bergen und die Spione, die mich über alle Aktionen Holkars informierten… Ach, Sir, kein ermüdenderes Metier als all diese Polizeiberichte zu empfangen, zu analysieren, zu klassifizieren und abzuschätzen. Wenn Sie ein wenig Geologe wären wie ich… Sind Sie Geologe? Nein. Um so schlimmer, Geologie ist meine bevorzugte Leidenschaft. Ja, wenn Sie Geologe wären, was für herrliche Expeditionen hätten wir gemeinsam in acht Tagen unternehmen können, denn es sind nicht mehr als acht Tage nötig, um Holkar zur Vernunft zu bringen. Das wird Ihnen vielleicht wegen Ihrer Beziehung zu ihm unangenehm sein. Na schön, sprechen wir über etwas anderes… Ich hoffe doch sehr, Sir, daß Sie mir die Ehre erweisen, heute mit mir zu speisen.“ Corcoran entschuldigte sich dafür, daß er die Einladung leider nicht annehmen könne.
„Sie fürchten, ein schlechtes Diner vorgesetzt zu bekommen… Ja, ja, die Franzosen… Aber seien Sie versichert, wir haben exzellenten französischen Wein, Gänseleber aus Frankreich, Puddings aus England, alles, was der irdische Globus an Vorzüglichem und Erlesenem für die Gaumenfreuden von Gentlemen hervorbringt… Also versprochen?“
„Colonel“, sagte Corcoran, „ich bedauere unendlich, ein so verführerisches und herzliches Angebot ausschlagen zu müssen, aber ich bin in Eile, um Holkar über das Schicksal seiner Tochter zu beruhigen.“
„Holkar beruhigen, Verehrtester! Kommt gar nicht in Frage. Sie bleiben hier! Sie werden bewacht! Schreiben Sie an Holkar, das genügt. Denken Sie ernsthaft, ich würde Sie ins feindliche Lager zurückkehren lassen, nachdem Sie mein eigenes gesehen haben? Ich werde Ihnen die Freiheit wiedergeben, wenn wir Bhagavapur eingenommen haben.“
„Und wenn Sie es nun nicht einnehmen, Colonel?“ fragte Corcoran, dem es zu mißfallen begann, als Kriegsgefangener behandelt zu werden.
„Wenn wir es nicht einnehmen“, erwiderte der Colonel, „nun ja, dann werden Sie eben nie wieder dorthin zurückkehren, und dann werden eben die Akademie zu Lyon und alle anderen Akademien der Welt auf das Vergnügen verzichten müssen, die Gesetze Manus zu Gesicht zu bekommen.“
„Colonel“, erwiderte Corcoran, „Sie treten das Recht der Nationen mit Füßen.“
„Wie bitte?“ entrüstete sich Barclay.
In diesem Augenblick erschien Sita, und ihre Gegenwart besänftigte die beginnende Auseinandersetzung.
„Corcoran!“ rief sie, als sie den Kapitän bemerkte, und ihre Augen strahlten dabei vor Freude, „ich wußte, daß Sie hierherkommen würden, um mich zu suchen.“
Diese Worte erfüllten Kapitän Corcoran mit großer Freude, denn sie verrieten, daß sie mit ihm gerechnet, daß sie sich allein von ihm Hilfe erhofft hatte.
Aber jetzt war nicht die Zeit, sich zu erklären. Darüber hinaus befürchtete der Kapitän, daß jeden Augenblick Robarts oder einer der anderen Offiziere eintreten und seinen Plan im letzten Moment vereiteln konnte.
„Colonel“, sagte er schließlich, „Sie weigern sich also, mir die Freiheit zu geben?“
„Ich weigere mich“, sagte Barclay.
„Sie halten gegen jedes Recht Prinzessin Sita hier fest, die ihrem Vater durch einen Schurken entführt wurde, den Sie ihr zum Mann geben wollen!“
„Ich habe den Eindruck, Sie wollen mich verhören!“ erwiderte Barclay mit schneidender Stimme und hob die Hand, um auf den Gong zu schlagen.
„Wie Sie wollen!“ schrie Corcoran und sprang auf. „Mag geschehen, was der Himmel will.“
Und bevor Barclay irgend jemand herbeirufen konnte, packte Corcoran den Gong, warf ihn in eine Ecke des Zeltes, zog einen Revolver aus seinem Gürtel, hielt ihn dem Colonel an die Schläfe und sagte:
„Wenn Sie um Hilfe rufen, puste ich Ihnen Ihr bißchen Verstand aus dem Schädel!“
Barclay blickte finster drein.
„Ich habe es also mit einem Mörder zu tun“, stellte er fest.
„Nein“, erwiderte der Bretone, „aber wenn Sie schreien, werde ich getötet, und in diesem Fall bin ich es, der ermordet würde, aber Sie wären für den Mord verantwortlich. Gleichsam zwei mißliche Rollen. Ich habe etwas anderes vor. Ich möchte Ihnen einen Vertrag anbieten.“
„Einen Vertrag!“ empörte sich Barclay. „Ich schließe keinen Vertrag mit einem Mann, den ich als Gentleman empfangen habe, fast als Freund, und der mir dafür dankt, indem er mir droht, mich zu ermorden.“
„Wieder dieses Wort, Colonel! Nun gut, schließen wir also keinen Vertrag, ich habe ihn nicht nötig. Auf, Louison!“
Bei diesen Worten sprang die Tigerin auf und zeigte sich zum erstenmal dem erschrockenen Barclay. Man wird sich unschwer vorstellen können, daß seine Verwunderung nur noch von dem Entsetzen übertroffen wurde, das alsbald von ihm Besitz ergriff.
„Louison“, sagte der Kapitän, „du siehst hier Colonel Barclay vor dir. Wenn er einen Schritt aus dem Zelt tut, ehe die Prinzessin und ich im Sattel sitzen, gehört er dir.“
Corcoran war es mit seiner Drohung ernst, das merkte Colonel Barclay wohl. Deshalb entschloß er sich, den gesunden Menschenverstand über seine Soldatenehre zu stellen und zu kapitulieren.
„Also, was wollen Sie?“
„Ich möchte, daß man Ihre beiden besten Pferde hierherbringt. Wir werden die Pferde besteigen, die Prinzessin und ich. Wenn wir den äußersten Ring des Lagers erreicht haben, werde ich pfeifen. Bei diesem Signal wird die Tigerin zu mir kommen, und Sie werden danach wieder die Freiheit haben, uns Ihre ganze Kavallerie auf den Hals zu hetzen, einschließlich Leutnant John Robarts von den fünfundzwanziger Husaren, mit dem ich noch eine kleine Rechnung zu begleichen habe. Ist das unter den gegebenen Umständen nicht ein faires Angebot?“
„Einverstanden“, sagte Barclay.
„Und rechnen Sie nicht damit, Ihr Wort ungestraft zurücknehmen zu können“, fügte Corcoran hinzu, „denn Louison ist intelligenter als viele Christen, und wenn sie das geringste Anzeichen einer Täuschung bemerken sollte, wird sie Ihnen in Sekundenschnelle den Garaus machen.“
„Sir“, sagte Barclay mit einem Anflug von Empörung in der Stimme, „Sie können dem Wort eines englischen Gentlemans Vertrauen schenken.“
Und tatsächlich befahl er Robarts, ohne das Zelt zu verlassen, daß man zwei ausgezeichnete Pferde satteln und herbeischaffen sollte; er sah zu, wie Sita und Corcoran sie bestiegen, registrierte mit unbeweglichem Gesichtsausdruck den Gruß, den ihm beide entboten, und wartete ungeduldig auf das Pfeifsignal.
In dem Moment, da der Pfiff ertönte und Louison mit gewaltigen Sätzen das Lager durchquerte und denselben Weg wie ihr Herr einschlug, schrie er:
„Zehntausend Pfund Sterling für den, der mir diesen Mann und diese Frau lebend wiederbringt!“
Bei diesen Worten geriet das ganze Lager in Aufruhr. Alle Kavalleristen hasteten zu ihren Pferden und schwangen sich hinauf, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu satteln, aus Angst, Zeit zu verlieren. Und die Infanteristen machten sich ebenfalls an die Verfolgung der Flüchtenden. Sie liefen, als ob sie plötzlich Flügel hätten, und das alles nur wegen lumpiger zehntausend Pfund.
Allein Leutnant Robarts sattelte wie alle Männer seiner Abteilung sein Pferd in aller Ruhe und sprengte erst dann den Flüchtenden hinterher, wobei er sich die Frage im Kopf herumgehen ließ, warum wohl Colonel Barclay die beiden wieder laufen ließ, nachdem er sie gefangen hatte.
Während ein Teil der englischen Kavallerie davongaloppierte, um Corcoran und die schöne Sita zu verfolgen, ritt der Kapitän ebenfalls nach Bhagavapur, neben sich Holkars Tochter und Louison. Die beiden ersteren auf den besten Pferden des Colonels, Louison auf ihren eigenen vier Pfoten, durcheilten sie die Hügel, die Täler, die Ebene wie ein Expreßzug und begannen schon zu hoffen, ihren Feinden entkommen zu sein, als sich vor ihnen auf dem schmalen Pfad plötzlich ein schrecklich breites, nicht zu umgehendes oder zu überquerendes Felsmassiv erhob. Zu allem Unglück bemerkte Corcoran eine Gruppe von fünf oder sechs rotberockten Gestalten, die auf einem Serpentinenpfad über ihnen zu Pferde auftauchten. Es war eine Gruppe englischer Offiziere, die das Lager verlassen hatten, um zu jagen, und die jetzt gemächlich ins Lager zurückkehren wollten, von etwa dreißig indischen Bediensteten und mehreren mit Wild und Proviant beladenen Wagen gefolgt.
Bei ihrem Anblick hielten Corcoran und Sita ihre Pferde an, Louison ließ sich gemächlich auf ihren Pfoten hinter ihnen nieder, bereit, sofort einzugreifen, wenn man ihren Rat, vor allem jedoch ihre Hilfe brauchte.
Der Kapitän hätte nicht gezögert, wenn er allein gewesen wäre; er hätte kühn versucht, mit Louison durch diese kleine Truppe zu brechen; aber er fürchtete, bei einem solchen Streich leichtfertig Sitas Leben oder ihre Freiheit unnötigerweise aufs Spiel zu setzen.
Vielleicht dachte Corcoran in diesem Augenblick aber auch daran, daß es für ihn weitaus besser gewesen wäre, das Schriftstück der Gesetze Manus zu suchen, wie man es ihm aufgetragen hatte, als dem armen Holkar seine Dienste anzubieten. Denn um die Angelegenheiten des Fürsten schien es wahrscheinlich nicht zum besten zu stehen. Aber er verwarf diese Überlegungen bald wieder als seiner unwürdig.
In der Zwischenzeit hatte ihn Sita ängstlich beobachtet.
„Was sollen wir nur tun, Kapitän?“ fragte sie.
„Sind Sie zu allem entschlossen?“ fragte sie Corcoran.
„Ich bin es.“
„Es geht darum, wie Sie wohl selbst verstehen werden, entweder mit Gewalt oder mit List an ihnen vorbeizukommen. Ich würde es mit List versuchen, aber wenn die Engländer nicht darauf hereinfallen, kann es sein, daß wir drei oder vier töten müßten. Sind Sie bereit? Fürchten Sie auch nichts?“
„Kapitän“, antwortete Sita, wobei sie die Augen zum Himmel hob, „ich fürchte nur, meinen Vater nicht mehr lebend wiederzusehen und erneut in die Hände dieses widerlichen Verräters Rao zu fallen.“
„Na also“, erwiderte der Bretone, „dann sind wir ja gerettet. Lassen Sie Ihr Pferd in leichten Trab fallen, ohne es anzutreiben. Das wird ihm Zeit geben, Atem zu holen, und halten Sie sich bereit. Wenn ich sage: Brahma und Wischnu!, dann preschen Sie im Galopp los. Louison und ich werden die Nachhut bilden.“ Die drei Flüchtenden befanden sich in einem weit ausladenden Tal, das vom Hanuveri durchflossen wurde, einem Nebenfluß des Narbada. Die beiden Talabhänge waren mit Gestrüpp und dicken Palmen bedeckt; in den Wäldern hielt sich alles in Indien vorkommende Wild versteckt – Tiger Inbegriffen. Deshalb war es nicht ratsam, den Hauptpfad zu verlassen und sich auf einem der schmalen Pfade in die Büsche zu schlagen, denn man konnte jeden Augenblick auf eines der schrecklichen fleischfressenden Tiere stoßen, ganz zu schweigen von den furchtbaren Schlangen, deren Gift so blitzartig tötet wie Kurare oder Blausäure.
Währenddessen kamen die englischen Offiziere in leichtem Trab näher. Sie hatten das nonchalante Aussehen von Leuten, die keinerlei Feinde zu fürchten haben. Sie hatten gut gegessen, rauchten dicke Havannazigarren und kommentierten ruhig und weitschweifig die Neuigkeiten aus der Times.
Sie schienen sich nicht weiter um Corcoran zu kümmern, der der Kleidung und dem phlegmatischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ein Zivilangestellter der Kompanie sein mußte; aber sie waren außerordentlich entzückt von der überwältigenden Schönheit Sitas.
Nun, und was Louison anbetraf, so waren sie zwar beim ersten Anblick des Tieres verwundert, aber da sie Engländer und sportsmen waren, verstanden sie sehr wohl diese exzentrische Marotte; einer versuchte gar, sie Corcoran abzukaufen, während zwei andere schon darum wetteten, ob sie gegen die Windhunde auf der Rennbahn von Ascot eine Chance hätte.
„Kommen Sie aus dem Lager, Sir?“ fragte einer der Engländer den Kapitän.
„Ja.“
„Und – gibt es schon Neuigkeiten aus England. Die Briefe aus London sollten gegen Mittag eintreffen.“
„Sie sind in der Tat angekommen“, antwortete Corcoran.
„Was sagt man in Westend?“ fuhr der Engländer fort. „Ist Lady Suzan Carpeth noch immer die Firstlady vom Belgrave Square? Oder mußte sie etwa diesen Rang an Lady Suzan Cranmoth abgeben?“
„Um ganz ehrlich zu sein“, erwiderte der Bretone, der, aus Angst, daß eine schroffe Antwort den Verdacht der Engländer erregen könnte, nicht zeigen wollte, wie wenig ihn Lady Suzan oder Lady Suzan kümmerten, „ich fürchte, daß Miß Belinda Charters sehr bald die beiden Damen kaltgestellt haben wird.“
„Oh, oh, wie interessant!“ verwunderte sich der Gentleman. „Miß Belinda Charters? Wer, zum Teufel, ist diese neue Schönheit, von der ich noch nie etwas gehört habe?“
„Sir“, meinte Corcoran, „so erstaunlich ist das auch wieder nicht, wenn man weiß, daß William Charters in Australien im Woll- und Goldstaubhandel gut und gern seine sechs bis acht Millionen Pfund Sterling gemacht hat und…“
„Sechs oder acht Millionen!“ rief der geschwätzige und neugierige Offizier verblüfft. „Das nenne ich eine verteufelt anständige Summe, sehr anständig!“
„Ja“, fügte der Bretone hinzu, „und Sie werden verstehen, daß es Miß Belinda, die übrigens die Schönheit in Person ist, nicht an Verehrern mangelt. Ich habe die Ehre, Gentlemen…“ Mit diesen Worten wollte er sich entfernen, als ihn der Offizier zurückrief.
„Sir, ich bitte Sie, meine Indiskretion zu entschuldigen, aber ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie sich auf feindlichem Gebiet befinden und eine Menge riskieren, wenn Sie diesem Weg weiter folgen sollten.“
„Ich danke Ihnen für den Rat, Sir.“
„Holkars Kundschafter streifen durch das Tal, und Sie könnten von ihnen entführt werden.“
„So? Tatsächlich. Na schön, ich werde vorsichtig sein.“
Und Corcoran machte wiederum alle Anstalten, seinen Weg fortzusetzen; aber der Engländer, der fest entschlossen schien, ihn nicht mehr vor Sonnenuntergang ziehen zu lassen, unternahm erneut den Versuch, ihn zurückzuhalten.
„Sie sind zweifellos Angestellter der Kompanie, Sir?“
„Nein, ich bin nicht zweifellos Angestellter der Kompanie“, entgegnete Corcoran leicht gereizt, „ich reise nur zu meinem Vergnügen.“
Der Offizier verbeugte sich ehrerbietig auf seinem Sattel, überzeugt, daß ein Mann, der nur zu seinem Vergnügen von Europa nach Indien kommt, ein höchst wichtiger und reicher Grandseigneur sein müsse, zumindest ein Lord oder ein einflußreiches Mitglied des Oberhauses. Er wollte gerade zu einem neuen Wortschwall ansetzen, aber Corcoran kam ihm zuvor, denn er hatte – zwar noch weit entfernt, aber doch spürbar – hinter sich das Hufgetrappel der ihn verfolgenden Reiter vernommen, und er schätzte, daß diese ihn bald erreicht haben würden.
„Entschuldigen Sie mich, aber ich bin in Eile.“
„Aber Sie werden mir doch wenigstens eine Zigarre nicht abschlagen“, versuchte es der Engländer noch einmal.
„Ich rauche nicht in Gegenwart von Damen“, erwiderte Corcoran ungeduldig.
Die Unterhaltung war bis jetzt in englischer Sprache geführt worden, und der Bretone beherrschte sie ausgezeichnet; leider war er durch den Unmut, von einem Schwätzer hier festgehalten zu werden und kostbare Minuten dabei zu vergeuden, so verärgert, daß er seine Rolle vergaß und die letzten Worte französisch gesprochen hatte.
„Oh, zum Teufel!“ schrie der Offizier. „Sie sind Franzose, Sir, und kein Engländer. Was machen Sie um diese Zeit auf diesem Pfad?“
Der entscheidende Augenblick war gekommen. Corcoran warf einen Blick auf Sita, um ihr anzudeuten, daß sie sich bereithalten sollte.
Diese hatte den Blick auf einen der Inder gerichtet, die der Eskorte folgten und die Wagen der Engländer lenkten. Der Kapitän betrachtete sie von der Seite und bemerkte verwundert, daß der Inder und Holkars Tochter sich mit den Augen Zeichen des Einverständnisses gaben.
Indem er den Inder genauer in Augenschein nahm, erkannte er in ihm Sugriva, den Brahmanen, der von Tantia Topee zu Holkar geschickt worden war.
Übrigens hatte er keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn die sechs englischen Offiziere umringten ihn, und derjenige, mit dem er bisher gesprochen hatte, herrschte ihn an:
„Sir, in Erwartung dessen, daß Ihre Anwesenheit im Lande Holkars geklärt werde, sind Sie unser Gefangener, zum Teufel.“
„Gefangener!“ sagte Corcoran. „Sie scherzen, Gentlemen. Platz da, oder ich schieße Sie über den Haufen!“
Gleichzeitig zog er aus seinem Gürtel einen Revolver und richtete ihn auf den Engländer.
Genauso prompt wie er zog aber auch der Engländer seinen Revolver und richtete ihn auf Corcoran. Alle beide hätten wahrscheinlich im selben Moment aufeinander gefeuert, als ein unerwarteter Vorgang das Ganze entschied.
Beim trockenen Knacken, den das Spannen der beiden Revolver verursachte, begriff Louison, daß es um Tod oder Leben ging. Urplötzlich sprang sie dem Pferd des englischen Offiziers auf die Kruppe, das nach oben stieg und seinen Reiter abwarf; welch großes Glück für ihn, aber auch für unseren Freund Corcoran, denn bei der Distanz, mit der sich beide Gegner gegenüberstanden, hätten sie riskiert, daß bei einem Schußwechsel beider Schädeldecken wie Sektpfropfen durch die Gegend geflogen wären.
Der Engländer allerdings hatte noch Zeit gehabt, einen Schuß abzufeuern, doch hatte die Kugel durch Louisons Eingreifen nicht das ihr zugedachte Ziel erreicht, sondern war einem anderen Offizier, der sich vorgebeugt hatte, um den Kapitän zu packen, durch den Helm geflogen. „Brahma und Wischnu!“ schrie Corcoran.
Bei diesem Signal drückte Sita ihrem Pferd die Hacken in die Weichen, das daraufhin wie von der Sehne geschnellt davonschoß. Corcoran folgte ihr, wobei er sich von der Hand eines Engländers losriß, der ihn zurückzuhalten versuchte. Auch Louison, nachdem sie bemerkt hatte, daß ihre beiden Freunde die Flucht ergriffen, heftete sich auf deren Fährte. Die verblüfften Engländer fanden kaum die Zeit, einige Revolverschüsse auf sie abzufeuern, von denen lediglich einer Corcorans Pferd streifte.
Was die indischen Sepoys anbetraf, die die Wagen lenkten und ebenfalls bewaffnet waren, so hatten sie den Vorfall unbewegt zur Kenntnis genommen.
Allein einer, der Brahmane Sugriva, dem alle anderen zu gehorchen schienen, vollführte mit dem Wagen ein Manöver, das die Verfolgung durch die Engländer einige Minuten hinausschob. Er tat so, als wolle er den Karren, der sich an der Spitze des Zuges befand, wenden, um seinerseits an der Verfolgung teilzunehmen; bei der Hektik dieses Wendemanövers fiel der Wagen jedoch um und versperrte den Weg. Sofort verließen alle anderen Inder wie auf Befehl ihre Wagen oder versuchten an dem umgestürzten Karren mit ihren eigenen Gefährten vorbeizukommen, wobei natürlich nicht ausblieb, daß noch mehrere umkippten oder die Pferde hochgingen. Die Inder gruppierten sich um die umgestürzten Wagen, machten ein Heidengeschrei, versuchten zu helfen, wobei sie das Durcheinander eher noch vergrößerten, den ohnehin schmalen Pfad restlos versperrten und die Engländer zwangen, vor dieser lebenden Mauer aus Tier und Mensch innezuhalten.
In diesem Augenblick erreichten die Reiter, die aus dem Lager aufgebrochen waren, um die Flüchtigen zu verfolgen, die Stelle des Durcheinanders. An der Spitze galoppierte der vor Zorn kochende John Robarts.
„Habt Ihr den Kapitän gesehen?“ schrie er.
„Welchen Kapitän?“
„Na, diesen verfluchten Corcoran, der Himmel möge ihn verschlingen! Barclay schäumt vor Wut. Der Kerl hat ihm übel mitgespielt, deshalb hat er dem, der ihn und Holkars Tochter zurückbringt, zehntausend Pfund versprochen.“
„Was?“ schrie einer der Offiziere, „das war Holkars Tochter, und wir haben sie nicht erkannt! Ich habe sie, halb hinter ihrem Schleier versteckt, für eine junge englische Lady gehalten, die in Begleitung ihres zukünftigen Mannes durch Indien reist.“
„Los! Auf die Pferde! Vorwärts!“ schrie der ungeduldige Robarts. „Tausend Guineen für den, der die beiden als erster erreicht!“
Bei diesen Worten ergriff eine magische Kühnheit ihre Herzen. Mit Peitschenschlägen brachte man die Inder dazu, so schnell wie möglich den Weg zu räumen; und im gestreckten Galopp jagte man den Flüchtigen hinterher.
Wie in den Tropen üblich, senkte sich der Abend urplötzlich herab, und die Verfolgung mußte um so schneller vonstatten gehen, da bei endgültigem Einbruch der Nacht die Flüchtenden in Sicherheit gewesen wären.
Corcoran galoppierte an Sitas Seite und verfluchte die dümmliche Neugier des Engländers, die ihn so wertvolle Zeit hatte verlieren lassen.
Allerdings hoffte er, daß ihm die bald hereinbrechende Nacht, die zunehmende Entfernung vom englischen Lager oder irgendein glücklicher Umstand, wie das Zusammentreffen mit Holkars Vorhut, Gelegenheit geben würde, Bhagavapur zu erreichen. Was ihn am meisten ärgerte, das war die Tatsache, überhaupt Fersengeld geben zu müssen.
Vor den Engländern fliehen, dachte er, was für eine Schande. Was würde mein Vater wohl dazu gesagt haben, wenn er das mit hätte ansehen müssen! Armer Vater, der nie einem Engländer begegnet ist, mit dem er sich nicht hätte schlagen wollen… Ich aber nehme vor ihnen Reißaus, anstatt diesen entsetzlichen Schwätzer an der Krawatte zu packen und dahin zu befördern, wo er hingehört…
Während es so in ihm rumorte, bemerkte er plötzlich, daß sein Pferd schweißnaß war, sein Galopp schwächer wurde und es trotz der Sporenhiebe in normalen Trab verfiel. Er drehte sich um und sah, daß sein Stiefel blutverschmiert war. Sein Pferd hatte einen Schuß in die Flanke abbekommen.
Dieses neuerliche Mißgeschick beeinträchtigte jedoch keineswegs den Mut des Bretonen. Er hielt das Pferd an und sprang zu Boden.
„Was machen Sie?“ fragte Sita. „Ist das der geeignete Augenblick, um haltzumachen? Die Engländer sind uns dicht auf den Fersen.“
„Es ist nichts weiter“, erwiderte Corcoran. „Mein Pferd ist verletzt worden durch die Schüsse, die diese hochnäsigen Schurken eben auf uns abgefeuert haben. Sita, reiten Sie allein weiter, fliehen Sie, Louison wird Sie begleiten und notfalls schützen.“
„Ja“, meinte Sita, „aber wer wird mich vor Louison schützen?“
Corcoran schien diese Überlegung einzusehen.
„Das ist wahr“, sagte er. „Louison hat noch nichts gegessen, und es ist schon spät. Ich mach mir zwar keine Sorgen um Sie, Prinzessin, zweifelsohne nicht, aber für Ihr Pferd kann ich nicht garantieren; vielleicht sucht sich Louison ihre Beute aber auch irgendwo in der Gegend und läßt Sie allein.“
„Kapitän“, sagte Sita und stieg vom Pferd, „ich bleibe bei Ihnen, wie auch immer das Schicksal aussehen mag, das Sie erwartet. Geteiltes Leid ist halbes Leid…“
„Oh“, meinte Corcoran, und seine Augen leuchteten vor Freude. „Sie haben recht, geteiltes Leid ist halbes Leid! Sollen sie ruhig kommen, all diese Engländer und John Robarts und Barclay und die Colonels und die Hauptleute und die Majore und alle roten Uniformen der Welt.“
Er suchte in den Satteltaschen ihrer beiden Pferde und fand auch zwei geladene Revolver; im Gürtel steckte sein eigener, und in seinen Taschen hatte er noch etwa dreißig Patronen.
„Wir haben Waffen und Munition“, sagte er, „und da ich nur dann schieße, wenn ich ganz sicher bin, daß ich auch treffen werde, glaube ich, daß alles gut gehen wird… Kommen Sie mit mir, Sita, und du Louison, schau dich in der Gegend um und sieh nach, ob sich nicht irgendein Feind im Dschungel versteckt hält.“
Sein Plan war einfach. Auf dem Weg, auf dem sie ritten, hatte er in einiger Entfernung eine kleine Pagode wahrgenommen, von der ein relativ breiter Pfad in den Dschungel führte. Dort wollte er Unterschlupf suchen. Innerhalb kurzer Zeit hatten sie die Pagode erreicht. Sie verbarrikadierten das Tor mit einigen in der Nähe liegenden Balken und Brettern und ließen nur ein paar Löcher als Schießscharten darin.
Louison verfolgte verwundert die Vorbereitungen. Sie war sogar etwas mißmutig. Das war verständlich. Sie mochte den freien Himmel, die Savanne, die dichten Wälder, die hohen Berge; sie liebte es ganz und gar nicht, eingesperrt zu sein, noch weniger begriff sie, daß man so viel Sorgfalt darauf verwenden konnte, sich selbst einzusperren. Doch Corcoran machte sich die Mühe, ihr die Gründe dafür zu erklären.
„Louison, meine Liebe“, sagte er zu ihr, „es ist jetzt nicht die Zeit, daß du deinen Neigungen nachhängst und frei durch die Gegend streifst. Wenn du bis zum Morgen deine Aufgabe gewissenhaft erfüllst, werden wir nicht mehr in dieser bescheidenen Pagode, wo es nicht das geringste Wild gibt, eingesperrt sein. Du hast dich einmal danebenbenommen, jetzt mußt du es wiedergutmachen. Also, aufgepaßt! Du wartest hinter diesem Fenster, und wenn ein Engländer versucht, hier einzusteigen, so gehört er dir.“
Nachdem er seine Anordnungen gegeben hatte, die Louison einzuhalten versprach, jedenfalls konnte man das aus der Lebhaftigkeit ihres Blickes und der liebevollen Art, wie sie mit ihrem Schwanz wedelte und ihre Lippen bleckte, schließen, wandte sich Corcoran Sita zu, um ihr Mut zuzusprechen.
„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu beruhigen, Kapitän“, sagte sie, wobei sie ihm die Hand auf den Arm legte. „Ich fürchte nicht um mein Leben…, sondern um das Ihre, das Sie mit so viel Edelmut zu geben bereit sind. Ich mache mir Sorgen um meinen Vater, der die Verzweiflung, mich in den Händen der Engländer zu wissen, nicht überleben wird, das weiß ich. Aber“, fügte sie hinzu, wobei ihre Augen blitzten, „seien Sie gewiß, daß die Tochter von Fürst Holkar den Barbaren mit den roten Haaren nicht lebend in die Hände fallen wird. Entweder werde ich frei sein oder sterben.“
Aus ihrem Gürtel zog sie ein kleines Fläschchen hervor, das ein sofort wirksames Gift enthielt.
„Das wird mich vor der Schande und der Erniedrigung bewahren, den Verräter Rao zu heiraten.“
Sie hatte kaum ihre Worte beendet, als Corcoran ein leises Geräusch wahrnahm, das wie das Pfeifen einer Kobra klang, dieser furchtbaren indischen Schlange. Er sprang auf, aber Sita machte ihm ein Zeichen, sich wieder zu setzen.
Auf das Pfeifen folgte der Ruf eines Kolibris, dann das Geräusch raschelnder Blätter. „Was ist das?“ fragte Corcoran.
„Fürchten Sie nichts, es ist ein Freund“, erwiderte Sita. „Ich erkenne das Signal.“
Tatsächlich erklang nach kurzer Zeit eine Männerstimme, die leise die Verse des Ramayana sprach, in denen König Janaka seine Tochter Sita dem Helden Rama vorstellt:
Als ich eines Tages mit dem Pflug ein Feld tüchtig umackerte, entdeckte ich in einer Furche ein der Erde entsprossenes Mägdelein, dem ich den Namen Sita gab. Ich nahm sie zu mir als meine Tochter, und nachdem sie nun mannbar geworden, bestimmte ich als Preis für sie einen Jüngling, der imstande sein müsse, den Bogen des Schiwa zu spannen. Nur die Heldenstärke sollte der Preis für die Sita sein. Bald darauf eilten die Könige herbei und freiten um meine der Erde entsprossene Tochter. Um ihre Kraft zu erproben, ward ihnen der Götterbogen gereicht, aber niemand von ihnen war imstande, ihn emporzuheben, geschweige denn frei in den Händen zu schwingen. Weil die Stärke der kraftvollen Fürsten zu gering war, wies sie die Freier alle ab.
Sita erhob sich daraufhin und rezitierte wie eine Antwort auf die Frage, die ihr von draußen zu kommen schien, die schönen Verse, die Sita in dem Epos von Valmiki an Rama, ihren Gatten, richtete, als der durch Kaikeyis Intrige ins Exil geschickt und seines Thrones ledig wird:
Du Herr meines Lebens, niemand kann mich in meinem Entschluß umstimmen, ich werde mit dir von Früchten und Wurzeln leben und mich unter deinem Schutz an der Schönheit der Gebirge, Seen und quellklaren Flüsse erfreuen. Denk immer daran, geliebter Rama, daß dir mein ganzes Wesen gehört. Getrennt von dir könnte ich nicht länger leben.
„Öffnet!“ rief die Stimme von draußen. „Öffnet, ich bin Sugriva!“
Corcoran reichte ihm die Hand zu der Fensteröffnung hinaus und zog den Hindu empor.
Sugriva warf sich sofort Holkars Tochter zu Füßen.
„Erhebe dich“, sagte Sita. „Wo sind die Engländer?“
„Fünfhundert Schritt von hier.“
„Suchen sie uns noch immer?“
„Ja.“
„Und haben sie unsere Spur gefunden?“
„Ja. Eins Eurer Pferde muß lahm sein, weil es von einer Kugel getroffen wurde. Sie haben daraus geschlossen, daß Ihr hier ganz in der Nähe sein müßt.“
„Und du, was hast du getan?“
Der Hindu kicherte leise vor sich hin.
„Ich habe den Wagen, den ich lenkte, quer über den Weg gefahren und umkippen lassen. Die anderen Kulis haben es ebenso gemacht. Dadurch habt Ihr eine Viertelstunde gewonnen.“ Jetzt erst entdeckte Corcoran, daß Sugrivas Gesicht blutverschmiert war.
„Wer hat das gemacht?“ fragte er.
„Leutnant John Robarts“, erwiderte der Hindu. „Als er den umgeworfenen Wagen sah, hat er mir mit seiner Peitsche einen Schlag versetzt. Aber ich werde ihm wiederbegegnen. O ja, ich werde ihm binnen dreier Tage wiederbegegnen, diesem Hund von Engländer!“
„Sugriva“, sagte die schöne Sita, „mein Vater wird dir den Dank erweisen, der dir zusteht…“
„Oh“, unterbrach sie der Hindu, „ich werde meine Rache nicht für alle Schätze des Fürsten Holkar hergeben… Die Rache ist nah, ich weiß es.“
Und als er den zweifelnden Blick des Kapitäns bemerkte, wandte er sich an ihn.
„Sahib Kapitän“, sagte er, „seit Sie Holkars Freund sind, gehören Sie zu uns. In spätestens drei Monaten wird es in Indien keinen Engländer mehr geben.“
„Hm, hm“, meinte Corcoran, „ich habe schon mehrere solcher Prophezeiungen gehört, und diese ist nicht sicherer als alle anderen.“
„Sie müssen wissen“, fuhr Sugriva fort, „daß alle Sepoys Indiens fest entschlossen sind, die Engländer aus unserem Land zu verjagen. Vor fünf Tagen hat der Aufstand in Meerut, in Lahore und in Benares begonnen!“
„Wer hat dir das gesagt?“
„Ich weiß es. Ich bin der geheime Bote von Nana Sahib, dem Peschwa von Bithur.“
„Fürchtest du nicht, daß ich die Engländer warnen könnte?“ – „Dazu ist es zu spät“, erwiderte der Hindu.
„Aber weshalb bist du hierher zurückgekommen?“ wollte der Kapitän noch wissen.
„Sahib Kapitän“, entgegnete Sugriva, „ich gehe überall dorthin, wo ich den Engländern Schaden zufügen kann. Ich möchte nicht, daß Robarts von einer anderen Hand als der meinen getötet wird…“
Bei diesen Worten hielt er plötzlich inne.
„Ich höre Hufgetrappel auf dem Pfad“, sagte er. „Es wird die englische Kavallerie sein.“
„Keine Bange“, versicherte Corcoran. „Das ist nicht mein erster Angriff, den ich lebend überstehe… Du lädst die Waffen, und Sie, Sita, erflehen für uns den Schutz Brahmas.“
Einige Augenblicke später umringten etwa fünfzig bis sechzig Reiter die Pagode und entsicherten stillschweigend ihre Waffen. Robarts, der das Detachement befehligte, rief mit schriller Stimme:
„Ergeben Sie sich, Kapitän, oder Sie sind ein toter Mann!“
„Und wenn ich mich ergebe“, erwiderte Corcoran, „werden Holkars Tochter und ich dann frei sein?“
„Zum Teufel!“ schrie Robarts. „Sie sind in unserer Gewalt… Wollen Sie uns etwa noch Ihre Bedingungen diktieren? Ergeben Sie sich, und Sie werden Ihr Leben retten, das ist alles, was ich versprechen kann.“
„Na schön“, meinte Corcoran, „dann tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich werde mein Möglichstes tun. Fangen Sie schon mal an!“
Nach diesen Worten, die für die Engländer wie ein Signal zum Angriff waren, saßen sie ab, führten ihre Pferde zu einer Baumgruppe in der Nähe und machten sich daran, mit den Kolben ihrer Karabiner das Eingangstor der Pagode zu bearbeiten.
Beim ersten Schlag mit dem Kolben ächzte und zitterte das Tor in seinen Angeln, gab aber nicht nach.
„Ihr habt es so gewollt“, sagte Corcoran. „Was auch geschehen mag, ihr müßt für die Rechnung aufkommen.“
Gleichzeitig gab er durch das Fenster einen Revolverschuß ab.
Ein Engländer fiel tödlich getroffen zu Boden.
Corcoran drückte sich eng an die Mauer, und das war ein Glück für ihn, denn kaum hatten die Engländer entdeckt, daß aus dem Fenster auf sie geschossen wurde, als auch schon eine Salve von fünfzehn oder zwanzig Gewehrschüssen auf die Fensteröffnung abgegeben wurde. Keine Kugel richtete irgendwelchen Schaden an.
„Aber Kinderchen!“ rief der Kapitän. „So trefft ihr doch nicht mal einen Spatzen. Aufgepaßt, so muß man zielen.“
Und mit einem zweiten Schuß verwundete er einen der Angreifer.
Diesen zweiten Revolverschuß beantworteten die Engländer mit einer neuerlichen Salve, die Corcoran ebensowenig anhaben konnte wie die erste.
„Gentlemen!“ rief er. „Ihr macht viel Lärm um nichts. Könnt ihr nicht mal wirklich etwas Überlegtes tun?“
Genau das hatten die Engländer vor.
Während der Großteil der Gruppe Fenster und Tür der Pagode unter Beschuß hielt, hatten fünf oder sechs Kavalleristen einen Baum umgehauen und rückten nun unter Triumphgeheul mit dem Stamm vor.
Teufel, das wird tatsächlich ernst, dachte der Kapitän.
Er drehte sich zu Sugriva um und sagte: „Früher oder später werden sie das Tor eingeschlagen haben. Niemand weiß, was geschehen kann. Bring Sita in irgendeinen Winkel der Pagode, wo sie vor den Kugeln sicher ist.“
Sita bewunderte Corcorans Mut und wollte unbedingt an dessen Seite bleiben, aber Sugriva führte sie trotz ihrer Einwände weg und versteckte sie in einem Winkel.
Während der ganzen Zeit hatte Louison keinen Laut von sich gegeben. Das intelligente Tier ahnte alle Wünsche Corcorans und las jeden seiner Gedanken von seinem Gesicht ab. Sie wußte, daß man ihr die Bewachung des Fensters anvertraut hatte, und nichts konnte sie von dieser Aufgabe abbringen. Sie hatte sich platt an den Boden geschmiegt, verfolgte aufmerksam alle Bewegungen des Kapitäns und war bereit, ihm auf den leisesten Wink hin beizustehen.
Inzwischen wurde der Baumstamm herbeigeschleppt und gegen das Eingangstor der Pagode gewuchtet. Beim ersten Stoß drohte das Tor aus den Angeln zu fliegen. Beim zweiten wurde ein Torflügel eingedrückt. Dadurch entstand ein kleiner Spalt, durch den sich ohne weiteres ein Mann hindurchzwängen konnte.
Corcoran wurde klar, daß das eine ernste Gefahr für sie alle bedeutete, und beeilte sich, die entstandene Öffnung wieder zu schließen. Es war höchste Zeit, denn gerade steckte ein Engländer seinen Kopf durch den Spalt und schob die Arme mit dem schußbereiten Karabiner nach. Zum Glück war die Öffnung noch etwas eng und der Engländer bedauerlicherweise etwas zu dick.
Als der Engländer den Kapitän erblickte, wollte er einen Schuß aus seinem Karabiner auf diesen abfeuern, aber er war so durch die Torflügel behindert, daß er zwar schießen, nicht aber zielen konnte. Corcoran hingegen hatte genug Bewegungsfreiheit. Mit seinem Revolver erschoß er den Engländer.
Da er nicht gerade mit Munition gesegnet war, zog er den Leichnam des Engländers zu sich heran, nahm ihm Patronentasche und Karabiner ab und, was ihm recht zupaß kam, auch die Branntweinflasche, denn er hatte einen gewaltigen Schluck bitter nötig.
Danach plazierte er den Engländer vor die Öffnung und wartete ab. Die Belagerer waren jetzt allerdings vorsichtiger geworden. Sie hatten nicht gedacht, bei ihrem Vorgehen auf ernsthaften Widerstand zu stoßen; nun hatten sie schon zwei Tote und einen Schwerverletzten zu beklagen, und sie fürchteten, noch größere Verluste hinnehmen zu müssen.
„Wenn wir nun Feuer an die Pagode legen?“ schlug einer der Offiziere vor.
Glücklicherweise gab John Robarts nichts auf diesen Rat. „Colonel Barclay“, sagte er, „hat demjenigen zehntausend Pfund versprochen, der ihm Holkars Tochter lebend zurückbringt. Wir gewinnen nichts, wenn sie umkommt… Also vorwärts! Wir greifen noch einmal an. Soll ein einziger Franzose dem ruhmreichen Britannien eine Niederlage zufügen? Wenn man uns schon die Tür versperrt, versuchen wir es eben durch das Fenster.“
Man tat ihm den Gefallen. Während eine Hälfte der Truppe fortfuhr, die Tür unter Beschuß zu nehmen, wandte sich die andere zum Fenster, das etwa zwölf Fuß über dem Boden lag.
Zwei Soldaten bildeten eine Pyramide, auf die ein Sergeant kletterte, von dort stemmte man ihn auf den Mauersims. Mit den Fingern zog er sich an dem Sims empor, und mit allen vieren kräftig zappelnd, gelang es ihm, sich abzustützen und den Kopf durch die Fensteröffnung zu stecken. Angesichts dieser heroischen Leistung schrien seine Kameraden aus vollem Halse hurra.
Doch der arme Teufel hatte keine Zeit mehr, seinerseits hurra zu schreien, denn kaum hatte er den Mund geöffnet, als sich Louison auf ihre Hinterpfoten erhob, die Vorderpfoten auf den Fenstersims legte, den Unglücklichen mit ihren Zähnen am Hals packte und ihn zu seinen entsetzten Kameraden hinabwarf.
Bis zu diesem Augenblick hatte man Louisons Anwesenheit ganz vergessen gehabt; die Tat der Tigerin kühlte die hitzige Kühnheit der Kavalleristen merklich ab.
„Ich frage mich, warum wir eigentlich hier sind?“ wandte ein Offizier ein. „Wir sollten im Lager sein. Wenn Barclay Holkars Tochter hat entkommen lassen, so ist es an ihm, seinen Fehler wiedergutzumachen und sie zurückzuholen… Wir sind hier fünfzig und vergeuden unsere Zeit, einen Gentleman unter Beschuß zu nehmen, den wir nicht kennen, der uns nichts getan hat und uns zweifellos auch nicht vier unserer Kameraden außer Gefecht gesetzt hätte, wenn wir ihn friedlich seines Weges hätten ziehen lassen. Freiweg, ich seh in dem Ganzen keinen Sinn…“
„Barclay will Holkars Tochter als Geisel“, sagte Robarts, „und er wird dafür seine Gründe haben. Ich werde nicht eher zurückkehren, bis ich meine Aufgabe erfüllt habe.“
„Schön und gut“, meinte der andere, „aber es pressiert ja wohl nicht. Wir werden Holkars Tochter und ihren Kavalier genausogut, wenn nicht noch besser, auch morgen gefangennehmen können. Es wird bald Nacht… Wir werden ein Auge auf sie haben, sie entkommen uns schon nicht; inzwischen können wir essen und schlafen. Corcoran hat keinen Proviant, vor allem kein Wasser bei sich. Er wird bald gezwungen sein, sich zu ergeben.“
Der Kapitän beobachtete, wie sich die Engländer ein wenig von der Pagode entfernten, ohne sie jedoch aus den Augen zu verlieren, und in regelmäßigen Abständen Wachtposten aufstellten. Währenddessen ließen sich die anderen nieder, um zu speisen, denn die indischen Kulis waren ihnen mit ihren Wagen gefolgt und luden nun die silbernen Bestecke, die Wildbretpasteten, das kalte Fleisch und die Sherryflaschen ab.
Dieser Anblick verdoppelte Corcorans Qualen und drehte ihm die Därme im Leibe um, denn am Morgen hatte er kaum gefrühstückt, und der Tag war mit so viel Ereignissen angefüllt gewesen, daß ihm keine Minute geblieben war, ans Essen zu denken.
Aber das war nichts zu der Unruhe, die er um Sita empfand, die es ja gewohnt war, im Luxus zu leben und die Annehmlichkeiten eines Palastes zu genießen. Wie sehr würden ihr Müdigkeit und Hunger zusetzen?
Ein noch unberechenbarerer Faktor war Louison.
Gewiß, die Tigerin war ein verläßlicher Gefährte, aber ihr Appetit war dennoch größer als ihre Verläßlichkeit.
Und was sollte er ihr auch vorwerfen? Ist nicht der Magen – nach den Physiologen – der Beherrscher der gesamten tierischen wie menschlichen Natur? Kann man denn einer armen Tigerin, die kaum von der Zivilisation beleckt war, den Vorwurf machen, ihre Leidenschaften und ihren Appetit nicht zügeln zu können, wenn man jeden Tag mitansehen muß, wie es den mächtigsten Herrschern, die mit der allergrößten Sorgfalt von gelehrten Ministern geführt und von Kindheit an mit der Weisheit der Philosophen gefüttert wurden, an den elementarsten Gepflogenheiten der Moral und Vernunft gebricht?
Corcoran machte sich also Sorgen, und das zu Recht. Er sah, wie Louison den unglücklichen Sugriva schon mit den Augen verschlang, und fürchtete einen nicht wiedergutzumachenden Vorfall. Aber sie waren in einer Situation, wo kaum Zeit blieb, sich die Mahlzeit aussuchen zu können, und an Louisons Verhalten bemerkte Corcoran, daß sie Hunger hatte.
Nun gut, dachte er, besser, sie holt sich einen Engländer, als daß sie überhaupt nichts ißt oder meinen armen Freund Sugriva zu sich nimmt. Er rief Sugriva.
„Hast du Hunger?“ fragte er ihn.
„Natürlich.“
„Hast du etwas zu essen bei dir?“
„Nein.“
„Willst du essen?“
Sugriva betrachtete den Kapitän verwundert, als ob er an dessen Verstand zweifle.
„Ja, ja, ich weiß schon, was du denkst“, sagte Corcoran. „Du fragst dich, wo das Souper bleibt. Dort ist es.“
Und er zeigte auf die in einiger Entfernung auf ihren Teppichen lagernden Engländer, die soeben mit der Mahlzeit begonnen hatten.
„Mein Freund“, fuhr Corcoran fort, „Louison wird ausbrechen. Sie wird sich einen Wachtposten schnappen. Draußen wird man zu den Waffen greifen. Du schlängelst dich durch das Gras, nimmst von den Engländern soviel Lukullitäten, wie du schleppen kannst, und bringst sie so schnell wie möglich hierher. Verstehst du jetzt? Ich werde dir mit meinen zwei Revolvern Feuerschutz geben und, falls nötig, dir sogar zu Hilfe eilen…, abgemacht?“
„Abgemacht“, erwiderte der Brahmane. Louison erhielt ihrerseits Instruktionen, die ihr der Kapitän eindringlich, mehr mit Gesten als mit Worten, erläuterte. Übrigens war die Tigerin so intelligent, daß sie sofort das Ziel ihres Ausbruchs verstand; sie zwängte sich freudig durch den Torspalt. Sugriva folgte ihr augenblicklich.
Die Engländer, die nicht im geringsten damit rechneten, daß einer der Eingeschlossenen versuchen würde auszubrechen, und die sich auch deshalb sicher wähnten, weil sie in der Mehrzahl waren, aßen, tranken und schwatzten fröhlich. Der Mond erhellte deutlich die ganze Szenerie.
Der Posten, der das Tor der Pagode überwachte, stand etwa zehn Schritt vom Eingang entfernt. Mit zwei Sätzen hatte ihn Louison angesprungen, entwaffnet und mit ihren Zähnen das Genick durchgebissen.
Bei diesem Lärm, beim Schrei des sterbenden Wachtpostens, griffen alle Engländer zu den Waffen und bemühten sich, den Feind auszumachen. Der Anblick Louisons, die sich gespenstisch vor dem nachtdunklen Himmel abhob, ließ für einen Moment auch die Kühnsten zurückweichen. Diese Verwirrung und die Dunkelheit nutzte Sugriva, der, nur mit einem um die Lenden gewickelten Tuch bekleidet und sich kaum von der übrigen Umgebung abhebend, bis zu der Stelle kroch, an der der Proviant auf einem Tischtuch ausgebreitet lag. Hastig raffte er Brot, Fleisch und einige Flaschen Wein an sich. Ohne daß man ihn bemerkt hätte, kehrte er wieder zurück.
Um die Aufmerksamkeit der Engländer abzulenken, gab Corcoran zwei Revolverschüsse durch das Fenster ab, die niemandem weh taten. Man antwortete ihm aus vierzig Karabinern. Die Kugeln prallten an der Mauer der Pagode ab. Während dieses Schußwechsels lief Sugriva gebückt die restlichen fünfzig Schritte, die ihn noch vom Eingang trennten, und glitt mit seiner Beute durch die Öffnung in die Pagode.
Militärisch und ökonomisch war der Ausfall ein einzigartiger Erfolg gewesen, aber es gab ein Problem: Louison wollte nicht wieder zurückkommen. Umsonst ließ der Kapitän sein gewohntes Pfeifsignal ertönen; Louison hielt ihren Engländer im Maul und wollte nicht von ihm lassen.
Die anderen Engländer schossen auf sie, was ihre Flinten hergaben, aber bei der Entfernung und der Dunkelheit wären Treffer reiner Zufall gewesen; und keiner der Belagerer wollte sich in der Dunkelheit an die Verfolgung eines so unberechenbaren Gegners wagen. Corcoran war nicht wohl. Außer der gegenseitigen Freundschaft, die beide miteinander verband, hatte er sich gerade durch Louison ihrer aller Rettung erhofft.
Für einen kurzen Augenblick empfand Corcoran Angst. Louison hatte ein rauhes Brüllen von sich gegeben, als die Schießerei begann, und sich dann platt an die Erde geschmiegt. War sie tot oder verwundet? Oder verstellte sie sich nur, um ihre Feinde in Sicherheit zu wiegen? Corcoran spähte durch die Fensteröffnung, konnte jedoch keine Einzelheiten erkennen. Die Engländer schienen ihm unsicher geworden zu sein. Sie hatten jetzt eine Kette um die Pagode gebildet, fünf oder sechs Schritt voneinander entfernt, luden ihre Karabiner nach und schienen bereit, von neuem das Feuer zu eröffnen.
Plötzlich drang ein lauter Schmerzensschrei durch das Schweigen der Nacht. Louison hatte in der Dunkelheit die Kette der Belagerer durchbrochen und einem, der sich ihr entgegengestellt hatte, ihre Zähne in die delikateste Stelle seines verlängerten Rückens geschlagen. Nun brachte sie ihn im Maul zur Pagode.
Corcoran öffnete sofort das Tor einen Spaltbreit, um Louison hereinzulassen, auf die keiner der Engländer zu schießen wagte, aus Angst, den Mann, den sie mit sich schleppte, zu verwunden oder zu töten. Der Kapitän ließ die Tigerin herein, dem Verletzten gab er seine Freiheit wieder. Doch der arme Teufel war leider nicht in der Lage, sich für die Großzügigkeit des Kapitäns erkenntlich zu zeigen, denn er hatte einen wunden Hintern und war der Ohnmacht nahe.
„Meine Herren!“ schrie Corcoran, nachdem er dem Verwundeten Karabiner, Revolver und Munition abgenommen hatte, „Sie können Ihren Kameraden wiederhaben. Er ist nur verwundet!“
„Hund von einem Franzosen!“ schrie John Robarts zurück, der den Verletzten von zwei Soldaten holen ließ, die ihn vor Louisons Zähnen in Sicherheit brachten. „Sind diese Waffen etwa eines Gentleman würdig?“
„Aber sehr verehrter Hund von einem Engländer“, erwiderte Corcoran, „warum sind Sie fünfzig oder sechzig gegen einen? Und warum wollen Sie mich abknallen wie einen Hasen, da ich doch nichts weiter im Sinn habe, als mit Ihnen wie mit der ganzen Menschheit in Frieden zu leben?“
Während er sprach, verstopfte er mit Sugrivas Hilfe die im Tor entstandene Öffnung mit allem, was dazu angetan war, als Barrikade in Betracht zu kommen.
Nachdem sie diese Arbeit beendet hatten, machten sie sich über das Essen her.
„Nun schaut euch nur den Wein dieser Ketzer an… Das ist ja bester Beaujolais… Brahma und Wischnu sei Dank… Ich fürchtete schon, eine Flasche schales Ale aus Mister Alsops Brauerei vorzufinden. Die Pastete ist vorzüglich…, essen Sie, Sita. Und du, Sugriva, schone dich nicht. Morgen früh werden wir tot oder gefangen sein…“
„Sahib Kapitän“, sagte Sugriva, „seien Sie guter Hoffnung…, ich habe soeben eine Entdeckung gemacht…“
„Welche?“
„Als ich vorhin nach etwas suchte, um die Öffnung im Tor zu verschließen, habe ich gemerkt, daß ich auf einer Falltür stand.“
„Na und?“
„Sahib Kapitän, diese Falltür muß zu einem unterirdischen Gang führen, und dieser unterirdische Gang hat vielleicht einen zweiten Ausgang auf freiem Feld. Und dann wären wir gerettet.“
„Gerettet, sagst du…, du ja, aber Sita, nein. Du siehst ja selbst, daß das arme Geschöpf am Ende ihrer Kräfte ist und sich nicht mehr auf den Beinen halten kann.“
„Herr, wenn ich den unterirdischen Gang finde, wie ich auch die Falltür gefunden habe, und wenn dieser Gang, wie ich hoffe, wirklich auf das freie Feld führt, dann wird Holkar noch vor Mitternacht von unserem Schicksal unterrichtet sein.“ Corcoran erhob sich augenblicklich. Sugriva hatte sich nicht geirrt. Hinter dem Schrein Wischnus befand sich die Falltür, und unter der Falltür, die sie nur mit viel Mühe anzuheben vermochten, kam eine Treppe von etwa dreißig Stufen zum Vorschein.
„Steig allein hinunter“, sagte Corcoran, „es ist besser, wenn ich hier warte.“
Glücklicherweise hatte er ein Feuerzeug in der Tasche, mit dessen Hilfe er eine der Kerzen vor dem Schrein anzündete. Sugriva ergriff die Kerze und stieg vorsichtig die Treppe hinab. Nach wenigen Minuten kam er zurück.
„Der Gang ist gut ausgebaut und mannshoch“, sagte er. „Er führt zu einem Gitter, etwa hundert Schritt von hier entfernt, aber ganz gewiß in den Rücken der Engländer. Jetzt bin ich sicher nach Bhagavapur zu gelangen, wenn nicht irgendein Tiger durch die Gegend streift.“
„Sei dessen eingedenk, daß der Morgen stürmisch wird, wenn die Nacht ruhig war“, bemerkte Corcoran, „und sage Holkar, er möge sich beeilen.“
„Sugriva“, fügte die schöne Sita hinzu, „sag meinem Vater, daß sich seine Tochter unter dem Schutz des kühnsten und edelsten aller Männer befindet. Und Sie, Kapitän, schlafen Sie einen Augenblick, ich werde wachen.“
Sugriva verneigte sich, legte die Fingerspitzen dachförmig als Gruß vor die Lippen und verschwand.
Als beide allein zurückblieben, setzte sich Corcoran neben Holkars Tochter und sagte zu ihr:
„Liebe Sita, ich werde mich stets an das Glück des heutigen Abends erinnern, so bei Ihnen sitzen zu dürfen…“
„Kapitän“, antwortete die Prinzessin, „mir scheint, ich habe immer nur in den Tag hinein gelebt; mein ganzes vergangenes friedliches und süßes Leben kommt mir vor wie ein Traum gegenüber dem, was ich gestern gesehen und gefühlt habe.“
„Und was haben Sie gefühlt?“ fragte der Bretone.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie unbefangen. „Ich hatte Angst. Ich hatte geglaubt, man wollte mich töten. Ich wollte mich selbst töten, um Rao zu entgehen; als ich Sie im englischen Lager traf, habe ich wieder gehofft, und ich war sicher, am Leben zu bleiben, als ich sah, mit welcher Kühnheit und Kaltblütigkeit Sie allen Gefahren trotzten.“
Corcoran lächelte, als er diese offenherzigen Worte hörte.
Was für ein charmantes Mädchen, dachte er, und wieviel angenehmer ist es doch, mit ihr die Nacht in einer Pagode zu verbringen und sich friedlich (trotz der Anwesenheit englischer Karabiner) über Brahma, Schiwa und Wischnu zu unterhalten, als stumpfsinnig hinter der Handschrift von Manu, dem klügsten aller Inder, herzujagen, die der Akademie zu Lyon noch zu ihrem Glück fehlt… Ach, es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als hübsche Prinzessinnen zu retten und das eigene Leben für sie hinzugeben.
Während dieser Gedanken übermannte ihn der Schlaf. Sita wachte über ihn. Außerdem schien die Gefahr nicht mehr ganz so groß, da sich auch die Engländer zur Ruhe begeben hatten. Und schließlich wachte ja Louison, und wenn sie auch schlief, dann nur mit einem Auge wie die Katzen; das andere Auge war halb offen und registrierte die kleinste Bewegung in der Finsternis. Und selbst wenn sich ihre Augen dem Schlaf hingaben, so hörten doch ihre Ohren den leisesten Laut.
Während im Innern der Pagode und auch außerhalb von ihr alles schlief – ausgenommen Louison und zwei englische Wachtposten, denn auch Sita hatte der Schlaf übermannt –, war Sugriva dem unterirdischen Gang gefolgt und bis an das Gitter gekommen. Aber dort konnte er kein Schloß entdecken. Vergeblich versuchte er das Gitter zu entfernen. Nachdem er einige Zeit im Dunkeln herumgetappt war, stieß er zufällig mit dem Fuß an eine kleine Figur ohne Hände und Füße, die Brahma darstellen sollte, der das Universum auf seinen Schultern trug. Er bewegte die Figur hin und her, drehte sie schließlich einmal knirschend um sich selbst, und das Gitter öffnete sich. Sugriva schloß das Gitter wieder, glitt durch das Gestrüpp des über ihm wuchernden Dschungels und war innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Er hatte einen Plan. Vorsichtig umschlich er das Lager der Engländer, die friedlich schlummerten und der Aufmerksamkeit ihrer beiden Wachtposten vertrauten. Als er wie eine Schlange durch das hohe Gras glitt, wurde er von einem der indischen Kulis wahrgenommen, der sofort Alarm schlagen wollte. Aber Sugriva machte ihm mit zwei erhobenen Fingern der rechten Hand ein geheimes Zeichen. Daraufhin schwieg der andere.
Sugriva suchte zwei Dinge: ein Pferd, um seine Botschaft zu überbringen, und John Robarts, um ihm den Hals umzudrehen. Zu seinem Glück schlief dieser ehrenwerte Gentleman zufällig direkt neben dem nach und nach verlöschenden Feuer inmitten von zehn oder zwölf seiner Leute, deren Arme und Beine auf das kunstvollste ineinander verschlungen waren.
Sugriva hatte das Leben seines Feindes in der Hand; aber wenn er ihn tötete, würde die ganze Truppe wach werden, und seine Mission wäre mißlungen. Er mußte sich also wohl oder übel mit Geduld wappnen und einen günstigeren Augenblick abwarten, da ihm John Robarts wieder über den Weg laufen würde.
Dann wählte er mit Bedacht eines der Pferde aus, deren Vorderläufe gefesselt waren, pflockte es los, warf ihm Zügel und Zaumzeug über, die nachlässig über dem Ast eines Baumes hingen, und umwickelte ihm, um unnötigen Lärm zu vermeiden, die Hufe mit Lappen und Filz. Dann führte er es am Zügel langsam von der Lagerstelle weg.
Während dieser Tätigkeit hatte ihn der indische Kuli nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen. Jetzt näherte er sich ihm und fragte:
„Welcher Tag?“
„Bald“, antwortete Sugriva.
„Wohin gehst du?“
„Zu Holkar.“
„Willst du, daß ich dir folge?“
„Das ist nicht nötig. Bleib hier. Wenn ich dich brauche, werde ich es dich wissen lassen. Die große Neuigkeit wird noch in dieser Woche geschehen.“
„Gelobt sei Schiwa“, erwiderte der Hindu.
Daraufhin kehrte er auf seinen Posten zurück. Sugriva schwang sich in den Sattel, ließ das Pferd erst im Schritt gehen, dann in leichten Trab fallen, und als er glaubte, weit genug von den Engländern entfernt zu sein, galoppierte er geradewegs auf Bhagavapur zu. Es gab, dem Himmel sei Dank, keinerlei Zwischenfall auf dem Weg.
Da man eine Schlacht zwischen Hindus und Engländern erwartete, hatten alle Bewohner der zwischen dem englischen Lager und Bhagavapur gelegenen Dörfer und Weiler ihre Häuser verlassen; aus Furcht vor Plünderungen, Totschlag, Feuersbrünsten und all den anderen Widerwärtigkeiten, die gewöhnlich Folge eines Krieges sind und den Weg der Helden schmücken.
Als Sugriva die ersten Vorposten erreicht hatte, bat er, sofort zu Holkar geführt zu werden. Man brachte ihn in den Palast.
Der unglückliche Fürst hatte sich auf einem Teppich niedergelassen, aber er schlief nicht. Seit der Entführung seiner Tochter hatte er nur einen einzigen Gedanken, und in seiner Hoffnungslosigkeit hatte er sogar daran gedacht, sich zu erdolchen, allein der Wunsch nach Rache hielt ihn noch aufrecht.
„Wer bist du?“ fragte er und hob seinen gramgebeugten Kopf. „Welch neues Unglück wirst du mir verkünden?“
„Fürst Holkar“, sagte der Bote, „erkennt Ihr mich nicht? Ich bin Sugriva, der Vertraute von Tantia Topee, sein Freund und Eurer.“
„Ach, Tantia Topee! Er wird zu spät kommen, zu spät… Und woher kommst du, Sugriva?“
„Aus dem englischen Lager.“
„Du hast die Engländer gesehen!“ schrie Holkar. „Wo sind sie? Was haben sie vor? Ihnen verdanke ich den Verlust meiner Tochter, meiner armen Sita.“
Dicke Tränen liefen dem Greis die Wangen herab.
„Herr“, sagte Sugriva behutsam, „Eure Tochter ist wiedergefunden worden.“
„Wo ist sie? In den Händen Barclays oder dieses unwürdigen Rao?“
„Sie ist in Sicherheit, Herr, wenigstens im Augenblick. Der kühne Franzose, Euer Gast, hat sie aufgespürt und unter seinen Schutz genommen.“
Und Sugriva erzählte in wenigen, knappen Sätzen die Geschichte von Corcorans und Sitas Flucht.
„Wir dürfen keinen Augenblick der kostbaren Zeit verlieren“, beendete er seine Schilderung. „Morgen früh können die Engländer Verstärkung erhalten, und die Folge wäre eine Schlacht, deren Ausgang höchst ungewiß ist.“
„Der Meinung bin ich auch“, sagte Holkar. Er rief Ali.
Ali, der mit gezogenem Säbel hinter der Tür des Gemachs Wache hielt, trat sofort ein.
„Ali“, sagte der Fürst, „laß der Kavallerie den Befehl zum Aufsitzen geben. In einer halben Stunde möchte ich jeden Reiter fertig zum Ausrücken vor mir stehen haben.“
Der Befehl wurde sofort ausgeführt; Trompeten erschallten in den Straßen, die Berittenen sammelten sich, und man sattelte in aller Eile den Lieblingselefanten Holkars.
„Auf ihm reitet sie am liebsten“, sagte der unglückliche Vater. „Du, Sugriva, nimmst ein Pferd und wirst uns als Führer dienen.“
„Herr, gestattet Ihr mir im Tausch für den Dienst, den ich Euch erweise, eine Bitte?“ fragte der Hindu.
„Eine? Zehn! Hundert! Tausend! Die Hälfte meines Reiches werde ich dir geben, wenn du mir hilfst, meine Tochter wiederzufinden.“
„Nein, Herr, danach steht mir nicht der Sinn. Was ich will, ist das Leben von Leutnant John Robarts.“
„Du willst diesen Feringhee retten?“
„Ich“, rief Sugriva und schüttelte sich in einem wilden Lachen, „ihn retten! Möge niemals Wischnus Blick auf mir ruhen, wenn ich daran gedacht hätte, einen Engländer zu retten.“
„Ach, so ist das. Nun, das ist leicht“, sagte Holkar. „Ich gebe ihn dir und noch zehn andere dazu.“
Während man die letzten Vorbereitungen zum Aufbruch traf, stellte er einige Fragen an Sugriva, die sich auf die Kampfkraft und die Stellung der englischen Armee bezogen.
„Herr“, antwortete der Hindu, „ich habe alles gesehen. Vorgestern abend verließ ich Bhagavapur, um mich zum einundzwanzigsten Sepoyregiment zu begeben, wo ich Freunde habe, die mich mit Nachrichten versorgen. Da ich wie ein Bettler gekleidet war, erregte ich keine Aufmerksamkeit unter den Rotröcken. Man ließ mich ungeschoren im Lager umhergehen und zu Wischnu beten. Deshalb gelang es mir, mit mehreren Sepoys zu sprechen, von denen einer Sergeant ist und in unser Komplott eingeweiht wurde. Ach, Herr, es ist ein Vergnügen, wenn man sieht, wie sie diese verfluchten Engländer hassen und sie zum Teufel wünschen… Alles an den Feringhees ist schrecklich. Ihre Verleumdung, ihre Gier, ihre Gewohnheit, geweihtes Fleisch zu essen, ihre Gottlosigkeit, die Reden ihrer Priester, die Borniertheit ihrer Offiziere, die Strenge ihres Dienstes… Könnt Ihr Euch vorstellen, Herr, daß sie die Brahmanen, die Männer der höchsten Kaste, wie ungezogene Kinder ausgepeitscht haben…?
Nun, nach einigen Stunden war ich schließlich über alles informiert, ich gab jedem das Losungswort und wollte gerade wieder gehen, als ich Eure Tochter im Lager ankommen sah, die der Verräter Rao entführt hatte.“
Bei diesen Worten stieß Holkar einen tiefen Seufzer aus. „O Wischnu“, sagte er, „wenn ich bedenke, daß ich diesen Elenden auf meinen Knien geschaukelt habe, daß ich ihn pfählen konnte, und es nicht getan habe! Reiten wir los!“
Mit diesen Worten schwang er sich in den Sattel und preschte davon, gefolgt von zwei Regimentern seiner Reiterei.
Da die Entfernung, die Bhagavapur von der Pagode trennte, in der Corcoran der Belagerung trotzte, kaum mehr als drei französische Meilen betrug, erreichte Holkar kurz vor Morgengrauen den Schauplatz des Geschehens.
Um fünf Uhr morgens hatte die frische Nachtluft jedermann geweckt, Corcoran zuerst.
Er erhob sich, prüfte seine Waffen sorgfältig, ging dann sofort zum Fenster, wo Louison noch immer ausharrte, zwischen Wachsein und Schlaf pendelnd, streckte und reckte sich mehrmals und spähte zum Horizont.
Am Himmel war keine Wolke zu sehen; die Sterne glänzten noch einmal hell auf, bevor sie von der aufkommenden Morgendämmerung verschluckt wurden. Der Mond war schon lange vor der Dämmerung verschwunden. Das einzige Geräusch in der morgendlichen Stille verursachte, ein Stück von der Pagode entfernt, ein Bächlein, das als Kaskade von einer flachen Felswand herabsprudelte.
Die ganze Natur schien friedlich zu ruhen, und auch die Menschen, die sich nach und nach den Schlaf aus den Augen rieben, machten durchaus nicht den Eindruck, im nächsten Moment wieder aufeinander loszugehen.
Aber der feurige John Robarts dachte da anders.
Dieser ehrenwerte Gentleman hatte die ganze Nacht von nichts anderem als den zehntausend Pfund Sterling geträumt, die Colonel Barclay in Aussicht gestellt hatte, wenn man Corcoran und die Prinzessin fangen sollte.
Irgendwo, in Schottland vielleicht, andere meinen in England – in England, ja, ich erinnere mich wieder –, drei Meilen von Canterbury entfernt, lebte eine rothaarige und häßliche Tante von ihm. Und diese rothaarige und häßliche Tante hatte eine blonde und hübsche Tochter, also eine leibhaftige Cousine von John Robarts, Miß Julia, und diese Cousine spielte Klavier. Oh, Klavier spielen, welch Talent! Und jungen hübschen Mädchen zuhören, die Klavier spielen – welch Freude!
Aber kommen wir auf die Cousine von John Robarts zurück. Miß Julia sang bezaubernde Liedchen und endlose Romanzen, in denen der Mond, die kleinen Vögel, die Schwalben, die Wolken, Lachen und Tränen die Hauptrolle spielten – genauso wie in unseren bezaubernden und endlosen französischen Romanzen –, was zur Folge hatte, daß sie den ganzen Tag nur an die roten Schnurrbartspitzen von John Robarts dachte, der seinerseits dreimal am Tag an Miß Julias blaue Augen dachte (die hatte sie nämlich auch noch).
Aus diesem gegenseitigen Aneinanderdenken entstand, wie man sich unschwer vorstellen kann, eine gegenseitige Sympathie.
Aber da Miß Julia die Erbin von fünfzehntausend Pfund Sterling war, und Mrs. Robarts, die Tante von John, sehr genau kalkulierte und somit wußte, daß John keinen Schilling außer seinem Sold besaß, sondern im Gegenteil noch etwa fünf- bis sechshundert Pfund Schulden bei seinem Schneider, seinem Schuster, seinem Posamentier und seinen anderen Lieferanten hatte, wurde John höflich, aber entschieden vor die Tür dieses entzückenden Landhauses gesetzt, in dem die unglückliche Julia mit der Mutter zusammen ihre Tage verbrachte.
Vor lauter Hoffnungslosigkeit entschloß sich John, nach Indien zu gehen, wobei er hoffte, dort sein Glück (sprich Vermögen) zu machen wie Clive Hastings und all die anderen Nabobs.
Aber obwohl John Robarts kühn und gehorsam war, hatte er bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt, seine Kühnheit zu beweisen, und er wünschte in seinem naiven Herzen nichts sehnlicher, als daß ganz Hindustan in Flammen aufgehen möge, damit er, Robarts, die Feuersbrunst löschen und sich mit gleichem Ruhm bedecken könne wie Arthur Wellesley, Duke of Wellington. Deswegen streifte er Tag und Nacht durch das Land, wobei er hoffte, daß er einmal diesen Schatz erhaschen könnte, der notwendig war, um das entzückende Häuschen in der Nähe von Canterbury – Robarts House – zu erwerben und mit dem Häuschen natürlich die junge Eigentümerin.
So gesehen, erklärt das auch, weshalb er mit solcher Hartnäckigkeit Sita und Corcoran auf den Fersen blieb.
Auch er war zur selben Zeit auf den Beinen wie Corcoran. „Vorwärts, auf, ihr Faulenzer! Gleich geht die Sonne auf! Barclay erwartet uns, und wir können schließlich nicht mit leeren Händen ins Lager zurückkehren.“
Sein Eifer brachte schließlich alle auf die Beine.
Jeder vollzog seine Morgentoilette gemäß der herrschenden Mode. Aus den Wagen kamen Kleidersäcke in allen Farben zum Vorschein, Bürsten, Seife, Parfümeriegegenstände, und man begann unter Corcorans Blicken, sich für den bevorstehenden Sturm schönzumachen.
Dieses Schauspiel, das unter gewöhnlichen Umständen dem Bretonen vor Lachen die Tränen in die Augen getrieben hätte, ließ ihn noch wütender werden.
Was sind sie doch glücklich, diese Galane des Empire, dachte er; sie können sich waschen und herrichten, als ob nichts geschehen wäre und sie sich anschließend den Damen präsentieren würden. Ich aber muß rumlaufen wie ein Straßenköter. Meine Kleidung ist voller Staub, meine Haare sind ineinander verfilzt wie ein Satz aus dem Roman von Balzac, und mein Gesicht sieht fahl und bleich aus, als ob ich stets gelb vor Ärger durchs Leben liefe! Sita wird jeden Augenblick durch das stumpfsinnige Geschieße, das gleich anheben wird, wach werden, und wenn ich zufällig getroffen werde und mein Leben verliere, dann ist der letzte Eindruck, den sie von mir behalten wird, der eines Schmutzfinken… Was kann ich denn dafür…
Er betrachtete die schlafende Sita mit einem verzweifelten Blick.
Wie schön sie ist, sagte er sich. Sie träumt zweifellos davon, daß sie im Palast ihres Vaters ist und sich hundert Sklaven um sie kümmern… Arme Sita! Wenn mir vorgestern jemand gesagt hätte, daß ich so viel Glück empfinde, um mein Leben für eine Frau zu geben…? Liebe ich sie? Pah! Wozu soll mir das jetzt nützen? Ach, ich glaube, ich hätte besser daran getan, brav nach dem Schriftstück des heiligen Manu zu suchen.
Und als er so durch das Fenster schaute und diesem Gedanken nachhing, kam ihm plötzlich eine Idee.
Die Engländer hatten ihre Toilette beendet und waren gerade dabei, ihre Kämme und Bürsten wieder in die Mantelsäcke zu verstauen, als Corcoran sein Taschentuch hervorholte und damit dem Wachtposten vor der Pagodentür winkte, näher zu treten.
Der Wachtposten trat unter das Fenster. „Rufen Sie bitte Mister Robarts“, sagte Corcoran, „ich möchte ihn um etwas Wichtiges bitten.“
John Robarts lief freudig herbei, denn er dachte, jetzt habe er seine zehntausend Pfund.
„Fein, Kapitän!“ rief er triumphierend, „Sie wollen kapitulieren? Ich wußte, daß Sie sich früher oder später ergeben würden. Dafür werde ich Ihnen auch keine zu harten Bedingungen stellen. Sie brauchen nur das Tor aufzumachen, uns Holkars Tochter zu übergeben und dann ins Lager zu folgen… Ich bin überzeugt, daß Barclay Ihnen die Freiheit schenken und Sie nur bitten wird, auf schnellstem Weg nach Europa zurückzukehren… Im Grunde genommen ist Barclay eine ehrliche Haut…“
Corcoran lächelte.
„Bei meiner Ehre“, sagte er, „ich werde entzückt sein, Barclay wiederzusehen und ihm zur Verfügung zu stehen; aber darum handelt es sich im Augenblick noch nicht. Sie haben da unten alle Annehmlichkeiten, Wasser, Domestiken, die Ihnen die Stiefel putzen und die Kleider ausbürsten. Seien Sie so gut, und leihen Sie mir einige Toilettenartikel.“
„Potztausend noch mal!“ rief John Robarts, dem die Eitelkeit des Kapitäns angesichts einer Dame einzuleuchten schien, „natürlich, alles, was Sie wollen.“
Und er reichte ihm sein eigenes Reisenecessaire.
Was die Kapitulation betrifft…, wollte er hinzufügen.
„Oh“, meinte Corcoran, „ich bitte Sie um eine Viertelstunde Waffenstillstand, um mir die Sache zu überlegen und eine Entscheidung zu treffen.“
„Aber natürlich. Sehr vernünftig“, erwiderte der Engländer. „Überlegen Sie gründlich. Ich weiß nicht, wieso, Kapitän, doch Sie gefallen mir, ich weiß nicht, weshalb, denn immerhin hat heute nacht Ihr Tiger einen meiner besten Männer verschlungen, den armen Waddington.“
„Sie wissen“, entgegnete Corcoran, „daß das nicht mein Fehler war, wenn Louison ihn gefressen hat. Das arme Tier hatte noch nicht gespeist.“
„Ergeben Sie sich“, antwortete Robarts. „Man wird Ihnen nichts tun, auch Holkars Tochter nicht… Glauben Sie, daß ich Krieg gegen Frauen führe? Führen die Franzosen etwa Krieg gegen Frauen?“
„Mein lieber Robarts“, sagte der Bretone, „vergeuden wir nicht die Viertelstunde Waffenstillstand, die Sie mir bewilligt haben, durch unnütze Reden.“
Robarts entfernte sich, und Corcoran begann mit seiner Toilette, die ziemlich oberflächlich ausfiel, wie man sich denken kann, denn mit einem Auge schielte er immer zu den Engländern, aus Angst vor unliebsamen Überraschungen. Aber seine Befürchtungen waren grundlos. Niemand versuchte, ihn bei seiner Toilette zu stören.
Endlich hatte er seine Vorbereitungen getroffen. Er schaute auf die Uhr. Die bewilligte Frist war abgelaufen. Wenigstens wollte er, bevor es ans Sterben ging, Holkars Tochter noch ein letztes Lebewohl sagen.
Als er sich ihr näherte, schlug Sita die Augen auf.
„Wo bin ich?“ fragte sie verwundert. Dann, als sie die Pagode erkannte, erinnerte sie sich an die Vorfälle des vorherigen Abends. „Oh“, fuhr sie fort, „mein Traum war ungleich schöner…, ich befand mich in Bhagavapur auf dem Thron meines Vaters…, und Sie waren an meiner Seite.“
„Sita, liebe, teure Sita, ich bin sicher, daß Sugriva Wort halten wird und Ihr Vater Ihnen zu Hilfe eilt. Möge er bald kommen, um Sie zu befreien! Allerdings, wenn mir irgend etwas zustoßen sollte…“
„Sprechen Sie nicht so, Kapitän. Ich weiß es, ja, ich bin sicher, daß Sie siegen werden. Mein Traum hat es mir gesagt, und in Indien lügen Träume nie.“
„Kann sein“, meinte Corcoran. „Aber schwören Sie mir, mich immer in guter Erinnerung zu bewahren.“
„Ich schwöre“, sagte sie, „daß ich Sie…“
Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr errötend fort:
„… daß ich Sie nie vergessen werde!“
Corcoran, der bei diesen Worten fürchtete, sentimental zu werden, lief zum Fenster.
Robarts wurde schon ungeduldig.
„He, Kapitän!“ rief er. „Der Waffenstillstand ist abgelaufen, wir müssen uns beeilen. Es wäre schön, wenn wir vor zehn Uhr im Lager sind, jetzt ist es schon sechs!“
„Ich bin bereit!“ rief Corcoran zurück. „Zum Kampf!“
Er hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, da mußte er schleunigst zurückspringen, um dem nun einsetzenden Kugelregen zu entgehen. Die Geschosse klatschten jedoch an die Mauer, ohne jemanden zu verletzen.
Da die Engländer vor Angst ihre Deckung nicht verließen und deshalb nicht genau zielen konnten, waren sie im Nachteil; Corcoran dagegen war gut geschützt und hatte Robarts genau vor dem Revolver. Er schoß, und der Schuß saß: Die Kugel riß dem Engländer ein Loch in seinen Korkhelm und versengte ihm eine seiner roten Strähnen. Robarts sprang rasch zurück und verbarg sich hinter dem nächsten Baum.
„Mein Freund!“ schrie ihm Corcoran zu, „man muß genau zielen, bevor man schießt, sagen Sie das Ihren Leuten; für heute gebe ich mich mit einem Treffer in Ihren Helm zufrieden.“
Plötzlich machte ein für die Engländer wiederum tragischer Vorfall dem Angriff ein Ende.
Einem der Engländer war es gelungen, sich von hinten an die Mauer heranzuschleichen, und er versuchte an ihr entlang im toten Winkel durch die Toröffnung, die von Corcoran nur unzureichend verbarrikadiert worden war, da er kein brauchbares Material hatte, ins Innere der Pagode zu dringen. Zweifellos hätte er dem Gefecht ein Ende bereitet, wenn es ihm gelungen wäre, den Bretonen von hinten niederzuschießen.
Glücklicherweise hatte Louison aufgepaßt. Hinter dem Torflügel versteckt, erwartete sie den Engländer. Mit zwei, drei Kolbenstößen hatte er die ungenügend befestigten Balken zertrümmert und war dabei, durch die Öffnung in die Pagode zu klettern, als ihn die Tigerin mit einem Schlag ihrer Pranke so energisch zurückwies, daß er seinen letzten Seufzer tat.
Dieser Anblick und der Geruch des Blutes versetzte Louison in einen Rausch, und sie hätte sich zweifellos todesmutig auf die englischen Linien gestürzt, wenn sie nicht ein Pfiff des Kapitäns wieder auf ihren Posten gerufen hätte.
Der Bretone begann unruhig zu werden. Lange würde er der Übermacht nicht mehr standhalten können. Keine Nachrichten von Holkar. Hatte Sugriva seine Aufgabe lösen können, oder war er unterwegs in einen Hinterhalt geraten? Zu allem Überdruß ging auch noch seine Munition zur Neige.
Immer wenn er sich am Fenster zeigte, feuerte man aus mindestens vierzig Karabinern auf ihn. Die Schüsse hatten den Zweck, einen Teil der Engländer zu decken, die wiederum mit dem Rammbock gegen das Tor vorgingen, das schon unter den Stößen ächzte und dessen Scharniere jeden Augenblick nachgeben mußten. Corcoran gelang es, indem er sich seitlich an die Fensteröffnung schmiegte, seinen Revolver gegen die auf das Tor Anrennenden leer zu schießen. Er spürte auch an den Schreien, daß seine Schüsse getroffen haben mußten, dennoch verbesserte sich seine Situation dadurch kaum, denn die Belagerer schienen in ihrem Bemühen nicht nachzulassen.
„Steigen Sie rasch die Treppe zum Turm empor!“ rief er Sita zu, „und haben Sie keine Angst.“
Sie gehorchte. Er folgte ihr augenblicklich. Louison bildete die Nachhut.
Es war höchste Zeit. Das Tor barst mit einem Schlag und krachte in das Innere der Pagode. Durch die Öffnung ergoß sich mit einemmal die ganze Schar der Angreifer.
Aber ihre Überraschung war groß, als sie Louison allein auf der Treppe entdeckten. Hinter ihr hörte man das trockene Schnappen von Corcorans Revolverhahn. Die Wendeltreppe war so dunkel, daß Corcoran vor den Blicken der Engländer verborgen blieb.
„Gottverdammich!“ schrie Robarts noch röter als ohnehin vor Zorn. „Das wird ja eine neue Belagerung. Ergeben Sie sich doch, Kapitän, jeder Widerstand ist zwecklos.“
„Das Wort ‘zwecklos’ gibt es im Französischen nicht!“
„Wenn wir Sie gewaltsam gefangennehmen müssen, werden Sie an die Wand gestellt und erschossen!“
„An die Wand gestellt und erschossen!“ echote der Bretone entrüstet zurück. „Wenn ich Sie gefangennehme, schneide ich Ihnen die Ohren ab!“
„Fertig zum Feuern!“ schrie Robarts. Die Soldaten schossen.
„Liebe Sita“, sagte Corcoran, „jetzt geht es um Sein oder Nichtsein. Steigen Sie, ich bitte Sie, bis zur Turmplattform hoch, die Kugeln könnten in die Mauer schlagen, zurückprallen und Sie verletzen.“
Er selbst folgte ihr mit Louison. Dank der verwinkelten Treppenkonstruktion waren sie zwar ein wenig vor den Kugeln geschützt und wenn es auf der schmalen Wendeltreppe, die nach oben zu dem Pagodenturm führte, wirklich zum Kampf Mann gegen Mann kommen sollte, waren er und Louison im Vorteil. Doch es war nur mehr ein Rückzugsgefecht, das wußte Corcoran, aus eigener Kraft konnten sie sich nicht mehr befreien.
Aber ein unerwarteter Vorfall änderte die Situation schlagartig.
Plötzlich erschien ein englischer Soldat, der im Freien geblieben war, in der Pagode und schrie: „Der Feind rückt an!“
„Was für ein Feind?“ schrie Robarts zurück. „Das wird Colonel Barclay sein, der mit der Armee auf dem Weg nach Bhagavapur ist.“
„Das ist Holkar, das sieht man an den Fahnen.“
Tatsächlich hörte man den schweren Galopp anrückender Kavallerie.
Zum Teufel noch mal, dachte Robarts. Zehntausend Pfund für die Katz. Nicht gerechnet, was uns von Seiten Holkars noch alles bevorsteht. Und laut schrie er: „Raus hier! Auf die Pferde!“
Was er seiner Truppe natürlich nicht zweimal zu sagen brauchte.
„Und jetzt den Säbel in die Faust und drauf auf die Canaille! Vorwärts für unser gutes altes England!“
Obwohl die beiden feindlichen Truppenkontingente von der Zahl her unterschiedlich groß waren, standen die Chancen für den Ausgang des Kampfes dennoch auf gleich.
Abgesehen von der Tatsache, daß sich die englische Kavallerie nur aus Europäern zusammensetzte, die im Kampf mit dem Säbel Holkars Reiterei weit überlegen waren, gab das Gelände Holkar keine Möglichkeit, die Engländer einzukreisen und aus seinem zahlenmäßigen Übergewicht einen Vorteil zu ziehen.
Die Pagode befand sich auf einer kleinen Anhöhe inmitten dichten Dschungelgrases, das erheblich höher war als ein Mann von gewöhnlicher Größe und durch das hindurchzureiten für einen Kavalleristen schier unmöglich war. Drei Pfade, die sich quer durch den Dschungel zogen, endeten auf dieser Anhöhe, und diese recht schmalen Wege waren sehr leicht zu verteidigen. Einmal in diesen „Hohlwegen“ gebunden, sah sich Holkars Kavallerie den Engländern von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und der Ausgang des Kampfes hing mehr von der persönlichen Tapferkeit jedes einzelnen als von der Zahl der Kämpfer ab.
Holkar schäumte vor Wut, als er sah, welche Hindernisse ihm das Gelände bereitete. Darüber hinaus war der erste Aufeinanderprall der beiden Reitertrupps nicht dazu angetan, ihn zuversichtlich zu stimmen. Die Inder hielten zwar dem ersten Anprall stand, als sie aber die Engländer im gestreckten Galopp, den blanken Säbel in der Faust und weit über den Kopf des Pferdes vorgebeugt, heranstürmen sahen – John Robarts an der Spitze –, konnte sie nichts mehr an der Flucht hindern.
Sie machten auf der Stelle kehrt und strömten auf dem breiten Weg zurück, der nach Bhagavapur führte und auf dem sie gekommen waren. Erst dort gelang es Holkar und einigen seiner beherzten Offiziere, sie aufzuhalten und, indem man ihnen die zahlenmäßige Unterlegenheit des Feindes vorhielt, ihnen Vertrauen und Mut zurückzugeben.
John Robarts wurde von seiner eigenen Kühnheit mitgerissen und wollte seinen Vorstoß noch weiter fortsetzen, denn er glaubte, Holkar im Handstreich vernichten zu können; als er jedoch auf den breiten Weg nach Bhagavapur einschwenkte, der nach kurzer Zeit in eine große Lichtung einmündete, auf der Holkar seine zahlenmäßige Überlegenheit voll ausspielen und Robarts’ Männer mühelos hätte einkreisen können, änderte er seine Taktik und kehrte mit seiner Truppe im Trab an den Rand der Lichtung zurück.
Holkar ließ ihn nur durch einige Kundschafter verfolgen. Sugriva näherte sich ihm.
„Ich höre nichts“, sagte Holkar. „Ist Corcoran bereits tot oder zusammen mit meiner Tochter gefangengenommen worden?“
„Herr“, erwiderte Sugriva, „ich werde mich davon überzeugen. Sicher ist jedoch, daß Eure Tochter lebt, denn die Engländer haben großes Interesse, ihr kein Haar zu krümmen, und was den Kapitän betrifft, so habe ich ihn bei der Arbeit gesehen und kann nur sagen, daß die Kugel, die ihn töten soll, noch nicht gegossen wurde.“
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als man seitens der Engländer wüstes Geschrei hörte. Das war niemand anders als Corcoran, genauer gesagt Louison, die sich Holkars Linien mit großen Sprüngen näherte, gefolgt von Sita und dem Bretonen, der die Nachhut bildete.
Als die Engländer die Pagode verlassen hatten, ahnte er, daß Holkar angekommen sein müsse; da er allerdings nicht allzu großes Zutrauen in die militärische Schlagkraft der Marathen hatte, hoffte er nicht, durch sie befreit zu werden. Er wollte nichts unversucht lassen, deshalb hatte er der schönen Sita seinen Plan unterbreitet.
„Wir sind fünfhundert Schritt von Ihrem Vater entfernt“, hatte er gesagt, „wollen wir es riskieren, uns zu ihm durchzuschlagen?“
Statt einer Antwort erhob sich Sita sofort, um ihm zu folgen.
„Passen Sie gut auf“, hatte Corcoran noch hinzugefügt, „die Schießerei hat begonnen, und Kugeln kennen weder Freund noch Feind, ich werde Louison auf dem linken Pfad, der mir weniger bewacht zu sein scheint, vorausschicken. Bei Louisons Anblick werden die fünf oder sechs Reiter, die dort postiert sind, das Weite suchen, da bin ich sicher. Sie folgen Louison, und ich folge Ihnen.“
Und tatsächlich, alle drei hatten glücklich das offene Gelände überquert, das sie vom Dschungel trennte, wobei sie sich die Verwirrung der Engländer zunutze machten, deren Aufmerksamkeit nur Holkar und dessen Soldaten galt; sie hatten sich dann durch das hohe Gras gekämpft und – durch den Gefechtslärm geführt – unverletzt Holkar erreicht.
Als der Fürst seine aus der Gefangenschaft befreite Tochter wiedersah, schloß er sie voller Rührung in die Arme und wandte sich an den Kapitän:
„Kapitän“, sagte er bewegt, „wie soll ich Ihnen das je vergelten?“
„Fürst Holkar“, erwiderte der Bretone, „sobald es Eure kostbare Zeit erlaubt und Ihr etwas Muße habt, bitte ich Euch, mit mir das sagenumwobene Schriftstück der Gesetze Manus zu suchen, das zu finden mich die Akademie zu Lyon hierhergeschickt hat; allerdings haben wir heute noch etwas anderes zu erledigen. Glaubt mir, das beste wäre, wir würden so schnell wie möglich nach Bhagavapur zurückreiten. Wahrscheinlich wird die englische Armee unter dem Kommando Colonel Barclays schon unterwegs sein, und einem wendigen Offizier dürfte es nicht schwerfallen, uns den Weg abzuschneiden…“
„Und Sie?“ fragte Holkar.
„Oh, ich, das ist etwas anderes… Wenn Ihr mir eines von Euren zwei Regimentern überlassen könntet, dann verspreche ich Euch, John Robarts in der Pagode einzuschließen und ihn wie einen Fuchs auszuräuchern. Stellt Euch vor, Hoheit, dieser hochnäsige Gentleman wollte mich erschießen lassen! Na, dem werde ich Manieren beibringen.“ Die Idee schien Holkar zu gefallen.
„Kapitän“, sagte er zu Corcoran, „begleiten Sie lieber Sita, und ich werde diesem feinen John Robarts die Kehle ein wenig ritzen.“
„Zu jeder anderen Gelegenheit würde ich Sita liebend gern begleiten, aber heute geht es beim besten Willen nicht… Robarts hat mich provoziert, ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.“
„Gut“, sagte Holkar, „ich bleibe.“
„Schickt wenigstens Eure Kundschafter den Engländern entgegen, damit man Euch rechtzeitig von ihrer Ankunft unterrichtet“, fügte Corcoran hinzu.
Sugriva wurde beauftragt, mit etwa dreißig Berittenen die Bewegung des Feindes zu überwachen.
Durch das Beispiel Holkars und des Kapitäns angespornt, die an der Spitze ritten, machten sich die Hindus entschlossen an die Einkreisung des Feindes. Sita hatte man auf ihren Elefanten gesetzt und unter guter Bewachung aus der Gefahrenzone gebracht. Die Engländer, die Holkars und Corcorans Absicht ahnten, zogen sich zurück.
John Robarts hatte bereits bei Holkars Eintreffen einen Soldaten zu Barclay geschickt, um diesen von der Gefahr, in der er schwebte, zu unterrichten. Als er entdeckte, daß Corcoran sich zu Holkar durchgeschlagen hatte, wurde ihm klar, daß seine Position sehr kritisch werden könnte. Ohne den Versuch zu wagen, durch die indischen Reihen durchzubrechen – dazu waren nun allerdings auch die Engländer zuwenig –, suchte er Zuflucht in der Pagode, die eben noch Corcoran als Festung gedient hatte.
Er ließ eher schlecht als recht die Öffnung verbarrikadieren, die seine eigenen Leute geschlagen hatten. Er ließ das Tor wieder in seine Angeln heben, dann schließen und dahinter alle Arten von Gegenständen auftürmen, um es zu stützen.
Als Holkars Soldaten erschienen, eröffneten dreiundvierzig englische Karabiner das Feuer. Es gab einige Tote und etwa zehn Schwerverletzte unter den Hindus, und dieser wenig glückliche Beginn kühlte doch merklich ihren Mut ab.
„Ich verspreche demjenigen tausend Rupien, der als erster den Fuß in die Pagode setzt“, sagte Holkar.
Aber diese Versuchung reizte niemanden. Die unglücklichen Hindus sahen sich schutzlos einem schrecklichen Beschuß ausgesetzt. Darüber hinaus schien der Feind in Sicherheit, sie jedoch mußten über offenes Gelände angreifen.
„Man sollte ihnen ein Beispiel geben“, sagte Corcoran zu Holkar, „denn die armen Teufel haben schreckliche Angst, Brahma und Wischnu gleichzeitig Aug in Aug gegenüberzustehen.“
Er stieg vom Pferd und, von etwa zwanzig Männern gefolgt, bemächtigte sich des Baumstammes, der schon den Engländern gegen ihn so nützlich gewesen war. Er und die Männer wuchteten ihn als Rammbock gegen das Tor der Pagode, das nach dem ersten Stoß auf die stützende Barrikade geworfen wurde. Bei diesem Anblick stießen die Hindus einen Freudenschrei aus, diese Freude allerdings war kurz, denn die englischen Karabiner schossen erneut in die Richtung der Angreifer, und diesmal auf eine so kurze Distanz, daß selbst die Kühnsten innehielten und nicht wagten, das feuerspeiende Bollwerk zu stürmen.
Corcoran, der ihr Zögern bemerkte, gab unverzüglich den Befehl zum Feuern, aber da hatte schon der gewaltige Pulverdampf einer doppelten Salve die Kämpfenden eingehüllt. Fünf Engländer waren tot oder schwerverletzt, zehn oder zwölf Hindus hatte das gleiche Schicksal ereilt. Der sichtlich von diesem Mißerfolg verschreckte Rest wich zurück. Selbst Holkar schien unentschlossen.
Ach, dachte der Bretone, wenn ich nur zwei oder drei meiner braven Matrosen vom Sturmsohn hier hätte, wir würden die Engländer schon weich klopfen, doch mit diesen Hasenfüßen ist nichts zu machen. „Wenn wir wenigstens eine Kanone hätten!“ meinte er, zu Fürst Holkar gewandt.
„Und wenn wir Feuer an die Pagode legten?“ erwiderte Holkar. „Was würden Sie dazu sagen?“
„Ich hätte diesen famosen und schlecht erzogenen Gentleman, der mich erschießen wollte, ja gern lebend gehabt“, sagte Corcoran, „aber da es kein anderes Mittel gibt, müssen wir ihn eben grillen.“
Und alsbald machten sich die Hindus daran, das trockene Dschungelgras abzuschneiden und um die Pagode zu schichten. Als sie soweit waren, es anzuzünden, hörte man in der Ferne Gewehrschüsse.
„Lassen wir die Engländer und Eure Rache“, sagte Corcoran zu Holkar, „und eilen wir lieber so schnell wie möglich nach Bhagavapur, denn dieses Gewehrfeuer, muß von Barclays Vorhut kommen.“
Holkar gab sofort Befehl, kehrtzumachen und sich auf den Hauptweg zurückzuziehen, wo man sich in Gefechtsordnung aufstellen und den Ereignissen gefaßt entgegensehen konnte.
Die Truppe hatte sich kaum gefechtsmäßig formiert, als auch schon Sugriva auftauchte, von der Avantgarde Colonel Barclays verfolgt.
Barclay hatte das Lager bereits abgebrochen gehabt und war im Begriff, auf Bhagavapur zu marschieren, als er mit Verwunderung, in die sich Ärger mischte, von der Gefahr hörte, in der sich Robarts befand. Er hatte daraufhin unverzüglich Befehl gegeben, seinem Adjutanten zu Hilfe zu eilen. Sugriva hatte zunächst versucht, dem Vorgehen der Engländer Widerstand zu leisten, dabei aber die Hälfte der ihm anvertrauten Männer verloren. Nur mit Müh und Not hatte er Holkar erreicht, die Engländer dicht auf den Fersen.
Als die englische Kavallerie jedoch plötzlich unerwartet auf Holkars Regimenter stieß, die sie stehenden Fußes erwarteten, verflüchtigte sich ihr Angriffselan blitzartig. Sie zogen sich leicht zurück und beratschlagten, was zu tun sei.
An der dem Gelände angepaßten Aufstellung und der Entschlossenheit von Holkars Reiterei erkannte Barclay mühelos, daß das Kommando in den Händen eines strategisch geschickteren und phantasievolleren Offiziers liegen mußte, als es der letzte der Raghuiden war. Er gab sogleich Befehl, den rechten Flügel der Hindus zu umgehen, ihn vom Zentrum abzuschneiden und zwischen zwei Feuer zu nehmen. Sollte sein Plan glücken und er Holkar von Bhagavapur, seiner Hauptstadt und seinem wichtigsten Stützpunkt, abschneiden, dann würde dieser sein Heil in der Flucht suchen, das allein könnte den Krieg beenden; eine für Colonel Barclay auch insofern wichtige Entscheidung, da keine Zeit bliebe, ihm die Früchte seines Sieges vorzuenthalten und einem anderen den Ruhm einer taktisch so geschickten und militärisch so straff geführten Operation zuzuschanzen.
Corcoran überlegte seinerseits genauso gründlich, wenn nicht noch gründlicher. Mühelos erkannte er, daß – ausgenommen er selbst und vielleicht noch Sugriva und Holkar – niemand in der Lage war, Holkars Truppen zu führen. Obwohl der alternde Fürst ein prächtiger Mensch und furchtloser Streiter war, fehlte es ihm doch an strategischem Raffinement, um einer modernen Armee Widerstand leisten zu können. Es fehlte ihm vor allem diese Art von Kaltblütigkeit, die man sich nur auf dem Schlachtfeld erwirbt. Darüber hinaus war er wegen seiner Tochter, die ja durch sein eigenes Verschulden in Gefahr geraten war, etwas verwirrt, was ihm keiner zum Vorwurf machte, aber von Nutzen war so etwas ja auch nicht. Wenigstens hatte er zu ihm, Corcoran, größtes Vertrauen.
„Fürst Holkar“, sagte der Bretone zu ihm, „wir haben einen großen Fehler gemacht. Ihr, indem Ihr diese vermaledeite Pagode und den vermaledeiteren Robarts belagert habt, und ich, indem ich Euch gewähren ließ.“
„Entschuldigen Sie sich nicht“, erwiderte Holkar, „ich allein bin der vermaledeiteste aller Narren, weil ich die Freiheit meiner Tochter und meinen Thron aufs Spiel setzte, nur um einige Engländer zu rösten.“
„Schwamm drüber“, sagte der Bretone. „Reden wir nicht mehr von dem was gewesen ist, denken wir lieber an das, was vor uns liegt. Nichts ist verloren, wenn Eure Reiterei standhält. Ihr, Fürst Holkar, übernehmt das Kommando über den rechten Flügel. Ihr habt Sepoykavallerie vor Euch, unter denen es einige Freunde von Sugriva gibt, die für Euch vielleicht im entscheidenden Moment von Vorteil sein werden. Ich werde den linken übernehmen, denn mir scheint, daß Barclay dort seine europäischen Regimenter konzentriert hat. Das wichtigste ist, daß Ihr Euch nicht einkesseln laßt… Wenn Ihr von mir abgeschnitten werdet, verliert nicht den Kopf, sondern zieht Euch geordnet zurück. Auf keinen Fall darf uns der Rückweg nach Bhagavapur verlegt werden.“
„Und meine Tochter?“ fragte der Alte.
„Sie wird auf ihren Elefanten steigen und unter Sugrivas Schutz nach Bhagavapur aufbrechen. Es geht für uns nicht darum, die englische Kavallerie zu besiegen. Wir müssen nur soweit standhalten, daß wir Bhagavapur im geordneten Rückzug erreichen. Wenn wir uns zu sehr in die Schlacht verwickeln lassen, wird Barclays Infanterie Zeit haben, aufzurücken; wir wären eingeschlossen und würden zusammengeschossen. Morgen können wir mit all unseren Streitkräften eine gleichwertige Schlacht liefern, und an dem Tag will ich den Sieg. Säbel und Kanonenrohr! Denkt an Euren Ahnen Rama, der hätte zehntausend Engländer wie das Gelbe vom Ei verspeist.“
Und dann, indem er sich an die schöne Sita wandte, die schon ihren Elefanten bestiegen hätte:
„Sita, ich lasse Ihnen Louison. Heute weiß sie um ihre Pflichten und wird sie gewissenhaft erfüllen. Louison! Hier ist deine Herrin. Du schuldest ihr Respekt, Liebe, Treue, Gehorsam. Wenn du einen einzigen Fehler machst, dann ist es mit unserer Freundschaft aus…“
Sitas Elefant Scindiah allerdings schien von Louisons Anwesenheit nicht gerade entzückt. Er betrachtete die Tigerin von der Seite und trompetete aufgeregt. Sita bemühte sich, zwischen der Tigerin und Scindiah Einvernehmen herzustellen, und ließ die Tigerin in ihren Sitz steigen. Louison rollte sich zu Füßen der Prinzessin zusammen und schnurrte und buckelte wie ein Angorakätzchen. Scindiah drehte von Zeit zu Zeit seinen dicken Kopf zu Sita und schien über die Gunst, der sich Louison erfreute, verärgert.
Nachdem Corcoran entsprechende Vorsorge getroffen hatte und Sita unter dem Schutz von Sugrivas Eskorte abgezogen war, hatte er freie Hand, um sich seiner eigentlichen Aufgabe zu widmen, den Rückzug zu decken. Die Zeit drängte, denn die Engländer hatten sich beraten und gingen zum Angriff über. Barclay ließ, nachdem er seine Pferde von dem scharfen Ritt kurz hae verschnaufen lassen, Befehl zur Attacke geben.
Der erste Ansturm der englischen Kavallerie war so ungestüm, daß die von Corcoran aufgestellte vorderste Linie überrannt wurde und dieses Schicksal zweifelsohne auch der zweiten bevorstand; doch der Bretone hatte eine Eskadron als Reserve hinter einer leichten Bodenwelle versteckt. Als die englische Kavallerie die Eskadron passiert hatte, stieß Corcoran mit ihr in die Flanke der Engländer und brachte sie dadurch in arge Bedrängnis. Es gelang den Hindus, die Engländer zurückzuwerfen. Corcoran ging mit gutem Beispiel voran und schonte sich nicht. Barclay war von einem so verbitterten und unerwarteten Widerstand überrascht. Mit allen Mitteln peitschte er seine Soldaten nach vorn.
Im Durcheinander des Gefechts trafen auch die beiden Heerführer aufeinander.
„So also suchen Sie das Schriftstück der Gesetze Manus, Mister Corcoran!“ rief Barclay mit wutschnaubender Stimme. „Wenn ich Sie zu fassen kriege, Werde ich Sie an die Wand stellen und erschießen lassen, Herr Gelehrter!“
„Verehrter Colonel, wenn ich Sie zu fassen kriege, werden Sie gehängt!“
„Gehängt! Ich! Ein Gentleman!“ schrie Barclay empört. „Gehängt!!!“
Und er schoß mit dem Revolver auf Corcoran, der leicht an der Schulter verletzt wurde.
„Tölpel!“ rief er Barclay zu. „Das hier sitzt besser!“
Und er schoß seinerseits, doch der Colonel hatte in diesem Moment sein Pferd herumgerissen, so daß die Kugel dem Tier ins Hinterteil klatschte und es seinen Herrn, rasend vor Schmerz, aus dem Kampfgetümmel trug.
Die Engländer wichen langsam zurück. Corcoran ließ sie nur von einem Teil seiner Truppe in Schach halten, er befürchtete noch immer das Eintreffen der Infanterie.
Auf dem anderen Flügel des Schlachtfeldes war das Glück jedoch nicht auf selten von Holkars Soldaten. Dort focht der Verräter Rao, der die englischen Linien mit den aus Holkars Armee Desertierten aufgefüllt hatte. Holkar leistete tapferen Widerstand, und er würde sich schließlich auch gegen Rao durchgesetzt haben, wenn nicht eine unerwartete Verstärkung die Waage zuungunsten der Hindus hätte ausschlagen lassen.
Diese Verstärkung war niemand anders als die kleine, aber immer noch sehr schlagkräftige Truppe von Leutnant John Robarts. Als Robarts sah, daß sich Corcoran und Holkar zurückzogen, war er mit seinen Leuten vorsichtig – er befürchtete zunächst eine List des Bretonen – aus der Pagode gekommen, hatte dann die Pferde der Übriggebliebenen zusammengesucht und war in die Richtung galoppiert, aus der das Gewehrfeuer zu vernehmen war. Mit seinen Leuten hatte er sich in das Kampfgetümmel auf dem linken Flügel gestürzt.
Bald begannen Holkars Soldaten zurückzuweichen, zunächst in fester Ordnung und diszipliniert, doch allmählich immer kopfloser, bis sie Sitas Elefanten erreicht hatten, der, umgeben von Sugrivas Leuten, seinen Weg nach Bhagavapur fortsetzte. Hier wurde der Kampf schrecklich und verlustreich. Die im Dienst der Kompanie stehenden und von John Robarts geführten Sepoys kämpften erbittert, aber auch Holkars Reiterei, deren einzige Hoffnung es war, lebend Bhagavapur zu erreichen, schlug sich mit dem Mute der Verzweiflung.
Durch einen Säbelhieb wurde Holkar von seinem Pferd gestürzt und fiel Scindiah vor die Füße.
Sita schrie laut auf.
Doch der schwergewichtige und kluge Scindiah packte mit seinem Rüssel den armen Holkar vorsichtig um die Taille und ließ ihn sanft in die Sänfte neben seine Tochter gleiten. Dann stemmte er – da er die Gefahr, in der seine Herrin schwebte, wohl erkannte – seinen gewaltigen Leib gegen die Flut der Flüchtenden wie auch der Angreifer. Um ihn tobte der Kampf Mann gegen Mann, er aber stand unerschütterlich wie ein Gott inmitten der Menschlein, packte entweder mit seinem Rüssel einen der Angreifer, der sich zu weit herangewagt hatte oder zerstampfte ihn mit seinen wuchtigen Beinen. Einige wenige Revolverschüsse prallten von ihm ab, ohne ihn zu erschüttern.
Auf der Rückseite des Elefanten schreckte Louisons Anblick auch die Kühnsten ab. Der natürliche Panzer Scindiahs und die spitzen Krallen der Tigerin waren für Holkar und Sita ein sicherer Schutz.
Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie unter dem Druck der Übermacht zusammenbrechen würden. Schon war der tapfere Sugriva, der die Abteilung nach Holkars Verletzung befehligte, gefangengenommen worden, als sein Pferd tödlich getroffen zusammengebrochen war, und da sie auch der verletzte Holkar nicht mehr zur Ordnung rufen konnte, lösten sich die Hindus bald auf.
In diesem Augenblick wurde Corcoran gewahr, daß der rechte Flügel kurz vor der völligen Vernichtung stand, und er eilte ihm, vor allem der unglücklichen Sita, zu Hilfe.
Bis jetzt hatte er an nichts weiter gedacht, als den Rückzug geordnet durchzuführen; als er aber sah, daß Sita in höchster Gefahr schwebte, fühlte er plötzlich eine derartige Wut auf den Feind in sich, daß er mit seiner Truppe zornentbrannt auf den elenden Rao lospreschte und dessen ganze Schar bei diesem wuchtigen Angriff auseinandersprengte. Er selbst hieb Rao mit dem Säbel aus dem Sattel. Unter den Pferden, die über ihn hinweggaloppierten, fand der Verräter den Tod. Dann wollte Corcoran Sugriva befreien, doch John Robarts und die kleine Zahl der Engländer, in deren Gefangenschaft sich dieser befand, bildeten für ihn und seine Reiter ein so kompaktes Hindernis, daß es unmöglich war, ihn herauszuhauen. Die Engländer zogen sich mit ihrer Beute von dem breiten Weg in die Dschungelpfade zurück, und es wäre in höchstem Maße töricht gewesen, ihnen mit dem Rest der Reiterei folgen zu wollen.
Corcoran wendete und ritt mit seinen Männern zu Scindiah, dem Elefanten, der unbeeindruckt von dem Geschrei und Geschieße mit majestätischem Schritt seinen Weg fortgesetzt hatte, als ob er sich auf einer Parade befände. Louison lief neben ihm her, ohne Zweifel weniger majestätisch, denn sie war eben von anderem, fröhlicherem Temperament, aber nicht weniger stolz, zum Ruhme der indischen Waffen über das Empire beigetragen zu haben.
Der Kapitän deckte den Rückzug und befehligte die Nachhut, die allerdings keiner ernsthaften Bedrohung seitens der Engländer mehr ausgesetzt war. Denn je weiter sie sich Bhagavapur näherten, desto mehr fürchtete Colonel Barclay einen Hinterhalt, und aus Angst, in eine Falle zu tappen, ließ er eine Meile vor der Stadt die Verfolgung einstellen.
Er brauchte Infanterie, vor allem jedoch Artillerie, um eine regelrechte Belagerung beginnen zu können. Die Festung war übrigens nicht sehr stark. Die Mauern stammten aus der Zeit, als Holkars Vorfahren, Fürsten der Marathenkonföderation, der tartarischen Reiterei Tamerlans getrotzt hatten. Seit dieser Zeit hatte man zwar einige Gräben mehr ausgehoben, das Mauerwerk an brüchigen Stellen wieder instand gesetzt, die alten Türme mit Kanonen bestückt, doch einer ernsthaften Belagerung durch moderne Artillerie würde die Stadt kaum standhalten können.
Sei es, wie es sei, Holkar war fest entschlossen, die Festung gegen die Engländer zu verteidigen, und Corcoran, voller französischen Vertrauens in sein Genie, versprach, den Belagerungsring zu durchbrechen. Eine erste Maßnahme war, seine Brigg Sturmsohn den Narbada heraufsegeln zu lassen. Er versteckte sie in einem Flußarm, um sie nicht den Engländern in die Hände fallen zu lassen. Je nach Bedarf konnte er jetzt auf ihr von einem Ufer zum anderen setzen.
Am nächsten Tag stießen Infanterie und Artillerie zu Colonel Barclay, der sofort versuchte, die Stadt im Handstreich zu nehmen, denn er rechnete damit, sich wegen der brüchigen Mauern der Festung nicht auf eine sorgfältige Belagerung vorbereiten zu müssen. Einige Kanonenschüsse würden nach seiner Meinung genügen, um eine ausreichend große Bresche in die Mauern zu schießen, durch die die Infanterie nach Bhagavapur hätte eindringen können.
Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, er hatte nicht mit der Kühnheit und Geschicklichkeit des Kapitäns gerechnet. Dieser nämlich hatte in einem Artillerieduell, das etwa zwei Stunden gedauert hatte, ungefähr zwei Dutzend englische Kanonen zerstört und einen Teil des Munitionslagers in Brand geschossen. Die Explosion hatte zweihundert Engländern und Sepoys das Leben gekostet. Barclay hatte daraufhin bald eingesehen, daß er sich auf eine regelrechte Belagerung einrichten mußte.
Er ließ eine Sappe ausheben. Doch die Sepoys waren keine Pioniere, zwar wendig, aber für Schanzarbeiten nicht kräftig genug. Und die Europäer waren durch das heiße Klima so geschwächt und halb krank, daß sie kaum von Nutzen waren. Darüber hinaus hatten sie die ständigen Ausfälle Corcorans nervös gemacht.
Dieser hatte dank seiner Brigg, deren Tiefgang unerheblich war, eine Bewegungsfreiheit zu Wasser, die es ihm mit Hilfe seiner zwölf Matrosen erlaubte, auch von der Wasserseite her die Engländer unter Beschuß zu nehmen. Er trotzte dem Gegner, belästigte ihn mit einer Schwadron Reiter oder kam mit einigen Infanteriekompanien den Narbada herabgesegelt und griff sie im Rücken an, so daß Colonel Barclay schon befürchtete, die Belagerung wegen Mangel an Nahrung und Munition aufgeben zu müssen.
Doch Corcorans Mut und Aktivität konnten letztlich gegen die Disziplin und Hartnäckigkeit der Engländer nicht das notwendige Übergewicht erzielen, um sie zur Umkehr zu zwingen. Nach vierzehntägiger Belagerung zweifelte der Kapitän nicht mehr am Ausgang des Unternehmens und am Schicksal Bhagavapurs. Schon begann man in den Straßen den letzten Ansturm vorauszusehen und munkelte von Kapitulation. Wenn Corcoran nicht in der Stadt war, schienen Holkars Soldaten bereit zu rebellieren und die Stadt dem Colonel auszuliefern.
Eines Abends hatten die Engländer schließlich ihre Sappe fertiggestellt und die Kanonen in Stellung gebracht. Sie begannen die Stadt von der Flußseite her mit solch einem konzentrierten Artilleriefeuer zu belegen, daß die Festungsmauer an einer Stelle einstürzte und eine breite Bresche entstand, durch die die Angreifer eindringen konnten. Zwar schickte Corcoran rasch ein zuverlässiges Regiment an die Stelle, um eventuelle Angriffe der Engländer zu vereiteln, doch hätten sie gegen einen konzentrierten Angriff der Engländer kaum etwas ausrichten können. Zum Glück war die Nacht hereingebrochen, und es schien unwahrscheinlich, daß die Engländer jetzt noch angreifen würden. Holkar, noch von seiner Verletzung gezeichnet, hielt im Beisein Sitas mit Corcoran Rat.
„Lieber Freund“, meinte Holkar niedergeschlagen, „es ist alles verloren. Die Bresche ist mindestens fünfzehn Schritt breit, und sie werden uns heute nacht oder morgen früh angreifen. Was sollen wir tun?“
„Säbel und Kanonenrohr!“ erwiderte Corcoran, „ich sehe nur drei Möglichkeiten – oder die Kapitulation.“ Holkar machte eine Geste des Entsetzens.
„Sehr gut!“ fuhr der Bretone fort. „Ihr wollt um keinen Preis Gefangener der Engländer werden… Und trotzdem, Fürst Holkar, die Ostindische Kompanie setzt sich aus Philanthropen zusammen, die sich glücklich schätzen würden, Euch eine Pension zukommen zu lassen, um sich Eurer zu versichern – drei- oder viertausend Franc Rente zum Beispiel…“
„Ich würde es vorziehen zu sterben“, sagte Holkar.
„Ihr habt recht, dieser erste Vorschlag taugt nichts. Der zweite wäre: Ihr besteigt mit Sita meine Brigg, nehmt Eure Diamanten, Euer Gold und alles, was Euch wert und teuer ist, mit an Bord. Nachts würden wir den Fluß hinabsegeln, den Indischen Ozean überqueren; bevor die Engländer überhaupt merken, daß Ihr ihnen entwischt seid, in Ägypten an Land gehen und uns doucement in Alexandria auf dem Dampfschiff Oxus einschiffen, dessen Kapitän mein Freund Antoine Kerhoël ist und das zwischen Alexandria und Marseille verkehrt.“
„Reisen Sie mit Sita ab“, unterbrach ihn Holkar. „Kapitän, ich vertraue Ihnen meine Tochter an, für mich ist sie das Teuerste auf der Welt… Ich bleibe… Der letzte der Raghuiden muß unter den Ruinen seiner Hauptstadt begraben sein. Ich werde mit der Waffe in der Hand sterben wie Tipu Sahib, aber ich werde nicht fliehen…“
„Ich habe nichts anderes erwartet!“ rief Corcoran erfreut. „Also bleiben wir und bereiten diesen Halsabschneidern von Engländern einen solchen Empfang, daß keiner mehr nach London zurückkehren kann, um seine Erlebnisse beim Fünfuhrtee zum besten zu geben… Aber um uns nicht unnötig aufzuregen, wäre es besser, Sita auf meiner Brigg unterzubringen. Ali wird sie begleiten. Falls uns etwas widerfahren sollte, ist sie wenigstens bei meinen Seeleuten in Sicherheit.“
„Kapitän“, erwiderte Sita bewegt, „glauben Sie wirklich, daß ich ohne meinen Vater leben kann, ohne ihn und…“
Sie hatte hinzufügen wollen: und ohne Sie; aber sie sagte nur: „Entweder wir sterben, oder wir siegen zusammen.“
Da wurde ihnen plötzlich ein Sepoy gemeldet, der den Kapitän sprechen wollte. Ali führte ihn herein.
„Wer bist du?“ fragte ihn der Bretone. „Wie heißt du?“
„Berar.“
„Wer schickt dich?“
„Sugriva.“
„Der Beweis.“
„Seht diesen Ring.“
„Und was sagt Sugriva?“
„Er schickt diesen Brief.“ Corcoran öffnete den Brief und las folgendes:
„Sahib Kapitän, Berar, der Ihnen diesen Brief überbringen wird, ist ein verläßlicher Freund, er verabscheut die Engländer genauso wie Sie selbst. Morgen früh um fünf Uhr wird man das Signal zum Sturm geben. Ich habe gehört, wie sich Colonel Barclay und Leutnant Robarts darüber unterhielten. Keiner ahnte, daß ich sie belauschte. Es sind Nachrichten aus Bengalen eingetroffen. Die Sepoygarnison in Meerut hat gemeutert und die europäischen Offiziere erschossen. Von dort sind die Aufständischen nach Delhi marschiert, wo man den letzten Großmogul als Herrscher des islamischen Indien ausgerufen hat. Fünfhundert bis sechshundert Engländer hat man umgebracht. Diese Neuigkeiten haben Barclay bewegen, alles zu riskieren, um den Angriff erfolgreich abzuschließen. Der Gouverneur von Bombay hat ihn gebeten, mit Holkar abzurechnen und so schnell wie möglich nach Bombay zurückzukehren. Wenn es morgen nicht gelingt, die Stadt einzunehmen, wird sich Barclay zurückziehen. Das ist beschlossene Sache. Ich bin nicht untätig geblieben. Ich habe die Depesche von Barclays Tisch an mich genommen und sie einem halben Dutzend meiner Sepoyfreunde zu lesen gegeben, die die Neuigkeit sofort im Lager verbreitet haben. Sie werden den Effekt morgen sicher spüren. Ich bedaure, nicht mit Ihnen bei der Bresche kämpfen zu können, aber ich werde Ihnen im englischen Lager nützlicher sein. Seien Sie guten Mutes und vertrauen Sie Brahma.“
Der erstaunte Corcoran betrachtete den Überbringer der Botschaft.
„Wie hast du denn die englischen Linien durchqueren können?“ fragte er ihn mit einigem Mißtrauen in der Stimme.
„Was weiß ich, Hauptsache, ich bin hier.“
„Welchen Grund hast du denn, die Engländer zu hintergehen. Bezahlen Sie dich schlecht?“
„Im Gegenteil, sehr gut sogar.“
„Hungerst du?“
„Ich bereite mir meine Speisen selbst, kaufe mir auch den Reis selbst, damit ihn keine unreine Hand berührt.“
„Wirst du schlecht behandelt? Hat man sich irgendeine Ungerechtigkeit dir gegenüber zuschulden kommen lassen?“
Der Sepoy öffnete sein Hemd. Auf der Brust sah man schreckliche Narben.
„Ich verstehe“, sagte Corcoran. „Das ist das Zeichen der neunschwänzigen Katze. Du hast also die Peitsche zu spüren bekommen?“
„Fünfzig Schläge“, erwiderte der Sepoy. „Beim fünfundzwanzigsten bin ich ohnmächtig geworden, aber man hat weiter auf mich eingeschlagen. Dann lag ich drei Monate im Spital. Erst vor fünf Wochen hat man mich entlassen.“
„Wer hat dir denn die Peitsche verabreicht?“ fragte der Kapitän.
„Leutnant Robarts… Er hat es nicht selbst getan, doch den Befehl dazu gab er. Dafür wird er noch büßen. Sugriva und ich lassen ihn keine Sekunde aus den Augen.“
Ein gutbewachter Offizier, dachte Corcoran, laut fragte er:
„Was macht eigentlich Sugriva im Lager? Ist er freigelassen worden?“
„Sugriva“, sagte der Sepoy, „ist ihnen durch die Finger geglitten wie eine Kobra. Robarts wollte ihn zunächst hängen lassen. Doch ehe der Kriegsrat zusammengetreten war, ist Sugriva zusammen mit seinem Wächter geflohen. Sie können sich Leutnant Robarts’ Wut vorstellen. Er wollte alle Sepoys erschießen lassen. Am selben Abend ist Sugriva als Fakir verkleidet wieder ins Lager gekommen und bei den Sepoys untergetaucht. Keiner wird ihn den Engländern ausliefern; und wenn er durch einen dummen Zufall den Engländern doch in die Hände fallen sollte, würden sich die Sepoys erheben.“
„Das hört sich ja alles bestens an“, meinte Corcoran. „Ich danke dir. Kehre wohlbehalten zurück und richte Sugriva aus, daß wir am Morgen bereit sein werden. Seine Hilfe ist für uns von unschätzbarem Wert.“
In der Dunkelheit konnte er gerade noch einen Schatten erkennen, der durch die von den Engländern in die Mauer geschossene Bresche glitt; das mußte der Sepoy Berar sein, der ins englische Lager zurückkehrte. Er machte dem Sepoysoldaten, der die Sappe bewachte, ein bestimmtes Zeichen und war dann endgültig in der Dunkelheit verschwunden.
Man muß wirklich sagen, dachte Corcoran, daß Colonel Barclay Soldaten hat, die ihr Geld wert sind.
Der übrige Teil der Nacht verlief ruhig und wurde von keinem Alarm mehr unterbrochen. Beide Seiten bereiteten sich schweigsam auf den kommenden Sturm vor. Dabei lagen die Vorposten der beiden Parteien so dicht beieinander, daß sie sich ohne weiteres hätten unterhalten können. Scheinbar war alles ruhig. Aber eben nur scheinbar, denn wenn man genau hingehört hätte, dann wäre einem ein Schatten aufgefallen, der zwischen den Sepoys hindurchglitt und flüsternd Befehle weitergab, die nicht für die Ohren der Europäer bestimmt waren. Sugriva war es, der durch die Dunkelheit schlich und überall seine geheimnisvollen Anordnungen gab, die den Kampf entscheiden sollten.
Endlich wurde es Tag. Ein Kanonenschuß gab – pünktlich um fünf – das Signal zum Angriff, und eine erste Kolonne englischer Infanterie stürmte mit aufgepflanztem Bajonett durch die Sappe auf die Bresche los.
Im selben Augenblick wurden sie jedoch von einem schrecklichen Feuer von vorn und von der Seite empfangen; fünf oder sechs mit Kartätschen bestückte Kanonen rissen ein gewaltiges Loch in ihre Reihen; zudem explodierten unter ihren Füßen am Ende der Sappe von Corcorans Soldaten heimlich gelegte Sprengladungen. Die Hälfte der Kolonne war in Sekundenschnelle vernichtet. Die anderen gaben den Angriff auf und zogen sich in die Sappe zurück.
Dieser Anblick ließ Corcoran, der die Verteidigung an der Bresche befehligte, frohlocken und Holkars Soldaten, die bei diesem ersten Ansturm keinen einzigen Mann verloren hatten, Zuversicht in ihre eigene Stärke bekommen.
Der Kapitän stand gefaßt und lächelnd, als befände er sich auf einem Ball, neben der Bresche. Er hatte auf alles ein Auge und erwartete, ohne sich von dem Erfolg des ersten Angriffs blenden zu lassen, die zweite Attacke. Neben ihm hielt sich der alte Holkar, der voller Begeisterung war. Hinter ihnen spazierte selbstbewußt Louison. Ihre Intelligenz, die sie die Wünsche ihres Herrn meist schon ahnen ließ, nötigte Holkars Soldaten großen Respekt vor der Intuition des Tieres ab.
Seit einer Viertelstunde war es ruhig geworden. „Sollten sie schon den Rückzug angetreten haben?“ wunderte sich Holkar.
„Nein“, erwiderte Corcoran, „das glaube ich nicht. Aber diese Ruhe gefällt mir gar nicht. Louison!“
Bei diesem Ruf spitzte die Tigerin die Ohren, als ob sie den Befehl des Kapitäns so besser hören könnte.
„Louison, meine Liebe, es handelt sich darum, zu erfahren, was der Feind vorhat“, sagte Corcoran. „Du weißt ja ebensowenig wie ich, was sich in der Sappe tut. Also hol uns Informationen, du verstehst schon… Du läufst in die Sappe, nimmst dir den erstbesten Engländer – einen Offizier, wenn möglich –, der dir über den Weg läuft, zwischen die Zähne und bringst ihn, ohne ihm ein Härchen zu krümmen, hierher zu mir! Und sei vor allem vorsichtig und behutsam!“
Diese Rede war von sehr deutlichen Gesten begleitet, und Louison senkte nach jedem Satz den Kopf, um zu zeigen, daß sie verstanden habe. Dann flitzte sie los, übersprang die Bresche und war mit einem zweiten Satz schon in dem Graben, wo sich die Engländer gerade zu einem neuerlichen Angriff fertigmachten.
Der erste, auf den sie traf, war ein Leutnant vom 25. Linienregiment. Es war der brave James Stephens aus Cartridge House in der Grafschaft Durham. Mit einem leichten Schlag ihrer Pfoten stupste sie ihn zu Boden. Dann packte sie ihn mit ihren Zähnen am feinen roten reißfesten englischen Tuch und nahm wieder den Weg, den sie gekommen war.
Louisons Auftauchen geschah so unerwartet und plötzlich, daß niemand Zeit gefunden hatte, sich ihr zu widersetzen oder sie wenigstens aufzuhalten. Die Tigerin durchquerte die Bresche ein zweites Mal, diesmal jedoch von der entgegengesetzten Seite, und legte ihr „Wild“ zu Corcorans Füßen nieder. Dabei betrachtete sie ihn mit einem verschmitzten Blick, der bedeuten mochte: Na, verehrter Herr und Meister, habe ich das nicht wieder fabelhaft gemacht?
Unglücklicherweise hatte Louison, die sehr in Eile war und in Sorge, ihre kostbare Beute unterwegs fallen zu lassen, den armen Leutnant ein bißchen zu sehr gedrückt, so daß ihre Zähne in die Lunge des jungen Mannes gedrungen waren und James Stephens aus Cartridge House in dem Moment, da ihn Louison niederlegte, ein toter Mann war.
„Armer Junge“, meinte Corcoran. „Louison ist eben nicht sehr bewandert in Anatomie. Sie hat ihn zu sehr gedrückt… Louison, meine Liebe, du hast einen großen Fehler gemacht. Du hast diesen Engländer wie ein englisch gebratenes Steak behandelt, das ist ein großer Unterschied, wie dir jeder Feinschmecker bestätigen wird; Engländer sind stets als Gentleman zu behandeln und lebend herbeizuschaffen… Also, spring noch einmal und faß diesmal bitte etwas sanfter zu.“
Die Tigerin verstand den Vorwurf nur zu gut und lief gesenkten Hauptes davon, um ihre Scharte wettzumachen.
Diesmal hatte sie ihren Gentleman so sanft angepackt und kaum mit ihren Zähnen berührt, daß sie ihn zweifellos Corcoran ohne jede Verletzung übergeben haben würde, wenn die Engländer nicht die törichte Idee gehabt hätten, Louison unter starken Beschuß zu nehmen. Eine der Tigerin zugedachte Kugel drang zwei Zoll tief in das Gehirn des Gentleman und machte seinem Leben und seiner Angst, von einem Tiger gefressen zu werden – wenn er diese Angst gespürt hat, was ich nicht weiß – ein Ende.
Nach diesem zweiten Versuch sah Corcoran ein, daß es unmöglich war, auf diese Art präzise Informationen über das Vorgehen des Feindes zu erhalten. Doch da ließ sich plötzlich von einer anderen Seite der Stadtmauer, die weniger stark bewacht war, ein entsetzliches Geschrei vernehmen. Etwa zweihundert Engländer waren auf Leitern über die Mauer gestiegen und ergossen sich nun in die Stadt. Schon sah man einige Soldaten vor dem neuen Feind fliehen und die Waffen wegwerfen. „Fürst Holkar“, sagte Corcoran, „bleibt Ihr an der Bresche. Ich will sehen, was ich dort machen kann. Laßt keinen durch. Wenn die Engländer hier eindringen, ist alles verloren, und uns wird nichts weiter übrigbleiben, als ehrenvoll zu sterben.“
Dann marschierte er mit einem Bataillon, das bisher an der Bresche gestanden hatte, gegen die Engländer, die über die Mauer geklettert waren.
Seine erste Maßnahme war, die Leitern, auf denen die Engländer die Mauern bestiegen hatten, hochzuziehen, damit von unten keine Verstärkung mehr nachrücken konnte. Dann ließ er eine Straße, in die sie bereits eingedrungen waren, verbarrikadieren, und machte sie so zu einer Sackgasse. Zum Glück war die Straße nicht sehr verwinkelt, und die Arbeit war in kurzer Zeit erledigt. Dann begann er den Feind von verschiedenen Seiten in dieser Straße unter Feuer zu nehmen. Die Engländer wichen zurück, aber der Ausgang war ihnen durch die Barrikade versperrt. Corcoran hatte drei Kanonen herbeigeschafft und forderte die Engländer auf, sich zu ergeben.
Doch der Feind wollte den Durchbruch mit aufgepflanztem Bajonett erzwingen. Corcoran ließ mit Kartätschen auf ihn schießen. In einem einzigen Augenblick war die Straße mit Toten und Verletzten übersäht.
Während man die Kanonen von neuem lud, forderte Corcoran die Engländer zum zweiten Mal auf, sich zu ergeben. Diesmal kamen sie seiner Aufforderung nach. Vierundzwanzig Engländer waren von den zweihundert, die in Bhagavapur hatten eindringen können, noch übriggeblieben.
Aber Corcoran hatte keine Zeit, sich über seinen Triumph zu freuen. Ein großer Tumult und Schmerzensschreie ließen ihn eine neue Katastrophe befürchten. Er hastete zu der Bresche. Unterwegs begegneten ihm flüchtende Soldaten. „Halt!“ rief Corcoran. „Wo lauft ihr denn hin?“
„Sahib Kapitän“, schrie ihm einer der Fliehenden zu, „Holkar ist tot. Die Engländer haben die Bresche erstürmt. Rette sich, wer kann!“
„Rette sich, wer kann!“ schrie ihn Corcoran an. „Du kannst es jedenfalls nicht! Dreh dein Gesicht augenblicklich zum Feind, oder ich blase dir das bißchen Verstand aus deinem Gehirn. Dir und all diesen Feiglingen ebenso!“
Bei dieser Drohung wandte sich der unglückliche Hindu wieder der Bresche zu, denn diese Gefahr schien ihm geringer, als dem Zorn des Bretonen standzuhalten. Die anderen folgten seinem Beispiel. Mehr aus Angst als aus anderen Gefühlen heraus gehorchten sie dem Kapitän.
Im übrigen war die Neuigkeit nur allzu wahr. Eine feindliche Kolonne aus Engländern und Sepoys hatte einen neuen Angriff begonnen, und obwohl Holkar mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft hatte, war an diesem Tag das Glück nicht auf seiner Seite. Vor vierzehn Tagen war er schon einmal verwundet worden, diesmal war ihm eine Kugel in die Brust gedrungen. Als er fiel, gelang es den Engländern, die Hindutruppe zurückzudrängen. Schon waren die ersten in die Häuser der Vororte eingedrungen und hatten sie in Brand gesteckt.
Holkar fühlte den Tod nahen. Man hatte ihn auf einen kleinen Teppich gebettet, wo er von einer Schar seiner treuesten Soldaten umgeben war. Ein indischer Arzt untersuchte seine Wunde.
„Ach, mein Freund“, flüsterte er, als er Corcoran kommen sah, „Bhagavapur ist verloren. Retten Sie Sita!“
„Noch ist nichts verloren!“ antwortete Corcoran. „Sie werden leben, und was noch besser ist, Sie werden auch siegen. Nur Mut, Holkar, der Tag gehört uns.“
Nach diesen Worten sammelte er die versprengten Hindus um sich, und mit allen Kräften gelang es ihnen, die Bresche wieder zu schließen und dadurch die Verbindung zwischen dem englischen Lager und der Kolonne, die in Bhagavapur eingedrungen war, zu unterbrechen. Während er alle entbehrlichen Truppenteile in die Stadt schickte, um dort gegen die Engländer vorzugehen, blieb er selbst an der Bresche, denn er schätzte, daß die zurückflutenden Engländer sicher versuchen würden, den Rückweg über die Bresche zu nehmen.
Er hatte sich nicht geirrt. Die Engländer merkten plötzlich, daß ihrer immer weniger wurden und sie in der Stadt eingeschlossen waren. Sie hatten Angst, gefangengenommen zu werden, und fluteten zurück. Die Hindus leisteten ihnen dabei keinen Widerstand, sobald sie merkten, daß sich die Engländer zur Bresche zurückzogen. Und an der Bresche erwartete sie Corcoran.
In diesem Augenblick geschah ein unerwartetes Ereignis, das den Kampf endgültig zu Corcorans Gunsten entschied.
Über dem englischen Lager sah man plötzlich eine gewaltige Rauchsäule emporsteigen. Danach hörte man Gewehrfeuer. Unter Sugrivas Führung hatten die Sepoys Feuer an die Zelte gelegt, Colonel Barclay hinterrücks angegriffen, auf die eigenen Offiziere geschossen, die Kanonen vernagelt, die Munition in die Luft gejagt und das ganze Lager in ein heilloses Durcheinander gestürzt.
Corcoran hielt den Moment für gekommen. An der Spitze von drei Reiterregimentern machte er einen Ausbruch. Ohne Uniform, ganz in Weiß gekleidet, wie es seine Gewohnheit war, preschte er mit dem blanken Säbel in der Hand los, um den Feind endgültig zu besiegen.
Colonel Barclay war ein alter Haudegen, den man zwar überraschen, nicht aber erschüttern konnte. Ohne sich weiter um den Verrat der Sepoys zu kümmern, versammelte er die beiden europäischen Regimenter um sich und befahl, sich geordnet zurückzuziehen. Er kommandierte selbst die Kavallerie, die den Rückzug deckte. Seine unerschütterliche und ruhige Haltung nötigte den Hindus allen Respekt, manchen von ihnen sogar abergläubische Furcht ab.
Corcoran war in Sorge, daß sich das Kriegsglück wieder wenden könne. Ihm war es nicht darum gegangen, die Engländer zu vernichten, sondern Bhagavapur zu retten. Deshalb begnügte er sich damit, die Engländer eine halbe Stunde zu verfolgen. Dann kehrte er nach Bhagavapur zurück, während er die Bewegungen des geschlagenen Feindes von Holkars Kundschaftern beobachten ließ.
In der Stadt erwartete ihn der sterbende Holkar. An seiner Seite befand sich die schöne Sita, die den Kopf ihres Vaters auf den Knien hielt.
„Gibt es keine Hoffnung mehr, Sita?“ fragte sie der Kapitän flüsternd.
Holkar hatte die Frage mehr geahnt als gehört. „Nein, mein lieber Freund“, sagte er. „Ich werde sterben. Der letzte der Raghuiden ist im Kampf gefallen wie alle seine Vorfahren, und ich habe nicht mehr miterleben müssen, daß der Feind siegreich in meinen Palast zieht. Aber mein Mädchen, meine liebe Tochter…“
„Vater“, erwiderte Sita, „beruhige dich. Brahma wacht über all seine Geschöpfe.“
„Mein Sohn“, fuhr der sterbende Greis fort und tastete nach Corcorans Hand, „ich lege Sitas Wohl in deine Hände. Du allein kannst sie verteidigen und beschützen. Du allein wirst es vielleicht auch wollen… Sei ihr Gatte, Beschützer und Vater. Sie liebt dich, ich weiß es, und du…“
Corcoran konnte nur stumm und ergriffen die Hand des Sterbenden drücken, aber seine Augen gaben Sita deutlich zu verstehen, daß auch er sie liebte.
Holkar ließ die ranghöchsten Offiziere seiner Armee herbeirufen.
„Hier ist mein Nachfolger“, sagte er, „mein adoptierter Sohn und der Ehemann Sitas. Ich hinterlasse ihm mein Reich, und ich befehle euch, ihm genauso zu gehorchen, wie ihr mir gehorcht habt.“
Gegen Abend schloß Holkar für immer die Augen, nachdem er noch die Vermählungszeremonie gemäß den Riten Brahmas an Corcoran und Sita vollzogen hatte. Der Kapitän wurde zum Maharadscha der Marathen ausgerufen. Am nächsten Tag machte er sich mit Sugriva an die Verfolgung der Engländer, während er es Holkars Tochter überließ, die letzten Pflichten an ihrem Vater vorzunehmen.
Auf dem Weg, den die englische Armee gezogen war, sah man Pferde- und Menschenleichen. Die in den Dschungel geflüchteten meuternden Sepoys hatten versprengte Truppen aus dem Hinterhalt beschossen und alle Nachzügler umgebracht. Plötzlich entdeckte Corcoran an einer Wegbiegung von weitem ein seltsames Gebilde, das einem Gehängten ähnlich sah. Als er sich näherte, erkannte er, daß der Gehängte eine rote Uniform und Epauletten trug. Noch näher heranreitend, sah er, daß es Mister John Robarts, Husarenleutnant Ihrer Majestät, Königin Victorias, war. Er drehte sich zu Sugriva um, der neben ihm ritt, und sagte:
„Mein lieber Sugriva, das Schicksal enthält dir deine Beute vor. John Robarts wurde gehängt.“ Sugriva lächelte.
„Wissen Sie, wer ihn gehängt hat?“
„Vielleicht du?“
„Ja, Sahib Kapitän.“
„Hm“, meinte Corcoran. „War es nötig, ihn zu töten? Du bist ein bißchen zu rachsüchtig, lieber Freund.“
„Ah“, entgegnete der Hindu, „wenn ich Zeit gehabt hätte, sein Leiden zu verlängern! Aber Berar und ich waren in Eile. Wir sind ihm die ganze Nacht Schritt für Schritt bis hierher gefolgt. Berar hat sein Pferd mit einem Schuß getötet. Robarts fiel zu Boden, wir haben ihn mühelos binden können, er hatte sich das Bein gebrochen. Er hat mit seinem Revolver auf uns geschossen, allerdings niemanden getroffen. Wir haben ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und Berar hat ihm, nachdem er ihm die Uniformjacke ausgezogen hatte, fünfzig Peitschenhiebe verpaßt, genausoviel und keinen mehr oder weniger, wie er damals auf Befehl dieses ehrenwerten Gentleman erhalten hat.“
„Teufel auch!“ sagte Corcoran. „Ihr habt vielleicht ein Gedächtnis. Und was hat dieser – wie du ihn nanntest – Gentleman dazu gesagt?“
„Nichts. Er rollte nur wild mit den Augen. Wenn er gekonnt hätte, würde er uns damit alle verschlungen haben; den Mund hat er nicht aufgemacht.“
„Und danach, was geschah dann?“
„Berar hat ihn ausgepeitscht, an mir war es, ihn zu hängen. Ich habe ihm mit Berars Hilfe die Schlinge um den Hals gelegt und dann den Strick am Baum hochgezogen. Schließlich war er tot, und ich bin nach Bhagavapur zurückgekehrt.“
„Beim allmächtigen Gott“, sagte Corcoran, der ja bekanntlich ein philosophischer Mensch war, nachdenklich, „es steht geschrieben: ‘Wer sich des Schwertes bedient, wird durch das Schwert umkommen.’ Dieser arme Robarts tut mir leid, doch er war ein schlechter Charakter. Er war zu ehrgeizig, und das schadet immer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich wohl schon ein Loch im Kopf. Beerdigen wir ihn, wie es einem Christenmenschen geziemt, und verlieren wir kein Wort mehr darüber.“
Währenddessen konnte Colonel Barclay, obwohl ihm die siegreichen Marathen ziemlich zusetzten, verhindern, daß sein Rückzug in heillose Flucht ausartete. Er zog sich langsam zurück, leistete dem Feind ständig Widerstand, wenn ihn dieser angriff, und fand schließlich Unterschlupf in einer Befestigung, die seinem Verbündeten Rao gehört hatte und die einen Teil des Narbadaflusses beherrschte. Seine Armee war inzwischen auf die Mannschaftsstärke von drei europäischen Regimentern zusammengeschmolzen, denn die übrigen Sepoys waren geflohen oder hatten sich Kapitän Corcoran angeschlossen. Der Narbada, der hier eine Schleife wie die Seine zwischen der Concordebrücke und Saint-Denis machte, umspülte von zwei Seiten die Befestigung, die auf einer Anhöhe lag und von zahlreichen Kanonen verteidigt wurde.
Als Kapitän Corcoran die Befestigungsanlagen genau inspiziert hatte und im Begriff war, an geeigneter Stelle mit den Schanzarbeiten für eine Sappe zu beginnen, wurde ihm ein englischer Parlamentär gemeldet.
Corcoran ließ sich den Engländer vorführen. Der Offizier präsentierte sich hochfahrend. Es war der verdienstvolle Hauptmann Bangor, der sich im Krieg gegen die Sikhs dadurch hervorgetan hatte, daß er nach dem Sieg mit erstaunlicher Kaltblütigkeit alle seine Gefangenen erschossen hatte. In Anerkennung dieser glorreichen Tat hatte ihn die Ostindische Kompanie befördert und ihm eine Summe von zweitausend Rupien – das waren etwa achtzigtausend Franc – übergeben.
Corcoran empfing ihn mit ausgesuchter Höflichkeit.
„Sir“, sagte der Engländer, „Colonel Barclay schickt mich, um ihnen Frieden anzubieten.“
„Sehr schön“, erwiderte Corcoran gut gelaunt. „Der Frieden ist die herrlichste Sache auf Erden, vor allem, wenn die Bedingungen gut sind.“
„Sir, sie sind besser als alles, was Sie hoffen könnten“, sagte Bangor.
Diese Eröffnung ließ Corcoran lauthals auflachen.
„Colonel Barclay“, fuhr Bangor fort, „bietet Ihnen Leben und Freiheit für Sie selbst und Ihre europäischen Begleiter, falls Sie welche dabeihaben; er hat sogar nichts dagegen, wenn Sie Ihre ganze Bagage und eine Geldsumme mit sich nehmen, die hunderttausend Rupien nicht übersteigt.“
„Oho, aha, hm, hm“, sagte Corcoran, „der Colonel ist ja wirklich großzügig, man merkt, daß er ein praktisch denkender Mensch ist. Aber welche Bedingung ergibt sich für mich?“
„Die Bedingung für Sie“, fuhr Bangor fort, „ist die, daß man die gröbliche Verletzung der Menschenrechte, die Sie begangen haben, als Sie als Bürger einer neutralen Nation Krieg gegen die Ostindische Kompanie führten, vergessen wird, wenn Sie sich schleunigst aus Bhagavapur zurückziehen, um den englischen Truppen den Einmarsch zu ermöglichen.“
„Ist das alles?“ fragte Corcoran.
„Ich vergaß eine der Hauptbedingungen“, setzte der Engländer noch hinzu. „Colonel Barclay fordert, daß Sie ihm die Tigerin, die Sie ständig mit sich herumführen, übergeben, denn er hat sie als Schaustück für das Britische Museum in London bestimmt. Natürlich wird man sie von einem der besten englischen Präparateure konservieren lassen.“
Bei dem Wort „konservieren“ ließ Louison ein Fauchen hören, daß Bangor in die Knochen fuhr.
„Demnach wollen Sie sie wohl gleich erschießen lassen?“ fragte Corcoran weiter.
Der Engländer hatte nur noch die Kraft, bejahend zu nicken. Das Wort „erschießen“ ließ Louison brüllen, als hätte man ihr drei Kugeln aufs Fell gebrannt. Sie betrachtete Bangor mit einem derart abschätzenden Blick ihrer meergrünen Augen, daß dieser die Hoffnung aufgab, in seinem Leben nochmals ein saftig gebratenes Steak essen zu können, sondern fürchtete, jeden Augenblick selbst zum Steak zu werden.
„Sir“, sagte er zitternd zu Corcoran, „erinnern Sie sich meiner Unantastbarkeit als Parlamentär. Die Menschenrechte…“
„Die Menschenrechte sind keine Tigerrechte“, erwiderte der Kapitän, „und wenn Sie Louison noch lange mit Ihrem Britischen Museum ärgern und Ihrer Manie, sie konservieren zu lassen, dann wird man Ihr Knochengerüst in drei Minuten im tigrischen Museum bewundern können.“
„England wird meinen Tod rächen!“ belferte Bangor erregt. „Und Lord Palmerston…“
„Pah! Für Louison ist Lord Palmerston nicht mal soviel wert wie ein Breitschwanzaffe. Aber um auf unsere Angelegenheiten zurückzukommen: Kehren Sie schleunigst zu Ihrem Colonel Barclay zurück und richten Sie ihm aus, daß ich seine Lage kenne und sein ganzer Hochmut für die Katz ist; daß er nur noch für acht Tage Verpflegung hat; daß seine drei europäischen Regimenter reduziert sind auf tausendsiebenhundert Mann; daß meine Brigg Sturmsohn mit sechsundzwanzig schweren Kanonen bestückt ist, die ihm den Narbada versperren werden; daß er außerstande ist, seine Truppen in ein Gefecht mit uns verwickeln zu lassen, da ihre Kampfmoral schlecht ist; und daß er schließlich, falls er zögern sollte, sich zu ergeben, gezwungen sein wird, bedingungslos zu kapitulieren.“
„Sir“, sagte Bangor auf eine sich anbiedernde Art, „ich bin berechtigt, Ihnen bis zu einer Million Rupien anzubieten, wenn Sie mit Holkars Tochter abreisen und die Marathen ihrem Schicksal überlassen.“
„Und Sie“, erwiderte darauf Corcoran, „werden von mir auf das sorgfältigste gepfählt werden – eine Eigenart der Marathen –, wenn Sie mir noch länger irgendwelche Vorschläge zum Verrat unterbreiten sollten. Überbringen Sie Colonel Barclay meine Hochachtung, und richten Sie ihm aus, daß ich ihn in einer Stunde am Flußufer erwarte, um mit ihm zu verhandeln. Wenn diese Zeit ungenutzt verstreicht, werde ich mit ihm nach Belieben verfahren.“
Bangor mußte sich wohl oder übel mit diesem Angebot zufriedengeben und verschwand.
Barclay, der diese unverschämten Forderungen nur gestellt hatte, um seine Schwäche zu verbergen, beruhigte sich, als er sah, daß Corcoran über seinen Zustand genau unterrichtet war. Er akzeptierte die gewünschte Unterhaltung und ging dem Sieger entgegen. Hundert Schritt von der Festung entfernt, trafen beide aufeinander.
„Colonel“, sagte der Bretone zu ihm und reichte ihm die Hand, „wie Sie selbst sehen, hatten Sie unrecht, sich mit mir anzulegen; aber es ist nie zu spät, seinen Irrtum zu korrigieren.“
„Aha! Sie akzeptieren also meine Bedingungen!“ rief Barclay freudig aus. „Ich war dessen sicher. Unter uns, was können Sie auch von diesen dreckigen Eingeborenen erwarten, die Sie beim ersten Mißerfolg im Stich lassen werden. Eine Million Rupien dagegen, das ist eine hübsche Summe, die man nicht so im Vorübergehen findet. Damit wäre Ihr Glück gemacht, und wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen für White, Brown & Co. in Kalkutta eine Empfehlung geben. Ein sicheres Bankhaus, das mit Baumwolle zwanzig Millionen gemacht hat und Ihr Geld mit fünfzehn Prozent verzinsen würde. Dort werde ich übrigens auch nach der Einnahme von Bhagavapur meinen Anteil deponieren.“
„Soso, so ist das also“, erwiderte Corcoran lachend. „Darauf spekulieren Sie. Nun, verehrter Colonel, bei Geschäften soll man zweimal zählen. Mit zwei Sätzen: Ich biete Ihnen genau das, was Sie mir angeboten haben, das heißt, ich gebe Ihnen die Erlaubnis, sich mit Ihren Waffen und Ihrer Ausrüstung zurückzuziehen. Und zweitens kennen Sie die Unabhängigkeit des Holkarschen Reiches sicher genau und werden auch mit seinem Nachfolger, dem neuen Fürsten, in Frieden leben wollen.“
„Holkar ist tot?“ rief Barclay erstaunt.
„Ja. Wußten Sie das nicht?“
„Und wer ist sein Nachfolger?“
„Ich selbst, Colonel. Man nennt mich seit gestern Corcoran Sahib oder, wenn Ihnen das besser gefällt, Maharadscha Corcoran. Ein schnelles Avancement, nicht wahr? Als ich mit Louison vor fünf Monaten Marseille verlassen habe, kam es mir eigentlich nicht in den Sinn, König der Marathen zu werden; aber wahrscheinlich ist es Gottes Wille, daß ich das Glück meiner Mitmenschen bin und die Krone trage. Und auch mein Wahlspruch heißt: Gott und mein Recht.“
„Reden wir offen miteinander“, sagte Barclay. „Sie sind Franzose, Sie müssen doch England und seine Macht kennen. Denken Sie denn ernsthaft daran wie die meisten dieser Mohren, daß Brahma und Wischnu aus ihrem Feuerhimmel herabsteigen, um die Engländer ins Meer zu werfen? Sie wissen sehr wohl, daß hinter den tausendsiebenhundert Soldaten, die mir verblieben sind, die ganze mächtige Ostindische Kompanie steht, deren Sitz in London ist und die hundert-, zweihundert-, dreihundert-, wenn nötig sogar vierhundert- oder fünfhunderttausend Menschen nach Kalkutta schicken kann. Wie groß auch Ihr Mut sein wird – und Sie können sicher sein, wir haben in Indien noch nie gegen einen so klugen und unerbittlichen Gegner wie Sie gekämpft –, eines Tages werden Sie doch fallen, dessen können Sie gewiß sein. Also, lassen Sie sich nicht töten. Werden Sie von mir aus König, wenn Sie Lust dazu haben. Regieren Sie, herrschen Sie, administrieren Sie, verabschieden Sie Gesetze; wir werden Ihnen nichts Böses tun. Mehr noch, wir werden Ihnen helfen; dafür verbürge ich mich im Namen der Kompanie. Ihre Feinde werden die unseren sein, und unsere Soldaten werden Ihnen zu Diensten stehen.“
„Besten Dank für das großzügige Angebot“, antwortete Corcoran, „aber ich fürchte niemanden, und Ihre Soldaten werden mir auch nicht zu Diensten stehen.“
„Denken Sie nach…, man braucht immer jemanden…, vor allem die Ostindische Kompanie.“
Corcoran schwieg für einen Augenblick.
„Und um welchen Preis“, fragte er schließlich, „bieten Sie mir Ihre Allianz an? Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie etwas umsonst bieten?“
„Ich stelle nur zwei Bedingungen“, sagte der Engländer. „Die erste ist die, daß Sie zwanzig Millionen Rupien im Jahr an die Kompanie zahlen, und…“
„Lieber Freund“, unterbrach ihn Corcoran, „Sie machen einen großen Fehler. Sie reden immer nur vom Geld. Ich habe in Saint-Malo einen Gerichtsvollzieher gekannt, der Ihnen wie ein Wassertropfen dem anderen glich. Er war lang, hager, trocken, traurig, hart und redete nur mit Leuten, um ihnen ihr Portemonnaie zu leeren.“
„Sir“, erwiderte Barclay von oben herab, „der Gerichtsvollzieher, von dem Sie sprechen, hatte nicht ganz Britannien hinter sich!“
„Zum Teufel! Wenn ganz Britannien hinter Ihnen steht, dann stand hinter ihm ganz Frankreich, vor allem die Gendarmerie, die wie sein Glorienschein war. Wenn ich ihn manchmal vor Gericht ‘Silentium’ sagen hörte, mit einer so imposanten und wohltönenden Stimme, daß Sie ihn beim ersten Augenschein für Karl den Großen gehalten hätten…“
„Sir“, fiel ihm Barclay ungeduldig ins Wort, „lassen wir bitte Ihre Geschichten aus Saint-Malo, von Karl dem Großen und dem Gerichtsvollzieher. Wollen Sie der Kompanie einen jährlichen Tribut von zwanzig Millionen Rupien zahlen, ja oder nein?“
„Wenn ich sie bezahlte“, erwiderte Corcoran, „wer würde Sie mir zurückerstatten, woher sollte ich sie nehmen? Meine Mittel, ausgenommen meine Brigg, kann ich bequem in eine meiner Taschen stecken.“
„Wer spricht von Ihren gegenwärtigen Mitteln. Verdoppeln, verdreifachen Sie die Steuern; ihr Volk wird bezahlen.“
„Und wenn es revoltiert? Wenn es sich weigert, die Steuern zu bezahlen?“
„Na, dann kommen wir Ihnen zu Hilfe.“
„Das ist einer Überlegung wert.“
Im Grunde war er mit seinen Überlegungen schon zu einem Ergebnis gekommen oder vielmehr – es gab eigentlich nichts mehr zu überlegen, aber er wollte gern soviel wie möglich über die Pläne der Engländer erfahren.
„Und welches wäre Ihre zweite Bedingung?“
Der Colonel schien zunächst ein wenig mit der Antwort zu zögern, doch dann sagte er entschlossen:
„Hören Sie, Kapitän. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, vollstes Vertrauen, das schwöre ich Ihnen, es liegt also nicht an mir…, nun… ja, die Kompanie hätte gern Garantien. Was würden Sie zum Beispiel dazu sagen, wenn mit Ihnen zusammen ein englischer Offizier regieren würde, der, sozusagen, Ihr Freund wäre, der…“
„… alle meine Aktionen überwacht und darüber dem Generalgouverneur Bericht erstatten würde, nicht wahr?“ Corcoran lächelte. „Dieser Freund würde nur auf die Gelegenheit warten, mir im geeigneten Augenblick den Hals umzudrehen, wie Sie es für Holkar vorgesehen hatten. Sie nennen ihn einen Freund, ich würde es vorziehen, ihn als Spion zu bezeichnen.“
„Sir!“ entrüstete sich Barclay.
„Erregen Sie sich nicht. Ich bin ein echter Seemann und nicht gerade wohlerzogen. Ich nenne die Dinge bei ihrem Namen. Ich will nichts von Ihnen. Ich behalte meine Rupien, behalten Sie Ihren Spion…, wollte sagen, Ihren Freund.“
„Sir“, sagte Barclay, „es ist noch an der Zeit, um zu verhandeln. Der erste Erfolg blendet Sie; aber Sie hoffen doch nicht ernsthaft, ganz England in die Knie zwingen zu können. Machen Sie Ihren Frieden mit uns, es wird genauso zu Ihrem Vorteil sein, glauben Sie mir.“
Er redete auch noch dann auf Corcoran ein, als dessen Reiter einen Boten abfingen, der eine Depesche ins englische Lager bringen wollte. Corcoran brach das Siegel auf und las laut folgendes vor:
Lord Henry Braddock, Generalgouverneur von Hindustan, an Colonel Barclay
„Colonel Barclay wird hiermit in Kenntnis gesetzt, daß die Sepoyrevolte das ganze Königreich Audh erfaßt hat. Lucknow hat den Sohn des letzten Moguls, ein Kind von zehn Jahren, zum Herrscher über Indien proklamiert. Seine Mutter ist Regentin. Sir Henry Lawrence wird in seiner Festung belagert. Fast das ganze Gangestal befindet sich in Aufruhr. Sie müssen, koste es, was es wolle, unbedingt Frieden mit Holkar schließen und Sir Lawrence entsetzen. Später werden wir die alte Schuld begleichen.
gez. Lord Henry Braddock“
Barclay war konsterniert. Er streckte die Hand aus, um die Depesche an sich zu nehmen.
„Bitte“, sagte Corcoran. „Sie kennen zweifellos die Unterschrift Seiner Lordschaft besser als ich.“
Der Colonel starrte fassungslos auf das Papier. Ihn beschäftigte weniger die eigene Gefahr als die seiner Kameraden. Vor seinem inneren Auge sah er schon die Herrschaft der Engländer in Indien unter dem Ansturm der Sepoys in wenigen Tagen zusammenbrechen, und er war verzweifelt, im Moment nichts tun zu können. Nach langem Schweigen wandte er sich schließlich an Corcoran und sagte: „Ich habe Ihnen nichts zu verbergen. Schließen wir Frieden, wenn Sie wollen. Ich bitte Sie nur darum, uns ungehindert abziehen zu lassen.“
„Einverstanden.“
„Was die Kriegskosten betrifft…“
„Werden Sie sie bezahlen“, unterbrach ihn der Kapitän brüsk. „Ich weiß, daß es schwerfällt, sein Geld herzugeben, wenn man geglaubt hat, welches zu bekommen; aber Sie können schuldenfrei sein, wenn Sie für die Aktionäre der höchst ehrenwerten, mächtigen und ruhmreichen Ostindischen Kompanie eine weniger üppige Dividende ausschütten; wenn es ihnen aber peinlich ist, die Dividenden zu kürzen, können Sie natürlich auch Kapitalanteile verkaufen. Übrigens ein gängiger Brauch aller bedeutenden Kompanien in Frankreich und England.“
„Sie sind im Augenblick der Stärkere“, sagte Barclay. „Ihr Wille geschieht und nicht meiner. Soll man dem Friedensvertrag hinzufügen, daß die Ostindische Kompanie den Nachfolger Holkars anerkennt?“ Corcoran lächelte.
„Wie es Ihnen beliebt“, sagte er, „aber meine Sorge soll das nicht sein… Wenn ich der Stärkere bleibe, so weiß ich sehr wohl, daß die Engländer bis zum Ende meiner Tage meine Freunde sind; sollte sich das Glück jedoch wenden und gegen mich sein, werden sie versuchen, mich zu hängen, um sich für den Schrecken, den ich ihnen eingejagt habe, zu rächen. Lassen wir also die diplomatischen Spitzfindigkeiten und versuchen wir lieber, so gut es eben geht, als friedliche Nachbarn nebeneinander zu leben. Wenn wir es können.“
„Bei Gott auch!“ rief der Engländer plötzlich erleichtert aus. „Sie haben recht! Kapitän, Sie sind einer der loyalsten und feinfühligsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Zum Teufel mit diesem ganzen verdammten Krieg! Aber was soll ich machen, er ist nun mal mein Beruf. Ich bin stolz, wirklich, ich bin stolz und glücklich, Ihnen die Hand drücken zu können. Adieu, Fürst Corcoran.“
Corcoran dachte, daß es sicher nicht schwer sei, bei einer Niederlage solche Worte zu finden, und blieb gegenüber der Haltung des Colonels mißtrauisch. Schließlich war der nur ein Angestellter einer unersättlichen Maschinerie.
„Möge Gott Sie in Ihren weiteren Entschlüssen leiten“, sagte er zu dem Colonel. „Kehren Sie nie in das Land der Marathen zurück, es sei denn als Freund. Louison, meine Liebe, gib dem Colonel die Pfote.“
Am selben Abend wurde der Friedensvertrag formuliert und unterzeichnet. Am nächsten Morgen setzten sich die Engländer nach Audh in Marsch. Corcorans Reiterei überwachte sie bis zur Grenze des Reiches.
Vierzehn Tage nach Abzug der Engländer war Corcoran in seine Hauptstadt zurückgekehrt. Friedlich genoß er mit der schönen Sita die Früchte seiner Klugheit und Kühnheit. Die ganze Armee des verstorbenen Fürsten hatte ihn sofort als legitimen Souverän anerkannt, und die Zemindars, die Großgrundbesitzer, gehorchten dem Schwiegersohn und Nachfolger des letzten der Raghuiden ohne offene Abneigung.
Eines Morgens sagte Corcoran zu dem Brahmanen Sugriva, den er zu seinem Innenminister ernannt hatte:
„Regieren ist nicht alles, meine Herrschaft muß auch jemandem nützen, denn schließlich sind die Könige nicht deshalb Könige geworden, um zu frühstücken, zu Mittag und zu Abend zu essen und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Was meinst du dazu, Sugriva?“
„Herr“, antwortete Sugriva, „das war tatsächlich anfangs ganz und gar nicht Brahmas und Wischnus Wille, als sie die Könige schufen.“
„Glaubst du denn, daß das Königtum in direkter Linie von diesen beiden allmächtigen Gottheiten kommt?“
„Warum nicht“, erwiderte der Brahmane, „nichts ist wahrscheinlicher. Warum sollte Brahma, der alle menschlichen Wesen geschaffen hat, darüber hinaus die Löwen, die Schakale, die Kröten, die Affen, die Krokodile, die Fliegen, die Vipern, die Riesenschlangen, die Kamele mit zwei Höckern, den schwarzen Tod und die tödliche Cholera, ausgerechnet die Könige auf seiner Liste vergessen haben?“
„Mir scheint, Sugriva, daß du für diese noblen und glorreichen Spezies der Menschheit nicht allzuviel Achtung und Anerkennung übrig hast?“
„Herr“, erwiderte der Brahmane und legte seine Hände dachförmig aneinander, „haben Sie mich nicht angehalten, die Wahrheit zu sagen.“
„Richtig.“
„Wenn Sie es vorziehen, daß ich lüge, nichts leichter als das.“
„Nein, nein, das ist nicht nötig. Aber du wirst mir doch sicher recht geben, daß nicht alle Könige genauso schädlich und unangenehm wie Pest und Cholera sind. Holkar zum Beispiel…“ Hier begann Sugriva nach Art der Hindus still zu lachen, wobei er zwei Reihen blendendweißer Zähne entblößte und sich im Takt seines Lachens wiegte.
„Was willst du ihm vorwerfen?“ fuhr Corcoran fort. „War er nicht aus einer der edelsten Familien Indiens. Sita hat mir versichert, daß er in direkter Linie von Rama, dem Sohn Dasharathas, abstammte.“
„Sicher.“
„War er nicht tapfer?“
„Gewiß, wie der beste Soldat.“
„War er nicht großmütig?“
„Ja, mit denen, die ihm schmeichelten; aber die Hälfte seines Volkes hätte vor den Toren seiner Stadt vor Hunger krepieren können, ohne daß er ihnen etwas anderes zu sagen gewußt hätte als: Gott wird euch beistehen.“
„Du wirst mir doch wenigstens beipflichten, daß er gerecht war.“
„Ja, wenn er kein Interesse daran hatte, jemanden zur Zerstreuung zu hängen. Ich selbst habe es miterlebt, daß er, nur zu seinem Vergnügen oder um besser verdauen zu können, nach dem Mittagessen eine Reihe von Köpfen abschlagen ließ.“
„Das waren zweifellos Köpfe von Spitzbuben, die es verdient hatten.“
„Sicher, sofern es sich nicht um ehrenwerte Menschen handelte, deren Gesicht ihm einfach nicht gefiel. Haben Sie den alten Holkar wirklich ganz gekannt? Welchen Schatz hat er Ihnen denn hinterlassen?“
„Vierundzwanzig Millionen Rupien, nicht gerechnet die Diamanten und die übrigen Steine.“
„Und da glauben Sie wirklich, daß ein König, der etwas auf sich hält, so reich sein muß?“
„Vielleicht war er ein sparsamer Mensch“, meinte Corcoran.
„Sparsam! Sie kennen ihn ja selbst“, erwiderte Sugriva bitter. „In vierzig Jahren hat er Milliarden von Rupien verschleudert, um den dümmsten Launen zu frönen, die einem Abkömmling Ramas nur entspringen können; er baute Dutzende von Palästen, Sommerpaläste, Winterpaläste, Paläste für jede Jahreszeit; er ließ Flüsse umleiten, um in seinem Bezirk besondere Wasserspiele genießen zu können; er kaufte die schönsten Diamanten ganz Indiens auf, um damit seinen Säbelknauf zu schmücken – und er hatte hundert verschiedene Säbel; er ließ Sklaven aus allen fünf Erdteilen herbeischaffen; er ernährte Tausende und aber Tausende von Schmarotzern und Schmeichlern und ließ dafür ehrliche Menschen pfählen, die ihm die Wahrheit sagten.“
„Woher nahm er denn das Geld?“
„Wo es ist, das heißt aus den Taschen der armen Leute; von Zeit zu Zeit ließ er auch einem Zemindar den Kopf abschlagen, um sich dessen Hinterlassenschaft anzueignen. Das war übrigens die einzige populäre Maßnahme, die er jemals durchgeführt hat, denn das Volk, das die Zemindars mehr als den Tod fürchtete, hatte unter ihrer Willkür sehr zu leiden.“
„Wie!“ entrüstete sich Corcoran. „Holkar, den ich wegen seines weißen Bartes und seiner vornehmen und markanten Gesichtszüge für einen wirklichen Patriarchen hielt, für einen würdigen Nachfahr Ramas und Dasharathas, soll, wie du sagst, ein Schurke gewesen sein? Wem darf ich denn da glauben?“
„Niemandem“, antwortete der Brahmane weise. „Das Amt verdirbt den Charakter. Unter hundert Männern, die die absolute Macht besitzen, gibt es nicht einen, der nicht bereit wäre, Verbrechen zu begehen. Man begeht sie nicht auf einmal, nicht am ersten, zweiten, dritten Tag der Regierungsübernahme, sondern verstrickt sich ganz allmählich, ganz unmerklich in der Schuld. Kennen Sie die Geschichte des berühmten Aurangseb?“
„Ein wenig, aber erzähl trotzdem.“
„Also, er war der vierte Sohn des Großmoguls, der in Delhi residierte. Da er von solch großer Frömmigkeit, Tugend und Weisheit war, wurde er von seinem Vater noch zu dessen Lebzeiten als Mitregent des Reiches herangezogen und schon im voraus als zukünftiger Herrscher des Landes bestimmt. Aber als Aurangseb an der Macht war, verflog seine Frömmigkeit wie Rauch, seine Tugend versank im Wasser wie Erz, und seine Weisheit galoppierte hinweg wie eine vom Jäger verfolgte Gazelle. Seine erste Handlung war, seinen Vater ins Gefängnis zu werfen; die zweite, seinen Brüdern die Köpfe abschlagen zu lassen; die dritte, ihre Parteigänger und Freunde zu pfählen; dann vergiftete er seinen Vater, da es ihn quälte, ihn im Gefängnis zu wissen; und glauben Sie ja nicht, daß Brahma oder Wischnu einen Blitzstrahl zur Erde geschickt oder ihn an seinen Untaten gehindert hätten. Brahma und Wischnu, die ihn bestimmt in einer anderen Welt erwarten werden, haben ihn mit Reichtum, Siegen und Wohlergehen überschüttet; er starb mit achtundachtzig Jahren, verehrt wie Gott, und er hatte nicht ein einziges Mal in seinem Leben große Schmerzen zu erdulden.“
„Säbel und Kanonenrohr!“ rief Corcoran aus. „Ich muß schon sagen, wenn alle Fürsten deines Landes ebensolche Persönlichkeiten wie der arme Holkar oder der famose Aurangseb sind, dann habt ihr ja gar keinen Grund, sie zu bedauern und gegen die Engländer zu kämpfen, die euch doch von ihnen befreien wollten!“
„Machen Sie sich nicht über uns lustig, Herr“, erwiderte Sugriva, „denn Sie wissen nur zu gut, daß die Engländer genauso lügen, betrügen, verraten, unterdrücken, brandschatzen und töten wie unsere eigenen Fürsten. Darüber hinaus gibt es keine Chance, ihrer perfekten Organisation zu entgehen. Nehmen wir an, Colonel Barclay hätte Holkar besiegt, er wäre zehnmal unerträglicher als letzterer gewesen, denn zuerst hätte er unser Geld genommen; wir hätten keinen Vorteil gehabt, ihn umzubringen, denn dann würde man uns aus Kalkutta einen zweiten Barclay schicken, der genauso wild und ebenso habgierig wie der erste wäre. Holkar dagegen hatte ständig in Angst gelebt, ermordet zu werden, und diese Angst gab ihm mitunter gesunden Menschenverstand und Mäßigung. Schließlich wußte er, daß wir Brahmanen aus der höchsten Kaste von gleicher Geburt sind wie Könige, und er hütete sich davor, uns zu belästigen, während der Engländer – ich habe es in Benares erlebt – uns brutal mit der Peitsche schlägt, um sich Platz in der Menge zu verschaffen, oder gestiefelt und gespornt die heilige Pagode von Dschagannath betritt, ohne Sorge, sie zu verunreinigen, die der Held Rama nicht eher betreten hätte, bis er sich den sieben Bußen und siebzig Reinigungen unterworfen hätte.“
Während Sugrivas Worten hatte Corcoran gründlich nachgedacht.
Ich hätte besser daran getan, dachte er, Sita zu heiraten und mich dann unverzüglich auf die Suche nach dem sagenumwobenen Gurukaramta zu machen, als unüberlegt Holkars Erbschaft anzutreten; aber wer sich die Suppe eingebrockt hat, muß sie auch auslöffeln. Übrigens scheint mir, daß früher oder später Barclay zurückkommen wird, um mir seine Niederlage heimzuzahlen. Also, seien wir keine Spielverderber und warten ab. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und sich an Sugriva wendend, sagte er:
„Mein lieber Freund, Louison und ich gehören nicht zu der Art von Lebewesen, die vor irgend etwas erschrecken, und wenn man uns außer Holkars Reich auch noch China, Indochina, Malakka und ganz Afghanistan zum Regieren anbieten würde, wir würden uns nicht sperren. Ich werde ab morgen zeigen, daß der Beruf eines Herrschers nicht schwierig sein muß.“
„Herr!“ rief Sugriva aus, wobei er seine Hände dachförmig über den Kopf erhob. „Großer Maharadscha, Held der Wissenschaften mit dem reinen und strahlenden Antlitz, mit Augen, schöner als die Blüte des blauen Lotos, möge Brahma Euch das Glück Aurangsebs und die Weisheit der Dasharithen geben!“
Tage später konnte man in den Straßen von Bhagavapur und allen großen Städten des Reiches folgende Proklamation lesen:
„Fürst Corcoran an das edle, mächtige und unbesiegbare Volk der Marathen
Es hat dem ewigen, unsterblichen, unverwesbaren und gerechten Gott des Werdens gefallen, den ruhmreichen Holkar in seine Obhut zu nehmen, nachdem er mit ihm die roten Barbaren verjagt hat, die aus England gekommen waren, um alle treuen Anhänger Brahmas zu töten, ihre Schätze zu rauben und ihre Frauen und Kinder in die Sklaverei zu führen.
Es hat dem ruhmreichen Holkar gleichfalls gefallen, mich als seinen Sohn anzunehmen und mir seine Tochter, meine heißgeliebte Sita, die letzte blutsverwandte des göttlichen Rama, Sieger über den Dämonenfürsten Ravana und die Geister der Finsternis, zur Frau zu geben.
Mein Wille ist, mich dieser Ehre würdig zu erweisen und das Reich der Marathen in Übereinstimmung mit dem heiligen Gesetz der Vedaschrift und den weisen Ratschlägen der Brahmanen zu regieren. Ich werde kein Verbrechen ungestraft lassen, den Schwachen beschützen und meine Hand über die Häupter der Witwen und Waisen halten.“
Nach dieser Präambel rief der Anschlag zunächst alle Zemindars nach Bhagavapur; darüber hinaus wurden alle Marathen aufgefordert, dreihundert Abgeordnete zu wählen (einen auf fünfzigtausend Einwohner), die damit betraut würden, Gesetze auszuarbeiten und zu verabschieden, öffentliche Ausgaben zu kontrollieren, jeden Mißbrauch anzuzeigen und für Abhilfe zu sorgen. Corcoran Sahib (so nannte man den Fürsten im Volk) würde sich nur darum kümmern, daß die Gesetze eingehalten würden. Jeder Mann im Alter von zwanzig Jahren war wahlberechtigt und wählbar.
Dieser letzte Passus mißfiel Sugriva.
„Was soll das!“ entrüstete er sich. „Soll etwa ein Unberührbarer an der Seite eines Brahmanen sitzen?“
„Warum nicht?“
„Wenn er mich berührt, muß ich mich in den heiligen Fluten des Narbada reinigen.“
„Na und, dann nimmst du eben ein Bad mehr, Sauberkeit ist aller Tugend Anfang.“
„Aber…“
„Würdest du dich lieber von einem Engländer berühren lassen?“
Sugriva machte eine Gebärde des Widerwillens und Abscheus.
„Du hast nur die Wahl zwischen diesen beiden Verunreinigungen“, sagte Corcoran.
„Fürst, glauben Sie mir“, ließ sich Sugriva nicht entmutigen, „drängen Sie nicht darauf. Man wird es Ihnen schlecht vergelten. Man wird Sie ebenso verfluchen, wie man Ihnen anfangs zugejubelt hat. Colonel Barclay wird zurückkommen und Ihren Platz einnehmen.“
„Mein Freund“, erwiderte der Bretone, „ich bin kein legitimer König. Mein Vater war weder ein Sohn Dasharathas noch des Großmoguls. Er war Fischer aus Saint-Malo. In Wahrheit war er viel stärker, viel tapferer und besser als alle Könige, die ich kenne oder von denen die Geschichte spricht; er war französischer citoyen, was in meinen Augen die höchste Auszeichnung der Welt ist; aber schließlich war er eben nur ein Mensch. Also hatte er die Gefühle eines Menschen, das heißt, er liebte die Seinen und die, die so dachten wie er; niemals hat er niederträchtig gehandelt. Das ist die einzige Erbschaft, die er mir hinterlassen hat, und ich will sie bis zu meinem Tod bewahren. Der Zufall hat mir erlaubt, Holkar und euch allen eine starke Hand zu leihen, um die Engländer zu schlagen – vielleicht war es mir vorbestimmt. Derselbe Zufall hat mir Sita zur Frau gegeben, die schönste und beste aller weiblichen Geschöpfe, was aus mir seit vierzehn Tagen einen mächtigen Monarchen und glücklichen Menschen macht. Aber trotz des Beispiels des famosen Aurangseb, das du mir gestern erzählt hast, hat mir meine neue Herrscherwürde nicht meine Einstellung zu der Welt und dem, was sie im Innersten zusammenhält, vernebelt. Ich kenne kein größeres Vergnügen, als auf meiner Brigg um die Welt zu segeln und mein eigener Herr zu sein. Ich brenne nicht vor Ehrgeiz, das Marathenreich zu regieren. Wenn ich einverstanden war, mir die Krone aufzusetzen, so nur deshalb, um den Unberührbaren wie den Brahmanen, den armen Bauern und den reichen Zemindars Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn man mich daran hindern will, werde ich meine Krone in die Ecke legen und sofort mit Sita, die ich mehr liebe als Sonne, Mond und Meer, abreisen. Danach könnt ihr euch mit Barclay arrangieren, wie ihr wollt. Wenn er euch ausplündert und ruiniert, so ist das eure Sache. Ich liebe die Menschen so, daß ich mich für sie aufopfere, jedoch nicht um den Preis, mich deswegen von ihnen opfern zu lassen.“
„Je länger ich Ihnen zuhöre“, sagte Sugriva nach einigem Nachdenken, „desto mehr glaube ich, daß Sie die elfte Inkarnation Wischnus sind, so viel Sinn und Verstand steckt in Ihren Worten.“
„Wenn ich Gott Wischnu wäre“, entgegnete der Bretone lachend, „müßtest du mir bedingungslos gehorchen. Laß also meine Proklamation anschlagen und einen großen Saal für die Repräsentanten des Marathenvolkes herrichten, denn ich will in drei Wochen die erste Nationalversammlung der Marathen eröffnen.“
Louison, die dieses Gespräch mit angehört hatte, lächelte still vor sich hin. Sie rechnete damit, ihren Platz zur Rechten des Thrones, neben Corcoran Sahib und der schönen Sita, zu erhalten. Vielleicht träumte sie auch von neuen und schrecklichen Gefahren, denen ihr Freund entgegenschritt.
Doch die Schwierigkeiten waren nicht etwa zu Ende. Die meisten Zemindars ertrugen nur widerwillig ihren neuen Herrn. Mehrere unter ihnen hatten darauf gehofft, Sitas Hand zu erhalten und Holkars Erbe zu werden. Alle hätten gewünscht, unabhängig zu sein, jeder in seiner Provinz, und die Tyrannei und Selbstherrlichkeit wie in den guten alten Zeiten des vorhergehenden Fürsten fortzusetzen. Dennoch wagte niemand, offen gegen Corcoran zu intrigieren. Man fürchtete und man respektierte ihn. Viele Menschen aus dem Volk hielten ihn, wie Sugriva schon bemerkt hatte, für die elfte Inkarnation Wischnus; und Louison, deren scharfe Krallen zu so vielen Heldentaten beigetragen hatten, galt als die furchtbare Kali, Göttin des Krieges, deren Blick niemand ertragen kann. Wenn man ihr in den Straßen von Bhagavapur begegnete, hob man die Hände zum Gruß und erwies ihr beinahe göttliche Ehren.
Ein einziger Mann hielt den Moment für gekommen, sich des Thrones zu bemächtigen und Corcoran zu ermorden.
Er war einer der reichsten und einflußreichsten Zemindars, Brahmane von edler Geburt, namens Lakman, der glaubte, seinen Stammbaum von Ramas Bruder herleiten zu können und somit legitime Rechte auf das Reich Holkars zu haben. Zu Lebzeiten des letzteren hatte er mehrfach versucht, sich unabhängig zu machen, und zusammen mit Barclay gegen Holkar intrigiert; nach der Niederlage der Engländer jedoch war er der erste, der Corcoran Sahib huldigte und sich ihm zu Füßen warf.
Im Grunde wartete er nur auf eine günstige Gelegenheit, seine Interessen zu wahren und das Volk gegen Corcoran aufzuwiegeln. In seinem Haus versammelte er alle Unzufriedenen; er beklagte sich, daß man das heilige Gesetz Brahmas verletzt habe, indem man Holkars Krone einem Abenteurer aus Europa zugeschanzt habe; er forderte die Rückkehr zu den alten Sitten und Gebräuchen; er bezichtigte Corcoran, Stiefel aus Rindsleder zu tragen (was übrigens stimmte und in den Augen der Marathen ein schreckliches Vergehen war, das sich aber wiederum – so erklärten Corcorans Anhänger – eben nur ein gottgleiches Wesen leisten könne); schließlich bestückte er seinen Palast mit neuen Kanonen und ließ von allen Seiten Kugeln und Pulver herbeischaffen.
Sugriva war über diese Aktivitäten unterrichtet und wollte ihm den Kopf abschlagen lassen, bevor er Zeit finden würde, gefährlich zu werden, doch Corcoran widersetzte sich diesem Ansinnen.
„Maharadscha“, sagte der treue Brahmane, „Ihr glorreicher Vorgänger Holkar hätte nicht so lange gewartet. Beim geringsten Verdacht hätte er dem Verräter hundert Peitschenhiebe auf die Fußsohlen verabreichen lassen.“
„Mein Freund“, erwiderte der Bretone, „Holkar hatte seine Methoden, die, wie du ja selbst gesehen hast, nicht verhindert haben, daß er verraten wurde. Ich habe die meinigen. Es ist an Brahma, Verbrechen zu ahnden, denn nur er ist seiner Sache ganz sicher und riskiert nicht, einen Unschuldigen zu verurteilen. Doch die Menschen sollten kein Verbrechen sühnen, nachdem es begangen worden ist. Sie sollten es schon vorher verhindern. Ohne diese Vorsorge setzt man sich der Gefahr der Mißachtung des einzelnen aus.“
„Zumindest sollte man Lakman überwachen.“
„Wer? Ich! Ich soll also eine Polizei schaffen, die größten Spitzbuben aller Länder – denn Polizisten sind nichts anderes als Räuber, die ihr Laster als Tugend verkaufen – in meine Dienste nehmen und mich um tausend kleine Dinge kümmern. Ich werde stets auf der Lauer liegen und an nichts anderes mehr denken können. Ich werde mein Leben mit Verdächtigungen und Vorurteilen vergiften!“
„Aber Liebster“, bemerkte Sita, die ebenfalls zugegen war, „bedenke doch, daß dich Lakman jederzeit ermorden kann. Hör auf den Rat deiner Wächter, wenn schon nicht deinetwegen, dann doch wenigstens mir zuliebe, die ich dich lieber habe als die Natur oder den Himmel.“
Indem sie so sprach, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie warf sich Corcoran in die Arme. Er drückte sie zärtlich an seine Brust, betrachtete sie einen Augenblick und sagte dann behutsam:
„Du willst es, meine Sita, süßes und liebes Geschöpf, dem ich nichts abschlagen kann, du willst es also? Ihr wollt es beide! Na schön, ich bin einverstanden und werde diesen furchtbaren Lakman einer Überraschung aussetzen, daß er für immer den Gedanken verfluchen wird, mir jemals meine Krone streitig gemacht zu haben… Hierher, Louison!“
Die Tigerin näherte sich sanft und legte ihren Kopf auf Corcorans Knie, um sich von ihm kraulen zu lassen. Ihre Augen versuchten aufmerksam, in dem Blick ihres Freundes dessen Gedanken zu lesen.
„Louison, meine Liebe“, sagte er, „hör gut zu, was ich dir zu sagen habe. Ich brauche deine ganze Intelligenz.“
Die Tigerin wedelte mit dem Schwanz und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit.
„Es gibt in Bhagavapur einen Mann, den ich verdächtige, gegen mich zu intrigieren“, fuhr der Bretone fort. „Sollte wahr sein, was ich glaube, sollte er also irgendeinen Verrat gegen mich vorbereiten, so beauftrage ich dich, mich zu benachrichtigen.“
Louison drehte rasch ihre rosafarbene Nase, die mit starken Schnurrbarthaaren bewachsen war, in alle vier Himmelsrichtungen, als ob sie den Verräter wittern und ihn sofort zur Ordnung rufen wollte.
„Damit du dich nicht irrst, werde ich ihn rufen lassen… Sugriva, geh ihn suchen und bring ihn hierher, notfalls mit Gewalt.“
Sugriva schickte sich sofort an, den Auftrag auszuführen, und erschien bald wieder in Begleitung des verdächtigen Brahmanen. Dieser war ein Mann mittlerer Größe; seine tief in den Höhlen liegenden Augen blitzten vor unterdrücktem Haß; seine hervorspringenden Backenknochen und seine wie bei Tataren abstehenden Ohren verrieten Arglist und einen zerstörerischen Charakter.
Er schien von Corcorans Aufforderung, an dessen Hof zu erscheinen, nicht überrascht, und schon bei den ersten Worten schwor er, diesen immer als seinen wahren Herrn und Fürsten anerkannt zu haben. Er beantwortete die anklagenden Worte Sugrivas mit einem Bekenntnis der Treue, die allerdings den Bretonen nicht überzeugten. Sein Argwohn wurde zusehends stärker, als Sugriva, der vorher heimlich einige Papiere des Brahmanen von Freunden hatte sicherstellen lassen, plötzlich diese Beweise einer Konspiration vorlegte, deren Führer Lakman war und die in aller Stille ausgeheckt worden war. Es handelte sich darum, Corcoran bei den bevorstehenden religiösen Feierlichkeiten für die Göttin Kali zu ermorden.
Der Brahmane war sprachlos. Alle seine Pläne waren entdeckt worden. Wehrlos befand er sich in den Händen seines Feindes, und er erwartete nichts anderes als den Tod; aber er kannte die Großzügigkeit des Bretonen noch nicht.
„Ich könnte dich aufknüpfen lassen“, sagte Corcoran, „aber ich verachte dich und lasse dich am Leben. Wie schuldig du auch sein mögest, du wirst nicht die Zeit und nicht die Macht haben, das Verbrechen auszuführen; das ist Strafe genug für dich. Ich werde dir nichts antun. Ich nehme dir weder deinen Palast noch dein Geld, auch nicht deine Kanonen und Sklaven. Ich werde dich nicht ins Gefängnis werfen; du kannst gehen, wohin es dir beliebt, du kannst konspirieren, schreien, mich verfluchen, schmähen, beschimpfen – das steht dir frei, du sprichst damit nur aus, was du insgeheim über mich denkst, und das weiß ich jetzt. Doch wenn du die Waffen gegen mich erhebst, wenn du versuchst, mich zu ermorden, bist du ein toter Mann. Ich werde dir heute einen Aufpasser zur Seite geben, der dich niemals verlassen und mich über all deine Pläne unterrichten wird. Er ist diskret, er ist stumm. Vor allem ist er unbestechlich, denn er hat nur frugale Bedürfnisse, und ausgenommen Zucker mag er nichts, was andere Menschen verführen könnte. Ihn zu erschrecken ist nutzlos. Sein Mut und seine Ergebenheit sind über jeden Zweifel erhaben… Kurz gesagt: Es ist Louison.“
Bei diesen letzten Worten erbleichte Lakman und zitterte am ganzen Körper.
„Fürst Corcoran“, sagte er, „habt Erbarmen mit mir. Ich…“
„Du hast nichts zu befürchten“, sagte der Bretone. „Wenn du mir ergeben bist, wird Louison deine Freundin sein. Wenn du konspirierst, wird sie, die alles weiß, es bald erfahren und mich informieren, oder noch besser – sie wird mit einem Tatzenschlag jeder Konspiration und jedem Konspirateur ein Ende machen… Louison, meine Schöne, gib Sugriva eine Probe deiner Klugheit. Wer ist die Perle dieser glanzlosen Welt?“
Louison legte sich zu Sitas Füßen nieder und betrachtete sie zärtlich.
„Sehr gut“, fuhr Corcoran fort. „Und jetzt schau dir diesen Brahmanen an. Ist das ein Mann, dem man vertrauen kann, ja oder nein?“
Die Tigerin ging langsam auf den Brahmanen zu, musterte ihn mit einem argwöhnischen Blick und schaute Corcoran aus Augen an, deren Ausdruck keinen Zweifel zuließ.
„Wie du siehst, Sugriva“, sagte Corcoran, „gibt sie mir zu verstehen, daß sie den Geruch eines Schurken gewittert hat, der ihr Abscheu einflößt… Louison, überwache ihn, und wenn er Verrat begehen sollte, dann bring ihn um.“
Mit diesen Worten verabschiedete er den Brahmanen, der kreidebleich den Palast verließ. Hinter ihm marschierte die Tigerin mit bewundernswerter Würde. Man sah sofort, daß sie beauftragt worden war, über das Wohl des Staates zu wachen.
Die Großzügigkeit Corcorans – wenn auch nur aus der Verachtung gegenüber dem Brahmanen geboren – berührte das verhärtete Herz Lakmans nicht. Er setzte seine Konspiration in aller Stille fort, aber er verwarf den Plan wieder, den er vorbereitet hatte und der vorsah, zunächst in den Straßen von Bhagavapur einen bewaffneten Aufruhr herbeizuführen. Louisons Gesellschaft, der zu entgehen ihm nur selten gelang, hinderte ihn, sich beliebig mit den anderen Verschwörern zu treffen. Er war nahe daran, zu glauben, daß die Tigerin durch besonderen Einfluß Brahmas in der Lage war, in seinem Herzen zu lesen und alle Gedanken zu erraten.
Währenddessen hatte er jedoch ganz öffentlich fünf oder sechs Fässer Pulver, von denen er behauptete, es sei Wein, in sein Haus schaffen lassen. Louison, obwohl sehr neugierig, kam nicht hinter dieses Geheimnis, und Sugriva dachte, daß sich der Brahmane damit tröste, einen guten Tropfen im Haus zu haben. Mehrmals spielte er Lakman gegenüber auf die Weinfässer an, worauf ihm dieser für den nächsten Tag eine Kostprobe dieses erlesenen Weines versprach. Es sei, so behauptete er, Chateau Margaux allerbester Qualität.
Und während er nach außen hin immer freundlich tat und sich nur um sein Wohlergehen zu kümmern schien, bereitete er insgeheim einen schrecklichen Anschlag vor. Er hatte einen unterirdischen Raum von hundert Schritt Länge freigelegt, der sein Haus durch einen nur ihm bekannten Geheimgang mit einem Keller unter Holkars Palast verband. In diesen Keller, der unter dem großen Saal lag, in dem die erste Sitzung eines zukünftigen Parlaments der Marathen stattfinden sollte, hatte Lakman durch zwei ihm ergebene Diener die sechs Fässer Pulver bringen lassen. Er selbst hatte Louisons zeitweilige Abwesenheit – die jeden Tag zweimal in den Palast rannte, um Corcoran zu sehen –, genutzt, um die Zündschnur zu legen, die dazu bestimmt war, das Pulver zur Explosion zu bringen und zugleich mit Corcoran und Sita die mächtigsten Radschas des Marathenreiches, die ihm den Thron hätten streitig machen können, in die Luft zu sprengen.
Louison hatte von diesem Treiben nichts gemerkt. Drei Viertel des Tages erledigte sie ihre Pflicht gewissenhaft, folgte dem Brahmanen Schritt auf Schritt und beobachtete ihn voller Mißtrauen. Der hingegen verhielt sich ihr gegenüber immer höflich und schmeichelnd und versuchte ihr Wohlwollen zu erlangen. Zuerst hatte er daran gedacht, sie zu vergiften, doch Louison nahm nichts von ihm an, denn Corcoran hatte ihr untersagt, außerhalb des Palastes zu fressen, was Louison natürlich mißfiel. Ihr einziger Fehler war die Naschsucht. Niemand ist eben vollkommen.
Lakman, der bald einsah, daß ihr so nicht beizukommen war, nahm sie mit außerhalb Bhagavapurs, denn er hoffte, daß der Anblick des Dschungels Louison in Versuchung führen würde und sie auf Nimmerwiedersehen verschwände. Louison folgte ihm auch voller Vergnügen, wenn er in die Berge ritt oder in den Dschungel drang, doch sie kehrte immer wieder zu ihm zurück, wenn er sich auf den Rückweg machte.
Indes, er mußte sie um jeden Preis loswerden. Eines Morgens nahm er sie in die Festung von Ayodhya mit, zehn Meilen von Bhagavapur entfernt, die ihm gehörte und deren Garnison ihm ergeben war. Auf der Spitze des Hauptturmes, der das Tal des Narbada beherrschte und von wo man den größten Teil der blauen Kette des Ghatsgebirges erkennen konnte, befand sich ein Raum, in dem der ganze Boden – außer einem kleinen rechteckigen Stück – eine Falltür war. Von dort ließ der Zemindar seine ungeliebten Freunde sechzig Fuß tief in ein Burgverlies fallen.
Zusammen mit Louison bestieg er den Turm.
Als er oben angekommen war, öffnete er, noch immer gefolgt von seinem Schatten, die Tür. Die Tigerin, neugierig wie alle Frauen und Katzen, darüber hinaus etwas verärgert wegen der Dunkelheit auf der Treppe, die sie soeben heraufgestiegen waren, hatte nichts weiter gesehen als das offene Fenster, hinter dem die herrliche Landschaft lag, die nicht ihresgleichen hatte in der Welt, so daß sie ihre natürliche Vorsicht vergaß und in den Raum sprang. Und darauf hatte der schurkische Lakman nur gewartet.
Die Falltür, deren Mechanismus Lakman betätigt hatte, gab plötzlich unter dem Gewicht unserer armen Freundin nach, und sie fiel, ohne sich irgendwo anklammern zu können, in die Tiefe. Sie hatte nicht einmal Zeit zu brüllen und die göttliche Gerechtigkeit gegen den Brahmanen herbeizuwünschen. Ihr Aufprall verursachte ein dumpfes Geräusch, als wenn man eine Weintraube gegen eine Wand wirft. Lakman beugte sich über die Öffnung, hörte auf Geräusche aus der Tiefe, konnte jedoch nichts wahrnehmen, ließ, da er nun endlich freie Hand hatte, ein höhnisches Gelächter erschallen, daß selbst seinen Vetter, den Teufel in der Hölle, hätte erschauern lassen, und schloß die Falltür wieder. Dann lief er die Treppe hinab, stieg in seine Sänfte, gab vor, nach Bombay zu wollen, damit man glauben sollte, er würde um Asyl bei den Engländern nachsuchen, ließ sich jedoch heimlich nach Bhagavapur in sein Haus bringen. Niemand hatte ihn dabei beobachtet, und niemand wußte, daß er wieder in der Stadt war.
Alles war vorbereitet. Der einzige Zeuge für seine Aktion, dessen Anwesenheit und Krallen er fürchten mußte, war beseitigt, und der Tag des Verbrechens nahte. Corcoran, der mit anderen Sorgen beschäftigt war, zumal er glaubte, Lakman sei nach Bombay gereist, war insgeheim froh, daß der Verräter geflohen war und ihm somit erspart blieb, den Verschwörer zu bestrafen. Aber in diese Genugtuung mengte sich ein bitterer Beigeschmack. Er wunderte sich, daß Louison nicht wieder aufgetaucht war, die ihm doch sonst so pünktlich ihre Aufwartung machte, vor allem zur Essenszeit. Er fürchtete, daß sie den Verlockungen eines Lebens in Freiheit nicht hatte widerstehen können. Er bezichtigte sie der Undankbarkeit. Ach ja, arme Louison! Er hatte keine Ahnung von dem schnöden Verrat, dessen Opfer sie geworden war. Noch viel weniger wußte er, wo sich sein feiger Mörder befand.
Endlich war der Tag angebrochen, an dem die Versammlung der Volksvertreter der Marathen stattfinden sollte. Eine unübersehbare Menschenmenge strömte durch die Straßen und ergoß sich auf die Plätze Bhagavapurs. Sechshunderttausend Hindus, die aus dem Umkreis von dreißig Meilen in die Hauptstadt gekommen waren, priesen den Namen von Corcoran Sahib und der schönen Sita, der letzten der Raghuiden.
Beide waren in Gold und Silber gekleidet, mit Diamanten und Steinen von unschätzbarem Wert geschmückt. Majestätisch bewegten sie sich auf ihrem Elefanten Scindiah durch die Menge, die die unvergleichliche Schönheit Sitas bewunderte. Als sie, von allen Volksvertretern gefolgt, in der großen Pagode von Bhagavapur dem leuchtenden Indra, dem höchsten Wesen alles Seins, Vater der Götter und Menschen, ihre Reverenz erwiesen hatten, kehrten sie in den Palast zurück. Dort ließ sich Corcoran auf seinem Thron nieder, neben sich Holkars Tochter, vor sich die Abgeordneten des Volkes.
Lakman, der sich hinter den Jalousien seines Hauses versteckt hielt, sah das Gefolge vorbeiziehen und kochte vor Zorn. Die Zündschnur, durch die die Pulverfässer hochgehen und den König und das ganze Parlament in die Luft jagen würden, lag bereit. Er mußte sie nur noch anzünden; sie brauchte zehn Minuten, bis sie abgebrannt war, denn Lakman wollte nicht durch seine eigene Schuld umkommen. Neben ihm stand sein Komplize, ein unglücklicher Sklave, der es nicht gewagt hatte, seine Teilnahme an dem Verbrechen zu verweigern, aus Angst, von Lakman umgebracht zu werden.
Der Brahmane wartete noch eine Viertelstunde, damit die ganze Versammlung Zeit fände, in dem Palast Platz zu nehmen. Dann zündete er genüßlich die Zündschnur an.
Während der Mörder letzte Hand an seine Vorbereitungen legte, erhob sich Corcoran von seinem Thron und begann mit fester Stimme seine Ansprache:
„Vertreter der glorreichen Nation der Marathen!
Wenn ich euch heute entgegen den Gepflogenheiten meiner königlichen Vorgänger hier habe zusammenrufen lassen, so deshalb, um die Macht, die mir der sterbende Holkar in meine Hände legte, da er mich als Sohn annahm, an euch zu übergeben.
Ich habe diesen Thron nicht gewünscht. Ich will mich nur mit eurem Einverständnis auf ihm niederlassen. Ich will nicht kraft meines Amtes, sondern nur durch eure freie, unabhängige Wahl regieren.“
(Bei diesen Worten schrien alle Vertreter: „Hoch Corcoran! Corcoran Sahib lebe ewig! Möge er über uns, unsere Kinder und Kindeskinder herrschen!“)
„Alle Menschen werden gleich und frei geboren; aber da ihre Kräfte nicht gleich sind, muß man ihnen manchmal beistehen; an den Königen ist es, den Schwachen zu helfen und die Starken zu lehren, daß sie die Gesetze achten. Das ist die Aufgabe, die ich zu erfüllen trachte. Ihr habt die Aufgabe, gerechte Gesetze zu machen und die Freiheit jedes einzelnen zu achten.
Meine Vorgänger haben mit Gewalt zweihunderttausend Soldaten ausgehoben. Ich will es ihnen nicht nachmachen. Ich will unter meinen Fahnen nur zehntausend Männer haben, alles freiwillige Soldaten. Das genügt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber ich will die ganze Nation bewaffnen, damit sie ihre Freiheit gegen die Engländer verteidigen kann, doch auch gegen mich selbst, wenn ich meine Autorität mißbrauche.
Die Steuern beliefen sich bisher auf hundert Millionen Rupien im Jahr. Ihr werdet nächstes Jahr selbst sehen, auf welche Summe man sie herabsetzen kann. Ich werde aus Holkars Schatzkammern in diesem Jahr alle öffentlichen Ausgaben bezahlen. Das soll mein Geschenk an das Volk der Marathen anläßlich meines Regierungsantritts sein. Ich habe alles berechnet. Dreißig Millionen Rupien werden für die Bedürfnisse des Staates genügen.“
(Bei diesen Worten brach jedermann in Begeisterung aus. Die Deputierten weinten vor Ergriffenheit. Zu keiner Zeit und bei keiner Nation hatte man je erlebt, daß der König so viel für das Volk ausgab.)
Als sich der Beifallssturm etwas gelegt hatte, wollte Corcoran seine Rede fortsetzen. Da jedoch machte sich an der großen Eingangspforte zum Saal ein Tumult laut. Einige Volksvertreter waren verschreckt aufgesprungen und gestikulierten erregt.
Schon hatte sich Sugriva aufgemacht, um die Ursache des Durcheinanders zu erkunden, als in dem freien Raum, der sich gebildet hatte, die blutverschmierte Louison sichtbar wurde, die den leblosen Körper Lakmans im Maul schleppte und durch den Saal hinter sich herzog.
Bei ihrem Anblick schrien die Menschen auf, und selbst Corcoran war verblüfft. Louison legte den Brahmanen, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab, auf den Stufen des Thrones nieder und gab ihrem Herrn zu verstehen, daß er ihr folgen solle. Dann ging sie den Weg, den sie gekommen war, wieder zurück. Schon wurde in der Menge Gemurmel laut, daß man sie erschießen sollte, um den Tod des Zemindars zu rächen. Aber in Corcorans Gegenwart wagte niemand, laut etwas gegen die furchtbare Tigerin vorzubringen.
Louison führte Corcoran direkt zu dem Haus Lakmans, stieg ins Souterrain hinab, kroch durch den unterirdischen Gang zu dem Keller unter dem Palast, in dem die gewaltigen Pulverfässer lagerten. Im Keller entdeckte der Kapitän eine verschmorte Zündschnur und einen Mann, der durch einen Prankenhieb der Tigerin schwer verletzt worden war. Das war der Komplize des Brahmanen, und er erzählte Corcoran stockend, was sich in den letzten Minuten im Keller unter dem Palast zugetragen hatte.
Louison war nicht tot gewesen, als sie in das Verlies von Ayodhya gestürzt war. Sie war gefallen, wie Katzen im allgemeinen fallen, auf ihre Pfoten, und sie war durch die Höhe, aus der sie gefallen war, und den Aufprall auf dem Grund dieses schrecklichen Gefängnisses, das mit menschlichen Knochen übersäht war, einige Zeit benommen liegengeblieben. Als Lakman die Luke geschlossen hatte, versuchte sie sich nach ihrem Geruchssinn zu orientieren. Leider gab es in dem Turmverlies weder Tür noch Fenster, außer dem in sechzig Fuß Höhe. Und das war durch die Falltür, die ihr Unglück verursacht hatte, versperrt.
Doch Louison gehörte nicht zu denen, die bei jeder Gelegenheit in Verzweiflung geraten und ihre Rettung nur durch den Himmel oder einen glücklichen Zufall erhoffen. Während dreier Tage und Nächte höhlte sie ununterbrochen die Erde unter dem Verlies mit ihren Krallen und Tatzen aus. Als Nahrung fing sie ein halbes Dutzend Ratten, was ihr zwar übel schmeckte, aber was sollte sie machen? Dabei liebte sie doch Blumen, frische Luft, Tiere und Wälder, kurz, die Freiheit. Sie blieb am Leben, das war wesentlich, nichts weiter, und sie konnte an ihrem Loch graben. Nach drei Tagen harter Arbeit war der Gang fertig, und sie sah endlich das Sonnenlicht wieder, das allen Lebewesen so teuer ist. Sie befand sich zwanzig Schritt von dem Eingang des Turmes entfernt.
Man wird sicher ermessen können, von welchem Rachedurst sie beseelt war. Sie lief sofort nach Bhagavapur, und ohne sich um die Einzelheiten des Festes zu kümmern, stürzte sie zu Lakmans Haus. Dort suchte sie den Brahmanen überall und entdeckte ihn schließlich im Keller, gerade in dem Moment, da er die Zündschnur angezündet hatte und sich aus dem Staub machen wollte.
Ihn sehen, anspringen, ihm mit den Zähnen das Genick brechen, seinen Komplizen mit einem Tatzenhieb außer Gefecht setzen, das alles war das Werk von Sekunden gewesen. Ein besonderer Glücksumstand war es gewesen, daß bei dem Kampf die Zündschnur verlosch und somit die Gefahr gebannt wurde. Soll man die Geschichte weitererzählen? Das Volksfest beschreiben, die Krönung Corcorans und Sitas und alle die Festlichkeiten, die der Krönungszeremonie folgten? Es genügt wohl, zu vermerken, daß Louison bei allen Dankbekundungen, die das Volk Brahma und Wischnu entgegenbrachte, nicht vergessen wurde; und die Marathen vermuteten einmal mehr, daß die Göttin Kali die Form einer Tigerin angenommen habe, um sich den Menschen zu zeigen.