Sechs Monate nach den Kämpfen, die im ersten Teil dieser wahrheitsgetreuen Geschichte beschrieben wurden, genoß Kapitän Corcoran, inzwischen Maharadscha des Marathenreiches, die wohlverdienten Früchte seiner Weisheit und seiner Siege. Nichts mag sein Glück trefflicher wiedergeben als jener Brief, den er damals an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Lyon schrieb und in dem er jenem schilderte, wie er im Ghatsgebirge sowie in den Tälern des Narbada und Godavari nach dem sagenumwobenen Gurukaramta gesucht hatte.
Maharadscha Corcoran I.
An den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Lyon
„Bhagavapur, den 11. Oktober 1858
Das Jahr zwei unserer Regierung und der vierhundertdreiunddreißigtausendsiebenhundertundneunzehnte Tag seit der achten Inkarnation Wischnus
Monsieur,
ich bitte Ihre erlesene Akademie vielmals die Verspätung zu entschuldigen, mit der ich sie über das Resultat der Nachforschungen, die mir aufzutragen sie die Ehre hatte, informieren will. Das Gurukaramta wurde endlich wiedergefunden, und ich habe das Vergnügen, Ihnen heute eine Kopie dieses Schriftstückes zu schicken, dessen Ursprung nach Meinung der gelehrtesten Brahmanen aus dem Jahr zweitausendfünfhundert vor Christo datiert. Ich nehme meinerseits an – ohne der Öffentlichkeit meine Meinung aufdrängen zu wollen –, daß es achthundert Jahre vor der Sintflut entstanden sein muß und von Noah in Verwahrung genommen wurde, als er sich in aller Eile mit seiner Frau, seinen Kindern und einem Paar aller damals auf der Erde lebenden Tiere auf seine Arche begab.
Verschiedene Umstände haben die Entdeckung und Übersendung des Gurukaramta um einige Monate verzögert. Einer der wesentlichsten Gründe hierfür, der auch für Sie nicht ohne Interesse sein dürfte, denn er wird mir trotz aller Verpflichtungen sicher erlauben, der Wissenschaft auch weiterhin meine Aufmerksamkeit zu widmen, ist folgender: Es hat dem Allmächtigen gefallen, aus mir den Hirten eines Volkes zu machen. Um das klarzustellen: Nichts lag mir ferner als der Gedanke, was immer es sei, regieren zu müssen, ausgenommen meine Mannschaft und meine Brigg; aber Gott ließ mir nur die Wahl zwischen zwei Extremen: entweder über die Marathen zu herrschen oder mich von den Engländern erschießen zu lassen. Die Akademie wird sicher Verständnis dafür haben, daß ich nicht zögern konnte, mich für ersteres zu entscheiden, und ich bin gewiß, daß sie meinen Schritt billigen wird.
Ich wage zu hoffen, daß die Akademie ebenfalls erfreut sein wird zu erfahren, daß sich meine Gefährtin Louison, deren Intelligenz, deren Mut, deren Krallen und Zähne mich mehr als einmal aus mißlichen Situationen befreit haben, bester Gesundheit erfreut und fröhlich in meinem Palast lebt. Sie werden im Bhagavapurer Anzeiger (von denen die letzten Nummern seit meinem Regierungsantritt beizulegen ich die Ehre habe) die Geschichte ihrer Heldentaten und unvergleichlichen Kühnheiten lesen, die sie am Tag ihres bisher letzen Kampfes gezeigt hat. Horatius konnte es nicht besser machen, als er die Etrusker daran hinderte, die Tiberbrücke zu stürmen.
Ich wäre glücklich, Herr Präsident, wenn Sie die Insignien des Tigerordens annehmen würden, den ich gestiftet habe, um Louison zu ehren. Diese Insignien bestehen aus einem diamantenbesetzten Kreuz an einem blauen Band, die ich Ihnen mit gleicher Post zusende. Die Diamanten haben keinen großen Wert – höchstens siebenhunderttausend Franc –, aber ich weiß, daß Ihnen die Wertschätzung meiner lieben Louison über den Preis der Steine gehen wird. Ein Philosoph wie Sie darf nicht wie ein Bankier behandelt werden.
Der Erste Offizier meiner Brigg Sturmsohn, den ich zum Admiral der Marathenflotte gemacht habe, ist ermächtigt, Ihnen all unsere Abenteuer zu berichten. Er ist kein Gelehrter, und ich glaube nicht, daß er außer lesen und schreiben, und der Handhabung von Sextanten und Kompaß noch etwas kennt, doch beim Manövrieren in schwerer See hat er nicht seinesgleichen, und wenn ein Mitglied der Akademie mir die Ehre geben will, meinen Staat zu besuchen, so hat Kai Kermadeuc Order, ihn an Bord zu nehmen und wie einen Fürsten zu behandeln. Wollen Sie, verehrter Herr Präsident, stellvertretend für alle ehrenwerten Mitglieder der Akademie, den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung entgegennehmen.
Corcoran I.
Herrscher der Marathenkonföderation“
Dieser Brief wurde dem Akademiepräsidenten während einer Sitzung überbracht, und er beeilte sich, die Anwesenden davon in Kenntnis zu setzen und Kai Kermadeuc, den Kommandanten der Sturmsohn, rufen zu lassen.
Der Admiral der Marathenflotte näherte sich schwankend wie ein Zweig im Wind. Er war ein alter Seebär, wettergebräunt und mit lederner Haut, der dreimal Kap Horn und neunmal das Kap der Guten Hoffnung umsegelt hatte und der einen Abscheu vor dem Land hatte wie Katzen vor dem kalten Wasser.
Als er seine Mütze verlegen mit den Fäusten walkte und ein Gesicht machte wie ein Schüler, der seine Lektion schlecht gelernt hat, glaubte der Präsident der Akademie ihm zu Hilfe kommen zu müssen.
„Beruhigen Sie sich, guter Mann“, sagte er freundlich, „und erklären Sie uns bitte den Auftrag, den Ihnen Seine Majestät der Maharadscha der Marathen, für die Akademie mitgegeben hat.“
„Na ja“, sagte Kermadeuc mit donnernder Stimme, die die Fensterscheiben erzittern ließ, „also, da wollen wir mal. Mein Käptn ist genau der Mann, von dem Sie reden, und er hat sich also, na ja, mit seiner Brigg Sturmsohn, ein herrliches Schiff übrigens, das bei ruhiger See gut und gerne seine achtzehn Knoten macht, bei stürmischer See…, aber na ja, also, er kam nach drei Wochen – gute Zeit übrigens bei der Flaute zwischen Madagaskar und Goa, na ja, also er kam in dieses Land von Fürst Holkar, ziemlich alt, der Mann, aber reich, steinreich, edelsteinreich, na ja, und der hatte Ärger mit den Engländern, weil er ihnen keine Rupien mehr und auch nicht seine Tochter geben wollte. Na ja, unser Käptn guckt sich das Mädchen an – ein Mädchen, sag ich Ihnen, schön wie die heilige Jungfrau, also, er guckt sich das Mädchen an und sagt: ‘Ich bin Franzose.’ Na ja, ab da lief die Sache. Er holte seine Reitpeitsche raus und drischt auf die Engländer ein, mein Gott, drischt der auf die Engländer ein – tüchtige Seeleute übrigens, aber zu Land…, na ja; und Louison, was seine Tigerin ist, die beißt denen reihenweise die Hälse ab wie Wildgänsen. Als das der Alte sieht, stirbt er, seine Tochter, seine Rupien, sein Königreich, na ja, und die ganzen kaffeebraunen Leute da, also das hinterläßt er alles unserm Käptn, na ja, und nun ist er auf einmal von heute auf morgen Kaiser, ja, genauso einer wie unser Zwirbelbart…, na ja, was kann einem schon Besseres passieren?“
Alle Anwesenden waren sich darin einig, daß Corcoran in der Tat es nicht hätte besser treffen können; und der ständige Sekretär, neugierig wie eh und je, fragte den Seemann, auf welche Weise denn nun Kapitän Corcoran zu dem sagenumwobenen Gurukaramta gekommen sei.
„Na ja“, ergriff Kermadeuc wieder das Wort, „das war eigentlich ganz einfach. Als der Käptn Kaiser geworden war und reich und ganz nett verheiratet, na ja, da begann er sich zu langweilen. Ich sag zu ihm: ‘Käptn, Sie sind nicht glücklich. Liegt das an Madame Sita?’
Sie müssen wissen, meine Herren, die Hochzeit bekommt nicht jedem, na ja, was soll ich Ihnen sagen, also, wenn Madame Kermadeuc mit sich und der Welt uneins ist, soll es ja geben, also da reiß ich die Tür auf und mach mich davon, aber wie ich mich davonmache! Ohne meinen Hut mitzunehmen!
Doch ich muß mich geirrt haben, denn er antwortet mir: ‘Kermadeuc, alter Seebär, Sita ist eine Frau, die nicht ihresgleichen hat in der Welt’, und das stimmt, auch bei den Türken nicht und bei den Moskowitern erst recht nicht…
Also sage ich: ‘Käptn’, sage ich, ‘das ist egal. Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie Gegenwind, und ich will kein verstockter Kelte sein, wenn das normal ist.’
Er dreht mir den Rücken zu, sagt nichts, also hab ich ins Schwarze getroffen. Aber zehn Tage drauf ist er ganz verändert. Er läßt mich eines Morgens kommen.
‘Man hat mir mitgeteilt, daß das Gurukaramta in einem Tempel in Pandara versteckt ist’, sagt er. ‘Willst du mit mir den Fluß hinauffahren?’
‘Wie Sie wollen, Käptn.’
Als Passagiere nur ich, der Käptn und Louison. Wir fahren noch am selben Abend los, Flußschiffahrt, sag ich Ihnen, wenn ich das schon hör, aber na ja, wir fahren am Vindhyagebirge vorbei. Rechts und links vom Fluß sieht man nur schwarzen Wald. Hin und wieder Tigergebrüll, Elefantengetrappel oder dieses tückische Pfeifen von Kobras. Also, Sommerfrische ist das gerade nicht, tagsüber röstet einen die Sonne, und nachts fressen einen die Moskitos auf. Morgens hatte ich Lippen wie eine Blutwurst, und meine Nase sah aus wie eine Kartoffel. Schließlich sind wir in ein Dorf mit lauter Fakiren gekommen. Wissen Sie, was ein Fakir ist, meine Herren, also, das ist so ein ganz besonders schmutziger Brauner, der ein Gelübde getan hat, sich niemals zu waschen.
Na ja, also, all diese Fakire sitzen um ihren Tempel rum, als wir ankommen. Nicht einer hebt den Kopf, und keiner sagt was Nettes. Der Käptn sieht das und pfeift Louison, die nur mal kurz faucht. Da wachen die ganzen Schlafmützen auf und rennen mit einemmal alle in den Tempel – ich dachte erst, die wären gelähmt, so elend sahen die aus, aber na ja, nichts war. Sie rennen also alle in den Tempel und schreien: ‘Da kommt Baber Sahib!’ (das heißt Tiger, wie mir der Käptn später erklärt hat) und weinen zu ihrem Schiwa.
Louison will ihnen folgen, aber der Käptn hält sie zurück, um die Leute nicht noch mehr zu erschrecken. Dann geht er direkt auf den Anführer der Fakire zu, das heißt auf den dreckigsten und zerlumptesten. Das war so ein Alter mit weißem Bart, der von den anderen sehr respektiert wurde. Na ja, der Käptn redet also mit ihm in seiner Kartoffelsprache, die wirklich nur was für Gelehrte ist, nicht für so einfache Leute wie mich. Was sie geredet haben, habe ich nicht verstanden, aber ich habe ihre Bewegungen gesehen, und der Käptn hat mir ja auch später alles erzählt. Der Käptn wollte immer das Gurukaramta haben, und der andere hatte es wohl, wollte es aber nicht hergeben. Also, sie reden und gestikulieren, und gestikulieren und reden den halben Tag. Na ja, und da kommt plötzlich Louison anspaziert, die langsam ungeduldig wird, erhebt sich auf ihre Hinterpfoten und legt ihre Vorderpfoten auf Corcorans Schultern; die Schmeichlerin will sich streicheln lassen. Als das der Fakir sieht, fällt er auf die Knie, schreit irgendwas, daß sich Brahmas Wille nun erfülle oder so und der Käptn die was weiß ich wievielte Inkarnation Wischnus ist, weil in den Büchern geschrieben steht, daß Wischnu mit einem gezähmten Tiger erscheinen wird. Dann holt er einen Haufen zerflederter Blätter und drückt sie dem Käptn in die Hand, na ja, und der guckt es sich an und tut überhaupt nicht überrascht, als ob er sein ganzes Leben schon immer Wischnu gespielt hätte.“
Dieser naiv vorgetragene Bericht hatte den größten Erfolg; der Präsident beglückwünschte Kermadeuc, daß er an dieser ruhmreichen Expedition zur Ehre Frankreichs hatte teilnehmen können, und drei Tage später las man in allen großen Pariser Zeitungen den Sitzungsbericht über diesen denkwürdigen Tag.
Demgegenüber erklärten die britischen Zeitungen einmütig, daß besagter Corcoran ein mieser Abenteurer sei, von Beruf Bandit, der das wertvolle Schriftstück des Gurukaramta einem englischen Reisenden gestohlen habe und sich darüber hinaus mit dem Halsabschneider Nana Sahib verbündet habe, um alle Engländer in Indien zu ermorden.
Die deutschen Zeitungen teilten sich in zwei Lager. Die einen versicherten, daß die Entdeckung des Gurukaramta alles andere als eine Neuigkeit sei; ihres Wissens sei das Buch schon seit langem veröffentlicht worden, und Doktor Cornelius Gunkel aus Berlin besitze ein Exemplar im Original, Doktor Hauffert aus Göttingen bereite seit langem eine Übersetzung vor, und Doktor Spellart aus Jena sei gerade dabei, einen Kommentar über den tatsächlichen Ursprung, seine Wirkung auf die immerwährende Idee, das Prinzip und die Struktur des Hinduismus sowie die nicht absehbaren Folgen für das Abendland zu verfassen.
Das andere Lager erklärte freiweg, daß das Schriftstück eine Fälschung sei; daß besagter Corcoran besagtes Gurukaramta niemals zu Gesicht bekommen hätte, geschweige denn Indien; daß die französischen Philologen den deutschen eh nicht das Wasser reichen könnten; daß – wie man ja hierzulande bestens wisse – diese eitle Nation zwischen Rhein, Alpen, Mittelmeer, Pyrenäen und Atlantik sowieso unfähig wäre, etwas Nützliches und Gutes vorzulegen; daß es eigentlich nur in der Lage sei, zu tanzen und Feuerwerke zu veranstalten; und wenn es tatsächlich einmal einige wenige gäbe, die etwas mehr Sinn und Verstand als die anderen hätten, so verdankten sie das ihrer deutschen Abstammung, weil sie wohl oder übel in Elsaß-Lothringen geboren seien, was wieder einmal konsequenterweise vor Augen führe, daß das Deutsche Reich diese beiden deutschen Provinzen wiederhaben müsse, die man heimtückisch vom großen Vaterland Hermann des Cheruskers abgetrennt habe; und daß schließlich deutsche Säbel, deutsches Denken, deutsche Gelehrsamkeit, deutsche Weisheit und deutsches Sauerkraut (mit Bratwurst!) über alles in der Welt gingen.
Worauf eine französische, sehr bekannte Zeitung erwiderte, wobei sie die unsterblichen Prinzipien von 1789 ins Feld führte, daß es jetzt endlich an der Zeit sei, die Freiheit der Meere und die Neutralisation der Meerengen zu regeln, was nun allerdings mit dem Problem des Gurukaramta eigentlich nicht das geringste zu tun hatte.
Ungeachtet dieses Gezeters in den europäischen Zeitungen lebte Corcoran glücklich und zufrieden in Bhagavapur und regierte nachsichtig sein Volk. Doch ein unvorhergesehenes Ereignis trübte die Freuden seines Lebens und, wie man im nächsten Kapitel sehen wird, auch die Freundschaft, die ihn mit Louison verband.
Eines Tages saß Corcoran in seinem Park unter dem Schatten üppiger Palmen. Dort hielt er seine Beratungen ab und übte Gerechtigkeit gegenüber den Marathen, wie es der heilige Ludwig weiland in Vincennes zu tun pflegte. Neben ihm las die schöne Sita im Gurukaramta und kommentierte die göttlichen Ratschläge.
Da erschien Sugriva. Der Leser wird sicher nicht vergessen haben, daß Sugriva der furchtlose Brahmane war, der Corcoran so tatkräftig geholfen hatte, die Engländer zu besiegen. In Würdigung seiner Verdienste hatte ihn Corcoran zum Ersten Minister ernannt.
Sugriva stellte sich vor Sita und Corcoran, hob die Hände dachförmig vor die Brust, streckte sie dann zum Himmel; danach setzte er sich auf einen der Perserteppiche und wartete darauf, daß der Maharadscha zuerst das Wort an ihn richtete.
„Was gibt es für Neuigkeiten?“ fragte Corcoran.
„Maharadscha“, erwiderte Sugriva, „im Reich ist es ruhig. Hier sind die englischen Zeitungen aus Bombay, sie schreiben nur das Allerschlechteste über Sie.“
„Arme Engländer, sie wollen mir eine Reputation verschaffen. Zuerst die Bombay Times.“
Er faltete die Zeitung auseinander und las laut vor:
„Jetzt, da der Sepoyaufstand niedergeschlagen wurde, scheint es an der Zeit, auch im Land der Marathen wieder für Ordnung zu sorgen und diesem französischen Abenteurer die Strafe zukommen zu lassen, die er verdient.
Wie wir erfahren haben, beginnt sich dieser Piratenkapitän, der von einer Bande internationaler Mörder unterstützt wird, dem Abschaum der zivilisierten Welt, in Bhagavapur und in seiner Umgebung häuslich einzurichten. Nicht zufrieden damit, daß er dem alten Fürsten Holkar Leben und Reich genommen hat, schreckt er auch nicht davor zurück, wie man hört, dessen Tochter Sita, den letzten Abkömmling der ältesten Herrscherdynastie Indiens, zu seiner Frau zu machen. Was muß es Schrecklicheres für diese Frau geben, die immer in der Angst lebt, eines Tages das gleiche Schicksal wie ihr Vater zu erleiden, als neben Holkars Mörder auf dem Thron sitzen zu müssen.“
„Bravo! Sehr gut!“ rief Corcoran aus. „Dieser Engländer beginnt bewundernswert. Es scheint, daß sie sich für stark halten, weil sie beginnen, mich zu verleumden. Schauen wir, wie es weitergeht.“
„Das ist noch nicht alles. Dieser Schurke, der, so sagt man, aus der Strafanstalt von Cayenne ausgebrochen ist, wo er mit Tausenden ähnlicher Galgenvögel eingekerkert war, hat das ganze Reich der Marathen in einem regelrechten Handstreich an sich gerissen. Mit einer zahlreichen Armee durchstreift er plündernd und brandschatzend das Land, unterwirft sich eine Provinz nach der anderen und überzieht alles, was sich ihm widersetzt, mit Feuer und Schwert…“ Corcoran warf die Zeitung zu Boden.
„So also wird Geschichte geschrieben“, sagte er. „Glaubt sich Lord Braddock mit diesen Lügen auf einen Kampf gegen mich vorbereiten zu müssen?“
„Herr“, sagte Sugriva. „Was wollen Sie unternehmen?“
„Ich? Nichts. Wenn Lord Braddock ein Mann wäre, der sich mit mir auf freiem Feld mit dem Degen in der Hand messen würde, dann würde ich ihm die Brust durchbohren, wie er es verdient hätte. Aber dieser große Mylord wird doch seine kostbare Herrenhaut niemals riskieren… Wir werden ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Ich werde den Bhagavapurer Anzeiger beauftragen, eine Gegendarstellung zu drucken.“
„Lieber“, unterbrach ihn Sita, „willst du dich erniedrigen, indem du dich rechtfertigst?“
„Da sei Wischnu vor! Rechtfertigt man sich etwa, wenn man angeklagt ist, Vater und Mutter getötet zu haben? Mein Anzeiger wird schreiben, daß Barclay ein Esel sei, den ich arg verprügelt habe, daß der Gouverneur von Bombay ein Hanswurst und Habenichts und Lord Braddock ein Dieb wären, die man pfählen sollte, und daß alle drei vor mir zitterten wie das Kaninchen vor der Schlange. Und diese Dinge soll der Redakteur mit seinem schönsten indischen Stil ausschmücken und hinzufügen, was ihm sein Einfallsreichtum noch beschert. Da es ja in meinem Lande Pressefreiheit gibt, habe wohl auch ich das Recht, alles zu drucken, was gegen meine Feinde nützlich sein kann.“
„Was übrigens die Pressefreiheit betrifft, Herr“, sagte Sugriva, „die Zeitungen von Bhagavapur nutzen diese Freiheit weidlich aus und schreiben den ganzen Tag gegen Sie.“
„Aha. Oho. Und was schreiben Sie?“
„Daß Sie ein Abenteurer sind, der zu den schlimmsten Verbrechen fähig sei, daß Sie das Volk der Marathen unterdrücken und daß man Sie so bald wie möglich von der Erde vertilgen sollte.“
„Laß sie schreiben. Da ich ihr Herr bin, ist es nur natürlich, daß sie mir Übles nachsagen.“
„Aber Herr, wenn man gegen Sie revoltiert?“
„Weshalb sollten sie revoltieren? Wo finden sie denn einen besseren Fürsten?“
„Und wenn sie nun zu den Waffen greifen?“
„Wenn sie zu den Waffen greifen, verletzen sie das Gesetz. Wenn sie das Gesetz verletzen, werde ich sie erschießen lassen müssen.“
„Was? Du würdest keine Gnade vor Recht ergehen lassen?“ fragte Sita.
„Für ihre Anführer nicht. Wenn ein freier Mann das Gesetz verletzt, das ihm seine Freiheit und die der anderen garantiert, gibt es keine Entschuldigung dafür, und er verdient, daß man ihn deshalb aufknüpft, erschießt oder ins Exil schickt.“
Plötzlich unterbrach Corcoran das Gespräch und wandte sich an Louison, die neben Sita auf dem Teppich lag.
„Was meinst du?“
Louison antwortete nicht. Sie schien sogar die Frage nicht gehört zu haben. Ihr sonst so klarer, intelligenter und fröhlicher Blick irrte in die Ferne und schien am Horizont irgend etwas zu suchen.
„Louison ist krank“, sagte Sita.
Corcoran schlug auf den Gong. Sofort erschien Ali. Ihm hatte man das Wohlergehen Louisons anvertraut.
„Ali, hat Louison den Appetit verloren?“ fragte Corcoran.
„Nein, Herr.“
„Hat sie jemand geschlagen?“
„Herr, das würde niemand wagen.“
„Woher kommt denn ihre Zerstreutheit?“
„Herr, seit drei Tagen verläßt sie regelmäßig bei Sonnenuntergang den Palast und spaziert ganz allein im Mondlicht durch den Park.“
„Und wann kommt sie zurück?“
„Bei Sonnenaufgang. Am ersten Abend wollte ich die Pforte schließen, aber sie hat so böse geknurrt, daß ich Angst um mein Leben hatte, und bei Schiwa, ich möchte noch nicht die Erde verlassen.“
„Im Mondschein“, murmelte Corcoran nachdenklich.
„Herr“, sagte Ali, „sie ist nicht allein gewesen.“
„Aha. Hast du ihr Gesellschaft geleistet?“
„Ich! Herr, ich werde mich hüten, ihr Gesellschaft zu leisten. Ich wollte ihr zwar gestern abend folgen, doch sie mag es nicht, daß man sie überwacht. Sie hat mich angefaucht, so daß ich schnurstracks in den Palast zurückgelaufen bin.“
„Woher willst du dann wissen, daß sie nicht allein gewesen ist?“
„Als ich in den Palast zurückgekehrt war, stieg ich auf das Dach der Terrasse, und da sah ich die Tigerin im Mondschein. Sie hatte sich auf der Mauer ausgestreckt, die den Park umzieht, und schien auf irgendein Geräusch zu lauschen. Plötzlich sprang etwas zu ihr auf die Mauer. Ich sah einen Kopf und Krallen, denn es war ein schöner und starker Tiger; aber Louison war wohl unzufrieden, denn mit einem Tatzenschlag stieß sie ihn zurück, so daß er wieder in den Graben sprang. Er hielt sich wohl noch nicht für besiegt und fing wieder an zu schnurren; allerdings wagte er nicht, noch einmal auf die Mauer zu springen, denn die Mauer ist mehr als dreißig Fuß hoch, und er hätte sich eine Pfote verletzen können. Schließlich zog er sich knurrend und fauchend zurück.“
„Du lieber Himmel“, erwiderte Corcoran, „das muß ich mir unbedingt ansehen.“
Seit sechs Uhr abends lauerte Corcoran im Park. Vorsichtshalber hatte er einen Revolver mitgenommen, falls er gegen Louisons Kavalier kämpfen mußte.
Was er tat, war nicht recht. Man soll sich nicht in die Angelegenheiten seiner Nächsten mischen, selbst seiner intimsten Freunde nicht; Corcoran wurde für seine Neugier bestraft, wie man gleich sehen wird.
Gegen Viertel nach sechs – er saß einige Schritte von der Stelle der Mauer entfernt, die ihm Ali beschrieben hatte – hörte er das Geräusch raschelnder Blätter. Das mußte der Fremde sein, der sich auf seinen Posten im Graben am Fuße der Mauer begab und der seine Anwesenheit dadurch kundtat, daß er unterdrückt fauchte, als wollte er (und das wollte er in der Tat) nur von Louison gehört werden. Diese ließ nicht lange auf sich warten. Sie sprang mit einem Satz auf die Mauer, warf einen Blick in den Graben – ohne sich um Corcorans Anwesenheit zu kümmern, den sie sehr wohl sah – und hörte, was ihr der Tiger zu erzählen hatte.
Es war ja lange Zeit Mode, daß man annahm, Tiere hätten nur einen Instinkt. Man glaubte, sie hätten keinen Verstand und würden nichts fühlen. Das hat sogar Descartes behauptet; Malebranche hat ihn bestätigt, und beide haben sich auf das Zeugnis mehrerer berühmter Philosophen berufen. Was nur beweist, daß klugen Leuten nichts durch den gesunden Menschenverstand beizubringen ist.
Ob mir Malebranche erklären kann, weshalb der Tiger regelmäßig jeden Abend zu der Mauer tigerte, um seine Louison sehen zu können, und weshalb diese wohl Skrupel empfand, ihm sofort in den Urwald zu folgen und ihr freies Leben wiederaufzunehmen? War es nicht die Freundschaft zu Corcoran (ein Tor, wer daran zweifeln kann), die sie hinderte, Bhagavapur zu verlassen? Sie kannten sich so lange und waren so miteinander vertraut, daß anscheinend nichts sie hätte trennen können.
Sie trennten sich trotzdem.
Die Unterhaltung des großen Tigers mit Louison mußte interessant sein, denn Louison schien sehr erregt. Corcoran, der die Sprache der Tiger übrigens genausogut verstand wie Japanisch oder Altphilippinisch, spitzte seine Ohren. Folgendes bekam er zu hören:
„Oh, liebe Schwester mit den bernsteingelben Augen, die in der dunklen Nacht funkeln wie die Sterne am Himmel, komm mit mir und verlaß diesen staubigen Ort. Verlaß die vergoldeten Zimmer und den prächtigen Palast. Erinnere dich an Jawa, dieses schöne und weite Land, wo wir zusammen unsere Kindheit verlebt haben. Von dort bin ich gekommen, bin von Insel zu Insel geschwommen, bis ich nach Singapur kam, wo ich alle Tiger Asiens nach meiner Geliebten fragte. Drei Jahre lang habe ich Jawa, Sumatra und Borneo durchstreift. Ich habe die ganzen Molukken abgesucht, alle Brüder und Schwestern im Königreich Siam befragt, deren Fell so seidig glänzt, auch jene von Ava und Rangun, deren Stimme wie ein Donnerschlag grollt, und auch die Tiger vom Gangestal, die im schönsten Land der Welt leben. Endlich habe ich dich wiedergefunden. Komm mit mir an das Flußufer inmitten grüner Wälder. Mein Palast ist das weite Tal, sind die Berge, die sich in den Wolken verlieren, ist der Gaurisankar, dessen ewigen Schnee noch nie der Fuß eines Menschen betreten hat. Die ganze Welt gehört uns, wie sie allen Geschöpfen gehört, die frei unter Gottes Blick leben wollen. Wir werden gemeinsam Hirsch und Gazelle jagen. Unser Lager wird das frische Gras des duftenden Tals sein, unser Dach die Baumwipfel. Komm mit mir.“
Louison ließ sich nicht erweichen. Mit einem beredten Augenaufschlag wies sie auf Corcoran hin, was in der Sprache der Tiger nur heißen konnte: Mein lieber Gefährte mit dem gestreiften Fell, ich höre deine Worte wohl, aber wir sind nicht allein, es gibt Zeugen.
Der Tiger drehte seinen Kopf zu dem Bretonen. Er funkelte ihn böse an, was nur bedeuten konnte: Dieser Wicht läßt dich nicht gehen? Sei ruhig, ich werde ihn auf der Stelle aus dem Weg räumen.
Schon sammelte er sich zum Sprung auf die Mauer. Corcoran zog den Revolver, um ihn gebührend zu empfangen.
Im selben Augenblick, da der große Tiger zum Sprung ansetzte, schnellte aus dem Dickicht ein anderer Tiger, den bisher weder jemand gesehen noch gehört hatte, auf ihn zu, packte ihn an der Kehle und wälzte sich mit ihm im Gras. Der erste machte sich aus dem Biß des zweiten frei, sprang auf die Füße und krallte sich in den Bauch seines Gegners, der ein unterdrücktes Fauchen von sich gab. Der Ausgang des Kampfes schien ungewiß. Louisons Verehrer, obwohl durch das Auftreten seines Gegners überrascht worden, verteidigte sich zäh. Ihre Kräfte waren beide gleich, und gegenseitiger Haß schien sie immer wieder neu zu beleben. Louison sah dem Kampf seelenruhig zu, obwohl sie innerlich nicht unbeteiligt war; doch sie hatte zuviel Stolz, ihre Sorge zu zeigen, daß ein Bengaltiger ihren Gefährten aus Jawa, der sie so lange gesucht hatte, besiegen könnte.
Inzwischen schien sich die Waage jedoch gegen Louisons Verehrer zu neigen. Er rollte sich auf dem Gras und ließ ein heiseres Winseln hören. Bei diesem Winseln wurden Louisons Augen zu schmalen Schlitzen. Sie fauchte laut auf, was zu bedeuten schien: Elender, du machst deiner Herkunft Schande.
Dieses Fauchen gab dem Tiger Kraft und Mut zurück. Er betrachtete Louison ein letztes Mal, schnappte verzweifelt mit den Zähnen nach seinem Gegner und trollte sich in Blitzesschnelle auf einen benachbarten Laubbaum, in dessen Blätterdach er Zuflucht zu suchen schien.
Der andere glaubte den Kampf gewonnen zu haben und stimmte mit einem Getöse, das Donnergrollen glich, seinen Triumphgesang an.
Aber dieser Gesang war genauso kurz wie die Freude über den Sieg. Der Besiegte hatte sich von Baum zu Baum bis in die Äste einer Sykomore geschlichen, unter der der Sieger sein Triumphgeheul vollführte. Von dort sprang er mit einem Satz auf ihn, warf ihn zu Boden und biß ihm die Kehle durch.
Diesmal war der Kampf endgültig zu Ende, und der große Tiger schien die Glückwünsche Louisons zu erwarten. Diese war so von seinem Mut entzückt, daß sie sich endlich doch entschloß, von der Mauer herabzuspringen und mit ihm in der Dunkelheit zu verschwinden.
Corcoran verspürte anfangs den Drang, ihr zu folgen, aber dann überlegte er, daß die Nacht dunkel sei und voller Gefahren steckte und daß es zweifellos besser sei, den Tag abzuwarten. Er kehrte also niedergeschlagen über den Verlust Louisons in den Palast zurück und legte sich schlafen. Lange fand er keinen Schlaf. Als er endlich doch einschlief, träumte er so wirr, daß er mehrmals schweißgebadet hochschreckte.
Eine am Morgen eingeleitete Suche nach Louison blieb ergebnislos. Die Tigerin war mit ihrem Gefährten in die Wälder gezogen und blieb verschwunden.
Doch man möge sich trösten. Die Freundschaft zwischen Corcoran und Louison endete nicht auf diese Weise. Das Schicksal sollte sie bald wieder – allerdings unter den heikelsten Umständen – zusammenführen.
Dasselbe Schicksal überhäufte übrigens einige Monate später Sita und Corcoran mit grenzenlosem Glück. Gott schenkte ihnen einen Sohn, der nach dem Gründer der Raghuidendynastie Rama genannt wurde und der genauso schön wie seine Mutter war. Die Freude der Marathen war unbeschreiblich; drei Tage feierte das ganze Volk das freudige Ereignis. Corcoran, sich gegenüber sparsam, anderen gegenüber dafür großzügig, trug allein die Kosten für die ganzen Feierlichkeiten und öffentlichen Belustigungen. Zum erstenmal sah man im Marathenreich einen Fürsten, der dem Volk Geld schenkte, anstatt es ihnen abzupressen. Diese Tatsache selbst ist so wunderbar, daß sie die Glaubwürdigkeit der wahrheitsgetreuen Geschichte um Kapitän Corcoran eigentlich in Zweifel ziehen könnte, wenn nicht fünfzehn Millionen Marathen leben würden, die Augen- und Ohrenzeugen der Ereignisse waren und die Großzügigkeit des Maharadschas bezeugen können. Außerdem ist die Beschreibung der Festlichkeiten in einem Korrespondentenbericht der Bombay Times vom 21. Oktober 1858 nachzulesen. Der Korrespondent schließt seinen Bericht mit folgenden Überlegungen, die treffend die Unruhe charakterisieren, die die Maximen einer derart neuen Regierungsform bei den englischen Zeitungen Indiens auslösten:
„Man kann nicht leugnen, daß der gegenwärtige Maharadscha, obwohl ausländischer Herkunft, bei den Marathen außerordentlich populär ist. Er hat den Steuersatz um fünf Zehntel gesenkt; er hat die Aushebung aller wehrfähigen Männer, die seine Vorgänger vornehmen ließen, abgeschafft. Seine Armee, die nicht sehr zahlreich ist und sich nur aus Freiwilligen rekrutiert, manövriert mit einer äußerst bewundernswerten Geschlossenheit und Schnelligkeit; er hat aus Frankreich hunderttausend gezogene Karabiner einschließlich Bajonetten kommen lassen. Seine Artillerie, ohne überragend zu sein, ist relativ leicht bestückt, aber dadurch in dem gebirgigen beziehungsweise Dschungelgelände der unseren weit überlegen, wie überhaupt die ganze Schlagkraft unserer Indienstreitkräfte durch die Nachlässigkeit, Schlampigkeit und Unfähigkeit Lord Braddocks und seiner Vorgänger in einem desolaten Zustand ist. Corcoran ist nicht nur ein geschickter General, wie er Colonel Barclay ja bewiesen hat, sondern auch der erste Soldat seiner Armee. Seine Untergebenen bezeigen ihm eine fast göttlich zu nennende Bewunderung. Die Hindus glauben, und er tut nichts, um ihnen diesen Glauben zu nehmen, daß sein Körper unverwundbar sei. Er hat nicht seinesgleichen. Auch wäre niemand kühn genug, sich mit ihm zu messen, sollte man Lust verspüren, gegen ihn zu konspirieren. Allein seine Peitsche läßt die Feinde zittern. Desungeachtet ist er freundlich, wohlwollend, großzügig mit jedermann, vor allem mit den Schwachen und Unterdrückten.
Wer ihn auch immer in seinem Palast besuchen will, kann es jederzeit tun, ohne daß die Bediensteten den Ankömmling zurückweisen oder befragen würden. Ein einziger Teil des Palastes ist verbotenes Terrain; ihn darf kein Gentleman betreten: Das sind die Gemächer der Fürstin; doch zeigt sich die Maharani Sita jeden Tag in der Öffentlichkeit, und das Volk vermag sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ich selbst muß gestehen, daß ihre himmlische Schönheit und ihre Sanftmut, von denen man sich Wunderdinge erzählt, nicht wenig dazu beigetragen haben, die Popularität des Maharadschas zu erhöhen.
Sein Versuch einer parlamentarischen Regierungsform hat viel bessere Erfolge gezeitigt, als man sie bei einem Volk, das bis vor kurzem noch der härtesten Sklaverei unterworfen war, hätte vermuten können; seine Deputierten, wie er sie nennt, beginnen ihre Interessen zu begreifen und sie sehr geschickt zu vertreten. Er versucht niemanden zu beeinflussen; geduldig hört er jedem zu, der mit einem Anliegen oder Vorschlag zu ihm kommt, selbst den Dümmsten leiht er sein Ohr, denn, so sagte er einmal lachend zu einem französischen Kollegen, den er eingeladen hatte, ihn zu besuchen, diese hätten auch ein Recht, ihre Meinung zum besten zu geben, zumal sie ja die Mehrheit in der Welt bildeten.
Ein solcher Mann, der durch einen besonderen Glücksumstand, durch seinen Mut und sein Genie Oberhaupt einer mächtigen Nation geworden ist, in einem Alter, da selbst Napoleon nur simpler Artillerieoffizier war, ist der ernsthafteste Feind, den wir Engländer in ganz Indien haben. Er hat das Genie von Robert Clive, ohne dessen Habsucht. Er mag Geld nicht, das für alle Generalgouverneure Indiens die große Leidenschaft war und ist; er versteht es, alle Kasten für ein gemeinsames Ziel zu begeistern; er lindert jedes Vorurteil und spricht alle Sprachen Indiens. Das sind die Mittel, die einer Nation gefallen, die bisher unfähig war, sich selbst zu regieren, und immer fremden Herren untenan war, seien es nun Moslems oder Christen gewesen.
Es ist Lord Braddocks Aufgabe, diesen gefürchteten Mann sorgfältig zu überwachen. Wenn er jedoch aus Europa zweifelhafte Abenteurer kommen läßt, die wie er nur dem Geld hinterherjagen, wenn er nach und nach seine ohnehin rauhbeinige Armee mit geldgierigen Raufbolden auffrischt, so wird er alle Unzufriedenen Indiens auf den Plan rufen und vielleicht unsere Herrschaft viel leichter in Gefahr bringen, als es der blutrünstige Nana Sahib oder die Königin von Audh vermocht haben.
Man mag einwerfen, daß Corcoran sich mit den aufständischen Sepoys hätte verbinden wollen; aber daß er es nicht getan hat, ist ja nachgerade ein Zeichen für seine friedlichen Absichten. Seine Friedfertigkeit ist nicht nur äußerlich aufgesetzt. Er wird seine Vorbereitungen treffen. Einige seiner Männer tragen die Botschaft ins Volk: In den Tavernen und auf allen Plätzen wird öffentlich darüber gesprochen, daß die Unabhängigkeit Indiens nahe ist und daß man sie einem Mann verdanke, der eine helle Haut habe und zu Schiff über das Meer gekommen sei.
Wenn man mit ihm eine dauerhafte Allianz eingehen könnte, so sollte man es lieber heute als morgen tun, denn es gibt keinen wertvolleren Freund – oder ernsthafteren Gegner – als ihn. Doch wie immer macht man die falsche Politik; erst hat man ihn als Abenteurer bezeichnet, als Räuber ohne Haus und Herd; man hat zwei fürchterliche Eigenschaften in ihm gereizt: den Ehrgeiz und die Rachsucht. Heute ist es wahrscheinlich schon zu spät, sich mit ihm einzulassen. Früher oder später wird er Krieg gegen uns führen. Wie alle anderen Fürsten Indiens ist auch er weit davon entfernt, die Gegenwart und Bevormundung eines englischen Residenten länger zu ertragen, er hat mit uns keinerlei freundschaftliche und gutnachbarliche Beziehungen unterhalten wollen. Er hat allen Flüchtlingen, die unsere Rache fürchteten, Asyl gegeben, und als man ihn aufgefordert hat, sie auszuliefern, hat er geantwortet, daß ein Franzose niemals seine Gäste ausliefere.
All das mag deutlich belegen, welches seine Absichten sind, und das klügste wäre, ihm zuvorzukommen, bevor er uns gefährlich werden könnte. Trotz seines kühnen Wesens und seiner Erfolge gibt es auch alarmierende Zeichen. Die Reformen, die er in der Administration eingeführt hat, und die Gesetze, die seine gesetzgebende Versammlung verabschiedet hat, haben den Haß der Zemindars hervorgerufen, die vor seiner Ankunft beinahe unabhängig von Holkar schalteten und walteten. Es dürfte nicht schwierig sein, ihre Eifersucht anzustacheln und ihnen dabei behilflich zu sein, den neuen Maharadscha zu stürzen. Das ist das einzige Mittel, der Gefahr, der wir ausgesetzt sind, zu begegnen, und Lord Braddock hätte eine schöne Gelegenheit, seine vorherigen Fehler auszumerzen.“
Man sieht unschwer an dem eben zitierten Artikel, welche Meinung die Engländer, seine Feinde, von Corcoran hatten.
Unter uns gesagt, sie hatten auch recht, denn der Bretone hatte sich insgeheim für den Plan von Dupleix und Bussy begeistert, der vorsah, die Engländer aus Indien zu vertreiben; ein Vorhaben, das bis zu seiner Verwirklichung allerdings noch fünf bis sechs Jahre Zeit brauchte.
Eines Morgens hatte Corcoran Bhagavapur verlassen, um die Grenzen seines Reiches zu inspizieren, Streitfälle außerhalb der Hauptstadt zu schlichten, Verbesserungen in der Verwaltung vorzunehmen, seine Armee manövrieren zu lassen und den Bau von Straßen und Brücken zu beaufsichtigen; er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich stets selbst von der Durchführung seiner Anordnungen zu überzeugen.
Sita war allein im Palast Holkars zurückgeblieben. Zu ihren Füßen spielte auf dem Rasen des Schloßparks der kleine Rama, der inzwischen etwa zwei Jahre alt war und dessen Züge schon die ganze Kraft seines Vaters und die Anmut der Mutter ahnen ließen. Der Elefant Scindiah schwenkte vor dem kleinen Jungen seinen Rüssel, was den Kleinen sehr belustigte. Aus einer Schachtel reichte er ihm Süßigkeiten, was seinerseits dem Elefanten sehr gefiel. Scindiah nahm das Zuckerwerk graziös mit seinem Rüssel entgegen und ließ es unter seinen Zähnen krachen.
„Scindiah, mein Freund“, sagte Sita, „gib gut auf meinen kleinen Rama acht und beschütze ihn, wie du mich beschützt hast, als ich so alt war wie er.“
Der Elefant schwenkte rhythmisch seinen Rüssel.
„Rama“, sagte seine Mutter, „gib ihm die Hand.“
Sofort streckte der Junge seine kleine Hand dem großen Rüssel des Elefanten entgegen, der nahm sie vorsichtig, schlängelte seinen Rüssel behutsam um den Leib des Jungen und hob ihn über den Kopf hinweg auf seine Schultern, wo der kleine Rama vor Freude kreischte. Auf einen Wink Sitas setzte der Elefant den Kleinen wieder vorsichtig auf die Erde. „Noch mal, noch mal“, kreischte Rama.
Der Elefant begann das Spiel von neuem, setzte den Jungen hinter seine Ohren, worauf der Kleine wiederum vor Entzücken aufschrie. (Welcher kleine Pariser Junge hat wohl derartige Späße schon mal erlebt!)
Scindiah mußte laufen, tanzen, rennen, und der kleine Rama fühlte sich ebenso glücklich wie sein Vater auf dessen Brigg.
Während dieses kindlichen Vergnügens meldete man Sita, daß Sugriva sie zu sprechen wünsche.
„Herrin“, sagte er zu ihr, als er sich ihr genähert hatte, „ein Fremder aus Europa hat sich im Palast vorgestellt. Er sagt, er sei Deutscher; Gelehrter und Fotograf, außerdem trägt er eine Brille. Was sollen wir mit ihm machen? Meine Meinung ist, ihn entweder fortzuschicken oder zu hängen. Er hat eher das Aussehen eines Spions als eines ehrenwerten Mannes.“
„Meine Vorfahren haben niemals jemandem, wer es auch sei, die Gastfreundschaft verwehrt“, erwiderte Sita. „Führ diesen Fremden zu mir.“
Der Deutsche erschien im Park. Es war ein großer, untersetzter Mensch mit sonnengebräuntem, pockennarbigem Gesicht. Er trug eine Brille mit blaugetönten Gläsern, weil ihm die sengende Sonne Kopfschmerzen verursache, wie er später bemerkte.
„Seien Sie willkommen“, sagte Sita. „Wer sind Sie, und was führt Sie hierher?“
„Madame“, erwiderte der Deutsche, der akzentfrei Hindi sprach, „ich heiße Scipio Rückert, bin Doktor an der Universität Jena und von der Geographischen Gesellschaft zu Berlin beauftragt, den geologischen Aufriß sowie die Flora und Fauna des Vindhyagebirges zu studieren und darüber ein Gutachten zu erstellen. Ich wurde durch den außergewöhnlichen wissenschaftlichen Ruf des weltberühmten Maharadschas Corcoran, Ihres Gatten, und seine Großzügigkeit gegenüber der Wissenschaft angezogen. Sein Ruhm und sein Genie sind so bekannt, daß…“
Der Fremde hatte Sitas schwache Stelle getroffen. Dieser bewundernswerten Frau konnte nichts mehr schmeicheln, als wenn ihr jemand ein Loblieb auf ihren Gatten sang. Der Deutsche schien ihr sofort einer der besten und aufrichtigsten Männer zu sein. Er bewunderte Corcoran; war das nicht Beweis genug, um ihm zu vertrauen?
Nach vielen Fragen über Europa im allgemeinen und Deutschland und Frankreich im besonderen fragte sie ihn:
„Man hat mir mitgeteilt, daß Sie Fotograf seien. Was ist das?“ Der Deutsche erklärte es ihr und versicherte, daß er nichts lieber täte, als Porträtfotos von der königlichen Familie anzufertigen.
Das war die zweite Falle, in die Sita notwendigerweise hineintapsen mußte.
Welche Frau könnte wohl der Versuchung widerstehen, ihr eigenes Abbild zu betrachten und ihre Schönheit zu genießen? Übrigens, was gab es wohl auch Schöneres, Corcoran bei seiner Rückkehr ihr eigenes Porträtfoto und das Ramas zu schenken.
In wenigen Augenblicken hatte der Deutsche seine Apparaturen aufgebaut, den schwarzen Kasten vorbereitet und die Platten eingelegt. Sita nahm Rama in ihre Arme, obwohl der sich mit allen Kräften wehrte, weil er nichts Gutes ahnte, und die Zeremonie konnte beginnen.
Alles gelang bestens, und Sita war entzückt vom Erfolg ihrer Idee und ordnete an, daß man den Fremden bis zu Corcorans Rückkehr aufnehmen, ihn beköstigen und ihm alle Wonnen indischer Gastfreundschaft gewähren möge.
Der Deutsche verbeugte sich untertänig und folgte Sugriva; ein mißlicher Vorfall bestärkte jedoch den Inder in seinem Verdacht.
Scindiah, der stumme Zeuge dieser Szene, schien genausowenig von der Ankunft des Fremden entzückt wie Sugriva. Trotzdem machte er gute Miene und begnügte sich damit, ihm nur den Rücken zuzudrehen. Doch da hatte der kleine Rama eine phantastische Idee. „Mama“, brabbelte er, „will Bild mit Scindiah.“
Sita versuchte ihm seinen Wunsch auszureden, doch es blieb bei dem Versuch. Wer kann schon einem entzückenden Zweijährigen einen Wunsch abschlagen? Der Junge setzte sich also Scindiah auf die Schulter und thronte dort wie ein König. Der Deutsche brachte sein Objekt in Stellung.
Da er aber wie alle Fotografen glaubte, ein großer Künstler zu sein, wollte er Scindiah Hinweise geben, wie er sich zu postieren habe. Und so mußte er sich erst en face, dann im Profil, schließlich im Halbprofil aufstellen, und da das letztlich dem Meister auch nicht gefiel, mußte er wieder die erste Pose einnehmen. Scindiah betrachtete den Deutschen mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. Rama, der stolz darauf war, allein in so großer Höhe sitzen zu können (denn ein Elefant hatte nicht weniger als siebzehn Fuß Höhe), sang aus allen Kräften ein Lied, das so ging:
Dicker Bibi,
großer Scindi,
du mußt laufen
oder schnaufen,
laut trompeten,
leise treten,
rata-peng
reng-deng-deng,
genug posiert,
jetzt
wird fotografiert.
Endlich entschloß sich der Deutsche, Rama von vorn und Scindiah im Profil aufzunehmen, und schrie das Geheiligte: „Nicht bewegen!“
Eine Minute danach war die Platte fertig. Während er dem entzückten Rama dessen Konterfei zeigte, vergaß er leider Scindiah, der ebenfalls sein Foto betrachten wollte; da aber der Deutsche es nicht für nötig erachtete, einem Tier diesen Gefallen zu tun, füllte der rachsüchtige Elefant seinen Rüssel mit Wasser und spritzte damit den Fotografen von oben bis unten naß.
Rama lachte sich halbtot über den Scherz seines dickhäutigen Freundes; Sita ließ dem Deutschen sofort trockene Kleider bringen und schalt Scindiah aus, der sich über seinen dummen Scherz auch noch zu freuen schien. Sugriva schüttelte bedenklich seinen Kopf und sagte zu Sita:
„Maharani, Scindiah hat noch nie jemandem etwas getan. Er kennt sich in Physiognomien aus. Wenn ihm das Gesicht dieses Fremden mißfällt, so muß er seine Gründe dafür haben. Hoffentlich müssen wir nicht bereuen, diesen Deutschen bei uns aufgenommen zu haben. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als die Rückkehr des Maharadschas abzuwarten.“
Sie brauchten nicht lange zu warten. Acht Tage später betrat Corcoran den Palast und schloß Frau und Kind in die Arme.
„Papa, mein Bild!“ rief der kleine Rama ganz aufgeregt.
„Welches Bild?“ fragte Corcoran verwundert.
„Meines und Mamas. Und eins von Scindiah. Er sieht ganz toll aus.“
„Wer ist denn der Maler gewesen?“
„Es ist ein Fremder, der während deiner Abwesenheit zu uns gekommen ist“, fiel Sita ein.
Der Maharadscha runzelte die Brauen.
„Man führe ihn mir vor!“ befahl er. „Was dich betrifft, meine liebe Sita, du tust nur Gutes, und deine unschuldige Seele vermutet nirgendwo das Schlechte; aber man kann dich sicher sehr leicht täuschen.“
In diesem Moment trat der Deutsche ein. Die dunklen Augengläser, die seine Augen verdeckten, gefielen Corcoran ganz und gar nicht.
„Wer sind Sie?“ fragte er.
Der andere erzählte die Geschichte, die er schon Sita erzählt hatte, und fügte mehrmals hinzu, daß der heldenhafte und ruhmreiche Maharadscha…
„Schon gut, schon gut“, unterbrach ihn Corcoran, der deutsch mit ihm sprach, ungeduldig. „Ich weiß selbst sehr genau, was man Königen im allgemeinen sagt, wenn man vor ihnen steht, auch das, wenn man ihnen den Rücken gekehrt hat… Wieso sprechen Sie übrigens deutsch mit einem leichten englischen Akzent?“
„Fürst“, erwiderte der Fotograf, „meine Mutter war Engländerin, und ich selbst habe einen Teil meiner Jugend in England verbracht. Ich bin mit den Brüdern Schlagintweit recht gut bekannt, die in diesem Augenblick im Himalaja umherreisen, auch mit Doktor Vogel aus Berlin und dem großen Humboldt.“
„Sie können das beweisen?“
„Ja, mein Fürst, ich hatte sogar einen Empfehlungsbrief von Herrn Humboldt an Eure Hoheit bei mir, leider ist mir dieser Brief zusammen mit vielen Büchern und anderen Papieren bei einem Schiffbruch abhanden gekommen, und es ist nur ein Brief von Sir William Barrowlinson an Eure Hoheit übriggeblieben, der mich Ihnen wärmstens empfiehlt.“
„Ja, ich kenne Sir William“, sagte Corcoran lächelnd, „und obwohl mir seine Empfehlungsbriefe recht wenig genützt haben, werde ich seine Unterschrift achten… Lassen Sie einmal den Brief sehen.“
Er nahm ihn entgegen und las ihn aufmerksam. Sir William Barrowlinson empfahl tatsächlich seinen Schützling Rückert Corcoran mit großer Herzlichkeit und bezeichnete ihn als einen der berühmtesten Gelehrten Europas – oder jedenfalls doch als einen, der zu den größten Hoffnungen berechtigte.
„Entschuldigen Sie die Strenge dieser Befragung“, sagte Corcoran. „Ich habe Grund genug, den Engländern zu mißtrauen, und im ersten Moment habe ich geglaubt… doch der Brief von Sir William hat mir das Gegenteil bewiesen, ich werde Sie wie einen Freund behandeln. Ich werde Ihnen in Bhagavapur eine Unterkunft geben. Sagen Sie, was Sie für Ihre Forschungen brauchen. Verlangen Sie Elefanten, Wagen, Pferde, Diener, eine Eskorte, alles, was Sie wollen. Mein Palast ist der Ihre, und ich wäre glücklich, an meiner Tafel einen berühmten Gelehrten zu sehen.“
Dann verabschiedete er ihn, ohne die Dankbezeigungen, die ihm der Deutsche erweisen wollte, abzuwarten.
„Und du, Sugriva“, instruierte Corcoran den Ersten Minister, als der Deutsche gegangen war, „laß ihn nicht aus den Augen. Ich weiß nicht, warum, aber irgend etwas gefällt mir nicht an ihm. Verweigere ihm übrigens weder Geld noch Auskünfte, welcherart sie auch seien. Wenn er ein Spion ist, wird sein Verrat dadurch nur noch schwerwiegender; wenn er allerdings – was ich hoffen will – ein ehrenwerter Mann ist, so will ich nicht, daß er sich über mangelnde Gastfreundschaft beklagt.“ Sugriva verneigte sich und sprach:
„Herr, Ihr Wille ist Befehl.“
Teufel auch, sagte sich Corcoran, als er allein war, das ist so eine Gelegenheit, wo meine arme Louison ihre Spürnase hätte beweisen können. In zehn Minuten hätte sie den Spion unter der Maske des Gelehrten erkannt, wenn er wirklich ein Spion ist. Bei Brahma und Wischnu, sie wäre meine ideale Polizei. Wo sie wohl jetzt stecken mag? Sicher im Dschungel, mit ihrem großen Galan von einem Tiger… Ach, Louison, was bist du undankbar!
Er vergaß seine eigene Undankbarkeit. Aber man möge sich beruhigen. Er war viel früher im Begriff, Louison wiederzusehen, als er glaubte.
Einige Tage später war der Deutsche schon zum untrennbaren Begleiter des Maharadschas geworden. Er war ein angenehmer Tischgenosse, gemütlich, sehr fröhlich, humorvoll, ein hervorragender Reiter, der leidenschaftlich gern jagte, der tiefsinnig und erschöpfend über Theologie, Theogonie, Kosmologie und Naturwissenschaften mit außerordentlicher Belesenheit diskutierte, dabei derart moderiert widersprach, daß ein Gespräch nicht in bockigem Schweigen endete, sondern durch die Andersartigkeit der Idee wieder neu belebt wurde; und letztlich war er für den kleinen Rama zum unentbehrlichen Spielgefährten geworden; er baute ihm Holzschiffe und Laternen, spielte mit ihm Kasperletheater; kurz, er war ein universeller Geist, und niemand dachte mehr daran, ihn zu überwachen.
Bei einer Gelegenheit wurde Corcoran jedoch in seinem Verdacht erneut bestärkt, aber an diesem Tag ereignete sich ein so unerwartetes und freudiges Ereignis, daß jede Unruhe durch die Freude über jenes Ereignis erstickt wurde.
Es war an einem Januarmorgen des Jahres 1860. Corcoran ritt zur Rhinozerosjagd, und Doktor Rückert begleitete ihn; mit von der Partie waren ebenfalls noch etwa zwanzig Bedienstete, die ihnen das Tier zutreiben sollten. Die beiden Weißen waren gute Reiter und aufs beste bewaffnet.
Sita sah aus dem Fenster ihres Gemachs, wie Corcoran davonritt, und hatte Mühe, den kleinen Rama zu bändigen, der Scindiah besteigen und ebenfalls das Rhinozeros jagen wollte.
Corcoran und sein Begleiter ritten bis zu der Lichtung, an der der Kapitän seinerzeit schon mit Holkar Jagd auf das Rhinozeros gemacht hatte, während sich die Treiber unter gewaltigem Geschrei in den Dschungel begaben und dort mit großen Steinen um sich warfen, um das Tier zu erschrecken und aus seinem Versteck hervorzulocken. Plötzlich klangen die Schreie anders. Sie hatten zwar ein Rhinozeros gesucht, dabei jedoch einen riesigen Königstiger geweckt, der ruhig im Schatten des Dickichts geschlafen hatte.
Er erhob sich langsam, streckte seine Glieder und warf einen zerstreuten Blick um sich. Er hörte den Lärm und, sei es, daß er durch die rätselhaften Geräusche erschreckt wurde, sei es, daß er harmonischere und sanftere Äußerungen gewohnt war, auf jeden Fall setzte er mit großen Sprüngen auf die Lichtung und gelangte direkt vor Corcoran, ohne jedoch vorher von jenem gesehen zu werden. Dieser saß, den Finger am Abzug seines Gewehres, am Rand der Lichtung zu Pferd und erwartete das Rhinozeros. Dabei spähte er aufmerksam in die Runde. Auf der anderen Seite sah Doktor Rückert zwar den Tiger heranstürzen, hätte seinen Begleiter auch ohne weiteres warnen können, tat es allerdings nicht. War er durch die Gefahr verblüfft worden? Oder hatte er, wie der Maharadscha es später einschätzte, in diesem Augenblick seinen Tod gewünscht?
Plötzlich senkte sich ein enormes Gewicht auf die Kruppe von Corcorans Pferd und drückte es zu Boden. Das war der Tiger, der von hinten angriff. Da der Bretone den Finger am Abzug hatte, löste der Sprung des Tigers den Schuß. Er war entwaffnet. Darüber hinaus fiel das verletzte Tier so unglücklich, daß der Reiter mit einem Bein unter den Bauch seines Pferdes zu liegen kam und hilflos und unbeweglich den Angriff des Tigers erwartete. Verzweifelt schrie er:
„Zu mir! Rückert! So schießen Sie doch. Schießen Sie doch endlich!“
Rückert blieb unbeweglich und wartete ab, obwohl er schußbereit war und jederzeit feuern konnte, ohne befürchten zu müssen, bei einem Schuß auf den Tiger den Kapitän zu treffen und dabei zu verletzen.
Trotz dieser verzweifelten Situation verlor Corcoran nicht den Mut. Da ihm keine Zeit blieb, nach dem Revolver zu langen, der in seinem Gürtel steckte, stieß er den Kolben seines Karabiners dem Tiger mit solcher Kraft vor das Maul, daß dieser von ihm abließ und aufheulend zurückwich.
Er hatte nur eine Sekunde gewonnen, aber das genügte Corcoran, sich aufzurichten und seinen Revolver zu ziehen. Mit der Linken packte er ihn und schoß auf den Tiger, der gerade wieder zum Sprung ansetzte.
Da machte ein unvorhergesehener Zwischenfall dem Kampf ein Ende.
Plötzlich erschien brüllend ein anderer Tiger, etwas kleiner als der erste, auf der Bildfläche, und anstatt seinem Artgenossen beizustehen, packte ihn dieser kleinere am Hals, warf ihn zu Boden und verabreichte ihm eine so gewaltige Maulschelle, daß dem Tiger Hören und Sehen verging, Corcoran vor Überraschung wie gebannt stand, und dem Doktor Rückert die Augen so groß wie Scheunentore wurden.
Dieser Tiger – vielmehr diese Tigerin mit dem seidig glitzernden Fell – haben Sie erraten, wer das war? Natürlich. Es war Louison. Der andere war ihr Gefährte Garamagrif, dem sie in den Wald gefolgt war und sich gemäß der Tigerzeremonie angetraut hatte.
Es wird viel über die Grausamkeit der Tiger geredet, und Monsieur de Buffon, ein Naturwissenschaftler, der mehr Stil als Wissen hatte, schrieb so schöne Dinge über den schlechten Charakter dieser Tiere; aber sagen Sie mir, welche Frau hätte wohl mehr Mut, mehr Treue und Feingefühl gezeigt als Louison in dieser Situation? Ich meinerseits kenne keine. Und was nicht weniger bewundernswert ist als die Anhänglichkeit Louisons an Corcoran, das ist die Selbstverleugnung und Unterordnung des männlichen Tigers, ihres Gatten, der widerspruchslos Louisons Zurechtweisung hinnahm, obwohl er sie nicht verdient hatte, denn schließlich verband ihn mit dem Maharadscha nicht das geringste.
Doch weiter im Text. Kaum hatte der Bretone die Tigerin wiedererkannt, als er die alte Zärtlichkeit für seine Freundin empfand. Er steckte den Revolver in den Gürtel zurück und rief ihr zu: „Louison. Meine liebe Louison! Komm in meine Arme!“
Und sie befolgte seinen Wunsch.
„Du wirst mit mir nach Bhagavapur zurückkehren“, sagte Corcoran.
Dieser Vorschlag, den sie zweifellos schon erwartet hatte, verwirrte Louison. Sie warf einen Blick über ihre Schulter auf den großen Tiger, der die ganze Szene mit dumpfer Trauer beobachtete. Der arme Junge zitterte bei dem Gedanken, allein gelassen zu werden.
Corcoran verstand den Sinn dieses Blickes. „Und du wirst auch mitkommen“, sagte er zu ihm. „Also, es ist entschieden?“
Der große Tiger blieb unbeweglich und starrsinnig. Louison ging nahe an ihn heran, fauchte einige besänftigende Worte in sein Ohr, deren Sinn ungefähr gewesen sein mußte:
„Was fürchtest du, lieber Freund meines Herzens. Bin ich nicht bei dir?“
Der Tiger knurrte, vielmehr entgegnete:
„Das ist eine Falle. Ich erkenne diesen Maharadscha wieder. Es ist derselbe, der dich unter seinem Dach bewachte, während ich mir in dem feuchten Graben Rheuma holte. Liebe Louison, nimm dich in acht vor seinen bestrickenden Worten, und laß uns lieber in den Wäldern bleiben.“
Hier schien Louison wankend zu werden.
„Du wirst bei mir frei sein“, sagte Corcoran, „frei und geliebt wie früher. Laß diesen Flegel, der dich nicht verstehen will, doch hier. Wenn du dich allerdings nicht von ihm trennen willst, so nehme ich ihn eben mit. Deinetwegen werde ich ihn ertragen.“
Man weiß nicht, wie die Unterhaltung ausgegangen wäre, wenn nicht in diesem Augenblick das Auftauchen eines Neuankömmlings die Frage entschieden hätte. Dieser Neuankömmling war ein kleiner Tiger. Er war etwa so groß wie ein Dackel und schien nicht älter als drei Monate zu sein. Corcoran schätzte, daß es Louisons Kind sein müsse, und profitierte von dieser Entdeckung, um ein unschlagbares Argument ins Feld zu führen und die Angelegenheit zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Der junge Tiger näherte sich hüpfend und springend seiner Mutter. Dabei sah er von Corcoran zu Louison und von Louison wieder zu Corcoran. Neugierig betrachtete er den Maharadscha. Der nahm ihn auf den Arm und streichelte ihn.
„Und du, Kleiner, willst du wenigstens mit mir kommen?“ fragte er.
Der junge Tiger suchte in den Augen seiner Mutter zu lesen, und er sah darin ihre Zärtlichkeit für Corcoran; das entschied schließlich über das Schicksal der Tigerfamilie; dem Vater blieb nichts weiter übrig, als seinen beiden Lieblingen zu folgen. Der Bretone dachte nicht mehr an das Rhinozeros und gab den Befehl zum Aufbruch.
„Der Tag hat besser geendet, als ich zu hoffen glaubte“, sagte er zu Rückert. „Einen Moment habe ich geglaubt, ich würde die Beute dieses Tigers… Aber sagen Sie“, fügte er nachdenklich hinzu, „warum haben Sie nicht geschossen, als ich Ihnen zurief, Feuer zu geben?“
Diese Frage schien Scipio Rückert für kurze Zeit in Verlegenheit zu bringen. Doch er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und erwiderte:
„Ich fürchtete, mein Schuß hätte statt des Tigers Sie treffen können.“
„Hm, hm. Das ist wohl Ihre deutsche Vorsicht!“ meinte Corcoran. Insgeheim dachte er: An der Sache stimmt etwas nicht. Nun, wir werden sehen.
Die Rückkehr nach Bhagavapur wurde zum Triumphzug. Louison machte Freudensprünge. Der große Tiger folgte ihr etwas tapsig, während der Kleine genauso fröhlich war wie seine Mutter und empfänglich für all das Neue, was er sah: Straßen, Plätze, Pagoden, Menschen, schließlich den Palast, in den man endlich Einzug hielt. Beim Anblick dieser neu hinzugekommenen Familie stießen sie Bediensteten Schreie des Entsetzens aus, und auch Sita schloß vor Schreck ihren kleinen Rama in die Arme.
Rama jedoch zeigte keinerlei Furcht. Er näherte sich fröhlich Louison und streichelte sie mit seiner kleinen Hand, als ob er sie schon lange kennen würde. Die Tigerin leckte ihm sanft über das Gesicht.
„Das ist meine liebe Louison“, sagte Corcoran. „Erkennst du sie nicht, Sita? Ihr haben wir mehr als einmal unser Leben und unsere Freiheit verdankt. Ihr Mann, der so bärbeißig dreinschaut, ist Meister Garamagrif, und ihren Sohn, den du mit Rama balgen siehst, wollen wir Moustache nennen. So, nun Schluß mit der Vorstellung. Kinder, laßt uns essen.“
Auch in der Folgezeit trübte nichts Louisons glückliche Heimkehr. Rama und sein Spielgefährte, der kleine Tiger Moustache, wurden bald ein unzertrennliches Freundespaar. Unter Louisons Aufsicht spielten sie alle Spiele, die Mensch und Tier in diesem Alter spielen. Die Aufsicht allerdings war mehr als nötig, denn Rama, Sohn eines Königs, wollte stets kommandieren. Moustache seinerseits fühlte sich als echtes Tigerkind und mochte nicht gehorchen. Louison hatte mitunter Mühe, den Frieden zwischen beiden aufrechtzuerhalten.
Falls sich übrigens jemand wundern sollte, weshalb den Tieren ein so wichtiger Platz in meiner Geschichte zukommt, während ich Grafen, Herzöge, Erzherzöge, Großherzöge, Großerzherzöge und so weiter vernachlässige, von denen die Welt (und die Bücher) ja voll sind, so wage ich zu behaupten, daß meine Helden, obwohl sie nicht mit Trompetengeschmetter und Schwertgeklirr an der Spitze ihrer Regimenter einherflanieren, doch nicht weniger interessant und ihre Leidenschaften nicht weniger leidenschaftlich, elementar und grausam sind. Ich will noch deutlicher werden. Hat nicht Scindiah mit seiner Schwergewichtigkeit, seiner Ruhe, seiner Kaltblütigkeit, seiner Unerschütterlichkeit und seinem immensen Rüssel, der ja im Grunde nichts weiter ist als eine verlängerte Nase, eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen großen und noblen Persönlichkeiten, die die Geschicke von mächtigen Reichen lenken? Louison, so fein, so leicht, so mutig, so großmütig zu ihren Freunden, hätte sie nicht mehreren großen Damen als Modell dienen können? Und hatte sie nicht genausoviel Geist und gesunden Menschenverstand wie jedes andere menschliche Wesen (ausgenommen natürlich Corcoran, aber er ist nun mal die Hauptfigur in diesem Buch)? Ist sie nicht durch ihre Kraft und ihr Draufgängertum ein Beispiel für alle Generale der Kavallerie; wenn sie hätte sprechen können, würde sie sicher ein ebenso markantes Beispiel gegeben haben wie Murat oder Blücher.
Was soll man mir also vorwerfen? Sind wir denn so selbstsicher, allen übrigen Wesen der Schöpfung überlegen zu sein, daß uns keine anderen Geschichten zu gefallen vermögen als unsere eigenen?
Ja, ich ziehe den Tiger dem Menschen vor. Der Tiger ist schön, er ist stark; er ist nicht maßlos oder ausschweifend. Er hat wenig Freunde, aber er sucht sie sich mit Sorgfalt aus und begibt sich niemals in die Gefahr, sie zu verraten oder von ihnen verraten zu werden; er schmeichelt niemandem, er liebt die Einsamkeit wie alle berühmten Philosophen; er hat einen Abscheu vor der Sklaverei und hat noch nie fremde Dienste für sich in Anspruch genommen; kurz: Er ist eines der edelsten Geschöpfe unter der Sonne.
Und von welchem Menschen – wenn es nicht gerade einer meiner Leser ist – könnte man dasselbe Loblied singen?
Brief von George William Doubleface, Chef der Geheimpolizei von Kalkutta, an Lord Henry Braddock, Generalgouverneur von Hindustan
„Bhagavapur, den 15. Februar 1860
Mylord,
der Bote, der diesen Brief Eurer Lordschaft überbringen wird, ist ein verläßlicher Mann, für dessen Verläßlichkeit ich mich verbürge.
Dem Befehl Eurer Lordschaft Rechnung tragend, habe ich mich auf den Weg nach Bhagavapur gemacht und mich bei Hofe dem sogenannten Maharadscha Corcoran mit den Vertrauensbeweisen vorgestellt, die Eure Lordschaft für mich von Sir William Barrowlinson erbeten hatte. Unter dem Namen Doktor Scipio Rückert von der Universität Jena bin ich mühelos bis zu Kapitän Corcoran vorgedrungen, der mich anfangs – ich muß es gestehen – mit Mißtrauen aufgenommen hat. Aber bald ist dieses Mißtrauen – das übrigens seinem natürlichen Empfinden sehr fremd zu sein scheint – dem allerbesten Wohlwollen mir gegenüber gewichen. Wie groß auch sein Scharfsinn ist – ich muß gestehen, daß er alles überschreitet, was man sich vorstellen kann –, seine Sorglosigkeit und Furchtlosigkeit sind indes noch größer; ich bin bei der Ausführung der Mission, die mir anzuvertrauen Eure Lordschaft die Ehre hatten, keinerlei nennenswerten Schwierigkeiten begegnet.
Es ist mir nicht schwergefallen, das Vertrauen der Maharani Sita zu gewinnen. Die Fotografie, die in diesem zurückgebliebenen Land gänzlich unbekannt ist, hat mir als Legitimation gegenüber Sita gedient, die dem Vergnügen nicht widerstehen konnte, sich und ihr Kind abgebildet zu sehen. Inzwischen wurde die Aufnahme in zwanzigtausend Exemplaren reproduziert. In jedem Fall ist das für das Signalement wichtig. Aus diesem Grund habe ich auch versucht, das Porträt des Maharadschas in meine Sammlung einzureihen, doch er hat sich bisher strikt geweigert, mir zu posieren, und ich habe Angst, falls ich zu sehr in ihn dringe, seinen Verdacht zu wecken.
Dafür hat er, nachdem ich ihm den Brief von Sir William Barrowlinson überreichte, keine Mühen gescheut, mir seine Waffen, sein Geld, seine Pferde zur Verfügung zu stellen, und mich bevollmächtigt, nach Belieben in seinem Staat kommen und gehen zu können. Dank meiner perfekten Beherrschung der Hindisprache ist es mir gelungen, die verschiedensten und auch verläßlichsten Informationen zu erhalten, und ich beeile mich, mit derselben Post Eurer Lordschaft einen Plan über seine Streitkräfte zu Lande und zu Wasser zu schicken. Ich sage zu Wasser, denn trotz des Abscheus der Hindus gegen die Marine hat der Kapitän seine Brigg kriegsmäßig ausrüsten lassen, sei es, daß er das Schicksal, das ihm Eure Lordschaft zugedacht hat, durchschaut und das Schiff für seine Flucht bereithält, sei es, daß er Möglichkeiten sieht, seinen Mitkämpfern dadurch Hilfe zu leisten. Eure Lordschaft werden durch Eure Klugheit eher in der Lage sein, die wahren Gründe für das Verhalten dieses Abenteurers einzuschätzen.
Ich erlaube mir, Eure Lordschaft darauf hinzuweisen, daß Corcorans Armee, deren Zahl auf beiliegender Tabelle vermerkt ist, nicht – wie es den allgemeinen Gepflogenheiten im Orient entspricht – eine Armee nur auf dem Papier ist. Es gibt außerdem in dieser Armee keine Müßiggänger. Ich hatte mehr als einmal Gelegenheit, mich persönlich davon zu überzeugen, mit welcher Exaktheit der Kapitän die Effektivität und taktische Schlagkraft seiner Truppen überprüft, und ich darf hinzufügen, daß es wünschenswert wäre, wenn die Sepoys und Sikhs, die im Dienste der Königin Victoria stehen, die Disziplin und Solidität dieser Marathen hätten.
Eine Sache hat den Maharadscha sehr populär gemacht: Das ist seine unbedingte Integrität vor dem Gesetz. Er achtet streng darauf, jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dieser Hinsicht ist er genauso unnachgiebig, wenn das Gesetz übertreten wird. So hat er einige hundert Räuber aufknüpfen lassen, die unter der Herrschaft seines Vorgängers ungestraft das Land ausplündern und verwüsten durften. Mehrere von ihnen haben versucht, ihn mit gewaltigen Summen zu bestechen, um ihr Leben zu retten; aber er hat niemanden begnadigt, sondern ihr zum Teil recht erhebliches Vermögen an die Armen verteilt. Eure Lordschaft wird sicher mit mir einer Meinung sein, daß diese Großzügigkeit, die so wenig kostete, ihm beim Volk eine ungeheure Popularität verschafft hat.
Das bringt mich geradewegs zum Hauptpunkt meines Berichts. Ich wage zu hoffen, daß Eure Lordschaft mir Verständnis entgegenbringen wird, daß ich meine Befugnisse geringfügig überschritten habe.
Die Vernichtung der wichtigsten Räuber hat dem Banditentum ein Ende gemacht, und die meisten dieser armen Teufel, die dieses abscheuliche Gewerbe ausübten, gehen inzwischen einem ehrenwerten Beruf nach. Andere haben das Land verlassen und erproben ihr Talent in Bengalen, wo ich das Vergnügen hatte, sie zu fangen und einige hängen zu lassen. Unter diesen (ich meine die, die ich in Bengalen aufgegriffen habe, nicht die, die ich hängen ließ) befand sich einer von der schlimmsten Sorte, ein gewisser Punth-Rombhoo-Baber, kurz Baber genannt, was in Hindi ‘der Tiger’ heißt. Baber also hat sich seit seiner Jugend durch die brillantesten Heldentaten hervorgetan. Ich würde nicht behaupten wollen, daß er Vater und Mutter umgebracht habe, aber abgesehen davon hat er wohl alle Arten von Verbrechen begangen. Mit fünfzehn hatte er bereits einen berüchtigten Ruf. Seine Geschicklichkeit, sich den Händen der Polizei und der Justiz zu entziehen, grenzt fast ans Wunderbare. Um nur ein Beispiel zu nennen. Er sollte gepfählt werden, doch als man ihn aufspießen wollte, brach der Pfahl, und Baber machte sich die allgemeine Verwirrung zunutze, den Ganges zu durchschwimmen und in Gwalior unterzutauchen. Ein andermal wurde er gehängt, allerdings so schlecht, daß er – ohne daß der Strick gerissen wäre – weiteratmen konnte. Zwei Stunden danach schnitt man ihn ab, um ihn zu sezieren, und Doktor Francis Arnolt, Chirurg im 48. Sepoylinienregiment, wollte ihm mit dem Skalpell die Brust öffnen, als Baber die Frechheit besaß, vom Seziertisch aufzustehen, dem verwunderten Doktor das Skalpell aus den Händen zu reißen, zur Tür des Krankenhauses zu springen und sich durch mindestens vier- oder fünfhundert Menschen hindurchzuschlängeln, ohne daß es jemandem in den Sinn gekommen wäre, Hand an ihn zu legen. Er floh nach Benares, wo ich ihn traf, als mir Eure Lordschaft befahl, mich nach Bhagavapur zu begeben.
Dieses Zusammentreffen war eine göttliche Fügung. Obwohl ich ohne Übertreibung sagen darf, daß ich alle Schliche meines Berufes bestens kenne, so ist eine solche Hilfskraft wie Baber von unschätzbarem Wert. Es ist ein außergewöhnliches Glück, daß sich dieser Verbrecher über Kapitän Corcoran beschweren zu müssen glaubt, der ihn aus dem Land der Marathen gejagt hat. ‘Ohne ihn’, so sagte er mir, ‘würde ich ruhig in diesem Land leben; ich würde in aller Ruhe ein durch fleißige Arbeit erworbenes Vermögen genießen und mit meinen Kindern und meiner Frau wie ein Patriarch unter meinen Feigenbäumen und Weinstöcken sitzen.’
Ein noch merkwürdigeres Motiv, worüber Eure Lordschaft sicher laut auflachen wird, hat ihn zum unnachgiebigen Feind des Maharadschas gemacht.
Baber glaubt, daß er der größte Dieb seiner Zeit und in der Ausübung seines Gewerbes unschlagbar ist. Wenn er auch im Laufe seines Lebens einige Mißerfolge erlitten hat, so sind diese Fehlschläge, so sagte er mir, nicht die Folge mangelnder Intelligenz, sondern der Sensibilität seines Herzens. Zweimal haben ihn Frauen verraten und verkauft, doch heute, wo er von seiner blinden Leidenschaft für das trügerische Geschlecht frei ist, wo er reif an Erfahrung und Jahren ist, schmeichelt er sich, niemanden fürchten zu müssen; und die Aussicht, von der englischen Regierung begnadigt zu werden und obendrein noch dreihunderttausend Rupien (ich hoffte, nicht zu sehr Hasard zu spielen, als ich ihm diese Summe seitens Eurer Lordschaft versprach) zu erhalten, vor allem jedoch die verlockende Aussicht, Kapitän Corcoran, den alle Marathen für unbesiegbar halten, lebend oder tot zu ergreifen und somit seine glorreiche Karriere durch einen großartigen Handstreich zu krönen; das alles also bewegte Baber, in das Unternehmen einzuwilligen.
Was die Mittel der Ausführung anbetrifft, so kenne ich ihn. Man kann sich auf ihn verlassen. In seiner Jugend war er einer der berüchtigtsten Bandenchefs der Thugs; lange Zeit hat er Banden von fünf- bis sechshundert Männern kommandiert. Von seinen alten Kumpanen hat er inzwischen etwa dreißig um sich geschart, die mindestens zweimal zum Tode verurteilt wurden. Dreißig, das dürfte genug sein, denn ich will Eurer Lordschaft nicht verhehlen, daß Babers Ziel nicht darin besteht, Corcoran gefangenzunehmen (ein beinahe unmögliches, Unternehmen), also ihn der englischen Regierung vom Hals zu schaffen. Eine für uns akzeptable Lösung, so glaube ich.
Ich muß Eure Lordschaft nicht noch extra darauf hinweisen, daß sein Name auf keinen Fall in dieses Unternehmen hineingezogen wird, damit Eure Lordschaft jede Kenntnis und Beteiligung eines solchen Unternehmens ableugnen kann. Allerdings habe ich Baber meine Vollmachten, die mir Eure Lordschaft bei der Abreise nach Bhagavapur ausgehändigt haben, gezeigt, denn dieser ehrenwerte Herr wollte seiner Begnadigung und der dreihunderttausend Rupien, die ich ihm versprochen habe, absolut sicher sein. Aber Eure Lordschaft mögen beruhigt sein, ich habe diese Papiere Baber nur gezeigt, nicht ausgehändigt.
Bleibt nur noch zu vermelden, daß die Ausführung seines Plans kaum Schwierigkeiten machen dürfte. Das Vertrauen Kapitän Corcorans in seine Popularität ist so groß, daß er in seiner Hauptstadt nicht einmal eine Garnison für notwendig hält. Die ganze Armee steht an der Grenze des Landes, wie sich Eure Lordschaft überzeugen können, wenn Eure Lordschaft geruhen, einen Blick auf beiliegende Karte zu werfen. Es gibt nicht mehr als zweihundert Soldaten in Bhagavapur, und das sind eigentlich mehr Polizisten als Soldaten, die über die verschiedensten Viertel verstreut sind. Der Palast ist für jeden den ganzen Tag geöffnet. Die einzige Wache, die eventuell zu fürchten wäre, sind ein junger Tiger von drei Monaten, ein großer wilder Tiger und die Mutter des kleinen, diese famose Louison, die Colonel Barclay so viel zu schaffen machte. Diese drei Tiere sind mit einem bewundernswerten Instinkt ausgestattet; doch ist es leicht, sie nach dem Essen zu überraschen und einzusperren.
Baber und ich, manchmal getrennt, manchmal zusammen, haben sorgfältig die Palastanlage, Aus- und Eingänge inspiziert und unseren Schlachtplan entworfen. Nach meinem Ermessen dürfte der sogenannte Maharadscha keine Chance haben, dem Anschlag zu entgehen, trotz seiner unbestreitbaren Körperkräfte und sprichwörtlichen Kaltblütigkeit.
Ich habe, wie schon gesagt, Vorsorge getroffen, daß der Name Eurer Lordschaft mit dem Babers in keinerlei Verbindung gebracht werden kann, desgleichen habe ich dafür gesorgt, daß man auch mir im Fall eines Mißlingens eine Beteiligung an dem Komplott nicht zuschreiben kann. Nicht, daß ich nicht bereit wäre, jeden zu exekutieren, den zu exekutieren Euer Lordschaft im Interesse der Regierung Ihrer Majestät, unserer glorreichen Königin Victoria, gefällt; aber in diesem Falle scheint es mir nicht notwendig, unseren Eifer so weit zu treiben. Dank des Himmels werden Baber und die Seinen alles allein erledigen, und ich werde mir als loyaler Engländer nicht die Hände mit einem Mord schmutzig machen müssen, den die öffentliche Meinung zwar verteufeln wird, obwohl er politisch notwendig ist.
Dafür werde ich mich Bhagavapurs im Namen Eurer Lordschaft bemächtigen. Ich werde mir die Verwirrung, die nach dem Mord an Corcoran entstehen wird, zunutze machen und die bevorstehende Ankunft der englischen Armee ankündigen. Ich kenne dieses Volk. Wenn Corcoran tot ist, wird keiner wagen, Widerstand zu leisten; all seine Vorhaben werden mit ihm untergehen. Was die Witwe und den jungen Erben betrifft, so werden sie, wie die Franzosen sagen, ‘im Interesse der Gemeinnützigkeit’ enteignet.
Ich hoffe, daß der nächste Bote den Erfolg unseres Unternehmens nach Kalkutta melden wird, und ich bitte Eure Lordschaft, die Bekundungen meines allergrößten Respekts zu empfangen.
Ihr loyaler, gehorsamer und
untertänigster Diener
George William Doubleface
(alias Scipio Rückert)
PS: Ich darf hoffen, daß Eure Lordschaft sich nicht zu sehr darüber wundert, daß ich den Kredit, den Mylord mir bei Smith, Henderson & Co. eingeräumt haben, auf eine Million Rupien erweitert habe. Eure Lordschaft wird sicher nicht unbekannt sein, daß die Nachforschungen jeder Art, die ich auf seinen Befehl hin durchgeführt habe, sehr teuer sind und daß von allen bekannten Waren der Verrat die teuerste ist, obwohl nicht die seltenste. Außer dem ehrenwerten Mister Baber und seinen Freunden habe ich fünfundzwanzig oder dreißig Hindugewissen kaufen müssen, und obwohl diese bäuerlichen Gewissen nicht ganz so hoch im Kurs stehen wie die christlichen der Herren Abgeordneten, so ist der Tarif doch noch hoch genug. Im übrigen wird Holkars Schatz, von dem der sogenannte Maharadscha nur einen unbedeutenden Teil verbraucht hat, die Kassen Ihrer Majestät wieder füllen.
Es ist sogar möglich – aber das ist nur eine Vermutung, deren Wert Eure Lordschaft selbst einschätzen möge –, daß die Regierung Ihrer Majestät nicht verpflichtet sein wird, alle ihre gegenüber Baber gemachten Versprechungen einzuhalten, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß sich der überraschte Corcoran verteidigen und dabei einige der Angreifer – und warum nicht Baber selbst – töten wird (was sowohl die Schuld wie den Gläubiger gleichzeitig verschwinden läßt); oder daß das Volk durch die Ermordung seines geliebten Oberhauptes so aufgebracht ist, daß es zu den Waffen greift und sich auf die Mörder stürzt. Letzteres vor allem, wenn die Witwe des sogenannten Maharadschas ihren Gatten überlebt und ihn rächen will. In diesem Fall wäre die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens noch ergiebiger, denn dann könnte keiner dieser Gentlemen seinen Anteil verlangen, und die englische Regierung würde nicht einmal zwanzigtausend Rupien Verlust haben, der von mir für die Anzahlung ausgegeben wurde. Es könnte sogar möglich sein, daß Sita den Ministern des verblichenen Maharadschas mißtraut und mich in Unkenntnis der zwischen mir und Baber bestehenden Beziehungen bittet, den Tod des Maharadschas an seinen Mördern zu rächen. In diesem Falle würde ich mich verpflichtet fühlen, die Mörder zu verfolgen und gnadenlos gegen sie vorgehen. Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr scheint mir diese letzte Lösung die glücklichste zu sein.
PSS: Just in dem Augenblick, da ich diesen langen Bericht beendet habe, erhebt sich in Bhagavapur ein großer Lärm. Ich stecke den Kopf zum Fenster hinaus, um zu sehen, worum es geht. Anfangs dachte ich, Baber hätte im Übereifer schon mit seinem Vorhaben begonnen. Das ist ein Irrtum. Das ganze Volk starrt nach oben, hebt die Arme zum Himmel und stößt Schreie aus wie beim Anblick eines übernatürlichen Wesens. Ich schaue ebenfalls nach oben und erblicke ein Luftschiff von merkwürdiger Form, das langsam im Park des sogenannten Maharadschas niedersinkt. Man wirft den Anker. Ich bin zu weit entfernt, als daß ich etwas Genaueres erkennen könnte; aber das Volk strömt durch die Gassen und schreit, daß die strahlende Gestalt Indras, Gott des Feuers, vom Himmel herabgestiegen sei, um seinen Bruder Wischnu, der sich in Bhagavapur in der Person Corcorans inkarniert habe, zu besuchen. Ich werde mir dieses Wunder jetzt aus der Nähe anschauen und erkunden, wer dieser Luftschiffer ist, der die Rolle des allmächtigen Indra spielt. Auf jeden Fall ist das ein Ereignis, das das Ansehen des sogenannten Maharadschas noch vergrößern wird.“
Scipio Rückert hatte sich nicht geirrt. Es war wirklich ein Luftschiff, das sich wie ein Raubvogel auf Bhagavapur herabließ und einen öffentlichen Aufruhr verursachte. In Sekundenschnelle wälzte sich das ganze Volk – von Respekt, Bewunderung und Neugier getrieben – nach dem Park des Maharadschas, um aus nächster Nähe dieses einzigartige und erstaunliche Wesen zu betrachten.
Aber in dem Augenblick, da die ersten in den Park strömen wollten, erschien Louison, die sich über den großen Auflauf gewundert hatte, und stellte sich den Hindus entgegen, als wolle sie sie nach dem Grund ihrer Hektik fragen. So schnell, wie sie gekommen waren, so schnell nahmen sie bei ihrem Anblick Reißaus, strömten in die Nebenstraßen, kletterten auf Bäume, weil für sie die Tigerin schrecklicher war als ihre Neugier. Das gab der Palastwache Gelegenheit Corcoran zu benachrichtigen.
Dieser hielt gerade in aller Ruhe seinen Mittagsschlaf. Schlaftrunken erschien er auf der Palastterrasse und rieb sich die Augen. Er sah etwas herabschweben, das einem kleinen, leichten, aber sehr stabilen Haus ähnelte, andererseits aber auch wieder einem Adler mit mächtigen Schwingen. Im Inneren des Luftschiffes sah er eine außergewöhnlich schöne Frau, die nach der letzten Pariser Mode gekleidet war. Ein junger Mann mit fröhlichem Gesicht hielt sie an der Hand, und in diesem jungen Mann erkannte Corcoran zu seiner größten Überraschung seinen Cousin und Freund Yves Quaterquem aus Saint-Malo, den berühmten Wissenschaftler und korrespondierendes Mitglied des Institut de France.
Die erste Handlung des Maharadschas war, sich in die Arme seines Freundes zu stürzen.
„Was für ein glücklicher Zufall!“ rief er.
„Zufall“, erwiderte der Neuangekommene und stieg aus der inzwischen gelandeten und verankerten Gondel. „Ganz und gar nicht, mein Lieber, wir machen unseren Hochzeitsbesuch in der Familie. Darf ich vorstellen, meine Frau.“ Und dabei wies er mit der Hand auf die junge Dame, die ihn begleitete.
„Bei der Göttin Lakshmi, der Sie wie aus dem Gesicht geschnitten sind“, sagte Corcoran und verbeugte sich artig, „wenn es kein Sakrileg ist, zu behaupten, Sie seien so schön wie Sita, aber das sind Sie wirklich, liebe Cousine…“
„Na, na“, meinte Quaterquem, „genug der Komplimente… Wo kann ich mein Gefährt lassen? Denn mir scheint, verehrter Maharadscha, daß du keine Remise besitzt, die groß genug wäre, um es unterzustellen.“
„Dein Luftschiff?“ sagte Corcoran. „Oh, ich denke, wir werden es im Waffenarsenal unterbringen. Scindiah kann den Eingang bewachen.“
„Vor allem mußt du wissen, mein lieber Freund und Cousin“, sagte Quaterquem, „daß ich gewichtige Gründe habe, um den inneren Mechanismus des Luftschiffes vor allen geheimzuhalten. Also, gib mir bitte nur blinde, stumme und taube Wächter.“
„Beim Barte meines Großvaters!“ rief Corcoran. „Scindiah ist der Wächter, der genau richtig dafür ist. Komm her, Scindiah.“ Der Elefant, der friedlich durch den Park getrottet war, näherte sich neugierig, betrachtete aufmerksam den Flugapparat, schien in dieser enormen Masse irgendeinen Sinn zu suchen, reckte nach kurzem Überlegen seinen Rüssel steil zum Himmel und starrte Corcoran durchdringend an.
„Scindiah, bester Freund“, sagte dieser, „du hörst und verstehst mich, nicht wahr? Dieser Gentleman, der hier vor dir steht, ist Monsieur Yves Quaterquem, mein Cousin und bester Freund. Du schuldest ihm Respekt, Gehorsam und Aufmerksamkeit. Das hast du begriffen, schön… Ja, also gut, er wird dir die Hand geben, und du reichst ihm zum Zeichen der Freundschaft den Rüssel.“
Scindiah tat es, ohne sich lange zu zieren.
„Und diese Dame“, fuhr Corcoran fort, „ist meine Cousine und zusammen mit Sita die schönste Frau des Universums.“
Scindiah kniete vor der Dame nieder, faßte behutsam mit seinem Rüssel ihre Hand und setzte sie sich als Zeichen der größten Ergebenheit auf seine Schulter.
„Und nun, da die Vorstellung beendet ist, erhebe dich, lieber Freund, nimm die Leine des Luftschiffs mit deinem Rüssel und zieh es in das Arsenal.“
Was in wenigen Minuten getan war, denn die Kraft des Elefanten entsprach seiner Intelligenz. Dann wurde er als Schildwache vor dem Eingang aufgestellt, mit dem Befehl, keinen in das Arsenal hineinzulassen.
„Und jetzt“, sagte Corcoran zu seinen Gästen, „werde ich euch Sita vorstellen, denn ich bin ebenfalls verheiratet, mein lieber Quaterquem, und meine Frau hat ein ganz niedliches Königreich mit in die Ehe gebracht, wie du siehst.“
Sita empfing ihre Gäste mit der größten Liebenswürdigkeit. Corcoran stellte sie ihr vor und erklärte die verwandtschaftlichen Beziehungen, die ihn mit Quaterquem verbanden.
„Aber jetzt ist es an dir, uns zu erzählen, wie du durch die Lüfte hierhergelangt bist“, sagte er zu ihm.
„Meine Geschichte ist etwas lang“, erwiderte Quaterquem, „deshalb werde ich sie abkürzen. Das letztemal habe ich dich in Paris gesehen, ich glaube in der Rue des Saints-pères, es muß vier Jahre her sein. Damals war ich schon auf der Suche, eine Möglichkeit zu finden, wie man Luftschiffe steuern kann. Ich war ein armer Teufel, lebte von nichts, aß Trockenbrot, trank Wasser aus den öffentlichen Brunnen, trug Schuhe mit durchgelaufenen Sohlen und kleidete mich mit einem Mantel, dessen Ellenbogen das nackte Elend sehen ließen. Doch ich gab nicht auf, suchte, überlegte, und schließlich gelang es mir, mein Problem zu lösen.“
„O heiliger Gott!“ rief Corcoran begeistert aus, „die Welt gehört dir! Noch nie hat jemand so Wichtiges für die Menschheit getan.“
„Beeile dich nicht, mir Beifall zu spenden“, sagte Quaterquem.
„Ich bin nicht der Wohltäter der Menschheit, für den du mich auf den ersten Blick halten magst… Sobald meine Entdeckung gemacht war und mich die Wissenschaft getrost entbehren konnte, verliebte ich mich in Alice, die du hier vor dir siehst und die uns lächelnd zuhört…, verliebte mich über beide Ohren und sogar darüber hinaus in sie; ich schockierte ihre Mutter, trotzte ihrem Vater, einem alten englischen Fossil und Brummbär, ich schlug meinen Rivalen bei ihr aus dem Felde, einen Mister Harrison oder Herrison, der in Kalkutta bis über die Ohren im Baumwollhandel steckte; ich verwirrte diesen armen Jungen so sehr, daß er mit einem Terzerol auf seinen zukünftigen Schwiegervater schoß, weil er glaubte, mich vor dem Lauf zu haben, seinen Gegner, was natürlich den alten Brummbär hinderte, noch etwas gegen unsere Vermählung zu haben; ja, und so machte ich die hier anwesende Miß Alice Hornsby zu meiner Gattin, und ich hoffe, sie hat es bis jetzt noch nicht bereut.“
„Oh, bester Yves, wo denkst du hin“, sagte Madame Quaterquem und schmiegte sich zärtlich an ihren Gatten.
„Ich dachte zuerst daran“, fuhr Quaterquem fort, „meine Entdeckung im Interesse der Menschheit zu veröffentlichen, aber, unter uns, das war eine törichte Idee, denn die Menschheit verdient eigentlich nicht, daß man sich mit ihr beschäftigt; doch ich hatte das unverschämte Glück, daß sich die Akademie der Wissenschaften über meine Entdeckung lustig machte und mich nach dem Gutachten eines ich weiß nicht welchen verknöcherten Gelehrten, der lange nach der Lösung desselben Problems gesucht hatte, ohne es allerdings zu finden, für verrückt erklärte. Zum Glück war ich schon verheiratet, und der alte Cornelius Hornsby, mein Schwiegervater, der mir seine Tochter nur im Tausch gegen das Patent meiner Erfindung geben wollte, weil er es in Frankreich und England ausbeuten wollte, schrie, daß ich ihn schamlos betrogen hätte, gab mir mein Wort zurück, verfluchte mich und schwor, seine Tochter nie mehr wiedersehen zu wollen.“
„Armer Vater“, sagte Alice.
„Diesmal waren Alice und ich unsere eigenen Herren. Alice, die einige Zeit sehr niedergeschmettert war, faßte bald wieder Mut, ich konstruierte mein Luftschiff und fertigte aus Angst vor Indiskretion die einzelnen Stücke in einem Dorf, hundert Meilen von Paris entfernt, selbst an; ich verschaffte mir Lebensmittel und alles übrige, was man zu einer langen Reise braucht, und reiste eines Abends mit Alice ab, entschlossen, in einem Land Zuflucht zu suchen, in dem es keine gelehrte Gesellschaft, geschweige denn einen Akademiker geben sollte.“
„Und du hast Bhagavapur gewählt“, unterbrach ihn Corcoran erfreut.
„Weder Bhagavapur noch irgendeine andere Hauptstadt eines zivilisierten Landes“, erwiderte Quaterquem. „Und zwar aus folgenden Gründen. Der Mensch, mein lieber Maharadscha, du weißt es besser als ich, ist ein blutrünstiges Tier, gehässig, mißgünstig, beschränkt, geizig, streitsüchtig, feige, verfressen, ausschweifend. Vor allem macht es ihm Spaß, seinen Nächsten zu unterdrücken. Ein Weiser hat gesagt: Homo homini lupus. Ich habe also eine Möglichkeit gesucht, nicht der Nächste von irgend jemandem zu sein, und deswegen bin ich mit dem Luftschiff um die Welt geflogen. Ich bin weder, wie du dir denken kannst, in Frankreich, England, Deutschland, ja überhaupt nicht auf einem Fleck in Europa gelandet. Als ich die Städte und Dörfer überflog, sah ich überall Soldaten, Beamte, Bettler, Gefängnisse, Krankenhäuser, Kasernen, Waffenarsenale und Manufakturen, und hinter alldem schleppte sich die Zivilisation dahin. Im asiatischen Teil der Türkei gefiel es mir recht gut. Das ist die schönste Gegend der Welt mit dem mildesten Klima auf dem Globus. Sehnsüchtig betrachtete ich die Bergkämme des Taurusgebirges, und ich war versucht, auf einem dieser Berggipfel, die nur den Adlern zugänglich sind, mein Haus zu bauen. Aber auch dort hätte ich Nachbarn gehabt. Afrika gefiel mir sehr. In den köstlichen Einsamkeiten, die Livingstone beschrieben hat, gegen jede Zivilisation geschützt durch die Herden von wilden Tieren, die den gewaltigen Urwald durchstreifen und sich in den blauen Fluten des Sambesi tummeln, hätten wir uns wie Adam und Eva ein irdisches Paradies errichten können. Eines Morgens, während wir diesem Gedanken nachhingen und mit unserem Gefährt über Zentralafrika hinwegflogen, entdeckten wir fünfhundert Fuß unter uns die kleine Stadt Segou, Hauptstadt eines Königreiches, das so groß war wie Frankreich, und wir sahen durch das Fernrohr ein rätselhaftes, erschütterndes Schauspiel, das ich wohl nie vergessen werde.
Sechstausend Sklaven beiderlei Geschlechts hatten mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen vor der Stadtmauer, die kreisförmig verläuft, Aufstellung genommen. Hinter ihnen stand dieselbe Anzahl Soldaten mit gezücktem Säbel. Sie warteten auf einen Befehl ihres Sultans, der von seinem Thron herab das Zeichen geben würde.
Und dann sprach dieser Neger. Ich hörte nicht seine Worte, aber ich sah seine Gesten, ich sehe sie noch heute. Bei diesen Worten, bei dieser Geste fielen mit einemmal sechstausend Säbel auf sechstausend Hälse herab und schlugen sechstausend Köpfe ab. Ich zitterte vor Schrecken. Alice wollte weiterfliegen, doch ich bat sie zu bleiben, denn ich erhoffte mir, daß diese Tragödie einen Ausgang nähme, die der göttlichen Gerechtigkeit entspräche (wenigstens wollte ich etwas zu dieser Gerechtigkeit beitragen). Mit Hilfe eines bestimmten Mechanismus setzte ich zur Landung an.
Ich hatte mich nicht geirrt. Nach dieser schrecklichen Metzelei gab es unter der zuschauenden Menge, die die Stadtmauer von Segou umzog, einen Augenblick des Entsetzens, dann bemächtigte sich ihrer ein rasender Zorn, man stürzte sich auf die Wächter des Sultans, massakrierte sie, packte ihn selbst, erwürgte vor ihm seine Frauen und seine Kinder, aus ihren Leibern baute man einen Turm, auf die Spitze dieses Turmes legte man ein Brett, auf das man den Sultan festnagelte, und zwar derart, daß sein Kopf zum Himmel gerichtet war und er lebend zur Beute der Raubvögel wurde. Ich muß dir gestehen, mein lieber Maharadscha, daß ein solcher Anblick mir ein für allemal die Lust nahm, mich an den Ufern des Niger, des Nil oder Sambesi niederzulassen.
Wir kamen also auf meinen ersten Gedanken zurück, der darin bestanden hatte, eine einsame Insel zu suchen. Aber wo sollte man diese kostbare Insel finden, vor allen Piraten, Seeleuten und Glücksrittern geschützt? Mit Ausnahme des Pazifischen Ozeans gab es keinen Fingerhut voll Erde, auf den die Europäer nicht irgendeine zwei- oder dreifarbige Flagge gepflanzt hätten.
Wir suchten lange. Unser Luftschiff flog acht oder zehn Tage über dem Indischen Ozean und Mittelasien; aber wir fanden keine Insel, keinen Felsen, der sicher genug schien, unser Glück zu beschützen. Von oben gesehen kam uns der Kontinent wie eine gewaltige Ebene vor, die nur von kaum wahrnehmbaren Erhebungen durchbrochen war, auf deren Grund sich einige Bächlein wie Indus, Ganges, Brahmaputra ergossen. Euer Vindhyagebirge, auf das ihr so stolz seid, die Gebirgszüge des Ghats, ja selbst der Himalaja machten auf uns tatsächlich den Eindruck von Feldmarken, die ein normannischer Bauer errichtete, um die Grenze seines Ackers zu kennzeichnen, und die er mit einem Schritt überklettert.
Schließlich erblickten wir, als wir in südöstlicher Richtung zurückflogen, diese herrliche Gruppe von großen und unzähligen Inseln, unter denen Jawa, Borneo und Sumatra die bekanntesten sind. Dort zog uns alles an, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Einsamkeit, das milde Klima. Die Menschen sind gesellige und wilde Tiere, die es lieben, sich zu Tausenden in einem Eckchen des Universums aneinanderzudrängen, um sich besser verschlingen zu können. Ich gerate in Wut, wenn ich diese Unfähigen sehe, die sich Staatsmänner nennen, wie sie ihr Volk in einen Käfig stecken, wo alles fehlt, Brot, Kleidung, Luft und Sonne, während fruchtbares Land ohne Bewohner bleibt.“
„Mein Freund“, unterbrach ihn Corcoran, „du hast recht, aber nun sag uns doch endlich, wo deine Insel liegt.“
„Meine Insel ist einzig in der Welt. Wenn du dir die Karte Ozeaniens betrachtest, so liegt sie etwa auf halbem Weg zwischen Australien und Kalifornien, etwa zweihundert Meilen südlich der Sandwichinseln.
Am fünfzehnten Juli letzten Jahres (dieses Datum ist mir deswegen im Gedächtnis geblieben, weil ich an diesem Tag immer die Gewohnheit hatte, meine Miete nicht zu bezahlen) fühlten wir uns von der vergeblichen Sucherei entmutigt. Mit einemmal erregte ein merkwürdiges Schauspiel unsere Aufmerksamkeit. Wir beugten uns über die Brüstung der Gondel und sahen etwa tausend Fuß unter uns einen amerikanischen Dreimaster in Seenot.
Die Oberfläche des Ozeans war ruhig; am Himmel war keine Wolke zu sehen, das Schiff hatte nichts von seiner Takelage verloren, trotzdem drehte es sich wild im Kreis, mit einer Geschwindigkeit, die von Minute zu Minute zunahm; dabei näherte es sich immer mehr einer Art von Strudel, aus dem der Wasserwirbel zu kommen schien – oder in ihn hineinfloß? Die Mannschaft und die Passagiere hatten sich aufgegeben, knieten an der Reling und schickten ein letztes Gebet zu Gott.
In der Tat, Gott allein hätte ihnen noch helfen können, denn die ganze Kunst der Seeleute, und wären sie noch so erfahren gewesen, hätte nichts gegen die blinde und unwiderstehliche Macht des Meeres ausrichten können. Der Strudel, in den das Schiff geraten, und der auf den Seekarten noch nicht vermerkt war, schien weitaus gefährlicher zu sein als der gefürchtete Malström vor Norwegens Küste. Das Zentrum des Wirbels war etwa tausendfünfhundert Meter von einer kleinen Insel entfernt, die ungefähr sieben oder acht Meilen im Durchmesser maß.
Plötzlich erscholl ein lauter Schrei von der Brücke des Schiffes. Der Dreimaster, der sich immer schneller drehte, war schließlich ins Zentrum des Strudels geraten und gesunken. Lange betrachteten wir voller Anteilnahme den Ort des Grauens; kein Überlebender zeigte sich. Das Meer hatte sich – Ironie die Schicksals – wieder beruhigt, als das Schiff gesunken war. Man hätte meinen können, ein böser Geist, der sich irgendwo versteckt hielt, hätte – zufrieden mit seiner Beute – dem Meer seine Ruhe wiedergegeben. Nach und nach fluteten die Wellen des Strudels in entgegengesetzter Richtung zurück und brachten all das wieder an die Oberfläche des Ozeans, was sie ihm eben genommen hatten. Der halbzerborstene Dreimaster wurde gegen die Felsklippen geschleudert…
Das also sahen wir, als wir uns über der Insel befanden; und wie zur Entschädigung für das eben Gesehene präsentierte uns die Natur in der Insel ihren ganzen Reichtum. Sie war, wie Fénelon sagte, gemacht, um den Augen zu gefallen. Wälder von Bananen, Orangen und Zitronen bedeckten ihren größten Teil. Der Rest war von einem Rasen überzogen, der viel feiner und dichter als der beste englische Rasen war. Inmitten der Täler flossen vier oder fünf Bächlein, deren Wasser so klar schimmerte, daß sich Tausende von Forellen darin tummeln mußten. Schließlich schien kein wilder oder zivilisierter Mensch je den Fuß auf unsere Insel gesetzt zu haben.
Ich sage unsere, denn wir zögerten nicht einen Augenblick. Seit dem ersten Augenschein hatte Alice entschieden, daß sie nur uns gehören könne. Der Strudel verteidigte sie gegen jeden Zugriff von der Meerseite her. Und was jene betrifft, die vom Himmel fallen, nun, so besaß glücklicherweise noch niemand außer mir das Geheimnis, Luftschiffe dorthin fliegen zu lassen, wo man wollte.“
Quaterquem war bis zu diesem Punkt seiner Erzählung gekommen, als plötzlich aus dem Waffenarsenal ein Schuß fiel; gleichzeitig wurde in Holkars Palast ein Tumult laut, der dem Luftschiffer das Wort abschnitt. Louison, die sich auf dem Teppich niedergelegt hatte und den Erzähler mit Neugier, in die sich Sympathie mischte, betrachtete, erhob sich plötzlich und spitzte die Ohren. Der kleine Rama machte ein mutiges Gesicht, als ob er sich schlagen wollte. Moustache erhob sich und setzte sich schützend vor Rama. Corcoran stand wortlos auf, nahm einen Revolver mit silbernem Griff, der an der Wand hing. Als er sah, daß Quaterquem ebenfalls nach einer Waffe griff, beruhigte er ihn und sagte:
„Mein Freund, bleibe bei den Frauen und wach über ihre Sicherheit. Ich laß dir Louison hier. Es ist kein Grund zur Aufregung, es wird einer der Palastwächter sein, der aus Versehen geschossen hat. Ich werde nach dem Rechten sehen…“
Von allen Seiten liefen Corcorans Bedienstete herbei, die einen bewaffnet, die anderen waffenlos, aber alle aufgeregt und einen unerwarteten Angriff befürchtend. Der Anblick des Maharadschas gab ihnen die Ruhe und Zuversicht wieder.
„Niemand darf entwischen!“ rief er. „Sugriva, laß die Tore des Palastes, des Parks und des Arsenals schließen!“
Gleichzeitig eilte er zum Tor des Arsenals. Dort hatte er Scindiah bekanntlich als Wächter zurückgelassen.
Erstaunt bemerkte er, daß Scindiah mit seinem Rüssel einen Europäer gegen die Mauer des Arsenals preßte und sich jener vergeblich bemühte, aus dieser etwas ungewöhnlichen Arretierung zu entweichen. Als er näher an den Gefangenen heranging, erkannte er Scipio Rückert.
Corcoran runzelte die Brauen. Sofort kam ihm der Verdacht wieder in den Sinn, den er anfangs gegen den Fotografen gehegt hatte.
„Was tun Sie hier?“ fragte er.
Rückert, vom Rüssel des Elefanten noch immer gegen die Mauer gedrückt, machte ein Zeichen, daß er keine Luft mehr bekäme. In Wahrheit wollte er nur Zeit für eine einigermaßen glaubhafte Antwort gewinnen.
„Laß ihn los, Scindiah“, sagte Corcoran. Der Elefant gehorchte, allerdings mit sichtbarem Bedauern.
„Herr Maharadscha“, sagte Rückert, „ich bitte meinen Fehler und meine bejammernswerte Neugier zu entschuldigen, aber ich bin schon dafür bestraft worden.“
Dabei lächelte er und versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Doch Corcoran war nicht in der Verfassung, sich mit einem Spaß abspeisen zu lassen.
„Meister Scipio Rückert“, sagte er mit schneidender Stimme, „was wollten Sie in dem Arsenal? Warum haben Sie die Weisung nicht befolgt? Durch welche Tür sind Sie eingedrungen?“
„Herr Maharadscha“, sagte der Spion, der sich zu beruhigen begann, „man sollte einem unglücklichen Zwischenfall nicht zuviel Bedeutung beimessen. Ich hatte Sie oft von dieser wunderbaren Bronzekanone reden hören, die mit Gold und Silber ausgelegt ist und die die Jesuiten 1644 für einen Vorfahren Holkars haben gießen lassen. Auf ihrem Lauf ist die Schlacht Ramas gegen Ravana, die der Engel gegen die Rakshasas dargestellt, wie sie der Dichter Valmiki beschrieben hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich nicht widerstehen konnte, in das Arsenal einzudringen, um die Gravuren auf dem Kanonenlauf zu kopieren. Ich hoffte, allen gelehrten Gesellschaften Europas eine Überraschung zu bereiten, indem ich meine Zeichnung veröffentlichen würde. Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie mit einer gewissen Eifersucht einen so wertvollen und seltenen Schatz bewachen würden.“
Diese Entschuldigung konnte wahr sein. Corcoran ging zu einem sanfteren Tonfall über.
„Aber wie sind Sie in das Arsenal eingedrungen? Und wer hat den Schuß abgegeben?“
Da tauchte plötzlich, wie dem Erdboden entwachsen, ein neues Gesicht auf und antwortete auf die englisch an Rückert gestellte Frage ebenfalls in einem etwas krausen Englisch, ohne gefragt worden zu sein:
„Das war ich, Mister, ich, Acajou, guter Neger.“
Der Neuankömmling war ein außerordentlich großer Neger von etwa sechs Fuß Höhe. Seine Arme waren so dick wie normale Beine und seine Beine so stark wie Säulen. Dabei hatte er ein ausgesprochen sanftmütiges Gesicht und zeigte beim Lachen zwei Reihen blendendweißer Zähne.
„Ich bewache Luftschiff, wenn Mister Quaterquem nicht da ist. Er war neugierig“, fügte er hinzu und zeigte auf Scipio. „Ich bin treu, er listig. Hat Revolverschuß im Arm.“
Tatsächlich tropfte aus Scipio Rückerts Arm Blut, aber er schien dem keine Bedeutung beizumessen; er wappnete sich gegen eine neue Gefahr, die aus einer ganz unverhofften Richtung kommen sollte.
„Nun, mein lieber Acajou“, sagte Corcoran, „erzähl mir doch mal, wie sich die ganze Sache zugetragen hat, da es keinen anderen Zeugen gibt als dich und den Elefanten, und mein armer Scindiah hat leider vom Himmel nicht die Gabe der Beredsamkeit mitbekommen.“
Acajou ließ sich nicht zweimal bitten. Mit der Zunge schob er aus seiner rechten Wange einen Kautabak, der ihm ein wenig Mühe bereitete, in die linke.
„Mister Quaterquem“, sagte er, „hat mir die Bewachung von Flugmaschine anvertraut. Ich mache rechtes Auge zu, als ich den da sehe, linkes aber mach ich weit auf. Er (dabei zeigte er auf Rückert) steigt über die Mauer vom Arsenal, macht irgendwelche Zeichen für jemanden auf der anderen Seite von der Mauer, springt in den Saal, durchsucht alles, schreibt was in sein Buch, zählt Bomben, Kugeln; ich bin sehr erstaunt, öffne auch rechtes Auge und seh ihn genau an. Er geht weiter, sieht Flugapparat, kommt auf mich zu und will vom ganzen Apparat Mechanik untersuchen. Das ist zuviel Neugier, ich zieh Pistole aus meinem Gürtel, ziele und schieß, peng! Er ist erschrocken, läuft weg, will durch die große Tür weglaufen, dort ist Scindiah, läßt ihn nicht. Scindiah ist Tier, keine Bestie.“
„Es ist gut, Acajou“, sagte Corcoran. „Hier sind zwanzig Rupien. Mister Quaterquem wird sehr zufrieden mit dir sein.“
Das Gesicht des Negers überzog sich mit einem strahlenden Lächeln. Er nahm die Rupien und kniete vor dem Maharadscha nieder, um ihm zu danken.
„Und Sie, Herr Scipio Rückert, Doktor an der Universität Jena, folgen mir an einen sicheren Ort, bis ich weiß, weshalb Sie die Mauern meines Arsenals überstiegen und dabei riskierten, über den Haufen geschossen zu werden.“
„Herr Maharadscha“, sagte der Spion mit schriller Stimme, „denken Sie an die Menschenrechte. Sie werden sich für diesen Machtmißbrauch gegenüber Preußen und England zu verantworten haben. Nehmen Sie sich in acht!“
„Freund Rückert“, erwiderte Corcoran, „ich habe mich Gott gegenüber zu verantworten, den ich mehr fürchte als alle Preußen und Engländer zusammen. Wenn Sie ein Ehrenmann sind, dann werden Sie nichts zu befürchten haben. Sollten Sie es nicht sein, verdienen Sie kein Erbarmen.“
In diesem Augenblick kam Sugriva, gefolgt von einigen Soldaten, die einen Hindu abführten, dem die Hände auf dem Rücken gebunden waren. Corcoran sagte zu ihm:
„Nimm Rückert gleich mit. Man soll ihn in einen Raum des Palastes sperren und zwei Schildwachen vor die Tür stellen Ich werde Louison beauftragen, den beiden bei der Bewachung behilflich zu sein.“
„Maharadscha, soll man die beiden Gefangenen voneinander trennen?“
Rückert, der bis jetzt die Fassung bewahrt hatte, schien zum erstenmal verwirrt zu sein. Mit den Augen machte er dem Hindu ein Zeichen, ohne Zweifel, um ihn zum Schweigen zu bewegen. Doch das Zeichen war überflüssig gewesen, der Hindu hatte keine Miene beim Anblick Rückerts verzogen. Corcoran jedoch war der versteckte Blick aufgefallen.
„Wo hast du denn diesen Mann aufgegriffen?“ fragte er Sugriva.
„Herr, nicht ich habe ihn ertappt, das war Louison. Ich befolgte sofort Ihren Befehl und ließ durch Soldaten den Park abriegeln und das Arsenal umringen, als ich einen Mann bemerkte, der zu Pferd auf dem Weg nach Bombay davongaloppierte. Diese Eile erregte meinen Verdacht. Wenn man ein ruhiges Gewissen hat, braucht man sich doch nicht so eilig aus dein Staub zu machen. Ich habe ihm zugeschrien, er möge stehenbleiben. Da er aber zu Pferd war und ich zu Fuß, hätten wir seine Spur sicher verloren, wenn nicht plötzlich Louison erschienen wäre.“
„Also doch, Mademoiselle Louison!“ unterbrach ihn der Kapitän mit geheuchelter Strenge. „Ich hatte dich doch gebeten, im Palast Wache zu halten.“
Die Tigerin erhob sich auf die Hinterpfoten, legte die Vorderpfoten auf die Schultern ihres Herrn und rieb, als wolle sie um Vergebung heischen, ihren feinen Kopf an dem des Maharadschas.
„Herr“, fuhr Sugriva fort, „Louison hatte kaum gesehen, worum es sich handelte, als sie mit dreißig oder vierzig Sätzen dem Reiter nachgesetzt hatte und ihn vom Pferd holte. Sie hat ihn mit ihren Tatzen zu Boden gedrückt und festgehalten, bis wir die Stelle erreicht hatten.“
Doktor Rückert und der gefangene Hindu, die diesen Bericht mit großer Aufmerksamkeit vernommen hatten, schienen beruhigt, als sie sahen, daß Sugriva nicht mehr zu berichten hatte.
„Was hast du für einen Grund gehabt, diesen Mann zu verdächtigen?“ fragte Corcoran. „Er war zu Pferd, und er galoppierte. Das ist doch kein Verbrechen.“
„Großer Maharadscha, Antlitz Brahmas“, sagte da der gefangene Hindu mit untertäniger Stimme, „Labsal der Erde, Inkarnation Wischnus, erbarmt Euch meiner. Ihr gehört nicht zu denen, die die Unglücklichen unterdrücken und die Schwachen quälen. Beim göttlichen Schiwa, Herr, ich bin unschuldig.“
„Wer bist du?“ fragte Corcoran.
„Herr, ich heiße Vibisbana und bin ein armer Parse aus Bombay, der mit Baumwolle handelt. Ein unglückliches Schicksal hat mich nach Bhagavapur gehen lassen, wo ich Baumwolle für meine englischen Kunden kaufen wollte. Verflucht sei der Tag, da ich in Euren Staat gekommen bin. Nun bin ich das Opfer häßlicher Verdächtigungen geworden!“
Das vor Gram zerfließende und resignierte Gesicht des armen Mannes ließ einen schier vor Mitleid vergehen.
„Hat man irgend etwas Verdächtiges bei ihm gefunden?“ fragte Corcoran.
„Nein, Herr. Nichts außer seiner Kleidung und etwas Geld.“
„Nun gut, man soll ihn freilassen und ihm sein Pferd zurückgeben.“
Sugriva und die Soldaten führten den Befehl des Maharadschas sofort aus.
Ein freudiger Schein verklärte das Antlitz des gefangenen Hindus. Selbst Rückert, obwohl er behauptet hatte, ihn nicht zu kennen, schien über seine Freilassung erleichtert.
Doch da änderte ein neuer Zwischenfall die Entscheidung des Maharadschas.
Der kleine Moustache trottete mit einemmal herbei und hatte in seinem Maul einen Brief, der nach europäischer Art versiegelt war. Solche Briefe waren in Bhagavapur selten, so daß sich der Maharadscha wunderte. Er nahm den Brief, streichelte Moustache, besah sich die Adresse, erkannte die englische Anschrift und las verwundert die Worte:
„… an Lord Henry Braddock, Generalgouverneur von Hindustan“.
„Na, Fürst, was habe ich gesagt?“ rief Sugriva. „Dieser Mensch muß das Papier hinter einen Busch auf die Straße geworfen haben, als ihn Louison aufhielt, und Moustache, der seiner Mutter folgte, hat es beim Spielen gefunden.“
„Das ist ja seltsam!“ rief Corcoran aus.
Er betrachtete die Unterschrift: „Doubleface“ (alias Scipio Rückert). Dann begann er mit der Lektüre. Es war der Brief, den wir soeben zum besten gegeben hatten. Währenddessen überlegte der Doktor, wie er sich diesmal aus der Schlinge winden könnte. Als Corcoran den Brief zu Ende gelesen hatte, befahl er:
„Legt ihm Eisen an Hände und Füße. Werft ihn in den Kerker. Wir werden beratschlagen, was mit ihm geschehen soll.“
„Was sollen wir mit dem Boten machen?“ fragte Sugriva.
„Du bist also Baber?“ fragte ihn Corcoran.
„Ja, Herr, das bin ich“, antwortete der Gefangene gleichmütig. „Aber erinnert Euch, daß der großzügige Löwe nicht die Ameise vernichtet, weil sie ihn in die Fußsohle gebissen hat… Wenn Ihr mich begnadigt, kann ich Euch von Nutzen sein.“
„Du hast ganz recht“, antwortete Corcoran. „Du kannst noch zwei oder drei Herren verraten, nicht wahr? Ich werde mich daran erinnern.“
Man führte die beiden Gefangenen weg, und Corcoran betrat nachdenklich den Palast.
„Nun, was gab es denn für ein großes Ereignis, daß dich zur Pistole greifen ließ?“ fragte Quaterquem.
„Es war nichts“, erwiderte Corcoran, der die beiden Frauen nicht beunruhigen wollte. „Ein Wächter stand unter Opiumrausch und gab falschen Alarm. Doch du“, fuhr er fort, „woher hast du denn diesen Acajou, von dem du uns noch nichts erzählt hast und den ich soeben erst getroffen habe?“
„Das ist das Ende meiner Geschichte“, antwortete Quaterquem, „und ich wollte es euch gerade erzählen, als uns der Schuß unterbrochen hat.
Ihr erinnert euch an den Schiffbruch, dessen Zeuge Alice, und ich geworden sind. Dieser Schiffbruch schien uns wie ein Wink des Himmels, den wir nicht mißachten sollten. Wir warfen auf der Insel Anker und stellten meine Flugmaschine unter einem riesigen Laubbaum ab. Dann machten wir uns auf den Weg zum Ufer, auf das das Schiff geworfen worden war. Dort lag es wie ein gestrandeter Wal.
Die Mannschaft war eine Beute des Meeres geworden, aber wir fanden eine ganze Menge Nahrungsmittel, die so sorgfältig in Eichenkisten verpackt waren, daß ihnen das Salzwasser nichts hatte anhaben können, dazu fünfhundert Fässer Bordeaux. Bei diesem Anblick zweifelte ich nicht länger daran, daß uns die Vorsehung dazu bestimmt hatte, unsere Zelte auf dieser Insel aufzuschlagen, und mit Zustimmung Alices, die ihr aus Bescheidenheit nicht ihren eigenen Namen geben wollte, taufte ich die Insel auf den Namen ‘Quaterquem’.
Durch ein besonderes Glück war die Schiffsladung, die uns beschert wurde, nicht nur die wertvollste, die wir uns wünschen konnten, sondern es war uns auch schlichtweg unmöglich, ihren Eigentümer ausfindig zu machen, denn das Meer hatte die Seite, an der der Name des Schiffes gestanden hatte, vollständig zerstört, ebenfalls waren alle an Bord befindlichen Papiere vernichtet worden. Ich war noch damit beschäftigt, ein Inventar unserer Schätze aufzustellen, als ich Alice einen Schrei ausstoßen hörte. Hinter mir sagte eine Männerstimme in feinstem Englisch zu ihr: ‘Wie geht es Ihnen, Madame?’
Wir waren sprachlos vor Überraschung. Ich drehte mich um, erblickte einen Mann mittleren Alters, in Aussehen, Haartracht, Kleidung ganz wie ein protestantischer Prediger wirkend, gefolgt von einer noch schönen Frau, allerdings in einem Alter, da die Schönheit sorgfältige Pflege verlangt, und nach der Mode von 1840 gekleidet. Hinter ihnen kamen, der Größe nach geordnet, neun Kinder im Alter von drei bis fünfzehn Jahren: sechs Mädchen und drei Jungen.
Das war die Bevölkerung der Insel.
Freiweg – ich war nicht gerade glücklich, auf sie zu treffen. Wie auch! Ich hatte eine Reise um die Welt gemacht, um eine unzugängliche Insel zu finden; ich finde sie, und bei der ersten Gelegenheit treffe ich elf große und kleine Engländer: Wahrhaftig kein Grund, um vor Glück zu vergehen. Alice lachte über meine betroffene Miene. Im Grunde war sie nicht unglücklich darüber, Landsleute zu treffen.
‘Sir’, sagte ich zu dem Engländer, ‘auf welchem Weg sind Sie denn auf die Insel gelangt?’
‘Oh, auf dem Seeweg. Wir erlitten Schiffbruch, meine liebe Cecily und ich, am 15. Juni 1840, sechs Monate nachdem mir Gott die Güte erwiesen hatte, sie als meine rechtmäßige und vor Gott angetraute Gattin heimzuführen. Wir waren nach Ozeanien gekommen, um die Wilden von den Fidschiinseln mit den Segnungen der Heiligen Schrift bekannt zu machen; zu diesem Zweck führte ich eine Ladung Bibeln mit an Bord. Aber unser Schiff Star of Sea geriet in den Strudel, den Sie sicher schon gesehen haben, und wir, Cecily und ich, entgingen allein dem Tod. Die übrigen Passagiere und Mitglieder der Besatzung, von den Bibeln ganz zu schweigen, liegen auf dem Meeresgrund. Glücklicherweise haben wir nicht den Mut verloren; wir haben zweihundert bis dreihundert Acres Land gerodet und bebaut, uns ein Haus errichtet, dem ich alle zwei Jahre ein kleines hinzufüge, da ich durch die Segnungen des Allmächtigen voller Freude miterleben darf, daß meine Familie alle zwei Jahre mit einem neuen Sproß bedacht wird. Wenn ich schließlich meinen Mädchen Männer und meinen Jungen Frauen geben könnte, würde ich mich glücklich wie ein alttestamentarischer Patriarch fühlen. Sind Sie ebenfalls als einziger dem letzten Schiffbruch entgangen?’
‘Wir haben den Weg durch die Lüfte genommen’, antwortete Alice.
Und sie erklärte, wer wir seien und was wir suchten. Der Prediger kniete mit seiner ganzen Familie nieder und dankte dem Himmel.
‘Aber wir werden wieder abreisen’, erklärte ich. ‘Ich möchte, daß meine Insel unbewohnt ist.’
‘Das höre ich nicht ungern’, erwiderte der Engländer, ‘auf wieviel schätzen Sie denn meine Insel?’
‘Ich will sie nicht kaufen. Behalten Sie sie. Wir werden abreisen.’
‘In Gottes Namen!’ rief er. ‘Nehmen Sie sie umsonst, wenn Sie wollen, doch führen Sie uns von hier weg. Cecily hat seit zwanzig Jahren keine Tasse Tee mehr getrunken und will nicht eine Minute länger hierbleiben.’
Sein Vorschlag kam mir sehr gelegen.
‘Nun’, sagte ich zu ihm, ‘dürften hunderttausend Franc genug für Ihre Insel sein?’
‘Hunderttausend Franc!’ rief er entzückt aus. ‘O Sir, mögen Sie alle Segnungen des Himmels treffen. Wann reisen wir ab?’
‘Lassen Sie mich erst einmal meinen neuen Besitz in Augenschein nehmen. Wir werden morgen abfliegen. Ich werde Sie in Singapur an Land setzen, einverstanden?’
‘Es verlangt mich ganz ungemein danach, die Times und die Morning Post zu lesen’, sagte der Engländer.
‘Oh!’ rief Cecily vor Entzücken, ‘wir werden endlich unseren Fünfuhrtee mit Sandwiches nehmen können.’
Beim Gedanken an diese Herrlichkeiten leckten sich die kleinen Engländer genüßlich die Lippen.
‘Ich würde mich glücklich preisen, wenn Sie für heute abend unsere bescheidene Gastfreundschaft genießen würden’, sagte der Vater.
Dabei wies er uns den Weg zu seinem Anwesen. Sein Haus bestand nur aus einem Erdgeschoß, sehr einfach gebaut, aber groß genug und von mehreren kleinen Hütten umgeben, die schlicht und ansprechend aussahen. Auf den ersten Blick erkannte ich, daß ich keinen schlechten Tausch machen würde.
Das Diner war sehr gut und abwechslungsreich; vor allem der Wein war vorzüglich, denn das Meer tat alles, um den Keller des Missionars mit den edelsten Speisen und Getränken anzufüllen, indem es alle Schiffsladungen der untergegangenen Schiffe an die Insel spülte. Die Unterhaltung war fröhlich und angeregt; unsere Gäste freuten sich, weil sie die Insel verlassen, und wir freuten uns noch mehr, weil wir uns auf ihr einrichten würden. Alice erzählte dem Reverend, was sich seit zwanzig Jahren in der Welt zugetragen hatte.
‘Ihre Majestät, Königin Victoria, lebt noch?’ fragte der Engländer. ‘Und Seine Hoheit, der Duke of Wellington! Und Sir Robert Peel? Und Vicomte Palmerston? Sind die Whigs oder die Torys an der Macht?’ Und so weiter.
Endlich hörte die Fragerei auf, und wir konnten uns schlafen legen. Am nächsten Morgen flog ich mit der ganzen Familie nach Singapur und setzte sie, von all ihren guten Wünschen und Danksagungen begleitet, am Kai ab. Außerdem übergab ich ihnen einen schönen Scheck über hunderttausend Franc. Einige Tage später schiffte sich Reverend Smithson mit Frau und Kindern nach einer der neuguineischen Inseln ein, um den Papuas das Evangelium beizubringen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der mir Reverend Smithson seine Insel abgetreten hatte, deren einziger Eigentümer er ja war, ohne dabei Steuern an die Regierung zu zahlen, auch nicht an die Verwaltung, die Armee, die Polizei, weder für Gas noch für den Straßenbau, für die Bepflasterung der Bürgersteige, noch für sonst einen anderen Gegenstand, ob nun nützlich oder unnütz, diese Selbstverständlichkeit machte mich doch etwas nachdenklich.
Woran hatte es diesem braven Mann gefehlt? Hatte er nicht genug, um sich satt zu essen, ein mildes Klima, fruchtbaren Boden, perfekte Sicherheit, grenzenlose Freiheit und eine wohlgeratene Familie, die sich fleißig vermehrte? Konnte er nicht tagsüber Kricket und nach Sonnenuntergang Whist spielen? Was ihn wahrscheinlich von seiner – meiner – Insel verjagte, das war die Langeweile. Er konnte es nicht mehr ertragen, nur lauter kleine Smithsons um sich zu sehen, er konnte die Gespräche von Mistreß Smithson nicht mehr hören, er hatte nicht einmal einen Schatten von einem Nachbarn, den er lieben oder hassen konnte. Und zum Leben braucht der Mensch wahrscheinlich Liebe oder Haß. In einem Wort, er ähnelte einem Fürst, der darunter litt, daß man ihm bedingungslos gehorchte, und der einmal zu seinem Ersten Minister gesagt haben soll: ‘Widersprich mir doch einmal, wenn du kannst, damit ich merke, daß wir zwei sind.’
Nun, wir richteten uns auf der Insel häuslich ein, aber ich muß gestehen, daß meine liebe Alice, die eine ausgezeichnete Musikerin ist, die voller Geist steckt, voller Güte, Nachsicht und Witz, nicht das geringste Talent zum Kochen besitzt.
Da sie einmal mehr als eine Million Pfund Mitgift erwarten würde, hatte man ihr nicht beigebracht, daß die Steaks nicht schon gebraten an den Bäumen wachsen. (Sag nicht nein, meine Liebe; doch das ist die Erziehung, die man auch den reizendsten Mädchen in Frankreich angedeihen läßt, und Gott allein mag wissen, wohin das einmal führen soll!) Aus diesem Grunde brauchte ich jemanden, der mich bediente. Und so kam mir eine Idee.
Gewöhnliche Domestiken in meine Dienste zu nehmen und sie auf die Insel zu schaffen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Niemand hätte sich hier einsperren lassen zu der Bedingung, nur mit meiner Erlaubnis und Hilfe wieder von dem Eiland wegzukommen. Ich brauchte eine Familie, die bedroht genug war, damit diese Eintönigkeit ihr als eine Wohltat erscheinen mußte; andererseits mußte diese Familie so ehrenwert sein, daß sie ihren Wohltäter nicht vergaß. Ich suchte also unter den zum Tode Verurteilten nach dem Phönix, den ich brauchte.
Im Schnitt kann man damit rechnen, daß der Henker auf der Oberfläche unseres schönen Globus am Tag etwa fünfhundert Köpfe abschlägt. Es mag mehr oder weniger geben, je nach der Jahreszeit, im Schnitt dürfte es etwa diese Zahl sein. Natürlich sind darin alle diejenigen enthalten, die man hängt, rädert, vierteilt oder pfählt, allerdings nicht jene, die den Tod auf dem Schlachtfeld beim Klang der Trommeln und Schalmeien finden, wobei sie meist überflüssigerweise noch schreien: ‘Es lebe der König!’ oder ‘Es lebe der Großherzog!’
Nun, von diesen fünfhundert armen Teufeln haben sicher ein Zehntel nichts getan, um den Strick, den Pfahl oder die Guillotine zu verdienen, da gebt ihr mir wohl recht. Und das ist noch wenig, wenn man bedenkt, daß die französische Justiz (nach ihren eigenen Worten) die einzige Justiz in der Welt ist, die sich bei einem Urteil noch nie geirrt hat.
Es handelte sich also darum, einen von diesen fünfzig Unschuldigen herauszufinden und ihm das Leben zu retten. So bestieg ich nach wenigen Tagen erneut mit Alice mein Luftschiff, um mir irgendwo in der Welt einen unschuldig zum Tode Verurteilten zu suchen.“
„Aber“, sagte Quaterquem, „wenn ihr den Rest der Geschichte hören wollt, so lassen wir lieber Acajou kommen.“
Der Neger erschien auch sofort, und auf eine Aufforderung Quaterquems hin fuhr er fort, die Geschichte aus seiner Sicht zu vollenden. „Ich bin Neger, Sohn von Negern, Großvater war König im Kongo. Vater wurde von Weißen geraubt und ausgepeitscht, alles wegen Baumwolle und Kaffee. Acajou ist guter Neger, geboren in Baton Rouge in Louisiana. War mit dem Leben zufrieden. Pökelfleisch in der Woche, Rippchen am Sonntag. Dreimal im Monat Peitschenhiebe; ich lache über Peitsche, hab guten harten Rücken, harte Haut, Geduld, und tanze jeden Abend bei schönem Wetter.
Mit sechzehn bin ich sehr zufrieden. Hab Nini gesehen. Liebe Nini. Trag den Korb von Nini, den Eimer von Nini, den Besen von Nini. Krieg die Erlaubnis, ein Haus für Nini zu bauen. Tanze ab jetzt allein mit Nini, schlag mich mit meinen Freunden wegen Nini, boxe wegen Nini, hab ein waches Auge auf Nini, bring ihr Zucker und Kaffee, tanze auf Händen, um Nini lachen zu machen. Bete immer zu Gott, damit er mir Nini zur Frau gibt.
Nini aber ist ein Luder. Nini sagt, ich langweile sie. Schäkert mit Sambo, lobt Sambo, läßt sich Geschenke machen von Sambo. Ich bin sehr zornig. Schenke Nini hübsches Kleid, und sie geht weg von Sambo. Frage Nini, ob sie mich heiraten will. Krieg Erlaubnis, Nini zu heiraten. Heirat findet statt. Bin glücklich. Nini ist Frau von Acajou, streichelt Acajou, ist das Glück von Acajou. Ich danke Gott dafür, daß nicht Sambo Acajou ist.
Aber Sambo ist finster, sagt nichts. Denkt vielleicht viel. Bereitet Verrat vor. Denunziert Acajou bei seinem Herrn, der läßt Acajou dreimal in der Woche auspeitschen. Acajous Haut ist gestreift wie ein Zebra. Acajou ist an allem schuld. Lahmes Pferd, Acajou. Jagdhund verschwunden, Acajou. Silber gestohlen, Acajou. Immer und alles Acajou.
Großes Unglück geschieht. Herr von Acajou wird ermordet im Wald gefunden. Wer hat das getan? Sambo beschuldigt Acajou. Acajou ist guter Neger, aber nicht schlau, weiß sich nicht zu verteidigen. Weiße kommen in Trupps, zweihundert, dreihundert zu Pferd, Revolver im Gürtel. Hören Sambo. Glauben Sambo. Rufen Richter Lynch. Packen Acajou, fesseln Arme und Beine, legen Schlinge um seinen Hals, sagen, soll Wahrheit gestehen. Acajou ist guter Neger, nicht bösartig, kann nichts sagen, wird zum Tod verurteilt, hat großen Kummer, weint, bittet zu gutem Gott, denkt an Nini, die kleines Kind von Acajou ernähren muß. Umarmt Nini, sagt ade zu Erde, verflucht schlimmen Sambo, sagt letzten Wunsch und denkt daran, daß er bald hängt und mit den Beinen zappelt.
Plötzlich hört er schreien: Feuer! Feuer! Die Weißen rennen weg. Da fällt der Engel vom guten Gott vom Himmel, Mister Quaterquem, schneidet Strick durch, läßt Acajou in die Gondel klettern und lacht in fünfhundert Fuß Höhe über Richter Lynch. Die Weißen kommen zurück, sehen zerschnittenen Strick, werden wütend, schießen auf Flugmaschine. Acajou lacht aus vollem Hals, ist gerettet. Mister Quaterquem kommt in der Nacht zurück, nimmt Nini und Zozo, das Kind von Nini und Acajou, mit. Acajou küßt die Füße von Mister Quaterquem und sagt, daß er Mister Quaterquem bis ans Ende von Welt folgen wird. Nini folgt Acajou, und Zozo folgt Nini. Mister Quaterquem bringt Acajou, Nini und Zozo zu seiner Insel. Acajou ist sehr zufrieden. Er arbeitet, gräbt die Erde um, striegelt Ponys von Mister Quaterquem. Nini macht die Küche – gute Küche –, Nini ist Feinschmecker. Zozo taucht seine Finger in die Sauce und schmiert sich Backen voll mit Marmelade. Nini ist sehr zufrieden, nennt Zozo kleinen Nascher und bewundert Zozo. Acajou und Nini arbeiten drei, vier Stunden am Tag, nicht mehr. Werden nie ausgepeitscht. Mister Quaterquem nimmt Acajou auf Reisen mit. Acajou bewacht Luftschiff. Würde sein Leben geben für Mister Quaterquem.“
Nach diesem treuherzig vorgetragenen Bericht, der mehr als einmal die Anwesenden zum Lachen brachte, zogen sich Alice und Sita in ihre Gemächer zurück. Corcoran hatte den schönsten Teil von Holkars Palast für seinen Freund vorbereiten lassen. Als sich auch Quaterquem erhob, um seine Gattin zu begleiten, hielt ihn der Maharadscha am Arm zurück und sagte: „Bleib noch einen Moment, ich brauche deinen Rat. Nimm dir eine Zigarre und hör mir zu.“
Dann erzählte er ihm, was an diesem Tag passiert war, und zeigte ihm den Brief von Doubleface an Lord Henry Braddock.
„Was würdest du an meiner Stelle tun?“ fragte er.
„Wenn ich an deiner Stelle wäre“, antwortete sein Freund, „würde ich dem Glück entsagen, die Menschen regieren zu wollen; ich würde die fünfzehn Millionen Rupien – das ist doch die Summe, die dir dein verstorbener Schwiegervater vermacht hat – gegen Francs wechseln und auf einer Bank gut verzinsen lassen; ich würde fünf- oder Sechshunderttausend Rupien als Taschengeld behalten; dann würde ich meinen Freund Quaterquem bitten, mir die Hälfte seiner Insel und drei Plätze in seinem Luftschiff abzutreten, einen für Sita, einen für mich selbst und einen für den kleinen Rama; ich würde mich in würdigen und bewegten Worten von meinen loyalen und treuen Untertanen verabschieden, schließlich würde ich vor meiner Abreise die Republik ausrufen, um den Engländern ein Kuckucksei ins Nest zu legen.“
„Das würde ich tun, wenn ich Quaterquem wäre, aber ich bin Corcoran.“
„Ja, ich weiß, du bist ein Corcoran und ein dickschädliger Bretone dazu, und du hast dir in den Kopf gesetzt, den Engländern die Tour zu vermasseln. Ich verstehe diese Idee, oh, ich verstehe sie nur zu gut…, aber wenn du sie dir schon in den Kopf gesetzt hast, warum bittest du mich dann um einen Vorschlag?“
„Hast du jemals die Geschichte Alexanders des Großen gelesen?“ fragte ihn Corcoran.
„Ein Eroberer, von dem alle Historiker sprechen, den alle Dummköpfe und großen Räuber bewundern und der wie ein Leuchtturm durch die Finsternis der Antike strahlt.“
„Und Dschingis-Chan und Tamerlan?“
„Zwei kühne Gesellen, die mehr Köpfe haben rollen lassen, als ein Bischof in dreitausend Jahren hätte segnen können, und die sich dadurch unsterblichen Ruhm erworben haben.“
„So ist es. Aber ich, Corcoran, gebürtig aus Saint-Malo, Nationalität Franzose, Beruf Seemann, zufällig an die Küste von Malabar verschlagen und, ich weiß nicht wie, Herrscher über zwölf Millionen Menschen, ich will Alexander, Dschingis-Chan und Tamerlan nicht nur gleichen, sondern sie übertreffen; ich will, daß man von meinem Säbel genauso spricht wie von ihren Krummschwertern; ich will hundert Millionen Indern die Freiheit bringen, und wenn es mich das Leben kostet, ich werde glücklich sein, ruhmreich zu enden, indes so viele Menschen vor Hunger sterben, am Fieber, am Elend, an der Cholera, der Gicht, an Geschwüren.
Und um gleich damit anzufangen: Was soll ich mit Mister George William Doubleface machen, der mir im Auftrag der englischen Regierung nachspioniert und mich durch seinen würdigen Freund Baber ermorden lassen will?“
„Vor allem muß man sie miteinander konfrontieren, und wenn die Gegenüberstellung zum Schuldbeweis führt, nun wohl, lieber Freund, der Galgen ist, wie du weißt, nicht wegen seines schönen Anblicks gemacht!“
„Du hast recht.“ Corcoran schlug auf einen Gong.
„Ali, sag Sugriva, er möge die Gefangenen hereinführen.“
Ali gehorchte. Doubleface und Baber betraten nacheinander den Saal, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und von zwölf Soldaten gefolgt. Doubleface wahrte seine unbewegliche Haltung; Baber, der viel untertäniger wirkte, schien dennoch damit zu rechnen, sein Leben zu verlieren.
„Doubleface“, sagte der Maharadscha, „Sie kennen das Schicksal, das Sie erwartet?“
„Ich weiß, daß ich in Ihrer Hand bin“, erwiderte der Engländer.
„Sie kennen dieses Schreiben?“
„Wozu leugnen? Der Brief ist von mir.“
„Ich denke, Sie wissen, wie Verräter, Spione und Mörder bestraft werden?“
Der Engländer verzog keine Miene.
„Mit diesem Brief“, fuhr Corcoran fort, „könnte ich Sie pfählen lassen und wie einen Hund zu den Abfällen werfen, doch ich werde Ihnen die Begnadigung anbieten…, zu einer Bedingung selbstverständlich.“
„Ich hoffe“, sagte Doubleface, wobei er sich verbeugte, „daß diese Bedingung eines Gentlemans nicht unwürdig ist.“
„Ich weiß nicht“, entgegnete der Maharadscha, „was eines Gentlemans, wie Sie es sind, unwürdig ist oder nicht; aber hier ist meine Bedingung. Sie werden mir das Original der Instruktionen Lord Braddocks an Sie aushändigen oder, falls dieses Original nicht mehr existiert, eine getreue Kopie davon ausstellen, die Sie durch eine eidesstattliche Erklärung und Ihre Unterschrift beglaubigen.“
„Das heißt, daß Sie mir unter der Bedingung das Leben schenken, daß ich meine Regierung bloßstelle. Ich weigere mich auf das entschiedenste.“
„Wie Sie wollen. Es ist Ihre Entscheidung. Sugriva, laß den Galgen vorbereiten.“
Sugriva rannte eilig aus dem Saal.
„Und nun zu uns beiden, verehrter Baber“, sagte Corcoran, an den Hindu gewandt. „Wie du siehst, handelt es sich hier um ernste Sachen. Sei aufrichtig, wenn du willst, daß ich dich laufenlasse.“
„Herr“, sagte Baber und warf sich zu Boden, „die Aufrichtigkeit ist meine Haupttugend.“
„Das läßt ja auf hervorragende Nebentugenden schließen“, bemerkte Corcoran, „aber vor allem sollst du wissen, was der Engländer, dein Komplize, gegen dich vorbereitet hat, wenn es dir gelungen wäre, mich zu ermorden.“
Und er las ihm die Passage aus Doublefaces Brief laut vor, in der sich dieser bereit erklärte, auch Baber aus dem Weg zu räumen, falls das nötig sei, wenn der Maharadscha ermordet worden wäre.
Diese Stelle brachte das Faß zum Überlaufen. Die Augen des Hindus wurden zu Schlitzen.
„Du siehst, wie umsichtig dieser Gentleman mit dir verfährt“, meinte Corcoran. „Sprich jetzt.“
„Herr, unerschöpfliches Licht des Ewigen!“ schrie Baber außer sich. „Leuchtendes Abbild Indras, dieser Mann hat mich versucht. Auf seinen Rat hin habe ich dreißig meiner alten Kumpane aus früheren Zeiten um mich versammelt, die vor der ungewissen Gerechtigkeit der Menschen in die Wälder und Einöden fliehen mußten. In zwölf Tagen wollten wir in den Palast eindringen. Unter dem Vorwand, Manöver abzuhalten, hätte sich ein englisches Armeekorps unter dem Kommando von Generalmajor Barclay fünfzehn Meilen von der Grenze entfernt aufgehalten und wäre sofort nach Bekanntgabe Eures Todes einmarschiert. Mehrere Zemindars, die sich durch einen Geheimvertrag mit den Engländern verbunden hatten, haben nur darauf gewartet, in Bhagavapur einzufallen und sich Sitas, Eures Sohnes und Eures Schatzes zu bemächtigen. Ihr wißt alles. Ich bitte Euch nur, mir eine Gnade zu gewähren, Maharadscha. Bevor ihr mich hängt, laßt diesen Engländer hängen.“
„Du verabscheust ihn also?“ fragte Corcoran.
„Gebt Befehl, daß man mich losbindet, und erlaubt mir, ihn mit meinen eigenen Händen zu erwürgen!“ schrie Baber.
„Das ist eine Idee“, sagte Quaterquem.
„Und sogar eine gute“, meinte der Maharadscha lachend. „Aber mir ist eine noch bessere eingefallen. Doubleface, Sie können doch mit dem Säbel umgehen?“
„Ja“, erwiderte der Engländer finster, „und wenn ich frei und bewaffnet wäre…“
„Ja, ja, ich weiß“, meinte Corcoran, noch immer lachend. „Sie gehören zu den Leuten, denen man nachts lieber nicht allein im Wald begegnet. Na gut, wir werden morgen sehen, was Sie gegenüber Baber im Kampf wert sind. Die Bedingungen sind nicht völlig gleich, denn kräftemäßig scheinen Sie mir diesem armen Teufel überlegen zu sein; doch ich werde dafür Sorge tragen, daß die Chancen gleich verteilt sind. Der Kampf darf nicht länger als eine Stunde dauern. Sollte einer von euch getötet werden, so begnadige ich den Überlebenden. Wenn niemand getötet werden sollte, hängt ihr beide. Und nun, meine lieben Freunde, geht schlafen, wenn ihr könnt. Sugriva, du haftest mir mit deinem Kopf für diese beiden Halunken.“
Sugriva erhob sich, legte die Hände in Form des Daches an die Lippen und führte seine Gefangenen hinaus.
„Jetzt, mein Freund, sind wir allein“, sagte Corcoran zu Quaterquem. „Ganz Indien ist schlafen gegangen oder wird gleich schlafen gehen. Ich habe mit den Verrätern und Spionen abgerechnet, reden wir offen.“
„Es verlangt mich ebenfalls danach, mit dir allein zu sprechen“, sagte Quaterquem. „Was hast du denn den Engländern angetan, daß ihnen schon die Galle hochkommt, wenn nur dein Name fällt? Überall, wo ich gewesen bin, behandeln dich ihre Zeitungen wie einen Abkömmling von Cartouche und Mandrin. Ihre Spione überwachen deine Aktionen, ihre Soldaten marschieren gegen dich. Als ich heute morgen über Bombay hinwegflog, entdeckte ich gewaltige Vorbereitungen. Die Kanonen zählten einige hundert, die Wagen jeder Art gingen in die Tausende, und, was noch viel bezeichnender ist, die Armee, die man gegen dich ins Feld schickt, besteht – bis auf sieben Sikh- und Gurkharegimenter – nur aus europäischen Truppen, das heißt aus der Elite der britischen Indienarmee. Ich habe ganz sicher keine leidenschaftlichen Gefühle für dieses Volk, doch unter Nachbarn sollte man sich lieber vertragen.“
„Sicher“, sagte Corcoran, „aber ich will dir erklären, weshalb die Engländer einen derartigen Haß auf mich haben. Du weißt, oder jedenfalls sollst du wissen, daß ich in dieses Reich kam wie Saul, der Sohn von Kis, der auf der Suche nach den entlaufenen Eselinnen war und dabei ein ganzes Königreich fand. Meine Eselinnen, das war das Gurukaramta, dessen Existenz von Wilson vermutet wurde und auf das Colebrooke hinwies, das allerdings bis dato von zwanzig englischen Orientalisten vergeblich gesucht worden war. Unterwegs habe ich Holkar getroffen, seine Tochter und sein Reich gerettet. Bis hierher ist das nicht weiter ungewöhnlich gewesen; aber es gibt ein Geheimnis, das ich noch niemandem anvertraut habe, ein schreckliches, ein furchtbares Geheimnis, das mir das Leben kosten oder den schönsten Thron Asiens bescheren kann. Der sterbende Holkar hat es mir anvertraut, als er mich schwören ließ, seinen Tod zu rächen.
Zu der Zeit, als Bonaparte seinen ägyptischen Feldzug unternahm, überlegte er auch, wie er Indien erobern könne. Ja, Indien war eigentlich das Ziel des ägyptischen Abenteuers. Zu diesem Zweck verband er sich mit Tipu Sahib, dem Sultan von Maisur. Dieser glaubte, daß Frankreich ihm gegen die Engländer helfen würde, was seinen Fall einleitete. Die Engländer, von ihren Spionen bestens auf dem laufenden gehalten, belagerten ihn in Bangalore, seiner Hauptstadt. Er fiel dort während des Sturmes auf die Stadt.
Tipu Sahib, obwohl Moslem, war ein freidenkerischer Geist, der alle Religionen in den Dienst seiner Politik stellte. Er brachte das Kunststück fertig, eine gewaltige Geheimgesellschaft zu gründen, die sich über ganz Hindustan ausdehnte und die die Vertreibung der Engländer als ihre heiligste Pflicht ansah. Sein Tod vereitelte eine allgemeine Erhebung. Für einige Jahre schien die Vereinigung, deren belebender Geist er gewesen war, in Vergessenheit geraten zu sein. Doch einer seiner getreuen Diener enthüllte Holkars Vater das Geheimnis. Von da an wurde Holkars Vater von den Indern als Nachfolger Tipu Sahibs angesehen.
Die stets mißtrauischen Engländer erfuhren von seinen Plänen und griffen ihn an, bevor er sich, wie ursprünglich geplant, mit dem berühmten Ranjit Singh verbünden konnte, der von Nordwesten aus die Engländer attackieren sollte, während er selbst das Zentrum und den Süden Indiens in den Aufstand führen wollte. Das große Unglück dieses armen Landes sind die verschiedenen Kasten und Religionen, die sich gegenseitig bekriegen und es den Engländern erleichtern, stets Verräter zu finden. Holkars Vater wurde verraten und besiegt und mit zweien seiner Söhne getötet. Ranjit Singh erhielt zehn Millionen Rupien, um neutral zu bleiben. Aber die aufgebrachten Hindus wollten keinen anderen Fürsten anerkennen als den jungen Holkar, den gleichnamigen dritten Sohn des Gefallenen, und die mit diesem ersten Erfolg zufriedenen Engländer wagten nicht, ihre Interessen mit aller Macht durchzusetzen. In Europa war Krieg, und man brauchte das englische Fußvolk dort dringender. Man nahm Holkar die Hälfte seines Reiches, fünfzig Millionen Rupien und gab ihm Colonel Barclay als ständigen Aufpasser. Barclay hat sich übrigens im Sepoyaufstand hervorgetan und wurde zum Generalmajor befördert.“
„Ja“, sagte Quaterquem, „der Aufstand wurde niedergeschlagen, die Sepoys wurden gehängt, Holkar wurde getötet wie vor ihm Tipu Sahib und sein Vater; und du, Corcoran, gebürtig aus Saint-Malo, auch du wirst verraten und getötet werden wie deine Vorgänger. Mein Freund, du bist verrückt. Komm mit mir auf meine Insel, dort ist Platz für zwei. Wir werden in aller Ruhe dort leben, keiner wird uns behelligen; im Sommer kegeln wir, und im Winter spielen wir Billard. Das ist der wahre Sinn des Lebens. Und wenn dir meine Insel nicht gefällt, in der Nähe habe ich eine andere entdeckt, fast ebenso abgelegen und schön wie meine. Ich biete sie dir an.“
Corcoran betrachtete seinen Freund einige Zeit nachdenklich. Dann zuckte er leicht mit den Schultern.
„Mein lieber Quaterquem, wenn ich gewiß wäre, daß ich scheitern und in zehn Tagen erschossen würde, ich glaube nicht, daß ich anders handeln würde, als ich jetzt handele. Halte mich nicht für einen Träumer. Kennst du diesen Schriftzug?“
„Das ist Napoleons Unterschrift!“ rief Quaterquem erstaunt.
„Lies die Überschrift dieses Schriftstücks.“
„Verzeichnis der Etappenorte der französischen Armee auf dem Landweg von Strasbourg bis Kalkutta. Aufgeschrieben nach Diktat Seiner Majestät Napoleons I., Kaiser der Franzosen, König von Italien, Protektor der Rheinkonföderation, eigenhändig von Seiner Majestät unterzeichnet am 15. April 1812 zu Paris.“
„Diese Note, mein Freund, wurde von Monsieur Daru, Generalintendant der Armee, angefertigt. Napoleons Agenten, unter anderem Lascaris[2], der Syrien und die Wüste unter dem Namen Scheik Ibrahim durchquerte, hatten die Aufgabe, den Weg zu erkunden und die einzelnen Völker auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten. In den fruchtbaren Ebenen Mesopotamiens, bei den Wahhabiten, in den Bergen Persiens, in Khorasan und Mazanderan wußte man, daß der unbesiegbare Sultan Buonaberdi, die rechte Hand Allahs, die Engländer ins Meer werfen würde, und jeder war bereit, ihn mit Nahrungsmitteln zu beliefern, mit Tieren, ja sogar mit Streitkräften, entweder aus Gehorsam zu Allah oder aus Haß gegen die Engländer – die, das muß man gerechterweise sagen, bis auf den letzten Mann vernichtet worden wären, wenn sie sich in Indien nur einen Augenblick schwach gezeigt hätten.
Napoleon wollte, aus Dresden kommend, mit seiner Armee den Njemen überschreiten, in Litauen einmarschieren und die große russische Armee in zwei Hälften spalten. Wie du weißt, marschierten seine Truppen zu langsam, und der Plan mißlang, weil ihm einige Stunden fehlten; er hätte Petersburg nehmen können, Moskau, und wäre mit dem Zaren nach Belieben verfahren. Wenn dieser erste Schlag gelungen wäre, so wäre der Rest ein Kinderspiel gewesen. Der Zar hätte seinen Teil von Polen wiederhergeben müssen, Österreich Galizien. Das wiedervereinte Polen wäre geschlossen zu Pferde gestiegen, um Napoleon zu folgen.
Aber glaube nicht, daß man den Zaren nicht abgefunden hätte. Du wirst staunen, welches Geschenk man ihm machen wollte. China! Da machst du runde Augen. Mein Freund, nichts leichter als das. China ist für den da, der es haben will. Es ist ein großer Körper ohne Kopf. Ich habe da so einiges gesehen und weiß auch einiges…
Doch das sind Pläne für die Zukunft. Napoleon jedenfalls hatte auf den ersten Blick erkannt, daß – trotz der Entfernung – ein gewaltiges Reich, dessen ganzes Leben klassifiziert, etikettiert, registriert ist, in dem dieses Leben nach strengen Regeln abläuft, wobei ganze Stunden des Tages nur für rituelle Zeremonien vorgesehen sind, wo hunderttausend berittene Tataren die Garde des Souveräns bilden und genügen, um dreihundertfünfzig Millionen zu unterdrücken…, Napoleon also wußte sehr gut, sage ich, daß ein solches Land dem erstbesten zur Beute anheimfallen würde. Deshalb bot er die Hälfte davon seinem Kumpan Alexander an, aber nur die Hälfte, außerdem war das der Nordteil, der kalt und versteppt ist. Ohne es genau festzulegen, behielt er sich den übrigen Teil vor, das heißt alles Land, das südlich des Hwangho liegt. China wäre nur der Anfang gewesen, zu dem mittleren Teil wären Indochina und Indien hinzugekommen. Auf diese Art und Weise wäre dieser riesige Kontinent Asien zwischen den beiden, Alexander und Napoleon, geteilt worden.
Natürlich hätten die Türken, durch deren Land er gezogen wäre, als erste geopfert werden müssen. Um Österreich zu befriedigen, das zum Vasallen geworden war, vor allem um es gegen Rußland zu stellen, hätte man ihm auch seinen Anteil gegeben, und zwar das Donautal in der Walachei mit seiner Mündung. Dann hätte Napoleon, von der polnischen und ungarischen Kavallerie unterstützt, freien Zugang nach Konstantinopel gehabt. Du weißt, daß er sein ganzes Leben davon träumte, Kaiser von Konstantinopel zu werden. Das verband ihn mit dem Zaren, der denselben Traum träumte.
Er hatte Frankreich und Italien; durch seinen Bruder Joseph hoffte er, Spanien zu gewinnen. Tanger, Oran, Algier und Tripolis wären nur weitere Häppchen. Ägypten erwartete ihn, er kannte es ja schon, und der Isthmus von Suez, den Monsieur de Lesseps heute so mühselig anlegt, wäre in sechs Monaten vollendet gewesen. Seine Ingenieure hatten nämlich schon Spuren eines alten, heute versandeten Kanals entdeckt, der zweifellos aus der Zeit Ramses’ V. stammte. Schließlich gehörte ihm auch – gutwillig oder gezwungen – das Mittelmeer, und von der Höhe von Gibraltar aus hätten die Engländer nichts weiter tun können, als seiner Flotte hinterdreinzuschauen.“
„Wer hat dir denn Napoleons Plane enthüllt?“ fragte Quaterquem. „Und was hältst du von diesen vertraulichen Mitteilungen, die er doch zweifelsohne niemandem anvertraut hat?“
„Hältst du mich für einen Romancier?“ erwiderte der Maharadscha. „Bildest du dir ein, ich würde mir einen Scherz daraus machen, diesem großen Mann Ideen unterzuschieben, die ich mir selber ausgedacht habe? Zuerst mußt du wissen, daß Napoleon bis heute stets verkannt wurde. Im Grunde war er ein Poet und Mathematiker in einem. Als Poet hatte er phantastische Ideen; als Mathematiker entwickelte er seine Phantasien mit derart verblüffender Präzision und nüchternem Kalkül, daß es den Gemeinsinn der Dummen überstieg.“
„Du hast zweifellos recht“, sagte Quaterquem, „aber nochmals: Wer hat dir denn die Pläne Napoleons anvertraut?“
„Er selbst, lieber Freund, ja, er selbst, denn neben der Note, die er Daru diktiert hatte, existiert noch eine andere, geheimere und vollständigere, die er nicht der Hand eines Sekretärs überlassen wollte. Hier, lies selbst! Das ist die Depesche an Lascaris, seinen einzigen Vertrauten. Der schlecht informierte Lamartine hat geglaubt, daß Lascaris’ Papiere nach dessen Tod den Engländern in Kairo in die Hände gefallen wären. Der englische Konsul hat damals dieses Gerücht verbreitet, um Nachforschungen von vornherein auszuschließen; diese kostbaren Papiere jedoch existieren noch. Hier sind sie. Der sterbende Lascaris hatte einen Freund beauftragt, sie der französischen Regierung zu überbringen; aber dieser Freund wußte, daß er überwacht wurde, außerdem rechnete er mit einer Hinterlist von Mehmed Ali, dem Pascha von Ägypten. Er floh also nach Suez, schiffte sich ein, und da er nicht wußte, wem er das kostbare Stück anvertrauen sollte, steuerte er Indien an und übergab es Holkar persönlich.
Die Depesche Napoleons ist so klar, so präzise und schmucklos abgefaßt, er hat alle möglichen Zwischenfälle, die dem Unternehmen zustoßen könnten, bedacht, daß man sie allein am Stil erkennen würde, wenn Unterschrift und Handschrift nicht den wahren Autor verraten würden.“
„Und welchen Gebrauch willst du von Napoleons Plänen machen?“
„Sie ausführen.“
„Hast du einhundertzwanzigtausend Mann zur Verfügung wie er?“
„Ich habe Indien, das scheinbar erschöpft am Boden liegt, aber wie eine Riesenschlange erwachen wird, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen. Bedenke, daß ich in den Augen dieser armen Leute die elfte Inkarnation Wischnus bin. Seit zwei Jahren lassen Tausende von Brahmanen und Fakiren unter der Hand die Hindus wissen, daß Wischnu selbst Mensch geworden sei, um sie zu befreien. Man erfindet Legenden über mich. Man sagt – und ich lasse es zu, daß man es glaubt, denn es gibt nichts Nützlicheres als einen geheiligten Schwindel –, daß Kugeln an mir abprallen und Säbel sich verbiegen, wenn sie mich berühren. Zwei oder drei kritische Situationen, denen ich glücklich entkommen bin, haben meinen Ruf, übernatürlich zu sein, erhärtet. Du wirst in Bhagavapur ohne weiteres hundert Leute treffen, die schwören, mit ihren eigenen Augen gesehen zu haben, wie ich aus meinem Mund Flammen gespien und das Lager der Engländer in Brand gesetzt habe. Andere wollen miterlebt haben, wie ich mit meiner Reitpeitsche die ganze englische Kavallerie in die Flucht geschlagen habe. Je absurder diese Geschichten sind, desto eher werden sie geglaubt. Diese armen Hindus sind auf der Suche nach einem Helden und Rächer auf mich gestoßen. Wenn sich die Engländer noch drei oder vier Jahre so ruhig wie jetzt verhalten hätten, wäre ihr Untergang gewiß, denn ganz Indien hätte dann auf meinen Befehl hin zu den Waffen gegriffen.“
„Sie kennen deine Pläne und werden dir zuvorkommen. Du hast es am Brief dieses englischen Spions gesehen. Auf jeden Fall bereiten sie etwas vor.“
„Wenigstens Doubleface wird mir für alles zahlen“, sagte Corcoran. „Morgen früh, nach dem Frühstück, verspreche ich dir ein amüsantes Schauspiel.“
Am nächsten Morgen gegen acht Uhr wurde Quaterquem durch den Lärm von Trommeln und Trompeten geweckt. Das ganze Volk schien sich auf den Straßen und Plätzen von Bhagavapur versammelt zu haben. Gleichzeitig wieherten im Hof des großen Palastes die Araberpferde.
Quaterquem fragte einen der Bediensteten nach dem Grund der Unruhe.
„Herr“, erwiderte der Hindu, „der Maharadscha gibt ein großes Fest für sein Volk.“
„Was für ein Fest soll denn das sein?“
„Heute werden wir den Engländer hängen.“
„Armer Doubleface“, meinte Quaterquem.
Er kleidete sich hastig an, um nichts von dem Schauspiel zu verpassen, das sich so lautstark ankündigte. Corcoran erwartete ihn schon. Das Frühstück war aufgetragen, und Sita und Alice setzten sich den beiden Freunden gegenüber.
„Könnten Sie ihn nicht meinetwegen begnadigen und nach Kalkutta schicken?“ fragte Alice den Maharadscha. „Immerhin ist er ein Landsmann. Und Sie, teure Sita, möchten Sie nichts für den Unglücklichen tun?“
„Wischnu ist mein Zeuge“, sagte die sanfte und charmante Tochter Holkars, „daß ich einen Abscheu davor habe, Blut zu vergießen; aber ich glaube Corcoran in den Rücken zu fallen, wenn ich ihn um das Leben dieses Verräters bitte.“
„Meinetwegen“, sagte Quaterquem, „sollte man alle Verräter der Welt hängen. Ich bin nicht verärgert, daß man mit diesem beginnt.“
„Nun, es bleibt ihm immerhin noch eine Chance“, fügte Corcoran hinzu, der bis jetzt geschwiegen hatte. „Ein Strohhalm, an dem er sich retten kann, wenn er will. Ein Verrat mehr oder weniger, darauf kommt es doch bei einem Doubleface nicht an.“
Dann ordnete er an, daß man ihm die Gefangenen vorführen sollte.
Doubleface erschien mit stolzer Miene. Baber folgte ihm. Beide waren mit Eisenketten an Händen und Füßen gefesselt.
„Sie wissen, was Sie erwartet?“ fragte der Maharadscha den Engländer.
„Ich mache mir keine Illusionen“, antwortete dieser.
„Sie wissen ebenfalls, um welchen Preis Sie Ihr Leben und Ihre Freiheit retten können?“
„Ich weiß es. Hängen Sie mich.“
„Ich bin betrübt“, sagte Corcoran, „daß Sie damit einverstanden sind, ein solches Gewerbe auszuüben; immerhin sind Sie doch ein anständiger Mensch.“
„Pah“, meinte Doubleface. „Man übt das Gewerbe aus, das man beherrscht. Wenn ich als Sohn eines Lords geboren wäre, dann würde ich jetzt General in der Armee oder Gouverneur von Indien, Gibraltar oder Kanada sein; ich würde in der Öffentlichkeit Bemerkungen machen, die jeden Sinns entbehren, und für diese Lächerlichkeiten wie einer der höchsten Politiker gefeiert werden; ich würde mit dem Hochadel meiner Grafschaft zur Fuchsjagd gehen; ich würde zu jedem Bankett eingeladen und Toasts auf die anwesenden Damen ausbringen, die an Lächerlichkeit den öffentlichen Erklärungen in nichts nachständen. Aber das Schicksal hat es anders gewollt. Meinen Vater kennt niemand. Meine Mutter hat mich – weiß Gott wie – in den Straßen von London aufgezogen. Mit zehn kam ich als Moses auf ein Schiff, das Kaffee und Zucker von der Insel Mauritius transportierte; ich bin fünf- oder sechsmal um die Welt gesegelt, habe sieben oder acht Sprachen gelernt und bin schließlich, da das nicht ausreichte, ein Gentleman zu sein, Chef der Geheimpolizei von Kalkutta geworden. Lord Braddock hat mir diesen Auftrag angeboten, und ich habe angenommen. Ich wußte, daß ich riskierte, gehängt zu werden. Ich habe gespielt und verloren. Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Den jedoch verraten, der mir den Auftrag gegeben hat – nein, das kommt nicht in Frage. Es gibt so etwas wie Berufsethos.“
„Gut“, sagte Corcoran. „Ich bin entschlossen. Dir, Freund Baber, werde ich genau wie dem Engländer die Chance bieten, nicht gehängt zu werden. Auch du kannst davon profitieren.“
Und sich an die Eskorte wendend: „Man soll beide in die Elefantenarena führen!“
Alle Welt weiß, daß die Elefantenarena von Bhagavapur, die in ganz Hindustan berühmt war, nach den Plänen und auf Anordnung des Poeten Valmiki, Architekt und gleichzeitig Autor des Ramayanas, erbaut worden war.
Das war eine runde Backsteineinfriedung, von außen völlig glatt, die im Innern eine weite Arena umschloß, einem römischen Circus nicht unähnlich. Die niedrigsten und vom Publikum gleichsam begehrtesten Plätze lagen achtzehn Fuß über der Arena, die noch einmal in eine innere Einfriedung unterteilt war, die von hohen und dicken Stämmen gebildet wurde, die so eng standen, daß sich kein Mensch durch sie hätte zwängen können, um ins Innere der Arena zu gelangen.
Dort also sollte, zum großen Vergnügen der Einwohner von Bhagavapur, der Kampf zwischen Baber und Doubleface stattfinden. Dem Sieger würde Corcoran das Leben schenken.
Die gnadenlos vom klaren Himmel herabbrennende Sonne beleuchtete die imposante Szenerie. Ganz Bhagavapur war auf den Beinen, saß im Rund des Amphitheaters und erwartete neugierig den Beginn des Festes. Männer, Frauen und Kinder aßen, tranken und lachten beim Gedanken an den Gesichtsausdruck des unglücklichen Engländers, wenn er seinen letzten Seufzer tun würde. Denn man rechnete damit, daß Baber den Kampf gewinnen würde. Er war schließlich ein Hindu.
Um die Ungeduld der Menge ein wenig zu beruhigen, ließ man zuerst einen wilden Elefanten los, den man am Vorabend im Dschungel gefangen hatte. Zusammen mit drei zahmen Elefanten, einer rechts, einer links, einer hinter ihm, stürmte er in die Arena. Die drei zahmen Elefanten pufften und stießen ihn mit dem Rüssel, um ihn mit seinen neuen Aufgaben vertraut zu machen. Die erschreckte Miene des armen Elefanten bot den vierzigtausend ein erquickliches Schauspiel. Das arme Tier! Er war auch das Opfer eines Verrats geworden. Eine junge Elefantendame hatte ihn in die vorbereitete Falle gelockt, und jetzt war er dem Vergnügen der Menschen ausgeliefert.
Aber man hatte bald genug von dem Schauspiel und verlangte nach dem Beginn des eigentlichen Dramas.
„Der Engländer! Der Engländer! Der Verräter! Baber! Baber!“ schrien Tausende von Kehlen.
Endlich erklangen die Trompeten, und Corcoran ritt zu Pferde in die Arena. Zu seiner Rechten hielt sich sein Freund Quaterquem, zu seiner Linken Louison und Moustache. Alice und Sita hatten dem Kampf nicht beiwohnen wollen und waren im Palast geblieben. Garamagrif, noch zu wild, als daß er in der Öffentlichkeit frei herumlaufen konnte, war als Wache zurückgeblieben.
Der Maharadscha gab ein Zeichen, und man führte die Gefangenen vor ihn.
„Ihr kennt die Bedingungen des Kampfes“, sagte er. „Ihr habt nur eine Wahl: sie anzunehmen oder gehängt zu werden.“
„Unerschöpfliches Leuchten der Welten!“ rief Baber, wobei er seine aneinandergeketteten Hände gegen den Himmel reckte, „höchste Verkörperung Wischnus, alles, was dein Mund befiehlt, wird für mich wie die Offenbarung des Rigveda sein.“
Doubleface sagte nichts, aber er gab zu verstehen, daß er lieber mit allen Bedingungen einverstanden sei, als sich pfählen oder hängen zu lassen.
„Mister Doubleface“, fuhr Corcoran fort, „Sie haben doch kräftige Hände?“
Der Engländer nickte.
„Und kräftige Schultern?“
Das gleiche Nicken.
„Sie können mit dem Säbel umgehen?“
„Ja“, sagte Doubleface.
„Sehr gut“, erwiderte Corcoran. „Und du, Freund Baber, welche Waffe bevorzugst du?“
„Herr“, entgegnete Baber, „meine Religion verbietet mir, Menschenblut zu vergießen; aber sie erlaubt mir, diesen Menschen zu erwürgen.“
„Nun, du frommer Mensch, deine Wünsche und die des Gentlemans sollen befriedigt werden. Man gebe Doubleface einen scharfgeschliffenen Säbel mit feinster Damaszener Klinge, und Baber gebe man eine Schnur mit einer Schlinge am Ende. So hat jeder die Waffe, mit der er am besten umzugehen weiß. Es ist jetzt neun Uhr, bis zehn Uhr muß der Kampf entschieden sein, sonst werden beide gehängt.“
Nicht ohne Grund hatte Corcoran den beiden Kämpfern zwei so verschiedene Waffen zugestanden. Wenn der Säbel in der Hand des Engländers eine furchtbare Waffe war, so war die Schlinge in den Händen des wendigen und glatten Baber, ehemals Oberhaupt der Würger von Gwalior, nicht weniger gefährlich. Der Ausgang des Kampfes war also völlig ungewiß. Endlich band man die beiden Gefangenen los. Auf den ersten Blick hätte man schwerlich entscheiden können, wer den Sieg davontragen würde. Der etwa fünf Fuß große Engländer, robust, muskulös, die Fersen fest gegen den Boden gestemmt, wirkte wie ein uneinnehmbarer Turm. In seinen Augen las man die Zuversicht in die eigene Stärke und das Mißtrauen in die seines Gegners. Offensichtlich schien er ihn mit dem ersten Schlag in zwei Teile zu spalten. Das war ebenfalls die Meinung von Corcoran, und alle Hindus, die die Engländer aus ganzer Seele haßten, wurden unruhig, wenn sie den unerschütterlichen Koloß betrachteten.
Aber auch Baber hatte seine Qualitäten. Weniger groß als Doubleface, schien er jenem – und so war es wohl auch – physisch unterlegen zu sein. Seine Arme und Beine waren magerer, seine Brust knochig. Sogar seine Augen, gelblich wie die des Leoparden, drückten mehr Vorsicht als Mut aus; sein wesentlicher Vorteil war eine unglaubliche Schnelligkeit. Er duckte sich, sprang auf, wand sich wie ein Tiger, dessen Namen er ja trug.
Corcoran sah auf seine Uhr und gab das Zeichen. „Anfangen!“
Bei diesem Signal stürzten die beiden Gegner, die etwa fünfzig Schritt voneinander entfernt waren, vor.
Baber begann den Angriff. Er sprang auf seinen Gegner los, wich dann plötzlich zurück, um erneut auf den Engländer loszugehen, als wollte er ihn mit bloßen Händen packen, doch das war nur eine Finte. Im Augenblick, da er seine Schlinge warf, sprang er zur Seite.
Doubleface erwartete diesen Angriff kaltblütig. Er drehte sich um sich selbst, wich der Schlinge aus und ließ den Säbel mit voller Wucht auf den Kopf des Hindus niedersausen. Wenn er ihn getroffen hätte, dann wäre der Kopf des unglücklichen Baber in Stücke zerhauen worden. Baber allerdings war nicht der Mann, der sich überraschen ließ.
Mit einem Satz nach hinten entwich er der Reichweite des Säbels. Dann lief er plötzlich mit der Geschwindigkeit eines Hirsches, der vom Jäger verfolgt wird, um die Arena.
Doubleface zweifelte nicht mehr an seinem Sieg. Er folgte ihm und war gerade im Begriff, ihn zu erreichen, als ein unerwartetes Hindernis seinen Lauf aufhielt.
Baber, der vortäuschte zu fliehen und dabei sein Tempo immer mehr verringerte, so daß Doubleface näher kam, berechnete sorgfältig die Distanz, die ihn von seinem Gegner trennte, wobei er ihn über die Schulter beobachtete. Als er glaubte, ihn in der richtigen Entfernung zu wissen, drehte er sich blitzschnell um und warf die Schlinge.
Doubleface sah die Schlinge heranzischen und warf sich instinktiv zur Seite. Die Schnur, die ihm über den Hals rutschen und ihn erwürgen sollte, verfehlte ihr Ziel und wickelte sich um seinen rechten Fuß.
Er fiel zu Boden.
Augenblicklich blieb Baber stehen, stürzte sich auf den Engländer, zog ihm dabei noch im Sprung die Schlinge vom Fuß und war im Begriff, sie ihm um den Hals zu legen; doch Doubleface rollte zur Seite, sprang trotz seiner Körperfülle erstaunlich schnell auf die Füße und holte zu einem mächtigen Säbelhieb gegen Baber aus, der jedoch ebenso unnütz war wie der erste und außer Staub buchstäblich nichts aufwirbelte. Der Hindu war katzengleich zur Seite gerollt und hatte sich außer Reichweite der Waffe gebracht.
Der Kampf hielt an, ohne daß der eine oder andere einen Vorteil hätte erringen können. Der Engländer wäre in einem Handgemenge sicher der Stärkere gewesen, doch Baber ließ sich einfach nicht fassen.
Inzwischen war schon eine halbe Stunde vergangen. Die Sonne stieg immer höher, und die Hitze wurde langsam unerträglich. Baber, seit seiner Kindheit an das sengendheiße Klima Indiens gewöhnt, schien kaum darunter zu leiden, doch Doubleface floß der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Falls der Kampf noch länger als eine Viertelstunde dauern würde, so schätzte der Engländer ein, wäre das für ihn ganz sicher nicht von Vorteil. Er entschloß sich daher, alle Kräfte zusammenzunehmen und den Gegner beim nächsten Angriff zu vernichten.
„Feiger Schurke!“ schrie er ihm zu. „Du wagst es ja nicht einmal, stehenzubleiben und den Kampf aufzunehmen!“
Aber diese Beschimpfung schien Baber nicht aus der Ruhe zu bringen.
„Wer hindert dich denn daran, mir nachzulaufen?“ entgegnete er.
Im selben Augenblick schwang Doubleface seinen blanken Säbel, drängte den Hindu durch zwei, drei geschickte Körpertäuschungen in eine Ecke der mit dicken Holzbohlen umstandenen Arena und versetzte ihm einen so gewaltigen Schlag, daß alle Zuschauer glaubten, das letzte Stündlein des Hindus habe geschlagen.
Doch der wendige Inder war dem Säbelhieb entgangen, der krachend das Holz der Einfriedung traf. Mit der Geschmeidigkeit und Schnelligkeit eines Affen hatte Baber den dicken Stamm umklammert, war an ihm emporgeklettert und betrachtete nun von dessen Spitze seelenruhig seinen Gegner.
Alle Zuschauer zollten seiner beherzten Rettungstat Beifall. Doubleface war irritiert. Andererseits war er entschlossen, dem Kampf jetzt ein Ende zu machen, und versuchte Baber zu folgen. Er nahm also seinen Säbel zwischen die Zähne und begann seinerseits, den Holzstamm zu erklettern.
Diese Idee wurde ihm zum Verhängnis.
Baber, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, warf mit einemmal blitzschnell seine Schlinge um den Hals des unglücklichen Doubleface, zog an der Schnur, was dem Engländer einen solchen Schmerz bereitete, daß er vom Stamm rutschte, einen Augenblick in der Luft hing und sich so selbst erdrosselte.
Das war das Ende des Kampfes. Der triumphierende Baber zog den Körper des Engländers über die Einfriedung, wie Achill den Leichnam Hektors über die Mauern von Troja geschleift hatte.
„Es ist gut“, sagte Corcoran. „Du hast dein Leben gerettet, Baber. Sugriva, laß diesen armen Doubleface beerdigen. Zu Lebzeiten war er ein elender Verräter, ein Spion, der Abfall der Menschheit. Jetzt ist er tot. Friede seiner Asche.“
Dann begab er sich in seinen Palast.
Im Palast angekommen, setzte er sich an sein Schreibpult und verfaßte folgende Depesche:
„An Lord Henry Braddock, Generalgouverneur von Hindustan in Kalkutta
Bhagavapur, den 16. Februar 1860
Mylord,
die Beziehungen guter Nachbarschaft und Freundschaft, die zwischen meiner Regierung und der Ihren immer bestanden haben und, so hoffe ich, immer bestehen bleiben mögen, machen es mir zur Pflicht, Sie von einem unliebsamen Vorfall zu unterrichten, der diese guten gegenseitigen Beziehungen hätte trüben können.
Ein gewisser Scipio Rückert, nach eigenen Aussagen preußischer Staatsbürger und unter englischem Schutz reisend, mit einem Empfehlungsbrief von Sir William Barrowlinson (ohne Zweifel eine Fälschung) versehen, hat mich unter dem Vorwand, im Vindhyagebirge wissenschaftliche Studien über die dortige Flora und Fauna treiben zu wollen, um Schutz und Unterstützung gebeten.
Auf Empfehlung von Sir William Barrowlinson, dem die gelehrte Welt so viel verdankt, habe ich diesen Rückert auf das freundlichste und zuvorkommendste empfangen, er allerdings hat es mir mit schwärzestem Undank vergolten.
Mylord wird bei der Lektüre beiliegender Kopie eines Briefes, den Rückert, dessen richtiger Name Doubleface zu sein scheint, an Sie schreiben wollte, zweifellos entrüstet sein von dem Mißbrauch, den solch ein Bürger von Ihrem Namen machte, wie auch von den entehrenden Nachrichten, die er Mylord anzubieten die Stirn hatte. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß meine Entrüstung über eine so schnöde Verleumdung die Verachtung Mylords vorausgesehen hat und daß dieser Doubleface, der übrigens auch nicht leugnete, der Chef der Geheimpolizei von Kalkutta (gewesen) zu sein, die Sühne erhalten hat, die ein solches Verbrechen und der Mißbrauch des Namens von Mylord verdient. Mit anderen Worten, er wurde gehängt.
Mylord kann im Bhagavapurer Anzeiger, den ihm zu schicken ich veranlassen werde, alle Details dieser Urteilsvollstreckung nachlesen. Der Verrat Doublefaces war so niederträchtig – und übrigens durch sein eigenes Geständnis zweifelsfrei bewiesen –, daß ich es nicht für nötig erachtete, in dieser Angelegenheit die üblichen Regeln eines langwierigen Gerichtsverfahrens einzuhalten.
Ich muß Mylord davon in Kenntnis setzen, daß man in den Papieren Doublefaces eine sehr genaue und gewissenhaft angefertigte Liste aller ökonomischen und militärischen Mittel meines Reiches gefunden hat.
Natürlich habe ich es als nicht erforderlich erachtet, diesen so sorgfältig ausgearbeiteten Plan meiner Depesche beizulegen, und ich glaube, daß Mylord meine Zurückhaltung und Diskretion in diesem Punkt billigen wird.
Möge Sie Gott, Mylord, in seiner heiligen Garde aufnehmen.
Corcoran I. Maharadscha“
„Das ist eine Kriegserklärung“, sagte Quaterquem, nachdem er den Brief gelesen hatte, „und deine Vorbereitungen sind noch nicht abgeschlossen.“
„Wie auch immer, der Krieg wäre unvermeidlich gewesen“, erwiderte Corcoran. „Du hast es ja selbst gesehen, ihre Armee marschiert schon. Was kommen muß, kommt. Diesem Halunken verzeihen, hieße zurückweichen. Bis jetzt habe ich mich hier nur durch meine Kampfentschlossenheit halten können; nun wohl, ich werde damit weitermachen.“
„Hast du Verbündete?“
„In zwei oder drei Jahren hätte ich ganz Indien hinter mir. Aber gegenwärtig ist niemand dazu bereit. Die letzte Sepoyrevolte hat die energischsten und entschlossensten Kämpfer das Leben gekostet. Man muß auf eine neue Generation bauen, die die schrecklichen Massaker vergessen haben wird.“ Quaterquem schlug sich an die Stirn.
„Ich habe eine Idee“, sagte er, „wer dir in drei Monaten ein mächtiger Verbündeter sein kann. In diesem Fall wärst du nicht nur gerettet, sondern Herr über ganz Indien.“
„Wer ist dieser Verbündete?“
„Sprich leise!“ sagte Quaterquem. „Sprich leise, man könnte uns belauschen.“
Und er flüsterte einen Namen in Corcorans Ohr.
„Ich hatte schon daran gedacht“, erwiderte der Maharadscha nach einem Augenblick des Schweigens. „Aber es ist so weit weg. Die Überfahrt, hin und zurück, wird mindestens vier Monate dauern. Und wen sollte ich wohl schicken?“
„Du vergißt mein Luftschiff“, sagte Quaterquem, „das dreihundert Meilen in der Stunde macht und wie ein Pfeil dahinfliegt, ohne auf Meere, Flüsse oder Berge Rücksicht nehmen zu müssen. Wir könnten auch ostwärts fliegen, das wäre kürzer. Noch heute abend könnten wir uns eine Aufführung des Wilhelm Tell ansehen. Morgen wirst du eine Audienz haben. Übermorgen sind wir zurück. Sugriva und Louison werden während deiner Abwesenheit regieren.“
„Es ist zu spät“, sagte Corcoran, „aber du kannst mir trotzdem einen Gefallen tun. Laß uns in deinem Flugapparat das englische Feldlager und mein eigenes besuchen. Vielleicht können wir schon in einer Stunde fliegen? Man soll Acajou rufen.“
„Einverstanden“, erwiderte Quaterquem.
Der große Neger erschien vor den beiden.
„Acajou, bereite das Luftschiff vor, wir fliegen ab“, sagte Quaterquem. Der Neger machte vor Freude einen Sprung.
„Oh, ich sehe Nini und Zozo. Fein, Mister Quaterquem.“
„Acajou, mein Freund, wir werden Nini und Zozo erst Ende der Woche sehen; heute haben wir noch etwas anderes zu erledigen.“
Die Vorbereitungen der langen Reise, die Corcoran mit seinem Freund Quaterquem unternehmen wollte, dauerten den ganzen Tag. Es ging nicht darum, wie man sich leicht denken kann, Kleider oder Nahrungsmittel an Bord zu nehmen, sondern den Marathen den Abflug des Maharadschas geheimzuhalten. Es wurde also beschlossen, erst in der Nacht abzureisen. Nur Sugriva sollte informiert werden. Auch Sita wollte Corcoran nicht benachrichtigen, aus Angst, sie zu beunruhigen. Glücklicherweise war die Nacht sehr dunkel, und die beiden Freunde konnten sich, unterstützt von Acajou, in die Lüfte erheben, ohne von jemandem bemerkt zu werden.
Hier möchte sicher gern der eine oder andere Leser etwas über die Form und den Antrieb dieses wunderbaren Flugapparates erfahren.
Ich muß gestehen (und welche Frage man mir auch stellen möge, ich werde nicht die Indiskretion begehen, auch nur eine zu beantworten), daß es mir nicht gestattet ist, das Geheimnis dieser bewundernswerten Maschine zu enthüllen. Ich darf hier nur soviel verraten, daß der Erfinder, nachdem er gewissenhaft den Flug der Vögel studierte, die Richtigkeit des Prinzips erkannt hat: schwerer als Luft, das später auch der berühmte Monsieur Nadar beherzigt hat. Er verzichtete völlig auf die Anwendung von Wasserstoffgas und eine riesige ballonartige Hülle, die dem Wind so viel Angriffsfläche bietet. Kurz gesagt, die Form meines (man verzeihe mir dieses unbescheidene Wort) Flugapparates war nicht anders als die des Fregattvogels, des schnellsten aller Vögel, der in wenigen Stunden tausendfünfhundert Seemeilen zurücklegt. Was den Motor anbetrifft, so habe ich mich meinem Freund Quaterquem gegenüber verpflichtet, das Geheimnis so lange zu wahren, bis er selbst die Zeit für gekommen hält, es zu lüften.[3]
Der wolkenlose Himmel und die klare Atmosphäre gestatteten, auch die kleinsten Details der Landschaft zu bewundern. Quaterquem, der neben seinem Freund in der Steuerkabine saß, richtete sich genauso sicher nach den Sternen wie ein Seemann auf See nach dem Kompaß.
„Hörst du den Fluß, der zwischen diesen beiden Bergketten hindurchrauscht? Erkennst du ihn? Das ist der Narbada. Die Berge rechts sind ein Teil des Ghats; jene links, die uns ihre dunklen Gipfel entgegenstrecken, gehören zu einer Kette des Vindhyagebirges…“
Sie flogen über das nachtklare Land, blickten auf die fernen Berge, erkannten unter sich den Dschungel, dann Steppe, schauten auf den dunklen Fleck einer großen Elefantenherde, die sich ihren Weg durch die Wälder bahnte.
Quaterquem machte eine leichte Bewegung. Das Steuerruder gehorchte seiner Hand wie ein gehorsames Kind der sanften Stimme seines Lehrers. Nach fünf Minuten schwebte das Luftschiff über einem befestigten Lager, das mit starken Palisaden umgeben und mit etwa hundertfünfzig Kanonen bestückt war. Die Fregatte senkte sich herab. Quaterquem warf den Anker in eine riesige Palme, und Corcoran kletterte mit Hilfe einer Strickleiter zur Erde.
„Warte auf mich“, sagte der Maharadscha, „in einer Stunde bin ich wieder hier.“
Dann wandte er sich, ohne auf Wachen zu stoßen (denn er war im inneren Bezirk des Lagers gelandet), zum Zelt von General Akbar, was soviel wie „der Siegreiche“ bedeutet, ein Titel, der ihm aufgrund seiner zahlreichen Niederlagen verliehen worden war.
Akbar saß auf einem Teppich. Seine ranghöchsten Offiziere umstanden ihn und rauchten schweigend.
„General Akbar, haben Sie Neuigkeiten vom Maharadscha erhalten?“ fragte einer von ihnen.
„Nein“, erwiderte Akbar.
„Er sitzt in seinem Palast in Bhagavapur und hat uns hier vergessen.“
„Der Maharadscha vergißt niemanden“, sagte Akbar.
„Inzwischen rücken die Engländer vor. In drei Tagen werden sie uns angreifen. Weiß das der Maharadscha?“
„Der Maharadscha weiß alles“, sagte Akbar.
„Wenn er es weiß, warum ist er dann nicht bei uns?“ Bei diesen Worten betrat Corcoran das Zelt.
„Wer sagt dir denn, daß er nicht hier ist, Oberst Hayder?“ fragte er scharf.
Sofort fielen alle Anwesenden auf die Knie und hoben ihre Hände zum Himmel.
„Der Maharadscha ist überall und sieht alles“, sagte Corcoran. „Er ist das rechte Auge Brahmas auf Erden. Er bestraft Nachlässigkeiten. Er ahndet Verrat.“
„Gnade! Gnade, Herr!“ rief Oberst Hayder, der sich schon gepfählt sah.
„Wer an mir zweifelt, verdient bestraft zu werden“, sagte Corcoran. „Aber ich werde dich nicht bestrafen. Du wirst allerdings die Armee verlassen, denn in ihr kann ich nur Männer gebrauchen, die wissen, daß mir Brahma seine Kraft und Allmacht gegeben hat.“
Nach diesem Exempel, das er für notwendig hielt, ließ sich der Bretone über die Situation der Armee und ihre Versorgung informieren; er zeigte sich seinen Soldaten, um sie zu ermutigen. Nachdem sich die Neuigkeit, daß er im Lager sei, unter den Soldaten verbreitet hatte, stießen sie Freudenschreie aus und zündeten Fackeln an, die seinen Weg erhellten.
„Lang lebe der Maharadscha! Lang lebe der Nachfolger Holkars, des letzten der Raghuiden!“
„Es ist gut“, sagte Corcoran. „Löscht die Feuer und kehrt in eure Zelte zurück.“
Man gehorchte ihm auf der Stelle. Sein Erscheinen, das ans Wunderbare grenzte, denn keine Wache hatte ihn ins Lager kommen sehen, verstärkte noch die ohnehin verbreitete Meinung, daß er die elfte Inkarnation Wischnus auf Erden sei.
Der Maharadscha verabschiedete seine Soldaten, gab den Offizieren letzte Weisungen, entfernte sich wieder und stieg über die Strickleiter wieder in die Fregatte hinauf.
„Ich habe eben einem armen Teufel gehörige Angst eingejagt“, sagte er und erzählte Quaterquem, was sich in dem Zelt zugetragen hatte.
„Welches besondere Vergnügen hast du denn daran, Verräter und Angsthasen zu regieren?“ fragte ihn Quaterquem. „Eines Tages werden dich diese Leute hinterrücks über den Haufen knallen.“
„Ach, lieber Freund“, erwiderte Corcoran, „es ist schon ein hartes Geschäft, Menschen zu regieren, aber ich kenne niemanden, der der Sache überdrüssig geworden wäre.“
„Und Karl der Fünfte?“
„Pah! Ein armer Teufel von Herrscher, der Gicht und Verdauungsbeschwerden hatte.“
„Und Diokletian?“
„Er hatte Angst, von seinem Schwiegersohn Galerius erwürgt oder vergiftet zu werden… Aber genug gerätselt über die Alten und die Heutigen. Besuchen wir jetzt lieber unsere Freunde, die Engländer. Ihr Lager muß nicht weit von hier sein. Nach dem Rapport meines treuen Akbar stehen sie dreiundzwanzig Meilen von ihm entfernt in südwestlicher Richtung, auf einem kleinen Hügel, der sich als Halbinsel in das Kerartal hineinschiebt.“
Quaterquem korrigierte die Flugrichtung, als ein gewaltiges Lachen, das aus dem Hintergrund der Fregatte zu ihnen drang, ihre Aufmerksamkeit erregte.
Acajou lachte aus vollem Halse, wobei er einen in der Dunkelheit kaum zu erkennenden Gegenstand betrachtete.
„Was ist denn mit dir los?“ fragte Quaterquem erstaunt.
„Oh, Mister Quaterquem, nicht ärgern!“ rief er, wobei er nicht aufhörte zu lachen. „Sie werden auch lachen, gleich. Acajou ist guter Neger, hat großen Spaß.“
Damit packte er mit seinen starken Armen den Gegenstand und brachte ihn, trotz dessen Widerstand, seinen Herren zu Augen. Beim Licht der Bordlampen erkannten sie den Gegenstand. Es war ein Mensch: Baber.
Der Hindu hatte einen Knebel im Mund, seine Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Und was die Beine betraf, die ebenfalls mit einem Strick gefesselt waren, so hatte es der Hindu, geschickt und wendig, wie er war, fertiggebracht, die Stricke schon teilweise zu lösen.
„Welches seltene Wild hast du uns da angeschleppt?“ fragte Quaterquem.
„Sie verstehen? Wenn seltenes Wild guten Herrn anfällt, dann wirft Acajou seltenes Wild über Bord. Aber Baber ist gutes Wild, tut niemand was.“
„Hat er sich etwa in die Fregatte geschmuggelt?“ fragte Corcoran. „In diesem Fall wirf ihn aus der Gondel. Ich begnadige nur einmal.“
„Nein, nein, Mister“, unterbrach ihn Acajou lebhaft. „Ich habe gesehen, wie er sich geschlagen hat mit Doubleface. Baber hat Doubleface erwürgt. Das heißt, eigentlich hat sich Doubleface selbst erwürgt. Acajou fand das feine Leistung, hat ihm viel imponiert. Acajou erwartet Baber auf dem Weg, bittet ihn um Rezept, Engländer zu erwürgen. Baber ist unhöflich, will kein Rezept hergeben. Ich bin guter Neger, tu niemand was, schlag Baber nur ganz kleines bißchen gegen die Brust, schon fällt er um. Steht wieder auf, will Acajou beißen und kratzen, Acajou an Haaren reißen, spucken, kreischen, plärren. Acajou ist ganz friedlich, holt Strick von Baber, bindet Hände von Baber zusammen, Füße von Baber, packt Baber, stellt ihn in eine Ecke der Gondel, will Baber Nini mitnehmen, damit Zozo lachen kann.“
„Der Teufel soll deinen Baber und Zozo holen“, sagte Quaterquem unwirsch. „Was sollen wir denn mit diesem Kerl machen? Man kann ihn nicht aus der Fregatte werfen, denn er ist schließlich gegen seinen Willen in sie hineingekommen. Ihn bewachen ist nicht sicher. Ihn aussetzen würde uns Zeit kosten. Zum Teufel mit diesem Baber!“
Diese Überlegungen machte er in französischer Sprache, die Baber unbekannt war. Er sah allerdings an Quaterquems Gesichtsausdruck, daß seine Anwesenheit in der Gondel den Reisenden gar nicht gefiel.
Corcoran hingegen, den Ellenbogen aufs Knie gestützt, das Kinn in der Hand, die Augen auf den Horizont gerichtet, überlegte. Plötzlich sagte er:
„Bind ihn los.“ Acajou zögerte.
„Mister“, sagte er, „das ist schlecht, Baber losbinden. Schlecht, sehr schlecht. Bissiger Hund, dieser Baber. Baber kratzt Acajou, wenn Acajou ihm den Rücken zeigt.“
„Gehorche“, sagte der Maharadscha. „Das wird dich lehren, keine bissigen Hunde mitzunehmen und keine Spielzeuge mehr für Monsieur Zozo zu suchen.“ Acajou gehorchte.
Der von den Stricken befreite Baber warf sich dem Maharadscha zu Füßen. Corcoran betrachtete ihn mit einem strengen Gesichtsausdruck.
„Ist das wahr, was Acajou gesagt hat?“ fragte er ihn.
Baber, der kein Wort von dem verstanden hatte, was Acajou gesagt hatte, erzählte mit seinen Worten das gleiche wie der Neger.
„Es ist gut“, sagte der Maharadscha. „Wenn ich dich wieder zur Erde zurückbringe, welches Gewerbe wirst du dann ausüben, um zu überleben?“
„Herr“, erwiderte Baber unbewegt, „welches Gewerbe könnte ich denn ausüben außer dem, das ich beherrsche.“
„Das heißt, daß du auch weiterhin die Reisenden auf dunklen Waldwegen überfallen wirst?“
Baber nickte.
„Du weißt“, sprach Corcoran weiter, „daß du hängen wirst, wenn ich dich dabei erwische?“
„Herr, in meinem Alter wechselt man den Beruf nicht mehr. Ich habe fünfundfünfzig Jahre heruntergelebt. Aber ich werde nicht länger in Eurem Staat bleiben, ich gehe nach Bombay, wo ich noch unbekannt bin.“
„Hast du Angst vor dem Tod?“
„Ich? Angst vor dem Tod? Ich weiß nicht. Ich hätte Angst, in den Schoß Brahmas, des Vaters aller Geschöpfe, einzugehen. Dort kenne ich mich nicht aus.“
Baber lächelte stolz. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er dem Neger ein Messer aus dessen Gürtel und stach es sich in die Hüfte. Dick tropfte das Blut aus der Wunde.
„Mein Gott!“ schrie Corcoran und entwand ihm das Messer.
„Großer und erhabener Maharadscha“, sagte Baber, „das ist nichts. Zwanzigmal habe ich mir auf dem Jahrmarkt von Benares, um eine Regung des Mitleids hervorzurufen und ein paar Rupien zu verdienen, eine Nadel in die Seite gestochen. Schaut Euch meinen Körper an, er ist mit unzähligen Narben bedeckt. Es gibt kaum Verletzungen, die ich mir nicht selbst zugefügt habe.“ Beim Sprechen wischte er das Blut ab und drückte eine Serviette, die ihm der verblüffte Neger gereicht hatte, auf die Wunde.
„Mister“, sagte Acajou, „laß diesen Bösewicht auf die Erde. Ich will ihn nicht mitnehmen auf unsere Insel. Baber frißt Nini und Zozo.“
„Wir werden sehen“, unterbrach ihn Corcoran. „Baber, willst du dir zehntausend Rupien verdienen und dich an den Engländern rächen?“
Bei dieser Frage lächelte der Hindu nach Art der Tiger.
„Erhabener Maharadscha“, sagte er. „Die Rache genügt. Die Rupien sind zuviel.“
„Ich glaube dir“, sagte Corcoran, „denn du machst ein Gesicht, als liebtest du die Rache. Doch um mehr Sicherheit zu haben, werde ich dir die Rupien geben. Hier hast du schon einen Vorschuß von tausend.“
Mit diesen Worten überreichte er ihm tausend Rupien.
„Erhabener Maharadscha“, sagte Baber würdevoll, „dieses Vertrauen ehrt mich; aber ich will nichts von Euch haben, bevor ich Euch meinen Dienst erwiesen habe. Seit die Welt Welt ist, seit Wischnu aus dem Lotus von Brahma und Brahma aus dem Lotus von Schiwa hervorgegangen sind, hat es keinen großmütigeren Menschen als Euch auf Erden gegeben. Ihr könnt strafen, und Ihr verzeiht auch. Jawohl, ich habe gelogen, ich habe gestohlen, ich habe getötet, ich habe mehr Meineide geschworen, als der Himmel ertragen kann; aber ich gehöre Euch für mein ganzes weiteres Leben vollauf. Baber hat niemals einen Herrn gehabt. Er wird jetzt einen haben, dem er treu dienen kann.“
„Woher kommt denn deine plötzliche Begeisterung?“ fragte Quaterquem, der zwar kein Hindi verstand, jedoch voller Erstaunen die leidenschaftlichen Bewegungen Babers registriert hatte.
„Das kommt daher, weil er seinen Meister erkannt hat“, sagte Corcoran auf französisch, um von dem Hindu nicht verstanden zu werden. „Dieser Tiger hat vor mir seine Schwäche gefühlt. Dennoch wird er mir treu ergeben sein, ich kenne mich ein wenig in der Seele der Tiger aus.“
„Fast so wie bei deiner Louison?“
„Oh!“ rief Corcoran mißbilligend aus, „wie kannst du meine charmante Louison mit diesem schrecklichen und wilden Gesellen vergleichen? Er fürchtet mich mehr, als er mich liebt. Louison dagegen ist ein Freund, fast wie ein Mensch… Nun, da ist ja schon das englische Lager“, sagte er plötzlich. „Ich erkenne den Hügel und den Fluß, von denen mir Akbar erzählt hat. Wirf den Anker in diesen Palmenwald, sechshundert Schritt von den Wachen entfernt.“ Und dann, sich an Baber wendend:
„Du wirst tun, was ich sage!“
Und er reichte ihm die Hand. Baber küßte sie ehrerbietig und erwartete die Befehle des Maharadschas.
Das englische Lager nahm fast den gesamten Hügel ein. Achtzehntausend Europäer bildeten die Hauptstreitmacht dieser Armee. Sechstausend Sikhs und viertausend Gurkhas aus Nepal, robuste, genügsame, mutige und gefährliche Soldaten, wenn sie gut geführt werden, hatten die rechte und linke Seite eingenommen. Die Engländer lagerten im Zentrum. Die Sepoyregimenter, deren Verläßlichkeit man mißtraute, wollte man nicht wieder gegen Corcoran einsetzen.
Außer den Soldaten befanden sich mehrere Händler im Lager, die mit Waren aller Art handelten und im Dienste der Armee standen. Diese Händler führten ihre Frauen und ihre Kinder mit sich, und manchmal hatten sie auch noch Bedienstete. Eine unzählige Anzahl von Gefährten jeder Art, kleine und große Karren und Wagen standen nur scheinbar in schönster Unordnung herum und versperrten die Wege. In Wirklichkeit bildeten sie eine Art Schutzwall. Denn obwohl man vom Feind sehr weit entfernt war, der Krieg außerdem noch nicht erklärt, kannte Generalmajor Barclay Corcoran zu gut, als daß er sich ausschließlich auf seine Wachen verlassen hätte.
Denn es war niemand anders als unser alter Freund, Colonel Barclay, der nach dem Sepoyaufstand zum Generalmajor befördert worden war, der wiederum die gegen Corcoran zu Felde ziehende englische Armee kommandierte.
Barclay hatte diese gefährliche Ehre durch außerordentliche Verdienste erworben. Niemand – außer General Havelock und Sir Colin Campbell – hatte mehr als er zur Niederschlagung des Sepoyaufstandes beigetragen. Niemand hatte außerdem, das muß gesagt werden, die Besiegten härter behandelt als er.
Er hängt sie, so schnell er kann, schrieb sein Stabschef an Lord Henry Braddock, und die Bäume auf seinem Weg haben mitunter weniger Früchte als Gehängte.
Alles in allem war er ja ein biederer, ehrlicher und solider Gentleman, der bloß etwas zu sehr davon überzeugt war, daß die Welt ausschließlich für Gentlemen gemacht ist, während der Rest der Menschheit den Gentlemen nur die Stiefel zu putzen hat.
Mitternacht war vorbei. Barclay, allein in seinem Zelt, war gerade im Begriff, sich auf seinem Feldbett schlafen zu legen. Er war mit sich sehr zufrieden. Gerade hatte er in seinem schönsten Hindistil eine Proklamation verfaßt, die dazu bestimmt war, in fünf Tagen den Marathen kundzutun, daß die englische Regierung in ihrer großen Weisheit beschlossen habe, sie vom Joch des Betrügers Corcoran zu befreien, der sich durch Diebstahl, Betrug und Totschlag Holkars Reich angeeignet habe. Nachdem er dieses beredte Schriftstück vollendet hatte, seufzte er laut auf.
Obwohl er noch nicht schlief, träumte er schon. Er träumte vom Oberhaus und von Westminster Abbey. Köstliche Träume!
Seine Vorkehrungen waren getroffen. Unter seinem Kommando hatte sich die schlagkräftigste Armee versammelt, die jemals in Hindustan gekämpft hatte. So listig und wendig Corcoran auch sein mochte, diesmal würde man ihn überraschen, denn man wollte sein Land ohne Kriegserklärung überfallen. Vielleicht war er sogar bereits tot – Barclay war über den Ausgang der Konspiration Doublefaces noch nicht unterrichtet –, wenn er die Grenzen überschritt, und mit welchem Feind würde man es dann wohl schon zu tun haben?
Am Sieg der englischen Waffen gab es demnach nicht den mindesten Zweifel.
Er würde also ohne nennenswerten Widerstand in Bhagavapur einziehen.
Er würde damit England ein Reich mehr bescheren können. Er würde in einem Namen mit Clive, Hastings und Wellesley genannt werden.
Sein Anteil an dem Fischzug würde also gewiß nicht weniger als drei Millionen Rupien betragen.
Nun, mit zwölf Millionen französischen Franc und dem Titel „Der Sieger von Bhagavapur“ müßte er notwendigerweise einen Sitz im Oberhaus und den Titel eines Marqueß bekommen. Um da ganz sicherzugehen, könnte man sich ja den Marqueßtitel einer Grafschaft kaufen.
Zufälligerweise war in der Grafschaft Kent, fünf Meilen von Dover entfernt, ein nagelneues Schloß, Oak Castle, zu verkaufen, das von einem Händler aus der Londoner City erbaut worden war, der allerdings in dem Moment bankrott ging, als er sich im Schatten der zahlreichen Eichen und Buchen von ebendiesen Geschäften erholen wollte. Oak Castle stand zum Verkauf. Und zu dem Schloß gehörten dreitausend Hektar Wald, Wiese und Felder.
John Barclay, Lord Andover, war auch nicht in der Verlegenheit, sein Schloß nicht bevölkern zu können. Dank einer Fügung des Himmels war Lady Andover (respektive Mistreß Barclay) mit einer außerordentlichen Fruchtbarkeit gesegnet – bis jetzt hatte sie vier Söhnen und sechs Töchtern das Leben geschenkt.
Der älteste Sohn, James, würde der künftige Lord Andover werden. Er diente bei den Horse Guards und gab seiner Mutter Anlaß zu den größten Hoffnungen, denn bis jetzt hatte er schon zweitausend Pfund Schulden gemacht. Die anderen drei Söhne…
Als Barclay gerade die Zukunft seiner anderen Söhne erträumen wollte, wurde er durch tumultartigen Lärm, der unweit seines Zeltes anhob, aus den süßen Phantastereien gerissen.
„Herr“, hörte er eine Stimme auf Hindi, „ich will den General sprechen!“
„Was willst du von ihm?“ fragte Barclays Adjutant.
„Herr, ich kann es nur dem General selbst sagen.“
„Dann komm morgen wieder.“
„Morgen!“ rief der Hindu entsetzt. „Morgen wird es zu spät sein!“
Er versuchte erneut das Zelt zu betreten. Barclay hörte wiederum Lärm, dann Schläge und die Stimme des Adjutanten:
„He! Zwei Männer zu mir. Führt diesen komischen Kauz ab und sperrt ihn bis morgen ein.“
„Morgen!“ schrie der Hindu verzweifelt. „Morgen werdet ihr alle tot sein!“
Bei diesen Worten sprang Barclay vom Bett, suchte nach den Pantoffeln und schlug, nachdem er sie an den Füßen hatte, auf den Gong.
Sofort erschien sein indischer Kammerdiener.
„Dyce“, fragte der General, „woher kommt dieser Lärm?“
„Herr“, erwiderte Dyce, „es handelt sich um einen Unglücklichen, der den Schlaf Eurer Ehren unterbrechen wollte, unter dem Vorwand, Euer Ehren eine wichtige Mitteilung machen zu wollen. Aber Major Richardson wollte nicht, daß man Euer Ehren weckt, und hat den Hindu mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt.“
„Ruf Richardson.“ Der Adjutant trat ein.
„Wo befindet sich der Mann, den ich soeben gehört habe?“ fragte Barclay.
„General“, antwortete Richardson, „er ist in guter Obhut.“
„Warum haben Sie mich nicht von seiner Anwesenheit benachrichtigt?“
„General, ich habe gedacht, daß man Ihren kostbaren Schlaf nicht stören sollte.“
„Da haben Sie falsch gedacht“, sagte Barclay trocken. „Führen Sie mir den Mann vor.“
Verstimmt verließ Richardson das Zelt. Fünf Minuten später erschien der Hindu vor dem General. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, lang, hager, schlecht gekleidet, dessen malträtierte Wange noch die Spuren von Richardsons Faustschlag aufwies. An der Hüfte bedeckte eine blutverschmierte Serviette nur unzureichend eine Verletzung, die offensichtlich schwererer Natur sein mochte. Kurzum, es war unser Freund Baber.
Beim Anblick des Generals nahm er eine unterwürfige Haltung an und wartete gesenkten Blickes darauf, daß der General das Wort an ihn richtete.
„Wer bist du?“ fragte der General.
„Ein armer Parse, General, der der Armee folgt und den Soldaten Reis, Salz, Butter und Zwiebeln verkauft.“
„Dein Name?“
„Baber.“
„Was willst du von mir?“
„General“, sagte der Hindu, „ich bin gekommen, um Euch zu retten; aber man hat mich mit Faustschlägen und Kolbenstößen daran gehindert. Der Major hat mir zwei Zähne eingeschlagen.“
Dabei zeigte er auf seinen blutverschmierten Mund und holte ein schmutziges Tuch aus seiner Tasche, in dem die beiden Zähne eingewickelt waren.
„Schon gut, man wird sie dir bezahlen“, sagte Barclay. „Du wolltest uns also retten? Vor wem denn?“
„Herr“, sagte der Hindu, „man hat Euch verraten.“
„Wer sollte das tun?“
„Ich habe Sikhsoldaten im Lager darüber reden hören. Alle Unteroffiziere sind auf seiner Seite.“
„Auf wessen Seite?“
„Auf der Seite des Maharadschas.“ Dieser Name machte Barclay nachdenklich.
„Wo ist der Maharadscha?“
„Herr, ich weiß es nicht genau. Bevor ich zu Euch kam, habe ich von zwei Sikhsoldaten gehört, daß er mit seiner Reiterei auf der Straße nach Bombay sein soll, drei Meilen von uns entfernt.“
Diese Neuigkeit war besorgniserregend. Barclay betrachtete den Hindu. Sein listiges, aber unbewegliches Gesicht ließ keine weiteren Schlüsse zu. Andererseits hatte er von seinen Kundschaftern nichts über eine Truppenbewegung des Feindes gehört.
„Nenn mir die Verräter“, sagte er.
„Herr“, erwiderte Baber, „ich will es gern tun. Aber Ihr könnt Euch nur noch auf Eure Garde verlassen. Jeden Moment kann der Aufruhr losgehen!“
„Richardson, lassen Sie diesen Mann bewachen und alle englischen Regimenter leise wecken. Sollte es tatsächlich einen Verrat geben, so werden wir die Verräter überraschen und ihnen eine Lektion erteilen, die ganz Indien in unliebsamer Erinnerung bleiben wird.“
Man führte Baber weg. In dem Augenblick allerdings, als Richardson Befehl geben wollte, die englischen Regimenter unauffällig zu wecken, ertönte ein lauter Ruf: „Feuer! Feuer!“
In Sekundenschnelle schien das ganze Lager in Flammen zu stehen. An fünf oder sechs verschiedenen Orten war gleichzeitig Feuer ausgebrochen, ohne daß man es vorher bemerkt hätte.
Sofort erscholl Trommelwirbel, Trompeten schmetterten und riefen alle Soldaten zu den Waffen. Kavalleristen, Infanteristen, Artilleristen, plötzlich geweckt, liefen halb bekleidet umher und wußten nicht, gegen welchen Feind sie eigentlich kämpfen sollten.
Das Feuer hatte zuerst die Stelle erfaßt, an der die Händler lagerten. In wenigen Augenblicken brannten die leichten Wägelchen lichterloh. Die Flammen breiteten sich in Windeseile weiter aus und erreichten die Munitionskästen, in denen Kugeln, Granaten und Pulver lagerten. Die ersten Pulverkisten explodierten. Schon waren die Mannschaften, die für die Verpflegung und den Nachschub mit Munition zuständig waren, in heilloser Flucht den Hügel hinabgestürmt. Frauen, Kinder, Pferde und Maultiere folgten ihnen und vergrößerten das Durcheinander. Von allen Seiten schrie man: „Verrat! Verrat!“
Barclay, der in dem ganzen Tohuwabohu Ruhe und Übersicht bewahrte, hatte nur Sorge, seine englischen Regimenter um sich zu sammeln, und trotz des Geschreis und Getümmels gelang es ihm auch; allerdings war die Artillerie so gut wie außer Gefecht gesetzt. Eine Kiste nach der anderen fing Feuer, und es war gefährlich, sie löschen zu wollen. Schon stand ein Drittel des Lagers in Flammen, und man konnte nur hoffen, daß es nicht weiter um sich griff.
Unglücklicherweise glaubten die Sikhsoldaten, durch den Lärm und die Detonationen geweckt und von umherfliegenden Granatsplittern und explodierenden Kugeln getroffen, daß Barclay beschlossen habe, sie zu vernichten. Deshalb schossen sie auf die englischen Regimenter, die natürlich das Feuer erwiderten. In kaum fünf Minuten bedeckten mehr als dreihundert Tote den Boden. Barclay, der überzeugt davon war, daß er es mit den Verrätern zu tun habe, befahl, mit dem Bajonett gegen sie vorzugehen. In aller Eile nahmen die verschreckten Sikhs Reißaus und flüchteten sich auf das offene Feld. Die englische Kavallerie verfolgte sie mit gezogenem Säbel und mähte erbarmungslos nieder, wen sie erreichen konnte.
Bei Tagesanbruch sah man die Bescherung. Etwa tausend Soldaten von Barclays gesamter Armee, Engländer, Sikhs und Gurkhas, waren tot über die Hügel und die Ebene verstreut; die übrigen Sikhs und Gurkhas hatten Zuflucht in den Wäldern gesucht. Die Engländer hatten einen Großteil ihrer Ausrüstung verloren, vor allem ihre ganzen Lebensmittelvorräte und das Pulver. Gesenkten Hauptes trat Barclay den Rückzug nach Bombay an. Und er hatte gehofft, als Sieger, Millionär, Lord Andover und Marqueß dorthin zurückzukehren.
Dabei blieb ihm auch nicht der Schmerz erspart, jetzt die Ursache seines Desasters zu erfahren. Die Sikhs und Gurkhas hatten nie die Absicht gehabt, ihn zu verraten; das erfuhr er von einigen besonnenen indischen Offizieren, die versucht hatten, ihre Leute zurückzuhalten – ein vergebliches Unternehmen inmitten der allgemeinen Verwirrung, die durch die Feuersbrunst von allen Besitz ergriffen hatte; niemand wollte ihn hintergehen, außer diesem verfluchten Baber. Mit jenem hätte Barclay sehr schnell seine Rechnung beglichen, wenn er gewußt hätte, wo er ihn fassen könnte.
Baber jedoch, der über die Gefühle der Engländer ihm gegenüber keinen Zweifel hegte, war es gelungen, bei dem allgemeinen Durcheinander seinen Wächtern zu entkommen, unterzutauchen und sich so schnell wie möglich aus dem Staube zu machen. Im Augenblick befand er sich auf dem Weg nach Bhagavapur, wo ja unter anderem noch die stattliche Summe von neuntausend Rupien auf ihn wartete.
Aus ihrer Fregatte sahen Corcoran und sein Freund Quaterquem dem imposanten Schauspiel der Feuersbrunst im englischen Lager zu. Beide starrten schweigend in die Tiefe.
„Es ist schrecklich“, sagte schließlich Quaterquem. „Wäre ich nicht dein Freund, so hätte ich diesen Unglückseligen beigestanden. Tausend Tote und zwei- bis dreitausend Verletzte.“
„Mein Freund“, entgegnete der Maharadscha, „es ist besser, den Teufel zu töten, als von ihm getötet zu werden.“
„Ja, zweifellos.“
„Hätte ich mich vorteilhafter aus der Schlinge ziehen können? Dieser Baber ist in der Tat ein wertvoller Spitzbube. In wenigen Sekunden hat er an vier verschiedenen Stellen Feuer gelegt, ohne von jemandem gesehen zu werden. Und mit welcher Geschmeidigkeit er ins Gebüsch gekrochen ist und die Wachen täuschte! Mit welcher Haltung er die Faustschläge und Kolbenstöße ertragen hat! Man redet so viel über den Mut und die Geduld Catos. Mein Freund, Cato war ein Nichts gegen diesen Hindu. Wenn es ihm seit frühester Kindheit vergönnt gewesen wäre, die erstaunliche Festigkeit seines Charakters sinnvoll zu entwickeln, dieser Gauner wäre heute einer der tüchtigsten Männer meines Reiches.“
„Welchen Vorteil hoffst du aus diesem Sieg zu ziehen? Barclay wird in vierzehn Tagen mit einer neuen Armee anrücken.“
„Das glaube ich nicht. Diese Armee wird spätestens in einem Monat aufgestellt, verproviantiert und in Marsch gesetzt werden können. Das ist immerhin etwas. Überdies ist es nicht ausgeschlossen, daß Lord Henry Braddock, von einem so niederschmetternden Beginn des Feldzuges entmutigt, nicht länger darauf beharrt, mich zu besiegen, und deshalb vielleicht in Frieden mit mir leben will; schließlich hat es zwischen uns keine Kriegserklärung gegeben, vielleicht hat er auch eigenmächtig, ohne Zustimmung aus London, gehandelt? Und dann darfst du nicht vergessen, daß man sich erzählen wird, daß auf meinen Ruf hin Wischnus Feuerstrahl vom Himmel gefallen sei und die Engländer vernichtet habe. Wer weiß, was daraus entstehen kann. In dieser Hinsicht rechne ich mit Baber, der viel für die Verbreitung der Legende tun wird… Aber da kommen schon die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Himalaja herauf. Es wird Zeit, daß wir unsere Reise fortsetzen.“
„Willst du in dein Lager zurückkehren?“
„Das eilt nicht, und da die Gelegenheit günstig ist, würde ich mich nicht ärgern, wenn wir uns aus der Vogelperspektive dieses wunderbare Persien anschauten, von dem uns in der Schule so viel erzählt wurde.“
„Wie du willst“, erwiderte Quaterquem und änderte die Flugrichtung der Fregatte.
„Was ist das für ein großer Fluß, der im Himalaja entspringt und sich in den Indischen Ozean ergießt?“
„Erkennst du ihn nicht? Das ist der Indus. Und die Flüsse, die in ihn münden, sind die des Pandschab. Diese gewaltige Sandwüste vor dir am Horizont, die im Norden durch eine hohe Bergkette und im Süden durch den Indischen Ozean begrenzt wird, ist Arachosien und Gedrosien, wo ein großer Teil der Armee Alexanders von Makedonien verdurstete. Die Berge gehören zum Hindukusch, den die Griechen indischen Kaukasus oder Paropamisos nannten. Unsere Kabinettgeographen, die außer der Straße von Paris nach Saint-Cloud noch nichts weiter gesehen haben, werden dir erzählen, daß es hier früher mächtige Völker und fruchtbare Täler gegeben habe. Sieh selbst: Im Süden erblickst du Belutschistan, im Norden Afghanistan und Kafiristan. Wieviel Städte und Dörfer siehst du in diesen von den Griechen als so überaus fruchtbar und bevölkert bezeichneten Gebieten? Wo sind Straßen oder gar Flüsse? Hier und dort kann man in einem schattigen Tal, das sich zwischen zwei Berghängen versteckt, eine Moschee, einen Brunnen und einige Ruinen entdecken. Sind das etwa die großen Städte der Perser und Meder?“
„Haben uns die alten Historiker etwas vorgeflunkert?“ fragte Corcoran.
„Sicher nicht, aber sie hielten für wahr, was ihnen genehm war. Wenn du zum Beispiel liest, daß Lukullus in einer einzigen Schlacht dreihunderttausend Barbaren vernichtet und dabei nur ganze fünf Männer verlor, dann erkennst du die hemmungslose Aufschneiderei dieser Hofberichterstatter. Auch wenn die Griechen behaupten, daß es Xerxes mit drei Millionen Mann nicht gelang, ihr Land zu erobern, das so groß wie drei französische Departements war. Man denkt bei dieser Geschichtsschreibung unwillkürlich an das Märchen vom Däumling und dem Menschenfresser, der mit seinen Siebenmeilenstiefeln bei jedem Schritt sieben Meilen zurücklegte. So ist das.“
„Was ist denn das für ein großer See, der zu unserer Rechten funkelt und das Sonnenlicht zurückwirft?“
„Das ist das Kaspische Meer, und die Karawane, die wir am Horizont sehen und die mitten in der Ebene lagert, kommt von Teheran und zieht nach der heiligen Stadt Balch, dem alten Baktra, der Hauptstadt von Baktrien. Und die Reiter, die noch etwa sieben bis acht Meilen von ihnen entfernt sind, werden räuberische Turkmenen aus Chiwa sein, die die Karawane auf ihrem Weg abpassen, wie im vorigen Jahrhundert der selige Mandrin die Abgesandten der Regierung auf den bequemen Wegen in Burgund erwartete. Jeder übt hier, um zu überleben, das Gewerbe aus, das er am besten beherrscht, wie du an deinem Freund Baber siehst.“
„Ja“, erwiderte Corcoran, „es ist allerdings ein schreckliches Gewerbe.“
„Schrecklich? Aber in allen Londoner oder Pariser Salons stellen doch jeden Tag die distinguiertesten Männer in aller Nüchternheit Berechnungen an, wie sie zu einigen hunderttausend Franc mehr kommen können, was möglicherweise den Tod von einigen Tausenden Menschen zur Folge haben könnte. Ich kenne in Bombay drei ehrenwerte Händler – zwei Parsen und einen Engländer –, die Gott fürchten, jeden Morgen und Abend zu ihm beten, und die sich letztes Jahr zusammengetan haben, um in der Provinz das Reismonopol zu erwerben. Nach vierzehn Tagen hatte ihr Schachzug den Reispreis um das Doppelte in die Höhe getrieben. Von diesem Reis leben dreißig Millionen Menschen. Vierzigtausend Inder sind vor Hunger gestorben; der Rest mußte den Gürtel enger schnallen; die drei Händler haben ein märchenhaftes Vermögen dabei gemacht. Würdest du dich weigern, die Hand dieser ehrenwerten Mitglieder der Gesellschaft zu schütteln? Sie haben kein Gesetz übertreten. Nichts verbietet ihnen, Reis zu kaufen und mit Gewinn weiterzuverkaufen.“
„Und deshalb hast du dich auf deine Insel zurückgezogen wie weiland Robinson Crusoe sich auf die seine?“
„Ja. Dort bin ich wenigstens weit genug von den anderen Menschen entfernt. Sieh an, es ist erst acht Uhr. Wir sind nur zweitausend Meilen von Quaterquem entfernt. Komm mit und schau dir meine Insel an. Wenn wir gemütlich weiterfliegen, sind wir gegen sechs Uhr abends dort. Nini wird uns ein vorzügliches Souper bereiten, und wir könnten den Abend gemeinsam verbringen, indem wir uns über dies und jenes unterhalten. Du wirst sehen, ob meine Einsamkeit nicht dein Reich, deine Krone und deine Hoffnung, eines Tages Herrscher über Indien zu sein, aufwiegt?“
„Vielleicht hast du recht“, sagte Corcoran. „Denken wir übrigens nicht mehr daran und besuchen wir deine Insel. Es ist mir ein Vergnügen, heute abend Ninis Kochkünste zu genießen und Monsieur Zozo zu umarmen.“
Bei diesen Worten wurde die Fregatte von einem gewaltigen Stoß erschüttert. Das war Acajou, der vor Freude, am selben Tag noch Nini zu sehen und mit ihr zu speisen, in der Gondel umhersprang.
„Oh, Mister Quaterquem!“ schrie er. „Sie sind gut wie warmes Brot; zart wie Reiskuchen, der vom Feuer kommt. Wie wird sich Nini freuen! Nini wird Acajou wiedersehen, ihn streicheln, ihre Hände auf Acajous Haar legen. Nini wird Ärmel hochkrempeln, Teig kneten und Apfeltorte backen. Acajou wird neben Nini Äpfel schälen und Bratspieß für Nini drehen. Acajou wird Zozo auf seinen Knien halten und mit Zozo essen und ihm Lied vom Krokodil vorsingen, das seine Brille verloren hat:
Runde Brille vom Kroko
auf der Nase von Zozo…“
Dabei imitierte der Neger nacheinander Nini, Zozo, das Krokodil und lachte aus ganzem Herzen.
„Schau dir diesen glücklichen Acajou an“, flüsterte Quaterquem seinem Freund zu. „Er ist nicht gebildet, weder stolz noch furchtlos, weder vorausschauend noch intelligent oder kühn wie du; er ist nicht Maharadscha, und noch viel weniger denkt er daran, eines Tages Herrscher über Indien zu werden. Nini und Zozo, Alice und ich, das ist sein ganzer Horizont; mein Haus, meine Insel, die man in drei Stunden abgeschritten hat, ist sein Universum. Er ist tausendmal glücklicher als du, der sich abarbeitet und zerreißt, um an ein illusionäres Ziel zu gelangen. Und in dem Moment, wo du glaubst, dein Ziel erreicht zu haben und hundert Millionen Sklaven befreien zu können, wirst du an irgendeiner Kugel sterben, die man aus dem Hinterhalt auf dich abfeuern wird.“
„Und du willst damit sagen“, unterbrach ihn Corcoran, „daß ich besser daran täte, es Acajou nachzumachen; mein lieber Freund, das hieße vom Apfelbaum Pflaumen zu erwarten. Jetzt ist der Wein eingegossen, und man muß ihn trinken.“
Während dieser Unterhaltung durchflog die Fregatte, von kundiger und geschickter Hand gesteuert, die Lüfte mit einer Geschwindigkeit, der auf Erden nichts gleichkam, ausgenommen vielleicht die Elektrizität.
Vom Kaspischen Meer war man ostwärts geflogen, hatte nach etwa einer Stunde den Himalaja erreicht und flog nun über Tibet hinweg, dessen Berge in ewigem Schnee glitzerten.
Von dort drehte man dann südwärts, da der Widerschein des Schnees die Augen ermüdete und die Reisenden gleichzeitig die Kälte immer unangenehmer spürten, obwohl Quaterquem dem Klimawechsel vorgebeugt hatte und mehrere Plaids und warme Kleidung an Bord mit sich führte. Bald hatte die Fregatte ihre großen Schwingen über das weite und dunkle Gangesdelta gebreitet, das fruchtbarste des Universums.
Sie sahen auf den Fluß, der in der Sonne glitzerte, von einer Unmenge kleiner Dschunken und Segelboote übersät. Schließlich entdeckten sie in der Ferne Kalkutta.
Es war inzwischen Mittag geworden, und die sengende Sonne ließ Tiere und Menschen in ihre Unterkünfte fliehen. Die gewaltige Stadt schien menschenleer zu sein. Da und dort schliefen einige Gruppen von Indern friedlich im Schatten der Hauseingänge. Aber nicht ein Europäer überquerte die Straßen. Die Geschäfte waren leer, selbst die Natur schien die Ruhe zu genießen:
„Schau dir Fort William an“, sagte Corcoran. „Dort sitzen unsere gefährlichsten Feinde. Siehst du die englische Flagge, die über dem Palast flattert. Das ist der Palast von Sir Henry Braddock. Wieviel elende Hütten, um einen teuren und prächtigen Palast in dieser gewaltigen Stadt entstehen zu lassen!“
„Ach, mein Freund, schau dir doch Paris oder London genauer an. Du findest die gleichen Kontraste.“
Und während die beiden Freunde ihre Eindrücke austauschten und darüber philosophierten, setzte die Fregatte ihren Flug fort und wandte sich pfeilschnell Richtung Indochina. In weniger als zwei Stunden überquerte sie die Königreiche Burma und Siam, das Land der Annamiten und die steinige, vulkanische Insel Sumatra.
„Du siehst heute etwas“, sagte Quaterquem zu dem Maharadscha, „was vor mir noch kein anderes menschliches Auge erblickt hat. In diesen gewaltigen Tälern, in denen Flüsse rauschen, neben denen die Donau und der Rhein nur Bächlein sind, ist der Europäer ein unbekanntes Wesen. Hier und da gibt es in den undurchdringlichen Wäldern, durch die Wege zu schlagen selbst die Siamesen und Annamiten nicht gewagt haben, einige wenige Missionsstationen.“
Der asiatische Kontinent schien unter den unbeweglichen Reisenden hinwegzugleiten. Man hätte glauben können, daß die Wolken besonders schnell unter den Schwingen der Fregatte dahinschwebten. Um nicht zu sehr in ihrem Dunst zu verschwinden, ließ Quaterquem die Fregatte steigen. Als der Himmel dann wieder aufklarte, ging er auf fünfhundert Fuß Höhe hinab.
Schließlich machte sich die Nähe des Pazifischen Ozeans bemerkbar. Schon war die Atmosphäre mit einem salzhaltigen Duft angereichert, und sich drehende Winde versuchten einmal die Geschwindigkeit der Fregatte zu verringern, ein andermal ihren Weiterflug zu beschleunigen. Doch dem Luftschiff machten diese wechselnden Wetterbedingungen offensichtlich nichts aus, denn es setzte ruhig seinen Flug fort.
„Jetzt sind wir über dem Chinesischen Meer“, sagte Quaterquem. „Bis zu meinem Staat ist es nicht mehr weit. Hörst du den Ozean rauschen? Das sind die Wellen, die sich an den Felsen der Insel Borneo brechen. Eine schöne Insel, dieses Borneo; aber der Sultan, der dort regiert, hat schlechte Angewohnheiten; er liebt frisches Fleisch und würde aus dir und mir nur einen Frühstückshappen machen, wenn wir Lust verspürten, dort zu landen.“
„Während meiner Reisen bin ich einmal einem Engländer namens Brooke begegnet“, sagte Corcoran, „der sich nicht weit von hier niedergelassen hat, um genau zu sein, direkt im Rachen des Ungeheuers, in Sarawak.“
„Ja, ich erinnere mich, ich kenne die Geschichte. Mister Brooke war ein draufgängerischer Zeitgenosse, der in der Ostindischen Kompanie gedient hatte. Nachdem er ein Vermögen erworben hatte, langweilte er sich. Er ist ein Misanthrop, fast so wie ich. Er wollte Indien, England und alle zivilisierten Länder hinter sich lassen. Für einen Engländer nur eine ganz natürliche Idee. Aber jeder Engländer muß auch reich sein und es komfortabel haben; nun, er hatte ja kein unerhebliches Vermögen. Er charterte ein kleines Kriegsschiff, bestückte es mit zwanzig Kanonen, und wie man auf Hasenjagd geht, begab er sich ins Chinesische Meer, um Jagd auf malaiische Piraten zu machen. Blick unter dich…
Von der Halbinsel von Malakka bis Australien ist das nämlich ein riesiger Kontinent. Es gibt hier mehr Inseln als Haare auf meinem Kopf (und Quaterquem war alles andere als kahl). Nun, die Malaien, die sich ärgerten, dem Sultan von Borneo auf seiner Insel Gesellschaft zu leisten, hatten Tausende von Barken und Dschunken ausgerüstet, die sich in allen Ecken des Archipels auf die Lauer legten und auf die Handelsschiffe aus China, England und den Vereinigten Staaten warteten. Leider warteten sie umsonst auf die unseren, und das aus gutem Grund. In diesen Gewässern lassen sich im Jahr nicht mehr als fünfzig französische Schiffe sehen.
Brooke, der ein kühner Spekulant war, bot den Händlern aus Singapur an, für sie Piraten zu jagen, wenn sie ihm für jeden Piratenkopf fünfzig Franc zahlten. Man einigte sich schnell, und der Vertrag wurde von beiden Seiten äußerst gewissenhaft erfüllt.
Wie man sich erzählt, soll er bei diesem kleinen Geschäft einige hunderttausend Franc gewonnen haben. Sein Ansehen verbreitete sich im ganzen Archipel, und der Sultan von Borneo bot ihm seine Allianz und den Teil Borneos an, den man Sarawak nennt. Dort lebt Brooke wie ein Patriarch, umwoben von der allgemeinen Wertschätzung des Volkes. Schau dir seine Insel und sein Haus an, das wie eine Festung wirkt.“
Währenddessen begann sich der Tag zu neigen.
„Wie spät ist es?“ fragte Corcoran.
„Viertel vor vier. Es wird Zeit, daß wir heimkommen. Wenn wir zu spät eintreffen, wird sich Nini schlafen legen, und wir kriegen heute nichts mehr zu essen… Hopp, Hopp, Fregattchen! Hopp, meine Schöne. Vorwärts!“
Und mit diesen Worten betätigte er irgendeinen Hebel, und die Fregatte segelte mit neuem Schwung schneller als je zuvor dahin.
„In diesem Augenblick fliegen wir mit einer Geschwindigkeit von dreihundertfünfzig Meilen dahin“, sagte Quaterquem. „Wenn wir jetzt gegen die Spitze eines Berges brausten, so würden wir wie böhmisches Glas zerschellen… Ah, endlich. Wir nähern uns unserem Ziel.“
Im selben Augenblick hielt die Fregatte so abrupt an, daß die drei Reisenden kreuz und quer durch die Gondel purzelten und Corcoran schon befürchtete, sie seien gegen einen Berg oder ein anderes Hindernis gestoßen.
Aber Quaterquem beruhigte ihn.
„Dieser Acajou!“ rief er. „Vor lauter Ungeduld, Nini und Zozo wiederzusehen, hat er die Maschine zu schnell angehalten. Ruhig Blut, Acajou, wir wollen uns nicht zu guter Letzt noch die Knochen brechen.“
Ich würde nicht sagen, daß Nini die schönste Person auf der Insel sei; das würde ihr nicht gerecht werden, weil sie ja durch Alices Abwesenheit die einzige Dame auf der Insel war. Ich würde sogar noch viel weiter gehen und sie als ganz außergewöhnliche Schönheit bezeichnen. Es stimmt, sie war schwarz – von einem herrlichen Schwarz! Und die Zähne waren so weiß! Die Nase war ein wenig platt, sicher, aber nur ein wenig! Und ihre Augen waren so schön, so schwarz, so voller Zärtlichkeit und Anteilnahme. Die Lippen etwas aufgeworfen. Warum auch nicht? Oder haben Sie dünne, verkniffene Strichlippen lieber, die man unter den Nasen von so vielen Französinnen sieht und die, fürchte ich, wohl keinen großzügigen Charakter verraten.
Natürlich war der Rest der Person wohlproportioniert. Phidias selbst, der, wie man sagt, ein Kenner war, hätte nichts Besseres gefunden.
Ninis Schönheit war auch aus dem Grunde noch besonders verblüffend, weil sie sich nicht mit überflüssigem Schmuckwerk behängt hatte. Wenn man von einer Korallenkette, teuren Ohrringen, einem Dutzend Ringen, die sowohl an Fingern und Zehen steckten, und vier Armreifen absieht, hatte Nini dem eitlen Ruhm nichts geopfert. Sie trug weder Korsett noch Krinoline, weder Halb- noch Schnürstiefel, weder Schuhe noch Strümpfe, sondern war mit einem schlichten Kleid aus roter Baumwolle gekleidet.
Eine einzige Sache fehlte ihr; das war ein goldener Nasenring, und Acajou bedauerte wie sie selbst, daß Mister Quaterquem und Missis Alice ihr nicht erlaubten, diesen für die Schönheit unabdingbaren Schmuck zu tragen.
Zozo, etwa zwei Jahre alt, hatte die Farbe und die Anmut seiner Mutter, der er Zug für Zug ähnlicher sah. Er war schon ein munteres Bürschchen, wild, der wie ein Mann schrie – ja, noch viel lauter als ein Mann –, der wie ein Wolf aß, der seine Peitsche wie ein Postillon knallen ließ, der alle Töpfe ausleckte und sich, so gut es ging, nützlich machte, indem er Tassen, Gläser und Teller zerschlug.
Alles in allem ein charmantes Kind.
Seine Kleidung war weniger kompliziert als die seiner Mutter. Sie bestand aus einem kurzen Hemd, das seine Beine und seine Schultern frei ließ, und einem Taschentuch, das von Madame Nini an das Hemd ihres Sohnes angenäht worden war, damit er nicht das eine ohne das andere verlöre.
Übrigens putzte sich Zozo viel lieber mit seinem Hemd als mit dem Taschentuch die Nase; aber schließlich hatte er ein Taschentuch, und das Prinzip blieb gewahrt.
Nini und Zozo bereiteten den Reisenden den freudigsten und wärmsten Empfang. Nini warf sich in die Arme Acajous und Zozo in die Beine Quaterquems.
„Oh, Mister Quaterquem, was sind wir froh, Sie wiederzuhaben!“ rief Nini. „Nini langweilt sich sehr ohne Madame Alice.“
„Madame Alice wird erst in einigen Tagen zurückkommen“, sagte Quaterquem. „Nini, mach uns ein anständiges Essen und tu dein Bestes, um den Maharadscha zufriedenzustellen.“
Dann führte Quaterquem seinen Freund in den Garten, um ihm die Bäume zu zeigen, die er gepflanzt hatte.
„Acajou, was ist ein Mamahadscha?“ fragte ihn Nini.
„Marahadscha?“ antwortete Acajou und kratzte sich den Schädel. „Marahaschda? Das ist schwierig. Mascharaschda ist ein großer König, reich, mächtig, läßt, wie er will, Köpfe abschlagen und Menschen pfählen.“
Bei dieser schrecklichen Beschreibung eines Maharadschas begann Nini vor Angst zu zittern.
„Und was ist pfählen?“ fragte sie.
Hier zeigte Acajou durch Bewegungen, wie man einen Menschen auf einen Spieß setzt, was Zozo offenbar großes Vergnügen bereitete und ein wenig den Schrecken nahm, den ihm das Wort „Maharadscha“ verursacht hatte.
Währenddessen besichtigten Corcoran und Quaterquem das Haus von oben bis unten, was nicht weiter schwierig war, denn es bestand nur aus einem Erdgeschoß, das an seinen Enden von zwei Anbauten begrenzt war.
„Die Küche ist bequem und breit, wie du siehst“, sagte Quaterquem. „Reverend Smithson hat sie eingerichtet. Nach den zahlreichen Pfannen und Töpfen zu urteilen, mit denen sie vollgestopft ist, müssen mein Vorgänger und seine Familie einen gesegneten Appetit gehabt haben. Das ist Alices Zimmer. Da der Reverend keinen Besuch erwartete, hat er sich nicht die Mühe gemacht, einen Salon einzurichten, obwohl uns Gott sei Dank der Platz dazu nicht fehlt. Wenn du dich hereinbemühen möchtest, machen wir ein Sprechzimmer daraus, denn Alice, die von Kopf bis Fuß Engländerin ist, würde es mir nie verzeihen, einen Gentleman, selbst wenn es mein bester Freund ist, ihr Schlafzimmer betreten zu lassen.
Von der anderen Seite der Küche geht das Eßzimmer ab. Im rechten Anbau ist meine Bibliothek untergebracht. Schau sie dir ruhig an. Es ist ein Wust von Büchern aus allen Zeiten, allen Sprachen und allen Nationen. Du könntest hier wertvolle Entdeckungen machen, wenn du Bibliophile und nicht Maharadscha wärst.“
„Laß uns hinübergehen“, sagte Corcoran, neugierig geworden:
Das Zimmer, das als Bibliothek diente, war das größte im ganzen Haus.
Etwa fünfzigtausend Bände standen in den Regalen aus Eichenholz. Selbstverständlich waren die Bücher jeden Ursprungs in allen Sprachen geschrieben, französische und englische Ausgaben dominierten jedoch. In perfekter Ordnung standen da:
Achtzehn Exemplare Shakespeare.
Zwölf Exemplare Homer (zwei in griechisch, drei englische, fünf französische und zwei deutsche Übersetzungen).
Fünfundsiebzig Bände von Musée des familles.
Dreiundzwanzig Exemplare des Don Quichotte.
Zahlreiche Romane von Walter Scott, Alexandre Dumas, Paul de Kock, George Sand und einiger anderer Zeitgenossen, die ich hier nicht aufzählen möchte, um ihre sprichwörtliche Bescheidenheit nicht zu verletzen.
„Offengestanden“, sagte Quaterquem, „ist mein ganzes Mobiliar ein Durcheinander angeschwemmter Möbelstücke, das von meinem Vorgänger gesammelt wurde. Die einzige Sache, die in dieser Mischung besonderer Gegenstände jeder Art und jeden Ursprungs wirklich mir gehört, ist folgende… Acajou!“
Der Neger lief herbei.
„Laß Nini und Zozo die Saucen allein kosten. Hol mir Plick und Plock! Der Maharadscha will vor Sonnenuntergang noch einen Spaziergang machen.“
Acajou verschwand und erschien fast sofort wieder.
Plick und Plock waren zwei Shetlandponys, etwas kleiner als Esel, aber von einer tatsächlich bewundernswerten Schnelligkeit und Robustheit.
Corcoran beglückwünschte seinen Freund. „Ich hätte ja gern Araber- oder Turkmenenpferde auf meine Insel mitgenommen“, entgegnete Quaterquem, „doch mein Luftschiff ist dafür nicht groß genug. Es wäre etwas zuviel Ballast gewesen.“
Trotz ihrer Kleinheit waren Plick und Plock wirkliche Renner, und auf dem Rasen von Chantilly hätte man Mühe gehabt, etwas Gleichwertiges zu finden; in weniger als einer Viertelstunde gelangten sie zum Mittelpunkt der Insel, und die beiden Spaziergänger setzten ihren Fuß auf einen kleinen Hügel, von dem aus man die gesamte Insel überblicken konnte. Quaterquem zeigte auf das Meer, das anscheinend ganz friedlich vor ihnen lag.
„Siehst du dort diesen leichten Sog“, sagte er, „der nach und nach größer wird und auf dem Sand am Fuß der Klippe ausläuft? Das ist der Strudel, von dem ich dir erzählt habe. Heute abend sieht er aus wie eine Öllache; das kommt daher, weil sich der Wind gelegt hat. In einer halben Stunde wird er wieder auffrischen. Die Wellen werden zum offenen Meer zurückfluten und sich in einen weiten Trichter ergießen, den du dann deutlich von hier oben aus sehen würdest.
Dreh dich um und schau nach links. Das sind meine Orangenbäume, meine Bananenstauden und meine Zitronenbäume. Dort sind meine Felder und Wiesen, denn ich habe viele Ställe mit Schafen, Rindern, Hühnern, Truthähnen, vor allem Schweine… Aber du sagst ja gar nichts. Wovon träumst du?“
„Ich träume von dem Essen, das uns Madame Nini zubereiten wird. Dieses Tal ist köstlich. Das Bächlein, das zwischen den Granitfelsen unter den Bäumen dahinplätschert, ist klar und tief. Der bewaldete Hügel schützt die Felder vor dem Wind, der vom Meer herüberweht, und dein Haus vervollständigt die Landschaft ideal. Du mußt hier glücklich sein, und ich denke, daß ich mit Sita unter diesen schattenspendenden Bäumen ebenfalls glücklich wäre; nur der Augenblick dafür ist noch nicht gekommen. Sich vor Tagesende auszuruhen ist nicht recht… Durch einen seltenen Glücksumstand habe ich vielleicht die Chance, hundert Millionen Menschen zu befreien, und ich soll mich in deine idyllische Einsiedelei zurückziehen. Nein, bei Brahma und Wischnu, entweder siege ich, oder ich werde untergehen. Und wenn mir die Vorsehung sowohl Tod als auch Sieg vorenthält, nun gut, ich sage nicht nein. Ich. sage vielleicht… Warten wir ab und trinken Tee, beziehungsweise gehen wir essen, denn sonst brennt der Braten an, und die Nacht überrascht uns noch.“
Corcoran irrte sich nicht. Er bemerkte Acajou, der mit beunruhigtem Gesicht in die Gegend starrte, um seine Herren davon in Kenntnis zu setzen, daß das Essen serviert sei und Nini schon nervös werde.
Plick und Plock verfielen in einen kurzen Galopp, der sie rasch über die Wiesen zum Haus brachte. Die Schönheit des Himmels, die Milde des Klimas, die Abwesenheit von Dieben und wilden Tieren hatten in dieser Freiheit jede Gefahr gebannt.
Als er das Eßzimmer betrat, war der Maharadscha von der Eleganz und Schönheit des Geschirrs überrascht. Überall erblickte man nur vergoldetes Silber, reines Gold, Silber, Elfenbein und altes Sèvresporzellan. Sämtliche Gefäße waren mit den verschiedensten Initialen versehen. Man fand alles, bis zu Grafenkronen.
Das Essen war abwechslungsreich und gut, die Saucen ausgezeichnet. Corcoran machte Nini ein Kompliment.
„Das ist noch gar nichts gegen die Konserven“, bemerkte Quaterquem. „Alles, was man an Köstlichem produziert, gelangt auf dem steten Weg der Schiffbrüche zu uns. Ich habe Berge von Reimser Schinken und Fleisch jeder Art. Ich habe aufgehört, diesen Fang einzufahren. Acajou hat Befehl, nur noch Bücher und Wein herbeizuschaffen, Mein Keller und meine Bibliothek sind dank dem Ozean die besten der Welt. Vor allem die Weine sind vorzüglich. Du verstehst sicher, daß man keine gewöhnlichen Weine nach Australien verschifft; die Ware würde nicht einmal den Preis für den Transport rechtfertigen. Nun, ich weiß nicht, wem diese Köstlichkeiten gehören, also lasse ich sie mir schmecken, außerdem könnte ich sie mit meiner Fregatte auch gar nicht an ihren Bestimmungsort bringen, denn ich kann nur sehr wenig Waren in ihr transportieren; was das betrifft, gibt es durchaus noch Verbesserungen für mein Luftschiff… Wie findest du übrigens den Wein?“
„Exzellent.“
„Es ist ein Elsässer Gewürztraminer aus dem Jahre 1811. Ich habe nur fünfundzwanzig Flaschen davon, und ich behaupte, daß kein König besseren trinken dürfte. Er lagert schon fünfzehn Jahre auf der Insel und ist durch denselben Schiffbruch an Land gespült worden wie Reverend Smithson. Aber dieser Gewürztraminer ist nichts im Vergleich zu einem Champagner, dessen Jahrgang ich leider nicht weiß, von dem ich jedoch, Gott sei Dank, genügend Vorräte habe. Wenn Jupiter und Buddha wüßten, was das für ein Weinchen ist, ich glaube, sie würden sofort zur Erde herabsteigen, um ihn mit mir zu trinken.“
Und so rauchten, tranken und schwatzten die beiden Freunde bei offenem Fenster, durch das der Wind die laue Brise und das Rauschen der sich brechenden Wellen hereintrug, und merkten, wie ihnen nach und nach die Lider schwer wurden. Als er sah, daß ihm Corcoran kaum noch zuhörte, führte ihn Quaterquem in das Zimmer, das er für ihn vorbereitet hatte.
„Hier sind Kerzen“, sagte er, „und Bücher, wenn du lesen möchtest. Hier steht Limonade, dort Tinte, da ist Papier, falls du ein Gedicht verfassen willst. Gute Nacht, vergiß deine Pläne, deine Feinde, deine Projekte, deine Diplomatie und alles, was dir zu schaffen macht. Du bist unter dem Dach eines Freundes. Schlafe in Frieden.“
Und er verließ ihn, ohne die Tür zu schließen. Wozu auch? Welchen Feind hatte er zu fürchten?
Dann begab sich Quaterquem ebenfalls zur Ruhe und fiel in einen tiefen, erquickenden Schlaf.
Acajou, Nini und Zozo schnarchten herzhaft. Auf dieser glücklichen Insel hatte jeder ein ruhiges Gewissen.
Gegen drei Uhr morgens wurde Corcoran von einem entsetzlichen Traum aus dem Schlaf gerissen.
Da er jedoch niemandem diesen Traum erzählte, nicht einmal Quaterquem, seinem intimsten Freund, ist es uns leider unmöglich, hier den Inhalt besagten Traumes wiederzugeben; auf jeden Fall jedoch muß es in diesem Traum von dunklen Vorahnungen gewimmelt haben, denn gleich bei Tagesanbruch erhob sich der Maharadscha und weckte seinen Freund.
Quaterquem öffnete ein Auge, reckte gähnend die Arme in die Höhe und fragte:
„Was gibt es?“
„Wir reisen ab.“
„Wie! Abreisen! Alle Welt schläft. Acajou schnarcht, und was mich betrifft…“
„Gut, dann werde ich allein abfliegen.“
„Ohne zu frühstücken? Nini würde es dir nie verzeihen.“
„Dann frühstücken wir eben, um Nini nicht zu verärgern; aber denk daran, daß ich am Nachmittag unbedingt in Bhagavapur sein muß. Ich habe ein Gefühl, daß uns eine schreckliche Gefahr bedroht. Schön wäre es, wenn das Frühstück in fünf Minuten bereit ist und die Fregatte in einer Viertelstunde.“ Was tatsächlich gelang.
Nini war sehr erfreut über die Geschenke, die ihr der Maharadscha gemacht hatte (zwei außerordentlich schöne Kaschmirschals, die einstmals der Lieblingsfrau von Tipu Sahib gehört hatten), warf sich in die Arme von Acajou, der brummelnd die Fregatte bestieg, nicht ohne vorher noch Zozo an seine Brust gedrückt zu haben, der sich mit seinen Fäustchen die Augen rieb und schrie, als würde er seinen Vater nie wiedersehen.
In der Zwischenzeit tat Sita ihr Bestes, um der schönen Alice den Aufenthalt in ihrem Palast so angenehm wie möglich zu machen.
In ihren Tragsesseln, unter Alis Schutz und von einer Schar Berittener begleitet, begaben sie sich zur Jagd oder ritten durch die Gegend. Da Sita glücklicherweise braun war, Alice dagegen blond, da außerdem niemand zugegen war, der sie hätte betrachten können (abgesehen von den Eingeborenen), gab es zwischen ihrer Schönheit keine Rivalität, und so ergänzte die Schönheit der einen die Schönheit der anderen auf das wunderbarste. So entstand zwischen beiden eine innige Freundschaft.
Sugriva, der während der Abwesenheit des Maharadschas mit den Regierungsgeschäften, betraut worden war, nahm sich seiner schwierigen Pflichten gewissenhaft an. Gemäß Corcorans Weisung hatte er alle Zemindars und Deputierten aufgefordert, sich in Bhagavapur einzufinden. Da er glaubte, jeden Tag die Nachricht von einem erneuten Überfall der Engländer zu erhalten, hatte Corcoran sein Marathenparlament einberufen wollen, um von ihm die Unterstützung im Kampf gegen die Engländer zu erhalten.
Offen gesagt rechnete Corcoran nicht allzusehr mit dem Mut seines Parlaments und seiner Soldaten; aber er hielt das Parlament für nützlich, um Verräter einzuschüchtern, denn er erinnerte sich noch gut der Bemerkungen, die er in dem Brief von Doubleface an Lord Henry Braddock gelesen hatte.
Dank Louisons Mithilfe schien er übrigens davon überzeugt, daß der Kampf mit etwa gleichen Mitteln geführt würde. Louison ersetzte eine Armee. Leider war Louison mit Monsieur Garamagrif liiert, dazu kam ein Sohn, der junge Moustache. Die Mutter gewordene Louison hatte andere Lebensinteressen, andere Freunde und andere Feinde als Corcoran. Ein besorgniserregender Umstand.
Zwischen Louison und Garamagrif einerseits und Scindiah andererseits gab es ständig Spannungen. Sie rührten von dem Tag her, an dem Louison mit Garamagrif geflohen war.
Die Abwesenheit des Maharadschas schien den beiden Tigern die Gelegenheit zu bieten, dem Elefanten eins auszuwischen. Garamagrif beschloß, seine Rache auszuführen, während ihr Herr mit seiner Peitsche nicht anwesend war. Louison ihrerseits, verschlagen wie alle Personen ihres Geschlechts, tat nichts, um ihn davon abzuhalten. Was Scindiah anbetraf, der immer überlegte, vorsichtig und reserviert in seinen Aktionen war, nahm wohl wahr, daß seine Gefährten etwas ausheckten, aber er tat, als ob er nichts bemerke, beobachtete sie allerdings insgeheim und bereitete sich darauf vor, ihnen – falls sie ihren Schabernack zu weit treiben sollten – eine Lektion zu erteilen, die ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben würde.
Am selben Tag, da Corcoran und Quaterquem die Insel etwa gegen vier Uhr morgens auf dem Luftweg wieder verließen, kehrten Alice und Sita von ihrem Spaziergang heim, getragen von dem mächtigen Scindiah, der fest und schwer, sicher und majestätisch einherschritt und sie im großen Innenhof zu Füßen der Freitreppe, die in Holkars Turm führte, absetzte.
Kaum waren sie im Inneren verschwunden, als ein leises Fauchen, das einem Lachen nicht unähnlich war (einem Tigerlachen, und ein Tigerlachen läßt die Löwen weinen!) hinter Scindiahs Rücken ertönte.
Garamagrifs Fauchen mochte etwa folgendes bedeuten: „Louison, schau dir doch mal diesen dicken Koloß an. Hast du schon mal etwas Häßlicheres, Dümmeres und Unproportionierteres gesehen? Alle machen sich über ihn lustig. Man lädt ihm die schwersten Lasten auf den Rücken. Sogar die Esel, die doch wirklich nicht zu den klügsten unter uns Tieren gehören, verweigern manchmal den Gehorsam; aber unser Freund hier, stolz und glücklich, wackelt mit dem Hintern wie ein Marquis, dabei hat er nicht einmal die Anmut einer Hyäne. Igittigitt, was für ein scheußliches Biest.“
Worauf Louison in ihrer Sprache antwortete: „Freund Garamagrif, ich erkenne in diesem wenig schmeichelhaften Bild deinen beißenden und gerechten Geist. Du hast wirklich ein unbestechliches Auge. Dieser arme Scindiah sieht tatsächlich aus, als hätte man ihn mit einer Spitzhacke aus dem Felsen gehauen. Seine Haut ist dreckig wie die einer Kröte, sein Kopf ist schwer, sein Bauch dick wie bei einem dreifachen Millionär, seine Beine sind so kurz, daß man meinen könnte, er habe sie an der Garderobe abgegeben und sich statt seiner natürlichen die eines Hängebauchschweines geliehen. Er wäscht sich nie und ist deshalb schmutziger als ein Pavian. Wer soll wohl so einem armen Elefanten schon seine Zuneigung schenken.“
Scindiah, unbeeindruckt von den spöttischen Bemerkungen, ließ sich zur Erde nieder und lauschte mit unbeweglichem Gesichtsausdruck, die Augen halb geschlossen, auf die Komplimente, die ihm Garamagrif und seine Gattin darbrachten.
„Das schlimmste ist“, fuhr Garamagrif, durch die offensichtliche Ruhe seines Feindes ermuntert, fort, „daß dieser dicke Tölpel nicht nur dumm, häßlich und verfressen ist, sondern obendrein noch feige und schlapp. Sieh ihn dir doch an: Er versteht genau, was wir sagen. Oder merkst du etwa, daß er wie ein Edelmann aus gutem Haus in Zorn gerät, seinen Degen zieht und seine Ehre verteidigt?“
„Vom welchem Degen sprichst du denn, den er ziehen soll?“ fügte Louison hinzu. „Meinst du etwa diese hervorragende Nase, die so lang ist, daß man sie als Brücke über den Ganges benutzen könnte?“
„Kurz und gut, Scindiah ist nichts weiter als ein elender Lump.“
„Ein Feigling“, fügte Louison hinzu. „Und zum Beweis werde ich jetzt über ihn hinwegspringen; ich möchte wetten, daß er nichts dagegen sagt.“
„Bravo! Spring!“ Louison sprang. Scindiah bewegte sich nicht, er tat, als sei er aus Granit.
„Teufel auch!“ rief Garamagrif, „es ist nicht gesagt, daß du es besser machst als ich. Du hast Scindiah seitlich übersprungen, ich werde ihn der Länge nach überspringen.“
Und, indem er seine ganzen Kräfte zusammennahm, sprang er vom Schwanz bis zum Kopf.
Aber diese Idee war weniger glücklich als jene von Louison, denn Scindiah, der wohl sah, wie der Tiger durch die Luft sprang, hob seinen Rüssel mit einer so geschickten und schnellern Bewegung, daß er den Tiger in der Luft zu packen bekam, ihn trotz seiner Krallen und Zähne fest umschlang und scheinbar ohne große Anstrengung bis zur zweiten Etage des Palastes schleuderte.
Bei diesem Anblick fauchte Louison so schrecklich, daß Sita und Alice, die es hörten, vor Schreck ganz blaß wurden. „Trennt sie!“ schrie Sita.
Niemand wagte es, sich ihnen zu nähern.
Allein der kleine Rama, der auf dem Teppich mit seinem Freund Moustache spielte, wollte die Treppe hinabspringen und wieder Frieden stiften, doch Sita hielt ihn zurück.
Die Palastdiener zitterten an allen Gliedern und schlossen vorsichtshalber die Tore des Palastes.
Garamagrif, von Scindiahs Rüssel bis in die zweite Etage des Schlosses geschleudert, hoffte darauf, wieder Boden unter den Füßen zu haben und sich dann auf Scindiah stürzen zu können, doch das erlaubte ihm der Elefant nicht.
Kaum war der Tiger in Reichweite seines Rüssels zurückgesegelt, packte er ihn erneut und warf ihn ein zweites Mal in die Luft; dann, indem er sich mit dem Rücken an die Palastmauer schmiegte, damit ihn Louison nicht hinterrücks anspringen konnte, fuhr er weiterhin fort, mit dem Tiger zu jonglieren, dessen wütendes Brüllen das Herz sensibler Geister erschrecken und die Ohren unbeteiligter Zuschauer peinigen konnte.
Louison blieb indes nicht inaktiv, sondern versuchte den Feind zu umgehen.
Aber Scindiah verlor sie nicht aus den Augen und achtete sorgsam auf den Schutz seiner Flanke; einen Angriff von hinten befürchtete er nicht; dank der Mauer, an die er sich gelehnt hatte, glaubte er von dort unangreifbar zu sein.
Während Louison ihren Schlachtplan ausheckte, verdoppelte sich Garamagrifs Gebrüll. Schließlich entschied sie sich, setzte zum Sprung an, schien Scindiah von links angreifen zu wollen, änderte blitzschnell die Richtung, sprang auf Scindiahs Hals und verbiß sich in seinem Ohr.
Jetzt war es an Scindiah, vor Schmerz aufzubrüllen. Er ließ von Garamagrif ab und versuchte Louison zu packen, doch Louison hielt fest, und Garamagrif, der sich nun endlich aus der umschlingenden Macht des Rüssels befreien konnte, packte – obwohl von den zahlreichen Stürzen noch etwas benommen – das andere Ohr und verbiß sich darin.
Scindiah war rasend vor Zorn und Schmerz, das Blut lief ihm in die Augen und machte ihn blind; das fürchterliche Brüllen der beiden dröhnte in seinen Ohren. Er verlor die Kontrolle über seine Aktionen und raste auf gut Glück in den Park. Es war ein schrecklicher Anblick. Da es ihm nicht gelang, mit dem Rüssel die beiden Tiger zu packen, und er auch nicht mehr wußte, wie er sich wehren konnte, tat er instinktiv das einzig Richtige: Er warf sich zu Boden und versuchte die beiden Tiger unter sich zu begraben.
Louison, viel zu geschickt und wendig, als daß sie sich auf diese Weise überrollen ließe, gab ihre Beute frei, und Garamagrif, obwohl viel blutgieriger, fühlte seine Knochen bei jeder Bewegung des Elefanten krachen und ließ ebenfalls los.
Es folgte jedoch nur eine kurze Verschnaufpause.
Jeder hatte ja neues Unrecht zu rächen und wollte unbedingt den letzten Schlag führen.
Scindiah nahm ihren Posten an der Mauer wieder ein; aber da tauchte ein neuer Feind auf, der ihre traurige Lage noch verschlechterte.
Das war das Tigerlein Moustache, der aus dem Fenster der ersten Etage dem Kampf zugeschaut hatte und – bis jetzt von Rama mit großer Mühe zurückgehalten – nun den Augenblick für gekommen glaubte, seinem Vater und seiner Mutter beizustehen.
Als Scindiah einen Moment innehielt und sich mit dem Rüssel das Blut abzuwischen versuchte, das aus seinen Ohren floß, sprang Moustache von hinten auf den Elefanten und versuchte, seine Krallen und Zähne in den dickhäutigen Panzer, der seinen Feind schützte, zu graben.
Dieser Versuch machte den Elefanten derart wütend, daß er den kleinen Moustache mit dem Rüssel packte – was nicht weiter schwierig war, denn Moustache war zwar mutig, jedoch völlig unerfahren – und im Begriff war, ihn derart wuchtig gegen die Mauer zu schmettern, daß dem Kleinen alle Knochen im Leibe zerbrochen wären, wenn nicht die stets aufmerksame Louison zur Stelle gewesen wäre, ihren Sprößling im Sprung aufgefangen und so vor einem schlimmen Schicksal bewahrt hätte.
Und wieder begann der verbissene Kampf, doch zeigte Louison, die mehr damit beschäftigt war, den Angriffsdrang des jungen Moustache zu zügeln, weniger Kampflust.
Scindiah war randvoll vor Zorn.
Im Innenhof lag eine gewaltige Eisenstange, die dazu diente, das äußere Tor des Palastes zu verriegeln. Scindiah dachte für einen Moment nicht mehr an seine sichere Deckung, stürmte auf die Eisenstange los, packte sie mit dem Rüssel, schwang sie über dem Kopf und ließ sie mit voller Wucht auf Garamagrif herabsausen. Der versuchte zwar dem für ihn unzweifelhaft tödlichen Hieb noch zu entgehen, doch ganz schaffte er es nicht. Die Eisenstange traf seinen Schwanz und trennte ihn fast vollständig vom Körper des Tigers. Dieser schöne gelbschwarze Schwanz, auf den er so stolz gewesen war, hing nun wie ein schlaffes Seilende an einem dünnen Restchen Haut. Louison ließ ein wildes Fauchen hören und wollte sich erneut auf Scindiah stürzen.
In diesem Augenblick, da der Haß der beiden feindlichen Parteien anscheinend nur im Blut des jeweiligen Feindes erstickt werden konnte, stießen Sita und Alice, die die Kämpfenden von der Terrasse herab mit schreckgeweiteten Augen betrachtet hatten, einen Freudenschrei aus. „Da sind sie! Da sind sie!“
Ihre Worte waren noch nicht verklungen, und schon senkte sich die Fregatte mit großer Genauigkeit in den Innenhof. Corcoran sprang aus der Gondel, packte seine Peitsche und ließ sie auf Garamagrifs Rücken herabsausen, dem es trotz seiner wahnsinnigen Schmerzen gelungen war, sich schon wieder in Scindiahs Ohr zu verbeißen.
Garamagrif ließ augenblicklich seinen Gegner los und betrachtete Corcoran mit einem wütenden Blick, als wolle er ihn sofort verschlingen, wobei er ein nichts Gutes bedeutendes Fauchen hören ließ.
Doch der Maharadscha blickte ihn derart durchdringend an, daß Garamagrif den Schwanz eingekniffen hätte, wenn er noch im Besitz desselben gewesen wäre. So duckte er sich nur an die Erde und rollte sich erschöpft, schweißnaß, blutverschmiert zu Füßen des Kapitäns auf dem Boden.
Dieser suchte Louison, und wenn er sie sofort entdeckt hätte, wäre auch ihr eine Unterhaltung mit der Peitsche nicht erspart geblieben; aber sie hatte das Glück, daß sie Corcoran landen sah. Daraufhin hatte sie sich sofort mit sanftem Blick heuchlerisch auf den Boden geschmiegt.
Corcoran warf ihr einen strengen Blick zu. „So also mißbrauchst du mein Vertrauen! Ich überlaß dir den Schutz über mein Reich, meine Frau, meinen Sohn, meine Schätze, alles, was mir lieb und teuer ist in der Welt, und der erste Gebrauch, den du von deiner Freiheit machst, ist, Scindiah anzufallen.“
Louison, die sich über den nur allzu berechtigten Vorwurf schämte, senkte den Blick.
„Sie hat mit dir Streit gesucht, mein armer Scindiah, nicht wahr?“ fragte er den Elefanten.
Scindiah wackelte bejahend mit seinem Rüssel.
„Beruhige dich, großer Freund, ich werde dir Gerechtigkeit widerfahren lassen… Wie hat denn der Streit angefangen?“
Hier machte der Elefant mit seinem Rüssel verschiedene Bewegungen, um anzudeuten, daß man sich über ihn lustig gemacht habe und daß er sich das als Elefant nicht gefallen zu lassen brauchte.
„Es ist gut“, sagte Corcoran. „Garamagrif wird zwei Tage im Keller verbringen. Und du, Louison, wirst fünf Tage eingesperrt.“
Garamagrif versuchte zuerst, sich dem zu widersetzen, aber der Anblick der Peitsche brachte ihn bald zur Vernunft, und man führte ihn unverzüglich wie einen Kriegsgefangenen in die Kellergewölbe des Palastes.
Nachdem er diese doch immerhin wichtige Affäre friedlich beigelegt hatte, begab sich der Maharadscha in die erste Etage des Palastes und berichtete der schönen Sita und ihrer Freundin, was sich auf der Reise alles zugetragen hatte.
Als er seinen Bericht beendet hatte, meldete man ihm die Ankunft Sugrivas. Dieser war sehr erregt.
„Maharadscha“, sagte er, „ein großes Unglück ist über uns hereingebrochen!“
„Was habe ich dir gesagt?“ meinte Corcoran, an seinen Freund Quaterquem gewandt. „Meine Vorahnung von heute morgen.“
Dann, an Sugriva gerichtet: „Was ist geschehen?“
„Herr“, fuhr Sugriva fort, „wir sind verraten worden. Eine englische Flottille segelt den Narbada herauf, unterstützt von einem Korps von fünfzehntausend Engländern und Sepoys. General Barclay soll sich unter den Mauern von Bhagavapur mit ihnen vereinigen.“
„Na, von Seiten Barclays ist wohl nichts zu befürchten. Was die anderen angeht, so ist noch nichts verloren. Hat man sie kampflos passieren lassen?“
„Großer Maharadscha, der Zemindar Usbeck ist mit einem Teil seiner Leute auf die Seite der Engländer übergelaufen.“
„Bei allen Göttern!“ fluchte Corcoran. „Behalte die Neuigkeiten für dich. Ich will, daß Bhagavapur gleichzeitig den Verrat und die Strafe erfährt. Laß mein Pferd satteln und eine Eskorte aufsitzen. Du bleibst hier. Ich werde gehen. Ich habe lange genug den Maharadscha gespielt, jetzt bin ich wieder Kapitän Corcoran und hoffe, daß es jeder, ob Freund oder Feind, merken wird.“
„Nun, lieber Freund“, sagte Quaterquem, als Sugriva gegangen war, „was hast du vor? Willst du Barclay noch einmal schlagen? Mir scheint, daß er von seiner ersten Niederlage noch genug haben dürfte.“
„Was? Sie haben den berühmten General Barclay geschlagen, den Helden von Lucknow?“ fragte Alice.
„Und so tüchtig geschlagen“, fiel Quaterquem ein, „daß er in diesem Augenblick noch immer nach Bombay unterwegs sein dürfte.“
Und er erzählte von der Feuersbrunst im englischen Lager.
Seine Gattin dagegen zollte ihm nicht den Beifall, den er erwartet hatte, im Gegenteil, sie zeigte sich sehr entrüstet, daß er an dieser Aktion teilgenommen hatte.
„Meiner Treu“, erwiderte Quaterquem, „ich bin neutral geblieben. Das waren Corcoran und Baber, die das erledigt haben. Ich habe mich damit begnügt, ihnen mein Fahrzeug zu leihen.“
Alice wahrte den Takt und ging nicht weiter auf den Vorfall ein, man merkte aber doch, daß sie zu sehr Engländerin war, als daß sie die Haltung ihres Gatten gebilligt hätte.
Der Aufenthalt der Quaterquems würde heute enden. Sie wollten beide wieder auf ihre Insel zurück. Sita bot ihrer neuen Freundin ein Diamantenkollier von unschätzbarem Wert an. Es hatte einst der berühmten Nurmahar gehört, die über drei Generationen hinweg die schönste Frau Hindustans gewesen war.
Alice sträubte sich einige Zeit, es anzunehmen, obwohl sie es mit den Augen verschlang, denn Sitas Großzügigkeit ließ sie sehr wohl die Härte fühlen, die sie eben gezeigt hatte.
„Es ist die Erinnerung an eine Freundin“, sagte Sita. „Wenn mein vielgeliebter Corcoran siegen wird, brauche ich all diese Schätze nicht mehr. Hindustan wird uns gehören. Wenn er besiegt wird, so will ich nicht mehr leben. Ich werde den Scheiterhaufen besteigen wie meine Großmutter Sita. Ich werde das Vergnügen gehabt haben, den edelsten aller Männer geliebt zu haben, und ich werde mich selbst erdolchen, um ihn früher wiederzufinden und mich mit ihm in Brahmas Obhut wieder zu vereinen.“
Sita sprach mit so viel Natürlichkeit, daß Alice begriff, daß ihr Entschluß unwiderruflich feststand. Sie akzeptierte schließlich das kostbare Geschenk und umarmte Sita mit echter Zuneigung. Sie meinte, sie nie mehr zu sehen, denn als gute Engländerin, die sie wahr, schien es ihr nachgerade unmöglich, daß Corcoran als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen würde. Mit nachdenklicher und herzlicher Festigkeit verabschiedete sich Corcoran ebenfalls von ihr und umarmte seine Freunde wie ein Mann, der fest entschlossen war, entweder zu siegen oder unterzugehen.
„Mein lieber Quaterquem“, sagte er zu diesem. „Ich weiß nicht, ob ich dich noch einmal sehe. Bewahre mir diese Kassette auf deiner Insel auf. Wenn du erfährst, daß uns etwas widerfahren ist, öffne sie. Was sie enthält, gehört dir. Wenn ich siegen werde, erbitte ich sie von dir zurück.“
Und sich dicht an das Ohr seines Freundes neigend: „Es sind die Steine des alten Holkar. Sie haben einen Wert von fünfzehn Millionen Rupien. Es soll Ramas Erbe sein. Leb wohl.“
Sie umarmten sich, und Quaterquem bestieg mit seiner Frau die Fregatte. Bevor sie jedoch den Anker lichteten, sagte er noch zu Sita:
„Teuerste, ich werde am fünfzehnten März nach Bhagavapur kommen, um Sie zu suchen und auf meine Insel zu führen, die Sie noch nicht kennen. Corcoran wird, so hoffe ich, bis dahin jeder Sorge enthoben sein und mit Lord Braddock seinen Frieden gemacht haben. Ich hoffe, er kann uns begleiten. Alice wird ihm das Haus einrichten und eine Kammerfrau suchen. Adieu, mein lieber und tatkräftiger Maharadscha. Du hast einen schwierigen Weg eingeschlagen, um zum Glück zu gelangen, aber die Erfahrung wird dich weise machen. Leb wohl.“
Die Fregatte hob sich in die Lüfte und wandte sich nach Osten.
Der nachdenklich gewordene Corcoran drückte Sohn und Frau an sich, bestieg sein Pferd und ritt mit einer Eskorte zu dem Lager seiner Armee.
Während zweier Tage und Nächte galoppierte der Maharadscha beinahe ohne Rast, dank den Stationen, die er auf allen Straßen eingerichtet hatte, um dort die Pferde wechseln zu können. Seine erschöpfte Eskorte hatte ihn nach achtzehn Stunden auf einem schwierigen Gelände aus den Augen verloren und war zurückgeblieben. Er meinte, es sei unnütz, auf sie zu warten, und war deshalb allein weitergeritten. Er hielt nur, um die Pferde zu wechseln oder ein Stück Brot zu essen.
Gegen Morgen des dritten Tages traf er endlich auf seine Armee. Aber es war eine Armee, die sich auflöste und vor dem nahenden Feind davonlief. Schweiß- und staubbedeckt, doch stolz und unnachgiebig, wie man ihn kannte, gelang es ihm, sie wieder um sich zu scharen und zum Kampf zu stellen.
Ein hoher Offizier galoppierte vorbei, ohne auf den Zuruf des Maharadschas zu achten. Corcoran packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. „Wohin willst du?“ fragte er. „Wo steht der Feind?“
Und da der andere, ihn noch immer nicht erkennend, zu fliehen versuchte, brüllte er ihn an:
„Wenn du noch einen Schritt machst, jage ich dir eine Kugel in den Kopf!“
Bei diesen Worten hielt der Offizier erschrocken inne. Er hatte den Maharadscha erkannt.
„Herr“, sagte der Offizier, „man hat uns verraten. Warum seid Ihr nicht früher gekommen.“
„Ihr sollt mich kennenlernen. Ein neues Pferd, und dann vorwärts!“
Ohne sich darum zu kümmern, ob ihm jemand folgte, ritt Corcoran an der Spitze der Versprengten in das verlassene Feldlager seiner Truppen.
Der Offizier hatte nicht übertrieben. Das Lager der Marathen war ein einziges Durcheinander. Die Armee, von Verrätern kommandiert, war auseinandergelaufen. Drei Zemindars hatten das Signal zur Flucht gegeben. Zwei andere, unter ihnen der Afghane Usbeck, im Dienste Holkars alt geworden, waren zu den Engländern übergelaufen. Der Rest, durch die Flucht dezimiert und demoralisiert, war nach dem ersten Artilleriebeschuß der Engländer davongelaufen. Im Lager befanden sich nur noch einzelne Männer, die gewillt waren, dem Maharadscha bis zuletzt die Treue zu halten und ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.
Corcorans Anblick belebte ihren Mut wieder. Zusammen mit den Fliehenden, die Corcoran um sich gesammelt hatte, besaß er immerhin so viele Leute, um wieder aktionsfähig zu sein.
Bei seinem Anblick riefen die Soldaten: „Es lebe der Maharadscha!“
Corcoran zog den Säbel aus der Scheide, einen Krummsäbel, der früher dem sagenumwobenen Tamerlan gehört hatte und über Aurangseb an Holkar gekommen war. Dieser Säbel, dessen Griff mit Diamanten von unschätzbarem Wert übersät war, hatte früher einmal das Zeichen zum Tod vieler Männer gegeben. Er war in Samarkand von einem Waffenschmied aus Damaskus, dem berühmten Mohammed el Din geschmiedet worden. Auf der Klinge waren die Verse des Korans eingraviert: „Allah ist groß! Allah ist mächtig! Allah ist siegreich!“
Seine Schärfe war so beschaffen, daß Tamerlan damit beim Übergang über den Indus einen afghanischen Reiter vom Scheitel bis zum Gürtel entzweigehauen hatte, wobei der Afghane noch einen Helm aus Stahl getragen hatte.
Als die versprengten Reste der Armee ihn vor dem Hintergrund der Sonne heranpreschen sahen, zweifelte niemand mehr am Glück ihrer Waffen. Die Reihen schlossen sich, und man folgte dem Maharadscha bedingungslos. War es nicht Wischnu selbst, unbesiegbar, der sie führte?
Die englische Kavallerie, die die Flüchtigen verfolgte, hatte wegen der großen Hitze eine Rast eingelegt. Im festen Glauben, nur waffen- und führerlose Reste einer geschlagenen Armee verfolgen zu müssen, hatten die Engländer keinerlei Vorsichtsmaßnahmen gegen einen möglichen Angriff getroffen. Sie hatten die Pferde abgezäumt und sich in einem schattigen Wäldchen neben dem Weg gelagert. Um darüber hinaus nicht die Beute mit ihren Kameraden teilen zu müssen, hatten die englischen Kavalleristen nicht einmal die Ankunft der Infanterie abgewartet. Sie waren ihr etwa zehn Meilen voraus und glaubten, die Armee der Marathen bis zum letzten Mann allein gefangennehmen zu können. Jetzt ließ man es sich im Schatten des Wäldchens wohl sein und hielt ein zweites Frühstück ab.
„Nun, Hauptmann Wodsworth“, fragte Leutnant James Churchill den so Angesprochenen, „was halten Sie von unserer Expedition? Dieser einfach unwiderstehliche Corcoran, von dem man sich so hervorragende Dinge erzählt, hat unserem Angriff nicht widerstehen können.“
„Ja“, erwiderte der andere, „und während Barclay ihn irreführt, haben wir Glück genug, auf keinen ernsthaften Widerstand zu treffen. Aber genau das, mein lieber Churchill, läßt mich daran zweifeln, daß wir Corcoran geschlagen haben. Ich kenne ihn. Ich war vor drei Jahren in Barclays Armeekorps, und ich schwöre Ihnen, daß er uns eine denkwürdige Viertelstunde bereitet hat. Hier jedoch, dank diesem netten Afghanen…“
„Jawohl“, bemerkte Major Mac Farlane, „trinken wir auf das Wohlergehen dieses ehrenwerten Usbeck, unseres Freundes und Verbündeten. Möge Gott unseren Feinden stets solche Offiziere bescheren!“
„Wieviel hat man denn dem Gauner bezahlt?“
„Das ist eine Frage, auf die selbst der General keine Antwort weiß. Ich glaube, daß allein Lord Henry Braddock und seine Polizei den Preis für derartige Verdienste kennen.“
„An welchem Tag können wir wohl in Bhagavapur dinieren?“
„Es wäre besser“, sagte Mac Farlane, „nicht zu weit voraus zu reiten und auf die Infanterie von General John Spalding zu warten.“
„Pah!“ meinte Churchill. „Spalding ist ein alter Geizkragen, der fürchtet, man wolle Holkars Schatz nicht mit ihm teilen. Sind wir mit drei Regimentern guter englischer Kavallerie nicht in der Lage, die Marathen über den Haufen zu reiten und den Maharadscha zum Teufel zu jagen?“
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein Trompetensignal ertönte.
„Was soll das heißen?“ schrie Mac Farlane.
„Zu Pferd, Gentlemen! Zu Pferd!“ schrie Wodsworth.
In Sekundenschnelle waren alle Offiziere und Soldaten auf den Beinen, schnallten ihr Koppel um, griffen nach den Revolvern an ihrer Seite und liefen zu den Pferden.
Was sie als erstes sahen, war eine riesige Staubwolke, die von den herbeieilenden aufgeschreckten eingeborenen Burschen aufgewirbelt wurde. Dabei reckten diese die Arme empor und stießen schreiend hervor:
„Der Maharadscha! Der Maharadscha ist hier!“
Bei diesem Namen, diesem furchtbaren Schrei, fühlten selbst die englischen Offiziere eine seltsame, beklemmende Erregung. Jeder lief, so schnell er konnte, auf seinen Posten. Aber bevor die Soldaten zu ihren Waffen greifen und sich in Schlachtordnung aufstellen konnten, fuhr Corcoran wie der Fuchs unter die Hühner in die englische Kavallerie. Hinter ihm preschten seine Reiter einher, den Säbel in der einen, den Revolver in der anderen Hand, die Zügel zwischen den Zähnen. Die Engländer kamen nicht mehr dazu, ihre Pferde zu besteigen. Und so mußten sie eben zu Fuß kämpfen. Corcoran hatte seinen Revolver leer geschossen, aber er nahm sich nicht die Zeit, ihn wieder zu laden, sondern ritt mit blankem Säbel in die Reihen der Engländer hinein und mähte alles nieder, was sich ihm entgegenstellte.
Durch sein Beispiel mitgerissen, zeigten die Marathen einen Mut, den man ihnen am Morgen noch nicht zugetraut hätte. Der blanke Säbel, der gewöhnlich dem Hindu so große Furcht einflößt, schien ihnen seit jeher vertraut, so spornte sie das Beispiel eines Mannes an, der sein Herz auf dem richtigen Fleck trug.
Dennoch blieb der Kampf gewisse Zeit in der Schwebe. Die Engländer waren anfangs vom Ungestüm Corcorans überrascht worden. Auch mußten sie zu Fuß kämpfen, was ihre Verwirrung sicher noch verstärkte. Bald jedoch hatten sie sich auf den Gegner eingestellt und sich im Gelände verschanzt. Trotz der Hitze lieferten sie eine erstaunliche Probe ihrer Hartnäckigkeit. Nach kurzer Zeit hatten sie die erste Welle der Hindureiterei zurückgeworfen, und Corcoran bemerkte plötzlich, daß ihn sein Ungestüm zu weit von den Seinen kämpfen ließ und er von den Engländern umringt worden war. Er schalt sich einen Narren, weil er auf andere Weise den Fehler der englischen Kavallerie wiederholt hatte. Aber was blieb ihm übrig? Er hatte nur noch ein Ziel: Sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Mitten im Gefecht merkte er mit einemmal, daß sich die englischen Reihen um ihn lichteten. Jemand kämpfte sich zu ihm durch. Er war sicher, daß es nicht seine Marathen waren, denn die kämpften weit hinter ihm und wichen eher zurück, als daß sie noch Terrain gewinnen konnten. Wer also war es? Ja, wer anders konnte es wohl sein als seine liebe und treue Freundin Louison.
Sie war es tatsächlich. Sobald sie Corcorans Abwesenheit wahrgenommen hatte, entschloß sie sich, ihm zu folgen und ihren Hausarrest zu vergessen. Sie hatte an Garamagrifs Kellerverlies gekratzt, gemeinsam hatten sie dieses scheinbar unüberwindliche Hindernis beseitigt und sich zusammen auf die Suche nach dem Maharadscha gemacht.
Dank ihrem phänomenalen Spürsinn hatte Louison mühelos die Spur ihres Herrn gefunden und war – wie so oft in dieser Geschichte – genau im richtigen Augenblick gekommen, um ihn vor dem Zugriff seiner Feinde zu retten.
Die verwirrten Engländer versuchten vergeblich, sie durch Revolverschüsse von ihren Linien abzuhalten. Mit einem Satz sprang Louison Colonel Robertson von den dreizehner Husaren an die Gurgel und ließ ihn leblos auf dem Feld der Ehre zurück. Das war schade, denn Robertson war ein Offizier, der zu den größten Hoffnungen berechtigte. Besonders beim Bridge waren seine strategischen Fähigkeiten überragend. Garamagrif fiel über Hauptmann Wodsworth her, der seinen Männern zurief: „So schießt doch, ihr verfluch…“
Er hatte nicht mehr die Zeit, seinen Satz zu vollenden, denn Garamagrifs Zähne machten seinem Dasein ein Ende. Ein braver Mann, dieser Hauptmann Wodsworth, der in Benares eine Witwe und sechs kleine Waisen zurückließ. Aber was will man machen – c’est la guerre.
Was auch immer der Gedanke der englischen Husaren sein mochte (und ob sie überhaupt eines Gedanken fähig waren, weiß ich nicht), ihre Pferde begannen hochzugehen, so daß diejenigen, die noch ein Pferd ihr eigen nennen konnten, ihrer nicht mehr Herr wurden. In den englischen Linien griff die Auflösung um sich. Louison und Garamagrif arbeiteten sich immer weiter (und immer schrecklichere Spuren hinterlassend) bis zu dem Maharadscha vor, der an einen Bananenbaum gelehnt stand und, so gut es ging, die Säbelhiebe der ihn umringenden Feinde abwehrte.
Er war durch zwei Revolverschüsse verwundet worden und verlor viel Blut. Etwa ein Dutzend Reiter umringte ihn und versuchte, den Maharadscha lebend gefangenzunehmen.
„Ergeben Sie sich!“ rief einer der Angreifer. „Sie werden gegen ein Lösegeld freikommen!“
Dabei versuchte er durch eine Finte dem Kapitän den Säbel aus der Hand zu schlagen, doch Corcoran ahnte das Vorhaben, sprang etwas zur Seite und hieb ihm mit seinem furchtbaren Krummsäbel den rechten Arm ab. Dann wandte er sich gegen einen anderen Husaren, der ihm zusetzte, und spaltete ihm mit einem gezielten Schlag den Schädel.
Früher oder später hätte er jedoch der Übermacht weichen müssen, wenn sich nicht Louison im letzten Moment zu ihm durchgekämpft hätte. Garamagrif folgte ihr in einigem Abstand, denn er wagte nicht, sich nach der Zurechtweisung vom Vorabend vor Corcoran zu zeigen.
Als die englischen Soldaten die beiden neuen Hilfskräfte des Maharadschas sahen, ließen sie sofort von ihm ab und versuchten ihr Regiment zu erreichen, das allerdings die beiden Tiger schon früher bemerkt hatte und deshalb auch früher geflüchtet war. Corcoran heftete sich sofort an ihre Fersen und erreichte dabei seine hinter ihm zurückgebliebenen Leute wieder. Die Marathen, die ihn verloren geglaubt hatten, stießen ein Freudengeheul aus, als sie ihn sahen, und machten sich zu einem neuerlichen Angriff fertig. Corcoran war diesmal jedoch vorsichtiger und schickte eine Abteilung seiner Reiterei auf den rechten Flügel, um den linken der Engländer zu binden, während seine inzwischen aufgerückte Artillerie sie von der Seite unter Feuer nahm und die Infanterie auf das Zentrum vorrückte.
Der englische Kommandierende, der weder Artillerie noch Infanterie zur Verfügung hatte, um sich behaupten zu können, befahl den Rückzug, der anfangs noch einigermaßen geordnet vor sich ging. Aber die Burschen, die Händler, das ganze Volk, das eine englische Armee in Indien zur Kriegführung nötig zu haben glaubt, fürchtete, im Stich gelassen zu werden, und warf sich deshalb in die Linien der Kavallerie, klammerte sich an herrenlose Pferde oder einzelne Reiter, um möglichst bald die Infanterie General Spaldings zu erreichen. In wenigen Augenblicken war die Unordnung zum Chaos geworden. Am Ende floh jeder, so gut er konnte, selbst die Offiziere versuchten nicht länger, ihre Untergebenen zusammenzuhalten. Glücklich waren jene zu nennen, die ihre Pferde behalten hatten! Sie erreichten noch am selben Abend General Spalding.
Corcoran merkte bald, daß ihm die Engländer keinen ernsthaften Widerstand mehr entgegensetzten, deshalb ließ er seine Armee halten. Nur die Kavallerie verfolgte die Flüchtigen.
„Meine Freunde“, sagte der Maharadscha, „so muß man die Engländer schlagen. Greift sie von vorn an, mit gezogenem Säbel oder aufgepflanztem Bajonett, ohne zu schießen, und Wischnu und Schiwa geben euch den Sieg… Übrigens haben wir noch keine Ruhe vor ihnen, aber für heute soll es genug gewesen sein.“
Er zog sich mit seinen Truppen in das verlassene Lager zurück. Auch die Kavallerie, die die Engländer mehr beobachtet als verfolgt hatte, kehrte wieder zur alten Ausgangsbasis zurück. Corcoran wußte, daß die englische Infanterie nichts unversucht lassen würde, ihn anzugreifen. Sorgfältig wählte er selbst die vorgeschobenen Posten aus, die während der Nacht Wache halten sollten. Dann drehte er sich zu Louison um, die ihn aufmerksam betrachtete und ein freundliches Wort erwartete.
„Unter uns, meine Schöne“, sagte er, „das ging um Leben und Tod. Und du, Garamagrif, alte Kriegsgurgel, sollst mein Freund sein, wenn du willst – aber hör in Zukunft auf, Scindiah zu ärgern.“
Er betrat sein inzwischen aufgestelltes Zelt, wo andere Aufgaben auf ihn warteten. Louison und Garamagrif ließen sich vor dem Eingang nieder wie zwei Schildwachen, die den Auftrag hatten, über die Sicherheit des Maharadschas zu wachen, und niemand kam in Versuchung, seine Arbeit ohne dringende Notwendigkeit zu unterbrechen.
Am nächsten Tag um drei Uhr morgens ließ Corcoran zum Wecken blasen, versammelte seine Truppen um sich und setzte die Verfolgung fort.
Der Weg war mit Waffen übersät, mit getöteten oder verwundeten Pferden und Reitern. Fast die gesamte englische Kavallerie war vernichtet worden oder hatte sich zerstreut. Nur eine kleine Abteilung hatte Spalding erreicht, der im Eilmarsch die Flüchtenden zu entsetzen versuchte.
Corcoran, der von seinen Kundschaftern informiert wurde, daß die Engländer vorrückten, bezog auf einer kleinen Anhöhe Stellung, die die ganze Ebene des Narbadatals beherrschte, denn er hatte nur begrenztes Vertrauen zu dem Mut seiner Soldaten und wollte sich wenigstens den Vorteil des Geländes zunutze machen. Er ließ sogar in aller Hast einen Graben von zehn Fuß Länge und drei Fuß Tiefe ausheben – nicht daß ihm diese Vorsichtsmaßnahme sehr nützlich vorgekommen wäre, da die Engländer ja keine Kavallerie mehr hatten –, aber er wollte den Feind glauben machen, daß er sich defensiv verhalten wolle, um ihn dadurch zu ermutigen, die Offensive zu suchen. Sein Ziel war, mit diesem Armeekorps sofort zu Rande zu kommen, um freie Hand gegenüber einem wiederhergestellten Barclay zu haben.
Die List hatte Erfolg.
Sir John Spalding war ein dicklicher, untersetzter und wohlgenährter Gentleman, ohne Zweifel ein braver Soldat, der jedoch noch nie im Feld gestanden und darüber hinaus keinerlei Indienerfahrung hatte. Bisher hatte er sein Leben friedlich als Ausbilder auf dem Truppenübungsgelände von Aldershot in England verbracht, war dann in Gibraltar, Malta und Jamaika gewesen; zum erstenmal hatte er vor drei Tagen Pulver gerochen. Seine ganze Taktik bestand in drei Punkten: den Feind mit der Artillerie weich schießen, dann mit gefälltem Bajonett überrennen und ihn schließlich durch die Kavallerie niedersäbeln. Zufällig war seine erste Feindberührung überaus glücklich ausgefallen, so daß er sich insgeheim für einen Wellington oder Marlborough hielt. Die leichtsinnige Kühnheit seiner Kavallerie, die auf Bhagavapur vorgerückt war, ohne auf ihn zu warten, hatte ihm keinerlei Unruhe bereitet.
Von allen Seiten hatte man ihm Gefangene zugeführt. Die ganze Armee des Maharadschas schien in die vier Winde zerstreut, und wahrscheinlich wäre sie es ohne die überraschende Ankunft und die unvorhergesehene Attacke Corcorans auch tatsächlich gewesen.
Auch er gab sich den trügerischen Hoffnungen hin, die für kurze Zeit Barclays Glück gewesen waren. Seine Absicht war es, als erster in Bhagavapur einzumarschieren. Es war ein Wettlauf zwischen ihm und Barclay um den besten Futterplatz, obwohl sie Order hatten, sich erst vor Bhagavapur dem Maharadscha zum Kampf zu stellen. Von dem Desaster seines Rivalen und dem Feuer in dessen Lager wußte er noch nichts.
Er dachte gerade an die reiche Beute, die ihn in Bhagavapur erwartete, als ihn die Nachricht von dem plötzlichen Überfall auf seine Kavallerie erreichte. Zuerst wollte er kein Wort davon glauben und ließ den Boten, einen Hindu, einsperren, wobei er sich schwor, ihn erschießen zu lassen, sobald sich herausgestellt haben würde, daß ihn jener belogen hatte. Später sprengten jedoch einige englische Reiter in das Lager und berichteten ihm, daß drei Regimenter der europäischen, kampferfahrenen Kavallerie vernichtet worden waren.
„Drei Regimenter!“ wütete Spalding. „Wo ist dieser Esel, der sie befehligt hat? Wo ist Colonel Robertson?“
„Tot, General.“
„Wo ist Major Mac Farlane?“
„Von einer Kugel niedergestreckt.“ Spalding fühlte, wie ihn die Betroffenheit übermannte.
„Sie sind also in einen Hinterhalt geraten?“ fragte er. „Es gibt keinen Präzedenzfall für eine ähnliche Niederlage.“
Leutnant Churchill erstattete Bericht über die Aktion.
„Anfangs sind die Marathen vor uns geflohen wie ein Schwarm Rebhühner“, sagte er. „Aber dann ist plötzlich der Maharadscha aufgetaucht…“
„Der Maharadscha!“ unterbrach ihn Spalding hochfahrend. „Sie sollten eigentlich wissen, Sir, daß die Regierung Ihrer Majestät, der Königin Victoria, im Land der Marathen keinen Maharadscha anerkannt hat, daß er also für England schlichtweg nicht existiert und es, schlichtweg gesagt, unpassend ist, einen hergelaufenen Abenteurer mit diesem Titel zu bezeichnen.“
Churchill senkte den Kopf, dann berichtete er weiter.
„Morgen setzen wir uns um zwei Uhr früh in Marsch“, sagte Spalding, als der Leutnant geendet hatte. „Um sechs treffen wir auf den Feind, um sieben ist er geschlagen, und dann werden wir auf der Stelle nach Bhagavapur marschieren, schlichtweg gesagt.“
Zur festgelegten Stunde, noch mitten in der Nacht, marschierte die englische Infanterie ab. Fünfundzwanzig bis dreißig Husaren, die sich und ihre Pferde retten konnten, dienten als Aufklärer. Gegen sechs Uhr morgens stand man der Marathenarmee etwa fünfhundert Schritt gegenüber, deren einer Teil in Schlachtordnung angetreten war, während der andere über das hügelige Gelände verteilt war.
Sir John Spalding, noch immer voller Zutrauen zu seinen taktischen Fähigkeiten, begann den Angriff, indem er einige Kartätschen auf Corcorans Kavallerie abschießen ließ, die sich daraufhin geordnet in den Schutz eines kleinen Gehölzes begab und auf den Befehl zum Angriff wartete. Die Artillerie der Marathen erwiderte das Feuer der Engländer kaum, sondern zog sich wie entmutigt in eine Talsenke zurück. Diese Artillerie, angesichts der übrigen Truppenstärke eher bescheiden zu nennen, schien leicht zu vernichten zu sein, trotz des Gebüschs und der natürlichen Bodenwellen, die ihre Stellung deckten.
„Das ist der Augenblick, wo wir diese Kanaille mit dem Bajonett aufspießen werden!“ brüllte Sir John.
„Nehmen Sie sich in acht!“ schrie der Überläufer Usbeck. „Sie kennen den Maharadscha noch nicht.“
Sir John setzte sein Fernglas ab, betrachtete den Afghanen mit dem Ausdruck unbeschreiblicher Mißbilligung und sagte:
„Es ist ganz und gar nicht meine Gewohnheit, jemanden um Rat zu bitten. Churchill, befehlen Sie den Highlandern, vorzurücken!“
Churchill gehorchte.
Bald erklangen in der Ebene die Töne schottischer Dudelsäcke. Die kernigen Highlander mit den entblößten Knien rückten gemächlich und exakt vor wie bei der Parade und schickten sich an, den Hügel hinanzusteigen, hinter dem das Gros der Marathen wartete.
Eine gespenstische Stille lag über dem Schlachtfeld – abgesehen vom Klang der schottischen Dudelsackbläser. Die Artillerie beider Seiten schwieg; die englische hatte ihren Platz der Infanterie überlassen, und die Marathen ließen sich noch nicht blicken oder waren schon verschwunden. Die englischen Unteroffiziere nahmen sich sogar die Zeit, mit den Ladestöcken ihrer Gewehre die exakte Ausrichtung der einzelnen Reihen zu korrigieren. Die Marathen dagegen, halb versteckt hinter den Büschen und Bodenwellen, erwarteten den Angriff mit einer fast schon beängstigend zu nennenden Kaltblütigkeit.
Schon waren die Highlander nicht mehr als zehn Schritt von dem Graben auf dem Hügel entfernt, als Corcoran seinen Säbel zückte und rief: „Legt an! Feuer!“
Im selben Augenblick erhoben sich tausendfünfhundert Marathen, die bisher platt auf dem Boden gelegen hatten, knieten und schossen auf die Angreifer. Zwei verdeckte Batterien, jede mit zwanzig Kanonen bestückt, eröffneten gleichzeitig auf fünfzig Schritt Entfernung das Feuer auf die Flanke und die hinteren Linien der Highlander.
In fünf Minuten war die Kolonne um mehr als die Hälfte reduziert. Die kleine Anzahl jedoch, die unverletzt geblieben war, drang mit bewundernswerter Furchtlosigkeit bis zum Graben vor, übersprang ihn, kämpfte die wenigen Marathen, die ihn besetzt hielten, nieder, und setzte ihren Marsch auf die Spitze des Hügels fort.
Doch dort erwartete sie ein neuer Feind. Die Artillerie der Marathen, die sich zu Beginn des Kampfes so rasch zurückgezogen hatte, war auf Corcorans Befehl hin wieder in ihre Stellungen zurückgekehrt. Nun wurden die Highlander konzentrisch beschossen, von oben, von den Seiten und von hinten. Von beiden Regimentern blieben alles in allem vielleicht fünfzig Männer übrig, die zwar noch kampffähig waren, aber gezwungen wurden, sich zu ergeben.
Währenddessen mußte Sir John Spalding tatenlos mit ansehen, wie seine Eliteinfanterie zusammengeschossen wurde; der Geschoßhagel jedoch, der vom Hügel und dem Fuß des Hügels über die Ebene strich, machte jede Hilfe unmöglich. Spalding mußte sogar selbst daran denken, sich zurückzuziehen, da er von Corcoran bedroht wurde.
Der Maharadscha rechnete damit, daß die Schlacht im Zentrum gewonnen sei. Deshalb gab er der Kavallerie Befehl, sich auf die Flanke der englischen Infanterie zu werfen und sämtliche Verbindungslinien abzuschneiden. Der gebrochene Spalding ließ zum Rückzug blasen, und die Marathen begrüßten dieses Signal mit Freudengeschrei.
Es war zum erstenmal, daß eine indische Armee – wenn auch von einem Franzosen befehligt – eine gleich starke englische Armee fliehen sah. Deshalb kannte auch die Begeisterung der Soldaten keine Grenzen.
„Er ist Wischnu“, so redeten sie untereinander. „Er ist der göttliche Schiwa. Er ist Rama selbst, der sich wiederbelebt hat, um sein Volk gegen diese weißhäutigen Barbaren mit den roten Bärten zu verteidigen.“
Corcoran nahm sich nicht die Zeit, seinen Lobpreisungen zuzuhören. Er war in Eile gewesen, um Spalding niederzuringen. Dessen Truppen durften sich auf keinen Fall wieder erholen. Deshalb gab er seiner Kavallerie den Befehl, den Feind zu verfolgen und ihm keine Verschnaufpause zu gönnen. Sie sollte die Engländer überholen und ihnen alle möglichen Hindernisse in den Weg legen, damit sie den Narbada nicht erreichten. Er selbst wollte Spalding mit der Infanterie und der leichten Artillerie folgen und ihn daran hindern, die englischen Schiffe, die auf dem Narbada warteten, zu erreichen.
Doch derjenige, der vor dem Tod flieht, hat mehr Chancen als der, der ihm diesen Tod geben will; denn der eine denkt immer nur daran, sich zu retten, während der andere nicht ständig daran denkt, ihn zu verfolgen.
Und ebendies geschah auch in diesem Fall. Die Reiterei der Marathen gönnte ihren Pferden während der Nacht eine Ruhepause, während die Engländer ebendiese Nacht in Richtung auf den Narbada weitermarschierten, wo sie bekanntlich die englische Flottille erwartete.
Corcoran, durch die Notwendigkeit, alles anzuordnen und die Ausführung möglichst auch noch selbst zu überwachen, mitunter zu Verzögerungen gezwungen, begann erst am frühen Morgen mit der Verfolgung des Feindes.
Es war vergebene Mühe. Spalding hatte bereits die Flottille erreicht, und die Einschiffung begann in dem Moment, als der Maharadscha das Ufer erklomm und sofort das Feuer eröffnete. Die Engländer retteten nichts weiter als ihre Haut, sie ließen am Ufer eine gewaltige Kriegsbeute zurück, fast alle Verwundeten und alle Verräter, die sich ihnen einige Tage früher angeschlossen hatten, unter ihnen der Afghane Usbeck. Der Rest segelte den Narbada hinab, ihr tödlich verwundeter General blieb auf dem Schlachtfeld zurück. Eine Haubitzenkugel hatte ihm den Kopf abgerissen, als er im Begriff stand, als letzter seiner Männer auf das Schiff überzusetzen. „Armer Kerl“, sagte Corcoran, als er den Leichnam betrachtete. „Er war weder ein Cäsar noch ein Hannibal. Vielleicht ist es am besten so, daß er fiel, denn es gibt nichts Schlimmeres, als die Schlacht zu verlieren und zu überleben.“
Dann ließ er sich die englischen Gefangenen vorführen. Er behandelte sie großzügig. Nachdem sie ihre Waffen und ihre Ausrüstung abgegeben hatten, konnten sie nach Bombay zurückkehren. Was allerdings die Verräter anbetraf, die ihn im Stich gelassen hatten, so kannte er ihnen gegenüber keine Gnade.
„Warum hast du mich verraten?“ fragte er Usbeck.
„Gnade, großer und erhabener Maharadscha, Gnade!“ schrie der Afghane.
„Man soll ihn erschießen!“ befahl Corcoran.
Und auf dieselbe Weise verfuhr er mit neun anderen Zemindars, die dem Beispiel Usbecks gefolgt waren.
„Je höher der Verräter in der Rangfolge steht“, sagte er, „desto mehr Strenge ist angebracht.“
Nachdem er auf diese Weise verfahren war, überließ er das Kommando einem seiner Offiziere und machte sich eilig auf den Weg nach Bhagavapur, denn überall dort, wo er sich nicht aufhielt, war es um seine Angelegenheiten schlecht bestellt. Louison und Garamagrif, die ihm so wertvolle Dienste erwiesen hatten, durften ihn begleiten.
Corcoran erreichte Bhagavapur am Vorabend des Tages, an dem die Gesetzgebende Versammlung seines Parlaments eröffnet werden sollte. Durch die besondere Gunst des Schicksals konnte er seinem Volk nur über Siege berichten, und obwohl die Gefahr noch sehr groß war, so bildeten die vergangenen und gegenwärtigen Siege in den Augen der Marathen ein nicht zu unterschätzendes Faustpfand für die Zukunft.
Am nächsten Tag um sieben Uhr morgens (denn wegen des Klimas mußten alle Sitzungen bis zehn Uhr vormittags beendet sein) begab er sich mit Sita und Rama in den Sitzungssaal und eröffnete die Versammlung. Hier einige Passagen aus seiner wahrhaft historischen Rede: „Freie Bürger des freien Volkes der Marathen!
Es bereitet mir stets ein besonderes Vergnügen, unter euch weilen zu dürfen. Seit unserer letzten Zusammenkunft hat es Brahma gefallen, seinen Segen über uns auszuschütten, so daß unsere Kraft und unser Gedeihen nicht anders kann, als ständig anzuwachsen. Der Handel, die Landwirtschaft, die Industrie haben erstaunliche Fortschritte gemacht, die wir – das müssen wir feststellen – der persönlichen Initiative jedes einzelnen und der Freiheit zum Handeln, der ihr euch erfreut, verdanken.
Aber ein Volk ist seiner Freiheit nicht würdig, wenn es sie nicht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen weiß. Ich war gezwungen, soeben die Invasion eines mächtigen und heuchlerischen Nachbarn abzuwehren, der vorgibt, nur zum Wohle der Marathen zu handeln. Mit Billigung und unter dem Schutz Brahmas ist es mir gelungen, die Verräter zu bestrafen und den Feind zurückzuwerfen. Es hängt von ihm ab, unter ehrenvollen Bedingungen Frieden mit uns zu schließen; wenn er sich dem allerdings widersetzt, so soll er die Mühen seiner Unerbittlichkeit zu spüren bekommen.
Mein Innenminister Sugriva Sahib wird euch einen Finanzplan vorlegen. Ihr werdet gleich bemerken, daß darin weder die Rede davon sein wird, die Steuern zu erhöhen noch neue einzuführen oder gar eine Anleihe aufzunehmen. Dank Wischnu und trotz der Lasten, die uns der Krieg aufbürdet, ist Holkars Schatz noch nahezu unangetastet, und Sugriva Sahib ist mit der Aufgabe betraut worden, euch die Abschaffung aller indirekten Steuern, deren Erhebung so kostspielig ist, vorzuschlagen.
Freie Bürger des freien Volkes der Marathen, möge die Weisheit des göttlichen Wischnu euren Entschluß leiten.“
Die ganze Versammlung schrie:
„Lang lebe der Maharadscha! Er sei gesegnet, er und seine Großzügigkeit!“
Danach kehrte Corcoran in seinen Palast zurück.
Der Beifall war echt gewesen, dennoch schwebten über seinem Haupt dunkle Gewitterwolken. Die verräterischen Zemindars hatten mehr als einen Komplizen in der Versammlung. Der strenge Gerechtigkeitssinn Corcorans, der alle gleich behandelte, hatte ihm unter den Großgrundbesitzern ernste Feinde gemacht. Beim geringsten Rückschlag wäre man bereit gewesen, seinen Rücktritt zu fordern. Glücklicherweise hatte der eben errungene Sieg über die Engländer seine Feinde eingeschüchtert.
Währenddessen gab sich der Maharadscha jedoch nicht mit verflossenen Erfolgen zufrieden. Er wußte sehr genau, daß das indische Volk zu einem gemeinsamen Aufstand zu uneins und noch nicht bereit war; und obwohl es ihm fern lag, für sich selbst zu fürchten, so zitterte er doch manchmal bei dem Gedanken, welcher Zukunft seine Frau und sein Sohn entgegensahen.
Eines Morgens, es mochten etwa vierzehn Tage seit der Zusammenkunft der Deputierten vergangen sein, machte Baber dem Maharadscha seine Aufwartung.
Der durch die Rupien des Maharadschas reich gewordene Baber war jetzt ein Herr. Er präsentierte sich stolz erhobenen Hauptes, mit zufriedenem Blick, ernsthaft, würdig und gesetzt, wie es einem Ehrenmann gebührt, der sein Glück auf der Landstraße und in den verborgenen Winkeln des Waldes gemacht hat.
„Wo schläfst du nachts?“ fragte ihn der Maharadscha.
„Herr“, sagte Baber bescheiden, „ich habe gestern die zehntausend Rupien erhalten, die mir Eure Hoheit aus Ihrem Schatz zu überlassen geruht haben.“
„Und wohin willst du nun gehen?“
„Wohin es Eurer Hoheit gefällt, mich zu schicken.“
„Aha, sieh an, du hast an diplomatischen Missionen Gefallen gefunden? Hm, hm…, hast du genug Mut, um noch einmal für mich etwas auszukundschaften?“
„Warum nicht, Herr? Denkt Ihr, weil ich reich bin, bin ich ein Feigling geworden?“
„Und du würdest mir Informationen über meinen Freund Barclay besorgen?“
„Soviel Ihr wollt, großer Maharadscha. Ist das alles?“
„Ja. Am besten wäre, du machst dich sofort auf den Weg. Ich traue den Engländern nicht. Hier ist eine Anweisung für meinen Schatzkämmerer über zwanzigtausend Rupien.“
„Großer und erhabener Maharadscha!“ rief Baber mit einer Begeisterung aus, die nicht gespielt war. „Ihr seid wirklich der großzügigste aller großzügigen Männer unter der Sonne, und es ist einem ja geradezu ein Vergnügen, sich in Euren Diensten töten zu lassen.“
Der Hindu verbeugte sich mehrmals, hob die Hände zum Himmel und verschwand.
Am darauffolgenden Montag war er wieder zurück. „Großer und erhabener Maharadscha“, sagte er, „seid auf der Hut. Barclay hat Verstärkung erhalten; Pferde, Proviant, Munition und Artillerie. Seine Armee wurde um ein Drittel aufgefrischt; man will einen entscheidenden Schlag gegen Euch führen, bevor in Europa Sir John Spaldings Niederlage bekannt wird. Barclay will morgen oder übermorgen die Grenze überschreiten. Eure Generäle haben wieder einmal den Kopf verloren. Der alte Akbar antwortet nicht, wenn man ihn über die Lage befragt, und ist unfähig, irgendeinen Befehl zu geben…“
Und so mußte notgedrungen Corcoran wieder seine Pferde satteln lassen, um sich zu seiner Armee zu begeben.
Sita wollte ihm folgen.
„Ich will entweder mit dir leben oder sterben“, sagte sie. „Mißgönn mir nicht das Glück, dich zu begleiten.“
„Wer soll sich um Rama kümmern?“ entgegnete Corcoran.
Aber Rama wollte seinerseits die Mutter begleiten.
Der folgende Kampf wird die Entscheidung bringen, dachte Corcoran. Wenn ich Sita und Rama in Bhagavapur lasse, müßte ich stets fürchten, daß man sie verraten könnte. Vielleicht ist es wirklich besser, sie mitzunehmen.
Natürlich gehörte Scindiah ebenso zur Reisegesellschaft wie Louison und Garamagrif, denn Rama konnte sich nicht von ihnen trennen, nicht einmal von seinem Freund Moustache. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, ließ sich der Maharadscha schließlich überreden und nahm sie mit. Er begleitete sie bis zum Hauptlager seiner Armee und ritt dann allein weiter, um die vorgeschobenen Grenzposten zu inspizieren. Sugriva wurde wie gewohnt damit betraut, während der Abwesenheit des Maharadschas die Regierungsgeschäfte wahrzunehmen.
Es wurde höchste Zeit, daß Corcoran bei der Armee eintraf, denn die Nachrichten Babers erwiesen sich als nur zu wahr. Barclay war bereits in das Land der Marathen eingedrungen, und die Armee des Maharadschas war zurückgewichen, ohne sich bisher dem Gegner zur Schlacht zu stellen. Die Soldaten zeigten sich entmutigt, murrten und begannen bereits zu desertieren.
So war die Situation, als der Maharadscha allein zu Pferd, wie es stets seine Gewohnheit war, das Lager erreichte. Sofort schlug die Stimmung um. Es war am Morgen, und die Armee war, durch seine Gegenwart aus ihrer Lethargie gerissen, zum Kampf entschlossen.
Doch wollte Corcoran nichts aufs Spiel setzen. Seine Soldaten waren noch nicht kriegserfahren genug, um einem massiven Angriff des Feindes mit all dessen Kräften standzuhalten. Man mußte also zunächst den Gegner durch ständige kleine Scharmützel beunruhigen und dabei gleichzeitig den Marathen Zutrauen zu ihrer eigenen Stärke geben. Später wäre es zweifellos immer noch Zeit, sich zur Entscheidungsschlacht zu stellen.
Corcoran verfolgte diesen Plan mit außergewöhnlicher Strenge. Er ließ Schützengräben ausheben, baute Schanzen, umgab sein Lager mit einem tiefen Graben, errichtete Palisaden, hinter denen er seine zweihundert Kanonen in Stellung brachte. Danach überfiel er an der Spitze seiner auf Berber- und Turkmenenpferden einhergaloppierenden leichten Kavallerie kleinere Erkundungseinheiten der Engländer, rieb Konvois auf, die Nachschub an Proviant und Waffen ins englische Lager bringen sollten, so daß Barclays Soldaten schon Hunger zu leiden begannen.
Barclay war beunruhigt. Seine Operationsbasis war weit von Bombay entfernt. Die Nahrungsmittel gingen zur Neige. Fast tagtäglich erhielt er von Lord Braddock Depeschen, die ihn zur Eile mahnten, damit sein lautes Siegesgeschrei die dunklen Gerüchte über den Untergang von Sir John Spalding, die in Europa kursierten, überdecken mochten. Allerdings wagte Barclay nicht, den Befehl zum Angriff auf das befestigte Lager des Maharadschas zu geben. Andererseits bekam seine Kavallerie Corcorans Reitertrupps, die sich tagsüber an mehr als zwanzig verschiedenen Stellen zeigten, einfach nicht zu fassen.
Ein unglückseliger Zwischenfall, der zur Lösung dieser langen Geschichte führte, half schließlich Barclay aus seiner Verlegenheit.
Eines Abends, als Corcoran an der Spitze seiner Reiter von einem schnellen Geplänkel wieder ins Lager zurückkehrte, erschien Baber vor ihm und teilte mit, daß Sita, Rama, Scindiah, Louison und Garamagrif in der Gewalt der englischen Armee seien.
Diese schreckliche Nachricht schockierte den Maharadscha derartig, daß er für einen Moment kreidebleich wurde. Was? dachte er. So viel vergebene Mühe! So viel unnütz vergossenes Blut! So viel großartige Projekte, die an einem einzigen Tag vernichtet wurden.
Aber die Willenskraft des Maharadschas war so groß, daß er seine Schwäche überwand und keine Zeit daran verschwendete, sein Mißgeschick zu beweinen. Schließlich war er Bretone und aus Saint-Malo. So leicht konnte ihn nichts umwerfen.
„Woher hast du diese Neuigkeit?“ fragte er Baber.
„Nun, großer und erhabener Maharadscha, ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Ihr wart etwa seit einer Stunde mit der Kavallerie weggeritten. Außerhalb des Lagers war es ruhig, keine Engländer zu sehen. Die Fürstin wollte mit Scindiah zum Fluß hinabreiten, um ihm ein Bad zu gönnen. Rama und die Tiger begleiteten sie. Leider trafen wir auf eine Abteilung der englischen Kavallerie. Unsere Eskorte floh. Wendig, wie ich bin, schlängelte ich mich durch die Beine der Pferde hindurch, entging dem Geschoßhagel und lief hierher, um Euch zu benachrichtigen.“
Corcoran überlegte einen Moment.
„Was ist aus Louison geworden?“ fragte er.
„Herr, Louison, Garamagrif und Scindiah haben Ihre Hoheit nicht eine Sekunde im Stich gelassen.“
„Wenn Louison lebt, ist nichts verloren.“
Bevor jedoch Corcoran versuchte, mit Waffengewalt Frau und Sohn zu befreien, schrieb er an General Barclay einen Brief, den er durch einen Parlamentär überbringen ließ. Dieser Brief hatte folgenden Wortlaut:
„Im Lager von Kharpur
Sir,
ein englischer Gentleman führt, so nehme ich an, keinen Krieg gegen Frauen und Kinder. Man hat mir mitgeteilt, daß heute durch einen unglücklichen Zwischenfall meine Frau und mein Kind in Ihre Hände gefallen sind. Ich hoffe, daß Sie sich nicht weigern werden, ihnen ihre Freiheit wiederzugeben, oder wenigstens bereit sind, mit mir ein annehmbares Übereinkommen zu treffen.
Ich bitte Sie, die Versicherung meiner ehrerbietigsten Grüße entgegenzunehmen.
Maharadscha Corcoran I.“
Eine Stunde später erhielt Corcoran folgende Antwort:
„General Barclay an Sir Corcoran, sogenannter Maharadscha des Reiches der Marathen
Sir,
wie Sie ganz richtig bemerkt haben, führt ein englischer Gentleman keinen Krieg gegen Frauen und Kinder; aber ich fürchte, meine Pflichten gegenüber meinem Land, meiner Regierung und Ihrer Allergnädigsten Majestät zu vernachlässigen, wenn ich Holkars Tochter, Ihrer Gattin, die Freiheit schenkte, es sei denn, Sie akzeptierten die folgenden Bedingungen:
Erstens: Die marathische Armee wird ab heute aufgelöst, und jeder ihrer Soldaten kehrt nach Hause zurück.
Zweitens: Der sogenannte Maharadscha stellt sich unverzüglich dem englischen Generalgouverneur zur Verfügung.
Drittens: Der sogenannte Maharadscha übergibt General Barclay eine unter Eid als wahrheitsgemäß bestätigte Liste, in der alle Habe, Gegenstände und Immobilien, die Holkars Besitz sind beziehungsweise waren, aufgeführt werden, damit oben angeführte Hinterlassenschaft zur Verfügung oben angeführten Generals stehen kann.
Viertens: Die Festung von Bhagavapur sowie alle Befestigungsanlagen im Land werden mitsamt ihren Arsenalen, ihren Waffen, Proviant und Munition jeder Art, die sich gegenwärtig in ihnen befinden, der englischen Armee zur Verfügung gestellt.
Fünftens: Im Austausch für alle oben angeführten Bedingungen erhält schließlich der sogenannte Maharadscha von der englischen Regierung eine Pension von eintausend Pfund Sterling (das entspricht fünfundzwanzigtausend französischen Franc), worauf sich sogenannter Maharadscha verpflichtet, daß weder er noch seine Frau noch sein Kind in einer Frist, die fünfzig Jahre nicht unterschreitet, nach Indien zurückkehren wird.
Wenn diese Bedingungen, wie ich hoffe, Sir Corcoran als annehmbar erscheinen, bitte ich ihn, ein Doppel des Vertrages in beiden Sprachen ausfertigen zu lassen. Ich erkläre mich dann bereit, den Vertrag vor Einbruch der Dunkelheit zu unterzeichnen.
Sollte der Vertrag auf dieser Grundlage abgeschlossen werden, würde ich mich glücklich schätzen, die Bekanntschaft mit dem Maharadscha Corcoran zu vertiefen und die Hand eines Gentleman zu schütteln, für den ich immer die größte Wertschätzung empfunden habe.
John Barclay, Generalmajor der
Armee Ihrer Britischen Majestät.
Gegeben im Lager, den 14. März
1860“
Corcoran drehte das Schreiben mißbilligend zwischen seinen Fingern.
Abdanken, die Marathen verraten, dachte er. Mich ausplündern lassen. Eine Pension des Räubers annehmen. Und dazu besitzt er noch die Frechheit, mir seine Wertschätzung anzubieten, wenn ich annehme. Na schön, ich werde ihm etwas anbieten, was er nicht erwartet hat.
Den englischen Parlamentär schickte er ohne Antwort zurück.
Am Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, versammelte er fünfhundert seiner treuesten und kühnsten Reiter um sich, ließ sie die Hufe der Pferde mit Filz und Leinen umwickeln, damit ihr Hufgetrappel gedämpft würde, und ritt im Schritt mit seiner Begleitung davon.
Baber diente als Führer.
Da die Nacht außergewöhnlich dunkel war, rechnete die englische Armee mit einem eventuellen Überfall der Marathen und war auf dem Posten. Die Gefangenen lagerten in der Mitte. Ein Bataillon hatte einen Ring um sie gebildet und bewachte sie. Die, Anwesenheit der beiden großen Tiger schreckte die Engländer ab, sich ihnen zu dicht zu nähern. Man hatte wohl daran gedacht, sie zu erschießen, doch die Tiere hatten sich so um Sita und Rama gruppiert, daß die Kugeln wohl oder übel auch die beiden letzteren hätten treffen können, was den Krieg unsühnbar hätte werden lassen, denn Corcoran würde diesen Mord nie verzeihen, und Barclay war sich seines Sieges durchaus nicht so sicher, daß er sich einer derart gefährlichen Chance ausgesetzt hätte.
Auf das „Wer da?“ der englischen Schildwachen erscholl plötzlich der Kriegsruf Corcorans: „Vorwärts!“
Eine Schar Reiter galoppierte in das englische Lager. Schon von weitem erkannte Corcoran die mächtige Masse Scindiahs, die sich vor den Biwakfeuern abhob. Er rechnete damit, daß Sita und Rama in der Nähe des Elefanten seien, und versuchte, sich mit seinen Reitern bis dorthin durchzuschlagen.
Anfangs folgten ihm auch seine Reiter entschlossen und willens, zusammen mit ihrem Heerführer dessen Frau und dessen Kind zu befreien; aber die Engländer, die ja nicht unvorbereitet waren, schlugen den ersten Angriff zurück und schossen etwa fünfzig Männer der Marathen nieder. Die fürchteten daraufhin, in einen Hinterhalt zu geraten, und zogen sich zurück, wobei sie ihren Befehlshaber allein auf dem Schauplatz des Geschehens ließen.
Corcoran schwebte in der allergrößten Gefahr. Sein Angriff war zwar forsch und mutig gewesen, jedoch hatte er nicht damit gerechnet, daß die Engländer die kostbare Beute besonders wachsam hüteten. Sein Pferd war bei der Attacke unter ihm weggeschossen worden, er selbst von einer Kugel an der Schläfe verwundet.
Als das Pferd unter ihm zusammengebrochen war, stürzte der Maharadscha zu Boden, sein Kopf schlug auf einer der hölzernen Zeltstangen auf. Der Aufprall war so heftig und schmerzvoll, daß er das Bewußtsein verlor.
Zehn Minuten später kam Corcoran wieder zu sich. Er fühlte einen heißen Atem auf seinem Gesicht; vorsichtig stützte er sich auf einen Arm, um sich nicht den englischen Soldaten zu verraten, hob den Kopf und erkannte Louison.
Die Tigerin hatte vorausgesehen, was eingetreten war. Sie hatte Corcorans Kriegsgeschrei gehört und dann beobachtet, wie die Marathen versuchten, in das englische Lager einzudringen, dabei allerdings von den Engländern zurückgeschlagen wurden. Sie kannte Corcoran nur zu gut, als daß sie geglaubt hätte, auch er würde sich zurückziehen. Es mußte etwas mit ihm passiert sein. Sie hatte sich also auf die Suche nach ihrem Freund gemacht und ihn ohnmächtig neben seinem toten Pferd entdeckt.
Sie hätte Hilfe herbeifauchen können, aber sie hatte es sein lassen, weil sie merkte, daß sie rings von Feinden umgeben war. Also hatte sie sich damit begnügt, Corcoran das Gesicht zu lecken, bis er wieder zu sich gekommen war; jetzt packte sie ihn am Gürtel und zog ihn vorsichtig zu den Gefangenen. Nach wenigen Augenblicken war sie bei Sita angelangt.
Trotz aller Freude Sitas, ihren Gemahl bei sich zu haben, war die Gefahr nicht kleiner geworden, im Gegenteil. An der Spitze seiner Armee konnte Corcoran möglicherweise das Gesetz des Handelns diktieren, als Gefangener im feindlichen Lager blieb ihm nichts übrig, als es zu erdulden.
Als er Sita erzählt hatte, was er für Anstrengungen unternommen hatte, um sie zu befreien, machte sie ihm wegen seines Leichtsinns zwar milde, doch entschiedene Vorwürfe.
„Es wäre nicht leichtsinnig gewesen, wenn mir diese Feiglinge gefolgt wären…, den Rest hätten wir schon irgendwie geschafft“, sagte er, merkte jedoch selbst, daß seine Worte alles andere als überzeugend klangen. „Ich bin sehr müde. Die Verletzungen, die ich im Kampf mit Sir John Spalding erhalten habe, sind noch nicht verheilt“, flüsterte er Sita zu. „Ich werde mich ein wenig ausruhen. Louison, beste Freundin, halte zusammen mit Garamagrif die Augen offen…“
Wenige Stunden später konnte man bei Tagesanbruch die blutigen Spuren des nächtlichen Kampfes erkennen. Barclay, der mit Recht daran zweifelte, daß der Maharadscha wider seine Gewohnheit nicht an dem Überfall beteiligt gewesen sein sollte, wunderte sich noch mehr darüber, als ihm seine Kundschafter Meldung erstatteten, daß in der gewöhnlich ruhigen Armee der Marathen schier alle aus dem Häuschen zu sein schienen.
Bald darauf erhielt er eine Erklärung. Ein desertierter Marathensoldat hatte berichtet, daß Corcoran während des nächtlichen Angriffs getötet worden war.
Diesmal, dachte Barclay, bin ich sicher, Lord zu werden. Und Mistreß Barclay wird man bald mit Lady Andover anreden müssen.
Und er gab Befehl, das Lager der Marathen anzugreifen.
In dem Augenblick, als die erste Kolonne zum Abmarsch bereit war, eilte ein Offizier auf ihn zu und unterrichtete ihn davon, daß man das tote Pferd Corcorans gefunden habe, den Maharadscha selbst allerdings nicht. „Wen kümmert das, wenn er tot ist?“ entgegnete Barclay.
Dennoch gab er vorsichtshalber Befehl, die Wache um Sita und ihre Tiere zu verdoppeln, um so jede Flucht zu verhindern. Dann ließ er die zweite Kolonne seiner Angreifer abrücken, um die erste bei deren Angriff zu unterstützen.
Er selbst wollte gerade mit dieser zweiten Kolonne ausrücken, als er aus der Richtung der Gefangenen Schreie und Gewehrschüsse hörte.
Das war Corcoran, der versuchte, den Ring, den die Engländer um Sitas Tragsänfte gebildet hatten, zu durchbrechen. In Sekundenschnelle war der Maharadscha auf ein herrenloses Pferd gesprungen, hatte mit Louison, Garamagrif, dem kleinen Moustache und Scindiah eine Art Karree um die Sänfte gebildet und war so durch die Reihen der Bewacher gebrochen.
Seine Absicht war, sofort in das befestigte Hauptlager der Marathen zu eilen, doch hätte er dabei eine baum- und buschlose Ebene von etwa einer Viertelmeile durcheilen müssen, wäre also dem Feuer der Engländer schutzlos preisgegeben, aber er konnte nicht leichtsinnigerweise die kostbare Fracht, die er mit sich führte, den Kugeln des Feindes aussetzen.
In einiger Entfernung hatte er einen einzelnen Felsbrocken entdeckt, der steil in die Ebene ragte und den man auf einem schmalen Grat erklimmen konnte. Dorthin ritt er mit seiner Karawane.
Die Engländer machten sich nach der ersten Verblüffung sofort an die Verfolgung, aber Louison und Garamagrif bildeten die Nachhut und fletschten dabei ihre Zähne so furchteinflößend, daß die braven englischen Soldaten nichts übereilten und lieber erst die Anweisungen ihres Oberbefehlshabers abwarteten. Barclay hatte erst dann bemerkt, daß Corcoran geflohen war, als er mit der zweiten Kolonne aus dem Lager ritt. Ohne sich weiter um die Angriffsvorbereitungen seiner Armee zu kümmern, sprengte er ins Lager zurück. Er schätzte, daß es im Moment wichtiger war, den Befehlshaber der Marathen gefangenzunehmen. Im Lager scharte er zwei Infanteriebataillone und eine Kavallerieeskadron um sich und ritt damit den Flüchtenden hinterher. Bei dem Felsen angekommen, umstellte er ihn mit seiner Streitmacht und forderte den Kapitän lauthals auf, sich zu ergeben.
„Gefangener der Engländer? Nie und nimmer!“ schrie Corcoran zurück.
„Wie Sie wollen! Feuer!“ befahl Barclay.
Der Maharadscha, Sita und Rama waren hinter einem natürlichen Schutzwall aus riesigen Steinen in Deckung gegangen. Der einzige Zwischenraum, den es zwischen den Felsblöcken gab, war durch den gewaltigen und anscheinend unverletzbaren Panzer des guten Scindiah versperrt. Die Kugeln prallten von diesem natürlichen Schild ab und klatschten gegen die Steine. Scindiah traf keine weiteren Schutzmaßnahmen, als seine Ohren vor den umherschwirrenden Kugeln glatt an den Körper zu legen. Eine zweite Salve hatte ebensowenig Erfolg.
„Vorwärts marsch!“ kommandierte der wutschnaubende Barclay. „Bringt sie mir tot oder lebendig!“
„Weder tot und schon gar nicht lebendig, General“, ließ sich Corcorans spöttische Stimme vernehmen.
Die Angreifer konnten allein auf einem sehr engen Pfad, der es jeweils nur einem einzigen Mann gestattete, sich auf ihm zu bewegen, den Felsbrocken ersteigen, was für die Verteidiger von großem Vorteil war.
Der erste, dem es gelang, die Plattform, auf die sich außer Scindiah alle zurückgezogen hatten, zu erklimmen, war ein walisischer Sergeant namens James Bosworth. Überstürzt versuchte er, ganz aus der Nähe auf den Maharadscha zu schießen, der jedoch riß den Lauf des feindlichen Gewehrs nach oben, so daß die Kugel in die Luft ging. Gleichzeitig feuerte Corcoran aus seinem Revolver auf den Waliser und traf ihn zwischen die Augen. Einen zweiten Angreifer ereilte das gleiche Geschick. Ein dritter gelangte zunächst unbemerkt auf die Plattform, ein Tatzenhieb Louisons jedoch warf ihn ebenso postwendend hinunter, wie er emporgeklettert war. Garamagrif hielt sich ebenfalls großartig. Allein sein Anblick flößte den Engländern Respekt ein. Drei Soldaten hatten inzwischen versucht, Corcoran von der anderen Seite zu überraschen. Es war ihnen gelungen, sich zwischen die Felswand und Scindiah, der unterhalb der Plattform in Deckung gegangen war, zu schleichen. Glücklicherweise bemerkte es der Elefant noch rechtzeitig. Sanft lehnte er sich an den Felsen. Pech für die Soldaten, daß sie sich genau zwischen seinem Bauch und dem Felsen befanden.
„Schluß damit!“ befahl Barclay. „Es ist nicht der Mühe wert, so viele gute Männer zu opfern, um diesen Starrkopf festzunehmen. Bewacht ihn und laßt ihn nicht entwischen: Irgendwann wird ihn der Hunger zwingen, seinen Felsenhorst zu verlassen.“
Und das entsprach den Tatsachen, denn wenn sich Louison und Garamagrif notfalls der Soldaten bedienen konnten, so war Scindiah gewohnt, jeden Tag bis zu hundertzwanzig oder hundertdreißig Pfund Gräser und Blätter zu fressen. Schon seit einiger Zeit riß er seinen Rachen in der fürchterlichsten Art und Weise vor Hunger auf. Auch Corcoran, Sita und der kleine Rama hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.
Die Qual dauerte auch in der hereinbrechenden Nacht an. Corcoran war am Ende seiner Kräfte und wußte nicht, an welchen Heiligen er sich noch wenden sollte. Konnte er die Waffen strecken? Gegen diesen Gedanken rebellierte sein ganzer Stolz. Würde er untergehen? Was sollte aus Sita und Rama werden? Sollte er sich den Engländern ergeben, wenn sie dafür garantierten, Sita und Rama kein Leid anzutun?
Er hatte sich völlig diesem Gedanken hingegeben und hob die Augen zum Himmel, um den Allmächtigen um Rat zu bitten. Dabei erblickte er etwas ganz Wunderbares.
Es war ein Gegenstand, der ihm außerordentlich riesig vorkam und mit großer Geschwindigkeit am Himmel entlangflog. Dann, als sich der Gegenstand immer schneller herabsenkte, glaubte er, einen gewaltigen Vogel wahrzunehmen, der direkt auf seinen Kopf zustürzte. Schließlich erkannte er die Fregatte und hörte die frohgemute Stimme seines Freundes Quaterquem. Noch nie, seit die Schiffbrüchigen der Medusa endlich am Horizont ein Segel auf der einsamen Wasserwüste des Ozeans erblickt hatten, wurde eine derartige Freude empfunden.
„Sag mal, lieber Freund“, rief Quaterquem, „was machst du denn da mit all deinen Tigern, deinem Elefanten, deiner Frau, deinem Sohn und fünfhundert englischen Gaffern, die dich bewachen wie die Kronjuwelen?“
„Mein guter Quaterquem“, sagte Corcoran und umarmte ihn, „nimm als erstes Sita und Rama in deine Fregatte und gib ihnen etwas zu essen, denn sie haben seit sechsunddreißig Stunden nichts zu sich genommen.“
„Oh, Mister Quaterquem“, rief Acajou, „kleiner Matscharaha hat noch nicht gegessen! Kaltes Fleisch und guter Wein wird dem Kleinen schmecken.“
Diese beiden göttlichen Worte „kaltes Fleisch“ weckten mit einemmal Ramas Lebensgeister. Mit wahrhaft kindlichem Appetit machte er sich über die Speisen her. Auch Sita ließ sich nicht lange bitten, während Corcoran mit vollem Mund seinem Freund die neuesten Abenteuer erzählte.
„Ich habe zwar nicht daran gezweifelt“, sagte Quaterquem, „daß alles schlimm ausgeht. Dennoch glaubte ich nicht, daß sich meine Befürchtungen so bald bewahrheiten würden. An diesem Morgen bin ich zusammen mit Acajou von meiner Insel aufgebrochen, um dich und Sita zu holen. Alice erwartet euch. Ich bin in Bhagavapur gelandet. Sugriva hat mir gesagt, daß du bei der Armee bist und schon einen General besiegt hast, der Spolding oder Spalding heißt. Meinen Glückwunsch. Ja also, ich fliege hierher, aber von dir keine Spur. Ich sehe deine Armee in heilloser Verwirrung. Man sagt mir, daß du gestern nacht bei einem Angriff gefallen wärst. Ich fliege ins englische Lager, um dich wenigstens begraben zu können. Ich informiere mich, man sagt mir, daß du noch lebst. Ich steige also wieder in die Lüfte und entdecke dich auch gleich auf deinem Felsenhorst. Nun komm schon mit mir, ich werde dich dorthin bringen, wohin du willst, auf meine Insel oder meinetwegen nach Bhagavapur, wenn dir das besser gefällt.“
„Nein, ich werde mich nicht mit Schimpf und Schande davonstehlen!“ rief Corcoran. „Du nimmst Sita und Rama mit dir, ich selbst werde mich durch eigene Kraft hier davonmachen und diesen hochnäsigen Engländer zum Kampf herausfordern.“
Er ist verrückt, dachte Quaterquem, aber noch mehr ist er Bretone, also starrköpfig… „Und wie willst du die englischen Reihen durchbrechen?“ fragte er. „Machst du dir gar keine Sorgen?“
„Ich mache mir solche Sorgen, daß du dich in einer Viertelstunde davon überzeugen kannst, wie sehr ich mir Sorgen mache. Glaubst du übrigens ernsthaft, ich könnte Louison und Scindiah dem Feind überlassen? Das wäre ja schwärzester Undank.“
Die Bitten und Umarmungen Sitas konnten den Maharadscha ebenfalls nicht von seinem Entschluß abbringen. Er wartete geduldig, bis sich Quaterquem mit der Fregatte, in der Sita und Rama in Sicherheit waren, in die Lüfte erhob. Dann, allein auf dem Felsen zurückgeblieben, weckte er Scindiah, der wohl gerade davon träumen mochte, Reisstroh und süßen Zuckersirup vorgesetzt zu bekommen.
Louison stieg als erste von dem Felsen herab, um den Weg zu erkunden. Corcoran folgte ihr, Scindiah zur Rechten und Moustache zur Linken. Garamagrif beschloß das Gefolge.
Eine so zahlreiche Karawane konnte natürlich nicht unbemerkt mitten durch die englische Armee entkommen. Eine der Wachen gab Alarm und feuerte auf die Ausbrecher. Die Kugel streifte Garamagrif an der linken Seite. Er tat einen gewaltigen Satz, packte den Soldaten an der Gurgel und biß ihm die Kehle durch.
Bei dem Lärm und dem Schuß war im Nu das ganze Bataillon auf den Beinen und sah, daß sich Corcoran, seinen Säbel in der einen, den Revolver in der anderen Hand, abwechselnd säbelnd und schießend bis zum äußeren Ring der Engländer durchschlug, von seinen drei Tieren gefolgt. Dort glaubte er sich erst einmal in Sicherheit.
Leider erhellten die Feuer, die man ringsum entzündet hatte, seinen Weg, und die Engländer schossen mit allem, was ein Rohr war, auf ihn.
Er schaute nach hinten.
Garamagrif und Scindiah waren von den Schüssen tödlich getroffen worden. Der eine hatte eine Kugel ins Herz abbekommen, dem anderen waren mehrere Kugeln in den Kopf gedrungen. Der Tod hatte die beiden, die sich so oft gegenseitig geärgert hatten, vereint. Der furchtlose Garamagrif warf einen letzten, verlöschenden Blick auf den Gegner, der ihn von hinten erschossen hatte, und verschied.
Louison, unbeweglich und erschüttert, die Augen voller Tränen, betrachtete einige Augenblicke schweigend diesen stolzen Garamagrif, den Gefährten ihres Lebens. Sie erinnerte sich an die Freuden vergangener Zeiten und schien ihn nicht allein auf dem Schlachtfeld zurücklassen zu wollen. Doch auf eine zärtliche Geste Corcorans hin, der sie umarmte und auf den kleinen Moustache zeigte, der nun Halbwaise geworden war, verließ sie mit den beiden das Schlachtfeld.
Auch Scindiah, der stets die Gerechtigkeit gesucht und die Ungerechtigkeit verabscheut hatte, erwartete jetzt unbewegt das Ende seiner Leiden. Ebenso bescheiden wie gut, liebenswürdig, sanft und ernsthaft, hinterließ er im Herzen seiner Freunde eine Erinnerung, die nie verblassen würde.
Die Nacht rettete Corcoran und Louison. Die englische Kavallerie, die einen Hinterhalt fürchtete, wagte nicht, sie weiter zu verfolgen; der Maharadscha hatte sich ein Pferd gegriffen, das an einem Pflock angebunden war. Er schwang sich in den Sattel und galoppierte davon.
Louison wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wollte sowohl ihren lieben Garamagrif rächen als auch Corcoran folgen.
„Beruhige dich, meine Liebe“, sagte der Maharadscha, „du wirst ihn in einer besseren Welt wiedertreffen. Vor allem müssen wir die Armee wieder einholen. Diese Nacht die Rettung, morgen die Rache.“
Sein Pferd machte plötzlich in vollem Galopp eine scharfe Wendung, die ihn aus dem Sattel zu werfen drohte. Eine Gestalt erhob sich schemenhaft vor ihm im Dunkel und schien um Gnade zu bitten.
Corcoran spannte seinen Revolverhahn.
„Wer bist du?“ fragte er. „Rede schnell, oder ich schieße dich über den Haufen.“
Schon war Louison, die seit Garamagrifs Tod gegen jeden Menschen eine tiefe Abneigung verspürte, im Begriff, sich auf den Teufel zu stürzen und ihn in Stücke zu reißen.
„Brahma und Wischnu, großer Maharadscha!“ schrie der andere, denn an der knappen und befehlsgewohnten Stimme hatte er seinen Herrn erkannt, „haltet Louison zurück, oder ich bin ein toter Mann. Ich bin Baber.“
„Baber. Was machst du hier? Wo ist meine Armee?“
„Ach, Herr, seit die gesehen haben, daß die Engländer vorgehen, ist ihnen wieder einmal der Schreck in die Glieder gefahren.“
„Und Akbar?“
„Akbar hat fünf Minuten versucht, sie zu sammeln, aber man hat nicht auf ihn gehört. Einer der Reiter, der Euch gestern ins Lager der Engländer gefolgt ist, hat gerufen, daß Ihr tot seid. Bei dieser Nachricht ist die gesamte Kavallerie in Richtung Bhagavapur geflüchtet. Die Infanterie ist ihr gefolgt, und Akbar hat nicht als einziger zurückbleiben wollen. Jetzt müssen sie etwa drei oder vier Meilen von uns sein.“
„Und du?“
„Ich, Herr…, ich habe aus allen Kräften geschrien, daß das eine Lüge sei, daß Ihr am Leben seid, lebendiger als je zuvor, und daß man sich in zwei Tagen davon überzeugen könne.“
„Und wie kommt es, daß ich dich auf der Straße nach Bhagavapur treffe?“
„Ach, großer und erhabener Maharadscha, diese Elenden haben sich so mit der Flucht beeilt, daß sie alle über den Haufen geritten haben, die sich ihnen entgegenstellten.“ Baber seufzte tief.
„Tatsache ist“, meinte Corcoran, wobei er ihn eingehend musterte, „daß du schrecklich zugerichtet bist. Hast du genug Kraft, um zu gehen?“
„Um Euch zu folgen, Herr“, sagte der Hindu, „würde ich sogar auf den Händen laufen.“
Und tatsächlich, dank der Geschmeidigkeit seiner Gliedmaßen gelang es Baber, sich zu erheben und eine Viertelmeile neben Corcorans Pferd herzulaufen, dann verließen ihn seine ohnehin schwachen Kräfte.
Corcoran war besorgt. Nach Louison war Baber jetzt für ihn der wichtigste Verbündete.
„Herr“, sagte Baber, „wir sind gerettet. Ich höre zwei Pferde, die vor einen Wagen gespannt sind, herantraben. Das muß ein Troßwagen unserer Armee sein. Laßt mich machen. Versteckt Euch hinter der Hecke und kommt erst dann hervor, wenn ich Euch rufe.“
Das Hufgetrappel näherte sich.
Als das Gefährt nur noch fünfzig Schritt von dem Hindu entfernt war, schrie jener mit kreischender Stimme:
„Wer will sich zweitausend Rupien verdienen?“
Sogleich hielt der Wagen, und zwei bis an die Zähne bewaffnete Männer stiegen aus.
„Wer redet hier davon, zweitausend Rupien zu verdienen?“ fragte einer von ihnen, der eine Pistole mit langem Lauf in der Hand hielt.
„Herr“, sagte Baber, „ich bin auf den Tod verwundet. Laßt mich hier nicht liegen, bringt mich an einen sicheren Ort, und ich gebe Euch die zweitausend Rupien, wenn wir im Lager sind.“
„Wo sind sie?“ fragte der Mann. „In meinem Zelt, im Lager des Maharadschas.“
„Dieser Wicht macht sich über uns lustig, wir verlieren nur unsere Zeit mit ihm.“
Bei diesen Worten drehte der Mann Baber den Rücken zu und wollte mit seinem Kameraden wieder den Wagen besteigen.
„Zu mir, Maharadscha!“ rief Baber.
Gleichzeitig griff er den Pferden in die Kandare, um sie daran zu hindern, durchzugehen.
Der Mann, der gesprochen hatte, zog eine Pistole. Baber duckte sich und entging so der Kugel, die der Mann auf ihn abgefeuert hatte.
Im selben Augenblick erschien Corcoran. „Halt, Kanaille!“ schrie er donnernd.
Bei dieser ihnen wohlbekannten Stimme und angesichts des leibhaftig vor ihnen erscheinenden Maharadschas warfen sich die beiden auf die Knie.
„Großer und erhabener Herrscher, unser Leben ist in deiner Hand. Was befiehlst du?“
„Legt eure Waffen ab!“ befahl Corcoran.
Sie gehorchten eilig.
Corcoran nahm die Laterne, die an dem Troßwagen hing, in die Hand und leuchtete den beiden ins Gesicht. Voller Verwunderung erkannte er seinen General Akbar.
„Wohin willst du?“ fragte er.
Akbar schwieg.
„Ich will es Euch sagen, Herr“, ergriff da Baber das Wort. „Akbar desertiert. Er hat nichts Besseres zu tun, als ins Lager der Engländer überzulaufen.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Akbar erregt.
„Verräter!“ schrie ihn Corcoran wutschnaubend an. „Und du?“ wandte er sich an Akbars Gefährten.
Akbars Begleiter schien nicht weniger eingeschüchtert als sein Vorgesetzter zu sein. Vergeblich versuchte er zu retten, was zu retten war.
„Herr, ich bin nur ein einfacher Offizier. Ich gehorche nur meinem General.“
Der Maharadscha lächelte verächtlich.
„Baber“, sagte er zu dem ehemaligen Würger von Gwalior, „binde sie an Händen und Füßen, wirf sie auf den Wagen und lenke das Gefährt in unser Lager. Das Kriegsgericht soll über ihr Schicksal entscheiden.“
Baber gehorchte, ohne daß einer der beiden Widerstand geleistet hätte. Corcorans und Louisons Anblick ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
„Und nun vorwärts, und zwar im Galopp!“ rief der Maharadscha. „Wir müssen in einer Stunde im Lager sein; mittags stellen wir uns den Engländern zur Schlacht, und gegen sechs Uhr abends werden wir Garamagrif und Scindiah gerächt haben, nicht wahr, meine Louison?“
Ich glaube, es ist nicht notwendig, daß ich beschreibe, mit welcher Freude der Maharadscha im Lager der Marathen begrüßt wurde. Wenn die Offiziere zitterten bei dem Gedanken an die Strafe, die er für sie bereithalten konnte, so sahen in ihm die Soldaten vertrauensvoll die elfte Inkarnation Wischnus und glaubten, unbesiegbar zu sein, vorausgesetzt, er marschierte an ihrer Spitze.
Corcoran ließ sie antreten und hielt folgende Rede: „Soldaten! Verräter und Feiglinge haben viel Lärm um meinen Tod gemacht. Durch den göttlichen Schutz Wischnus bin ich jedoch am Leben, um zu siegen und zu strafen.
Wir werden uns zum entscheidenden Gefecht stellen, und ich schwöre bei dem leuchtenden Indra, daß der erste, der die Flucht ergreifen sollte, erschossen wird!
Ich schwöre gleichermaßen, daß jeder Offizier oder Soldat, der eigenhändig eine Fahne oder eine Kanone erobert, ab diesem Tag Zemindar sein wird und zehntausend Rupien erhält.
Im Schutz des allmächtigen Schiwa werde ich unter diese roten Barbaren fahren wie die Sichel ins Reisfeld und Tod und Schrecken unter ihnen verbreiten!“
Von allen Seiten schrie man begeistert: „Es lebe der Maharadscha!“
Und man glaubte an den Sieg.
Gegen acht Uhr morgens rückte die Vorhut der Engländer an. Corcoran ritt die Reihen seiner Marathen ab.
„Wenn mir jeder seine Aufgabe gewissenhaft erfüllt“, schärfte er ihnen ein, „garantiere ich, daß wir den Feind schlagen.“
Die Engländer rückten in Schlachtlinie an, doch das Gelände war für sie nicht von Vorteil. Zur Rechten und Linken ihres Aufmarschgebietes erstreckten sich weitläufige Sumpfgebiete. Corcoran, der schon, bevor er das Lager hatte anlegen lassen, das Gelände genau studiert hatte, profitierte nun von seiner Weitsicht; andererseits aber auch davon, daß Barclay einen Tag verloren hatte, als er ihn bei dem Felsen belagerte und nicht die Chance genutzt hatte, als der Maharadscha abwesend war, dessen Lager zu besetzen.
Corcorans Artillerie bestrich die englischen Linien. Er selbst umging an der Spitze seiner sechs Kavallerie- und acht Infanterieregimenter (denn er hatte hinter den Kanonen nur eine schwache Infanteriedeckung zurückgelassen, um entsprechend seinem Plan den Feind vollständig in die Zange nehmen zu können) in aller Stille das Sumpfgelände und fiel dann plötzlich wie ein Wirbelsturm in den Rücken der Engländer.
Zweifellos wird es nicht nötig sein, eine detaillierte Beschreibung der Schlacht zu geben, sie ähnelte in vielem den schon mehrmals auf diesen Seiten beschriebenen Kampfhandlungen. Corcoran, der gut und gerne Alexander, Hannibal oder Cäsar hätte sein können, es aber vorzog, Corcoran zu bleiben, trug einen vollständigen Sieg davon. Während seine Artillerie mit großer Treffsicherheit die englischen Reihen bestrich und dadurch nach jeder Salve die englischen Linien stärker gelichtet wurden, fuhr er mit seiner Kavallerie unter sie wie das Messer in die Butter. Die Marathen, von seinem Beispiel angespornt, leisteten wahrhaft Großes.
Aber das alles war nichts im Vergleich zu Louison.
Während der Schlacht blieb sie wie ein guter Colonel stets an der Seite des Kapitäns; nur wenn die roten Uniformen zu nahe an sie herankamen, schnellte sie wütend davon und stürzte sich auf sie, ohne daß man sie hätte zurückhalten können. In wenigen Augenblicken hatte sie vier oder fünf englische Offiziere außer Gefecht gesetzt. Umsonst versuchte sie Corcoran zurückzurufen. Sie hörte nichts mehr.
Während der Schlacht gab es für Corcoran nur eine kritische Situation zu überstehen.
Die Engländer gewannen, nachdem sie ihre erste Überraschung über den unerwarteten Angriff der Marathen überwunden hatten, nach und nach ihre Kaltblütigkeit wieder. Ohne bei dem ungestümen Angriff Corcorans mit der Reiterei den Kopf zu verlieren, hielt Barclay stand und gab, als er den Maharadscha inmitten des Gewimmels erkannt hatte, Befehl an fünfzig seiner Elitereiter, sich ihm an die Sporen zu heften und alle ihre Kräfte dafür einzusetzen, ihn zu töten. Er selbst setzte sich an ihre Spitze, weil er zu Recht einschätzte, daß der Tod des Maharadschas den Krieg sofort beenden würde.
Es hätte nicht viel gefehlt, und Barclays Rechnung wäre aufgegangen, doch er hatte seine Rechnung ohne Louison gemacht.
Die Tigerin hatte sehr bald gemerkt, daß man versuchte, Corcoran einzukreisen. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie mitten in eine Traube von Reitern hinein, durch die der bereits eingekreiste Corcoran mit dem Säbel eine Gasse hieb.
„Eine Million Rupien für den, der den Maharadscha tötet!“ schrie Barclay.
Es waren seine letzten Worte. Kaum hatte er sie ausgesprochen, als ihm Louison an die Kehle sprang.
Der tödlich verletzte Barclay sank auf seinen Sattelknauf. Die Marathen rückten vor und hieben sich durch den Ring der englischen Reiter bis zu ihrem Maharadscha vor. Die englische Armee begann zu wanken.
Eine Stunde später war die Schlacht entschieden, und die mit Säbelhieben auf den Weg nach Bombay getriebenen Engländer dachten an nichts anderes mehr, als ihr nacktes Leben zu retten und Bombay heil zu erreichen.
Lord Henry Braddock, der nach der ersten Siegesmeldung Barclays von Bombay herübergekommen war, um selbst über das Schicksal von Holkars Reich zu entscheiden (und sich ebenfalls ein gehöriges Stück von dem riesigen Kuchen abzuschneiden), schätzte, daß es zweifellos jetzt die klügste Politik sei, klein beizugeben, auf die Forderung des Siegers einzugehen und Frieden zu schließen, als den Herrscher der Marathen noch weiter in den britischen Teil Indiens hineinmarschieren zu lassen. Deshalb bat er um eine Unterredung mit dem Maharadscha.
„Soll er in mein Lager kommen“, ließ der Bretone dem englischen Parlamentär ausrichten.
Bei den Friedensbedingungen zeigte er sich nicht unbescheiden, da er sehr wohl die Laxheit der armen Hindus kannte und deshalb kein Vertrauen in die Zukunft hatte. Er gab sich damit zufrieden, den Titel eines Verbündeten Ihrer Majestät, der Königin Victoria von England, Herrscherin über Hindustan, anzunehmen und eine Summe von fünfundzwanzig Millionen Rupien als Entschädigung für die Kriegslasten von den Engländern einzustecken.
Nachdem die beiden Armeen, die eine niedergeschlagen, die andere siegreich, in ihre Quartiere zurückgekehrt waren, hielt er seinen Einzug in Bhagavapur.
Ich übergehe die Festlichkeiten und die Dankesbezeigungen für den Maharadscha, die nun folgten, mit Schweigen. Corcoran, der sich keinen Illusionen hingab, war der Machtausübung müde geworden. Um sich herum hatte er nur Verrat und Feigheit gespürt. Er beschloß abzudanken.
„Großer und erhabener Maharadscha“, sagte der treue Sugriva zu ihm, „überlaß uns nicht den Engländern. Man regeneriert in drei oder vier Jahren kein Volk.“
„Mein treuer Freund“, sagte Corcoran, „ich bin nach Indien gekommen, um das Gurukaramta zu suchen, und ich habe es gefunden. Ich suchte keine Frau und kein Vermögen, aber ich habe ebenfalls beides gefunden. Ich habe euch gezeigt, was man tun muß, um frei zu sein. Profitiert von dieser Erfahrung und laßt euch lieber töten, als Stockschläge einzustecken. Ich habe meine Aufgabe erfüllt und will wieder über mich selbst verfügen. Ich werde abdanken und meinen Freund Quaterquem besuchen. Vorher jedoch werde ich den Marathen noch ein Gesetz hinterlassen. Benachrichtige meine Gesetzgebende Versammlung, daß ich ihr morgen eine wichtige Mitteilung zu machen habe.“
Am nächsten Tag betrat er den Sitzungssaal und hielt folgende Rede: „Repräsentanten des Volkes der Marathen!
Ich danke euch für die Treue, die ihr mir stets bewiesen habt. Gemeinsam haben wir den Feind des Vaterlandes bekämpft und besiegt. Es liegt nun an euch, das begonnene Werk zu, vollenden, das Werk eurer Befreiung. Ihr habt die Freiheit erkämpft, lernt sie zu verteidigen.
Ich proklamiere heute die Republik der Konföderation der Marathen und lege die Regierung in eure Hand.
Für drei Monate übertrage ich den Vorsitz der neuen Republik meinem treuen und unverzagten Sugriva. Ist diese Frist verstrichen, werdet ihr euch selbst einen Kanzler wählen. Mögt ihr den würdigsten finden!
Ich reise ab, aber wenn jemals die Unabhängigkeit der marathischen Republik bedroht sein sollte, so laßt es mich wissen. Ich werde wieder zu den Waffen greifen und in euren Reihen kämpfen.
Lebt wohl!“
Bei diesen Worten strömte ihm von allen Seiten Begeisterung zu. Man wollte den Maharadscha zurückhalten, doch sein Entschluß stand fest. Er reiste am selben Tag noch mit seinem Freund Quaterquem ab, der ja gekommen war, um Corcoran und dessen Familie mit seiner Fregatte zu holen.
Louison und Moustache begleiteten ihn. Quaterquem hatte nur drei Seemeilen von seiner eigenen Insel entfernt ein Stück Eiland entdeckt, das er Corcoran schenkte.
Dort lebt Corcoran seit vier Jahren glücklich und zufrieden. Ein Telegraf verbindet die Inseln miteinander, und so können die beiden Freunde, vor ihrem Kaminfeuer sitzend, miteinander schwatzen, ohne sich zu stören. Alice und Sita sehen sich oft. Beide Familien sind inzwischen sehr zahlreich, denn Corcoran hat außer dem kleinen Rama nicht weniger als drei Jungen; unter Alices Obhut gedeihen drei Mädchen. Sie wollen übrigens alle zusammen zwischen dem 15. und 20. Juli 1867 zur Weltausstellung nach Paris kommen.
PS Man behauptet (aber ich wage nicht, dieses Gerücht zu bestätigen oder ihm zu widersprechen), daß Corcoran sein altes Projekt, Hindustan von der englischen Vorherrschaft zu befreien, nicht aus den Augen verloren habe. Vor kurzem erst hat man mich über Beziehungen informiert, die er mit den Brahmanen auf der Halbinsel unterhält, vom Himalaja bis zum Kap Komorin; ich werde mich allerdings hüten, eine Indiskretion zu begehen. Wir werden ja sehen, wie lange es dauern wird.