»Bitte.«

»Seit wann, Lord Edgware, kennen Sie Carlotta Adams?«

Daß sich die Frage auf diese Künstlerin beziehen würde, hatte der junge Herr bestimmt nicht erwartet. Er richtete sich aus seiner nachlässigen Haltung auf und sah meinen Freund mit einem gänzlich neuen Ausdruck an.

»Warum wollen Sie das wissen? Was hat es mit dem zu schaffen, was wir hier erörtern?«

»Ich bin ein bißchen neugierig veranlagt - das ist alles. Im übrigen aber haben Sie alles so ausführlich erklärt, daß es keiner weiteren Frage meinerseits bedarf.«

Ronald streifte ihn mit einem raschen Blick. Es war beinahe, als ob er Poirots freundlicher Nachgiebigkeit nicht traute, als ob er ihn lieber argwöhnisch gesehen hätte.

»Carlotta Adams?« begann er seinerseits. »Warten Sie mal -nun, ein Jahr oder etwas länger werde ich sie kennen. Richtig, anläßlich ihres vorjährigen Gastspiels wurden wir bekannt.«

»Sie kennen sie gut?«

»Ziemlich. Miss Adams gehört nicht zu den Mädchen, die man im Handumdrehen kennenlernt; sie ist zurückhaltend und verschlossen.«

»Aber Sie mögen sie gern?«

Der junge Lord Edgware warf ihm einen abermaligen prüfenden Blick zu.

»Wenn ich nur wüßte, was Sie eigentlich die junge Dame angeht? Etwa, weil ich neulich abends mit ihr zusammen war? Ja, ich mag sie sogar sehr gern. Sie hat eine liebe Art, hört einen Menschen an und gibt ihm das Gefühl, daß er letzten Endes doch etwas taugt.«

Poirot nickte.

»Das verstehe ich. Dann werden Sie um so betrübter sein.«

»Betrübter?«

»Wenn Sie die Nachricht hören ...« »Welche Nachricht?« unterbrach Ronald wiederum.

»Daß sie tot ist.«

»Was?« Mit einem Satz war der junge Mann auf den Füßen. »Carlotta tot? Ah, Monsieur Poirot, Sie erlauben sich einen Scherz! Carlotta war, als ich sie das letztemal sah, vollkommen wohl!«

»Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?« fragte Poirot.

»Vorgestern.«

»Tout de meme, sie ist tot.«

»Um Gottes willen, wie denn? Ein Straßenunfall? Überfahren?«

Poirot betrachtete die getäfelten Felder der Decke.

»Nein. Sie nahm eine Überdosis Veronal.«

»Das arme kleine Ding! Wie furchtbar!« Lord Edgware legte, wie betäubt, die Hand über die Augen.

»N'estcepas?«

»Tot, jetzt, da sich alles so gut anließ? Sie wollte ihre kleine Schwester zu sich kommen lassen und hatte noch hundert andere Pläne. Verdammt, das nimmt mich mehr mit, als ich Ihnen sagen kann.«

»Ja, es ist unsäglich traurig, zu sterben, wenn das Leben verheißungsvoll vor einem liegt. Glauben Sie, auch mich bekümmert es, wenn ich die Jugend ihres Rechts zu leben beraubt sehe, Lord Edgware. Ah, das greift mir sogar ans Herz . Und nun sage ich Ihnen Lebewohl.«

»Oh . oh . « Ronald nahm ziemlich verwirrt die ihm gebotene Hand. »Leben Sie wohl, Monsieur Poirot.«

Als ich die Tür öffnete, prallte ich fast mit Miss Carroll zusammen.

»Man hat mir gesagt, daß Sie noch nicht fort seien. Und da ich noch gern ein paar Worte mit Ihnen reden möchte, wollte ich Sie bitten, mit auf mein Zimmer zu kommen.«

»Selbstverständlich, Mademoiselle.«

»Es betrifft das Kind . die Geraldine«, ergänzte sie, während wir die Schwelle ihres Heiligtums überschritten. »Was hat sie für einen Unsinn geschwatzt ...! Widersprechen Sie nicht, Monsieur Poirot. Unsinn nenne ich es, und Unsinn war es.«

»Ihre Nerven gaben nach«, begütigte Poirot.

»Ja, gewiß. Um ehrlich zu sein: Sie hat wenig frohe Stunden in ihrem Leben gekannt. Lord Edgware übte in bezug auf Geraldine eine Schreckensherrschaft aus. Er war nicht der Mann, dem man die Erziehung eines Kindes hätte anvertrauen dürfen; er fühlte sich nur wohl, wenn er Angst und Furcht um sich verbreitete, und genoß es mit geradezu krankhaftem Vergnügen.«

»Das deckt sich mit dem Eindruck, den er auf mich machte, Mademoiselle.«

»Ah, dann werden Sie also nicht glauben, daß ich übertreibe? Ein außerordentlich belesener Mann, mit einem Verstand, der den Durchschnitt weit überragte . und dennoch! Wenn ich selbst unter dieser Schattenseite seines Wesens auch nicht zu leiden hatte, so darf ich sie doch nicht leugnen. Offen gestanden überrascht es mich nicht, daß seine Frau ihn verließ. Die jetzige Frau, meine ich. Ich habe keine gute Meinung über sie, doch als sie Lord Edgware heiratete, bürdete ihr das Schicksal Schlimmeres auf, als sie verdiente. Nun, sie verließ ihn - ohne daß ihr das Herz darüber brach. Aber Geraldine, die Arme, konnte ihn nicht verlassen. Und manchmal habe ich das Gefühl gehabt, als wollte er durch die brutale Behandlung, die er ihr angedeihen ließ, seine Rache an ihrer Mutter, seiner ersten Gattin, stillen. Sie soll ein gutherziges kleines Ding gewesen sein, weich und anschmiegsam. Wenn Geraldine sich vorhin nicht so töricht benommen hätte, würde ich diese traurigen Familiengeschichten gar nicht aufrühren; aber jetzt fühle ich mich dazu verpflichtet, damit Sie kein schiefes, häßliches Bild von dem Kind gewinnen. Aus dem Munde der Tochter zu hören, sie habe ihren ermordeten Vater gehaßt - das muß ja die Ohren eines Fremden verletzen.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Erklärungen sehr verbunden, Mademoiselle. Alles in allem hätte Lord Edgware also besser daran getan, nicht zu heiraten?«

»Viel besser.«

»Eine dritte Heirat hat er nie erwogen?«

»Wie denn? Seine Frau lebte ja.«

»Indem er ihr die Freiheit gab, würde er selbst frei geworden sein.«

»Ich sollte meinen, die Ungelegenheiten mit zwei Frauen wären hinreichend gewesen«, versetzte Miss Carroll grimmig.

»Mithin sind Sie überzeugt, daß die Frage einer dritten Heirat niemals angeschnitten wurde? Niemals, Mademoiselle? Denken Sie gut nach!«

Der Sekretärin schoß das Blut in die Wangen.

»Sie haben eine seltsame Art, Fragen zu stellen, Monsieur Poirot. Natürlich war niemals von einer dritten Heirat die Rede.«

14

»Warum fragten Sie Miss Carroll so hartnäckig nach der Möglichkeit einer Wiederverheiratung Lord Edgwares, Poirot?«

Wir saßen nebeneinander im Auto und fuhren unserer Wohnung entgegen.

»Warum, mon ami? Weil ich mir seinen plötzlichen Gesinnungsumschwung zu erklären suche. Jahrelang setzt er dem Drängen seiner Frau und dem Drängen von Rechtsanwälten aller Art eisernen Widerstand entgegen, erklärt, daß er nie in die Scheidung willigen würde. Und dann gibt er eines guten Tages jählings nach!«

»Oder er behauptet es«, erinnerte ich ihn, »Sehr wahr, Hastings. Er behauptet es; aber wir haben keinerlei Beweise, daß jener Brief tatsächlich geschrieben wurde. Wenn er ihn jedoch geschrieben hat, so ist ein Grund vorhanden gewesen. Und der nächstliegende, der sich einem ohne weiteres aufzwingt, ist, daß Lord Edgware eine dritte Ehe zu schließen beabsichtigte.«

»Was Miss Carroll mit aller Entschiedenheit in Abrede stellt«, fügte ich hinzu.

»Ja ... Miss Carroll ...«

Poirot ist ein Meister darin, Zweifel durch den Ton seiner Stimme anzudeuten.

»Sie halten sie für eine Lügnerin? Warum denn, mein Lieber? Haben Sie nicht den Eindruck eines aufrechten, geraden Menschen von ihr gewonnen?«

»Bisweilen läßt sich vorsätzliche Falschheit sehr schwer von uneigennütziger, nachlässiger Ungenauigkeit unterscheiden, mon ami.«

»Wie?«

»Vorsätzlich täuschen - das ist eine Sache. Aber ihrer Tatsachen, ihrer Ideen nebst ihrer wesentlichen Wahrheit so sicher zu sein, daß die Einzelheiten keine Rolle spielen - das, mein guter Hastings, ist ein kennzeichnendes Merkmal für besonders ehrliche Personen. Bedenken Sie auch, daß sie uns schon eine Lüge erzählt hat. Sie sagte, daß sie Jane Wilkinsons Gesicht gesehen habe, was sich als unmöglich herausstellte. Wie kommt sie nun zu einer derartigen Aussage? Auf folgende Weise, Hastings: Sie schaut über das Geländer und erblickt Jane Wilkinson in der Halle. Kein Zweifel steigt in ihr auf, ob es wirklich Jane Wilkinson ist. Sie weiß es. Sie erklärt, das Gesicht deutlich gesehen zu haben, weil - von der Tatsache fest überzeugt - genaue Einzelheiten sie nicht kümmern. Nachher wird ihr nachgewiesen, daß sie das Gesicht gar nicht gesehen haben kann. >So ...? Pah, was tut das, ob ich ihr Gesicht sah oder nicht - es war Jane Wilkinson!< Und so geht's mit jeder anderen Frage. Sie weiß. Infolgedessen gibt sie ihre Antworten in der Überzeugung ihres Wissens, aber nicht aufgrund erinnerter Tatsachen. Die positive Zeugin sollte man immer mit Argwohn behandeln, mein Freund. Die unsichere Zeugin, die sich nicht entsinnt, wird eine Minute nachdenken . ah ja, so verhielt es sich! Und man darf sich auf ihre Aussage unendlich mehr verlassen.«

»Mein lieber Poirot, Sie schmeißen ja alle meine Vorstellungen von Zeugen über den Haufen!«

»Auf meine Frage über Lord Edgwares Wiederverheiratung belächelt sie den Gedanken einfach deshalb, weil er ihr niemals aufgestiegen ist. Sie nimmt sich nicht die Mühe zu überlegen, ob nicht doch irgendwelche geringfügigen Anzeichen in diese Richtung deuten. Und deshalb stehen wir am selben Fleck wie zuvor. Wohlverstanden, Hastings, ich halte sie nicht für eine vorsätzliche Lügnerin, sofern . Bei Gott, das ist eine Idee!« unterbrach er sich plötzlich.

»Was denn? Was, Poirot?« drängte ich neugierig.

Aber er schüttelte bereits den Kopf. »Nein - das ist zu unmöglich.« Und er weigerte sich, mehr zu sagen.

»Sie scheint das junge Mädchen sehr lieb zu haben«, brachte ich das Gespräch wieder in Gang.

»Ja. Welchen Eindruck hinterließ Miss Geraldine Marsh bei Ihnen, Hastings?«

»Sie tat mir leid - ganz entsetzlich leid.«

»Ich weiß, Sie haben immer ein zärtliches Herz. Schönheit im Zustand der Betrübnis hat Sie noch jedesmal mitgenommen. Aber« - er wurde plötzlich ernst - »daß sie ein sehr unglückliches Dasein geführt hat, steht klar und deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben.«

»Jedenfalls werden Sie jetzt eingesehen haben, wie verkehrt Jane Wilkinsons Mutmaßung war, Geraldine könne mit dem Verbrechen etwas zu tun haben.«

»Fraglos ist ihr Alibi befriedigend - indes hat Japp es mir bisher noch nicht mitgeteilt.«

»Aber mein lieber Poirot! Sie wollen doch damit nicht andeuten, daß Sie, nachdem Sie sie gesehen und gesprochen haben, noch ein Alibi verlangen?«

»Eh bien, mein Freund, welches Ergebnis hat das Sehen und Sprechen gehabt? Wir erfahren, daß viel Leid und Kummer hinter ihr liegen; sie selbst gesteht, daß sie ihren Vater gehaßt hat und froh über seinen Tod ist. Fernerhin zeigt sich einem scharfen Beobachter, daß sie in Unruhe darüber ist, was ihr Vater gestern morgen mit uns besprochen hat. Und nach all diesem erkühnen Sie sich zu sagen: Ein Alibi ist unnötig!«

»Ihre Freimütigkeit beweist ihre Unschuld«, verteidigte ich sie warm.

»Freimütigkeit scheint der hervorstechendste Charakterzug dieser Familie zu sein. Der neue Lord Edgware zum Beispiel -mit welcher freimütigen Geste breitete er seine Karten vor uns auf den Tisch!«

»Ja, das tat er wirklich!« erwiderte ich und lächelte unwillkürlich bei der Erinnerung. »Eine ziemlich selbständige Methode.« Poirot stimmte mir durch ein Nicken bei.

»Er gräbt - wie ihr Engländer sagt - einem den Boden vor den Füßen weg.«

»Unter den Füßen«, verbesserte ich. »Ja, wir beide müssen ziemlich dumm ausgesehen haben.«

»Welch ein Einfall! Ich fühlte mich durchaus nicht dumm und werde deshalb auch schwerlich so ausgesehen haben, Hastings. Im Gegenteil, ich raubte ihm sogar die Fassung.«

»Wieso?«

»Ach, Hastings, Ihnen fehlt jede Beobachtungsgabe . !« bedauerte mich mein Freund. »Haben Sie nicht bemerkt, wie ich ihm lauschte und lauschte, bis ich schließlich mit einer ganz fernliegenden Frage dazwischenfuhr? Und das hat unseren guten Monsieur außerordentlich unangenehm berührt.«

»Ich meine, sein Entsetzen und Erstaunen bei der Kunde von Carlottas Tod seien echt gewesen.«

»Vielleicht - vielleicht auch nicht. Indes schienen sie echt zu sein.«

»Und aus welchem Grund hat er Ihrer Meinung nach mit solchen zynischen Worten alle diese Einzelheiten vor uns ausgekramt? Bloß zu seinem Vergnügen?«

»Unmöglich ist es nicht. Der englische Humor äußert sich bisweilen auf die ungewöhnlichste Art. Es kann aber auch List gewesen sein. Verheimlichte Tatsachen nehmen leicht eine verdächtige Wichtigkeit an, wohingegen man Tatsachen, die offenherzig enthüllt werden, meist geringfügiger wertet, als sie wirklich sind.«

»Der Streit mit dem Onkel an dessen Todestag zum Beispiel?« »Richtig. Er weiß, daß sein Besuch bekannt werden wird -mithin holt er zu einem Gegenzug aus.«

»Dann ist er gär nicht so töricht, wie er aussieht.«

»Ronald Marsh töricht . ? Mein lieber Hastings, er hat eine ganze Menge Verstand, wenn es ihm darauf ankommt, sich seiner zu bedienen. Im übrigen aber meine ich, daß uns ein Imbiß guttun würde. Une petite omelette, n'estcepas? Und hinterher, etwa um neun Uhr, möchte ich noch einen anderen Besuch mit Ihnen machen.«

»Bei wem?«

»Erst den Hunger stillen, mon cher. Und bis wir unseren Kaffee trinken, werden wir den Fall nicht weiter erörtern. Während der Mahlzeit sollte das Hirn stets der Diener des Magens sein.«

Wir befahlen dem Chauffeur, uns nach einem kleinen Restaurant in Soho zu fahren, wo man uns kannte und ein zartes Omelette, eine Seezunge, ein Hähnchen und einen Rumpudding servierte, den Poirot mit wollüstigem Behagen verzehrte. Als wir den ersten Schluck Kaffee nippten, lächelte er mich gütig an.

»Mein alter Freund«, sagte er, »ich bin mehr von Ihnen abhängig, als Sie ahnen.«

Diese unerwarteten Worte verwirrten und erfreuten mich. Noch nie hatte er eine derartige Bemerkung fallen lassen; eher schien er bislang darauf auszugehen, meine geistigen Fähigkeiten herabzusetzen, was mich im stillen schon häufig gewurmt hatte.

»Ja«, sagte er verträumt. »Sie mögen nicht begreifen, warum es so ist - aber Sie weisen mir oft und oft den Weg.«

Ich wagte meinen eigenen Ohren nicht zu trauen.

»Wirklich, Poirot ...«, stammelte ich gerührt. »Das freut mich unsagbar. Ich vermute, daß ich eine Unmenge von Ihnen gelernt habe .«

Heftig schüttelte er den Kopf.

»Mais non, ce n'est pas 9a. Sie haben nichts gelernt.«

»Oh!« Mir war, als hätte ich eine eisige Dusche erhalten.

»So muß es auch sein«, belehrte er mich. »Kein menschliches Wesen sollte von einem anderen lernen. Jedes Individuum sollte seine eigenen Fähigkeiten bis zur höchsten Vollendung entwickeln, aber nicht versuchen, jene eines anderen nachzuahmen. Ich will nicht, daß Sie ein zweiter und minderwertiger Poirot werden; ich will, daß Sie der erhabenste, größte Hastings sind. Und das sind Sie, mon cher. In Ihnen finde ich den normalen Verstand beinahe vollkommen verkörpert. Sie befinden sich im schönsten Gleichgewicht, Sie sind ein Urbild der Gesundheit. Wissen Sie nicht, was das für mich bedeutet ...? Wenn der Verbrecher sich zu einem Verbrechen anschickt, so ist sein erstes Bestreben zu täuschen. Wen sucht er zu täuschen? Das Bild, das sich seinem Hirn aufdrängt, ist das des normalen Menschen. Daß es diesen in hundertprozentiger Vollkommenheit gar nicht gibt, daß er nur ein Ding mathematischer Berechnung ist, steht auf einem anderen Blatt. Sie, Hastings, kommen diesem hundertprozentig normalen Menschen jedenfalls so nahe wie möglich. Sie haben glänzende Momente, in denen Sie sich über den Durchschnitt erheben, und wiederum solche, in denen Sie - ich hoffe, Sie verzeihen mir! - in merkwürdige Tiefen der Stumpfheit und Blödheit hinabsteigen; doch alles in allem sind Sie erstaunlich normal. Eh bien, wie kommt mir dies zugute? Höchst einfach! Wie in einem Spiegel sehe ich in Ihrem Hirn sich genau das widerspiegeln, was der Verbrecher mir weismachen möchte. Und das ist für mich unbeschreiblich nützlich und anregend.«

Obwohl ich das Gesagte nicht ganz verstand, dünkte es mich doch wenig geschmeichelt für meine Person. Poirot belehrte mich rasch eines Besseren.

»Ich habe mich stümperhaft ausgedrückt« erklärte er. »Sie, Hastings, haben einen Einblick in das Verbrecherhirn, der mir leider abgeht; Sie zeigen mir, wie ich - nach Wunsch des Verbrechers - die Dinge sehen soll. Das ist eine unschätzbare Gabe, mon ami.«

»Einblick . «, wiederholte ich nachdenklich. »Einsicht . Nun, vielleicht habe ich die letztere bekommen.«

Ich betrachtete ihn quer über den weißgedeckten Tisch hinüber. Er rauchte eine seiner dünnen Zigaretten, und sein Blick umfaßte mich mit großer Herzlichkeit.

»Ce cher Hastings«, murmelte er. »Bei Gott, ich habe Sie sehr in mein Herz geschlossen.«

»Los«, befahl ich, um die weiche Stimmung abzuschütteln. »Beschäftigen wir uns wieder mit dem Fall Edgware.«

»Eh bien.« Hercule Poirot warf den Kopf zurück, seine Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, und langsam paffte er eine Rauchwolke nach der anderen aus. »Je me pose des questions.«

»Ja?« fragte ich eifrig.

»Sie doch zweifellos auch?«

»Gewiß«, versicherte ich. Und dann lehnte ich mich gleichfalls zurück, kniff wie er die Augen zusammen und stieß hervor: »Wer tötete Lord Edgware?«

Mit einem Ruck saß Poirot aufrecht.

»Nein, nein«, wehrte er heftig. »Ist das etwa eine Frage? Sie erinnern mich an den Leser einer Detektivgeschichte, der ohne Sinn und Verstand sämtliche Personen der Reihe nach durchrät. Einst bin ich selbst so vorgegangen, aber das war ein außergewöhnlicher Fall, bei dem ich Außergewöhnliches leistete und den ich Ihnen deshalb eines Tages mal erzählen werde. Doch wovon sprachen wir jetzt?«

»Von den Fragen, die Sie sich selbst vorlegten«, gab ich spöttisch zurück. Es schwebte mir die Bemerkung auf der Zunge, daß mein wirklicher Nutzen für Poirot darin bestände, ihn mit einem Gefährten zu versorgen, dem gegenüber er prahlen und sich rühmen konnte ... Aber ich schluckte die scharfen Worte herunter. Wenn ihm das Belehren Spaß machte, warum ihm diesen rauben?

»Also bitte, lassen Sie sie hören«, sagte ich.

Mehr brauchte die Eitelkeit dieses Mannes nicht. Er nahm seine frühere Stellung wieder ein und begann:

»Über die erste Frage haben wir uns bereits unterhalten: Warum wurde Lord Edgware über die Scheidung anderen Sinnes?

Die zweite Frage, die ich mir vorlegte, lautet: Was geschah mit jenem Brief? Wer hatte Interesse daran, daß Lord Edgware und seine Gattin die lästig gewordenen Ehefesseln noch weiterschleppten?

Frage Nummer drei: Was bedeutete das wutverzerrte Gesicht des Lords, dessen Sie gestern vormittag beim Verlassen der Bibliothek zufällig gewahr wurden .? Vermögen Sie mir eine Antwort darauf zu geben, Hastings?«

Ich verneinte.

»Sind Sie wenigstens sicher, daß Ihre Einbildung nicht mit Ihnen durchging, mon cher? Bisweilen haben Sie eine reichlich lebhafte Phantasie.«

»Nein, nein.« Ein energisches Kopfschütteln unterstrich meine Verwahrung. »Ich bin sicher, daß ich mich nicht täuschte.«

»Bien. Dann ist es eine Tatsache, die der Erklärung bedarf. Meine vierte Frage gilt dem Kneifer. Weder Jane Wilkinson noch Carlotta Adams tragen Augengläser. Was haben also die Gläser in Carlottas Handtäschchen zu suchen?

Und meine fünfte Frage: Weshalb telefonierte jemand nach Chiswick, um herauszufinden, ob sich Jane Wilkinson unter den Gästen befand; und wer ist es gewesen?

Mit diesen Fragen schlage ich mich herum, mon ami. Wenn ich sie beantworten könnte, würde mein Kopf leicht und frei werden. Und wenn ich auch lediglich eine Theorie entwickeln könnte, die sie einigermaßen zufriedenstellend erklärt, würde meine Eigenliebe nicht so leiden.«

»Es sind nicht die einzigen Fragen, Poirot«, wandte ich ein.

»So? Haben Sie noch mehr?«

»Wer spornte Carlotta Adams zu diesem verhängnisvollen Mummenschanz an? Wo hielt sie sich an dem Mordabend vor und nach zehn Uhr auf? Wer ist D., der ihr die goldene Dose schenkte?«

Er verurteilte mich mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. »Mein lieber Hastings, das sind doch plumpe, derbe Fragen nach Tatsachen, über die wir jede Minute Aufschluß erhalten können. Meine Fragen hingegen bewegen sich auf dem Gebiete der Psychologie. Die kleinen grauen Zellen ...«

»Poirot«, flehte ich verzweifelt. Ich fühlte, daß ich ihn - koste es, was es wolle - am Weiterreden hindern müsse, da ich nicht imstande war, die bis zum Überdruß bekannten Sätze wieder einmal zuhören. »Sie erwähnten, daß Sie heute noch einen Besuch zu machen beabsichtigen?«

»Richtig. Ich werde telefonieren, um zu sehen, ob es paßt.« Er ließ mich allein und kehrte nach etlichen Minuten vergnügt wieder. »Alles in Ordnung. Kommen Sie!«

»Wohin gehen wir?« erlaubte ich mir zu fragen.

»Nach Chiswick, zu Sir Montague Corner. Ich möchte gern ein wenig mehr über jenen Telefonanruf erfahren.«

15

Es schlug zehn Uhr, als wir Sir Montagues am Fluß gelegenes Besitztum erreichten.

Man führte uns in eine Halle, die mit edelsten Hölzern getäfelt war. Rechts gestattete eine offene Tür einen Blick in das Speisezimmer, von Kerzen erhellt, deren bewegliches Licht auf dem langen polierten Tisch sein Spiel trieb.

»Ich bitte die Herren, mir nach oben zu folgen.« Und die breite Treppe emporsteigend, gelangten wir in ein Zimmer im ersten Stock, das auf die Themse hinausging.

»Monsieur Hercule Poirot«, meldete der Butler.

In einer Ecke des Raumes, dem zahlreiche Lampenschirme ein wohltuend gedämpftes Licht vermittelten, stand unweit des offenen Fensters ein Bridgetisch. Vier Spieler saßen an ihm. Bei unserem Eintritt erhob sich einer von den vieren und kam auf uns zu.

»Ich fasse es als große Ehre auf, Sie bei mir begrüßen zu dürfen, Monsieur Poirot.«

Sir Montague Corner, ein Männlein, das mir knapp bis zur Achselhöhle reichte, hatte sehr kleine, aber pfiffige schwarze Augen und eine sorgfältig frisierte Haartolle. Seine Manieren waren gekünstelt und geziert.

»Darf ich Sie Mr. und Mrs. Widburn vorstellen?«

»Wir sind uns bereits bei einer anderen Gelegenheit begegnet«, sagte Mrs. Widburn kühl.

»Und Mr. Ross.«

Ross war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit ansprechendem Gesicht und hellblondem Haar.

»Ich falle als Störenfried mitten in Ihr Spiel. Tausend, tausend Entschuldigungen!« bat mein Freund.

»Durchaus nicht. Wir haben noch gar nicht zu spielen begonnen, nur erst die Karten gemischt. Kaffee gefällig, Monsieur Poirot?«

Hercule Poirot dankte, nahm aber einen alten Brandy an, der uns in ungeheuren Bechern serviert wurde.

Während wir ihn kosteten, plauderte Sir Montague bald von japanischen Holzschnitten und chinesischen Lackarbeiten, bald von persischen Teppichen. Von den französischen Impressionisten gelangte er mit einem kühnen Sprung zur modernen Musik und hinterdrein zu den Entdeckungen Einsteins. Dann setzte er sich in seinem riesigen Sessel, der zwei Männer wie ihn hätte beherbergen können, weit zurück und lächelte uns wohlwollend zu. In dem sorgfältig abgetönten dämmerigen Licht des Zimmers, das die erlesensten Kunstschätze füllten, wirkte er wie ein Mäzen des Mittelalters.

»Und nun will ich Ihre Güte nicht länger mißbrauchen«, erklärte Poirot, »sondern zu dem eigentlichen Zweck meines späten Besuches kommen.«

Sir Montague wedelte mit einer merkwürdig klauenartigen Hand durch die Luft.

»Das eilt gar nicht, bester Herr. Wir haben Zeit in Hülle und Fülle.«

»Ja, das fühlt man, sobald man nur den Fuß über die Schwelle Ihres Heims setzt«, seufzte Mrs. Widburn verzückt. »Und das ist herrlich.«

»Wenn man mir eine Million Pfund schenkte, so würde ich nicht in London selbst wohnen«, sagte Sir Montague. »Hier draußen weht eine Atmosphäre von Friede und Stille, die unser hetzendes, lärmendes Zeitalter nicht mehr kennt.«

Ich konnte mich des ruchlosen Gedankens nicht erwehren, daß Sir Montague Corner auf die gerühmte Atmosphäre pfeifen würde, wenn jemand ihm wirklich eine Million Pfund böte; aber ich hütete mich wohlweislich, solche ketzerischen Gefühle laut werden zu lassen.

»Was ist denn schließlich Geld?« murmelte Mrs. Widburn verächtlich.

»Ah«, sagte ihr Gemahl nachdenklich, indem er unwissentlich mit etlichem Wechselgeld in seiner Hosentasche klimperte, was Mrs. Widburn mit einem vorwurfsvollen »Archie!« rügte.

»Verzeihung!« Und Mr. Widburn hörte zu klimpern auf.

»In einer solchen Atmosphäre von Verbrechen zu sprechen, ist eigentlich unverzeihlich«, begann Poirot.

»Durchaus nicht.« Wieder wedelte Sir Montague gnädig mit der Hand. »Ein Verbrechen kann ein Kunstwerk sein - und ein Detektiv ein Künstler. Natürlich gilt dies nicht für die Polizei. Da war zum Beispiel heute ein Inspektor bei mir, ein wirklich komischer Kauz. Vermögen Sie sich vorzustellen, daß der Mann noch nie etwas von Benvenuto Cellini gehört hatte?«

»Vermutlich war er wegen Jane Wilkinson bei Ihnen, wie?« fragte Mrs. Widburn in schnell entbrannter Neugier.

»Die Dame kann von Glück sagen, daß sie gestern abend sich in Ihrem Haus aufgehalten hat«, mischte sich Hercule Poirot ein.

»Das scheint so. Ich lud sie ein, weil sie schön und talentiert ist und weil ich hoffte, ihr von Nutzen sein zu können. Und nun hat das Schicksal gewollt, daß ich ihr in einem ganz anderen Sinn, als wir ahnten, von Nutzen bin.«

»Jane ist überhaupt ein Glückskind«, meinte Mrs. Widburn. »Nichts hat sie sich so sehnlich gewünscht, als Lord Edgware loszuwerden. Und da kommt ein Unbekannter und räumt ihr alle Hindernisse aus dem Weg. Man munkelt übrigens allgemein, daß sie den Herzog von Merton heiraten wird, dessen Mutter außer sich vor Zorn deswegen ist.«

»Ich muß sagen, daß sie mich durch ihren Geist noch mehr bezaubert hat als durch ihre Schönheit«, erklärte Sir Montague. »Sie machte ein paar Bemerkungen über die griechische Kunst, die von klugem Verständnis zeugten.«

Klugem Verständnis .! Ich lächelte innerlich, da ich mir Jane ausmalte, wie sie mit ihrer magischen, heiseren Stimme »Ja« und »Nein« oder »Wirklich wundervoll« girrte. Und Sir Montague Corner war der Mann, der die Fähigkeit, seinen eigenen Bemerkungen mit gebührender Aufmerksamkeit zu lauschen, als Gradmesser der Intelligenz nahm.

»Edgware ist unleugbar ein sonderbarer Heiliger gewesen«, sagte Widburn, »und wird sich genug Feinde gemacht haben.«

Hierauf wandte sich seine Gattin an Hercule Poirot.

»Stimmt es, daß er mit einem Messer in den Nacken gestochen wurde?«

»Jawohl, Madame. In durchaus sachgemäßer, wirksamer - um nicht zu sagen wissenschaftlicher - Weise.«

»Ich merke, welch künstlerisches Vergnügen Ihnen der Fall bereitet, Monsieur Poirot«, warf der Hausherr ein.

»Darf ich jetzt die Ursache meines Hierseins erläutern?« bat mein kleiner Freund. »Mir wurde gesagt, daß man Lady Edgware während des gestrigen Dinners ans Telefon rief. Gestatten Sie mir, daß ich Ihrem Personal hierüber einige Fragen vorlege?«

»Gewiß, gewiß. Ross, wollen Sie bitte klingeln?«

Auf dieses Klingelzeichen erschien der Butler, ein hochgewachsener Mann von mittlerem Alter und priesterlichem Gebaren.

Sir Montague erklärte, worum es sich handele.

»Wer ging an den Apparat, als es läutete?« begann dann Poirot sein Verhör.

»Ich selbst, Sir. Das Telefon befindet sich in einer der Halle angegliederten Nische.«

»Fragte man nach Miss Wilkinson oder nach Lady Edgware?«

»Nach Lady Edgware, Sir.«

»Wie war der genaue Wortlaut?«

Der Butler überlegte eine Sekunde.

»Wenn ich nicht irre, Sir, sagte ich >Hallo!<, worauf eine Stimme sich erkundigte, ob dort Chiswick 43434 sei. Auf meine bejahende Antwort hieß man mich am Apparat warten. Hierauf vergewisserte sich eine andere Stimme noch einmal über die Richtigkeit der Nummer und fragte sodann: >Ist Lady Edgware bei Ihnen zu Tisch? Dann möchte ich sie gern sprechen. < Ich benachrichtigte die Dame, die sich von der Tafel erhob und unter meiner Führung zum Telefon ging.«

»Und weiter?«

»Lady Edgware nahm den Hörer auf, sagte: >Hallo!, wer spricht?< und dann: >Ja, ja, Lady Edgware persönlich.< Ich wollte mich gerade zurückziehen, als sie sich umwandte und verwundert bemerkte, die Verbindung sei unterbrochen worden; es hätte jemand gelacht und offenbar den Hörer niedergelegt. Ob der Betreffende mir nicht seinen Namen genannt habe .? Dies mußte ich verneinen, Sir, und damit war das Ganze erledigt.«

»Glauben Sie wirklich, Monsieur Poirot, dieser Anruf stände mit dem Mord in Zusammenhang?« riß Mrs. Widburn das Wort an sich.

»Unmöglich, darüber zu urteilen, Madame. Immerhin ist es ein sonderbarer Vorfall.«

»Finden Sie? Man erlaubt sich doch manchmal einen Scherz.«

»C'est toujours possible, Madame.«

»War es eine Männer- oder eine Frauenstimme?« begehrte Poirot von dem Butler zu wissen.

»Meiner Meinung nach eine Frauenstimme, Sir.«

»Hoch oder tief?«

»Tief, Sir. Mit sorgfältiger, deutlicher Aussprache.« Er zauderte. »Mir klang es beinahe wie die Stimme einer Ausländerin. Die R's traten ungewöhnlich hervor.«

»Donald, Donald, vielleicht ist es eine schottische Stimme gewesen!« rief Mrs. Widburn neckend dem jungen Ross zu.

»Nicht schuldig!« gab er lachend zurück. »Ich saß nämlich mit bei Tisch.«

Aber Poirot gab den Butler noch nicht frei.

»Würden Sie die Stimme, wenn Sie sie noch einmal hörten, wiedererkennen?« fragte er.

Der Mann blickte unsicher vor sich hin.

»Das wage ich weder zu bejahen noch zu verneinen, Sir.«

»Es ist gut. Ich danke Ihnen, mein Lieber.«

»Bitte sehr, Sir.«

Der Butler verneigte sich gemessen und schritt zur Tür.

Sir Montague Corner, dem es offenbar gefiel, seine Hausherrnrolle mit altfränkischer Grandezza zu spielen, überredete uns, dazubleiben und am Bridge teilzunehmen. Ich lehnte das Spiel ab mein Geldbeutel glaubte sich den hohen Einsätzen nicht gewachsen. Und der junge Ross fühlte sich als Zuschauer anscheinend ebenfalls wohler. Jedenfalls endete der Abend mit einem beträchtlichen finanziellen Gewinn für Poirot und Sir Montague. Dann dankten wir unserem Gastgeber und brachen, gemeinsam mit Ross, auf.

»Ein drolliger kleiner Mann«, meinte Poirot, als wir durch den parkartigen Garten zum Portal schritten.

Angesichts der schönen, sternenklaren Nacht entschlossen wir uns einmütig, ein Stück des Heimweges zu Fuß zurückzulegen.

»Ein sehr reicher kleiner Mann«, wandelte Ross den Ausspruch meines Freundes ab.

»Vermutlich.«

»Und wer ihn als Gönner hat, braucht sich über seine Zukunft nicht mehr zu grämen.«

»Sie sind Schauspieler, Mr. Ross?«

Ross bejahte es und schien betrübt darüber zu sein, daß sein Künstlerruhm nicht bis zu unseren Ohren gedrungen war. Offenbar hatte irgendein düsteres, aus dem Russischen übersetztes Stück ihm kürzlich glänzende Rezensionen eingetragen. Nachdem Poirot und ich seinen Kummer durch ein paar Schmeicheleien gelindert hatten, warf mein Freund beiläufig hin:

»Haben Sie übrigens Carlotta Adams gekannt?«

»Nein. Ich las aber ihre Todesanzeige in den Abendblättern. Gestorben an einer übergroßen Dosis Veronal, nicht? Blödsinnig, daß alle diese Mädchen irgendeinem Gift verfallen sind!«

»Vor allem ist es traurig, wenn man über solche Begabung verfügte wie Miss Adams. Haben Sie sie einmal gesehen?«

»Nein. Diese Darbietungen liegen nicht in meiner Linie«, sagte Ross im Ton eines Menschen, für den nur die eigenen Leistungen Wert haben. »Und das Publikum, das sich um sie riß, wird sie bald vergessen haben, glaube ich.«

»Ah, da kommt ein leeres Taxi!« Poirot winkte ihm mit seinem Stock.

»Ich gehe noch bis zur nächsten Untergrundbahn und fahre von dort heim«, meinte der junge Künstler. Und dann brach er plötzlich in ein nervöses Lachen aus. »Wunderlich, dieses Dinner gestern abend!«

»Ja?«

»Wir waren nämlich dreizehn, da irgend jemand in letzter Minute abgesagt hatte, merkten es aber erst gegen Ende des Mahls.«

»Und wer brach zuerst auf?« forschte ich. Wieder ein kleines unfreies Lachen. »Ich, Hauptmann Hastings.«

16

Bei unserer Heimkunft fanden wir Japp vor, der geduldig auf uns gewartet hatte.

»Eh bien, mein guter Freund, wie geht es?«

»Na, wenn es besser ginge, könnte es nichts schaden«, erwiderte unser Gast mit ziemlich niedergeschlagener Miene. »Haben Sie vielleicht einen guten Rat für mich bereit, Monsieur Poirot?«

»Ich habe eine oder zwei kleine Ideen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will.«

»Sie und Ihre Ideen! In gewisser Hinsicht sind Sie ein gefährlicher Kerl, Monsieur Poirot, wenngleich Ihr komisch geformter Kopf bisweilen verdammt brauchbares Zeug ausbrütet.«

Poirot nahm das mit Tadel vermischte Kompliment kühl auf. Der andere fuhr fort: »Beschäftigen sich Ihre Ideen etwa mit Lady Edgwares Doppelgängerin? Dann heraus mit der Sprache! Wer war sie?«

Statt einer genauen Antwort erkundigte sich mein Freund, ob Japp je von Carlotta Adams gehört habe.

»Den Namen, ja. Aber im Augenblick weiß ich nicht, wie und wo.«

Poirot gab die nötigen Erklärungen und schilderte anschließend die Schritte, die wir im Laufe des Tages unternommen und welche Schlußfolgerungen wir aus ihnen gezogen hatten.

»Bei Gott, Sie scheinen recht zu haben, Monsieur Poirot, Kleidung, Hut, Handschuhe und die blonde Perücke . ja, es kann gar nicht anders sein. Bravo, Monsieur Poirot, das nenne ich wackere Arbeit! Zwar glaube ich nicht, daß man diese Carlotta Adams aus dem Wege geräumt hat, nein, nein. Das ist ein bißchen zu weit hergeholt. Weil ich über mehr Erfahrung verfüge als Sie, denke ich nüchterner und glaube nicht an einen Drahtzieher hinter den Kulissen. Carlotta Adams wird aus eigenem Antrieb Lord Edgware aufgesucht haben - Erpressung vermutlich, da sie ja angedeutet hat, daß sie eine größere Geldsumme erwarte. Und wie es dann so geht, entbrannte zwischen den beiden ein Streit. Er wurde borstig, sie ebenfalls, und endlich stach sie auf ihn ein. Und ich möchte weiter behaupten, daß sie, zu Hause angekommen, vor Entsetzen über das, was sie im blinden Zorn angerichtet hatte, eine Überdosis Veronal schluckte, um sich nicht vor den Richtern verantworten zu müssen. Freilich besteht auch die Möglichkeit, daß ihr Fastnachtsscherz und der Mord nichts miteinander zu tun haben und es nur ein verdammt blödes Zusammentreffen gewesen ist.«

Ich wußte, daß Poirot diese Ansicht nicht teilte, aber auch Inspektor Japp griff schon wieder auf seine erste Theorie zurück. »Natürlich werden wir auskundschaften, ob zwischen dem Ermordeten und dem toten Mädchen irgendeine Verbindung bestanden hat«, sagte er.

Nunmehr berichtete Poirot von dem Brief nach Amerika, den Miss Adams' Dienerin spät nachts noch befördert hatte, und Japp pflichtete meinem Freund bei, daß dieses Schreiben wertvolle Fingerzeige enthalten könne. Er machte sich eine Notiz und fuhr dann fort:

»Ich sprach auch mit Hauptmann Marsh, dem jetzigen Lord Edgware. Bis über die Ohren verschuldet und mit dem Onkel überworfen - das genügt eigentlich, um in den Kreis der Verdächtigen einbezogen zu werden. Aber der glückliche Erbe konnte mir ein einwandfreies Alibi nachweisen; er war mit den Dortheimers in der Oper. Ich ließ vorsichtshalber die Angaben nachprüfen - sie stimmen. Er hat das Dinner in ihrer Gesellschaft eingenommen, sie dann in die Oper begleitet, und hinterher sind sie zu viert zu Sobrams gegangen.«

»Und Mademoiselle?«

»Edgwares Tochter meinen Sie? Auch sie verbrachte den Tag außerhalb des Hauses. Zum Dinner bei einer Familie Carthew West, mit denen sie ebenfalls die Oper besuchte. Ein Viertel vor zwölf kam sie heim ... Das ist die Tochter. Miss Carroll, die Sekretärin, halten Sie wohl auch für eine durchaus anständige, über jeden Verdacht erhabene Person? Weiter der Butler. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß er mir gefällt. Irgend etwas ist faul mit ihm; dunkel und unverständlich auch, weshalb ihn Lord Edgware in seine Dienste nahm. Keine Bange, Monsieur Poirot, ich werde in der Vergangenheit dieses Menschen noch gründlich herumstöbern! Aber ihn des Mordes beschuldigen . ? Ich sehe nicht, welchen Grund er gehabt haben könnte.«

»Und sonst nichts Neues?«

»Lord Edgwares Schlüssel fehlt, wenn Ihnen das der Erwähnung wert erscheint.«

»Der Hausschlüssel?«

»Ja.«

»Natürlich ist das wichtig, mon ami!«

»Möglich. Bedeutsamer aber dünkt mich die Tatsache, daß Lord Edgware gestern für seine Pariser Reise hundert Pfund in französische Noten umgewechselt hat, die verschwunden sind.«

»Wer teilte es Ihnen mit?«

»Miss Carroll, die das Geld auf der Bank besorgte. Sie erwähnte es rein zufällig, und erst hinterher fand ich heraus, daß es fehlte.«

»Wo war es gestern abend?«

»Das weiß Miss Carroll nicht. Sie händigte die Noten Lord Edgware nachmittags gegen halb vier in der Bibliothek aus, und er legte sie - in dem Briefumschlag der Bank - auf einen Tisch.« »Mein lieber Japp, das gibt zu denken . und macht den Fall verwickelter.«

»Oder einfacher. Was übrigens die Wunde anbetrifft .«

»Ja?«

»... so erklären die Ärzte, daß sie von keinem der üblichen Federmesser herrührt. Die Klinge müsse eine ungewöhnliche Form gehabt haben und erstaunlich scharf gewesen sein.«

»Ein Rasiermesser?«

»Nein, nein. Viel kleiner.«

Während Poirot nachdenklich die Stirn runzelte, setzte Japp seinen Bericht fort:

»Dem neuen Lord Edgware scheint die Vorstellung, daß man auch ihn in der Tat verdächtigen könne, ungeheuren Spaß zu bereiten. Verdrehter Geschmack, was? Für ihn kam des Onkels Tod ja wie ein Geschenk vom Himmel, und schleunigst ist er wieder in das Haus übergesiedelt, das man ihm vor drei Jahren verbot.«

»Wo hat er bislang gewohnt?«

»Martin Street. St. George's Road. Gerade kein sehr standesgemäßes Viertel!«

»Hastings, seien Sie so nett und notieren Sie doch bitte die Adresse.«

Ich erfüllte den Wunsch meines kleinen Freundes, wenngleich mir der Zweck nicht einleuchtete. Wenn Ronald seinen Wohnsitz nach Regent Gate verlegt hatte, wozu brauchte man dann noch die alte Adresse?

Derweil rüstete sich Inspektor Japp zum Aufbruch.

»Na, ich neige immer mehr zu der Ansicht, daß diese Carlotta Adams die Täterin war. Eine feine Nase haben Sie heute gehabt, Monsieur Poirot!« Aber als ob ihn dieses uneingeschränkte Lob reue, fügte er rasch hinzu: »Freilich, wenn Sie nicht Zeit hätten für Theater und ähnliche Vergnügungen, so wären Sie auch nicht darauf gekommen . Jammerschade, daß kein augenfälliger Beweggrund zu der Tat da ist, aber mit ein bißchen Schürfarbeit werden wir ihn schon aufdecken.«

»Wissen Sie wohl, mein lieber Inspektor, daß Sie einer bestimmten Person, bei der der Beweggrund durchaus nicht fehlt, keinerlei Beachtung geschenkt haben?« bemerkte Poirot.

»Wer ist das, Sir?«

»Der Herr, den man als künftigen Gatten von Lord Edgwares Witwe betrachtet. Der Herzog von Merton.«

»Hahaha!« lachte Japp. »Bei dem fehlt allerdings der Beweggrund nicht. Jedoch wird ein Herr in seiner Stellung nicht zum Mörder. Und außerdem befindet er sich in Paris.«

»Also halten Sie ihn nicht für ernsthaft verdächtig?«

»Sie etwa, Monsieur Poirot?«

Und mit dröhnendem Lachen schüttelte Inspektor Japp uns beiden die Hand.

17

Der folgende Tag war ein Tag der Untätigkeit für uns und regster Geschäftigkeit für Japp. Zur Teestunde beehrte er uns mit einem kurzen Besuch.

Sein Gesicht, rot und grimmig, verhieß nichts Gutes.

»Ich habe einen Schnitzer gemacht.«

»Unmöglich, lieber Freund«, sagte Hercule Poirot beschwichtigend.

»Ja. Ich habe jenen (hier erlaubte er sich eine schlimme Entgleisung) ... von Butler entwischen lassen.«

»Wie? Er ist fort?«

»Jawohl, verduftet! Und mir hirnverbranntem Idioten erschien er gar nicht so arg verdächtig!«

»Beruhigen Sie sich doch, mein Bester. Beruhigen Sie sich!«

»Sie haben gut reden! Möchte mal Ihre Ruhe sehen, wenn Sie von Ihrem Vorgesetzten heruntergeputzt würden!«

Japp wischte sich die Stirn, ein leibhaftiges Bild des Elends, während Poirot mitleidige Laute von sich gab, die irgendwie an eine eierlegende Henne erinnerten. Als besserer Kenner des englischen Charakters mischte ich einen steifen Whiskysoda und stellte ihn vor den schwermütigen Beamten Scotland Yards hin. Und tatsächlich klärten sich seine Züge etwas auf.

»Das kann mir nichts schaden«, sagte er.

Gleich darauf sprach er schon merklich froher.

»Ich bin auch jetzt keineswegs sicher, daß er der Mörder ist. Selbstverständlich deutet diese Flucht auf ein schlechtes Gewissen, aber er kann ja auch was anderes ausgefressen haben. Ein wenig bin ich ihm nämlich schon auf die Schliche gekommen. Scheint in ein paar der anrüchigsten Nachtclubs verkehrt zu haben - nicht etwa die landläufigen Lokale dieser Art. Nein, etwas viel Widerlicheres und Schmutzigeres, und deshalb von einer gewissen Menschengattung sehr gesucht. Wirklich, er ist ein sauberes Früchtchen.«

»Aber, wie Sie sehr richtig sagten, nicht unbedingt ein Mörder.«

»Nein. Ich bin mehr als je überzeugt, daß Carlotta Adams den Mord beging, obwohl ich es vorläufig noch durch nichts zu beweisen vermag. Ich habe heute ihre Wohnung um und um gekehrt . umsonst. Ah, sie muß ein ganz durchtriebenes Geschöpf gewesen sein! Hat nichts von Bedeutung verwahrt mit Ausnahme einiger Kontrakte, alle hübsch eingeschlagen und mit Aufschrift versehen. Ferner fand ich ein dickes Bündel Briefe von ihrer Schwester in Washington, rechtschaffene, nette Briefe. Ein paar schöne Schmuckstücke, offenbar durch Erbschaft erhalten - nichts Neues oder Kostbares. Vergebens suchte ich nach einem Tagebuch, und ihr Paß und Scheckbuch sind trostlos nichtssagend. Zum Kuckuck, dies Mädchen scheint überhaupt kein privates Leben geführt zu haben!«

»Man hat sie mir allgemein als still und verschlossen geschildert«, sagte Poirot grübelnd. »Von unserem Standpunkt aus ist das natürlich bedauerlich.«

»Ich habe die Frau, die sie bediente, wie eine Zitrone ausgequetscht. Nichts! Ich habe die Freundin, die einen Hutsalon besitzt, aufgesucht .«

»Ah, Miss Driver. Was halten Sie von ihr?«

»Ein aufgewecktes Ding, aber helfen konnte sie mir auch nicht. Das überrascht mich keineswegs. Von all den vielen als vermißt gemeldeten Mädchen, denen ich im Lauf meiner Praxis nachspüren mußte, sagten ihre Familien und Freundinnen stets dasselbe: >Sie war heiter und liebevoll veranlagt und hatte auf keinen Fall irgendwelche Freunde.< Das stimmt niemals. Es ist auch unnatürlich. Mädchen müssen Freunde haben. Haben sie keine, so hapert es irgendwo mit ihnen. Ach, wenn Sie ahnten, wie diese vertrottelte Biederkeit von Freunden und Verwandten einem Detektiv das Leben vergällt!«

Er machte eine Atempause, und ich benutzte sie, um ihm von neuem einzuschenken.

»Schönen Dank, Hauptmann Hastings - wirklich, das kann mir nichts schaden. Also zurück zu Carlotta Adams! Sie hat ein Dutzend junge Herren oberflächlich gekannt, mit denen sie gelegentlich tanzte und zum Supper ausging, aber nicht einen scheint sie bevorzugt zu haben. Unter ihnen befinden sich Ronald Marsh, der jetzige Lord Edgware, dann Martin Bryan, der Filmstar, und die übrigen sind der Erwähnung nicht wert. Geben Sie Ihrer Idee von dem geheimen Drahtzieher den Laufpaß, Monsieur Poirot; sie ist falsch. Ich hoffe, Ihnen eines Tages beweisen zu können, daß Miss Adams allein zu Werke ging. Vorläufig suche ich allerdings erst mal nach der Verbindung zwischen ihr und dem Ermordeten, und diese Suche wird mich wahrscheinlich nach Paris führen. Paris lautet die Gravierung in der kleinen Golddose; Paris war, wie mir Miss Carroll erzählte, im vergangenen Herbst verschiedentlich Lord Edgwares Reiseziel, der dort Antiquitäten und Raritäten kaufte. Auf morgen früh ist der Untersuchungstermin anberaumt, und vielleicht fahre ich dann noch mit dem Nachmittagsdampfer.«

»Sie haben eine rasende Energie im Leibe, die mich verwirrt, Japp.«

»Ja, Sie werden träge; Sie sitzen in Ihrem bequemen Stuhl und denken! Oder - wie Sie es nennen - Sie lassen die kleinen grauen Zellen arbeiten. Aber damit schaffen Sie nichts, mein Bester. Sie müssen sich hinausbemühen, um die Dinge zu suchen, denn sie kommen nicht zu Ihnen hineinspaziert.«

In diesem Augenblick trat unser Hausmädchen ins Zimmer.

»Mr. Martin Bryan läßt fragen, ob Sie ihn empfangen wollen, Sir.« »Ah, da werde ich mich drücken.« Japp schnellte empor. »Bei Ihnen scheinen sich ja sämtliche Stars der Theater- und Filmwelt Rat zu holen.«

Poirot wehrte bescheiden ab, und der Inspektor lachte.

»Sie sind auf dem besten Weg, Millionär zu werden, Monsieur Poirot. Was machen Sie mit all dem Geld? Legen Sie es in mündelsicheren Papieren an?«

»Erzählen Sie mir lieber, wie Lord Edgware über sein Geld verfügte. Das ist augenblicklich wichtiger.«

»Alles, was nicht zum Fideikommiß gehört, hat er seiner Tochter vermacht. Ein Legat von fünfhundert Pfund fällt an Miss Carroll. Andere Legate sind nicht vorgesehen. Mithin ein sehr kurzes, bündiges Testament.«

»Und wann wurde es abgefaßt?«

»Kurz nachdem seine Frau ihn verließ - vor reichlich zwei Jahren. Er schließt sie ausdrücklich von jeder Erbschaft aus.«

»Ein rachsüchtiger Mensch«, murmelte Poirot.

Und dann ging Japp mit einem munteren »Auf Wiedersehen« davon, weil Martin Bryan bereits im Türrahmen auftauchte.

Er war mit vorbildlicher Eleganz gekleidet, und jeder, der ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ, mußte ihn einen schönen Mann nennen. Aber auf mich machte er einen verstörten und nicht sehr glücklichen Eindruck.

»Ich glaube, daß ich ungebührlich lange auf mich warten ließ, Monsieur Poirot«, entschuldigte er sich. »Und zudem habe ich Ihre Zeit für nichts und wieder nichts in Anspruch genommen.«

»En verite?«

»Ja. Ich sprach mit der betreffenden Dame, beschwor sie, flehte . aber sie will nichts davon hören, daß Sie sich der Angelegenheit annehmen. Infolgedessen bin ich gezwungen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es tut mir leid, daß ich Sie belästigte .« »Du tout - du tout«, sagte Hercule Poirot liebenswürdig. »Ich erwartete nichts anderes.«

»Ah ... Sie erwarteten das? ...« stammelte er.

»Mais oui. Sobald Sie davon redeten, sich mit Ihrer Freundin ins Einvernehmen setzen zu wollen.«

»Dann haben Sie schon eine Theorie?«

»Ein Detektiv hat immer eine Theorie, Mr. Bryan. Man erwartet das von ihm. Ich selbst pflege dergleichen allerdings eine kleine Idee zu nennen. Das ist die erste Stufe.«

»Und die zweite?«

»Wenn die kleine Idee sich bewahrheitet - dann weiß ich. Nichts einfacher als das, nicht?«

»Wollen Sie mir nicht erzählen .«

»Merken Sie sich das eine, mein Lieber: Der Detektiv erzählt nichts.«

»Aber vielleicht andeuten?«

»Nein. Immerhin mögen Sie erfahren, daß meine Theorie entstand, als Sie den Goldzahn erwähnten . Doch meine ich, wir sollten zu einem anderen Gesprächsstoff übergehen«, lächelte mein Freund.

»Doch die Frage Ihres Honorars . Sie müssen mir gestatten .«

Poirot schnitt ihm mit einer ungewohnt herrischen Bewegung das Wort ab.

»Pas un sou! Ich habe nichts getan, um Ihnen zu helfen.«

»Aber Sie opferten mir Ihre Zeit.«

»Wenn mich ein Fall interessiert, nehme ich kein Geld an. Und der Ihrige interessiert mich ungemein.«

Der Schauspieler zupfte nervös an seinen Handschuhen und Poirot schlug ihm auf die Schulter: »Nochmals, sprechen wir von etwas anderem.« »Ich sah eben den Beamten Scotland Yards von Ihnen fortgehen. Er war heute auch bei mir und legte mir ein paar Fragen über die arme Carlotta Adams vor.«

»Sie haben sie gut gekannt, nicht wahr?«

»Gut - das wäre zuviel gesagt. Ich kannte sie als Kind in Amerika. Hier waren wir nur selten zusammen. Die Polizei scheint an einen Selbstmord zu glauben, Monsieur Poirot.«

»Möglich. Ich jedoch glaube nicht, daß es sich um Selbstmord handelt.«

»Auch ich halte einen Unglücksfall für wahrscheinlicher.«

Dann stockte das Gespräch, bis Hercule Poirot mit einem Lächeln sagte: »Finden Sie nicht ebenfalls, daß der Fall Edgware beginnt, reichlich verworren zu werden?«

»Ja. Wissen Sie ... oder vielmehr hat man irgendwelche Mutmaßungen, wer es war, jetzt, nachdem Jane endgültig ausscheidet?«

»Mais oui, die Polizei hegt einen starken Verdacht.«

Martin Bryans Spiel mit den Handschuhen begann von neuem.

»Wirklich? Gegen wen?«

»Der Butler ist geflüchtet. Sie begreifen: Flucht ist so gut wie eine Beichte.«

»Der Butler?«

»Jawohl. Er war ein außergewöhnlich gut aussehender Mensch ein wenig ähnelte er Ihnen, Monsieur Bryan.« Diese Worte begleitete Poirot mit einer kleinen Verneigung.

»Seit wann gehören Sie zu den Schmeichlern, Monsieur Poirot?« entgegnete der Filmschauspieler mit einem kurzen Auflachen.

»Nein, nein, nein. Ist Martin Bryan denn nicht der Abgott aller jungen Mädchen, gleichgültig ob Dienstmädchen, Backfisch, Schreibmaschinenfräulein oder Dame der Gesellschaft? Gibt es eine einzige, die Ihnen widerstehen kann?«

»Oh, eine ganze Menge vermutlich«, erwiderte Bryan, und unvermittelt brach er auf. »Noch einmal vielen Dank, Monsieur Poirot. Und Verzeihung wegen der Störung.«

Jetzt trat der verstörte Ausdruck noch mehr zutage und machte den Mann um Jahre älter.

Ich wurde von Neugier verzehrt, und sobald die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, bestürmte ich meinen Freund:

»Poirot, haben Sie wirklich erwartet, daß er auf die Untersuchung dieser seltsamen Vorfälle in Amerika verzichten würde?«

»Sie hörten es doch.«

»Aber dann ...« Rasch stellte ich eine logische Überlegung an. »Dann müssen Sie ja wissen, wer die geheimnisvolle junge Dame ist?«

»Ich habe wieder einmal eine kleine Idee, mein Freund, auf die mich, wie gesagt, der Goldzahn brachte. Im übrigen könnten Sie genausoviel wissen wie ich, wenn Sie den Verstand, den Ihnen der liebe Gott mitgegeben hat, gebrauchen würden. Manchmal freilich, mein guter Hastings, bin ich versucht zu glauben, daß er Sie aus Versehen bei der Verteilung überging ...«

18

Ich habe weder die Absicht, den Untersuchungstermin in der Sache Edgware zu beschreiben, noch jenen, der sich mit Carlottas Ableben befaßte. Bei Carlotta lautete der Spruch: Tod infolge eines Unglücksfalles. In der Affäre Lord Edgwares wurde nach Verlesung der ärztlichen Gutachten die Verhandlung vertagt. Auf Grund der Magenanalyse war man zu dem Schluß gekommen, daß der Tod mindestens eine Stunde nach dem Dinner, möglicherweise auch anderthalb bis zwei Stunden nachher, eingetreten sei - das hieß also zwischen zehn und elf Uhr.

Kein Wort sickerte darüber in die Außenwelt, daß Carlotta unter der Maske Jane Wilkinsons den Ermordeten aufgesucht hatte. Die Zeitungen veröffentlichten eine Beschreibung des flüchtigen Butlers, den man allgemein als den Täter bezeichnete. Seine Geschichte von Jane Wilkinsons abendlichem Besuch wurde als freche Lüge gewertet, zumal die Öffentlichkeit von Miss Carrolls bekräftigendem Zeugnis gleichfalls nichts erfuhr. Und all die spaltenlangen Aufsätze über den Mord waren eigentlich kläglich arm an wirklichen Tatsachen.

Inzwischen war Japp eifrig bei der Arbeit. Da ich dies wußte, verdroß mich die faule Muße, der Poirot sich hingab, ein wenig. Nicht zum erstenmal meldete sich bei mir der Argwohn, daß sie ein Zeichen nahenden Alters sei. Er erging sich in Entschuldigungen, die nicht sehr überzeugend klangen.

»Wenn man eine gewisse Anzahl von Jahren auf dem Rücken hat, erspart man sich Unruhe und Lauferei«, erklärte er.

»Aber mein guter Poirot, Sie müssen sich nicht für alt halten«, widersprach ich, denn ich fühlte, daß ihm ein Ansporn vonnöten war. Behandlung durch Suggestion - das ist doch die moderne Auffassung. »Sie stehen in der Blüte des Lebens, sind geschwellt von Kraft. Wenn Sie nur wollten, könnten Sie ausgehen und diesen Fall blendend lösen.«

Hercule Poirot jedoch erwiderte, daß er vorzöge, ihn sitzenderweise zu lösen.

»Aber das können Sie doch nicht, Poirot.«

»Nicht völlig - das gebe ich zu.«

»Verstehen Sie mich doch recht, mein Lieber: Wir tun nichts, und Japp tut alles.«

»Was mir wunderbar gefällt«, ergänzte er unerschüttert.

»Mir gefällt es durchaus nicht«, entgegnete ich gereizt. »Ich wünsche, daß Sie sich betätigen.«

»Das tue ich ja.«

»Was tun Sie denn?«

»Ich warte.«

»Worauf?«

»Daß mir mein Jagdhund das Wild apportiert«, belehrte mich Poirot schmunzelnd.

»Wie bitte?«

»Ich meine den guten Japp. Warum sich einen Hund halten und dann selber bellen? Japp bringt uns das Ergebnis der körperlichen Tatkraft, die Sie so sehr bewundern, nach hier. Er hat verschiedene Mittel zu seiner Verfügung, die ich als Ausländer nicht habe, und wird daher fraglos über kurz oder lang mit etlichen Neuigkeiten anrücken.«

Kraft beharrlicher Nachforschung brachte Inspektor Japp tatsächlich langsam Material zusammen. Aus Paris freilich kehrte er mit leeren Händen zurück, indes schob er sich einige Tage später mit selbstgefälligem Lächeln zur Tür herein.

»Es hat schwergehalten«, sagte er, »aber etwas sind wir doch vorwärtsgekommen.«

»Gratuliere, Inspektor. Was hat sich ereignet?«

»Ich habe entdeckt, daß an dem fraglichen Abend eine blonde Dame um neun Uhr einen kleinen Handkoffer in der Gepäckabgabe des Euston-Bahnhofs hinterlegte. Als wir dem Beamten Miss Adams' Koffer zeigten, erklärte er, daß es dieser gewesen sei. Es ist eine amerikanische Marke und unterscheidet sich ein wenig von unseren englischen Fabrikaten.«

»Ah, Euston! Die letzte große Station vor Regent Gate. Wahrscheinlich machte sie sich im dortigen Waschraum zurecht. Wann wurde der Koffer wieder abgeholt?«

»Gegen halb elf, und zwar, nach Aussage des Beamten, von derselben Dame. Das ist aber nicht die einzige Neuigkeit, Monsieur Poirot. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Carlotta Adams um elf im Lyon Corner House am Strand gesessen hat.«

»Ah, c'est tres bien 9a!«

»Der Zufall war mir behilflich. In einigen Zeitungen wurde die kleine Golddose mit den Rubinen erwähnt, und irgendein Reporter, der für die Sonntagsausgabe einen romantischen Stoff brauchte, verfertigte hierauf einen Artikel über den Hang junger Schauspielerinnen zu Rauschgiften. Das verhängnisvolle Gold-döschen mit seinem tödlichen Inhalt - die rührende Gestalt eines jungen Mädchens, vor dem ein erfolgreiches Leben liegt . wo mag sie den allerletzten Abend zugebracht haben . von welchen Gefühlen wurde sie beherrscht ... Na ja, Sie wissen schon, was die Federfuchser zusammenkritzeln! Kurz und gut, eine Kellnerin aus dem Corner House las den Erguß und erinnerte sich einer Dame, die sie bedient und bei der sie eine derartige Dose gesehen hatte. Sogar das C. A. in roten Steinen fehlte nicht. Und sie wurde ganz aufgeregt, begann alle Freundinnen ins Vertrauen zu ziehen . mein Gott, vielleicht zahlte die Zeitung ihr eine Belohnung .!

Durch irgendeine Leitung bekam der junge Feuilletonredakteur im >Evening Shriek< Wind von der Sache. Er setzte sich mit der Frau in Verbindung, horchte sie aus, und heute abend werden Sie im >Evening Shriek< einen herzzerbrechenden Artikel lesen: Die letzten Stunden einer talentierten Schauspielerin.«

»Und wie fand die Nachricht den Weg so schnell zu Ihnen?«

»Oh, wir stehen mit dem >Evening Shriek< auf sehr gutem Fuß, knausern - soweit angängig - nicht mit Nachrichten und beziehen aus dieser Quelle als Gegenleistung bisweilen ganz brauchbare Hinweise. Und als der tüchtige junge Mann mich heute wegen einer anderen Sache aufsuchte, erfuhr ich beiläufig von der Existenz besagter Kellnerin. Daß ich schnurstracks zum Corner House sauste, können Sie sich denken .«

Ja, so mußte man die Dinge anpacken! Mein Herz durchzuckte ein qualvolles Mitleid mit Poirot. Da hörte Japp all diese Nachrichten aus erster Hand, wobei er sicher viele wertvolle Einzelheiten unbeachtet ließ, und Poirot, der hundertmal begabtere Poirot, begnügte sich damit, sie nachher aus Japps Munde zu erfahren.

»Ich habe die Kellnerin gesprochen. Sie konnte zwar Carlotta Adams' Fotografie aus den ihr vorgelegten nicht herausgreifen, aber sie erklärte das glaubhafterweise damit, daß sie nicht so sehr auf die Gesichtszüge der Dame geachtet habe. Sie sei jung und dunkel und schlank gewesen, sehr gut gekleidet, und habe auf dem einen Ohr einen der neuen Hüte getragen. Ich wollte, das Weibervolk guckte ein bißchen mehr auf die Gesichter und ein bißchen weniger auf die Hüte.«

»Miss Adams' Gesicht prägte sich einem nicht so ohne weiteres ein«, gab Poirot zu bedenken. »Es verfügte über zu viel Beweglichkeit, Empfindlichkeit; es war, möchte ich sagen, von weicher, fließender Art.«

»Vielleicht haben Sie recht - ich verstehe mich nicht auf solche seelischen Spitzfindigkeiten. Jedenfalls sei die Dame schwarz gekleidet gewesen und hätte einen Koffer bei sich gehabt, erklärte mir die Kellnerin; es habe sie noch gewundert, fügte sie hinzu, daß eine derartig elegante Dame sich mit einem Koffer herumschleppe. Die Fremde bestellte Rührei und Kaffee, aber nach Ansicht der Kellnerin nur, um die Zeit totzuschlagen, denn sie habe offenbar jemanden erwartet. Verschiedentlich hätte sie auf die Armbanduhr geschaut. Als das Mädchen ihr die Rechnung vorlegte, bemerkte es die Golddose. Die Dame drehte und wendete sie mit träumerischem Lächeln hin und her, klappte den Deckel auf, klappte ihn wieder zu, und hierbei blitzten die roten Steine der beiden Buchstaben hell auf.

Aber auch nach dem Begleichen der Rechnung ist Miss Adams noch längere Zeit sitzen geblieben. Schließlich sah sie zum letztenmal auf die Uhr, schien das Warten aufzugeben und ging hinaus.«

Poirot rieb sich die Hände.

»Das war ein Rendezvous«, murmelte er. »Ein Rendezvous mit jemand, der es vorzog, sich nicht einzufinden. Aber hat Carlotta ihn hinterher getroffen? Oder verfehlte sie ihn, fuhr heim und versuchte, ihn telefonisch zu erreichen? Oh, wenn ich das doch wüßte!«

»Kleben Sie noch immer an Ihrer Theorie des Unbekannten hinter den Kulissen, Monsieur Poirot? Geben Sie sie auf - jener Unbekannte ist eine Fabelgestalt. Damit will ich aber keineswegs sagen, daß die Adams sich nicht doch für später, also nach Erledigung ihres Geschäftes mit Lord Edgware, verabredet hatte. Nun, wir wissen, was geschah; sie verlor den Kopf und erstach Edgware. Doch sie ist nicht die Frau, die den Kopf für längere Zeit verliert. Sie verändert auf dem Bahnhof Euston abermals ihr Aussehen, begibt sich mit ihrem Koffer zum verabredeten Stelldichein, und dort packt sie das, was man so Reaktion nennt. Grauen und Entsetzen über ihre Tat. Und daß ihr Freund sie sitzenließ, gibt ihr den Rest. Vielleicht hat sie ihm gegenüber auch erwähnt, daß sie einen Besuch in Regent Gate beabsichtigte. Sie sieht die drohende Entdeckung, nimmt ihre kleine Dose aus der Tasche . Ah, eine reichliche Menge von dem weißen Pulver, und alles ist vorüber! Und einen solchen Tod zieht sie dem Strick des Henkers vor. Das ist so eindeutig wie die Nase in ihrem Gesicht, Monsieur Poirot.«

Zweifelnd strich mein Freund an seiner Nase entlang, dann glitten die Finger abwärts zum Schnurrbart, um ihn mit liebevoller Sorgfalt zu glätten.

»Nichts deutet auf einen geheimnisvollen Drahtzieher«, sagte Japp, sein Übergewicht hartnäckig auskostend. »Noch habe ich allerdings keinen handgreiflichen Beweis für eine Verbindung zwischen ihr und dem Ermordeten - aber das ist lediglich eine Frage der Zeit. Daß Paris mich schwer enttäuschte, will ich nicht leugnen, man darf jedoch nicht vergessen, daß neun Monate eine hübsche Zeitspanne sind. Und da man die Nachforschungen dort weiter betreibt, ist es nicht ausgeschlossen, daß allmählich doch noch das eine oder andere ans Licht kommt. Ich weiß, Sie teilen meine Ansicht nicht, Sie dickschädliger alter Bock!«

»Erst beleidigen Sie meine Nase und dann meinen Schädel -das ist nicht hübsch, mon cher.«

»Redensarten, weiter nichts!« besänftigte Japp. »Kein Grund, sich beleidigt zu fühlen.«

»Tun wir auch nicht!« warf ich dazwischen.

Poirots Blicke wanderten von mir zu Japp und wieder zurück.

»Sonst noch einen Befehl?« scherzte der Inspektor.

»Einen Befehl, nein.« Poirot lächelte ihm verzeihend zu. »Eine Anregung, ja.«

»Heraus damit!«

»Halten Sie bei den Droschkenchauffeuren Umfrage, bis Sie denjenigen finden, der in der Mordnacht einen Fahrgast - oder viel wahrscheinlicher zwei Fahrgäste - aus der nächsten Umgebung von Covent Garden nach Regent Gate brachte. Zeit: ungefähr zwanzig Minuten vor elf.«

Inspektor Japp zog pfiffig die eine Braue in die Höhe.

»Hallo, daher pfeift der Wind . ? Gut, soll geschehen. Schaden kann ja nicht daraus erwachsen - und außerdem sind ja nicht alle Ihre Ideen mangelhaft!«

Kaum hatte er uns verlassen, so schoß mein träger Freund mit ungeahnter Energie aus seinem bequemen Sessel hervor und begann seinen Hut zu bürsten.

»Keine Fragen, Hastings! Holen Sie mir lieber das Benzin. Ein Krümel Omelette ist auf meine Weste gefallen.«

Gehorsam brachte ich ihm das Verlangte.

»Das Ganze scheint mir so klar, daß sich Fragen überhaupt erübrigen«, erwiderte ich, die Flasche entkorkend.

»Schweigen Sie, mon cher. Und Sie verübeln es mir wohl nicht, wenn ich Ihnen eröffne, daß mir die Art, wie Sie Ihre Krawatte gebunden haben, durchaus nicht gefällt.«

»Sie ist doch sehr hübsch gebunden.«

»So? Vor dreißig Jahren fand man das vielleicht mal hübsch. Ich flehe Sie an, nehmen Sie eine andere, und bürsten Sie sich ferner den rechten Ärmel ab.«

»Wollen wir vielleicht dem König im Buckingham-Palast einen Besuch machen?« fragte ich beißend.

»Nein. Aber ich las in der Morgenzeitung, daß der Herzog von Merton in London eingetroffen ist, und da er zu dem englischen Hochadel zählt, will ich ihm alle gebührenden Ehren erweisen.« Sozialistische Vorurteile kann man Hercule Poirot nicht vorwerfen.

»Was wollen wir beim Herzog?«

»Ich will ihn sprechen.«

Zu weiteren Erklärungen ließ er sich nicht herbei. Und als sein sehr kritisches Auge an meinem Äußeren nichts mehr auszusetzen fand, machten wir uns auf den Weg.

Im Merton-House fragte uns ein Lakai, ob wir angemeldet seien, was Poirot verneinen mußte. Hierauf händigte er ihm seine Karte aus, und nach wenigen Minuten kehrte der Mann mit dem Bescheid zurück, daß Durchlaucht bedaure, uns infolge dringender Geschäfte nicht empfangen zu können.

Hercule Poirot nahm unverzüglich auf dem ersten besten Stuhl Platz.

»Tres bien!« sagte er. »Ich warte. Und werde, wenn nötig, mehrere Stunden warten.«

Dies erwies sich jedoch als überflüssig. Wahrscheinlich glaubte der Herzog, den ungelegenen, zudringlichen Besucher noch am schnellsten durch möglichste Abkürzung der Wartezeit loszuwerden, und rief uns bereits nach wenigen Minuten zu sich. Wir sahen uns einem etwa Siebenundzwanzigj ährigen gegenüber, einer hageren, kränklichen Erscheinung mit fahlem Haar, das sich an den Schläfen bereits bedenklich lichtete, kleinem verbittertem Mund und wässerigen, verträumten Augen. In dem Raum, in dem er uns empfing, hingen größere und kleinere religiöse Gemälde, und das große Bücherregal schien ausschließlich theologischen Büchern vorbehalten zu sein.

Ein Herzog . ? Nein, viel eher glich der junge Mann einem dürren Kurzwarenhändler!

Wegen seiner zarten Gesundheit zu Hause erzogen, hatte er, wie ich wußte, als Knabe von acht Jahren die Herzogswürde geerbt und war aufgewachsen unter dem herrischen Regiment einer willensstarken Mutter. Das war der Mann, der eine sofortige Beute Jane Wilkinsons geworden war! Welche Späße sich das Schicksal oft erlaubte .!

»Vielleicht ist Ihnen mein Name bekannt!« begann Poirot.

»Nein, durchaus unbekannt«, klang es frostig zurück.

»Ich studiere die Psychologie des Verbrechens«.

Der Herzog schwieg. Er saß an seinem Schreibtisch, und vor ihm lag ein unvollendeter Brief.

»Aus welchem Grund wünschen Sie mich zu sprechen?« erkundigte er sich und tippte ungeduldig mit dem Federhalter auf die Platte.

Poirot hatte ihm gegenüber Platz genommen, den Rücken dem Fenster zugekehrt.

»Ich bin gegenwärtig damit beschäftigt, die mit Lord Edgwares Tod verknüpften Umstände zu untersuchen.«

Kein Muskel rührte sich in dem schwachen, aber störrischen Gesicht.

»So ...? Ich war nicht mit ihm bekannt.«

»Aber Sie sind mit seiner Frau bekannt - mit Miss Jane Wilkinson.«

»Allerdings.«

»Wissen Sie, daß man vermutet, sie habe Ursache gehabt, den Tod ihres Gatten zu ersehnen?«

»Ich weiß nichts Derartiges.«

»Durchlaucht, mir scheint es besser, wenn ich Sie rundheraus frage, ob Sie Jane Wilkinson heiraten wollen.«

»Wenn ich mich mit irgendeiner Dame verlobe, wird es in den Zeitungen bekanntgegeben werden. Ihre Frage aber, mein Herr, fasse ich als eine Frechheit auf. Guten Morgen!«

Poirot erhob sich, linkisch, verlegen. Er hielt den Kopf gesenkt und stammelte:

»Ich beabsichtige keine . Je vous demande pardon .«

»Guten Morgen!« wiederholte der Herzog, ein wenig lauter als das erstemal.

Nun ergab sich Poirot in sein Schicksal. Mit einer Bewegung, die seine völlige Hoffnungslosigkeit kennzeichnete, wandte er sich dem Ausgang zu. Es war eine schimpfliche Entlassung!

Mir tat der Kleine leid. Schlecht war ihm sein gewöhnlicher Schwulst bekommen ... Für den Herzog von Merton stand ein großer Kriminalist offenbar auf derselben Stufe wie ein Mistkäfer.

»Da haben wir schlimm abgeschnitten«, sagte ich mitfühlend. »Was für ein steifnackiger Wüterich dieser blasse Zwirnsfaden ist .! Lag Ihnen denn so viel daran, ihn zu sehen?«

»Ich wollte erfahren, ob er und Jane Wilkinson sich wirklich heiraten werden.«

»Sie hat es uns doch gesagt!«

»Oh, die sagt all und jedes, sofern es ihren Zwecken dienlich ist. Es hätte doch sein können, daß sie entschlossen war, ihn zu heiraten, und daß er, der Ärmste, noch nichts davon ahnte.«

»Nun, durch unseren Besuch sind Sie jedenfalls nicht schlauer geworden.«

»Meinen Sie, mon cher ...? Gewiß, er hat mich abgefertigt wie einen lästigen Reporter. Aber trotzdem weiß ich jetzt genau, wie der Hase läuft«, lachte mein Freund, und all seine frühere Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen.

»Wodurch? Durch seine Art?«

»Unsinn! Haben Sie nicht bemerkt, daß wir ihn beim Schreiben störten?«

»Ja.«

»Eh bien, als ich in jüngeren Jahren bei der belgischen Polizei tätig war, lernte ich, daß es sehr nützlich sei, auf dem Kopf stehende Handschriften zu entziffern. Soll ich Ihnen erzählen, Hastings, was er in jenem Brief schrieb? >Geliebte, ich vermag die entsetzliche Wartezeit kaum zu ertragen. Jane, mein angebeteter, mein schöner Engel, es gibt ja keine Worte, die Dir beschreiben könnten, was Du mir bist. Du, die Du so unsagbar gelitten hast! Deine herrliche Seele .. .<«

»Poirot!« unterbrach ich ihn entsetzt.

»Jawohl, so weit war er gekommen: Deine herrliche Seele kenne nur ich.« »Schämen Sie sich, Poirot!« schrie ich meinen Freund an, den die vollbrachte Leistung mit naivem Stolz erfüllte. »Schämen Sie sich, daß Sie sich so weit vergaßen, einen privaten Brief zu lesen. Das ist kein ehrliches Spiel.«

»Warum ereifern Sie sich, mein Lieber? Mord ist überhaupt kein Spiel, sondern eine verteufelt ernste Angelegenheit. Und außerdem gebraucht man diese Redensart nicht mehr, habe ich herausgefunden. Ehrliches Spiel! Die hübschen jungen Mädchen würden Sie wegen Ihrer altfränkischen Ausdrucksweise verlachen, mein guter Hastings.«

Ich ging verstimmt neben ihm her.

»Und unnötig war es überdies«, sagte ich nach einer Weile grollend. »Wenn Sie ihm mitgeteilt hätten, daß Sie Lord Edgware auf Jane Wilkinsons Verlangen aufsuchten, würde er Ihnen eine ganz andere Behandlung zuteil werden lassen.«

»Das konnte ich doch nicht, mon cher. Jane Wilkinson ist mein Klient, und die Angelegenheiten eines Klienten darf ich keinem Dritten anvertrauen. Das hieße unehrenhaft handeln.«

»Unehrenhaft!«

»Ja, unehrenhaft.«

»Aber sie wird ihn doch heiraten«, erinnerte ich.

»Bedeutet das etwa, daß sie keine Geheimnisse vor ihm hat . ? Auch Ihre Ansichten über Heiraten sind altfränkisch, Hastings, nein, was Sie vorschlagen, konnte ich nicht tun. Ich habe meine Detektivehre zu wahren, und die Ehre ist ein sehr heikles Ding.«

»Ja. Aber mir scheint, daß man sie in der Welt verschieden auffaßt«, gab ich eifrig zurück.

19

Am folgenden Morgen saß ich in meinem Zimmer, als Hercule Poirot mit funkelnden Augen die Tür aufriß.

»Mon ami, wir haben Besuch.«

»Wer ist es?«

»Die Herzoginwitwe.«

»Wie .? Das klingt ja wie ein Märchen. Was führt sie her?«

»Wenn Sie mich nach unten ins Wohnzimmer begleiten, werden Sie es erfahren.«

Ich beeilte mich, seiner Aufforderung nachzukommen, und betrat mit ihm zusammen das kleine behagliche Zimmer.

Die Herzogin war eine untersetzte Frau mit hoher Stirn und scharfen Augen, aber ihre Gestalt wirkte keineswegs plump. Auch in dem schlichten schwarzen Kleid blieb sie die Dame der großen Welt. Im selben Maß, wie ihr Sohn negativ war, war sie positiv. Eine fürchterliche Willenskraft mußte ihr innewohnen. Ich fühlte förmlich die Wellen von Kraft, die von ihr ausströmten. Kein Wunder, daß diese Frau zeitlebens alle beherrscht hatte, mit denen sie in Berührung gekommen war.

Jetzt führte sie eine Lorgnette an die Augen und studierte erst mich und hierauf meinen Gefährten, an den sie dann das Wort richtete - mit klarer, zwingender, ans Befehlen gewöhnter Stimme.

»Sie sind Monsieur Hercule Poirot?«

Mein Freund antwortete mit einer Verbeugung.

»Zu Ihren Diensten, Madame la Duchesse.«

Nun wurde ich das Ziel der herrischen Augen.

»Das ist mein Freund, Hauptmann Hastings, der, mir bei der Bearbeitung meiner Fälle hilft«, erklärte Poirot.

Sie sah mich ein wenig unschlüssig an und neigte endlich wie zustimmend den Kopf.

»Ich bin gekommen, um Sie in einer sehr delikaten Angelegenheit um Rat zu fragen«, begann sie, während sie sich gemessen in dem Sessel niederließ, den mein Freund ihr anbot. »Ehe ich jedoch weiterspreche, muß ich Sie um völlige Verschwiegenheit ersuchen.«

»Das versteht sich von selbst, Madame.«

»Lady Yardly erzählte mir von Ihnen, so dankbar und so begeistert, daß ich die Überzeugung gewann, Sie als einziger Mensch können mir helfen.«

Sie zauderte, und Poirot half über die Pause hinweg, indem er versicherte: »Madame, ich werde tun, was in meinen Kräften steht.«

»Also gut!« Und mit einer Geradheit, die mich merkwürdig an Jane Wilkinson in jener denkwürdigen Nacht im Savoy erinnerte, griff sie den Kernpunkt heraus.

»Monsieur Poirot, ich will es verhindern, daß mein Sohn die Schauspielerin Jane Wilkinson heiratet.«

Wenn Poirot innerlich staunte, so verrieten seine Züge nichts davon. Er betrachtete sie nachdenklich und gönnte sich mit der Antwort Zeit.

»Können Sie sich nicht ein wenig bestimmter darüber auslassen, inwiefern ich mitwirken soll, Madame?«

»Das ist nicht leicht, Monsieur. Ich fühle, daß solch eine Heirat ein großes Unheil wäre und meines Sohnes Leben ruinieren würde.«

»Glauben Sie, Madame?«

»Glauben? Ich bin dessen gewiß. Mein Sohn hat sehr hohe Ideale, weiß blitzwenig von der Welt und hat sich aus den jungen Mädchen seiner eigenen Gesellschaftsschicht, die er hohlköpfig und frivol nennt, nie etwas gemacht. Was aber jene Frau betrifft - nun, sie ist ungewöhnlich schön, zugegeben, und versteht es, die Männer zu ihren Sklaven zu machen. Sie hat auch meinen Sohn verzaubert, Monsieur Poirot, und leider ist der Zauber noch nicht gebrochen. Dem Himmel sei Dank, daß sie nicht frei war. Aber jetzt, nach dem Tod ihres Gatten ...« Sie brach ab.

»In wenigen Monaten beabsichtigen sie, sich trauen zu lassen, Monsieur. Und da muß ein Riegel vorgeschoben werden«, erklärte sie mit rücksichtsloser Entschiedenheit.

Poirot zuckte die Achseln.

»Ich bestreite nicht, daß Sie recht haben, Madame. Nein, ich stimme Ihnen sogar bei, daß diese Heirat unpassend ist. Aber was tun?«

»Entscheiden Sie das, Monsieur. Doch jedenfalls müssen Sie mir helfen.«

»Ich fürchte, Ihr Herr Sohn wird keinem, der etwas gegen die Dame sagt, Gehör schenken. Und überdies ist meines Erachtens nicht sehr viel gegen sie zu sagen. Ich bezweifle stark, daß wir aus ihrer Vergangenheit irgendwelche unwürdigen Vorfälle ausgraben können. Jane Wilkinson ist ... nun, nennen wir es vorsichtig gewesen.«

»Das weiß ich«, stieß die Herzogin voll Ingrimm hervor.

»Ah ... ? Mithin haben Sie bereits dementsprechende Nachforschungen angestellt?«

Unter Poirots durchdringendem Blick errötete sie leicht.

»Es gibt nichts, das ich nicht tun würde, um meinen Sohn vor dieser Heirat zu bewahren. Nichts, Monsieur Poirot!« sagte sie mit Nachdruck.

Wieder entstand eine Pause.

»Bemessen Sie Ihre Forderungen, so hoch Sie wollen, Monsieur«, führte sie dann aus. »Und wenn es ein Vermögen kostet, so muß die Ehe verhindert werden. Sie sind der Mann, es zu vollbringen.«

Poirot schüttelte langsam den Kopf.

»Ich kann nichts tun - aus einem Grund, den ich Ihnen sofort erklären werde, aber ich glaube - entschuldigen Sie meinen Freimut! - überhaupt nicht, daß irgend etwas getan werden kann. Werden Sie es mir nicht als Unverschämtheit auslegen, wenn ich Ihnen einen Rat gebe, Madame la Duchesse?«

»Welchen Rat?«

»Widersetzen Sie sich Ihrem Sohn nicht. Er ist in dem Alter, selbst seine Wahl zu treffen. Weil seine Wahl nicht die Ihre ist, dürfen Sie nicht mutmaßen, daß Sie im Recht sind. Wenn Unglück daraus erwächst, nehmen Sie es in Kauf. Seien Sie zur Stelle, um ihm zu helfen, wenn er Hilfe benötigt; aber erklären Sie ihm nicht den Krieg.«

»Sie können meine Lage nicht verstehen, Monsieur.« Sie war aufgestanden, ihre Lippen zitterten.

»Madame la Duchesse, ich verstehe Sie sehr gut - ich verstehe das Mutterherz. Niemand versteht es besser als ich, Hercule Poirot. Und dennoch wiederhole ich nachdrücklich: Seien Sie geduldig. Geduldig und ruhig, und verschleiern Sie Ihre Gefühle. Noch besteht ja auch die Möglichkeit, daß die Sache von selbst in die Brüche geht; Widerstand würde aber Ihren Sohn in seinem Eigensinn nur bestärken.«

»Guten Tag, Monsieur Poirot«, sagte die Herzogin kalt. »Sie haben mich arg enttäuscht.«

»Ich bedaure unendlich, Madame, daß ich Ihnen nicht dienen kann. Sehen Sie, ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Lady Edgware hat mir schon die Ehre erwiesen, mich um Rat zu fragen.«

»Ah ... Das also ist es!« Messerscharf wurde ihre Stimme. »Sie stehen im gegnerischen Lager. Hieraus erklärt sich wohl auch, weshalb Lady Edgware wegen Ermordung ihres Gatten noch immer nicht verhaftet worden ist.«

»Comment, Madame la Duchesse?«

»Ich sprach doch klar und deutlich, sollte ich meinen. Warum ist sie nicht verhaftet? Am Mordabend hat sie, wie Zeugen bekunden, das Haus betreten, ist in die Bibliothek gegangen. Außer ihr hat sich niemand Lord Edgware genähert, und obwohl man den Mann tot auffand, erfreut sie sich weiter ihrer Freiheit. Die Korruption bei unserer Polizei muß ja ungeheuer sein!«

Mit bebenden Händen ordnete sie den Schal um ihren Hals, neigte kaum merklich den Kopf und rauschte hinaus.

»Puh!« stöhnte ich. »Das ist ja ein grausiger Drachen! Und trotzdem bewundere ich sie.«

»Weil sie das gesamte Weltall zu ihrer Denkweise bekehren will?«

»Poirot, seien Sie gerecht, es liegt ihr doch nur ihres Sohnes Wohlergehen am Herzen.«

»Das wohl, Hastings. Aber ist es für den Herrn Herzog denn tatsächlich solch ein Übel, Jane Wilkinson zu heiraten?«

»Sie glauben doch nicht etwa, daß sie ihn liebt?«

»Ihn nicht, jedoch seine soziale Stellung. Und als außerordentlich schöne und sehr ehrgeizige Frau wird sie ihre neue Rolle mit aller Sorgfalt spielen. Nein, eine Katastrophe ist diese Heirat nicht. Der junge Mann hätte ganz leicht ein Mädchen seiner Kreise heiraten können, das ihm das Jawort aus denselben Gründen wie Jane Wilkinson gegeben haben würde, aber kein Mensch hätte dann ein Aufheben davon gemacht. Und wenn er ein Mädchen heiratet, das ihn leidenschaftlich liebt - bedeutet das denn solch einen großen Vorteil? Eine verliebte Frau führt Szenen der Eifersucht auf, macht den Mann lächerlich, verlangt, daß er ihr all seine Zeit und Aufmerksamkeit widmet. Ah non, es ist kein Bett von Rosen.«

»Poirot, Sie sind ein unverbesserlicher Zyniker!«

»Mais non, mon cher, ich ergehe mich nur in Betrachtungen. Aber eigentlich stehe ich auf der Seite der guten Mama.«

Wie sollte ich da ernst bleiben, wenn man in bezug auf die kalte, hochmütige, stolze Herzogin ein solches Wort anwendete?

Doch Poirot lachte nicht, ihn verstimmte sogar meine Heiterkeit.

»Lassen Sie das Kichern, Hastings«, sagte er. »Dafür ist das Ganze zu wichtig. Ich muß nachdenken ... Haben Sie bemerkt, wie gut unterrichtet die Frau war? Und wie rachsüchtig? Sie kannte das ganze Material, das gegen Jane Wilkinson spricht. Woher aber kannte sie es?«

»Jane erzählte es dem Herzog; der Herzog erzählte es ihr. Höchst einfach.«

»Dennoch .«

Die grelle Telefonklingel fiel ihm ins Wort.

Ich ging zum Apparat hinüber, und bei dem Gespräch, das sich nun entwickelte, beschränkte sich meine Rolle darauf, in einigen Abständen ja zu sagen. Schließlich legte ich den Hörer nieder und wandte mich aufgeregt an Poirot.

»Das war Japp. Erstens sind Sie gewöhnlich ein findiger Kopf. Zweitens hat er ein Kabel aus Amerika erhalten. Drittens trieb er den Chauffeur auf. Viertens bittet er Sie, schnell zu ihm zu kommen und der Vernehmung des Mannes beizuwohnen. Fünftens sind Sie abermals ein findiger Kopf, und sechstens hat er sich davon überzeugt, daß Sie mit Ihrer Meinung, es stecke ein Mann hinter dem Ganzen, den Nagel auf den Kopf getroffen hätten . Leider verabsäumte ich, ihm mitzuteilen, daß wir soeben von einer Besucherin erfuhren, wie ungeheuerlich die Korruption bei der Polizei sei.« »Sieh da! Japp hat sich endlich überzeugen lassen«, murmelte Poirot. »Und gerade in dem Augenblick, da ich selbst von dieser Theorie etwas abrücke und mir eine andere aufbaue.«

»Welche?«

»Daß der Beweggrund zum Mord möglicherweise gar nicht Lord Edgware selbst betrifft: Stellen Sie sich vor, jemand haßte Jane Wilkinson so glühend, daß er sie gern wegen Mordes sogar am Galgen baumeln sehen würde. C'est une idee, 9a!«

Er seufzte - riß sich dann aus seinen Gedanken los:

»Kommen Sie, Hastings, wir wollen hören, was Japp uns zu verkünden hat!«

20

»Fein, daß Sie da sind!« sagte Inspektor Japp und unterbrach bei unserem Eintritt das Verhör des älteren Mannes mit struppigem Schnurrbart und Brille. »Die Dinge entwickeln sich. Hier, der Jobson bekam in der Nacht des 29. Juni in Long Acre zwei Fahrgäste.«

»Jawohl«, bestätigte der Genannte mit heiserer Stimme. »Eine schöne Nacht war es. Mondschein und alles, was man sich nur wünschen kann. Die junge Dame und der Herr riefen mich bei der Untergrundbahn an.«

»Waren sie in Abendkleidung?«

»Ja. Der Herr in weißer Weste und die junge Dame ganz in Weiß, mit Blumen oder Vögeln darauf gestickt. Ich glaube, sie kamen aus der Königlichen Oper.«

»Um wieviel Uhr?«

»Ein bißchen vor elf.«

»Und weiter?«

»Ich sollte sie nach Regent Gate fahren, befahlen sie mir, aber möglichst rasch. Das sagen die Leute immer. Als ob uns daran läge, wie eine Schnecke zu kriechen! Je schneller wir einen Fahrgast loswerden, desto eher können wir einen anderen nehmen, und weiter wollen wir doch nichts. Doch daran denken die Herrschaften nicht. Wenn's aber einen Unfall gibt, dann kriegt man unsereinen noch wegen unsinnigen Fahrens beim Kragen.«

»Das dürfen Sie sich denken«, unterbrach ihn Japp ungeduldig. »Oder gab's in jener Nacht etwa einen Unfall?«

»Nein«, brummte der Mann mürrisch, weil er den Bericht nicht abfassen konnte, wie es ihm beliebte. »Nein, ich kam ganz ohne Zwischenfall in knapp sieben Minuten nach Regent Gate.

Und dort klopfte der Herr an die Scheibe, so daß ich anhielt. So ungefähr bei Nummer 8. Dann stiegen der Herr und die Dame aus; der Herr blieb stehen und hieß mich warten, während die Dame über den Fahrdamm ging und an der gegenüberliegenden Häuserreihe entlangschritt. Den Rücken mir zugekehrt, sah der Herr ihr nach. Hatte beide Hände in den Taschen. Vielleicht fünf Minuten später hörte ich ihn etwas sagen - ich glaube, es war nur ein Ausruf, und dann ging er gleichfalls davon. Ich behielt ihn im Auge, weil ich nicht um das Fahrgeld geprellt werden wollte, sah, wie er drüben die Stufen zu einem der Häuser hinaufstieg und in der Haustür verschwand.«

»Stand die Tür denn offen?«

»Nein, er hatte einen Schlüssel.«

»Wissen Sie die Hausnummer?«

»17 oder 19, denke ich. Warum, zum Kuckuck, ließ man mich denn warten, wenn sie beide ins Haus gingen . ? Und mißtrauisch behielt ich die Tür im Auge. Nach weiteren fünf Minuten kamen der Herr und die Dame zusammen wieder heraus, stiegen ins Auto und wollten nach der Covent Garden Oper zurückgefahren werden. Kurz vorher ließen sie mich halten und bezahlten mich. Bezahlten mich sogar überreichlich, alles, was recht ist. Aber nun habe ich ihretwegen doch noch Scherereien, scheint mir.«

»Sehen Sie sich mal diese Bilder an, und sagen Sie mir, ob die junge Dame sich darunter befindet«, forderte Japp ihn auf.

Ein halbes Dutzend Fotografien mochte es sein, alle einen ziemlich gleichartigen Menschentyp darstellend.

»Das war sie«, erklärte Jobson, und sehr entschieden deutete sein derber, ölbeschmutzter Zeigefinger auf ein Bild Geraldines in Abendtoilette.

»Sicher?«

»Ganz sicher. Bleich war sie und dunkel.« »Jetzt suchen Sie den Mann.«

Eine weitere Reihe Fotografien wurde ihm ausgehändigt, die er gründlich musterte und dann mit einem Kopfschütteln zurückgab. »Kann ich nicht genau sagen. Von diesen beiden könnte es einer sein.«

Eines der Bilder stellte Ronald Marsh dar, aber Jobson hatte es übergangen; immerhin bestand eine entfernte Ähnlichkeit zwischen den beiden Köpfen, die der Mann herausgegriffen hatte, und dem neuen Lord Edgware.

Der Inspektor entließ Jobson und warf die Bilder mißmutig in eine Schublade.

»Das kommt davon, weil ich nur eine sieben oder acht Jahre alte Fotografie des glücklichen Erben aufgabeln konnte. Natürlich wäre mir eine genaue Feststellung seiner Person lieber gewesen, aber auch so liegt die Sache klipp und klar. Pardauz, da gingen ein paar anscheinend blitzsaubere Alibis in Scherben . ! Gescheit von Ihnen, Monsieur Poirot, an so was zu denken.«

Poirot setzte seine allerbescheidenste Miene auf, was ihm sehr gut gelang.

»Als mir bekannt wurde, daß Vetter und Kusine beide die Oper besucht hatten, rechnete ich mit der Möglichkeit, daß sie während einer der Pausen zusammen gewesen waren. Natürlich ahnten weder die Dortheimers noch die Carthew Wests, daß sie das Opernhaus verließen. Doch eine halbstündige Pause bietet hinreichend Zeit, um nach Regent Gate und zurück zu fahren., Im Augenblick, als der neue Lord Edgware solch Gewicht auf sein Alibi legte, begann ich etwas Unrechtes zu argwöhnen.«

»Sie sind ein netter, argwöhnischer Geselle, he?« sagte Japp fast zärtlich. »Ja, ja, in dieser Welt kann man nicht argwöhnisch genug sein. Und nun lesen Sie dies hier.« Er reichte ihm ein Papier. »Kabel aus New York, wo man die Verbindung mit Miss Lucie Adams aufnahm. Der Brief, der erst gestern drüben ankam, wurde ihr mit der Morgenpost zugestellt, und sie weigerte sich, das Original aus der Hand zu geben, sofern es nicht unbedingt erforderlich sei. Indessen gestattete sie dem Beamten sofort, es abzuschreiben und uns den Inhalt wortgetreu zu kabeln. Und er ist so vernichtend für den edlen Lord, wie man es sich nur wünschen kann.«

Poirot nahm das Blatt, und ich las, über seine Schulter gebeugt:

Nachstehend der Text des Briefes an Lucie Adams, datiert 29. Juni, Rosedow Mansions 8, London SW. Lautet: >Liebe, kleine Schwester, es tut mir leid, daß ich Dir vergangene Woche nur ein paar flüchtige Zeilen schrieb, aber meine Zeit war sehr in Anspruch genommen, vor allem durch geschäftliche Dinge. Dafür, mein liebes Kleines, kann ich Dir heute von einem großen Erfolg berichten. Glänzende Rezensionen, ausverkauftes Haus und überall warmes Entgegenkommen und Liebenswürdigkeit! Ich habe hier ein paar wirklich gute Freunde gewonnen und hoffe nächstes Jahr ein Theater für zwei Monate zu mieten. Der russische Tänzer-Sketch fand viel Anklang, desgleichen die Amerikanerin in Paris, doch am meisten rissen die Szenen in einem internationalen Hotel das Publikum hin. Ich bin so aufgeregt, daß ich kaum weiß, was ich schreibe, Schwesterchen. Gedulde Dich nur noch eine Minute, dann wirst Du auch den Grund erfahren. Vorher will ich Dir nur schnell noch von einigen Leuten erzählen, mit denen ich zusammen war. Zuerst Mr. Hergsheimer. Er zeigt mir ein großes Wohlwollen und beabsichtigt mich in den nächsten Tagen zum Lunch einzuladen, bei welcher Gelegenheit ich Sir Montague Corner kennenlernen soll, dessen Unterstützung von unschätzbarem Wert sein würde. Gestern abend machte ich die Bekanntschaft Jane Wilkinsons, die mich wegen meiner Leistungen und besonders wegen der täuschenden Nachahmung ihrer Person mit Lob überhäufte. Und das leitet schon zu dem über, was ich Dir gleich erzählen will. Sympathisch ist mir J. eigentlich nicht. Ich habe kürzlich von einem beiderseitigen Bekannten, dem gegenüber sie sich sehr herzlos und - man kann es nicht anders bezeichnen - heimtückisch benommen hat, manches über sie gehört; aber Dir alles zu schreiben, würde heute zu weit führen. Du weißt wohl, Kleines, daß J. eigentlich Lady Edgware heißt. Auch über ihren Gatten erfuhr ich allerhand, das nicht schön ist. Er behandelte seinen Neffen, den Hauptmann Marsh, den Du ja bereits aus meinen Briefen kennst, in der schamlosesten Weise - warf ihn buchstäblich aus dem Haus und brach jede Brücke ab. Ich weiß das alles aus Marshs eigenem Mund, und der Arme tut mir herzlich leid. Er zollt meiner Vorstellung ebenfalls das größte Lob, er sagt: >Ich glaube, Sie würden sogar Lord Edgware selbst täuschen. Hören Sie, wollen Sie um einer Wette willen etwas unternehmen?< Ich lachte und sagte: >Wieviel bringt's ein?< Liebe, kleine Lucie, die Antwort raubte mir fast den Atem. Zehntausend Dollar. Zehntausend Dollar - kannst Du das fassen? Zehntausend Dollar, nur um jemandem zu helfen, eine einfältige Wette zu gewinnen! >Nun, dafür würde ich auch den König im Buckingham Palace zum Narren halten und eine Majestätsbeleidigung riskieren<, erwiderte ich. Wir steckten also die Köpfe zusammen und berieten uns über die Einzelheiten.

Ob man mich erkennt oder nicht, werde ich Dir nächste Woche erzählen. Aber ob Erfolg oder Mißlingen - die zehntausend Dollar bekomme ich. Oh, Lucie, was das für uns bedeutet!

Keine Zeit jetzt für mehr - muß sofort zu meinem Possenspiel. Tausend, tausend, tausend Grüße, mein geliebtes Kleines, Deine Carlotta.<

Poirot legte das Kabel nieder, das ihn, wie ich bemerkte, sehr ergriffen hatte. Bei Japp indes brachte es eine ganz andere Wirkung zustande. »Jetzt haben wir ihn gefaßt«, frohlockte er.

»Ja«, erwiderte mein Freund.

Seine Stimme klang merkwürdig gepreßt.

»Was ist denn los, Monsieur Poirot?« fragte der Inspektor.

»Nichts. Es ist nur, irgendwie, nicht ganz so, wie ich dachte. Voila.« Er sah trostlos unglücklich aus. »Aber es muß so sein«, sagte er wie im Selbstgespräch. »Ja, es muß so sein.«

»Selbstverständlich ist es so; Sie mit Ihrer Pfiffigkeit haben das ja schon längst prophezeit.«

»Nein, nein. Sie verstehen mich falsch, Japp.«

»Haben Sie nicht immer gepredigt, es sei jemand im Hintergrund, der das ganz ahnungslose Mädchen zu jener Maskerade überredet hätte?«

Poirot seufzte und entgegnete nichts, so daß der Inspektor fortfuhr: »Sie sind ein wunderlicher Heiliger! Nie zufrieden. Ich meine, wir können von Glück sagen, daß Miss Adams diesen Brief schrieb.«

Und plötzlich pflichtete ihm Poirot mit mehr Heftigkeit bei, als er je zuvor an den Tag gelegt hatte.

»Mais oui, mais oui, das ist es ja, was der Mörder nicht erwartete. Als Carlotta Adams die zehntausend Dollar annahm, unterzeichnete sie ihr Todesurteil. Er schmeichelte sich, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben - und sie überlistete ihn, in aller Unschuld. Die Tote spricht. Es ist in meiner Praxis nicht das erstemal, daß die Toten sprechen.«

»Ich habe nie geglaubt, daß sie auf eigene Faust handelte«, sagte Japp mit kaum glaublicher Unverfrorenheit. »So, und nun muß ich die weiteren Maßnahmen treffen.«

»Sie wollen Hauptmann Marsh - Lord Edgware, meine ich verhaften?«

»Weshalb nicht? Kann noch der geringste Zweifel an seiner Schuld bestehen ... ? Ich begreife Ihre Niedergeschlagenheit nicht, Monsieur Poirot. Statt stolz zu sein, daß Ihre eigene Theorie sich siegreich behauptet, sitzen Sie trübselig da. Sehen Sie denn irgendeine brüchige Stelle in dem Beweismaterial?«

Hercule Poirot schüttelte den Kopf.

»Ob Miss Marsh sein Helfershelfer war, weiß ich nicht«, führte der Inspektor aus. »Der gleichzeitige Opernbesuch läßt es fast vermuten. Nun, ich werde ja hören, was die beiden sagen.«

»Darf ich der Vernehmung beiwohnen?« Beinahe demütig klang die Frage.

»Das versteht sich von selbst, nachdem wir die ganze Anregung Ihnen überhaupt verdanken.«

Während er das Kabel in seinem Schreibtisch verschloß, zog ich meinen Freund beiseite.

»Wo fehlt's denn, Poirot?«

»Ich bin sehr unglücklich, Hastings. Obwohl die Rechnung so glänzend aufzugehen scheint, steckt irgendwo ein Fehler. Alles greift genau ineinander, wie ich es mir ausmalte - und dennoch, mon ami, hapert es irgendwo.« Kläglich, jammervoll blickte er drein. Womit sollte ich ihn trösten?

21

Ich fand mich in meinem Freund nicht mehr zurecht. Was plagte er sich, nachdem die Dinge eine Entwicklung nahmen, die er längst vorausgesagt hatte, mit mißmutigem Grübeln?

Auf der ganzen Fahrt nach Regent Gate saß er brütend, mit finster gerunzelter Stirn, neben uns und schenkte Japps selbstzufriedener Fröhlichkeit keine Beachtung.

»Auf alle Fälle können wir ja hören, was er zu sagen hat«, fuhr er schließlich seufzend aus seiner Versunkenheit auf.

»Wenn er klug ist, hält er den Mund«, meinte der Inspektor.

»Es haben sich schon eine ganze Menge selber dem Strick des Henkers ausgeliefert, weil sie zu sehr darauf bedacht waren, einen Bericht zu geben. Uns Kriminalbeamten kann niemand nachsagen, daß wir sie nicht warnen . ! Und je schuldiger sie sind, desto eifriger stimmen sie ihre falsche Weise an und ahnen nicht, daß sie ihre Lügen lieber erst mal einem Anwalt unterbreiten sollten. Oh, diese Anwälte!« Er stöhnte. »Anwälte und Vorsitzende der Leichenschau! Was nützt die mühseligste polizeiliche Ermittlungsarbeit, wenn solch ein Vorsitzender in einem vollkommen klaren Fall alles über den Haufen wirft und den schuldigen Teil laufen läßt? Den Anwälten kann man ihr Vorgehen nicht einmal so sehr zum Vorwurf machen. Sie werden für ihre List und die Verdrehung der Tatsachen bezahlt.«

Bei der Ankunft in Regent Gate erfuhren wir, daß unser verfolgtes Wild im Bau war. Man saß noch beim Lunch, und Japp bat um eine sofortige Unterredung mit Lord Edgware allein.

Wieder wurden wir in die Bibliothek geführt. Ronald trat nach wenigen Minuten herein, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, das sich etwas veränderte, als er unsere kleine Gruppe mit einem raschen Blick überflog. Seine Lippen strafften sich.

»Hallo, Inspektor, was bedeutet das?«

Japp sagte seinen Spruch in der alten, beinahe klassisch gewordenen Form her.

»So, so. Also so weit sind wir!« meinte Lord Edgware.

Er zog einen Stuhl zu sich heran, setzte sich und holte sein Zigarettenetui aus der Tasche.

»Inspektor, ich möchte Ihnen ein Geständnis machen.«

»Ganz wie es Ihnen beliebt, Mylord.«

»Selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich hinterher für einen Toren halten. Ich habe nämlich keinen Anlaß, die Wahrheit zu fürchten, wie die Romanhelden immer so schön sagen.«

Inspektor Japp erwiderte nichts, sein Gesicht blieb bewegungslos wie eine Maske.

»Sehen Sie, da drüben ist ein handlicher Tisch und Stuhl«, fuhr der junge Mann fort. »Nehmen Sie dort Platz. Dann können Sie meine Aussage gleich bequem stenografieren.«

Vermutlich begegnete es dem Beamten Scotland Yards nicht häufig, daß sich ein des Mordes Verdächtiger um die Bequemlichkeit seines Häschers sorgt!

»Und nun zur Sache! Da ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin, nehme ich an, daß mein wunderschönes Alibi in Rauch aufgegangen ist, wie? Aus mit den nützlichen Dortheimers. Taxichauffeur, ja?«

»Uns sind Ihre sämtlichen Schritte in jener Nacht bekannt«, sagte Japp steif.

»Ich habe immer die größte Bewunderung für die Tüchtigkeit Scotland Yards gehabt. Aber wissen Sie, Inspektor, wenn ich wirklich eine Gewalttätigkeit geplant hätte, würde ich bestimmt in kein Taxi geklettert und schnurstracks zum Hause meines Onkels gefahren sein. Und ebenso bestimmt hätte ich das Auto nicht warten lassen. Haben Sie das nicht bedacht . ? Ah, Monsieur Poirot, Ihnen sind wohl derartige Bedenken gekommen?«

»Ja.«

»Ein wohlüberlegter Mord wird anders in Szene gesetzt«, fuhr Lord Edgware fort. »Man klebt sich meinetwegen einen roten Schnurrbart an, versteckt sich hinter einer großen Hornbrille, fährt bis zur nächsten Straßenecke und entlohnt den Chauffeur. Oder nimmt die Untergrundbahn . na, lassen wir das! Für ein paar tausend Guineas wird Ihnen mein Advokat das besser schildern als ich. Ihre Antwort, Inspektor, weiß ich schon im voraus: keine vorbereitete, sondern aus einem jähen Impuls geborene Tat. Aber auch das stimmt nicht, sondern in Wirklichkeit verhält sich alles folgendermaßen: Ich brauchte Geld, brauchte es dringend. Wenn ich es nicht bis zum nächsten Tag beschaffte, war ich ein verlorener Mann. Mein Onkel? Er liebte mich nicht, doch ich glaubte, es sei ihm vielleicht an der Ehre seines Namens etwas gelegen. Ältere Herren werden bisweilen von solchen Gefühlen beherrscht. Mein Onkel jedoch erwies sich in seiner schamlosen Gleichgültigkeit als bedauernswert modern.

Was tun? Bei dem alten Dortheimer einen Pumpversuch machen? Ich wußte, daß er ergebnislos verlaufen würde. Und seine Tochter heiraten - nein, dazu vermochte ich mich nicht zu überwinden. Da traf ich durch reinen Zufall meine Kusine in der Oper. Unsere Wege kreuzten sich nur selten, doch standen wir immer auf gutem Fuß. Ich vertraute ihr meine Schwierigkeiten an, da sie ohnehin schon etwas von ihrem Vater gehört hatte, und Geraldine, das liebe brave Kind, drängte mir ihre Perlen auf, die einst Eigentum ihrer Mutter gewesen waren.«

Er schwieg. Mir schien, als müsse er einer echten Bewegung Herr werden - war sie aber nicht echt, so wußte er sie durch ein leichtes Beben der Stimme unwahrscheinlich gut vorzutäuschen.

»Nun, ich wies das großmütige Anerbieten nicht zurück. Durch Beleihung der Perlen konnte ich mir das erforderliche Geld verschaffen, Inspektor. Aber gleichzeitig schwor ich meiner Kusine, daß ich sie ihr wiedergeben würde, und sollte ich auch nur durch härteste Arbeit dazu imstande sein. Leider befanden sich die Perlen jedoch in Regent Gate. Auf diese Art kam Ihr Chauffeur zu seinen Fahrgästen, Inspektor.

Hat er Ihnen berichtet, daß wir auf der entgegengesetzten Seite einige Häuser entfernt halten ließen? Das geschah, damit niemand durch ein vorfahrendes Auto aufmerksam werden sollte. Geraldine, die ihren Schlüssel bei sich hatte, wollte sich möglichst lautlos hinauf in ihr Zimmer begeben und hoffte, daß ihr dies unbemerkt glücken würde, da Miss Carroll meist um halb zehn zu Bett ging und mein Onkel sicher in der Bibliothek saß. Ich sah ihr nach, wie sie den Fahrdamm überquerte, drüben an der Häuserreihe entlangschritt und endlich in ihrem väterlichen Haus verschwand. Und nun, Inspektor, komme ich zu dem Teil meiner Geschichte, den Sie wahrscheinlich für Schwindel halten werden. Ein Mann bog in die Straße ein, ging auf dem jenseitigen Bürgersteig an mir vorüber, stieg dann gleichfalls die Stufen zu Nr. 17 empor und betrat das Haus. Aus zwei Gründen war ich starr vor Staunen: erstens, weil der Betreffende die Haustür mit einem Schlüssel geöffnet hatte, und zweitens, weil ich in ihm einen der bekanntesten Filmschauspieler erkannt zu haben glaubte.

Dieser Sache mußte ich auf den Grund gehen! Zufällig trug ich meinen eigenen Schlüssel zu Nr. 17 in der Tasche. Ich hatte ihn vor drei Jahren verloren oder glaubte ihn wenigstens verloren, bis er mir vor zwei Tagen unerwartet in die Hände gefallen war. Ihn, wie ursprünglich beabsichtigt, meinem Onkel vormittags zurückzugeben, war in der Hitze unserer Auseinandersetzung unterblieben, und beim Umkleiden hatte ich ihn mit dem gesamten anderen Tascheninhalt in die Frackhose gesteckt.

Ich befahl dem Chauffeur zu warten, rannte quer über die Straße bis zu Nr. 17, sprang die Stufen empor und öffnete die Tür. Einsam und verlassen lag die Halle. Keinerlei Anzeichen eines soeben eingetretenen Besuchers. Ich schaute mich nach allen Seiten um und schlich mich hinauf zur Bibliothek. War der Mann bei meinem Onkel, so würde man ja Stimmengemurmel hören. Aber nicht ein Laut drang zu mir hinaus.

Und plötzlich schalt ich mich einen Dummkopf. Natürlich hatte mich die Entfernung und die zu dieser Stunde mangelhafte Straßenbeleuchtung genarrt, und der Mann war gar nicht in Nr. 17, sondern wahrscheinlich in dem Nebenhaus verschwunden. Oh, ich Einfaltspinsel ...! Was sollte mein Onkel denken, wenn er unerwartet die Tür öffnete und mich hier stehen sah? Welche Unannehmlichkeiten mußten Geraldine durch meine Unbesonnenheit erwachsen! Und alles das, weil irgend etwas in dem Gebaren des Mannes bei mir die Vorstellung erweckt hatte, er gehe krumme Wege .

Ich ging auf den Fußspitzen zur Haustür zurück, und im gleichen Augenblick kam Geraldine mit den Perlen in der Hand die Treppe herab. Als sie mich sah, fuhr sie selbstverständlich zusammen, und ich zog sie rasch nach draußen und erklärte ihr den Zusammenhang.

Dann ging's so schnell wie möglich zur Oper zurück, wo wir gerade beim Aufziehen des Vorhangs unsere Plätze wieder einnahmen. Niemand ahnte etwas von unserer Abwesenheit, denn in der warmen Sommernacht hatten viele Besucher im Freien Luft geschöpft.«

Er machte eine Pause und holte tief Atem.

»Ich weiß, Inspektor, daß Sie mir jetzt entgegnen werden, warum ich Ihnen das nicht sofort erzählte. Aber nun möchte ich Sie fragen: Würden Sie leichtherzig zugeben, daß Sie in der fraglichen Stunde am Schauplatz des Verbrechens gewesen sind, wenn man Ihnen ohnedies schon triftige Gründe für den Mord vorrechnen kann?

Und selbst wenn man mir und Geraldine Glauben schenkte, so doch nur nach langwierigen Vernehmungen, nach Weiterungen und Scherereien aller Art, nach qualvollem Hin und Her. Wir hatten nichts mit dem Mord zu tun, wir hatten nichts gesehen, nichts gehört. Auf Ehre und Gewissen versichere ich Ihnen, daß ich glaubte, Tante Jane sei die Schuldige. Weshalb sollte ich mir selbst Ungelegenheiten bereiten?«

»Miss Marsh willigte in dieses ... hm, Vertuschen?«

»Ja. Sobald ich von dem Mord erfuhr, ging ich zu ihr und beschwor sie, über unseren Abstecher nach hier Schweigen zu bewahren und auf Befragen zu erklären, daß wir in der letzten Pause zusammen gewesen und ein wenig draußen im Freien umherspaziert wären. Sie begriff meine Lage und ging ohne weiteres auf meinen Vorschlag ein. Ich weiß, Inspektor, daß es einen verflucht schlechten Eindruck macht, wenn ich erst jetzt mit der Wahrheit herausrücke. Aber es ist die Wahrheit. Ich kann Ihnen Namen und Adresse des Mannes geben, der mir am anderen Morgen Geraldines Perlen belieh. Und wenn Sie meine Kusine fragen, wird sie Ihnen jedes Wort bestätigen.«

Lord Edgware lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte Japp an. Doch dessen Gesicht behielt dieselbe maskengleiche Ausdruckslosigkeit.

»Sie sagen, Lord Edgware, daß Sie glaubten, Jane Wilkinson habe den Mord begangen?« warf er hin.

»Würden Sie es etwa nicht gedacht haben, Inspektor? Nach des Butlers Erzählung?«

»Und Ihre Wette mit Miss Adams?«

»Wette mit Miss Adams ...? Carlotta Adams meinen Sie? Was hat sie damit zu schaffen?« »Leugnen Sie, daß Sie ihr die Summe von zehntausend Dollar boten, damit sie in jener Nacht Jane Wilkinson hier verkörperte?«

Ronald starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an.

»Zehntausend Dollar? Unsinn . ! Jemand hat Ihnen einen Bären aufgebunden, Inspektor. Als ob ich vor ein paar Tagen zehntausend Dollar anzubieten hatte! Hat sie Ihnen das gesagt? Oh, verdammt - ich vergaß, sie ist ja tot.«

»Ja«, mischte sich Poirot ruhig ein. »Sie ist tot.«

Ronald blickte uns drei der Reihe nach an. Sein Gesicht hatte seine frischen Farben verloren, und in den Augen lauerte Angst. »Ich verstehe kein Wort von allem«, sagte er. »Was ich Ihnen erzählte, ist unverfälschte Wahrheit. Aber mir scheint, Sie glauben mir nicht - keiner von Ihnen.«

Und da trat zu meinem grenzenlosen Staunen Hercule Poirot vor.

»Doch«, erklärte er. »Ich glaube Ihnen.«

22

Wir waren in unsere Wohnung zurückgekehrt.

»Was in aller Welt . «, hub ich an und wurde durch die maßloseste Bewegung, die ich je bei Poirot sah, zum Schweigen verurteilt. Seine beiden Arme kreisten durch die Luft.

»Ich flehe Sie an, Hastings! Nicht jetzt. Nicht jetzt!«

Und hierauf ergriff er seinen Hut, klatschte ihn sich auf den Kopf, als ob er niemals von Ordnung und Methode gehört habe, und stürmte aus dem Zimmer. Er war auch noch nicht wieder da, als eine Stunde später Japp erschien.

»Ist der Kleine ausgegangen?«

Ich nickte.

Der Inspektor sank müde in einen Sessel und betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch, denn der Tag hatte uns eine ziemliche Hitze beschert.

»Was ist denn bloß in ihn gefahren?« forschte er. »Ich denke, mich rührt der Schlag, als er plötzlich auf den Mann zutritt und feierlich sagt: >Ich glaube Ihnen.< Mit dem Pathos eines Mimen! . Offen gestanden, Hauptmann Hastings, ich bin platt.«

Ich war ebenso platt und verhehlte es nicht. »Und dann marschiert er auf und davon und läßt Sie hier allein sitzen! Was sagte er denn?«

»Nichts!«

»Nichts?«

»Gar nichts. Als ich zu sprechen anfing, zappelte er mit den Armen, nahm seinen Hut - und weg war er!«

Wir blickten uns an, und Japp tippte vielsagend gegen seine Stirn. Diesmal neigte ich dazu, ihm beizupflichten. Er hatte schon häufig angedeutet, daß Poirot - wie er es nannte -angekränkelt sei, doch hinterher ergab sich jedesmal, daß der Inspektor nicht verstanden hatte, wo Poirot hinzielte. Aber jetzt sah ich mich gezwungen, zuzugeben, daß auch ich das Verhalten meines Freundes nicht verstand. Wenn nicht angekränkelt, so war er jedenfalls verdächtig wetterwendisch. Nachdem seine höchsteigene Theorie sich siegreich behauptete, sagte er sich plötzlich schnöde von ihr los. Ah, das mußte ja seine wärmsten Anhänger bekümmern und verdrießen!

»Sonderbar ist er ja stets gewesen«, bemerkte der Kriminalbeamte. »Immer sah er Menschen und Dinge in einem Licht, in dem kein normaler Sterblicher sie sah. Ich gebe zu, daß er eine Art Genie ist. Jedoch heißt es, daß Genies ganz nahe an der Grenzlinie stehen und jeden Augenblick Gefahr laufen überzuschnappen. Ein eindeutig klarer Fall ist unserem lieben Poirot nie gut genug; nein, er will die Dinge möglichst schwierig haben. Und so entfremdet er sich nach und nach dem wirklichen Leben und spielt sein eigenes Spiel.« Japp lachte auf. »Er erinnert mich an ein altes Dämchen, das Patience legt. Wenn die Patience nicht aufgeht, betrügt es. Nun, bei unserem Freund ist es gerade umgekehrt. Wenn sie zu leicht aufgeht, betrügt er, um sie schwieriger zu gestalten! So, Hauptmann Hastings, fasse ich ihn und seinen Charakter auf.«

Ich war um eine Antwort verlegen; war auch zu verwirrt und bekümmert, um klar denken zu können. Im stillen nannte ich Poirots Benehmen unzurechnungsfähig, und da ich sehr an meinem sonderbaren kleinen Freund hing, sorgte ich mich mehr, als ich eingestehen mochte.

Und mitten in dieser düsteren Stille trat Poirot über die Schwelle.

Er hatte, wie ich mit einem tiefen Dankgefühl feststellte, seine Ruhe wiedergefunden. Sehr sorgsam nahm er seinen Hut ab, legte ihn samt dem Stock auf ein Seitentischchen und ließ sich in seinem Lieblingssessel nieder.

»Mein guter Japp, ich bin außerordentlich froh, daß Sie da sind, weil ich so der Mühe enthoben werde, Sie aufzusuchen.« Der Inspektor, in dem sicheren Gefühl, daß dies lediglich die Einleitung war, erwiderte nichts. Und tatsächlich fuhr mein Freund, langsam und jedes Wort überlegend, fort:

»Ecoutez, Japp. Wir haben unrecht, durchaus unrecht. Schmerzlich, es zuzugestehen - aber wir haben einen Fehler gemacht.«

»Es ist schon alles in Ordnung«, sagte der Inspektor zuversichtlich.

»Es ist keineswegs in Ordnung. Es ist kläglich, jämmerlich und drückt mir das Herz ab.«

»Grämen Sie sich nicht über den jungen Herrn, Monsieur Poirot. Er hat die Strafe, die seiner wartet, redlich verdient.«

»Nicht seinetwegen gräme ich mich - sondern Ihretwegen.«

»Meinetwegen ...? Das ist wirklich nicht nötig.«

»So ...? Wer hat Ihnen denn diesen Tip gegeben? Ich, Hercule Poirot. Mais oui, ich setzte Sie auf die Fährte; ich lenkte Ihre Aufmerksamkeit auf Carlotta Adams, ich erwähnte Ihnen gegenüber den Brief nach Amerika. Ich, ich, und überall ich.«

»Auch ohne Sie wäre ich zu diesem Ziel gelangt«, erklärte Japp kühl. »Sie landeten dort nur ein bißchen vor mir - das ist alles.«

»Cela se peut. Aber das vermag mich nicht zu trösten. Wenn Ihnen Schaden erwüchse, wenn Ihr Prestige litte, weil Sie meine kleinen Ideen beachteten, so würde ich mich bitterlich tadeln.«

Japp blickte sehr verschmitzt drein. Ich denke, daß er Poirots Reden auf wenig lautere Quellen zurückführte und sich einbildete, der kleine Belgier mißgönne ihm die Lorbeeren, die ihm die erfolgreiche Aufklärung des Falles bescheren würde.

Und meine Vermutung wurde durch die Antwort des Inspektors bestätigt.

»Seien Sie ruhig, Monsieur Poirot«, sagte er. »Ich werde nicht verfehlen, Ihre verdienstvolle Mitwirkung hervorzuheben.«

»Darum handelt es sich doch nicht«, rief Hercule Poirot verzweifelt. »Mich verlangt es nicht nach Anerkennung. Und außerdem wird es keine geben.« Ungeduldig netzte er die Lippen mit der Zunge. »Es ist ein Mißerfolg, den Sie sich vorbereiten, mon ami, und ich, Hercule Poirot, bin die Ursache.«

Angesichts dieser Trübsal brach Japp in ein schallendes Gelächter aus. Er lachte und lachte, bis ihm die Tränen in den Augen standen.

»Verzeihung, Monsieur Poirot«, prustete er, indem er sich die Augen wischte. »Wenn Sie sich anschauen könnten, würden Sie auch lachen. Hahaha! Wie eine sterbende Ente im Gewittersturm sehen Sie aus . ! Einigen wir uns also: Sowohl das Verdienst als auch den Tadel werden wir in dieser Affäre brüderlich teilen. Es mag sein, daß ein geschickter Anwalt den edlen Lord herausreißt - Geschworene sind unberechenbar. Aber auch das wird mir keinen Schaden tun. Auch ein Freispruch wird die Tatsache nicht verschleiern, daß wir den richtigen Mann auf die Anklagebank brachten. Und wenn, durch irgendeinen Zufall, das dritte Hausmädchen plötzlich Wahnvorstellungen bekommen und sich der Tat bezichtigen sollte, so werde ich meinen Leidenskelch schlucken und mich nicht beklagen, daß Sie mich aufs Glatteis führten. Genügt Ihnen das?«

Poirot sah ihn sanft und traurig an.

»Fast möchte man Sie um diese Zuversicht beneiden! Nie machen Sie halt und fragen sich: Kann es so sein? Nie zweifeln Sie oder wundern Sie sich. Nie denken Sie: Das ist zu leicht!«

»Sehen Sie, Monsieur Poirot, jetzt berühren Sie den Punkt, wo Sie immer entgleisen. Warum soll eine Sache nicht leicht sein?«

Mein Freund stieß einen tiefen Seufzer aus, hob beide Hände hoch und ließ sie wieder auf die Armlehne fallen.

»C'est fini!« klang es mutlos. »Ich will kein Wort mehr darüber verlieren.«

»Wunderbar!« sagte Japp herzlich. »Möchten Sie nun erfahren, was ich derweilen getan habe?«

»Gewiß.«

»Ich sprach mit Miss Marsh, deren Schilderung sich genau mit der ihres Vetters deckt. Daß die beiden unter einer Decke stecken, glaube ich nicht. Meine Ansicht geht dahin, daß er sie täuschte. Die Kunde von seiner Verhaftung hat sie übrigens vollkommen niedergeschmettert.«

»Und die Perlen?«

»Das hat seine Richtigkeit. Am folgenden Morgen verschaffte er sich in aller Herrgottsfrühe durch ihre Beleihung das Geld. Aber finden Sie, daß dadurch die Anklage gegen ihn entkräftet wird? Ich stelle mir folgendes vor: Der Mordplan entstand, als Ronald Marsh in der Oper seiner Kusine ansichtig wurde. Blitzartig zuckte es in seinem Kopf auf, obwohl der junge Mann etwas Ähnliches wohl doch bereits erwogen hatte. Warum trug er sonst den Schlüssel bei sich? Die Erklärung, die er uns dafür gab, ist mir allzu fadenscheinig, Monsieur Poirot. Während er mit der Kusine plauderte, fällt ihm ein, daß er, wenn er sie in das Verbrechen verstrickt, vermehrte Sicherheit für sich selbst gewinnt. Deshalb klagt er ihr sein Leid, macht eine Anspielung auf die Perlen, die sie ihm bereitwilligst zur Verfügung stellt und fährt mit ihr davon. Sobald sie im Haus ist, folgt er ihr, geht in die Bibliothek, wo Lord Edgware vielleicht in seinem Stuhl eingeschlummert sein mag. Jedenfalls ist in zwei Sekunden der tödliche Stich geführt, und Ronald Marsh schon wieder draußen. Ich glaube, daß es seine Absicht war, wieder auf der Straße wartend auf und ab zu gehen, wenn seine Kusine mit den Perlen kam, aber das mißlang ihm.

Am nächsten Morgen muß er natürlich, um den Schein zu wahren, die Perlen verpfänden. Als dann das Verbrechen ruchbar wird, schüchtert er Geraldine Marsh ein, damit sie ihre Fahrt nach Regent Gate verheimlicht; beide wollen sagen, daß sie die Pause zusammen im Opernhaus verbrachten.«

»Und warum Sagten sie das nicht?« fragte Poirot scharf.

Japp zuckte gleichmütig die Achseln.

»Weiß ich, warum sie ihr erstes Abkommen über den Haufen warfen . ? Vielleicht, weil Ronald Marsh fürchtete, sie würde nicht imstande sein durchzuhalten. Sie ist ziemlich nervös.«

Poirot zog versonnen mit der Fußspitze das Teppichmuster nach. »Meinen Sie nicht, mon cher, es sei für Hauptmann Marsh einfacher gewesen, während der Pause sich allein fortzustehlen? Ganz still sich mit Hilfe des Schlüssels in das Haus zu schleichen, den Onkel zu töten und nach Covent Garden zurückzukehren, statt ein Taxi draußen warten zu lassen und sich mit einem nervösen Mädchen zu belasten, das jede Sekunde die Treppe herunterkommen und im ersten Schreck Unheil anrichten konnte?«

Der Inspektor grinste.

»Sie und ich, ja wir wären allein gefahren. Aber wir sind beide ein bißchen heller als Hauptmann Marsh.«

»Von dem letzteren bin ich keineswegs überzeugt. Auf mich macht er einen recht intelligenten Eindruck.«

»Kann sich seine Intelligenz etwa mit jener Hercule Poirots messen?« gab Japp lachend zurück. Und als Poirot auf diesen Scherz nicht einging, fuhr er fort: »Wenn er nicht schuldig ist, warum überredete er dann Miss Adams zu der Wette . ? Die Wette bezweckt nur das eine: den wahren Verbrecher zu schützen.«

»Darin stimme ich Ihnen vollkommen bei.«

»Gut, daß wir wenigstens in etwas übereinstimmen!«

»Sagen Sie mir mal Ihre Meinung über Carlotta Adams' Tod«, verlangte mein Freund unvermittelt.

Japp räusperte sich, ehe er erwiderte:

»Ein Unglücksfall. Freilich ein Unglücksfall, der sich zu sehr gelegener Stunde ereignete. Ronald Marsh kann seine Finger nicht dabei im Spiel haben, denn an seinem Alibi nach Theaterschluß ist nichts auszusetzen. Er saß bis ein Uhr mit den Dortheimers bei Sabranis, als sie also schon längst, längst für immer eingeschlafen war. Hätte sich dieser Unglücksfall allerdings nicht zugetragen, so würde er sie durch andere Mittel zum Schweigen gebracht haben. Erst wieder das übliche Einschüchtern - daß man sie, wenn sie die Wahrheit gestände, unweigerlich wegen Mordes verhaftete. Und dann wäre sie mit einer neuen anständigen Geldsumme bedacht worden.«

»Sind Sie sich denn klar darüber, Japp, daß Miss Adams durch ihr Schweigen eine andere Frau an den Galgen gebracht hätte?«

»Jane Wilkinson wäre nicht gehenkt worden. Die Zeugenaussagen von Sir Montagues Gästen fielen zu stark in die Waagschale.«

»Aber der Mörder wußte das nicht.«

»Ah, Monsieur Poirot, Sie lieben das Philosophieren! Und jetzt sind Sie fest überzeugt, daß Ronald Marsh, das Unschuldslamm, keinem Böses zufügen kann. Glauben Sie etwa jener Mär von dem verdächtigen Mann, den er ins Haus gehen sah . ? Er hatte vorhin die Gewogenheit, mir diesen angeblichen Filmstar zu nennen: Martin Bryan. Na, was sagen Sie nun? Martin Bryan, der Lord Edgware niemals im Leben begegnete!«

»Dann mußte es Marsh um so mehr befremden, wenn dieser Mann sich mit einem Schlüssel Zutritt zum Haus verschaffte.«

»Bah!« schnaubte Japp, was bei ihm der Ausdruck höchster Verachtung bedeutete. »Also hören Sie, Monsieur Poirot: Martin Bryan ist an jenem Abend gar nicht in London gewesen. Er machte mit einer jungen Dame einen Ausflug nach Molesey, von wo die beiden erst gegen Mitternacht heimkehrten.«

»Und wer war die junge Dame? Ebenfalls eine Künstlerin?«

»Nein. Die Besitzerin eines Modesalons. Aber wozu die Umschweife? Es war Carlotta Adams, Freundin, Miss Driver. Ihre Aussage werden Sie ja wohl nicht beargwöhnen.«

»Nicht im geringsten, mein Freund.«

»Sie sind in die Enge getrieben, alter Knabe, und wissen es«, lachte der Inspektor. »Niemand ging in das Haus Nr. 17 oder in eins der beiden Nachbarhäuser - und das beweist? Daß der neue Lord Edgware ein Lügner ist.«

Japp erhob sich - ein Mensch, mit sich und der Welt zufrieden. Und diese Zufriedenheit vermochte auch Poirots nächste Frage nicht zu erschüttern.

»Wer ist D., Paris, November?«

»Wahrscheinlich ein längst vergessener Freund. Muß denn ein Erinnerungsstück, das das Mädchen vor sechs Monaten bekam, durchaus mit diesem Verbrechen zu tun haben?«

»Vor sechs Monaten«, murmelte Poirot. »Dieu, que je suis bete!« rief er plötzlich mit funkelnden Augen.

»Was sagt er?« fragte der Inspektor, der kein Französisch verstand.

»Hören Sie mich an!« Poirot hatte sich erhoben und klopfte bei jedem Wort auf Japps Brustkasten. »Warum erkannte Miss Adams' Mädchen die Dose nicht wieder? Warum erkannte sie auch Miss Driver nicht?«

»Ich verstehe nicht, was .«

Schon setzte das Hämmern gegen die Brust wieder ein.

»Weil die Dose neu war! Man hatte sie ihr gerade erst geschenkt. Paris, November - das mag das Datum sein, an welches die Dose erinnern soll. Jedoch als Geschenk erhielt Carlotta sie erst jetzt. Nicht damals, Japp. Ganz kürzlich wurde sie gekauft! Forschen Sie nach, mein guter, lieber Japp, ich flehe Sie an. Wahrscheinlich kaufte man sie in Paris. Wäre sie hier gekauft worden, so hätte sich nach den Bekanntmachungen in den Zeitungen irgendein Juwelier bei der Polizei gemeldet. Ja, ja, Paris. Kundschaften Sie das aus, scheuen Sie keine Mühe, Japp. Ich muß unbedingt wissen, wer der geheimnisvolle D. ist.«

»Ich bin zwar nicht so neugierig wie Sie«, lachte der Inspektor gutmütig. »Doch warum soll ich Ihnen den Gefallen nicht tun? Je mehr wir erfahren, desto besser.«

Und mit einem fröhlichen Nicken für uns beide ging er zur Tür.

23

»Auf, auf, zum Lunch!« rief mein kleiner Freund.

Er schob seine Hand durch meinen Arm und blickte mich lächelnd an.

»Hastings, ich habe Hoffnung.«

Wie freute ich mich, daß er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte .! Durch Japps Argumente vermutlich zu einer anderen Ansicht bekehrt, glaubte er - genau wie ich - jetzt ebenfalls an Ronalds Schuld, und die Suche nach dem Käufer der Golddose war vielleicht eine letzte Ausflucht, um sich einen einigermaßen guten Abgang zu sichern.

In vollster Harmonie gingen wir zusammen zum Lunch.

Als wir uns an einem Tisch niederließen, bemerkte ich am anderen Ende des Saals Martin Bryan und Jenny Driver. Ei, ei! Sollte sich zwischen den beiden etwa ein kleiner Roman entspinnen . ? Jetzt hatten sie uns erblickt, und Jenny winkte uns mit der Hand einen Gruß zu.

Später, während man uns den Kaffee servierte, verließ sie ihren Begleiter und kam, so lebendig und energiegeladen wie nur je, zu uns herüber.

»Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen, Monsieur Poirot?«

»Ich bin entzückt, Sie zu sehen, Mademoiselle. Will Monsieur Bryan uns nicht auch das Vergnügen machen?«

»Nein. Ich bat ihn, drüben zu bleiben, weil ich mit Ihnen über Carlotta sprechen möchte. Sie haben mich damals gefragt, ob nicht irgendein Mann ihrem Herzen nähergestanden habe. Erinnern Sie sich, Monsieur Poirot?«

»Ja, ja.«

»Nun, ich habe tagelang gegrübelt. Bisweilen muß man, um ein klares Bild zu gewinnen, sich eine Menge geringfügiger Worte und Sätze, denen man früher keine Beachtung schenkte, ins Gedächtnis zurückrufen. So habe ich's auch gemacht und bin schließlich zu einem gewissen Ergebnis gekommen.«

»Ja, Mademoiselle?«

»Ich glaube, der Mann, der sie fesselte - oder besser gesagt, zu fesseln begann -, war Ronald Marsh, der jetzige Lord Edgware.«

»Woraus schließen Sie das, Mademoiselle?«

»Eines Tages sprach Carlotta ganz im allgemeinen, daß Pech und Unglück ungünstig auf den Charakter eines Mannes wirkten, daß er im Grunde seines Herzens ein wirklich anständiger Kerl sein und es dennoch mit ihm bergab gehen könne. Mehr ein Opfer der Sünde anderer, als selbst sündigend -Sie verstehen wohl, Monsieur Poirot? Ich habe die alte Weise so oft von Frauen gehört! Und als die kluge, verständige Carlotta sie wie eine junge Nachtigall, die nichts vom Leben weiß, ebenfalls zu flöten begann, sagte ich mir: Halt, da stimmt was nicht . ! Wohlverstanden, sie erwähnte keinen Namen. Jedoch fast unmittelbar darauf kam sie auf Ronald Marsh zu sprechen, meinte, daß er schlecht behandelt worden sei. Sie sagte es ohne leidenschaftliche Anteilnahme, so daß ich damals keinen Zusammenhang argwöhnte. Aber jetzt? Jetzt neige ich zu dem Glauben, daß auch die erste Bemerkung auf Ronald gemünzt war. Was denken Sie, Monsieur Poirot?« Mit eindringlichem Ernst hing ihr Blick an seinem Gesicht.

»Ich denke, Mademoiselle, daß Sie mir da vielleicht eine sehr wertvolle Auskunft gegeben haben.«

»Prächtig!« Jenny schlug erfreut die Hände zusammen.

»Es ist Ihnen vermutlich noch nicht bekannt, Mademoiselle, daß der betreffende Herr gerade verhaftet worden ist?« »Oh!« Ihr kleiner roter Mund flog vor Überraschung auf und zeigte eine tadellose weiße Zahnreihe. »Oh! Dann komme ich mit dem Ergebnis meines Grübelns reichlich spät!«

»Zu spät ist es nie, Mademoiselle. Ich danke Ihnen.«

Sie verabschiedete sich von uns und kehrte zu Martin Bryan zurück.

»Nun, Poirot«, sagte ich, »das versetzt Ihrem Glauben wohl den letzten Stoß?«

»Im Gegenteil, Hastings - es stärkt ihn.«

Ungeachtet dieser tapferen Behauptung hatte ich das Gefühl, daß Poirot im geheimen schon zu Japp übergeschwenkt sei.

Im Verlauf des nächsten Tages erwähnte er den Edgware-Fall mit keiner Silbe. Wenn ich die Sache anschnitt, antwortete er einsilbig und ohne Anteilnahme. Mit anderen Worten: Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Welche Ideen auch in seinem wunderlichen Hirn gekeimt haben mochten, nunmehr sah er sich gezwungen, sie als Wahngebilde zu bezeichnen und sich einzugestehen, daß seine erste Auffassung, die Ronald Edgware der Tat bezichtigte, die richtige gewesen war. Doch da er Hercule Poirot hieß, konnte er die Sachlage nicht offen zugeben, sondern tat so, als sei der Fall für ihn reizlos geworden.

So deutete ich wenigstens seine Haltung.

Aber vierzehn Tage später, als wir eines Morgens beim Frühstück saßen, wurde ich mir meines ungeheuren Irrtums bewußt. Neben Poirots Gedeck lag der gewohnte ansehnliche Stapel Briefe, den er mit flinken Händen durchging. Und plötzlich äußerte er einen Laut der Befriedigung und behielt einen Brief mit amerikanischer Marke in der Hand.

Ohne Hast schnitt er ihn auf und entnahm dem Umschlag ein Schreiben und eine ziemlich dicke Beilage.

Zweimal las er das erstere, ehe er mich fragte:

»Wollen Sie auch Einblick nehmen, Hastings?«

Natürlich bejahte ich, obwohl ich weder wußte, wer der Schreiber noch welches der Herkunftsort war. Und ich las das folgende:

Sehr geehrter Monsieur Poirot!

Ihre gütigen Worte haben mir so wohl getan in all dem Ungemach. Außer dem furchtbaren Kummer, der an meinem Herzen nagt, leide ich unter den Verdächtigungen und Mutmaßungen, die sich an Carlottas Person knüpfen - Carlottas, dieser treuesten, süßesten Schwester, die je ein Mädchen gehabt hat. Nein, Monsieur Poirot, sie nahm kein Rauschgift, ich bin dessen sicher. Sie hatte ein Grauen vor dergleichen Lastern, wie sie mir häufig erklärte.

Und wenn sie eine Rolle bei der Ermordung des Ärmsten gespielt hat, so tat sie es in voller Unschuld ... ihr Brief an mich beweist das ja schon. Ich sende Ihnen denselben, weil Sie mich darum bitten, obwohl es mir unsagbar schwerfällt, mich von den letzten Zeilen, die ihre liebe, gute Hand schrieb, zu trennen. Aber ich habe das feste Vertrauen, daß Sie den Brief wie einen Schatz hüten und mir zurücksenden werden, wenn Sie ihn nicht mehr benötigen. Wie dürfte ich ihn Ihnen vorenthalten, wenn er, wie Sie meinen, vielleicht hilft, das Rätsel um Carlottas Tod zu lösen?

Sie fragen mich, ob Carlotta in ihren Briefen irgendeinen Freund besonders erwähnt habe. Natürlich nannte sie eine Menge Leute, aber keinen hob sie auffällig hervor. Martin Bryan, den wir vor vielen Jahren kennenlernten; ein junges Mädchen, namens Jenny Driver, und ein Hauptmann Ronald Marsh sind diejenigen, mit denen sie wohl am meisten verkehrte.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie behilflich sein. Sie schreiben mir so lieb und mit solchem zartfühlenden Verständnis, Und Sie scheinen begriffen zu haben, was Carlotta und ich einander waren.

In Dankbarkeit

Ihre Lucie Adams

P. S. Gerade ist ein Polizeibeamter wegen des Briefes bei mir gewesen. Ich gebrauchte eine Notlüge und sagte, ich hätte ihn schon an Sie abgeschickt, denn ich denke, daß Sie Wert darauf legen, ihn als erster zu sehen. Mir scheint, Scotland Yard will ihn als Beweismaterial gegen den Mörder benutzen. Bitte, lieber verehrter Monsieur Poirot, sorgen Sie dafür, daß ich ihn wiederbekomme. Bedenken Sie, es sind Carlottas letzte Worte an mich.

»Warum haben Sie ihr geschrieben?« forschte ich, als ich den Briefbogen niederlegte. »Und warum verlangten Sie das Original, nachdem Ihnen der Inhalt schon übermittelt wurde?«

Er beugte den Kopf über die beigefügten Seiten.

»Einen richtigen Grund vermöchte ich Ihnen nicht zu nennen, Hastings«, gestand er. »Es sei denn, daß ich mich in der völlig ungerechtfertigten Hoffnung wiegte, der Originalbrief könnte irgendwie das Unerklärliche erklären.«

»Wie soll er das ...? Carlotta Adams gab ihn ihrem Mädchen eigenhändig zur Beförderung - ein Hokuspokus ist mithin nicht mit ihm getrieben worden. Und außerdem liest er sich sicherlich wie ein vollkommen echter, gewöhnlicher Brief.«

Poirot seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Und das macht es eben so schwierig. Denn so, Hastings, wie es da schwarz auf weiß steht, ist jener Brief unmöglich.«

»Unsinn!«

»Si, si. So, wie ich alles durchdacht habe, müssen gewisse Dinge sein - mit Regel und Methode folgen sie einander in klar verständlicher Form. Aber dann kommt dieser Brief. Er ist nicht in Einklang zu bringen mit allem anderen. Wer hat also unrecht? Hercule Poirot oder der Brief?« »Sie glauben nicht, daß es Hercule Poirot sein könnte?« deutete ich so zart wie möglich an.

Mein Freund warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Es hat Fälle gegeben, in denen ich mich irrte - aber dieser gehört nicht zu ihnen. Rund heraus, Hastings: da der Brief unmöglich erscheint, ist er unmöglich. In ihm gibt es irgendeine Tatsache, die uns vorderhand noch entgeht, und ich werde nicht ruhen und nicht rasten, bis ich sie entdeckt habe.«

Und hierauf widmete er sich unter Benutzung eines kleinen Taschenmikroskops dem Studium des fraglichen Briefes. Jede Seite, mit der er fertig war, reichte er mir. Aber ich konnte nichts Verfängliches entdecken. Der Brief, in einer großen, festen, deutlichen Handschrift geschrieben, wich in keinem Wort von dem gekabelten Text ab.

»Nichts von Fälschungen irgendwelcher Art!« stöhnte Hercule Poirot verzweifelt. »Sämtliche Zeilen sind von derselben Hand geschrieben worden. Und dennoch beharre ich bei meiner Behauptung: es ist unmöglich .«

Er brach ab und verlangte barsch die Seiten von mir zurück. Wiederum ging er sie der Reihe nach durch.

Ich war vom Frühstückstisch aufgestanden, ans Fenster getreten und schaute auf das morgendliche Getriebe in der Straße hinab. Da hörte ich hinter mir einen Schrei, so daß ich mich hastig umwandte.

Zitternd vor Erregung wies Poirot auf die Seiten.

»Sehen Sie, Hastings ...? Nun kommen Sie doch und schauen Sie her!«

Ich lief zum Tisch zurück. Vor ihm lag einer der mittleren Briefbogen, den ich genauso nichtssagend fand wie die übrigen.

»Sehen Sie nicht, daß alle die anderen Seiten einen glatten Rand haben? Es sind einzelne Blockseiten, Hastings. Dieser jedoch ist hier links zackig und uneben - er wurde durch-gerissen. Erfassen Sie immer noch nicht die Bedeutung ...? Dies war ein Doppelbogen, und folglich - begreifen Sie jetzt endlich? - fehlt eine ganze Briefseite.«

Sicherlich habe ich ein sehr dummes Gesicht gemacht.

»Aber wie kann das sein ...? Das hat doch keinen Sinn.«

»Doch, doch, es hat Sinn. Da setzt eben die Gerissenheit des Vorhabens ein. Lesen Sie, und Sie werden sehen! Verstehen Sie immer noch nicht, nein .? Dann werde ich es Ihnen erklären«, sagte Poirot. »Hier unten auf diesem Einzelblatt spricht Carlotta von Hauptmann Marsh, den sie herzlich bedauert und von dem sie weiterhin schreibt: >Er zollt meiner Vorstellung ebenfalls das größte Lob, er ... < Dann fährt sie, auf der neuen Seite, fort: >sagte ...< Aber, mein Freund, eine Seite fehlt. Und daher bezieht sich das Wort >sagte< der neuen Seite gar nicht auf das >er< der vorhergehenden. Es ist ein ganz anderer Mann, der jenen Scherz vorschlug. Beachten Sie, Hastings, daß in dem folgenden nirgends der Name erwähnt wird. Ah, c'est epatant! Irgendwie bekommt unser Mörder den Brief, der ihn verrät, zu Gesicht, und ohne Zweifel gedenkt er ihn gänzlich zu unterschlagen. Doch als er ihn liest, sieht er einen anderen Ausweg. Entfernt man die eine Seite, so wird der Brief zu einer vernichtenden Anklage für einen anderen Mann - einen Mann obendrein, dem der Tod Lord Edgwares ungeheure Vorteile bringt und nur lieb sein kann. Ah, das ist ein Wink des Schicksals! Eins, zwei, drei, reißt er die gefährliche Seite ab und legt den Brief an Ort und Stelle zurück.«

Ich war von der Wahrheit dieser Theorie nicht vollkommen überzeugt. Weshalb sollte Carlotta Adams nicht einen bereits losgetrennten, alten halben Bogen benutzt haben? Jedoch Poirots Gesicht war so verklärt vor Freude, daß ich es einfach nicht übers Herz brachte, diese prosaische Möglichkeit anzudeuten. Und schließlich konnte ja auch seine Meinung die richtige sein. Immerhin erlaubte ich mir, auf zwei Schwierigkeiten hinzuweisen.

»Wie geriet der Brief aber in die Hände des Mannes -gleichgültig, wie er heißt?« sagte ich. »Miss Adams nahm ihn selbst aus ihrem Koffer und gab ihn dem Mädchen zur Beförderung. Haben Sie vergessen, daß uns das Mädchen das erzählte?«

»Keineswegs. Infolgedessen gibt es zwei Mutmaßungen: Entweder log das Mädchen, oder Carlotta Adams traf sich im Lauf des Abends mit dem Mörder.«

Ich nickte, und Poirot fuhr fort:

»Mir scheint die letzte Möglichkeit die wahrscheinlichere. Wo Carlotta Adams die Zeit zwischen sieben und neun Uhr, als sie ihren Koffer im Euston-Bahnhof zur Aufbewahrung gab, verbracht hat, wissen wir noch nicht. Meine persönliche Ansicht geht dahin, daß sie sich mit dem Mörder traf, mit ihm zusammen irgendwo aß, wobei er ihr die letzten Verhaltungsmaßregeln einschärfte. Vielleicht trug sie den Brief dabei in der Hand, um ihn zur Post zu geben, vielleicht legte sie ihn im Restaurant auf den Tisch, so daß der Mörder die Adresse las und Gefahr witterte. Dann mag er ihn gewandt an sich gebracht haben, ist unter irgendeiner Entschuldigung vom Tisch aufgestanden, hat ihn draußen gelesen, die Seite entfernt und ihn hinterher wieder verstohlen auf den Tisch gelegt oder ihn ihr beim Abschied wiedergegeben, mit dem Bemerken, daß sie ihn, ohne es zu gewahren, fallen gelassen hätte. Es ist nicht wichtig, wie er es einrichtete, Hastings, sondern wichtig ist, daß Carlotta den Verbrecher an jenem Abend entweder vor der Ermordung Lord Edgwares oder hinterher traf. Und ich habe die Ahnung -obwohl ich mich täuschen kann -, daß der Mörder ihr die Golddose schenkte, vielleicht als sentimentale Erinnerung an ihre erste Begegnung. In diesem Fall ist D. der Mörder.«

»Ich sehe nicht den Zweck der Golddose.«

»Hören Sie zu, mon cher: Carlotta Adams war nicht dem Veronal verfallen, sie war ein klaräugiges, gesundes Mädchen.

Das ist meine Überzeugung, die durch Lucie Adams bestätigt wird. Keiner aus ihrem Freundeskreis kannte die Dose. Weshalb findet man sie dann, nachdem sie starb, in ihrem Besitz? Weshalb? Weil der Eindruck erweckt werden soll, daß sie Veronal nahm, und zwar schon mindestens sechs Monate lang. Nehmen wir an, daß sie sich nach dem Mord nur zehn, fünfzehn Minuten getroffen und, um Carlottas Erfolg zu feiern, irgend etwas getrunken haben. Dann hat er hierbei in ihr Glas die Menge Veronal geschüttet, die einen ewigen Schlaf garantierte.«

»Gräßlich«, sagte ich schaudernd.

»Ja, nett war es nicht.«

»Wollen Sie Japp dies alles erzählen?«

»Im gegenwärtigen Augenblick nicht. Was würde er mir denn antworten, der gute Japp? >Ein neues Hirngespinst! Das Mädchen schrieb auf einen alten halben Bogen - basta!< C'est tout.« Schuldbewußt blickte ich zu Boden. »Bedenken Sie nur, Hastings, wenn dem Mörder Ordnung und Methode lieb gewesen wären! Dann hätte er die Seite schön säuberlich abgeschnitten und nicht gerissen, und wir würden nichts gemerkt haben. Rein gar nichts!«

»Während wir so folgern, daß er ein Mann von unachtsamen, liederlichen Gewohnheiten ist«, ergänzte ich lächelnd.

»Nein, nein, das hieße vorschnell urteilen«, wehrte Poirot. »Er kann in rasender Eile gewesen sein. Sie sehen hier oben an der linken Ecke, wo sogar ein Stückchen fehlt, wie flüchtig die Seite abgerissen wurde. Und jetzt besteht unsere Aufgabe darin, nach jemandem zu fahnden, dessen Name oder auch Spitzname mit D beginnt.«

24

Am folgenden Tag wurde uns zu unserer Überraschung Geraldine Marsh gemeldet. Sie sah, wenn möglich, noch bleicher aus als sonst, und unter den großen, dunklen Augen lagen schwarze Ringe, als hätte sie seit Wochen nicht geschlafen. Und wie herzzerreißend müde und vergrämt war ihr Gesicht!

Armes Kind! dachte ich, als ich einen Sessel für sie zurechtrückte.

»Ich komme zu Ihnen, Monsieur Poirot, weil ich es einfach nicht länger ertrage. Oh, wenn Sie wüßten, wie die Angst um Ronald mich foltert!«

»Ja, Mademoiselle?«

»Er erzählte mir, was Sie damals zu ihm gesagt haben - ich meine an dem furchtbaren Tag seiner Verhaftung.« Sie schauderte. »Ist es wahr, daß Sie in dem Augenblick, als er nur Zweifler um sich zu sehen glaubte, auf ihn zutraten und erklärten: >Ich glaube Ihnen

»Ja, so sagte ich.«

»Nicht darauf kommt es mir an. Ich will wissen, ob der Satz Ihrer ehrlichen Überzeugung entsprang ... ob Sie seine Schilderung wirklich glaubten.«

Die Hände ineinander verkrampft, lehnte sie sich weit nach vorn, und ihre Blicke hingen an Poirot.

»Mademoiselle, ich glaube nicht, daß Ihr Vetter Lord Edgware tötete«, entgegnete mein Freund ruhig.

»Oh!« Plötzlich rötete sich ihr Gesicht. »Dann müssen Sie denken, daß ... daß es jemand anders war.«

»Evidemment, Mademoiselle«, erwiderte Poirot und lächelte verbindlich.

»Verzeihung . ich bin dumm. So sollte meine Frage ja nicht lauten; ich habe mich unbeholfen ausgedrückt, Monsieur Poirot. Ahnen Sie, wer der Täter ist?«

»Natürlich habe ich meine kleinen Ideen. Einen gewissen Verdacht, wie man zu sagen pflegt.«

»Wollen Sie mich nicht einweihen? Bitte, bitte!«

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn ich nur ein bißchen mehr wüßte!« flehte das junge Mädchen. »Es würde mir wieder Mut geben. Und vielleicht wäre ich imstande, Ihnen zu helfen. Oh, Monsieur Poirot, sprechen Sie doch!«

Ihr Flehen griff ans Herz, aber nichtsdestoweniger blieb mein Freund bei seiner Weigerung.

»Die Herzogin von Merton ist auch jetzt noch überzeugt, daß meine Stiefmutter den Mord beging«, sagte Geraldine Marsh nachdenklich und streifte Poirot dabei mit einem raschen fragenden Blick. »Doch ich wüßte nicht, wie das möglich wäre.«

»Darf ich Ihre Meinung über Ihre Stiefmutter wissen, Mademoiselle?«

»Nun - ich kenne sie kaum. Als mein Vater sich mit ihr verheiratete, war ich in Paris auf der Schule. Verbrachte ich meine Ferien daheim, so behandelte sie mich ganz nett. Oder um es beim richtigen Namen zu nennen: Sie nahm von meiner Anwesenheit keinerlei Notiz. Ich hielt sie für sehr dumm und gewinnsüchtig.«

Poirot nickte. »Sie erwähnten soeben die Herzogin von Merton. Mademoiselle. Haben Sie sie oft gesehen?«

»Ja. Sie hat sich während der letzten vierzehn Tage in der rührendsten Weise um mich gekümmert. Vielleicht hätte ich ohne sie das Ganze gar nicht ertragen - die Vernehmungen, die Reporter, Ronald im Gefängnis . Ich wurde mir jetzt erst so recht bewußt, daß ich keine wirklichen Freunde habe. Aber die Herzogin war unbeschreiblich gut, und auch ihr Sohn ist nett zu mir gewesen.«

»Mögen Sie ihn gern?«

»Er ist scheu und steif und schwer zugänglich. Doch da seine Mutter fast stets von ihm spricht, habe ich das Gefühl, daß ich ihn besser kenne, als es eigentlich der Fall ist.«

»Ich verstehe. Wie gefällt Ihnen Ihr Vetter, Mademoiselle?«

»Ronald? Ich mag ihn sehr, sehr gern. Leider haben wir uns während der letzten beiden Jahre wenig gesehen; aber als er noch bei uns im Haus lebte - ach, wie war das schön! Immer war er lustig und guter Dinge, immer zu einem Spaß aufgelegt. Wie ein Sonnenstrahl, der etwas Licht in unser düsteres Haus brachte, kam er mir vor.«

»Nicht wahr, Sie wünschen nicht, daß er gehenkt wird?« fragte Poirot, und ich zuckte ein wenig zusammen, weil mich die Frage roh und nebenbei recht überflüssig dünkte.

»Nein, nein«, gab das Mädchen unter heftigem Zittern zurück. »Oh, wenn es doch meine Stiefmutter gewesen wäre! Die Herzogin sagt, sie muß es gewesen sein.«

»Ja«, sagte mein Freund weich, »es ist ein Jammer, daß Hauptmann Marsh nicht draußen bei dem Taxi stehenblieb, weil dann der Chauffeur beeiden könnte, daß er Ihr Haus nicht betrat.«

Sie neigte den Kopf. Die Tränen, die sie bislang mühsam zurückgehalten hatte, liefen die blassen Wangen herab und fielen ungehindert in ihren Schoß. Poirot nahm behutsam die kleine, schmale Mädchenhand.

»Ich soll ihn für Sie retten, nicht wahr?«

»Ja, ja. O bitte, retten Sie ihn. Sie wissen nicht ...«

»Mademoiselle, Sie haben kein leichtes Dasein gehabt, ich weiß es sehr wohl«, unterbrach er sie ernst. »Nein, es ist bei Gott nicht leicht gewesen ... Hastings, wollen Sie für Mademoiselle ein Taxi besorgen?«

Ich geleitete Geraldine Marsh hinunter. Sie hatte sich inzwischen gefaßt und dankte mir, als ich die Tür des Wagens schloß, mit ein paar freundlichen, netten Worten.

Oben wanderte Poirot, die Stirn in zahllose Falten zerknittert, ruhelos im Zimmer auf und ab. Ich sah, wie unglücklich er sich fühlte, und begrüßte daher das laute Gellen des Telefons als eine willkommene Ablenkung.

»Hier Poirot. Ah, Sie sind's, Japp? Bonjour, mon ami.«

»Was hat er wohl zu melden?« flüsterte ich, mich näher an den Apparat drängend.

Schließlich sagte Poirot, nachdem er sich eine geraume Zeit mit einsilbigen Ausrufen begnügt hatte:

»Ja, und wer holte sie ab?«

Die Antwort schien ihn zu enttäuschen.

»Sind Sie sicher, Japp?«

».. «

»Comment?«

»Nein, es ist nur etwas unerwartet. Ich muß mich umstellen.«

».. «

»Das ist gleich. Die Hauptsache, daß ich recht hatte, mon cher! Richtig, richtig, eine kleine Einzelheit.«

».. «

»Nein. Ich bin nach wie vor derselben Ansicht. Stellen Sie Nachforschungen in den Restaurants in der Nachbarschaft von Regent Gate und Euston an. Tottenham Court Road und vielleicht Oxford Street.«

».. «

»Ja, ein Mann und eine Frau. Und ebenfalls in der Umgegend des Strands, kurz vor Mitternacht. Comment?«

».. «

»Aber ja. Ich weiß, daß Hauptmann Marsh mit den Dortheimers zusammensaß. Es gibt doch außer Hauptmann Marsh aber auch noch andere Leute in der Welt.«

».. «

»Dickschädelig ...? Tout de meme, tun Sie mir den Gefallen. Schön, schön. Also besten Dank im voraus.«

Er legte den Hörer auf seinen Platz.

»Nun, was Gutes?« forschte ich ungeduldig.

»Weiß ich, ob es was Gutes ist? Jedenfalls aber wurde die Golddose in Paris gekauft. Auf eine briefliche Bestellung hin hat sie ein sehr bekanntes Pariser Geschäft angefertigt. Der Brief ist von einer Lady Constancy Ackerley unterzeichnet worden und kam zwei Tage vor dem Mord an. Die Dame betonte, daß die Dose mit Initialen und Gravierung am nächsten Tag fertig sein müsse und abgeholt werden würde, das heißt also am Tag vor der Tat. Im übrigen gibt es eine Lady Constancy Ackerley nicht, mein Lieber, der Name wurde wohl gewählt, damit die Initialen passen sollten.«

»Und man holte die Dose tatsächlich ab?«

»Ja. Die Bezahlung erfolgte in Banknoten.«

»Wer holte sie ab?« erkundigte ich mich erregt, denn ich fühlte, daß wir uns der Wahrheit näherten.

»Eine Frau, Hastings.«

»Eine Frau?«

»Mais oui. Eine Frau mittleren Alters, die einen Kneifer trug.«

Sprachlos schaute ich meinen Freund an. Aber auch dessen Weisheit war zu Ende.

25

Ich glaube, es war am dritten Tag nach diesem Besuch, als wir uns zum Lunch zu den Widburns nach Claridge begaben.

Weder Poirot noch ich legten auf diese Gesellschaft Wert. Aber nachdem wir bereits sechs Einladungen abgelehnt hatten, ließ uns die beharrliche Mrs. Widburn, die gern Berühmtheiten bei sich empfing, zwischen so viel Tagen die Wahl, daß die Kapitulation unvermeidlich wurde.

Poirot zeigte sich seit dem Eintreffen der Pariser Nachricht äußerst wortkarg. Auf meine Bemerkungen gab er stets die gleiche Antwort:

»Da ist etwas, das ich nicht begreife.« Und ein- oder zweimal hörte ich ihn im finsteren Selbstgespräch murmeln: »Ein Kneifer in Paris, ein Kneifer in Carlotta Adams' Handtäschchen ...«

Schließlich kam ich so weit, Mrs. Widburns Lunch als eine sehr gelegene Zerstreuung zu betrachten.

Der junge Ross befand sich auch unter den Eingeladenen. Er kam sofort auf mich zu, um mich mit ein paar lustigen Worten zu begrüßen, und da Mrs. Widburn mehr Herren als Damen gebeten hatte, wurde er mein Tischnachbar.

Uns beinahe gegenüber saß Jane Wilkinson und neben ihr der junge Herzog von Merton, während die Hausherrin den Platz an seiner anderen Seite einnahm.

Bildete ich es mir ein, oder sah er wirklich etwas krank aus . ? Die Gesellschaft, die ihn umgab, konnte schwerlich seinen Neigungen entsprechen. Streng konservativ, um nicht zu sagen reaktionär, schien der junge Mann durch einen bedauernswerten Irrtum aus dem Mittelalter in unsere heutige Zeit versetzt worden zu sein, und seine Vernarrtheit in die moderne Jane Wilkinson war einer jener anachronistischen Scherze, in denen sich die Natur gefällt.

Beim Anblick von Janes Schönheit und unter dem Bann ihrer seltsam heiseren Stimme, die auch den abgedroschensten Sätzen einen Charme verlieh, wunderte mich seine Unterwerfung freilich nicht. Allein man kann sich an die vollendetste Schönheit und die betörendste Stimme gewöhnen! Es schoß mir durch den Sinn, daß vielleicht gerade eben ein Strahl gesunder Einsicht die Nebel berauschender Liebe zerteilte. Eine zufällige Bemerkung - eine ziemlich beschämende Blöße, die sich Jane gab, rief diesen Eindruck hervor. Irgend jemand - wer es war, habe ich vergessen - hatte in der Unterhaltung die Redensart »das Urteil des Paris« gebraucht, und gleich darauf meldete sich Jane Wilkinsons köstliche Stimme.

»Paris?« sagte sie. »Auf Paris kommt es heutzutage nicht mehr an. Maßgebend sind London und New York.«

Die Worte fielen, wie es bisweilen vorkommt, in eine vorübergehende Unterhaltungspause. Und hierdurch steigerte sich das Peinliche der Lage. Zu meiner Rechten hörte ich Ross einen kurzen, erschreckten Atemzug tun, Mrs. Widburn begann eifrig über das russische Ballett zu sprechen. Jedermann sagte hastig irgend etwas zu irgendwem.

Nur Jane schaute heiter die Tafel auf und ab, ohne im mindesten das Bewußtsein zu haben, daß ihr ein böser Schnitzer unterlaufen sei.

Mein Blick fiel auf den Herzog, seine Lippen waren fest zusammengepreßt, eine Röte der Verlegenheit färbte seine Wangen, und mir wollte es scheinen, als zöge er sich ein paar Zentimeter von Jane zurück. Ihn mußte wohl eine Ahnung überkommen haben, daß für einen Mann seiner Stellung die Ehe mit einer Jane Wilkinson manche Widrigkeiten nach sich ziehen könne.

In meiner Betroffenheit richtete ich an meine Nachbarin zur Linken, eine adelige Dame, die sich auf dem Gebiet der Kinderfürsorge hervortat, die erste beste Frage. Ich erinnere mich, daß sie lautete: Wer ist diese unglaublich aufgetakelte Frau in Purpurrot dort unten am Ende des Tisches? Natürlich war sie die Schwester meiner Nachbarin . ! Nachdem ich hundert Entschuldigungen gestammelt hatte, drehte ich mich zur Seite und schwatzte mit Ross, der mir einsilbig antwortete.

Von links und rechts zurückgewiesen, blickte ich die Tafel entlang und entdeckte Martin Bryan, dessen Anwesenheit mir vorher entgangen war. Er lehnte sich vornüber, plauderte angeregt mit einer hübschen blonden Frau und sah viel jünger, blühender und gesünder aus als bei unserem letzten Beisammensein.

Es fehlte mir an Zeit, ihn weiter zu beobachten, denn meine linke Nachbarin verzieh mir und erlaubte mir gnädigst, einem langen Monolog über die Schönheit einer Kindermatinee zu lauschen, die sie zum Besten skrofulöser Säuglinge veranstaltete. Hercule Poirot brach früher auf als ich. Er untersuchte neuerdings das seltsame Verschwinden der Stiefel eines ausländischen Diplomaten und hatte für halb drei Uhr eine Verabredung getroffen. Mir lag es ob, ihn wegen seines raschen Aufbruchs bei Mrs. Widburn zu entschuldigen. Während ich mich dieser nicht leichten Aufgabe - denn die Dame war von Freunden umringt, die in überschwenglichen Worten ihren Dank für die entzückenden Stunden ausdrückten - zu entledigen versuchte, berührte jemand meinen Arm.

Es war Ross.

»Ist Monsieur Poirot nicht mehr da? Ich wollte ihn sprechen.«

Ich erklärte, daß mein Freund kurz zuvor weggegangen sei, was den jungen Schauspieler sichtlich in Bestürzung versetzte. Als ich ihn daraufhin näher ansah, bemerkte ich die tiefe Erregung, die er kaum zu meistern vermochte.

»Wollten Sie ihn persönlich sprechen?« fragte ich.

Er entgegnete langsam, unschlüssig: »Ich ... weiß nicht.«

Welch wunderliche Antwort.

»Es klingt verrückt, nicht wahr?« meinte Ross, der meine Gedanken erraten zu haben schien. »Als Entschuldigung kann ich nur angeben, daß sich etwas ganz Sonderbares ereignet hat, etwas, für dessen Erklärung mein Verstand nicht ausreicht. Ich hätte so gern Monsieur Poirots Ansicht darüber gehört. Weil . ja, sehen Sie, Hauptmann Hastings, ich weiß nicht, was ich machen soll . ich möchte ihn nicht belästigen, aber .«

Er blickte mich so hilfesuchend, so verzweifelt an, daß ich ihn schnell beruhigte.

»Poirot mußte eine Verabredung einhalten. Um fünf jedoch gedachte er zurück zu sein. Wollen Sie ihn dann nicht anläuten oder selber kommen?«

»Ah! Besten Dank, Hauptmann Hastings. Ich glaube, ich werde das letztere vorziehen. Also um fünf?«

»Telefonieren Sie lieber erst, damit Sie den Weg nicht umsonst machen«, riet ich.

»Richtig. Verstehen Sie, Hastings, was ich mit ihm besprechen möchte, ist vielleicht von ungeheurer Wichtigkeit.«

Ich nickte und wandte mich wieder dorthin, wo Mrs. Widburn honigsüße Worte und schlaffe Händedrücke verteilte.

Als ich meiner Pflicht genügt hatte, schlenderte ich zu Fuß durch den Park heimwärts. Gegen vier kam ich zu Haus an. Poirot war noch nicht da, sondern erschien erst zwanzig Minuten vor fünf, vergnügt schmunzelnd.

»Ich sehe, Sherlock Holmes, daß Sie die diplomatischen Stiefel aufgespürt haben«, sagte ich.

»Ja. Es handelte sich um einen sehr schlau eingefädelten Kokainschmuggel. Die letzte Stunde habe ich in einem DamenSchönheitssalon zugebracht, den ein Mädchen mit kastanienbraunem Haar leitet, das Ihr empfängliches Herz sofort entzündet hätte.«

Mein Freund lebt in dem unausrottbaren Wahn, daß ich kastanienbraunem Haar gegenüber rettungslos verloren bin, und ich wußte, daß jede Verwahrung meinerseits zwecklos war. Überdies kam das Klingeln des Telefons meiner Antwort zuvor.

»Das wird Ross sein«, bemerkte ich, während ich zu dem Apparat ging.

»Ross?«

»Ja, der junge Mann, den wir in Chiswick kennenlernten. Ihm liegt sehr daran, Sie zu sprechen.«

Ich legte den Hörer ans Ohr. »Hallo! Hier Hauptmann Hastings.«

»Ist Monsieur Poirot zurückgekommen?« fragte Ross' Stimme.

»Ja. Wollen Sie die Sache telefonisch erledigen, oder dürfen wir Sie hier erwarten?«

»Es sind nur ein paar Worte, Hauptmann Hastings. Die kann ich ihm ebensogut telefonisch sagen.«

»Dann bleiben Sie bitte am Apparat.«

Poirot nahm mir den Hörer aus der Hand. Ich blieb so dicht neben ihm stehen, daß ich die Stimme des jungen Schauspielers schwach noch vernahm. »Monsieur Poirot?« fragte sie eifrig.

»Jawohl, ich bin's selbst.«

»Entschuldigen Sie die Störung. Aber ich möchte Ihnen etwas mitteilen in bezug auf Lord Edgwares Tod. Etwas Merkwürdiges .«

Sofort nahmen Hercule Poirots Züge den Ausdruck gespannter Erwartung an.

»Fahren Sie fort, fahren Sie fort!«

»Ihnen wird es wahrscheinlich dumm und unsinnig erscheinen.«

»Nein, nein. Sagen Sie es mir trotzdem.«

»Als man heute bei Tisch von Paris sprach, fiel mir eine Binde von den Augen. Sehen Sie, Monsieur ...« Ganz matt hörte ich den hellen Ton einer Klingel.

»Eine Sekunde«, bat Ross. Dann kam das dumpfe Geräusch des aus der Hand gelegten Hörers über die Leitung bis zu uns.

Wir warteten. Poirot am Telefon, ich neben ihm.

Wir warteten weiter .

Zwei Minuten vergingen . drei . vier . fünf Minuten.

Unbehaglich bewegte Poirot die Füße. Jetzt sah er auf die Uhr. Hierauf ließ er die Telefongabel auf- und niederschnellen und sprach mit dem Fräulein vom Amt.

»Die Verbindung besteht nach wie vor«, wandte er sich zu mir, »und der Hörer ist am anderen Ende noch nicht wieder aufgelegt worden. Jedoch man bekommt keine Antwort. Schnell, Hastings, schlagen Sie Ross' Adresse im Telefonbuch auf. Wir müssen unverzüglich zu ihm fahren.«

26

Wenige Minuten später sprangen wir in ein Taxi. »Ich fürchte, Hastings«, sagte Poirot, dessen Gesicht sehr ernst war, »ich fürchte .«

»Sie glauben doch nicht etwa ...«, unterbrach ich.

»Wir haben es mit einem Gegner zu tun, der bereits zweimal zum Schlag ausholte und der auch vor dem dritten Schlag nicht zurückweichen wird. Er windet und dreht sich wie eine um ihr Leben kämpfende Ratte, mon ami. Ross ist eine Gefahr, und deshalb wird er ausgelöscht werden.«

»Ob das, was er Ihnen sagen wollte, wirklich so wichtig war?« fragte ich zweifelnd.

»Ungeheuer wichtig anscheinend.«

»Aber wie konnte das jemand wissen?«

»Hastings, Sie haben mir gesagt, daß sich, als er mit Ihnen sprach, ringsum Leute befanden. Solche Verrücktheit, solch himmelschreiende Verrücktheit! Ah, weshalb nahmen Sie ihn nicht mit sich, weshalb hüteten Sie ihn nicht, weshalb sperrten Sie ihn nicht gegen jedermann ab, bis ich ihn angehört hatte?«

»Ich ahnte doch nicht ...«, stammelte ich.

»Richtig. Quälen Sie sich nicht mit Vorwürfen - Sie konnten es wirklich nicht wissen. Ich aber, ich hätte es gewußt. Der Mörder, Hastings, ist so verschlagen und so unbarmherzig wie ein Tiger . Ah, mein Gott, werden wir denn niemals ankommen?«

Schließlich aber hielt das Auto. Ross wohnte in der ersten Etage eines großen Häuserblocks in Kensington. Die Haustür stand offen, und kein Portier gab auf die Ein- und Ausgehenden acht.

»Besser könnte er sich's gar nicht wünschen«, murmelte Poirot, als er die Treppe hinaufrannte.

Im ersten Stock war an einer schmalen Korridortür mit Yale-Schloß Ross' Visitenkarte befestigt.

Wir lauschten. Überall herrschte tiefstes Schweigen.

Als ich gegen die Tür stieß, gab sie zu meiner Überraschung nach. Vor uns tag eine kleine Diele, auf die rechts eine offenstehende Tür mündete. Geradeaus führte eine gleichfalls offene Tür in ein Wohnzimmer, hübsch, aber billig möbliert. Auf einem kleinen Tischchen lag der Telefonhörer - nicht auf der Gabel, sondern neben dem Apparat.

Poirot warf einen raschen Blick durch den leeren Raum und machte kehrt.

»Hier nicht. Kommen Sie, Hastings.«

Wir gingen durch die Diele zurück und betraten das andere Zimmer. An der Schmalseite des Eßtisches saß Ross. Nein, er saß nicht, sondern hing vielmehr auf der Stuhlkante, während sein Oberkörper quer über die Tischplatte gefallen war.

Mein Freund beugte sich zu ihm hinab.

»Er ist tot«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete, und ich erschrak vor der Blässe seines Gesichts. »Tot ... Stich in den Nacken.«

Lange noch lasteten die Geschehnisse dieses Nachmittags wie ein Alp auf meiner Seele, denn ich konnte ein schreckliches Gefühl der Verantwortung nicht loswerden.

Als ich spät abends daheim meine bitteren Selbstvorwürfe stammelte, fiel mir Poirot ins Wort. »Nein, nein. Sie haben nichts vernachlässigt, mon ami. Wie hätten Sie stutzig werden können? Nicht jedem hat der liebe Gott ein argwöhnisches Gemüt gegeben.«

»Aber bei Ihnen hätte sich der Argwohn gemeldet.«

»Freilich. Doch das ist was anderes. Ich habe zeitlebens Mörder zur Strecke gebracht. Ich weiß, wie die Sucht zu töten sich jedesmal in stärkerem Maße meldet, bis endlich wegen einer nichtigen Ursache ...« Er brach ab.

Seit unserer schaurigen Entdeckung war es sehr still geworden. Der Ankunft der Polizei, dem Verhör der übrigen Hausbewohner, all den hunderterlei Einzelheiten der schablonenhaften Amtshandlung, die ein Mord nach sich zieht, hatte er apathisch, geistesabwesend beigewohnt - einen fernen, tiefsinnigen Blick in den Augen. Und als er jetzt seinen Satz abbrach, kehrte derselbe Blick wieder.

»Wir haben keine Zeit, uns in Bedauern und Vorwürfen zu ergehen, Hastings«, sagte er. »Keine Zeit zu sagen: >Wenn<. Der arme junge Mann wollte uns etwas eröffnen, und wie wichtig das war, beweist die traurige Tatsache, daß er getötet worden ist. Da er nun nicht mehr sprechen kann, müssen wir es erraten, obwohl wir nur über einen winzigen Fingerzeig verfügen.«

»Paris«, meinte ich.

»Ja, Paris.« Er stand auf und begann, im Zimmer hin und her zu wandern. »Nicht zum erstenmal stolpern wir über dieses Wort. Es ist in den Deckel der Golddose eingraviert. Im November vergangenen Jahres war Miss Adams in Paris. Ross vielleicht ebenfalls. War auch noch ein Dritter dort, den Ross kannte und den er unter etwas sonderlich anmutenden Umständen mit Miss Adams zusammen sah?«

»Das können wir niemals erfahren«, sagte ich verzagt.

»Ja, ja, wir können es erfahren. Und wir werden es erfahren! Die Macht des menschlichen Gehirns ist beinahe unbegrenzt, Hastings. Ferner haben wir im Zusammenhang mit Paris die ältere Frau mit dem Kneifer, die die Dose bei dem Juwelier abholte. War sie Ross bekannt? Auch der Herzog von Merton weilte zur Zeit des Verbrechens in Paris. Paris, Paris, Paris. Lord Edgware beabsichtigte eine Reise dorthin - ah, hat man ihn etwa getötet, um diese Reise zu verhindern?«

Er nahm wieder Platz, die Brauen grübelnd zusammengezogen.

»Was ereignete sich bei Mrs. Widburns Lunch?« murmelte er. »Bei irgendeinem gelegentlichen Wort oder Satz muß dem jungen Ross die Bedeutung von dem, was er wußte und das er bislang als unbedeutend erachtete, aufgegangen sein. Drehte sich die Unterhaltung um Frankreich? Um Paris . ? An Ihrem Tischende, meine ich, Hastings.«

»Das Wort Paris fiel, aber nicht in jenem Sinne«, entgegnete ich und berichtete ihm Jane Wilkinsons Schnitzer.

»Dort haben wir nach meiner Meinung die Lösung zu suchen«, meinte er nachdenklich. »Wohin blickte Ross in jenem Augenblick? Oder wovon hatte er gesprochen, als man das Wort erwähnte?«

»Über schottischen Aberglauben.«

»Und seine Augen waren - wo?«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich glaube, er guckte nach dem Kopfende des Tisches, wo Mrs. Widburn saß.«

»Und neben ihr?«

»Der Herzog von Merton, dann Jane Wilkinson, dann ein mir unbekannter Herr.«

»Hm . Monsieur le Duc. Also möglicherweise ruhte sein Blick auf Monsieur le Duc, als das Wort Paris fiel. Erinnern Sie sich, daß es allgemein hieß, der Herzog sei am Mordtag in Paris gewesen? Wie aber, wenn Ross sich plötzlich an irgend etwas erinnert hätte, das anzeigte, daß Merton nicht in Paris war?«

»Mein lieber guter Poirot!«

»Ja, Sie, Hastings, finden das abgeschmackt und albern, und mit Ihnen die meisten Leute. Hatte Monsieur le Duc einen Grund für das Verbrechen? Jawohl, sogar einen sehr triftigen.

Aber zu vermuten, daß er es verübte - ah! das ist abgeschmackt! Er ist so reich, in einer solch hohen Stellung, hat solch einen hehren Charakter, wie allgemein bekannt. Niemand wird daher sein Alibi einer allzu sorgfältigen Prüfung unterziehen. Aber in einem großen Hotel ein Alibi zu erschwindeln, bietet keine Schwierigkeiten. Sagen Sie mir, äußerte Ross nichts, als das Wort Paris erwähnt wurde? Zeigte er keine Gemütsbewegung?«

»Ich glaube mich zu entsinnen, daß er plötzlich den Atem anhielt.«

»Und sein Benehmen, als er hinterher mit Ihnen sprach? War er zerstreut? Bestürzt? Verwirrt? In sich gekehrt?«

»Ja, Poirot. Besser hätten Sie es gar nicht beschreiben können.«

»Ganz genau. Eine Idee hat sich seiner bemächtigt, die ihn nicht mehr losläßt, die ihn zum Nachdenken zwingt. Er selbst hält sie für närrisch, ungereimt. Und dennoch! Er zögert zwar, sie laut werden zu lassen. Will schließlich mit mir sprechen. Doch leider, leider bin ich, als er sich endlich hierzu durchgerungen hat, bereits fortgegangen.«

»Wenn er wenigstens mir etwas mehr gesagt hätte!« klagte ich.

»Ja. Wenn er wenigstens . Wer befand sich übrigens in jenem Augenblick in Ihrer Nähe?«

»All und jeder. Es war während des Aufbruchs, und man strömte auf Mrs. Widburn zu.«

Wieder sprang Poirot auf seine Füße. »Habe ich mich denn geirrt?« murmelte er, als er seine ruhelose Wanderung von neuem begann. »Habe ich mich die ganze Zeit geirrt?«

Mein Blick folgte ihm mit ehrlicher Anteilnahme. Was in seinem Kopf vorging, wußte ich nicht. >Verschlossen wie eine Austen<, hatte Japp ihn genannt, und treffendere Worte konnte man kaum finden. Das einzige, was ich wußte, war, daß er gegenwärtig mit sich selbst haderte. »Jedenfalls kann man diesen letzten Mord nicht Lord Edgware in die Schuhe schieben«, warf ich hin.

»Gewiß ist es ein Punkt, der zu seinen Gunsten spricht«, gab mein Freund zerstreut zur Antwort. »Aber das kümmert uns im Augenblick nicht.« Und genauso jäh, wie er aufgesprungen, fiel er wieder in seinen Sessel zurück. »Ich kann nicht gänzlich unrecht haben. Hastings, erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einst fünf Fragen vorlegte?«

»Dunkel, ja.«

»Sie hießen: Warum wurde Lord Edgware wegen der Scheidung anderen Sinnes? Was geschah mit jenem Brief, den er seiner Gattin angeblich schrieb und den sie angeblich nicht erhielt? Was bedeutete sein wutverzerrtes Gesicht, als wir die Bibliothek verließen? Warum lag in Carlotta Adams' Handtäschchen ein Kneifer? Weshalb telefonierte jemand nach Chiswick und hängte, als Lady Edgware an den Apparat kam, sofort ab?«

»Richtig, Poirot, richtig; so lauteten sie. Jetzt erinnere ich mich ganz genau.«

»Hastings, ich habe schon lange eine gewisse kleine Idee, wer der Mann war - der Mann hinter den Kulissen -, mit mir herumgetragen. Drei jener Fragen beantwortete ich, und die Antworten stimmen mit meiner kleinen Idee überein. Aber auf zwei Fragen finde ich keine Antwort, mon cher.

Ich will Ihnen auseinandersetzen, was das bedeutet: Entweder bin ich auf ganz falschem Weg, sowohl was die Person als auch ihren Beweggrund zur Tat betrifft; oder die Antwort auf beide Fragen ist die ganze Zeit vorhanden, und ich sehe sie nicht.« Er erhob sich zum drittenmal, ging zu seinem Schreibtisch, schloß ihn auf und nahm den Brief heraus, den ihm Lucie Adams anvertraut hatte. Dann legte er ihn vor sich auf die Platte und brütete über ihm.

Minute reihte sich an Minute, aus ihnen wurden Viertelstunden. Ich gähnte und griff nach einem Buch, fest überzeugt, daß Poirots Studium zu nichts führen würde. Zu oft hatten wir den Brief bereits durchgelesen und waren nie schlauer dadurch geworden. Selbst zugegeben, daß er sich nicht auf Ronald Marsh bezog, so fehlte andererseits jeder Hinweis, wer sonst gemeint sein könne.

Lustlos blätterte ich die Seiten um ... duselte schließlich ein ... War es ein Schrei, der mich aufweckte?

»Hastings . !« Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck sah Hercule Poirot mich an, die Augen grün und leuchtend. »Hastings!«

»Ja, was gibt's?«

»Wissen Sie noch, daß ich Ihnen sagte, wenn der Mörder ein Mann von Ordnung und Methode gewesen wäre, würde er die Seite abgeschnitten und nicht abgerissen haben?«

»Ja?«

»Das war ein Irrtum! Ordnung und Methode herrschen durchweg bei diesem Verbrechen, mon cher. Die Seite mußte abgerissen werden. Bitte, schauen Sie!«

Ich tat, wie er befohlen.

»Eh bien, sehen Sie's?«

»Meinen Sie, er sei in Eile gewesen?« fragte ich schüchtern.

»Eile oder nicht Eile - das kommt auf dasselbe heraus. Sehen Sie wirklich nicht, mein Freund? Die Seite mußte abgerissen werden .«

Und während ich ratlos den Kopf schüttelte, gestand Poirot mit leiser Stimme:

»Ich bin töricht gewesen. Und blind obendrein. Aber jetzt . jetzt ... wird's mit Riesenschritten vorwärtsgehen.«

27

Eine Minute später sprang er auf, und ich desgleichen - trotz meiner Ahnungslosigkeit zu allem bereit.

»Wir wollen ein Taxi nehmen, mon cher. Es ist neun Uhr, da können wir gerade noch einen Besuch machen.«

Geschwind eilte ich hinter ihm die Treppe hinab.

»Wohin soll's denn gehen?«

»Nach Regent Gate.«

Ich hielt es für klüger, mich weiterer Fragen zu enthalten. Poirot, das merkte ich wohl, war nicht zu Auskünften aufgelegt. Als wir Seite an Seite im Auto saßen, trommelten seine Finger eine aufgeregte, nervöse Melodie, die nicht zu seiner gewöhnlichen abgeklärten Ruhe paßte.

Derweilen ging ich im Geist Carlotta Adams' letzten Brief durch, den ich fast auswendig kannte, und einmal über das andere wiederholte ich mir auch Poirots Worte über die abgerissene Seite. Aber nichts half ... nach wie vor blieb es mir unbegreiflich, Warum eine Seite durchaus abgerissen werden mußte.

In Regent Gate öffnete uns ein neuer Butler. Poirot fragte nach Miss Carroll, und während wir zum Zimmer der Sekretärin emporstiegen, überlegte ich mir zum fünfzigsten Male, wo wohl der frühere griechische Gott geblieben sei. Die doch gewiß findige Polizei hatte keine Spur von ihm entdecken können. Ein plötzlicher Schauder lief über meinen Rücken, als mir einfiel, daß auch er vielleicht nicht mehr unter den Lebenden weilte .

Der Anblick Miss Carrolls, nüchtern, sachlich und augenfällig gesund, verscheuchte rasch diese finsteren Vorstellungen.

»Was führt Sie zu mir, Monsieur Poirot?« erkundigte sie sich, und man hörte, wie sehr sie dieser Besuch überraschte.

Mein Freund wich einer klaren Antwort aus.

»Ich bin froh, Sie noch hier vorzufinden«, sagte er, während er sich mit echt gallischer Ritterlichkeit über ihre Hand beugte.

»Geraldine wollte nichts von meiner Abreise hören«, erklärte Miss Carroll. »Sie bat mich noch weiter zu bleiben. Und eigentlich braucht das arme Kind in diesen bösen Tagen auch jemanden und sei es auch nur, um einen Puffer zu haben. Ich kann Ihnen versichern, Monsieur Poirot, daß ich, wenn erforderlich, ein sehr tüchtiger Puffer bin.«

Ich glaubte es ihr ohne weiteres und stellte mir vor, mit welcher rücksichtslosen Kürze sie Reporter und Neuigkeitsjäger vor die Tür gesetzt haben mochte.

»Mademoiselle, Sie sind mir immer wie ein Muster der Tüchtigkeit erschienen«, schmeichelte Hercule Poirot. »Und Tüchtigkeit stelle ich über alles. Sie ist selten. Mademoiselle Marsh zum Beispiel verfügt über keinerlei praktischen Sinn.«

»Sie ist eine Träumerin. Ein Segen, daß sie es nicht nötig hat, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen!«

»Ja, wirklich.«

»Aber ich glaube kaum, daß Sie wegen dieser Frage hierhergekommen sind, Monsieur Poirot. Was kann ich für Sie tun?«

Nach meiner Meinung behagte es Poirot, der etwas weitschweifige Umwege liebte, durchaus nicht, auf diese bündige Art nach dem Zweck seines Besuches gefragt zu werden.

»Ich möchte über einige Punkte eine endgültige Klärung haben, Mademoiselle«, erklärte er, wohl einsehend, daß es Miss Carroll gegenüber kein Ausweichen gab. »Und Ihrem Gedächtnis kann man vertrauen.«

»Sonst würde ich eine sehr schlechte Sekretärin sein«, erwiderte sie spitz und musterte ihn durch ihre Kneifergläser.

»War Lord Edgware im vergangenen November in Paris?«

»Ja. Wenn Sie das Datum wissen wollen, werde ich nachsehen.«

Sie erhob sich, nahm aus einer Schublade ein kleines, gebundenes Buch und verkündete nach einigem Hin- und Herblättern: »Lord Edgware reiste am 3. November nach Paris und kehrte am 7. zurück. Ferner unternahm er eine zweite Reise am 29. November, die bis zum 4. Dezember dauerte. Sonst noch etwas, Monsieur?«

»Ja. Aus welchem Grunde fuhr er?«

»Bei der ersten Gelegenheit beabsichtigte er den Ankauf einiger Statuetten, deren Versteigerung jedoch verschoben wurde. Die zweite Reise verfolgte keinen bestimmten Zweck, soviel ich weiß.«

»Begleitete Mademoiselle Marsh ihren Vater?«

»Sie hat ihn nie begleitet, Monsieur Poirot. Lord Edgware würde an dergleichen nie gedacht haben. Außerdem befand sie sich im November noch in einem Pariser Kloster, aber ich bezweifle sehr, daß ihr Vater sie aufsuchte.«

»Und Sie begleiteten ihn auch nicht?«

»Nein.« Und unvermittelt fragte sie ziemlich barsch: »Was sollen eigentlich diese Erkundigungen?«

Mein Freund tat, als hätte er die Frage nicht gehört.

»Nicht wahr, Miss Marsh ist ihrem Vetter sehr zugetan?« fuhr er fort.

»Wirklich, Monsieur Poirot, ich verstehe nicht .«

»Miss Marsh kam neulich zu mir. Wissen Sie das?«

»Nein.« Die Augen hinter den Gläsern blickten ganz verdutzt. »Ich hatte keine Ahnung davon. Was sagte sie?«

»Sie erzählte mir - obwohl nicht mit denselben Worten -, daß sie ihrem Vetter sehr zugetan sei.«

»Nun, warum fragen Sie mich dann noch?« »Weil mir an Ihrer Meinung liegt.«

Jetzt entschloß sich Miss Carroll zu antworten.

»Meine Meinung ist, daß sie viel zu sehr an ihm hängt - von jeher schon.«

»Mögen Sie den jetzigen Lord Edgware nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt, Monsieur Poirot. Er liegt mir nicht. Ihm fehlt es an Ernst, obwohl ich nicht leugnen kann, daß seine spaßhafte, vergnügte Art manchmal sehr nett ist. Ich hätte nur lieber gesehen, wenn Geraldine ihr Herz einem Menschen mit etwas mehr Rückgrat schenkte.«

»Einem Menschen von der Art des Herzogs von Merton?«

»Ich kenne den Herzog nicht, immerhin scheint er die Pflichten seiner Stellung ernst zu nehmen. Leider läuft er jetzt jenem Frauenzimmer nach - jener herrlichen Jane Wilkinson.«

»Seine Mutter ...«

»Oh, seine Mutter würde fraglos Geraldine als Schwiegertochter vorziehen. Doch was können Mütter tun? Söhne wollen nie die Mädchen heiraten, die die Mütter für sie aussuchen.«

»Glauben Sie, daß Miss Marshs Vetter ihre Neigung erwidert?«

»Das spielt doch in seiner jetzigen Lage keine Rolle.«

»Ah, Sie denken, daß man ihn schuldig sprechen wird?«

»Kann ich das wissen .? Jedenfalls halte ich ihn nicht für den Mörder.«

»Nun will ich Sie nicht länger stören, Mademoiselle.« Poirot erhob sich. »Kannten Sie übrigens Carlotta Adams?«

»Ich sah sie auf der Bühne. Sehr witzig und gescheit.«

»Ja, sie war gescheit.« Er versank in Nachdenken. »Ah, ich habe meine Handschuhe dort drüben hingelegt.«

Während er den Arm ausstreckte, um sie von der Tischplatte fortzunehmen, verfing sich sein Ärmelaufschlag in der Kette von Miss Carrolls Kneifer und riß ihn herab. Poirot erging sich in einem Schwall von Entschuldigungen, hob ihn samt den Handschuhen, die ebenfalls hinuntergefallen waren, auf und gab ihn seiner Eigentümerin zurück.

»Zürnen Sie mir nicht allzusehr, Mademoiselle«, schloß er, »obwohl Sie wahrlich Grund hätten. Erst die späte Störung, und jetzt noch diese Ungeschicklichkeit ...! Übrigens, die Störung: Ich gab mich der Hoffnung hin, von Ihnen eine Andeutung zu erhalten, daß Lord Edgwares Reise nach Paris mit persönlichen Unerquicklichkeiten zusammengehangen habe. Nein, nichts Derartiges . ? Also eine verlorene Hoffnung! Nun, dann gute Nacht, Mademoiselle. Und tausendmal Pardon für die Belästigung.«

Wir hatten die Tür erreicht, als Miss Carrolls Stimme uns zurückrief.

»Monsieur Poirot, das sind nicht meine Augengläser. Ich kann mit ihnen nichts sehen.«

»Comment?« Hercule Poirot blickte die Sprecherin bestürzt an. Aber dann verzog sich sein Antlitz zu einem breiten Lächeln. »Oh, ich unglaublicher Dummkopf! Als ich mich nach Ihrem Kneifer und meinen Handschuhen bückte, fiel mein eigener mir aus der Tasche, und da habe ich die beiden Paare verwechselt. Sie gleichen sich nämlich sehr. Bitte, überzeugen Sie sich.«

Mit Lächeln auf beiden Seiten wurde der Austausch vollzogen, worauf wir endgültig Abschied nahmen.

»Poirot«, sagte ich, als wir draußen waren, »Sie tragen doch gar keine Augengläser!«

Er blinzelte mir zu.

»Welch ein durchdringender Scharfsinn, Hastings!«

»Mithin war es der Kneifer aus Carlottas Täschchen. Glaubten Sie, er könnte Miss Carroll gehören?«

Poirot zuckte die Achseln.

»Sie ist die einzige Person aus Lord Edgwares Umgebung, die Gläser trägt.«

»Aber es sind nicht die ihrigen.«

»So sagt sie.«

»Oh, Sie argwöhnischer alter Teufel!«

»Durchaus nicht. Höchstwahrscheinlich sagte sie die Wahrheit, denn sonst wäre ihr die Verwechslung schwerlich aufgefallen. Ich machte es doch sehr geschickt, was?«

Wir schlenderten durch die Straßen, mehr oder weniger aufs Geratewohl. Einmal schlug ich vor, ein Taxi zu nehmen, aber Poirot schüttelte den Kopf.

»Ich muß nachdenken, mon cher. Und das Gehen hilft mir.«

Folglich schwieg ich. Die Nacht war schwül, daher hatte ich keine Eile heimzukommen.

»Das Rätsel um den Buchstaben D ist noch völlig ungelöst«, warf ich nach einer Weile hin. »Seltsam, daß keine einzige der in den Fall verwickelten Personen einen Namen hat, der mit D beginnt; ganz egal, ob Tauf- oder Familienname. Halt! einer doch! Nämlich Donald Ross. Und der ist tot.«

»Ja«, sagte Poirot düster. »Der ist tot.«

Ich dachte an eine andere Nacht, als wir zu dritt heimgewandert waren. Und plötzlich erinnerte ich mich noch an mehr.

»Bei Gott, Poirot«, meinte ich. »Entsinnen Sie sich, was Ross über den dreizehnten Tischgast sagte? Er war der dreizehnte!«

Mein Freund erwiderte nichts. Ich selbst aber fühlte mich ein wenig unbehaglich, wie man sich stets fühlt, wenn sich ein Aberglauben bewahrheitet.

»Sonderbar ist es ... das kann niemand leugnen«, murmelte ich.

»Eh?«

»Ich sagte, daß es sonderbar sei - Ross und die Nummer dreizehn. Poirot, worüber grübeln Sie eigentlich nach?«

Zu meiner größten Verwunderung und - ich gestehe es offen ein wenig auch zu meinem Verdruß, begann mein Freund sich plötzlich vor Lachen zu schütteln. Irgend etwas schien im höchsten Grad seine Lachmuskeln zu reizen.

»Worüber lachen Sie, zum Teufel?« fragte ich scharf.

»Oh! Oh! Oh!« japste Poirot. »Mir fiel ein Rätsel ein, das ich neulich mal hörte. Was ist das? - Es hat zwei Beine, Federn und bellt wie ein Hund?«

»Ein Hühnchen natürlich«, meinte ich gelangweilt. »Das wußte ich schon in der Kinderstube.«

»Ach, Hastings, warum sind Sie so gebildet ... ? Sie hätten sagen müssen: >Ich weiß es nicht. < Und dann hätte ich gesagt: >Ein Hühnchen<; und darauf Sie: >Aber, ein Hühnchen bellt doch nicht wie ein Hund.< Und hierauf wieder ich: >Oh, das setzte ich nur hinzu, um es schwieriger zu machen.< Hastings, nehmen wir einmal an, das sei die Erklärung für den Buchstaben D!«

»Lächerlicher Einfall!«

»Der großen Menge mag es so erscheinen. Oh, wenn ich doch jemanden hätte, den ich fragen könnte .«

Wir gingen gerade an einem großen Kino vorüber. In dichten Scharen strömten die Leute aus den Türen. Sie unterhielten sich über ihre Angelegenheiten, über ihre Dienstboten, ihre Freunde des anderen Geschlechts, und hin und wieder sprachen einige auch über den Film, den sie gesehen hatten.

Mit einer solchen Gruppe kreuzten wir die Euston Road.

»Martin Bryan war doch wieder wundervoll ...«, schwärmte eine junge Dame. »Ich versäume keinen Film, in dem er spielt. Wie er da heute die Klippen hinabritt und just noch zur rechten Zeit mit den Papieren ankam ...!«

Ihr Begleiter war weniger begeistert.

»Eine blöde Geschichte!« tadelte er. »Wenn sie nur so viel Verstand gehabt hätten, einfach die Ellis zu fragen, wie jeder vernünftige Mensch getan haben würde .«

Der Rest ging im Lärm des Verkehrs verloren. Als ich den jenseitigen Bürgersteig erreicht hatte, wandte ich mich um und sah Poirot mitten auf dem Fahrdamm stehen. Und von beiden Seiten jagten die Autobusse auf ihn zu. Instinktiv legte ich die Hand vor die Augen. Dann gab's ein fürchterliches Kreischen von Bremsen, eine reiche Flut von Schimpfworten aus den Kehlen erboster Chauffeure.

Würdigen, gemessenen Schrittes begab sich Hercule zu dem Fußsteig ... wie ein Schlafwandler sah er aus.

»Poirot, sind Sie verrückt geworden?«

»Nein, mon ami. Eine Erleuchtung überkam mich. Dort, gerade in jenem Moment.«

»Ein verflucht schlechter Moment«, zürnte ich. »Und um Haaresbreite auch Ihr letzter.«

»Gleichgültig, Hastings. Ah, mon cher, ich bin blind und taub und unempfindlich gewesen. Jetzt aber sehe ich die Antworten auf alle meine fünf Fragen. Ja, auf alle. So einfach, so kindisch einfach .«

28

Es wurde ein seltsamer Heimweg.

Poirot arbeitete offenbar irgendeinen Gedankengang in seinem Hirn aus. Gelegentlich gab er Laute von sich, die einem dumpfen Knurren glichen, und ich glaubte einmal das Wort »Kerzenbeleuchtung« zu erhaschen und ein andermal etwas, das wie »douzaine« klang. Wenn ich wirklich aufgeweckt gewesen wäre, hätten mir diese beiden Worte die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gewiesen. Denn es war tatsächlich eine selten klare Fährte. Aber damals klang es mir wie Kauderwelsch.

Kaum zu Hause angelangt, flog er ans Telefon. Er rief das Savoy-Hotel an und verlangte Lady Edgware zu sprechen.

»Vergebliches Bemühen, alter Knabe«, sagte ich belustigt.

Hercule Poirot ist, wie ich ihm oft versichert habe, einer der am schlechtesten unterrichteten Leute des Erdballs.

»Wissen Sie denn nicht, daß sie in einem neuen Stück auftritt?« fuhr ich fort. »Da es erst halb elf ist, wird sie noch im Theater sein.«

Poirot würdigte mich keiner Antwort. Eifrig verhandelte er mit dem Hotelangestellten, der ihm anscheinend genau dasselbe mitteilte, was ich ihm gesagt hatte.

»Ah ... ? Soso. Dann möchte ich gern mit Lady Edgwares Kammerfrau sprechen.«

In wenigen Sekunden war die Verbindung hergestellt.

»Hier ist Hercule Poirot. Sie erinnern sich meiner wohl, nicht wahr? Die gnädige Frau ist nicht anwesend, wurde mir eben mitgeteilt.«

».. «

»Tres bien. Nun hat sich inzwischen etwas sehr Wichtiges zugetragen, und ich möchte Sie freundlichst bitten, sofort zu mir zu kommen.«

».. «

»Aber ja. Sehr, sehr wichtig! Ich werde Ihnen die Adresse geben. Hören Sie gut zu.«

Er wiederholte sie zweimal und legte dann mit nachdenklichem Gesicht den Hörer weg.

»Was soll das?« fragte ich. »Haben Sie wirklich eine Auskunft erhalten?«

»Bewahre, Hastings. Doch sie wird mir die Auskunft geben.«

»Welche Auskunft?«

»Über eine gewisse Person.«

»Jane Wilkinson?«

»Pah! Über die brauche ich keine Auskunft. Die schöne Frau kenne ich in- und auswendig.«

»Über wen denn?«

Mein Freund fertigte mich mit seinem höchst aufreizenden Lächeln ab und sagte, ich solle mich in Geduld fassen. Hierauf begann er geschäftig das Zimmer aufzuräumen oder vielmehr umzuräumen.

Zehn Minuten später erschien die Erwartete bereits, eine zierliche schwarzgekleidete Person, die etwas nervös und unsicher umherschaute.

Poirot stürzte ihr entgegen. »Ah, wie nett, daß Sie gekommen sind! Bitte nehmen Sie Platz, Mademoiselle - Ellis, wenn ich nicht irre?«

»Ja, Sir. Ellis.«

Folgsam setzte sie sich auf den Stuhl, den mein Freund ihr angewiesen hatte, und blickte, die Hände im Schoß gefaltet, abwechselnd uns beide an. Ihr kleines, blutloses Gesicht war ruhig und gelassen, die schmalen Lippen bildeten einen Strich.

»Darf ich zuerst einmal fragen, wie lange Sie bei Lady Edgware beschäftigt sind?«

»Drei Jahre, Sir.«

»Das dachte ich mir. Dann wissen Sie über ihre Angelegenheiten gut Bescheid.«

Ellis schwieg und preßte die Lippen noch fester aufeinander.

»Mißverstehen Sie mich nicht - ich meinte, Sie werden wissen, wo wir ihre Feinde zu suchen haben.«

»Fast alle Frauen sind ihre Widersacherinnen, Sir. Häßliche Eifersucht!«

»Ah! Also ihr eigenes Geschlecht liebt sie nicht?«

»Nein, Sir. Sie sieht zu gut aus und erreicht stets, was sie will. Oh, Sie ahnen nicht, wie im Schauspielberuf Neid und Eifersucht blühen!«

»Und wie steht's mit den Männern?«

Ellis gestattete sich ein säuerliches Lächeln.

»Sie kann alle Herren um den Finger wickeln.«

»Kennen Sie Martin Bryan, den Filmschauspieler?«

»Gewiß, Sir.«

»Sehr gut?«

»Außerordentlich gut.«

»Ich glaube keinen Irrtum zu begehen, wenn ich sage, daß Mr. Bryan vor einem Jahr sehr in Ihre Herrin verliebt war, wie?«

»Bis über beide Ohren verliebt, Sir.«

»Er hoffte damals wohl auch, sie würde ihn heiraten, eh?«

»Ja. Und wenn Lord Edgware nicht die Scheidung verweigert hätte, würde sie ihn wohl auch geheiratet haben.« »Dann aber erschien, wie ich vermute, der Herzog von Merton auf der Bildfläche.«

»Ja, Sir. Er befand sich auf einer Rundreise durch die Vereinigten Staaten. Liebe auf den ersten Blick war es bei ihm.«

»Und damit wurde Martin Bryans Chance zu Null.«

Ellis nickte.

»Gewiß, Mr. Bryan verdiente fabelhafte Summen«, erläuterte sie, »aber der Herzog von Merton nimmt doch noch eine andere Stellung in der Gesellschaft ein. Und die Gnädige gelüstet es sehr nach Rang und Stellung. Als Gemahlin des Herzogs von Merton wäre sie eine der ersten Damen Englands.«

Sie sagte es mit einer selbstgefälligen Freude, die mich ergötzte.

»Mithin bekam Martin Bryan den Laufpaß. Wie fand er sich denn damit ab, Miss Ellis?«

»Schlimm war er. Machte entsetzliche Szenen, bedrohte sie mit dem Revolver. Aus Gram fing er auch zu trinken an - kurz, es warf ihn völlig um.«

»Aber jetzt hat er sich beruhigt.«

»So scheint es. Doch mir gefällt der Blick in seinen Augen nicht, und ich habe die gnädige Frau auch schon gewarnt. Sie aber hat nur gelacht, denn sie gehört zu denen, die gern ihre Macht fühlen ... ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.«

»Ja«, sagte Poirot versonnen. »Ich verstehe Sie sehr gut.«

»Die letzte Zeit haben wir ihn kaum gesehen - ein gutes Zeichen, denke ich. Er scheint den Korb überwunden zu haben.«

»Vielleicht.«

Irgend etwas in Poirots Stimme mochte der Frau auffallen, denn sie sah ihn besorgt an.

»Meinen Sie etwa, sie sei in Gefahr, Sir?«

»Ja«, erwiderte mein Freund ernst. »Sie ist in großer Gefahr. Aber sie hat es sich selbst zuzuschreiben.«

Seine Hand, die ziellos an dem Kaminsims entlangfuhr, stieß an eine mit Rosen gefüllte Vase. Sie kippte, und das Wasser ergoß sich über Ellis' Gesicht und Kopf. Selten unterlief Poirot eine Ungeschicklichkeit, und ich konnte aus dem Unfall schließen, wie groß die Erregung sein mußte, die in ihm brodelte. Er rannte fort nach einem Handtuch, half dem Mädchen besorgt, Gesicht und Nacken zu trocknen, und sparte nicht mit Entschuldigungen, denen er durch eine Banknote mehr Gewicht verlieh. Schließlich geleitete er sie zur Tür, ihr nochmals für ihr bereitwilliges Kommen dankend.

»Aber es ist noch früh«, meinte er mit einem Blick auf die Uhr. »Sie werden noch vor Ihrer Herrin wieder im Hotel sein.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorge, Sir. Lady Edgware geht nach der Vorstellung noch irgendwohin zum Supper, und außerdem brauche ich, wenn sie es nicht vorher ausdrücklich bestimmt, niemals bis zu ihrer Rückkehr aufzubleiben.«

Plötzlich irrte Poirot völlig vom Thema ab.

»Mademoiselle, Verzeihung, Sie hinken ja!«

»Nichts von Belang, Sir. Meine Füße schmerzen ein bißchen.«

»Die Hühneraugen?« raunte der Kleine mit der vertraulichen Stimme eines Dulders, der zu einem Leidensgefährten spricht.

Anscheinend waren es die Hühneraugen. Poirot sang eine Lobeshymne zu Ehren eines gewissen Mittels, das - wollte man seinen Worten trauen - Wunder wirkte.

Schließlich aber schloß sich die Tür hinter Miss Ellis.

»Nun, Poirot? Nun?« Er lächelte über meine Hitzigkeit.

»Heute abend keine Erklärungen mehr, mon ami. Morgen in aller Frühe werden wir Japp anrufen und ihn herbitten. Desgleichen werden wir Martin Bryan anrufen, der uns fraglos Interessantes erzählen kann. Außerdem wünsche ich ihm gegenüber eine Schuld abzutragen.«

»Wirklich?« Ich sah Poirot, der merkwürdig vor sich hinschmunzelte, von der Seite an. »Jedenfalls können Sie ihm nicht den Mord aufbürden, mein Lieber. Den Gatten töten, damit die Witwe sich mit einem anderen verheiratet - nein, einer solchen selbstlosen Handlung ist kein Mann fähig.«

»Ich habe von jeher Ihre weise Menschenkenntnis bewundert, mon cher!«

»Lassen Sie gefälligst Ihren beliebten Spott«, schalt ich verärgert. »Und womit tändeln Sie denn da die ganze Zeit herum?«

Hercule Poirot hielt den betreffenden Gegenstand mit spitzen Fingern hoch.

»Mit dem Kneifer der guten Ellis, teurer Hastings. Sie ließ ihn zurück.«

»Unsinn! Sie hatte ihn beim Weggehen auf der Nase.«

»Falsch, mon ami.« Er schüttelte sanft den Kopf. »Absolut falsch. Was sie auf der Nase hatte, war der Kneifer, den wir in Carlotta Adams' Handtäschchen fanden ...«

29

Mir fiel die Aufgabe zu, am anderen Morgen Inspektor Japp zu benachrichtigen.

»Ach, Sie sind's, Hauptmann Hastings«, antwortete mir eine ziemlich flaue Stimme. »Na, was gibt's?«

Ich bestellte ihm Poirots Botschaft.

»Um elf Uhr bei Ihnen sein? Ja, das kann ich machen. Er hat doch nicht etwa das Geheimnis um den Tod des jungen Ross gelüftet .? Ich gestehe offen, daß wir vollkommen im Dunkeln tappen.«

»Eine gute Nachricht hat er, glaube ich, für Sie bereit«, sagte ich. »Auf jeden Fall scheint er sehr mit sich zufrieden zu sein.«

»Das kann ich von mir gerade nicht behaupten. Also gut, Hauptmann Hastings. Ich werde mich pünktlich einfinden.«

Mein nächster Anruf galt Martin Bryan. Ihm erzählte ich, wie mir befohlen war, daß Poirot eine Entdeckung gemacht habe, die seines Erachtens Mr. Bryan viel Vergnügen bereiten würde. Als er mich fragte, was es sei, antwortete ich wahrheitsgemäß, daß ich keine Ahnung hätte. Dann schwieg der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung, und erst nach einem Weilchen erklärte er: »Abgemacht. Ich werde kommen.«

Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als Poirot hierauf sich selbst zum Apparat bemühte, Jenny Driver anrief und sie ebenfalls zu uns bat?

Er war ruhig und ernst, und ich belästigte ihn nicht mit Fragen. Als erster stellte sich Martin Bryan ein, wie immer in den letzten Wochen frisch und munter. Jenny Driver folgte ihm fast auf dem Fuß. Es schien sie zu überraschen, Bryan bei uns zu treffen, und er schien ihre Überraschung zu teilen.

Poirot schleppte zwei Stühle herbei und nötigte die beiden, Platz zu nehmen.

»Inspektor Japp muß jeden Augenblick eintreffen«, sagte er, seine Uhr ziehend.

»Inspektor Japp?« wiederholte Bryan erstaunt.

»Ja, ich habe ihn ganz ungezwungen - als Freund -hergebeten.«

Der Schauspieler versank in Schweigen. Jenny streifte ihn mit einem raschen Blick und schaute dann nach einer anderen Richtung. Ich hatte den Eindruck, als sei sie heute morgen sonderbar zerstreut.

Gleich darauf trat Inspektor Japp ins Zimmer. Er begrüßte Poirot mit seiner gewöhnlichen Scherzhaftigkeit.

»Was bedeutet diese Versammlung hier? Sie wollen mir, vermute ich, irgendeine neue wundervolle Theorie anvertrauen?«

Poirot strahlte ihn an.

»Nein, nein, keine wundervolle Theorie. Nur eine ganz einfache Geschichte, so einfach, daß ich mich schäme, sie nicht sofort erkannt zu haben. Wenn Sie erlauben, werde ich den Fall von Anbeginn mit Ihnen durchgehen.«

Japp seufzte und sah nach der Uhr.

»Dauert es länger als eine Stunde?«

»Beruhigen Sie sich, mon ami, so lange brauchen Sie nicht auszuharren. Nicht wahr, Sie möchten wissen, wer Lord Edgware, wer Miss Adams und wer den jungen Ross tötete?«

»Das letztere vor allem«, erwiderte der vorsichtige Japp gespannt.

»Dann hören Sie mich an, und Sie werden alles erfahren. Sehen Sie, ich werde bescheiden sein« (sehr unwahrscheinlich! dachte ich ungläubig), »ich werde Ihnen enthüllen, wie ich genasführt wurde, wie ich das größte Unvermögen offenbarte, wie es der Unterhaltung mit meinem Freunde Hastings und der zufälligen Bemerkung eines gänzlich Fremden bedurfte, um mich auf die richtige Spur zu bringen.«

Er machte eine Pause, räusperte sich und begann hierauf in seiner Predigerstimme, wie ich es nannte, vorzutragen:

»Ich greife zurück auf jenes Supper im Savoy, als Lady Edgware eine Unterredung mit mir verlangte. Sie wünschte ihren Gatten loszuwerden, und am Schluß unseres Gesprächs sagte sie - ziemlich unklug nach meiner Meinung -, daß sie schließlich noch ein Taxi nehmen und ihn eigenhändig töten würde. Diese Worte hörte auch Mr. Bryan, der in diesem Augenblick hereinkam.«

Er wirbelte herum.

»Eh? Stimmt das?«

»Wir alle hörten sie«, verbesserte ihn der Schauspieler. »Die Widburns, Marsh, Carlotta - alle, ohne Ausnahme.«

»Zugegeben. Eh bien, es wurde dafür gesorgt, daß ich jene Worte Lady Edgwares nicht vergaß. Mr. Martin Bryan besuchte mich am folgenden Morgen eigens zu dem Zweck, sie mir in den Kopf zu hämmern.«

»Keineswegs«, rief Bryan ärgerlich. »Ich kam ...«

Poirot hob eine Hand hoch.

»Sie kamen angeblich, um mir ein Ammenmärchen von einem Mann, der Sie auf Schritt und Tritt verfolgte, zu erzählen. Wahrscheinlich lieferte Ihnen irgendein Film den Stoff dazu. Ein Mädchen, dessen Einwilligung Sie erst einholen müßten ... ein Mann, den Sie an einem Goldzahn wiedererkannten. Mon ami, heutzutage würde kein junger Mann mit einem Goldzahn in der Welt umherlaufen, besonders nicht in Amerika. Der Goldzahn ist ein hoffnungslos veraltetes Stück der Zahnheilkunde, merken Sie sich das! Nachdem Sie nun Ihre Geschichte vom Stapel gelassen hatten, kamen Sie zu dem eigentlichen Zweck Ihres Besuches: mir Gift gegen Lady Edgware ins Herz zu träufeln. Um es klar auszudrücken, Sie bereiteten den Boden für den Augenblick vor, wenn sie ihren Gatten ermorden würde.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, murmelte Martin Bryan, dessen Gesicht totenblaß geworden war.

»Sie belächeln die Vorstellung, daß er in eine Scheidung willigen könnte! Sie vermuten, daß ich ihn am folgenden Tag sehen würde, während unsere erste Verabredung bereits umgestoßen ist. Und als ich an jenem Morgen zu ihm gehe, setzt er der Scheidung keinerlei Widerstand entgegen. Mithin entfällt jeder Beweggrund für Lady Edgware, zu einem Verbrechen zu schreiten. Und überdies erzählt er mir, daß er seiner Gattin bereits einen diesbezüglichen Brief geschrieben habe.

Aber Lady Edgware weiß nichts von diesem Brief. Entweder lügt sie oder der Lord, oder jemand hat den Brief unterschlagen.

Nun drängt sich mir unwillkürlich die Frage auf: Warum macht sich Mr. Martin Bryan die Mühe, herzukommen und mir all diese Lügen aufzutischen? Welche inneren Mächte treiben ihn? Und es schält sich die Idee heraus, daß Sie, Monsieur, einmal wahnsinnig in Lady Edgware verliebt gewesen sind. Hierin bestärkt mich der Umstand, daß mir Lord Edgware mitteilte, seine Frau habe ihm erzählt, sie wolle einen Schauspieler heiraten. Aber die Dame änderte ihren Plan. Als Lord Edgware in seinem Brief die Einwilligung zur Scheidung gibt, ist jemand anders der Auserkorene - nicht Sie. Grund genug für Sie, Monsieur, jenen Brief zu unterschlagen.«

»Niemals habe .«

»Hinterher mögen Sie sagen, was Sie wollen. Aber vorläufig muß ich Sie bitten, mir Gehör zu schenken.

In welcher seelischen Verfassung würden Sie sich nach dieser Niederlage wohl befinden - Sie, ein verwöhntes Idol, das bislang noch nie eine Zurückweisung erfahren hat? Wie ich es sehe, tobt in Ihnen eine Art irrer Wut, ein dämonischer Wunsch, Lady Edgware so viel Böses wie möglich zuzufügen. Und welches größere Übel können Sie ihr antun, als zu veranlassen, daß sie des Mordes angeklagt, vielleicht gehenkt wird?«

»Gerechter Gott!« sagte Japp.

Diesmal wandte sich Poirot an ihn.

»Ja, ja, das war die kleine Idee, die sich in meinem Hirn zu formen begann. Verschiedenes kam hinzu, um sie zu nähren. Carlotta Adams' zwei hauptsächliche Freunde: Hauptmann Marsh und Martin Bryan. Hauptmann Marsh war ein armer, mit Schulden belasteter Teufel, wohingegen Martin Bryan, ein reicher Mann, ihr sehr wohl zehntausend Dollar für den sogenannten Schabernack bieten konnte.«

»Ich tat es nicht. Ich schwöre, daß ich es nicht tat«, kam es heiser von des Künstlers Lippen.

»Als der Inhalt von Miss Adams' Brief an ihre Schwester von Washington gekabelt wurde - oh, la, la! da war ich fassungslos. Es schien, daß ich mich unrettbar festgefahren hatte. Doch später machte ich eine Entdeckung. An Hand des Originalbriefes stellte ich fest, daß eine Seite fehlte und daß mit dem >er< durchaus nicht Hauptmann Marsh gemeint sein müsse.

Aber damit ist das Beweismaterial keineswegs erschöpft. Bei seiner Verhaftung bekundete Hauptmann Marsh, daß er geglaubt habe, Martin Bryan in Lord Edgwares Haus eintreten zu sehen. Da diese Aussage aus dem Mund eines Angeklagten kam, legte man ihr kein Gewicht bei. Außerdem hatte Mr. Bryan ein Alibi. Kein Wunder! Wenn er den Mord beging, mußte er ein Alibi haben. Leider wurde dieses Alibi nur durch eine einzige Person erhärtet - Miss Driver.«

»Und?« fragte die junge Dame scharf.

»Nichts, Mademoiselle«, sagte Poirot lächelnd. »Ausgenommen, daß ich Sie an jenem Tag mit Mr. Bryan zusammen beim Lunch traf und Sie sich zu uns herüber bemühten, um mich glauben zu machen, daß sich Ihre Freundin für Ronald Marsh interessiert, aber nicht, wie ich sicher annahm, für Martin Bryan.«

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