Im Jahre 1919 war Detroit, Michigan, die erfolgreichste Industriestadt der Welt. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, und Detroit hatte einen bedeutenden Anteil am Sieg der Alliierten gehabt, indem es sie mit Panzern, LKWs und Flugzeugen belieferte. Nachdem die Bedrohung durch die Deutschen vorüber war, setzten die Automobilfabriken ihre ganze Kraft wieder für den Bau von Personenwagen ein. Bald wurden 4000 Autos pro Tag hergestellt, montiert und verladen. Gelernte und ungelernte Arbeiter kamen aus allen Teilen der Welt, um Arbeit in der Kraftfahrzeugindustrie zu suchen. Italiener, Iren, Deutsche – sie strömten in einer wahren Flut herein.
Unter den Neuankömmlingen waren Paul Templarhaus und seine junge Frau Frieda. Paul war in München Fleischergeselle gewesen. Mit der Mitgift, die er erhielt, als er Frieda heiratete, wanderte er nach New York aus und eröffnete einen Fleischerladen, der schnell in die roten Zahlen kam. Er zog dann nach St. Louis, Boston und schließlich nach Detroit, und in jeder Stadt hatte er den gleichen Misserfolg. In einer Epoche blühenden Geschäftslebens und zunehmenden Reichtums mit einem wachsenden Bedarf an Fleisch brachte es Paul Templarhaus fertig, Geld zu verlieren, wo immer er einen Laden aufmachte. Er war ein guter Fleischer, aber ein hoffnungslos unfähiger Geschäftsmann. In Wirklichkeit war er mehr daran interessiert, Gedichte zu schreiben, als Geld zu verdienen. Er verbrachte Stunden damit, Reime und Metaphern zusammen-zuträumen. Er pflegte sie zu Papier zu bringen und sie an Zeitungen und Magazine zu schicken, die jedoch nie auch nur eines seiner Meisterwerke annahmen. Geld war für Paul unwichtig. Er gab jedermann Kredit, und es sprach sich schnell herum: Wenn man kein Geld hatte und das beste Fleisch haben wollte, ging man zu Paul Templarhaus.
Pauls Frau Frieda war ein recht unansehnliches Geschöpf, das keine Erfahrungen mit Männern gehabt hatte, ehe Paul ihren Weg kreuzte und um sie angehalten hatte – oder vielmehr, wie es sich gehörte, bei ihrem Vater um sie angehalten hatte. Frieda hatte ihren Vater angefleht, Pauls Antrag anzunehmen, aber der alte Herr brauchte gar nicht gedrängt zu werden, hatte er doch verzweifelte Angst gehabt, den Rest seines Lebens mit Frieda verbringen zu müssen. Er hatte sogar die Mitgift erhöht, damit Frieda und ihr Mann Deutschland verlassen und in die Neue Welt gehen konnten.
Frieda hatte sich, wenn auch schüchtern, auf den ersten Blick in ihren Mann verliebt. Sie hatte noch nie einen Dichter gesehen. Paul war hager und wirkte intellektuell, hatte blasse, kurzsichtige Augen und schütteres
Haar, und es dauerte Monate, bis Frieda glauben konnte, dass dieser gutaussehende junge Mann tatsächlich ihr gehörte. Sie machte sich keine Illusionen über ihr eigenes Aussehen. Ihre Figur war plump, hatte die Form einer übergroßen rohen Kartoffel. Das Hübscheste an ihr waren ihre lebhaften enzianfarbenen Augen, aber das übrige Gesicht schien anderen Leuten zu gehören. Ihre Nase war die ihres Großvaters, groß und knollig; ihre Stirn gehörte einem Onkel, hoch und fliehend, und ihr Kinn war das ihres Vaters, eckig und hart. Irgendwo in Friedas Innerem gab es ein schönes junges Mädchen, das Gott aus einer unerklärlichen Laune heraus in diesem Körper gefangen hielt. Die Leute sahen allein das abstoßende Äußere. Nur Paul nicht. Ihr Paul. Es war gut, dass Frieda nie erfuhr, dass ihre Anziehungskraft in ihrer Mitgift lag, die Paul ein Entrinnen von blutigen Rinderhälften und Schweineköpfen ermöglichte. Pauls Traum war es gewesen, ein Geschäft zu betreiben und genug Geld zu verdienen, um sich seiner geliebten Poesie widmen zu können.
Frieda und Paul verbrachten ihre Flitterwochen in einem Gasthof außerhalb Salzburgs, in einer schönen alten Burg an einem reizenden See, von Wiesen und Wäldern umgeben. Frieda hatte sich in Gedanken schon hundertmal die Hochzeitsnacht ausgemalt. Paul würde die Tür abschließen, sie in die Arme nehmen und zärtliche Worte flüstern, während er sie auszog. Seine Lippen würden die ihren finden und dann langsam ihren nackten Körper hinunterstreichen, so wie es in all den grünen Büchlein geschah, die sie im geheimen gelesen hatte. Sein Glied würde hart, steif und stattlich sein, und er würde sie zum Bett tragen und sie zart niederlegen. Mein Gott, Frieda, würde er sagen, ich liebe deinen Körper. Du bist nicht wie die mageren kleinen Dinger. Du hast den Körper einer Frau.
Die Wirklichkeit kam wie ein Schock. Es stimmte zwar, dass Paul, als sie in ihrem Zimmer waren, die Tür abschloss. Was danach kam, glich jedoch in nichts dem Traum. Während Frieda zusah, zog Paul schnell sein Hemd aus, wobei er eine hohe, magere, haarlose Brust enthüllte. Dann zog er die Hosen herunter. Zwischen seinen Beinen hing ein schlaffer, winziger, von der Vorhaut überzogener Penis. Er ähnelte in keiner Weise den erregenden Bildern, die Frieda gesehen hatte. Paul streckte sich auf dem Bett aus und wartete auf sie. Frieda merkte, dass sie sich selbst ausziehen musste. Langsam begann sie, ihre Kleider abzustreifen. Nun, Größe ist nicht alles, dachte Frieda. Paul wird ein wunderbarer Liebhaber sein. Einige Augenblicke später legte sich die zitternde junge Frau neben ihren Mann aufs Ehebett. Während sie darauf wartete, dass er etwas Romantisches sagte, wälzte Paul sich auf sie, stieß ein paar Mal in sie hinein und rollte wieder herunter. Für die verblüffte junge Frau war alles zu Ende, ehe es begonnen hatte. Was Paul betraf, so hatte er die wenigen sexuellen Erfahrungen bei den Prostituierten von München gesammelt, und er griff schon nach seiner Brieftasche, als ihm einfiel, dass er ja nicht mehr dafür zu zahlen brauchte. Von jetzt an war es kostenlos. Noch lange, nachdem Paul eingeschlafen war, lag Frieda im Bett und versuchte, nicht über ihre Enttäuschung nachzudenken. Sex ist nicht alles, sagte sie sich. Mein Paul wird einen wunderbaren Ehemann abgeben. Es sollte sich herausstellen, dass auch dies ein Irrtum war.
Kurz nach den Flitterwochen begann Frieda, Paul in einem realistischeren Licht zu sehen. Sie war im Hinblick auf ihre spätere Aufgabe als Hausfrau erzogen worden und gehorchte deshalb ihrem Mann ohne Widerrede, aber sie war keineswegs dumm. Pauls einziges Lebensinteresse galt seinen Gedichten, und Frieda erkannte bald, dass sie herzlich schlecht waren. Sie konnte nicht übersehen, dass Paul auf beinahe jedem denkbaren Gebiet viel zu wünschen übrig ließ. Wo Paul unentschlossen war, zeigte Frieda sich fest, und Pauls geschäftlichem Unvermögen begegnete sie mit Klugheit. Anfangs hätte sie still leidend hingenommen, dass das Familienoberhaupt ihre schöne Mitgift in seiner an Dummheit grenzenden Gutmütigkeit verschleuderte. Als sie nach Detroit zogen, war Friedas Geduld zu Ende. Eines Tages marschierte sie in den Fleischerladen ihres Mannes und übernahm die Kasse. Als erstes hängte sie ein Schild auf: Kein Kredit. Ihr Mann war entsetzt, aber das war nur der Anfang. Frieda erhöhte die Fleischpreise und begann zu inserieren, überschüttete die Nachbarschaft mit Reklamezetteln, und das Geschäft begann über Nacht aufzublühen. Von diesem Augenblick an war es Frieda, die alle wichtigen Entscheidungen traf, und Paul folgte ihnen. Friedas Enttäuschung hatte aus ihr eine Tyrannin gemacht. Sie stellte fest, dass sie Talent besaß, Menschen zu leiten und Geschäfte zu führen, und sie war unerbittlich. Es war Frieda, die entschied, wie ihr Geld angelegt werden sollte, wo sie wohnen, wo sie Ferien machen würden; und wann es Zeit war, ein Kind zu haben.
Eines Abends teilte sie Paul ihren Entschluss mit und ließ ihn sich gleich an die Arbeit machen, bis der arme Mann einem Nervenzusammenbruch nahe war. Er fürchtete, zuviel Sex könnte seiner Gesundheit schaden, aber Frieda war eine Frau von großer Entschlossenheit. »Steck ihn 'rein«, befahl sie.
»Wie kann ich?« wandte Paul ein. »Er ist nicht steif genug.«
Frieda nahm seinen verkümmerten kleinen Penis in die Hand und zog die Vorhaut zurück, und als sich nichts ereignete, nahm sie ihn in den Mund – »Mein Gott, Frieda! Was tust du da?« -, bis er trotz seines Widerstrebens hart wurde, und sie steckte ihn sich zwischen die Beine, bis Pauls Sperma in ihr war.
Drei Monate später teilte Frieda ihrem Mann mit, er könne sich jetzt ausruhen, sie sei schwanger. Paul wollte ein Mädchen, aber Frieda wollte einen Jungen, und so war es denn keine Überraschung für ihre Freunde, dass sie einen Jungen bekam.
Frieda bestand darauf, dass das Kind zu Hause von einer Hebamme zur Welt gebracht wurde. Alles ging bis zur Entbindung gut. Erst danach bekamen diejenigen, die sich um das Bett versammelten, einen Schock. Das Neugeborene war in jeder Hinsicht normal, außer was seinen Penis betraf. Das Glied des Kindes war riesig und hing wie ein geschwollenes übergroßes Anhängsel zwischen seinen unschuldigen Schenkeln herab.
Sein Vater ist nicht so gebaut, dachte Frieda mit unbändigem Stolz.
Sie nannte ihn Tobias, nach einem Ratsherrn, der in ihrer Nachbarschaft gewohnt hatte. Paul sagte Frieda, er werde die Erziehung des Knaben übernehmen. Schließlich sei dies die Sache des Vaters.
Frieda hörte sich das an und lächelte, ließ Paul aber nur selten in die Nähe des Kindes. Sie erzog den Jungen. Sie herrschte über ihn mit teutonischer Strenge, denn sie hielt nichts von Samthandschuhen. Mit fünf war Toby ein dünnes, spindelbeiniges Kind mit einem versonnenen Gesicht und den strahlenden enzianblauen Augen seiner Mutter. Toby betete seine Mutter an und hungerte nach ihrer Anerkennung. Er wollte, dass sie ihn aufhob und auf ihrem großen, weichen Schoß hielt, damit er seinen Kopf tief in ihren Busen drücken konnte. Aber Frieda hatte für dergleichen keine Zeit. Sie war damit beschäftigt, den Lebensunterhalt für ihre Familie zu verdienen. Sie liebte den kleinen Toby und war fest entschlossen, ihn davor zu bewahren, ein Schwächling wie sein Vater zu werden. Frieda verlangte Perfektion in allem, was Toby tat. Als er in die Schule kam, pflegte sie seine Hausarbeiten zu überwachen, und wenn er hilflos vor einer Aufgabe saß, ermahnte sie ihn: »Los, Junge – krempel die Ärmel hoch!« Und sie stand dabei, bis er das Problem gelöst hatte. Je strenger Frieda mit Toby war, desto mehr liebte er sie. Er zitterte bei dem Gedanken, ihr zu missfallen. Sie bestrafte schnell und lobte nur zögernd, aber sie war der Meinung, es sei zu Tobys Bestem. Von dem Augenblick an, in dem ihr Sohn ihr in die Arme gelegt worden war, hatte Frieda gewusst, dass er eines Tages ein berühmter und bedeutender Mann werden würde. Sie wusste nicht, wie oder wann, aber sie wusste, dass es so sein würde. Ganz so, als hätte Gott es ihr ins Ohr geflüstert. Noch bevor er alt genug war, um zu begreifen, was sie sagte, sprach Frieda mit ihm von seiner künftigen Größe und hörte nie auf, davon zu sprechen. Daher wuchs der junge Toby auf in dem Wissen, dass er berühmt werden würde, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie oder warum. Er wusste nur, dass seine Mutter sich nie irrte.
Zu Tobys glücklichsten Augenblicken gehörte es, in der riesigen Küche zu sitzen und seine Hausaufgaben zu machen, während seine Mutter an dem großen, altmodischen Herd stand und kochte. Sie machte eine himmlisch duftende, dicke schwarze Bohnensuppe, in der ganze Frankfurter herumschwammen, und Platten voll saftiger Bratwürste und Kartoffelpuffer mit knusprigen braunen Rändern. Oder sie stand an dem großen Hackblock in der Mitte der Küche und knetete Teig mit ihren dicken, starken Händen, stäubte eine leichte Schicht Mehl darüber und verwandelte wie durch Zauber den Teig in einen Pflaumen- oder Apfelkuchen, bei denen einem das Wasser im Mund zusammenlief. Toby ging dann zu ihr und umschlang ihren großen Körper, wobei sein Gesicht gerade bis zu ihrer Taille reichte. Ihr erregend weiblicher Moschusgeruch wurde Teil all der aufregenden Küchengerüche, und eine unerbetene Sexualität begann sich in ihm zu regen. In diesen Augenblicken wäre Toby freudig für sie gestorben. Bis an sein Lebensende weckte der Duft frischer, in Butter schmorender Äpfel sofort die lebhafte Erinnerung an seine Mutter.
Eines Nachmittags, als Toby zwölf Jahre alt war, kam Mrs. Durkin, die Klatschbase der Gegend, zu Besuch. Mrs. Durkin war eine Frau mit knochigem Gesicht, schwarzen flinken Augen und einer Zunge, die nie stillstand. Als sie gegangen war, ahmte Toby sie so gut nach, dass seine Mutter in schallendes Gelächter ausbrach. Toby schien es, als hörte er sie zum ersten Mal wirklich lachen. Von diesem Augenblick an lauerte Toby auf Möglichkeiten, sie zu amüsieren. Er bot ihr phantastische Nachahmungen von Kunden, die in den Fleischerladen kamen, von Lehrern und Schulkameraden, und jedes Mal brach seine Mutter in wahre Lachstürme aus.
Endlich hatte Toby ein Mittel gefunden, die Anerkennung seiner Mutter zu erringen.
Er bewarb sich um die Mitwirkung bei einem Schultheaterstück, No Ac-count David, und bekam die Hauptrolle. Am Abend der Premiere saß seine Mutter in der ersten Reihe und beklatschte den Erfolg ihres Sohnes. In diesem Augenblick wusste Frieda, wie sich Gottes Verheißung erfüllen würde.
Es war Anfang der dreißiger Jahre, zu Beginn der Depression, und Kinos im ganzen Land wandten jede erdenkliche List an, um ihre leeren Reihen zu füllen. Sie boten kostenlos Speisen an, verschenkten Radios, veranstalteten Keno- und Bingo-Abende und engagierten Organisten, um den springenden Ball zu begleiten, während das Publikum mitsang.
Und sie veranstalteten Amateurwettbewerbe. Frieda sah sorgfältig den Lokalteil der Zeitung durch, um festzustellen, wo Wettbewerbe stattfanden. Sie ging mit Toby hin und saß im Publikum, während er seine Imitationen von Al Jolson, James Cagney und Eddie Cantor vortrug, und schrie laut: »Himmel! Was für ein begabter Junge!« Toby gewann fast immer den ersten Preis.
Er war größer geworden, war aber immer noch dünn, ein ernstes Kind mit arglosen hellblauen Augen im Gesicht eines Cherubs. Wenn man ihn ansah, hatte man sofort den Eindruck von Unschuld. Er weckte den Wunsch, ihn zu umarmen, zu herzen und vor dem Leben zu schützen. Die Menschen liebten ihn, und auf der Bühne spendeten sie ihm Beifall. Zum ersten Mal begriff Toby, wozu er bestimmt war: Er würde ein Star werden, zuerst für seine Mutter, an zweiter Stelle für Gott.
Tobys Geschlechtstrieb begann sich zu regen, als er fünfzehn war. Er pflegte im Badezimmer zu onanieren, dem einzigen Ort, an dem er ungestört sein konnte, aber das war nicht genug. Er stellte fest, dass er ein Mädchen brauchte.
Eines Abends fuhr Clara Connors, die verheiratete Schwester eines Klassenkameraden, Toby von einem Botengang, den er für seine Mutter gemacht hatte, nach Hause. Clara war eine hübsche Blondine mit großen Brüsten, und als Toby neben ihr saß, bekam er eine Erektion. Nervös ließ er seine Hand zu ihrem Schoß hinüber und unter ihren Rock gleiten, bereit, sich sofort zurückzuziehen, falls sie schreien sollte. Clara war eher amüsiert als böse, aber als Toby seinen Penis hervorholte und sie sah, wie groß er war, lud sie ihn zum folgenden Nachmittag in ihr Haus und führte Toby in die Freuden des Geschlechtsverkehrs ein. Es war ein phantastisches Erlebnis. Statt einer seifigen Hand hatte Toby ein weiches, warmes Gefäß gefunden, das pochte und nach seinem Penis griff. Claras Stöhnen und ihre Schreie ließen ihn immer wieder hart werden, so dass er einen Orgasmus nach dem anderen hatte, ohne das warme, nasse Nest zu verlassen. Früher hatte er sich wegen der Größe seines Penis geschämt. Jetzt war er plötzlich stolz darauf. Clara konnte dieses Phänomen nicht für sich behalten, und bald stellte Toby fest, dass er ein halbes Dutzend verheirateter Frauen in der Nachbarschaft beglückte.
Während der nächsten zwei Jahre brachte Toby es fertig, beinahe die Hälfte der Mädchen in seiner Klasse zu entjungfern. Einige von Tobys Klassenkameraden waren Fußballhelden oder sahen besser aus als er oder waren reich – aber wo sie scheiterten, war Toby erfolgreich. Er war das Komischste und Reizendste, was die Mädchen je gesehen hatten, und es war unmöglich, gegenüber diesem unschuldigen Gesicht und diesen versonnenen blauen Augen nein zu sagen.
In seinem letzten Schuljahr in der High School, er war achtzehn, wurde er ins Direktorzimmer gerufen. Dort befanden sich bereits Tobys Mutter mit grimmigem Gesicht, ein schluchzendes sechzehnjähriges Mädchen namens Eileen Henegan und ihr Vater, ein Polizeibeamter in Uniform. Sowie Toby das Zimmer betrat, wusste er, dass er in größten Schwierigkeiten war.
»Ich will gleich zur Sache kommen, Toby«, sagte der Direktor. »Eileen ist schwanger. Sie sagt, dass Sie der Vater ihres Kindes sind. Haben Sie körperliche Beziehungen zu ihr gehabt?«
Toby spürte, wie sein Mund trocken wurde. Alles, woran er denken konnte, war, wie sehr es Eileen gefallen hatte, wie sie gestöhnt und nach mehr verlangt hatte. Und jetzt das!
»Antworte, du kleiner Bastard!« brüllte Eileens Vater. »Hast du meine Tochter berührt?«
Toby blickte verstohlen zu seiner Mutter hinüber. Dass sie da war, um seine Schande mitzuerleben, bestürzte ihn mehr als alles andere. Er hatte sie enttäuscht, hatte sie blamiert. Sie würde von seinem Benehmen angewidert sein. Toby fasste den Entschluss, nie wieder ein Mädchen anzurühren, solange er lebte, wenn er je aus dieser Sache herauskäme, wenn Gott ihm nur dieses eine Mal helfen und eine Art Wunder geschehen lassen würde. Er würde sofort zu einem Arzt gehen und sich kastrieren lassen, um nie wieder an Sex zu denken und…
»Toby…« Jetzt sprach seine Mutter, mit strenger und kalter Stimme. »Bist du mit diesem Mädchen ins Bett gegangen?« Toby schluckte, holte tief Atem und murmelte: »Ja, Mutter.« »Dann wirst du sie heiraten.« Das klang endgültig und entschieden. Sie sah das schluchzende, verquollene Mädchen an. »Willst du das?«
»J-ja«, rief Eileen. »Ich liebe Toby.« Sie drehte sich zu Toby um. »Sie haben mich dazu gezwungen. Ich wollte ihnen deinen Namen nicht nennen.«
Ihr Vater, der Polizeisergeant, verkündete allen im Zimmer Anwesenden: »Meine Tochter ist erst sechzehn. Nach dem Gesetz handelt es sich um eine Vergewaltigung. Er könnte für den Rest seines elenden Lebens ins Gefängnis kommen. Aber wenn er sie heiratet…«
Alle wandten sich um und sahen Toby an. Er schluckte wieder und sagte: »Ja, Sir. Es – es tut mir leid, dass es passiert ist.«
Während der Fahrt nach Hause, die schweigsam verlief, saß Toby unglücklich neben seiner Mutter. Er wusste, wie sehr er sie verletzt hatte. Jetzt müsste er einen Job finden, um Eileen und das Kind zu ernähren. Wahrscheinlich würde er im Fleischerladen arbeiten und seine Träume, all seine Zukunftspläne vergessen müssen. Als sie zu Hause waren, sagte seine Mutter zu ihm: »Komm nach oben.«
Toby folgte ihr in sein Zimmer hinauf, machte sich auf eine Strafpredigt gefaßt. Er sah zu, wie sie einen Koffer hervorholte und seine Anzüge einzupacken begann. Verwundert starrte Toby sie an. »Was tust du da, Mama?« »Ich? Ich tue gar nichts. Du tust etwas. Du reist ab.« Sie hielt inne, drehte sich um und blickte ihn voll an. »Hast du vielleicht geglaubt, dass ich dir erlauben würde, dein Leben für dieses Nichts von einem Mädchen wegzuwerfen? Sie hat dich in ihr Bett gelassen, und sie wird ein Kind bekommen. Das beweist zwei Dinge – dass du menschlich bist und sie dämlich ist! O nein – niemand legt meinen Sohn mit einer Heirat herein. Gott beabsichtigt, dich einen großen Mann werden zu lassen, Toby. Du fährst nach New York, und wenn du ein berühmter Star bist, wirst du mich nachkommen lassen.«
Er blinzelte sie tränenüberströmt an und flog in ihre Arme, und sie wiegte ihn an ihrem riesigen Busen. Toby fühlte sich plötzlich verloren und verängstigt bei dem Gedanken, sie zu verlassen. Und doch erfüllte ihn eine Erregung, die Freude darüber, ein neues Leben zu beginnen. Er würde im Showgeschäft Einzug halten. Er würde ein Star sein; er würde berühmt werden. Seine Mutter hatte es gesagt.
Im Jahre 1939 war New York ein Mekka der Theaterwelt. Die Depression war vorüber. Präsident Franklin Roosevelt hatte versprochen, dass nichts zu fürchten sei als die Furcht selbst, dass Amerika die wohlhabendste Nation auf der Welt werden würde, und so war es auch. Jedermann hatte Geld und gab es aus. Dreißig Theaterstücke wurden am Broadway gespielt, und alle schienen Erfolge zu sein.
Toby kam in New York mit hundert Dollar an, die seine Mutter ihm gegeben hatte. Toby wusste, dass er reich und berühmt werden würde. Er würde seine Mutter nachkommen lassen, und sie würden in einem schönen Penthouse wohnen. Und sie würde jeden Abend ins Theater gehen, um mit anzusehen, wie das Publikum ihm applaudierte. In der Zwischenzeit musste er einen Job finden. Er ging zu den Bühneneingängen aller Broadway-Theater und erzählte den Leuten von all den Amateurwettbewerben, die er gewonnen hatte, und wie begabt er sei. Man warf ihn hinaus. In den Wochen, die Toby auf Jobsuche war, schmuggelte er sich in Theater und Nachtklubs und beobachtete die Arbeit der Spitzendarsteller, besonders der Komiker. Er sah Ben Blue und Joe E. Lewis und Frank Fay. Toby wusste, dass er eines Tages besser sein würde als sie alle.
Da sein Geld zu Ende ging, nahm er einen Job als Tellerwäscher an. Jeden Sonntagmorgen, wenn die Telefongebühren niedrig waren, rief er seine Mutter an. Sie erzählte Toby von der Aufregung, die sein Davonlaufen verursacht hatte.
»Du solltest sie sehen«, sagte seine Mutter. »Der Polizist kommt jeden Abend in seinem Streifenwagen her. Wie der angibt, könnte man denken, wir seien Verbrecher. Er fragt dauernd, wo du bist.«
»Und was antwortest du ihm?« fragte Toby ängstlich.
»Die Wahrheit. Dass du dich wie ein Dieb in der Nacht aus dem Staub gemacht hast, und wenn ich dich je erwischte, würde ich dir persönlich den Hals umdrehen.«
Toby lachte schallend.
Im Sommer gelang es Toby, einen Job als Gehilfe eines Zauberkünstlers zu bekommen, eines untalentierten Pfuschers mit kleinen Glitzeraugen, der unter dem Namen »der große Merlin« auftrat. Sie gastierten in einer Reihe zweitklassiger Hotels in den Catskills, und Tobys Hauptaufgabe bestand darin, die schwere Ausrüstung aus Merlins Kombiwagen heraus- und wieder hineinzuhieven. Außerdem war es seine Pflicht, die Requisiten zu bewachen, die aus sechs weißen Kaninchen, drei Kanarienvögeln und zwei Hamstern bestanden. Wegen Merlins Angst, dass die Requisiten »aufgegessen werden könnten«, musste Toby mit ihnen in Zimmern von der Größe einer Besenkammer hausen, und Toby schien es, dass der ganze Sommer aus einem überwältigenden Gestank bestand. Er befand sich in einem Zustand physischer Erschöpfung, bedingt durch das Tragen der schweren Gehäuse mit Trickseiten und falschen Böden und das Aufpassen auf die Requisiten, die dauernd davonliefen. Er war einsam und enttäuscht. Er saß da, starrte die schäbigen kleinen Zimmer an und fragte sich, wozu er hier war und wie diese Tätigkeit ihn im Showgeschäft voranbringen sollte. Er übte seine Imitationen vor dem Spiegel ein, und sein Publikum bestand aus Merlins übelriechenden Tieren.
Eines Sonntags gegen Ende des Sommers rief Toby wie gewöhnlich zu Hause an. Diesmal war sein Vater am Apparat.
»Toby hier, Pop. Wie geht's dir?«
Schweigen.
»Hallo! Bist du da?«
»Ja, ich bin da, Toby.« Etwas in der Stimme seines Vaters ließ Toby frösteln.
»Wo ist Mom?«
»Sie ist gestern Abend ins Krankenhaus gebracht worden.«
Toby packte den Hörer so fest, dass er ihn fast zerquetschte. »Was ist passiert?«
»Der Doktor sagte, es war ein Herzanfall.«
Nein! Nicht seine Mutter! »Sie wird aber gesund werden, nicht wahr?« fragte Toby. Er schrie in die Sprechmuschel: »Sag mir, dass sie gesund werden wird, verdammt noch mal!«
Wie aus unendlicher Entfernung hörte er seinen Vater unter Schluchzen sagen: »Sie – sie ist vor ein paar Stunden gestorben, mein Sohn.«
Die Worte überfluteten Toby wie weißglühende Lava, versengten ihn, bis sein Körper sich anfühlte, als stünde er in Flammen. Sein Vater log. Sie konnte nicht tot sein. Sie hatten einen Pakt geschlossen. Toby würde berühmt werden, und seine Mutter würde an seiner Seite sein. Ein schönes Penthouse wartete auf sie und eine Limousine mit Chauffeur und Pelze und Brillanten… Er schluchzte so sehr, dass er nicht atmen konnte. Er hörte die ferne Stimme sagen: »Toby! Toby!«
»Ich komme sofort heim. Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen«, sagte sein Vater. »Aber du darfst nicht hierher kommen. Sie erwarten dich, Toby. Eileen bekommt bald ihr Kind. Ihr Vater will dich umbringen. Sie werden dir bei der Beerdigung auflauern.«
Er konnte also dem einzigen Wesen auf der Welt, das er liebte, nicht einmal Lebewohl sagen. Toby lag den ganzen Tag im Bett und hing seinen Erinnerungen nach. Die Bilder von seiner Mutter waren so lebhaft und lebendig. Sie war in der Küche, kochte und sagte ihm, was für ein bedeutender Mann er werden würde; sie saß im Theater, in der ersten Reihe, und rief: »Himmel! Was für ein begabter Junge!«
Und sie lachte über seine Imitationen und Witze. Und sie packte seinen Handkoffer. Wenn du ein berühmter Star bist, wirst du mich nachkommen lassen. Er lag da, betäubt vor Qual, und dachte: Ich werde diesen Tag nie vergessen. Nicht, solange ich lebe. Der 14. August 1939. Dies ist der wichtigste Tag meines Lebens.
Er hatte recht. Nicht wegen des Todes seiner Mutter, sondern wegen eines Ereignisses, das sich in diesem Augenblick in Odessa, Texas, fünfhundert Meilen entfernt, zutrug.
Das Krankenhaus war ein namenloses, vierstöckiges Gebäude mit den typischen Merkmalen einer Wohlfahrtsinstitution. Das Innere war ein Kaninchengehege aus Kabinen, dazu bestimmt, Krankheiten zu diagnostizieren, sie zu lindern, zu heilen und manchmal auch zu begraben. Es war ein medizinischer Supermarkt, und für jedermann war etwas da.
Es war vier Uhr morgens, die Stunde des stillen Todes oder des unregelmäßigen Schlafes. Eine Atempause für das Krankenhauspersonal, ehe es sich für die Schlachten des nächsten Tages rüstet.
Das Entbindungsteam im vierten OP war in Schwierigkeiten. Was als Routine-Entbindung begonnen hatte, war plötzlich ein Krisenfall geworden. Bis zur Entbindung selbst war alles normal verlaufen. Mrs. Karl Czinski war eine gesunde Frau in der Blüte ihrer Jahre mit den breiten Hüften einer Bäuerin, die der Traum eines Geburtshelfers sind. Die Preßwehen hatten eingesetzt, und alles verlief planmäßig.
»Steißgeburt«, kündigte der Geburtshelfer Dr. Wilson an. Das war keineswegs alarmierend. Obgleich nur drei Prozent aller Geburten Steißgeburten sind, lassen sich diese gewöhnlich ohne Schwierigkeiten durchführen. Es gibt drei Arten von Steißgeburten: die natürliche, bei der keine Hilfe nötig ist; diejenige, bei der ein Geburtshelfer gebraucht wird; und ein völliger Stillstand, so dass das Kind im Mutterschoß bleibt.
Dr. Wilson stellte mit Befriedigung fest, dass dies eine natürliche Geburt werden würde. Er beobachtete, wie zuerst die Füße des Kindes, dann zwei kleine Beine herauskamen. Beim nächsten Pressen der Mutter erschienen die Schenkel des Kindes.
»Wir haben's beinahe geschafft«, sagte Dr. Wilson ermutigend. »Pressen Sie noch einmal.«
Mrs. Czinski tat es. Nichts geschah.
Er runzelte die Stirn. »Versuchen Sie's noch mal. Fester.«
Nichts.
Dr. Wilson legte die Hände um die Beine des Kindes und zog ganz sanft. Keine Bewegung. Er zwängte eine Hand an dem Kind vorbei durch den engen Gang in den Uterus und begann zu sondieren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Die Entbindungsschwester tupfte sie ab.
»Wir bekommen Schwierigkeiten«, sagte Dr. Wilson leise.
Mrs. Czinski hörte es. »Was ist los?« fragte sie.
»Alles bestens.« Dr. Wilson langte weiter hinein und versuchte sanft, das Kind nach unten zu drücken. Es rührte sich nicht. Er konnte fühlen, dass die Nabelschnur zwischen dem Körper des Kindes und dem mütterlichen Becken zusammengepreßt und die Blutzufuhr des Kindes abgeschnitten war.
»Fötoskop!«
Die Entbindungsschwester griff nach dem Instrument und setzte es am Leib der Mutter an, horchte auf den Herzschlag des Kindes. »Er ist auf dreißig herunter«, meldete sie. »Außerdem Rhythmusstörungen.«
Dr. Wilsons Finger tasteten das Innere des Mutterleibes ab, sondierten und suchten.
»Ich verliere den Herzschlag des Fötus -« Die Stimme der Entbindungsschwester klang besorgt. »Er setzt aus!«
Sie hatten ein sterbendes Kind im Mutterschoß. Es gab noch eine geringe Chance für die Wiederbelebung, wenn sie es rechtzeitig herausbekommen konnten. Sie hatten ein Maximum von vier Minuten, es zu entbinden, seine Lungen zu säubern und sein winziges Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Nach vier Minuten würde der Gehirnschaden schwer und unwiderruflich sein.
»Stoppuhr an«, befahl Dr. Wilson.
Jeder im Raum blickte instinktiv auf, als die Zeiger der elektrischen Uhr an der Wand auf die Zwölf-Uhr-Position rückten und der große rote Sekundenzeiger seine erste Umdrehung machte.
Das Entbindungsteam ging an die Arbeit. Ein Atemgerät wurde an den Tisch herangeschoben, während Dr. Wilson sich bemühte, das Kind vom Beckenboden zu lösen. Er begann mit der Bracht-Methode, versuchte, das Kind zu verschieben, wobei er dessen Schultern zusammendrückte, damit es durch die Öffnung der Vagina gleiten konnte. Vergeblich.
Einer Lernschwester, die zum ersten Mal an einer Entbindung teilnahm, wurde plötzlich schlecht. Sie eilte aus dem Raum.
Draußen, vor der Tür des OP, stand Karl Czinski und knetete nervös seinen Hut in den großen schwieligen Händen. Dies war der glücklichste Tag seines Lebens. Er war Tischler, ein einfacher Mann, der viel von früher Heirat und großer Familie hielt. Dieses Kind würde das erste sein, und er konnte seine Erregung kaum zügeln. Er liebte seine Frau sehr und wusste, dass er ohne sie verloren wäre. Er dachte noch an seine Frau, als die Schwester aus dem Kreißsaal stürzte, und rief ihr zu: »Wie geht es ihr?«
Die verstörte junge Schwester, deren Gedanken ausschließlich mit dem Kind beschäftigt waren, rief: »Sie ist tot! Sie ist tot!« und stürzte davon, weil sie sich übergeben musste.
Mr. Czinski wurde kreideweiß. Er fuhr sich an die Brust und rang nach Luft. Als man ihn in die Intensivstation brachte, war ihm nicht mehr zu helfen.
Im Kreißsaal arbeitete Dr. Wilson wie rasend im Wettlauf mit der Uhr. Er konnte die Nabelschnur berühren und den Druck darauf fühlen, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu mindern. Er musste gegen den Impuls ankämpfen, das halbentbundene Kind mit Gewalt herauszuziehen, aber er hatte gesehen, wie es Kindern erging, die so entbunden worden waren. Mrs. Czinski stöhnte jetzt, halb wahnsinnig.
»Pressen Sie, Mrs. Czinski. Fester! Los!«
Es hatte keinen Zweck. Dr. Wilson blickte zur Uhr hinauf. Zwei kostbare Minuten waren vergangen, ohne dass Blut durch das Hirn des Kindes zirkulierte. Dr. Wilson stand nun vor einem weiteren Problem: Was sollte er tun, wenn das Kind nach den vier Minuten gerettet würde? Es leben, das hieße, dahinvegetieren lassen? Oder ihm einen gnadenvollen, schnellen Tod geben? Er schob den Gedanken beiseite und verstärkte seine Bemühungen. Er schloss die Augen, konzentrierte sich völlig auf das, was sich in dem Körper der Frau abspielte. Er versuchte die Mauriceau-Smellie-Veit-Methode, eine komplizierte Folge von Bewegungen, dazu bestimmt, den Körper des Kindes zu lockern und zu befreien. Und plötzlich veränderte sich etwas. Er fühlte eine Bewegung. »Piper-Zange!«
Die Entbindungsschwester reichte ihm schnell die Spezialzange, und Dr. Wilson führte sie ein und legte sie um den Kopf des Kindes. Einen Augenblick später tauchte der Kopf auf.
Das Kind war entbunden.
Dies war immer der schönste Augenblick: das Wunder eines neu erschaffenen Lebens, das rotgesichtig und schreiend sich über die Unwürdigkeit beklagte, aus dem ruhigen, dunklen Schoß in das Licht und die Kälte hinausgezwungen zu werden.
Aber nicht bei diesem Kind. Dieses Kind war blauweiß und still. Es war ein Mädchen.
Die Uhr. Noch eineinhalb Minuten. Jede Bewegung lief jetzt schnell und automatisch ab, das Ergebnis langjähriger Praxis. Gazeumwickelte Finger säuberten den Rachen des Kindes, so dass Luft in die Kehlkopföffnung dringen konnte. Dr. Wilson legte das Kind flach auf den Rücken. Die Entbindungsschwester reichte ihm einen kleinen Kehlkopfspiegel, der an eine elektrische Saugpumpe angeschlossen war. Er brachte ihn an und nickte, und die Schwester schaltete das Gerät ein. Ein rhythmisch saugendes Geräusch war zu vernehmen.
Dr. Wilson blickte zur Uhr empor.
Noch zwanzig Sekunden. Herzschlag negativ.
Fünfzehn… vierzehn… Herzschlag negativ.
Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Es konnte schon zu spät sein, eine Gehirnschädigung zu verhindern. Aber ganz sicher war man bei diesen Dingen nie. Er hatte Krankenhausstationen voller trauriger Geschöpfe mit den Körpern von Erwachsenen und dem Verstand von Kindern gesehen – und Schlimmeres.
Zehn Sekunden. Und kein Puls, nicht einmal ein Hoffnungsschimmer.
Fünf Sekunden. Er traf seine Entscheidung jetzt und hoffte, dass Gott verstehen und ihm vergeben würde. Er würde den Stöpsel herausziehen und sagen, dass das Kind nicht hätte gerettet werden können. Niemand würde Kritik an seiner Handlungsweise üben. Er befühlte die Haut des Kindes noch einmal. Sie war kalt und feucht.
Drei Sekunden.
Er sah auf das Kind hinunter und hätte fast geweint. Es war ein Jammer. Es war ein so hübsches Kind. Es wäre zu einer schönen Frau herangewachsen. Er fragte sich, wie sich ihr Leben wohl gestaltet hätte. Hätte sie geheiratet und Kinder gehabt? Oder wäre sie Künstlerin oder Lehrerin oder Geschäftsfrau geworden? Wäre sie reich oder arm gewesen? Glücklich oder unglücklich?
Eine Sekunde. Kein Herzschlag.
Null.
Er griff nach dem Schalter, und in diesem Augenblick begann das Herz des Kindes zu schlagen. Zunächst eine unmotivierte Zuckung, dann wieder eine, und dann festigte sie sich zu einem starken, regelmäßigen Schlag. Spontane Hochrufe und Glückwünsche erklangen im Raum. Dr. Wilson hörte nicht hin.
Er starrte zu der Uhr an der Wand empor.
Ihre Mutter nannte sie Josephine, nach ihrer Großmutter in Krakau. Ein zweiter Vorname wäre für die Tochter einer polnischen Näherin in Odessa, Texas, anmaßend gewesen.
Aus Gründen, die Mrs. Czinski nicht begriff, bestand Dr. Wilson darauf, dass Josephine alle sechs Wochen zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurde. Das Ergebnis war jedesmal dasselbe: sie schien normal.
Nur die Zeit würde es beweisen.
Mit dem Tag der Arbeit, am 1. Montag im September, war die Sommersaison in den Catskills vorüber, »der große Merlin« war arbeitslos und mit ihm Toby. Toby konnte gehen, wohin er wollte. Aber wohin sollte er gehen? Er war ohne Heim, ohne Arbeit und ohne einen Cent. Die Entscheidung wurde Toby abgenommen, als eine Besucherin ihm fünfundzwanzig Dollar dafür bot, sie und ihre drei kleinen Kinder von den Catskills nach Chicago zu fahren.
Toby ging, ohne sich von dem »großen Merlin« oder seinen stinkenden Requisiten zu verabschieden.
Das Chicago des Jahres 1939 war eine blühende, weltoffene Stadt. Es war eine Stadt, die ihren Preis hatte, und diejenigen, die sich auskannten, konnten alles kaufen, von Frauen über Narkotika bis zu Politikern. Es gab Hunderte von Nachtklubs, die für jeden Geschmack etwas boten. Toby klapperte sie alle ab, von dem großen frechen Chez Paree bis zu den kleinen Bars in der Rush Street. Die Antwort war stets dieselbe. Niemand wollte einen jungen Anfänger als Komiker anstellen. Tobys Uhr lief ab. Es wurde Zeit für ihn, den Traum seiner Mutter zu verwirklichen. Er war beinahe neunzehn Jahre alt.
Einer der Klubs, in denen Toby herumlungerte, war der Knee High, wo die Unterhaltung von einer müden Combo, bestehend aus drei Instrumenten, von einem abgetakelten, betrunkenen Komiker und zwei Stripperinnen, Meri und Jen, bestritten wurde, die als die Perry Sisters angekündigt und, so unglaubwürdig es klingt, tatsächlich Schwestern waren. Sie waren in den Zwanzigern und attraktiv auf eine billige, schlampige Art. Jeri trat eines Abends an die Bar heran und setzte sich neben Toby. Er lächelte und sagte höflich: »Ihre Nummer gefällt mir.« Jeri drehte sich ihm zu, um ihn anzusehen, und erblickte einen naiven jungen Mann mit einem Kindergesicht, zu jung und zu schlecht angezogen, um als Opfer in Frage zu kommen. Sie nickte gleichgültig und wollte sich abwenden, als Toby aufstand. Jeri starrte auf die verräterische Ausbuchtung in seiner Hose, dann sah sie wieder zu dem unschuldigen jungen Gesicht auf. »Ach du lieber Gott«, sagte sie.
»Gehört das alles zu Ihnen?«
Er lächelte: »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Um drei Uhr an diesem Morgen war Toby mit beiden Perry Sisters im Bett.
Alles war peinlich genau geplant worden. Eine Stunde vor Beginn der Show hatte Jeri den Komiker des Klubs, einen besessenen Spieler, in ein Apartment in der Diversey Avenue gebracht, wo ein Würfelspiel im Gange war. Der Komiker leckte sich die Lippen und sagte: »Wir können nur eine Minute bleiben.«
Dreißig Minuten später, als Jeri davonschlich, warf der Komiker die Würfel und schrie wie ein Verrückter, in einer Phantasiewelt verloren, in der Erfolg und Reichtum an jedem Auge des Würfels hingen.
Im Knee High saß Toby an der Bar, schmuck und elegant, und wartete.
Als die Show anfangen sollte und der Komiker noch nicht erschienen war, begann der Inhaber des Klubs zu toben und zu fluchen. »Diesmal ist der Scheißkerl erledigt, habt ihr verstanden? Keinen Fuß darf der mehr in meinen Klub setzen!«
»Kann ich Ihnen nicht verübeln«, sagte Meri. »Aber Sie haben Glück. Da an der Bar sitzt ein neuer Komiker. Er ist gerade aus New York gekommen.«
»Was? Wo?« Der Inhaber warf einen kurzen Blick auf Toby. »Um Himmels willen, wo hat der seine Kinderfrau gelassen? Er ist ja noch ein Baby!«
»Er ist großartig!« sagte Jeri. Und sie wusste, wovon sie sprach.
»Versuchen Sie es mit ihm«, fügte Meri hinzu. »Was können Sie schon verlieren?«
»Meine gottverdammten Gäste!« Aber er zuckte die Schultern und ging zu Toby hinüber. »Sie sind also Komiker, was?«
»Nun ja«, sagte Toby beiläufig. »Ich habe gerade eine Tournee durch die Catskills hinter mir.«
Der Inhaber sah ihn einen Augenblick an. »Wie alt sind Sie?«
»Zweiundzwanzig«, log Toby.
»Scheiße. Na gut. Auf die Bühne mit Ihnen. Und wenn Sie Mist bauen, überleben Sie Ihr zweiundzwanzigstes Jahr nicht.«
Nun war es soweit. Toby Temples Traum sollte endlich Wirklichkeit werden. Er stand im Rampenlicht, während die Kapelle einen Tusch für ihn spielte und das Publikum, sein Publikum, dasaß und
Darauf wartete, ihn zu entdecken, für ihn zu schwärmen. Er fühlte eine Welle der Zuneigung, die so stark war, dass er das Gefühl hatte, ein Kloß stecke in seinem Hals. Es war, als ob er und das Publikum eins wären, miteinander verbunden durch ein wundervolles magisches Band. Einen Augenblick dachte er an seine Mutter und hoffte, dass sie ihn, wo immer sie sein mochte, jetzt sehen konnte. Der Tusch war zu Ende. Toby begann sein Abendprogramm.
»Guten Abend, ihr glücklichen Leute. Ich heiße Toby Temple. Ich schätze, Sie wissen alle, wie Sie heißen.«
Schweigen.
Er fuhr fort: »Haben Sie von dem neuen Chef der Mafia in Chicago gehört? Der ist schwul. Von jetzt ab ist im Todeskuß Dinner und Tanz inbegriffen.«
Kein Gelächter. Sie starrten ihn an, kalt und feindselig, und Toby spürte, wie scharfe Klauen der Furcht sich in seinen Magen krallten. Sein Körper war plötzlich schweißnass. Das wundervolle magische Band zum Publikum war gerissen.
Er machte weiter. »Ich hatte kürzlich ein Engagement in Maine oben. Das Theater lag so tief drinnen im Wald, dass der Manager ein Bär war.«
Schweigen. Sie verabscheuten ihn.
»Niemand hat mir gesagt, dass dies hier eine Versammlung von Taubstummen ist. Ich komme mir vor wie auf der Titanic. Es ist, als liefe man die Laufplanke hinauf, und da ist gar kein Schiff.«
Die ersten Buhrufe wurden laut. Zwei Minuten, nachdem Toby angefangen hatte, gab der Klub-Inhaber den Musikern wütend ein Zeichen. Sie begannen laut draufloszuspielen, um Tobys Stimme zu übertönen. Er stand da, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Aber seine Augen brannten vor Tränen.
Er hatte Lust, sie anzuschreien.
Die Schreie weckten Mrs. Czinski auf. Sie waren hoch und wild, furchterregend in der Stille der Nacht, und erst, als sie sich im Bett aufsetzte, merkte sie, dass das Kind schrie. Sie eilte in den Nebenraum, den sie als Kinderzimmer eingerichtet hatte. Josephine wälzte sich von einer Seite auf die andere, ihr Gesicht war blau vor Krumpfen. Im Krankenhaus gab ein Assistenzarzt dem Kind ein intravenöses Beruhigungsmittel, und es schlief friedlich ein. Dr. Wilson, der Josephine entbunden hatte, untersuchte sie eingehend. Er konnte nichts Krankhaftes feststellen. Aber er fühlte sich unbehaglich. Er konnte die Uhr an der Wand nicht vergessen.
Das Variete in Amerika hatte seine Blütezeit von 1881 bis 1932 und war endgültig tot, als das Palace Theatre in jenem Jahr seine Türen schloss. Das Variete war das Übungsfeld für alle aufstrebenden jungen Komiker gewesen, das Schlachtfeld, auf dem sie ihren Witz gegen feindliche, höhnische Zuhörer schärften. Jene Komiker allerdings, die sich durchsetzten, erlangten Ruhm und Vermögen. Eddie Cantor und W. C. Fields, Jolson und Benny, Abbott und Costello, Jessel und Bums, die Marx Brothers und Dutzende mehr. Das Variete war ein Hafen, eine stete Einkommensquelle, aber als das Variete tot war, mussten die Komiker sich anderen Bereichen zuwenden. Die Stars unter ihnen wurden für Radio-Sendungen und persönliche Auftritte engagiert, und sie gastierten auch in den bedeutenden Nachtklubs im ganzen Land. Für die sich abmühenden jungen Komiker wie Toby sah die Sache jedoch anders aus. Auch sie traten in Nachtklubs auf, aber das war eine ganz andere Welt. Sie wurde die »Klo-Tour« genannt, und das war noch ein beschönigender Ausdruck. Sie setzte sich aus den dreckigsten Saloons im ganzen Land zusammen, wo der ungewaschene Pöbel sich versammelte, um Bier zu saufen, die Stripperinnen anzurülpsen und rein aus Sport die Komiker fertigzumachen. Die Ankleidekabinen glichen Kloaken, die nach abgestandenem Essen, scharfen Getränken, Urin und billigem Parfüm stanken, alles überlagert von dem widerlichen Geruch von Furcht: Pleiteschweiß. Die Klosetts waren so schmutzig, dass die Schauspielerinnen sich über den Ausguss des Ankleidezimmers hockten, um zu urinieren. Die Bezahlung schwankte zwischen einer unverdaulichen Mahlzeit bis zu fünf, zehn oder manchmal fünfzehn Dollar pro Abend und hing ganz von der Reaktion des Publikums ab.
Toby Temple trat in allen auf, und hier machte er seine Lehrzeit durch. Die Namen der Städte wechselten, aber die Lokale waren stets die gleichen, die Gerüche waren die gleichen, und das feindlich gesinnte Publikum war das gleiche. Wenn sie einen Darsteller nicht mochten, warfen sie Bierflaschen nach ihm, belästigten ihn durch
Zwischenrufe während seines Auftritts und begleiteten seinen Abgang mit einem Pfeifkonzert. Es war eine harte Schule, aber eine gute, weil sie Toby alle Tricks beibrachte, um zu überleben. Er lernte, mit betrunkenen Touristen und nüchternen Ganoven umzugehen und die beiden nie zu verwechseln. Er lernte, einen potentiellen Zwischenrufer auszumachen und ihn zu überleben, indem er ihn um einen Schluck aus seinem Glas oder um eine Serviette bat, um sich die Stirn zu wischen.
Toby schwatzte sich in Lokale mit Namen wie Lake Kiamesha und Shawanga Lodge und The Avon hinein. Er trat in Wildwood, New Jersey, in den Sons of Italy und in Moose Halls auf.
Und er lernte unentwegt.
Tobys Nummer bestand aus der Parodierung beliebter Songs, aus Imitationen von Gable und Grant und Bogart und Cagney und aus Texten, die von den Komikern mit großen Namen, die sich teure Autoren leisten konnten, gestohlen waren. Alle aufstrebenden Komiker stahlen ihren Text und prahlten noch damit. »Ich mache Jerry Lester« – das hieß: sie verwendeten seinen Text -, »und ich bin doppelt so gut wie er.« – »Ich mache Milton Berle.« – »Sie sollten mal meinen Red Skelton sehen.«
Weil der Text der Schlüssel zu allem war, stahlen sie nur von den Besten.
Toby versuchte alles. Er fixierte das gleichgültige, starre Publikum mit seinen versonnenen blauen Augen und sagte: »Haben Sie je einen Eskimo pinkeln sehen?« Darauf legte er beide Hände vor seinen Hosenschlitz, und heraus tröpfelten Eisstückchen.
Er setzte einen Turban auf und wickelte sich in ein Laken. »Abdul, der Schlangenbeschwörer«, kündigte er an. Er spielte auf einer Flöte, und aus einem Weidenkorb wand sich eine Kobra hervor, die sich rhythmisch nach der Musik bewegte, da Toby an Drähten zog. Der Körper der Schlange war ein Irrigator, ihr Kopf war das Schlauchende. Es war immer jemand im Publikum, der das komisch fand.
Er brachte die Standard-Witze, die auch der Dümmste begriff. Er hatte Dutzende von »Knüllern« auf Lager; denn er musste stets bereit sein, von einer Nummer auf die nächste umzuschalten, ehe die Bierflaschen flogen.
Und wo immer er auftrat, wurde seine Darbietung vom Rauschen einer Toilettenspülung begleitet.
Toby reiste im Bus durchs Land. Wenn er in eine neue Stadt kam, pflegte er im billigsten Hotel oder in der einfachsten Pension abzusteigen und sich dann über die Nachtklubs und Bars und Pferdewett-lokale zu informieren. Er stopfte Pappe in die Sohlen seiner Schuhe und weißte seine Hemdkragen mit Kreide, um Wäscherechnungen zu sparen. Die Städte waren alle trostlos, und das Essen war immer schlecht; aber es war die Einsamkeit, die ihn zerfraß. Er hatte niemanden. Es gab keinen einzigen Menschen im ganzen Universum, den es interessierte, ob er lebte oder starb. Von Zeit zu Zeit schrieb er an seinen Vater, aber eher aus Pflichtgefühl als aus Liebe. Toby brauchte verzweifelt jemanden, mit dem er sprechen konnte, jemanden, der ihn verstand, seine Träume mit ihm teilte.
Er beobachtete, wie die erfolgreichen Unterhaltungskünstler, umringt von Bewunderern und in Begleitung schöner Frauen, die großen Klubs verließen und in blitzenden Limousinen davonfuhren, und Toby beneidete sie. Eines Tages…
Die schlimmsten Augenblicke waren, wenn er durchfiel, wenn er mitten in seiner Nummer ausgebuht und hinausgeworfen wurde, ehe er eine Chance gehabt hatte, überhaupt anzufangen. Dann hasste Toby das Publikum, wollte es umbringen. Es ging nicht nur darum, dass er versagt hatte – er hatte von Grund auf versagt. Noch tiefer konnte er nicht sinken; er war bereits ganz unten angelangt. Er verkroch sich in seinem Hotelzimmer und weinte und bat Gott, ihn in Ruhe zu lassen, diese Begierde von ihm zu nehmen, die ihn zwang, vor einem Publikum zu stehen und es zu unterhalten. Gott, betete er, lass mich ein Schuhverkäufer oder Fleischer sein wollen. Alles, bloß nicht das. Seine Mutter hatte sich geirrt. Gott hatte ihn nicht erwählt. Er würde nie berühmt werden. Morgen würde er sich eine andere Arbeit suchen. Er würde sich nach einem Bürojob mit geregelter Arbeitszeit umsehen und wie ein normales menschliches Wesen leben.
Und am nächsten Abend stand er doch wieder auf der Bühne, trug seine Imitationen vor, erzählte seine Witze und versuchte, die Leute für sich zu gewinnen, ehe sie sich gegen ihn wandten und ihn angriffen.
Er lächelte sie unschuldig an und sagte: »Es gab einmal einen Mann, der so verliebt in seine Ente war, dass er sie sogar mit ins Kino nahm. Als der Kassierer ihn nicht hineinlassen wollte, stopfte er sich die Ente vorn in seine Hose und ging hinein. Neben ihm saß eine Frau. Die wandte sich an ihren Mann und sagte: »Ralph, der Mann neben mir hat seinen Penis draußen.« Ralph wollte wissen, ob er sie belästigte. »Nein«, sagte sie. »Dann vergiss es und guck dir den Film an. « Kurz darauf stieß die Frau ihren Mann erneut an und flüsterte: »Ralph – sein Penis -«.
»Ich habe dir doch gesagt«, antwortete ihr Mann, »beachte ihn einfach nicht. « »Wie sollte ich nicht? Er frisst meinen Puffmais!«
Er trat jeweils nur einen Abend im Three Six Five in San Francisco, in Rudy's Rail in New York und in Kin Wa Low's in Toledo auf. Er agierte bei Klempnerversammlungen und auf Festbanketts.
Und er lernte.
Er trat täglich bis zu fünfmal auf kleinen Bühnen auf, die sich Odeon, Empire oder Star nannten.
Und er lernte.
Und schließlich gehörte zu jenen Dingen, die Toby Temple lernte, dass er ohne weiteres den Rest seines Lebens auf der »Klo-Tour« verbringen konnte, unbekannt und unentdeckt. Da aber ereignete sich etwas, das
dieses Problem zunächst in den Hintergrund drängte.
An einem kalten Sonntagnachmittag Anfang Dezember 1941 trat Toby im Dewey Theatre an der Fourteenth Street in New York auf, wo jede Nummer fünfmal pro Tag gegeben wurde. Es standen acht Nummern auf dem Programm, und zu Tobys Aufgaben gehörte es, sie anzusagen. Die erste Show ging gut. Während der zweiten Show, als Toby die Fliegenden Kanazawas vorstellte, eine japanische Akrobatenfamilie, wurden sie vom Publikum ausgezischt. Sie zogen sich sofort hinter die Bühne zurück. »Was zum Donnerwetter ist denn mit denen da draußen los?« fragte er.
»Mein Gott, haben Sie's nicht gehört? Die Japsen haben vor ein paar Stunden Pearl Harbor angegriffen«, informierte ihn der Bühnenmeister.
»Na und?« fragte Toby. »Sehen Sie sich diese Jungs an – die sind großartig.«
In der nächsten Show, als die japanische Truppe an der Reihe war, ging Toby auf die Bühne und sagte: »Ladies und Gentlemen, es ist mir eine große Ehre, Ihnen – frisch von ihrem Triumph in Manila zurückgekehrt – die Fliegenden Filipinos vorzustellen!« Sowie das Publikum die japanische Truppe sah, begann es zu zischen. Im Laufe des Tages machte Toby aus ihnen die Glücklichen Hawaiianer, die verrückten Mongolen und schließlich die Eskimo-Flieger. Aber er konnte sie nicht retten. Sich selbst auch nicht, wie sich herausstellen sollte. Als er an jenem Abend seinen Vater anrief, erfuhr Toby, dass zu Hause ein Brief auf ihn wartete. Er war vom Präsidenten unterzeichnet. Sechs Wochen später trat Toby in die U. S. Armee ein. Am Tag seiner Einberufung hämmerte sein Kopf so stark, dass er kaum imstande war, den Eid zu leisten.
Die Kopfschmerzen kehrten immer wieder, und wenn sie auftraten, hatte die kleine Josephine das Gefühl, als würden zwei Riesenhände ihre Schläfen eindrücken. Sie versuchte, nicht zu weinen, weil es ihre Mutter aufregte. Mrs. Czinski hatte die Religion entdeckt. Sie hatte immer das unterschwellige Gefühl gehabt, sie und ihr Kind wären in irgendeiner Weise für den Tod ihres Mannes verantwortlich. Eines Nachmittags war sie in eine Erweckungsversammlung gegangen, und der Prediger hatte gewettert: »Ihr seid alle durchtränkt von Sünde und Verruchtheit. Der Gott, der euch über den Höllenschlund hält wie ein verHasstes Insekt über ein Feuer, verabscheut euch. Ihr hängt an einem dünnen Faden, jeder einzelne Verdammte von euch, und die Flammen seines Zornes werden euch verzehren, wenn ihr nicht bereut.« Mrs. Czinski fühlte sich sofort besser, denn sie wusste, dass sie das Wort Gottes vernahm.
»Es ist eine Strafe Gottes, weil wir deinen Vater getötet haben«, pflegte Josephines Mutter zu dem Kind zu sagen, und da Josephine zu jung war, um die Bedeutung dieser Worte zu verstehen, wusste sie nur, dass sie etwas Schlechtes getan hatte, und sie wünschte, sie wüsste, was es war, damit sie ihrer Mutter sagen könnte, es täte ihr leid.
Am Anfang war Toby Temples Krieg ein Alptraum.
In der Armee war er ein Niemand, eine Nummer in einer Uniform wie Millionen andere, gesichtslos, namenlos, anonym.
Er wurde in ein Grundausbildungslager in Georgia geschickt und dann nach England verschifft, wo seine Einheit einem Lager in Sussex zugeteilt wurde. Toby sagte dem Feldwebel, dass er den kommandierenden General sprechen wolle. Er kam bis zu einem Hauptmann. Sein Name war Sam Winters. Er war ein intelligenter, gebildeter Mann Anfang Dreißig. »Was haben Sie auf dem Herzen, Soldat?«
»Es ist folgendes, Hauptmann«, begann Toby. »Ich bin Unterhaltungskünstler. Ich bin im Showgeschäft tätig. Das heißt, das habe ich im Zivilleben gemacht.«
Hauptmann Winters lächelte über seinen Eifer. »Was genau machen Sie?« fragte er.
»Ein bisschen von allem«, erwiderte Toby. »Ich bringe Imitationen und Parodien und…« Er sah den Ausdruck in den Augen des Hauptmanns und endete stockend: »… solche Sachen.«
»Wo haben Sie gearbeitet?«
Toby begann zu sprechen und hielt dann inne. Es war hoffnungslos. Der Hauptmann würde nur von Städten wie New York und Hollywood beeindruckt sein. »Kein Ort, von dem Sie je gehört hätten«, erwiderte Toby. Er wusste jetzt, dass er seine Zeit vergeudete.
Hauptmann Winters sagte: »Es hängt nicht von mir ab, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Klar«, sagte Toby. »Vielen Dank, Hauptmann.« Er salutierte und ging. Hauptmann Winters saß an seinem Schreibtisch und dachte noch lange, nachdem Toby gegangen war, über den Jungen nach. Sam Winters war Soldat geworden, weil er der Meinung war, dass dies ein Krieg sei, der durchgekämpft und gewonnen werden musste. Gleichzeitig hasste er ihn aufgrund dessen, was er jungen Burschen wie Toby Temple antat. Aber wenn Temple wirklich begabt war, würde er sich früher oder später durchsetzen, denn Begabung war wie eine zarte Blume, die sich unter festem Boden entwickelt. Schließlich konnte nichts sie hindern, zu sprossen und zu blühen. Sam Winters hatte einen guten Job als Filmproduzent in Hollywood aufgegeben, um in die Armee einzutreten. Er hatte verschiedene erfolgreiche Filme für die Pan-Pacific-Studios produziert und hatte Dutzende von Hoffnungsvollen wie Toby Temple kommen und gehen sehen. Sie verdienten zumindest eine Chance. Im Laufe des Nachmittags sprach er mit Oberst Beech über Toby. »Ich glaube, wir sollten ihn von der Wehrbetreuung prüfen lassen«, sagte Hauptmann Winters. »Ich habe den Eindruck, dass er Talent hat, und weiß Gott, die Jungs werden alle nur erdenkliche Unterhaltung brauchen.«
Oberst Beech starrte Hauptmann Winters an und sagte kühl: »Gut, Hauptmann, schicken Sie mir eine Aktennotiz darüber.« Er blickte Hauptmann Winters nach, als er hinausging. Oberst Beech war Berufsoffizier, West-Point-Mann und Sohn eines West-Point-Mannes. Der Oberst verachtete alle Zivilisten, und für ihn war Hauptmann Winters ein Zivilist. Eine Uniform und die Spangen eines Hauptmanns machten noch keinen Soldaten. Als Oberst Beech die Aktennotiz über Toby Temple von Hauptmann Winters bekam, warf er einen Blick darauf und kritzelte dann wütend quer darüber »Antrag abgelehnt« und unterschrieb.
Danach fühlte er sich besser.
Am meisten vermisste Toby das Publikum. Er musste sein Gefühl für Timing, seine Kenntnisse und Fähigkeiten weiterentwickeln. Er erzählte Witze, trug Imitationen vor und gab sein Repertoire bei jeder Gelegenheit zum besten. Es spielte keine Rolle, ob sein Publikum zwei GIs waren, die mit ihm auf einsamem Gelände Wache schoben, ein Omnibus mit Soldaten auf dem Weg zur Stadt oder ein Tellerwäscher, der Küchendienst hatte. Toby musste sie zum Lachen bringen, musste ihren Beifall gewinnen.
Hauptmann Sam Winters sah eines Tages zu, als Toby eine seiner Nummern im Aufenthaltsraum vorführte. Danach ging er auf Toby zu und sagte: »Tut mir leid, dass Ihre Versetzung nicht geklappt hat, Temple. Ich halte Sie für begabt. Wenn der Krieg vorbei ist und wenn Sie nach Hollywood kommen, besuchen Sie mich.« Er grinste und fügte hinzu: »Vorausgesetzt, ich habe da immer noch einen Job.« In der folgenden Woche kam Tobys Bataillon an die Front.
Wenn Toby sich in späteren Jahren an den Krieg erinnerte, waren es nicht die Schlachten, die er im Gedächtnis behalten hatte. In Saint L6 war er ein toller Erfolg gewesen, als er zu einer Bing-Crosby-Platte sang und agierte. In Aachen war er ins Lazarett geschlichen und hatte den Verwundeten zwei Stunden lang Witze erzählt, ehe die Schwestern ihn hinauswarfen. Er erinnerte sich mit Befriedigung, dass ein GI derart gelacht hatte, dass alle seine Nähte geplatzt waren. In Metz war er nicht angekommen, aber Toby war der Meinung, dass es nur an der Nervosität des Publikums gelegen hatte, weil Nazi-Bomber die Stadt überflogen.
Tobys Bewährung im Kampfgeschehen war eher zufälliger Natur. Er wurde für seinen Einsatz bei der Gefangennahme eines deutschen Kommandopostens lobend erwähnt. In Wirklichkeit hatte Toby keine Ahnung gehabt, was sich abspielte. Er hatte John Wayne nachgeahmt und war so fortgerissen worden, dass alles vorüber war, ehe er auch nur Angst haben konnte.
Für Toby war nur seine Unterhaltungskunst wichtig. In Cherbourg ging er mit zwei Freunden in ein Bordell, und während sie oben waren, blieb Toby unten im Salon und gab für Madame und zwei ihrer Mädchen sein Repertoire zum besten. Danach schickte ihn Madame als Gast des Hauses nach oben.
Das war Tobys Krieg. Alles in allem war er nicht schlecht, und die Zeit ging schnell vorüber. 1945, bei Kriegsende, war Toby beinahe fünfundzwanzig. Äußerlich war er keinen Tag älter geworden. Er hatte dasselbe freundliche Gesicht und dieselben verführerischen blauen Augen und dieselbe hilflose, unschuldige Art.
Alle redeten über die Heimkehr. Da warteten eine junge Frau in Kansas City, eine Mutter und ein Vater in Bayonne, ein Geschäft in Saint Louis. Auf Toby wartete nichts und niemand. Außer Berühmtheit.
Er entschloss sich, nach Hollywood zu gehen. Es war langsam Zeit, dass Gott sein Versprechen einlöste.
»Kennt ihr Gott? Habt ihr das Gesicht von Jesus gesehen? Ich habe Ihn gesehen, Brüder und Schwestern, und ich habe Seine Stimme gehört, aber Er spricht nur zu denen, die vor Ihm knien und ihre Sünden bekennen. Gott verabscheut die Unbußfertigen. Der Bogen des göttlichen Zorns ist gespannt, und der lodernde Pfeil Seines gerechten Zorns zielt auf eure bösen Herzen, und jeden Augenblick wird Er loslassen, und der Pf eil Seiner Strafe wird eure Herzen durchbohren! Schaut zu Ihm auf, ehe es zu spät ist!«
Josephine blickte entsetzt zur Spitze des Zeltes empor, wartete darauf, dass ein lodernder Pfeil auf sie herunterzischte. Sie drückte die Hand ihrer Mutter, aber ihre Mutter war sich dessen nicht bewusst. Ihr Gesicht glühte, und ihre Augen glänzten vor Inbrunst.
»Lobet Jesus!« brüllte die Gemeinde.
Die Evangelisations-Versammlungen fanden in einem riesigen Zelt am Stadtrand von Odessa statt, und Mrs. Czinski nahm Josephine zu allen mit. Die Kanzel des Predigers war eine zwei Meter über dem Boden errichtete hölzerne Tribüne. Direkt vor der Tribüne befand sich der »Hort der himmlischen Herrlichkeit«, eine Art Bretterverschlag, wohin die Sünder gebracht wurden, um zu bereuen und bekehrt zu werden. Hinter dem Verschlag standen lange Reihen harter Holzbänke, dicht gefüllt mit singenden, fanatischen Suchern des Seelenheils, in Ehrfurcht erstarrt vor den Drohungen der Hölle und der Verdammung. Für ein sechsjähriges Kind war es eine Qual. Die Evangelisten waren Bibelgläubige, Pfingstan-beter, Methodisten und Adventisten, und alle atmeten sie Höllenqualen und Verdammung.
»Kniet nieder, ihr Sünder, und zittert vor der Macht Jehovas! Denn euer gottloses Verhalten hat Jesus Christus das Herz gebrochen, und dafür sollt ihr die Strafe des Zornes Seines Vaters erleiden! Seht euch unter den Gesichtern der Kinder hier um, die in Lust empfangen wurden und voller Sünde sind.«
Und die kleine Josephine schämte sich zu Tode, fühlte, dass jeder sie anstarrte. Wenn die schlimmen Kopfschmerzen einsetzten, wusste Josephine, dass sie eine Strafe Gottes waren. Sie betete jeden Abend, dass sie weggingen, damit sie wusste, dass Gott ihr vergeben hatte. Sie hätte gerne gewusst, was sie so Schlechtes getan hatte.
»Und ich werde Halleluja singen, und ihr werdet Halleluja singen, und wir alle werden Halleluja singen, wenn wir heimkehren.«
»Alkohol ist das Blut des Teufels, Tabak ist sein Atem, und Unzucht ist sein Vergnügen. Habt ihr euch mit Satan auf einen Handel eingelassen? Dann sollt ihr ewig in der Hölle brennen, auf immer verdammt, weil Luzi-fer kommt, um euch zu holen!«
Und Josephine zitterte und sah sich verstört um, klammerte sich heftig an die Holzbank, damit der Teufel sie nicht holen konnte.
Sie sangen: »Ich möchte in den Himmel kommen, meine lang gesuchte Freud.«
Aber Josephine missverstand den Text und sang: »Ich möchte in den Himmel kommen, mit meinem langen guten Kleid.«
Nach den donnernden Strafpredigten kamen die Wunder. Josephine sah gleichermaßen entsetzt und fasziniert zu, wie eine Prozession verkrüppelter Frauen und Männer zum »Hort der himmlischen Herrlichkeit« hinkte und kroch und im Rollstuhl fuhr, wo der Prediger ihnen die Hände auflegte und den himmlischen Mächten empfahl, sie zu heilen. Sie warfen ihre Stöcke und Krücken weg, und einige von ihnen plapperten in einem hysterischen Kauderwelsch, und Josephine duckte sich in panischer Angst.
Die Evangelisations-Versammlungen endeten immer damit, dass ein Teller herumgereicht wurde. »Jesus beobachtet euch – und Er hasst einen Geizhals.« Und dann war es vorbei. Aber die Angst verließ Josephine lange nicht.
Im Jahre 1946 hatte die Stadt Odessa, Texas, eine dunkelbraune Patina. Vor langer Zeit, als die Indianer dort gelebt hatten, hatte sie nach Wüstensand gerochen. Jetzt roch sie nach Öl.
Es gab zwei Arten von Leuten in Odessa: Öl-Leute und die anderen. Die Öl-Leute schauten nicht auf die anderen hinunter – sie taten ihnen einfach leid, denn sicherlich war es Gottes Wille, dass jedermann Privatflugzeuge und Cadillacs und Swimming-pools hatte und Sektparties für hundert Gäste gab. Deshalb hatte Er für Öl in Texas gesorgt.
Josephine Czinski wusste nicht, dass sie eine der anderen war. Mit sechs war Josephine Czinski ein schönes Kind, mit schimmerndem schwarzen Haar, tiefbraunen Augen und einem lieblichen ovalen Gesicht.
Josephines Mutter war eine geschickte Näherin, die bei den reichen Leuten in der Stadt arbeitete, und sie nahm Josephine mit, wenn sie zur Anprobe zu den Öl-Damen ging und Ballen von märchenhaftem Stoff in überwältigende Abendkleider verwandelte. Die Öl-Leute mochten Josephine, weil sie ein höfliches, freundliches Kind war, und sie mochten sich selbst dafür, dass sie sie mochten. Sie waren der Meinung, es sei demokratisch von ihnen, einem armen Kind von der anderen Seite der Stadt zu erlauben, mit ihren Kindern zu verkehren. Josephine war Polin, aber sie sah nicht so aus, und obgleich sie nie ein Mitglied des Klubs werden konnte, waren sie glücklich, ihr die Vorrechte einer Besucherin einzuräumen. Josephine durfte mit den Öl-Kindern spielen und ihre Fahrräder und Ponies und Hundert-Dollar-Puppen benutzen, so dass sie allmählich ein Doppelleben führte. Da war ihr Leben zu Hause in der winzigen Holzbaracke mit arg mitgenommenen Möbeln und der Wasserleitung draußen und Türen, die in den Angeln hingen. Auf der anderen Seite Josephines Leben in prächtigen Villen auf weitläufigen Landgütern. Wenn Josephine bei Cissy Topping oder Lindy Ferguson über Nacht blieb, bekam sie ein großes Schlafzimmer ganz für sich, und das Frühstück wurde ihr von Zimmermädchen oder Butlern serviert. Josephine liebte es, mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, aufzustehen, hinunterzugehen und die schönen Dinge im Haus, die bezaubernden Gemälde und das schwere Silber mit Monogramm und die von Zeit und Geschichte blankpolierten Antiquitäten, zu bewundern. Sie betrachtete sie prüfend und liebkoste sie und sagte sich, dass auch sie eines Tages solche Sachen besitzen würde, denn eines Tages würde sie in einem prächtigen Haus wohnen und von Schönheit umgeben sein.
Aber in beiden Welten fühlte Josephine sich einsam. Sie fürchtete sich, ihrer Mutter gegenüber von ihren Kopfschmerzen und ihrer Angst vor Gott zu sprechen, weil ihre Mutter eine grübelnde Fanatikerin geworden war, die besessen auf die Strafe Gottes wartete. Mit den Öl-Kindern wollte Josephine nicht über ihre Ängste sprechen, weil die von ihr erwarteten, dass sie heiter und freundlich war wie sie selbst. Daher war Josephine gezwungen, mit ihren Schrecken allein fertig zu werden.
An Josephines siebentem Geburtstag rief das Warenhaus Brubaker zu einem Foto-Wettbewerb auf, bei dem das schönste Kind in Odessa gewählt werden sollte. Das Wettbewerbsbild musste in der Foto-Abteilung des Warenhauses aufgenommen werden. Der Preis war ein Goldpokal, in den später der Name der Siegerin eingraviert werden sollte. Der Pokal war im Schaufenster des Warenhauses ausgestellt, und Josephine ging jeden Tag an dem Fenster vorbei, um ihn anzustarren. Sie wünschte ihn sich mehr, als sie sich je in ihrem Leben etwas gewünscht hatte. Josephines Mutter wollte nicht, dass sie an dem Wettbewerb teilnahm – »Eitelkeit ist der Spiegel des Teufels«, sagte sie -, aber eine der reichen Damen, die Josephine mochte, bezahlte das Bild. Von diesem Augenblick an wusste Josephine, dass der Goldpokal ihr gehörte. Sie sah ihn schon vor sich, wie er auf ihrem Toilettentisch stand. Sie würde ihn jeden Tag sorgfältig polieren. Als Josephine erfuhr, dass sie in die Endauswahl gekommen war, war sie zu aufgeregt, um zur Schule zu gehen. Sie blieb den ganzen Tag mit Magenschmerzen im Bett, weil sie so viel Glück nicht ertragen konnte. Zum ersten Mal würde sie etwas Schönes ihr eigen nennen.
Am nächsten Tag erfuhr Josephine, dass der Wettbewerb von Tina Hudson, einem der Öl-Kinder, gewonnen worden war. Tina war fast so schön wie Josephine, aber Tinas Vater war zufällig im Aufsichtsrat der Kette, zu der das Warenhaus Brubaker gehörte.
Als Josephine die Nachricht bekam, überfielen sie so starke Kopfschmerzen, dass sie am liebsten geschrieen hätte. Sie fürchtete, Gott würde wissen, wieviel ihr dieser schöne Goldpokal bedeutete, und Er musste es gewusst haben, denn ihre Kopfschmerzen dauerten an. Nachts weinte sie in ihr Kopfkissen, damit ihre Mutter sie nicht hören konnte.
Einige Tage nach dem Wettbewerb wurde Josephine übers Wochenende in Tinas Haus eingeladen. Der Goldpokal stand auf dem Kaminsims in Tinas Zimmer. Josephine starrte ihn lange an.
Als Josephine nach Hause kam, war der Pokal in ihrem Köfferchen versteckt. Er befand sich immer noch dort, als Tinas Mutter erschien, um ihn zurückzuholen.
Josephines Mutter züchtigte sie mit einer aus einem langen, grünen Zweig gefertigten Rute. Aber Josephine war ihrer Mutter nicht böse.
Die wenigen Minuten, die Josephine den schönen Goldpokal in ihren Händen gehalten hatte, waren den ganzen Schmerz wert gewesen.
Hollywood war 1946 die Filmhauptstadt der Welt, ein Magnet für die Begabten, die Habgierigen, die Schönen, die Hoffnungsvollen und die Sonderbaren. Es war das Land der Palmen und Rita Hayworths und des Heiligen Tempels des Allumfassenden Geistes und Santa Anitas. Es war die Kraft, die sie über Nacht zu einem Star machte; es war ein Schwindelgeschäft, ein Bordell, ein Orangenhain, ein Schrein. Es war ein magisches Kaleidoskop, und jeder, der hineinsah, sah sein eigenes Wunschbild.
Für Toby Temple war Hollywood der Ort, für den er bestimmt war. Er kam in der Stadt mit einem Kleidersack und dreihundert Dollar in bar an und zog in eine billige Pension am Cahuenga Boulevard. Er musste schnell etwas unternehmen, ehe er pleite war. Toby wusste alles über Hollywood. Es war eine Stadt, in der man eine Fassade aufrichten musste. Toby ging in ein Herrenmodegeschäft in der Vine Street, ließ sich neu einkleiden und schlenderte mit den verbliebenen zwanzig Dollar in der Tasche in das Brown Derby, wo alle Stars zu speisen pflegten. Die Wände waren mit Karikaturen der berühmtesten Schauspieler Hollywoods bedeckt. Toby konnte den Pulsschlag des Showgeschäfts fühlen, die Macht in dem Raum spüren. Er sah die Empfangsdame auf sich zukommen. Sie war Anfang Zwanzig, rothaarig und sehr hübsch und hatte eine großartige Figur. Sie lächelte Toby fragend an. »Kann ich etwas für Sie tun?« Toby konnte nicht widerstehen. Er griff mit beiden Händen zu und packte ihre reifen, melonenförmigen Brüste. Ein Ausdruck des Entsetzens trat auf ihr Gesicht. Als sie den Mund öffnete, um zu schreien, ließ Toby seine Augen glasig-starr werden und sagte schüchtern: »Entschuldigen Sie, Miss – ich bin blind.«
»Oh, das tut mir leid!« Sie war zerknirscht über ihre Unterstellung und empfand Mitleid. Sie führte Toby am Arm an einen Tisch, war ihm beim Platznehmen behilflich und nahm seine Bestellung entgegen. Als sie einige Augenblicke später wieder an seinen Tisch kam und ihn dabei ertappte, wie er sich die Bilder an der Wand betrachtete, strahlte Toby sie an und sagte: »Es ist ein Wunder! Ich kann wieder sehen!«
Er war so unschuldig-komisch, dass sie lachen musste. Sie lachte die ganze Zeit während des gemeinsamen Dinners über Tobys Witze, auch später noch im Bett.
Toby nahm in und um Hollywood Gelegenheitsarbeiten an, weil diese ihn mit dem Showgeschäft in Berührung brachten. Er bewachte den Parkplatz bei Giro, und wenn die Berühmtheiten vorfuhren, öffnete Toby den Wagenschlag mit einem freundlichen Lächeln und einer passenden Bemerkung. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Er war nur ein kleiner Parkplatzwächter, und sie registrierten nicht einmal, dass er existierte. Toby beobachtete die schönen Mädchen, wenn sie in ihren teuren, enganliegenden Kleidern aus den Wagen stiegen, und er dachte: Wenn ihr nur wüsstet, was für ein großer Star ich einmal sein werde, würdet ihr allen diesen Kriechern den Laufpass geben.
Toby putzte die Klinken bei den Agenten, aber er merkte schnell, dass er seine Zeit vergeudete. Die Agenten krochen nur den Stars hinten rein. Man durfte sich nicht um sie bemühen. Sie selbst mussten einen entdecken. Der Name, den Toby am häufigsten hörte, war Clifton Lawrence. Er gab sich nur mit den größten Talenten ab und machte die unglaublichsten Abschlüsse. Eines Tages, dachte Toby, wird Clifton Lawrence mein Agent sein.
Toby abonnierte die beiden Bibeln des Showgeschäfts: Daily Variety und den Hollywood Reporter. Er kam sich wie ein Eingeweihter vor. Fo-rever Amber war von Twentieth Century-Fox gekauft worden, und Otto Preminger würde Regie führen. Ava Gardner hatte zugesagt, in Whistle Stop neben George Raft und Jorja Curtright die Hauptrolle zu übernehmen, und Life with Father war von Warner Brothers gekauft worden. Dann sah Toby eine Notiz, die seinen Puls schneller schlagen ließ: »Produktionsleiter Sam Winters wurde zum Vizepräsidenten der Produktionsabteilung der Pan-Pacific-Studios ernannt.«
Als Sam Winters nach dem Krieg nach Hause zurückkehrte, wartete sein Job in den Pan-Pacific-Studios auf ihn. Sechs Monate später gab es einen Riesenkrach. Der Leiter des Studios wurde gefeuert, und Sam wurde gebeten, seinen Posten zu übernehmen, bis ein neuer Produktionsleiter gefunden werden konnte. Sam machte seine Sache so gut, dass die Suche eingestellt wurde und er offiziell zum Vizepräsidenten der Produktionsabteilung ernannt wurde. Es war ein nervenaufreibender, Magengeschwüre verursachender Job, aber Sam liebte ihn mehr als alles in der Welt.
Hollywood war ein Zirkus mit drei Manegen, voll von wilden, geisteskranken Charakteren, ein Minenfeld mit einer Horde darüber hinwegtanzender Idioten. Die meisten Schauspieler, Regisseure und Produzenten waren egozentrische Größenwahnsinnige, undankbar, lasterhaft und destruktiv. Aber für Sam spielte nur Talent eine Rolle. Talent war der magische Schlüssel.
Sams Bürotür ging auf, und Lucille Elkins, seine Sekretärin, kam mit der soeben geöffneten Post herein. Lucille gehörte zum festen Inventar, eine der Zuverlässigen, die immer dableiben und ihre Chefs kommen und gehen sehen.
»Clifton Lawrence möchte Sie sprechen«, sagte Lucille.
»Bitten Sie ihn herein.«
Sam mochte Lawrence. Er hatte Lebensart. Fred Allan hatte gesagt: »Die ganze Aufrichtigkeit in Hollywood könnte im Nabel einer Stechmücke untergebracht werden, und dann wäre immer noch Platz für vier Kümmelkörner und das Herz eines Agenten.«
Cliff Lawrence war ehrlicher als die meisten Agenten. Er war in Hollywood bereits Legende, und seine Klientenliste war das Who is Who auf dem Unterhaltungssektor. Er hatte ein Ein-Mann-Büro und war dauernd unterwegs, kümmerte sich um seine Klienten in London, in der Schweiz, in Rom und New York. Er war eng mit allen wichtigen HollywoodDirektoren befreundet und nahm an einer wöchentlichen Geheimsitzung teil, zu der sich auch die Produktionsleiter von drei Studios einfanden. Zweimal im Jahr charterte Lawrence eine Jacht, gewann ein halbes Dutzend schöner »Modelle« und lud die leitenden Direktoren der wichtigsten Studios zu einem einwöchigen »Angeltrip« ein. Clifton Lawrence besaß ein Strandhaus in Malibu, dessen Vorratsschränke stets gefüllt waren und das seinen Freunden zur Verfügung stand, wann immer sie es benutzen wollten. Das Verhältnis Clifton – Hollywood glich einer Symbiose, und jeder profitierte davon.
Sam beobachtete, wie sich die Tür öffnete und Lawrence in einem eleganten Maßanzug hereinstürzte. Er ging auf Sam zu, streckte eine tadellos manikürte Hand aus und sagte: »Wollte Ihnen bloß schnell guten Tag sagen. Wie geht's, lieber Junge?«
»Ich will mich mal so ausdrücken«, sagte Sam. »Wenn Tage Schiffe wären, wäre heute die Titanic.«
Clifton Lawrence schnalzte bedauernd.
»Wie hat Ihnen die gestrige Probevorführung gefallen?« fragte Sam.
»Kürzen Sie die ersten zwanzig Minuten und drehen Sie einen neuen Schluss, und Sie werden einen Riesenerfolg haben.«
»Den Nagel auf den Kopf getroffen«, lächelte Sam. »Genau das tun wir. Irgendwelche Klienten, die Sie mir heute verkaufen können?«
Lawrence grinste. »Tut mir leid. Sie sind alle beschäftigt.«
Und das stimmte. Clifton Lawrences erstklassige Stars und die wenigen Regisseure und Produzenten waren immer gefragt.
»Wiedersehen zum Dinner am Freitag, Sam«, sagte Clifton. »Ciao.« Er wandte sich um und ging.
Lucilles Stimme kam über die Sprechanlage. »Dallas Burke ist hier.«
»Schicken Sie ihn herein.«
»Und Mel Foss würde Sie gerne sprechen. Er sagte, es sei dringend.«
Mel Foss war der Leiter der Fernseh-Abteilung von Pan-Pacific-Studios.
Sam blickte auf seinen Terminkalender. »Sagen Sie ihm bitte, er soll morgen zum Frühstück kommen. Acht Uhr. In der Polo Lounge.«
Im Vorzimmer läutete das Telefon, und Lucille hob ab. »Mr. Winters' Büro.«
Eine unbekannte Stimme sagte: »Hallo. Ist der große Boss da?«
»Wer ist dort, bitte?«
»Sagen Sie ihm, ein alter Kamerad möchte ihn sprechen – Toby
Temple. Wir waren zusammen in der Armee. Er hat mich eingeladen,
ihn zu besuchen, wenn ich je nach Hollywood kommen sollte. Und hier bin ich.«
»Er ist in einer Konferenz, Mr. Temple. Könnte er zurückrufen?« »Klar.« Er nannte seine Telefonnummer, und Lucille warf sie in den
Papierkorb. Es war nicht das erste Mal, dass jemand die alte Masche mit dem Armee-Kameraden bei ihr versucht hatte.
Dallas Burke war als Regisseur einer der Wegbereiter der Filmindustrie. Burkes Filme wurden in jedem College gezeigt, an dem Filmkurse stattfanden. Von seinen früheren Filmen galt ein halbes Dutzend als Klassiker, und jedes seiner Werke konnte mindestens brillant und fortschrittlich genannt werden. Burke war jetzt Ende Siebzig, und seine wuchtige Gestalt war geschrumpft, so dass sein Anzug schlotternd an ihm herunterhing.
»Es ist schön, Sie wiederzusehen, Dallas«, sagte Sam, als der alte Mann das Büro betrat.
»Nett, Sie zu sehen, Kid.« Er wies auf seinen Begleiter. »Kennen Sie meinen Agenten?«
»Klar. Wie geht es Ihnen, Peter?«
Sie setzten sich.
»Wie ich höre, haben Sie eine Story für mich«, sagte Sam zu Dallas Burke.
»Sie ist einmalig.« Die Stimme des alten Mannes zitterte vor Aufregung.
»Ich bin begierig, sie zu hören, Dallas«, sagte Sam. »Schießen Sie los.«
Dallas Burke beugte sich vor und begann: »Woran ist jeder auf der Welt am meisten interessiert, Kid? An Liebe – stimmt's? Und diese Geschichte handelt von der heiligsten Art der Liebe, die es gibt – der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.« Seine Stimme wurde immer kräftiger, je weiter er sich in seine Geschichte vertiefte. »Wir beginnen in Long Island mit einem neunzehnjährigen Mädchen, das als Sekretärin bei einer reichen Familie arbeitet. Alter Geldadel. Gibt uns einen guten Aufhänger für einen raffinierten Hintergrund – wissen Sie, was ich meine? HighSociety-Quatsch. Der Mann, bei dem sie arbeitet, ist mit einer geizigen Blaublütigen verheiratet. Er mag seine Sekretärin, und sie mag ihn, obgleich er viel älter ist als sie.«
Sam hörte nur mit halbem Ohr zu. Es spielte keine Rolle, ob die Story eine Wiederholung von Back Street oder von Imitation of Life sein würde, Sam würde sie in jedem Fall kaufen. Es war beinahe zwanzig Jahre her, seit Dallas Burke seinen letzten Regieauftrag erhalten hatte. Doch Sam konnte der Industrie keinen Vorwurf daraus machen. Burkes letzte drei Filme waren teuer, altmodisch und alles andere als Kassenerfolge gewesen. Dallas Burke war als Filmemacher für immer passe. Aber er war ein Mensch und lebte noch, und irgendwie musste man sich seiner annehmen, weil er keinen Cent gespart hatte. Ihm war ein Zimmer im Altersheim der Filmschaffenden angeboten worden, aber er hatte das empört abgelehnt. »Ich will nicht euer gottverdammtes Almosen!« hatte er gebrüllt. »Ihr redet mit dem Mann, der mit Doug Fairbanks und Jack Barry-more und Milton Sills und Bill Farnum gearbeitet hat. Ich bin ein Riese, ihr winzigen Bastarde!«
Und das war er auch. Er war eine Legende; aber selbst Legenden müssen essen.
Als Sam Produzent geworden war, hatte er einen befreundeten Agenten angerufen und ihn gebeten, Dallas Burke mit einer Idee für eine FilmStory zu ihm zu bringen. Seit der Zeit hatte Sam jedes Jahr unbrauchbare Geschichten von Dallas Burke für genügend Geld gekauft, damit der alte Mann leben konnte, und während Sam bei der Armee war, hatte er dafür gesorgt, dass die Vereinbarung weiterlief.
»… so dass also«, sagte Dallas Burke, »das Kind aufwächst, ohne seine Mutter zu kennen. Aber die Mutter verfolgt den Lebensweg des Kindes. Am Schluss, als die Tochter diesen reichen Doktor heiratet, gibt es eine Riesenhochzeit. Und können Sie sich den Knalleffekt denken, Sam? Hören Sie sich das an – es ist einmalig. Die Mutter wird nicht eingelassen! Sie muss sich heimlich durch den Hintereingang in die Kirche schleichen, um die Trauung ihres einzigen Kindes mitzuerleben. Da bleibt im Publikum kein Auge trocken…
Das war's. Was halten Sie davon?«
Sam hatte falsch geraten. Stella Dallas. Er warf dem Agenten einen Blick zu; der wich seinen Augen aus und sah verlegen auf die Spitzen seiner teuren Schuhe hinunter.
»Es ist großartig«, sagte Sam. »Es ist genau das, was wir suchen.« Sam wandte sich an den Agenten. »Rufen Sie die Geschäftsleitung an und arbeiten Sie einen Vertrag mit denen aus, Peter. Ich werde Ihren Anruf dort ankündigen.«
Der Agent nickte.
»Machen Sie ihnen klar, dass sie ein hübsches Sümmchen hinblättern müssen, oder ich biete es Warner Brothers an«, sagte Dallas Burke. »Ich gebe Ihnen die Option darauf, weil wir Freunde sind.«
»Ich weiß das zu schätzen«, erwiderte Sam.
Er blickte den beiden Männern nach. Er wusste genau, dass er eigentlich kein Recht hatte, das Geld der Gesellschaft für eine derartige sentimentale Geste auszugeben. Aber die Filmwirtschaft verdankte Männern wie Dallas Burke einiges – ohne ihn und seinesgleichen wäre sie nie eine Industrie geworden.
Um acht Uhr am nächsten Morgen fuhr Sam Winters vor dem Beverly Hills vor. Ein paar Minuten später schlängelte er sich durch die Menge in der Polo Lounge, nickte Freunden, Bekannten und Konkurrenten zu. In diesem Raum wurden beim Frühstück, Lunch oder bei Cocktails mehr Geschäfte abgeschlossen als in allen Studiobüros zusammen. Mel Foss blickte auf, als Sam sich näherte.
»Morgen, Sam.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Sam glitt in die Nische Foss gegenüber. Vor acht Monaten hatte Sam Mel Foss als Leiter der Femseh-Abteilung von Pan-Pacific-Studios eingestellt. Fernsehen war das jüngste Kind der Unterhaltungsbranche, und es entwickelte sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Alle Studios, die einmal verächtlich auf das Fernsehen herabgeblickt hatten, waren jetzt beteiligt.
Die Kellnerin kam, um ihre Bestellungen entgegenzunehmen, und als sie gegangen war, fragte Sam: »Was gibt's Gutes, Mel?«
Mel Foss schüttelte den Kopf. »Nichts Gutes«, sagte er. »Wir stecken in Schwierigkeiten.«
Sam wartete schweigend.
»Wir werden die >Raiders< nicht weiterproduzieren.«
Sam sah ihn überrascht an. »Die Bewertungsquoten sind großartig. Warum sollte die Fernsehgesellschaft die Sache annullieren wollen? Sie ist gut genug, um ein Hit zu werden.«
»Es geht nicht um die Show«, sagte Foss. »Es geht um Jack Nolan.« Jack Nolan war der Star der »Raiders«. Er hatte auf Anhieb sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum Erfolg gehabt.
»Was ist denn los mit ihm?« fragte Sam. Er hasste es, dass man Mel Foss jede Information aus der Nase ziehen musste.
»Haben Sie die letzte Ausgabe von Peek Magazine gelesen?«
»Ich lese es überhaupt nicht. Der reine Mülleimer.« Plötzlich wusste er, was Foss meinte. »Sie haben Nolan erwischt!«
»Schwarz auf weiß«, erwiderte Foss. »Der blöde Kerl hat sein schönstes Spitzenkleid angezogen und ist zu einer Party gegangen. Jemand hat ihn fotografiert.«
»Wie schlimm steht es?«
»Könnte nicht schlimmer sein. Ich habe gestern ein Dutzend Anrufe von der Fernsehgesellschaft bekommen. Die Geldgeber und die Gesellschaft wollen aussteigen. Keiner will mit einem Schwulen in Verbindung gebracht werden.«
»Einem Transvestiten«, sagte Sam. Er hatte sich fest darauf verlassen, der Direktorenkonferenz in New York nächsten Monat einen beeindruckenden Fernsehbericht vorlegen zu können. Die Nachricht von Foss machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Verlust der »Raiders« würde ein schwerer Schlag sein.
Es sei denn – er könnte etwas tun.
Als Sam in sein Büro zurückkehrte, winkte Lucille ihm mit einem Bündel Nachrichten. »Die wichtigsten liegen obenauf«, sagte sie. »Sie werden dringend -«
»Später. Verbinden Sie mich mit William Hunt von der International Broadcasting Company.«
Zwei Minuten später sprach Sam mit dem Leiter der IBC. Sam kannte Hunt seit Jahren, wenn auch nur flüchtig, und mochte ihn. Hunt hatte als hochbegabter junger Justitiar angefangen und sich zur Spitze der Hierarchie hinaufgearbeitet. Sie hatten selten Geschäfte miteinander, weil Sam nicht direkt etwas mit dem Fernsehen zu tun hatte. Jetzt wünschte er, er hätte sich die Zeit genommen, die Freundschaft mit Hunt zu pflegen. Als Hunt sich am Apparat meldete, zwang Sam sich, locker und ungezwungen zu klingen. »Morgen, Bill.«
»Was für eine nette Überraschung«, sagte Hunt. »Es ist lange her, Sam.«
»Viel zu lange. Das ist ja der Ärger in diesem Geschäft, Bill. Man hat nie Zeit für die Leute, die man mag.«
»Sehr wahr.«
Sam versuchte, einen beiläufigen Ton anzuschlagen: »Übrigens, haben Sie zufällig diesen blöden Artikel in Peek gelesen?«
»Natürlich«, sagte Hunt ruhig. »Deswegen streichen wir die Show aus dem Programm, Sam.« Es klang endgültig.
»Bill«, sagte Sam, »was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erklärte, dass Jack Nolan das Opfer einer Intrige geworden ist?«
Von der anderen Seite der Leitung ertönte ein Lachen. »Ich würde sagen, Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht Schriftsteller werden wollen.«
»Im Ernst«, sagte Sam aufrichtig. »Ich kenne Jack Nolan. Er ist so normal wie wir beide. Das Foto ist auf einem Kostümfest aufgenommen worden. Seine Freundin hatte Geburtstag, und er hat aus Jux ihr Kleid angezogen.« Sam fühlte, wie die Innenflächen seiner Hände feucht wurden.
»Ich kann nicht -«
»Ich werde Ihnen sagen, wieviel Vertrauen ich in Jack setze«, sagte Sam ins Telefon. »Ich habe ihm gerade die Hauptrolle in Laredo, unserem großen Western im nächsten Jahr, angeboten.«
Es trat eine Pause ein. »Ist das Ihr Ernst, Sam?«
»Worauf Sie sich verdammt verlassen können. Es ist ein Drei-Millionen-Dollar-Film. Wenn sich herausstellen sollte, dass Jack Nolan schwul ist, würde er von der Leinwand weggelacht werden. Die Vorführer würden den Film nicht anrühren. Würde ich ein solches Risiko eingehen, wenn ich nicht wüsste, was ich sage?«
»Nun ja…« Bill Hunts Stimme klang zögernd.
»Kommen Sie, Bill, Sie werden doch ein lausiges Klatschblatt wie Peek die Karriere eines guten Mannes nicht zerstören lassen. Ihnen gefällt doch die Show, oder?«
»Sehr. Es ist eine verdammt gute Show. Aber die Geldgeber -«
»Es ist Ihre Fernsehgesellschaft. Sie haben mehr Geldgeber als Sendezeit. Wir haben Ihnen einen Hit gegeben, und wir sollten einen Erfolg nicht aufs Spiel setzen.«
»Nun…«
»Hat Mel Foss schon mit Ihnen über die Pläne gesprochen, die er mit den >Raiders< für die nächste Saison hat?«
»Nein…«
»Wahrscheinlich wollte er Sie überraschen«, sagte Sam. »Warten Sie, bis Sie erfahren, was er vorhat! Gaststars, berühmte Western-Autoren, Aufnahmen vor Ort – großartig! Wenn die >Raiders< nicht raketengleich Nummer eins werden, habe ich keine Ahnung vom Geschäft.«
Nach kurzem Zögern meinte Bill Hunt: »Sagen Sie Mel, er soll mich anrufen. Vielleicht haben wir alle ein wenig überstürzt reagiert.«
»Er wird Sie anrufen«, versprach Sam.
»Und, Sam – Sie verstehen meine Lage. Ich wollte niemanden kränken.«
»Natürlich nicht«, sagte Sam großzügig. »Dafür kenne ich Sie zu gut, Bill. Deshalb war ich auch der Meinung, Sie hätten ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich weiß das zu schätzen.«
»Wie war's mit einem Lunch in der nächsten Woche?«
»Mit dem größten Vergnügen. Ich rufe Sie Montag an.«
Sie verabschiedeten sich und legten auf. Sam saß erschöpft da. Jack Nolan war so schwul wie nur irgendeiner. Und Sams ganze Zukunft hing von solchen Verrückten ab. Ein Studio zu leiten war, als ob man in einem Schneegestöber auf einem Drahtseil über die Niagarafälle balancierte. Jeder, der diesen Job annimmt, muss verrückt sein, dachte Sam. Er hob den Hörer seines Privattelefons und wählte. Wenig später sprach er mit Mel Foss.
»Die >Raiders< bleiben im Programm«, sagte Sam.
»Was?« Foss klang verblüfft und ungläubig.
»Jawohl. Ich möchte, dass Sie mit Jack Nolan Klartext reden. Sagen Sie ihm, wenn er je wieder aus der Reihe tanzt, werde ich ihn persönlich aus der Stadt und zurück nach Fire Island jagen! Und ich meine es ernst. Wenn er den Drang hat, etwas zu lutschen, sagen Sie ihm, er solle es mal mit einer Banane versuchen!«
Sam knallte den Hörer auf die Gabel. Er lehnte sich im Sessel zurück und überlegte. Er hatte vergessen, Foss über die Änderung zu informieren, die er Bill Hunt aus dem Stegreif genannt hatte. Und er würde jemanden finden müssen, der ihm ein Drehbuch für einen Western namens Laredo lieferte.
Die Tür sprang auf, und Lucille stand mit aschfahlem Gesicht da.
»Jemand hat Atelier zehn in Brand gesteckt.«
Toby Temple hatte ein halbes Dutzendmal versucht, Sam Winters zu erreichen, aber er kam nie weiter als bis zu diesem Luder von einer Sekretärin, so dass er es schließlich aufgab. Er machte weiter seine Runden durch die Nachtklubs und Studios, jedoch ohne Erfolg. Im darauf folgenden Jahr nahm er alle möglichen Jobs an, um sich durchzubringen. Er verkaufte Immobilien, Versicherungen und Herrenartikel, und dazwischen trat er in Bars und obskuren Nachtklubs auf. Aber durch die Tore eines Studios kam er nicht.
»Du fängst das falsch an«, sagte ein Freund zu ihm. »Du musst sie zu dir kommen lassen.«
»Und wie mache ich das?« fragte Toby zynisch.
»Indem du in die Actors West eintrittst.«
»Eine Schauspielschule?«
»Es ist mehr als das. Sie bringen Stücke heraus, und jedes Studio in der Stadt holt sich Leute von dort.«
Actors West hatte einen professionellen Anstrich. Toby merkte das, sowie er durch die Tür trat. An der Wand hingen Bilder ehemaliger Schüler. Toby erkannte in vielen von ihnen erfolgreiche Schauspieler.
Die blonde Vorzimmerdame hinter dem Schreibtisch fragte: »Sie wünschen, bitte?«
»Ich möchte einen Aufnahmeantrag stellen.«
»Haben Sie Bühnenerfahrung?« fragte sie.
»Nun, nein«, sagte Toby. »Aber ich -«
Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Mrs. Tanner empfängt niemanden, der keine Berufserfahrung hat.«
Toby starrte sie einen Augenblick an. »Soll das ein Scherz sein?«
»Nein. Das ist bei uns Voraussetzung. Sie empfängt niemanden -«
»Davon rede ich nicht«, sagte Toby. »Ich meine – Sie wissen wirklich nicht, wer ich bin?«
Die Blondine sah ihn an und erwiderte: »Nein.«
Toby stieß langsam den Atem aus. »Mein Gott«, sagte er. »Leland
Hayward hatte recht. Wenn man in England arbeitet, weiß Hollywood noch nicht einmal, dass man existiert.« Er lächelte und fügte entschuldigend hinzu: »Ich habe mir einen Scherz erlaubt. Ich nahm an, Sie kennen mich.«
Jetzt war die Vorzimmerdame verwirrt, wusste nicht, was sie glauben sollte. »Sie sind also schon aufgetreten?«
Toby lachte. »Das kann man wohl sagen.«
Die Blondine nahm ein Formular. »Welche Rollen haben Sie gespielt und wo?«
»Hier keine«, antwortete Toby schnell. »Ich war in den letzten beiden Jahren in England, habe an Repertoirebühnen gespielt.«
Die Blondine nickte. »Ach so. Nun, ich werde mit Mrs. Tanner sprechen.«
Die Blondine verschwand im Nebenraum und kehrte ein paar Minuten später wieder zurück. »Mrs. Tanner läßt bitten. Viel Glück.«
Toby zwinkerte der Vorzimmerdame zu, holte tief Atem und betrat Mrs. Tanners Büro.
Alice Tanner war eine dunkelhaarige Frau mit einem anziehenden, aristokratischen Gesicht. Sie schien Mitte Dreißig zu sein, etwa zehn Jahre älter als Toby. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, doch was Toby von ihrer Figur sehen konnte, war sensationell. Hier könnte es mir gefallen, stellte er fest.
Er lächelte gewinnend und sagte: »Ich bin Toby Temple.«
Alice Tanner stand auf und ging ihm entgegen. Ihr linkes Bein war von einer schweren Metallstütze umschlossen, und sie hinkte mit dem geübten, wiegenden Gang eines Menschen, der seit langem damit lebte.
Kinderlähmung, dachte Toby. Er war nicht sicher, ob er etwas dazu sagen sollte.
»Also, Sie wollen sich in unsere Kurse einschreiben lassen?«
»Sehr gern«, sagte Toby.
»Darf ich fragen, warum?«
Er bemühte sich, aufrichtig zu klingen: »Weil, wo immer ich hinkomme, Mrs. Tanner, die Leute über Ihre Schule und die wundervollen Stücke reden, die Sie herausbringen. Ich wette, Sie haben keine Ahnung, welchen Ruf Ihre Schule hat.«
Sie sah ihn einen Augenblick prüfend an. »Ich habe schon eine Ahnung. Deshalb muss ich auch besonders darauf achten, Schwindler rauszuhalten.«
Toby fühlte, dass er errötete, setzte aber ein jungenhaftes Lächeln
auf und sagte: »Das kann ich mir vorstellen. Bestimmt versuchen viele, sich bei Ihnen einzuschleichen.«
»Nicht wenige«, stimmte Mrs. Tanner zu. Sie warf einen Blick auf die Karte, die sie in der Hand hielt. »Toby Temple.«
»Wahrscheinlich haben Sie den Namen noch nicht gehört«, erklärte er, »weil ich die letzten zwei Jahre in -«
»Auf Repertoirebühnen in England spielte.«
Er nickte. »Richtig.«
Alice Tanner blickte ihn an und sagte ruhig: »Mr. Temple, Amerikaner dürfen nicht in englischen Repertoiretheatern spielen. Die Berufsgenossenschaft der britischen Schauspieler lässt das nicht zu.«
Toby spürte ein plötzliches Schwächegefühl in der Magengrube.
»Sie hätten sich zuerst informieren und uns beiden die Peinlichkeit ersparen sollen. Tut mir leid, aber wir nehmen hier nur Berufstalente auf.« Sie drehte sich um. Die Unterredung war beendet.
»Halt!« Seine Stimme war wie ein Peitschenschlag.
Sie drehte sich erstaunt um. In diesem Augenblick hatte Toby noch keine Ahnung, was er sagen oder tun würde. Er wusste nur, dass seine gesamte Zukunft in der Schwebe hing. Diese Frau war der Schlüssel zu allem, was er wollte, zu allem, wofür er geschuftet und geschwitzt hatte, und er würde sich durch sie nicht aufhalten lassen.
»Sie beurteilen Talente nicht nach Regeln, Lady! Okay – ich bin also nicht aufgetreten. Und warum nicht? Weil Leute wie Sie mir keine Chance geben wollen. Verstehen Sie, was ich meine?« Es war die Stimme von W. C. Fields.
Alice Tanner öffnete den Mund, um ihn zu unterbrechen, aber Toby gab ihr keine Gelegenheit dazu. Er war Jimmy Cagney, der ihr riet, dem armen Kerl eine Chance zu geben, und James Stewart, der ganz seiner Meinung war, und Clark Gable, der sagte, er sehne sich danach, mit dem
Jungen zu arbeiten, und Cary Grant, der hinzufügte, er fände den Jungen brillant. Eine Menge Hollywood-Stars gaben sich hier ein Stelldichein, und sie sagten alle komische Dinge, Sachen, an die Toby Temple nie zuvor gedacht hatte. Die Worte, die Witze strömten in einem Anfall von Verzweiflung aus ihm hervor. Er war ein Ertrinkender in der Finsternis seiner eigenen Vergessenheit, der sich an ein Rettungsfloß von Worten klammerte, und die Worte waren das einzige, was ihn über Wasser hielt. Er war schweißüberströmt, rannte im Zimmer umher und imitierte die Bewegungen jeder Person, die er reden ließ. Er war wie wahnsinnig, völlig außer sich, vergaß, wo er war und weshalb er hier war, bis er Alice Tanner sagen hörte: »Hören Sie auf! Hören Sie auf!«
Sie lachte Tränen, sie rannen ihr das Gesicht hinunter.
»Hören Sie auf!« wiederholte sie, nach Atem ringend.
Und langsam kehrte Toby wieder zur Erde zurück. Mrs. Tanner wischte sich mit einem Taschentuch die Augen.
»Sie – Sie sind verrückt«, sagte sie. »Wissen Sie das?«
Toby starrte sie an, ein Gefühl des Stolzes nahm langsam von ihm Besitz, hob ihn auf eine Woge der Begeisterung. »Es hat Ihnen gefallen -hm?«
Alice Tanner schüttelte den Kopf, holte tief Atem, um ihr Lachen zu bändigen, und sagte: »Nicht – nicht sehr.«
Toby sah sie hasserfüllt an. Sie hatte über ihn gelacht, nicht mit ihm. Er hatte sich blamiert.
»Worüber haben Sie dann gelacht?« wollte Toby wissen.
Sie lächelte und sagte ruhig: »Über Sie. Das war die tollste Vorführung, die ich je gesehen habe. Irgendwo hinter all diesen Filmstars steckt ein junger Mann mit einer großen Begabung. Sie brauchen nicht andere Leute zu imitieren. Sie sind von Natur aus komisch.«
Toby fühlte, wie sein Zorn abebbte.
»Ich glaube, dass Sie eines Tages wirklich gut sein könnten, wenn Sie den Willen haben, ernsthaft zu arbeiten. Wollen Sie das?«
Er lächelte sie selig an und sagte: »Krempeln wir die Ärmel hoch und gehen wir an die Arbeit.«
Josephine arbeitete am Sonnabend vormittag schwer; sie half ihrer Mutter beim Hausputz. Um 12 Uhr holten Cissy und einige andere Freundinnen sie zu einer Landpartie ab.
Mrs. Czinski blickte ]osephine nach, wie sie in der großen Limousine zusammen mit den Kindern der Öl-Leute davonfuhr. Sie dachte: Eines Tages wird Josephine etwas Schlimmes zustoßen. Ich sollte sie nicht mit diesen Leuten verkehren lassen. Sie sind die Kinder des Teufels. Und sie fragte sich, ob auch in Josephine ein Teufel steckte. Sie würde mit Reverend Damian sprechen. Er würde wissen, was zu tun war.
Actors West bestand aus zwei Abteilungen: der Schaukastengruppe, die die erfahreneren Schauspieler in sich vereinigte, und der Werkstattgruppe. Es waren die Schauspieler des Schaukastens, die jene Stücke aufführten, welche sich die Talentsucher der Studios ansahen. Toby war der Werkstattgruppe zugeteilt worden. Alice Tanner hatte ihm gesagt, dass es ein halbes oder ein ganzes Jahr dauern würde, ehe er soweit wäre, in einer Schaukastenaufführung mitzuwirken.
Toby fand den Unterricht interessant, aber ein entscheidender Bestandteil fehlte: das Publikum, die Lacher, die Menschen, die ihm Beifall spenden, die ihn lieben würden.
Seit Toby am Unterricht teilnahm – inzwischen waren einige Wochen vergangen -, hatte er die Leiterin der Schule sehr wenig gesehen. Gelegentlich kam sie in das Werkstatt-Theater, um die Improvisationen zu begutachten und ein ermutigendes Wort zu sagen, oder er begegnete ihr, wenn er zu seinem Kurs ging. Aber er hatte gehofft, es würde sich ein intimerer Kontakt ergeben. Er merkte, dass er ziemlich viel an Alice Tanner dachte. Sie war, was Toby eine Klassefrau nannte, also genau das, was er brauchte und, seiner Meinung nach, auch verdiente. Der Gedanke an ihr verkrüppeltes Bein hatte ihn zuerst gestört, aber allmählich übte es eine sexuelle Faszination auf ihn aus.
Toby sprach sie bei der nächsten Gelegenheit erneut auf seine Mitwirkung in einer Schaukastenaufführung an, wo die Kritiker und Talentsucher ihn sehen könnten.
»Sie sind noch nicht soweit«, antwortete Alice Tanner.
Sie stand ihm im Weg, hielt ihn vom Erfolg fern. Ich muss etwas unternehmen, entschied Toby.
Ein Schaukasten-Stück gelangte zur Aufführung, und am Premierenabend saß Toby in einer der mittleren Reihen neben einer Studentin namens Karen, einer dicken kleinen Charakterdarstellerin aus seinem Kurs. Toby hatte schon Szenen mit Karen gespielt und wusste zwei Dinge von ihr: sie trug nie Unterwäsche, und sie hatte einen
Mundgeruch. Sie hatte beinahe alles versucht, um Toby klarzumachen, dass sie mit ihm ins Bett gehen wollte, aber er hatte so getan, als kapierte er nicht. Jesus, dachte er, mit ihr zu schlafen wäre so ähnlich, wie in ein Fass mit heißem Schweineschmalz einzutauchen.
Während sie auf das Aufgehen des Vorhangs warteten, machte Karen ihn aufgeregt auf die Kritiker von der Los Angeles Times und vom He-rald-Expreß und auf die Talentsucher von Twentieth Century-Fox, MGM und Warner Brothers aufmerksam. Das brachte Toby in Wut. Die waren hier, um die Schauspieler auf der Bühne zu sehen, während er im Publikum saß wie eine Attrappe. Er fühlte den fast unbezwingbaren Drang, aufzustehen und aus seinem Repertoire vorzutragen, sie zu blenden, ihnen zu zeigen, wie wirkliche Begabung aussah.
Dem Publikum gefiel das Stück, aber Toby konnte an nichts anderes denken als an die Talentsucher, die unmittelbar neben ihm saßen, die Männer, die seine Zukunft in der Hand hielten. Nun, wenn Actors West der Köder war, sie ihm zuzuführen, würde Toby ihn benutzen; aber er hatte nicht die Absicht, sechs Monate, ja nicht einmal sechs Wochen zu warten.
Am nächsten Morgen ging Toby in Alice Tanners Büro.
»Wie hat Ihnen das Stück gefallen?« fragte sie.
»Es war wunderbar«, antwortete Toby. »Diese Schauspieler sind wirklich großartig.« Er setzte ein zerknirschtes Lächeln auf. »Ich verstehe jetzt, was Sie meinen, wenn Sie sagen, ich sei noch nicht soweit.«
»Die haben mehr Erfahrung als Sie, das ist alles, aber Sie haben eine einzigartige Ausstrahlung. Sie werden es schaffen. Nur Geduld.«
Er seufzte. »Ich weiß nicht, vielleicht hau' ich lieber ab, vergesse alles und gehe als Versicherungsagent oder so was.«
Sie sah ihn überrascht an. »Das dürfen Sie nicht«, sagte sie.
Toby schüttelte den Kopf. »Nachdem ich diese Profis gestern abend gesehen habe, glaube ich nicht, dass – dass ich das Zeug dazu habe.«
»Aber natürlich haben Sie's, Toby. So dürfen Sie nicht reden.«
In ihrer Stimme lag der Ton, auf den er gewartet hatte. Jetzt war sie nicht mehr eine Lehrerin, die mit einem Schüler sprach, sie war eine Frau, die zu einem Mann sprach, ihn ermutigte, sich um ihn sorgte. Toby spürte einen Kitzel der Befriedigung.
Er zuckte hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht mehr. Ich bin ganz allein in dieser Stadt. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann.«
»Sie können immer mit mir reden, Toby. Ich möchte gern eine Freundin für Sie sein.«
Er konnte hören, wie sich eine Art sexuelle Heiserkeit in ihre Stimme schlich. Tobys blaue Augen verhießen alle Wunder der Welt, als er sie anstarrte. Sie beobachtete ihn, wie er zur Bürotür ging und sie abschloss. Er kehrte zu ihr zurück, fiel auf die Knie, begrub den Kopf in ihrem Schoß, und als ihre Finger sein Haar berührten, hob er langsam ihren Rock und enthüllte den armen, in die grausame Stahlstrebe gezwängten Schenkel. Er nahm sanft die Strebe ab, küsste zart die roten, von den Stahlschienen verursachten Flecke. Langsam löste er ihren Strumpfhalter, sprach die ganze Zeit davon, wie sehr er sie liebe und brauche, und küsste sie hinauf bis zu den feuchten, vor ihm entblößten Lippen. Er trug sie auf die tiefe Ledercouch und liebte sie.
An diesem Abend zog Toby zu Alice Tanner.
In jener Nacht entdeckte Toby, dass Alice Tanner eine bedauernswerte, einsame Frau war, die verzweifelt jemanden suchte, mit dem sie sprechen, den sie lieben konnte. Sie war in Boston geboren. Ihr Vater war ein reicher Fabrikant, der ihr ein großzügiges Taschengeld gegeben, sich im übrigen aber nicht um sie gekümmert hatte. Alice war vom Theater besessen und hatte sich zur Schauspielerin ausbilden lassen, aber im College war sie an Kinderlähmung erkrankt, und das hatte ihrem Traum ein Ende gemacht. Sie erzählte Toby, wie sich ihr Leben danach von Grund auf geändert hatte. Der Junge, mit dem sie verlobt war, hatte sie sitzenlassen, als er die Nachricht bekam. Alice war von zu Hause weggelaufen und hatte einen Psychiater geheiratet, der sechs Monate später Selbstmord beging. Es war, als ob sich alle Gefühle in ihr aufgestaut hätten. Jetzt brachen sie mit elementarer Gewalt hervor und ließen sie erschöpft, ruhig und wundervoll zufrieden zurück.
Toby liebte Alice, bis sie vor Ekstase beinahe bewusstlos wurde. Er füllte sie mit seinem riesigen Penis und bewegte langsam kreisend seine Hüften, bis er jeden Teil ihres Körpers zu berühren schien. Sie stöhnte: »O Liebling, ich liebe dich so sehr. O Gott, wie ich das liebe!« Aber was die Schule anlangte, merkte Toby, dass er keinen Einfluss auf Alice hatte. Er sprach mit ihr über eine Rolle in der nächsten Schaukastenaufführung. Er wollte den Besetzungschefs vorgestellt werden, sie sollte bei allen wichtigen Studioleuten ein Wort für ihn einlegen, aber sie blieb fest. »Du kannst dir nur schaden, wenn du es übereilst, Liebling. Regel Nummer eins: Der erste Eindruck ist der wichtigste.
Wenn man dich nicht gleich beim erstenmal mag, kommt man kein zweites Mal, um dich zu sehen. Du musst perfekt sein.«
Mit diesen Worten wurde sie augenblicklich zu seinem Feind. Sie war gegen ihn. Toby schluckte seine Wut hinunter und zwang sich, sie anzulächeln. »Klar. Ich bin bloß ungeduldig. Ich möchte nicht nur für mich, sondern auch für dich Erfolg haben.«
»Wirklich! O Toby, ich liebe dich so sehr!«
»Ich liebe dich auch, Alice.« Und er blickte lächelnd in ihre hingebungsvollen Augen. Er wusste, dass er dieses Luder, das ihm im Wege stand, überlisten musste. Er hasste sie und strafte sie dafür.
Wenn sie sich liebten, zwang er sie, Dinge zu tun, die sie nie zuvor getan hatte, Dinge, die er nicht einmal von einer Hure verlangt hätte; er gebrauchte ihren Mund, ihre Finger und ihre Zunge. Er trieb sie immer weiter und zwang sie zu einer Reihe von Demütigungen. Und jedesmal, wenn er sie zwang, etwas noch Entwürdigenderes zu tun, lobte er sie, so wie man einen Hund lobt, der einen neuen Trick gelernt hat, und sie war glücklich, weil sie ihn zufriedengestellt hatte. Und je mehr er sie demütigte, um so gedemütigter kam er sich selber vor. Er strafte sich und hatte nicht die geringste Ahnung, wofür.
Toby hatte einen Plan, und die Gelegenheit, ihn zu verwirklichen, kam schneller, als er zu hoffen gewagt hatte. Alice Tanner kündigte an, dass die Werkstattgruppe am kommenden Freitag eine Privataufführung für die fortgeschrittenen Klassen und deren Gäste veranstalten würde. Jeder Student konnte die Art seiner Darbietung selbst wählen. Toby bereitete einen Monolog vor und probte ihn immer wieder.
Am Morgen des Aufführungstages wartete Toby, bis der Kurs vorüber war, und ging dann zu Karen, der dicklichen Schauspielerin, die während des Stückes neben ihm gesessen hatte. »Würdest du mir einen Gefallen tun?« fragte er beiläufig.
»Klar, Toby.« Ihre Stimme klang überrascht und eifrig.
Toby trat zurück, um ihrem Atem auszuweichen. »Ich will einen alten Freund von mir verulken. Würdest du die Sekretärin von Clifton Lawrence anrufen und ihr sagen, du seiest Sam Goldwyns Sekretärin und Mr. Gold-wyn bäte darum, dass Mr. Lawrence heute abend zur Aufführung käme, um einen fabelhaften neuen Komiker zu sehen? Eine Karte liege für ihn an der Kasse bereit.«
Karen starrte ihn an. »Jesus, die Tanner würde mir den Kopf abreißen. Du weißt doch, dass sie bei Werkstattaufführungen keine Fremden duldet.«
»Das geht schon in Ordnung.« Er drückte ihren Arm. »Hast du heute nachmittag etwas vor?«
Sie schluckte. »Nein – nicht, wenn du einen Vorschlag hast.«
»Ich habe einen.«
Drei Stunden später führte eine verzückte Karen das Telefongespräch.
Der Zuschauerraum war mit Schauspielern aus den verschiedenen Kursen und ihren Gästen besetzt, aber die einzige Person, für die Toby Augen hatte, war der Mann, der am Ende der dritten Reihe saß. Toby hatte Ängste ausgestanden, dass sein Trick nicht funktionieren könnte. Sicherlich würde ein so kluger Mann wie Clifton Lawrence das Manöver durchschauen. Aber er hatte es nicht durchschaut. Er war da.
Auf der Bühne wurde gerade eine Szene aus der Möwe gespielt. Toby hoffte, dass die beiden Darsteller Clifton Lawrence nicht aus dem Theater treiben würden. Endlich war die Szene zu Ende. Die Schauspieler verbeugten sich und verließen die Bühne.
Nun war Toby an der Reihe. Plötzlich erschien Alice neben ihm in den Kulissen und flüsterte: »Viel Glück, Liebling«, nicht ahnend, dass sein Glück im Publikum saß.
»Danke, Alice.« Mit einem stillen Stoßgebet straffte Toby die Schultern, sprang auf die Bühne und lächelte das Publikum jungenhaft an. »Hallo allerseits! Ich bin Toby Temple. Haben Sie eigentlich schon mal über Ihren Namen nachgedacht und darüber, warum Ihre Eltern gerade ihn ausgesucht haben? Es ist schon verrückt. Ich habe meine Mutter mal gefragt, warum sie mich Toby genannt hat. Sie hat geantwortet, sie habe mich angesehen, und das habe genügt.«
Seine Miene war es, die sie zum Lachen brachte. Toby wirkte so unschuldig und versonnen, wie er da oben auf der Bühne stand, dass sie
ihn in ihr Herz schlössen. Die Witze, die er riss, waren schauderhaft, aber das spielte keine Rolle. Er war so verletzlich, dass sie den Wunsch hatten, ihn zu beschützen, und sie taten das mit ihrem Beifall und ihrem Gelächter. Eine Woge der Zuneigung schlug Toby entgegen und erfüllte ihn mit einer fast unerträglichen Heiterkeit. Er war Edward G. Robinson und Jimmy Cagney, und Cagney sagte: »Du dreckige Ratte! Wem, glaubst du, gibst du Befehle?«
Robinson: »Dir, du Quatschkopf. Ich bin Cäsar der Kleine. Ich bin der Chef. Du bist nichts. Weißt du, was das heißt?«
»Klar, du dreckige Ratte. Du bist der Chef von Nichts.«
Schallendes Gelächter. Das Publikum war hingerissen.
Toby gab ihnen seinen Peter Lorre: »Ich sah das kleine Mädchen in ihrem Zimmer damit spielen, und es erregte mich. Ich weiß nicht, was über mich kam. Ich konnte nicht anders. Ich schlich mich in ihr Zimmer und zog die Schnur immer enger und enger – und machte ihr Yo-Yo kaputt.«
Riesengelächter.
Dann ging er zu Laurel und Hardy über. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung im Publikum. Er blickte auf. Clifton Lawrence verließ den Zuschauerraum.
Den Rest des Abends nahm Toby nur noch verschwommen wahr.
Als die Veranstaltung vorüber war, ging Alice Tanner auf Toby zu. »Du warst wunderbar, Liebling! Ich…«
Er konnte es nicht ertragen, sie anzusehen, sich von irgend jemandem ansehen zu lassen. Er wollte mit seinem Elend allein sein, wollte versuchen, mit dem Schmerz fertig zu werden, der ihn zerriss. Eine Welt war für ihn zusammengebrochen. Er hatte seine Chance gehabt, und er hatte versagt. Clifton Lawrence hatte ihn stehenlassen, hatte noch nicht einmal das Ende seines Auftritts abgewartet. Clifton Lawrence war ein Mann, der sich auf Begabungen verstand, ein Mann vom Fach, der sich nur mit der Elite abgab. Wenn Lawrence nicht glaubte, dass etwas in Toby steckte… Ihm wurde übel.
»Ich mache einen Spaziergang«, sagte er zu Alice.
Er ging die Vine Street und Gower hinunter, bei der Columbia Film und RKO und Paramount vorbei. Alle Tore waren verschlossen. Er ging über den Hollywood Boulevard und blickte zu dem riesigen Schild hinauf, das höhnisch verkündete: »HOLLYWOODLAND«. Es gab kein Hollywoodland. Es war ein Wahn, ein falscher Traum, der Tausenden von sonst normalen Menschen die fixe Idee eingab, ein Star werden zu wollen. Das Wort Hollywood war wie ein Magnet, eine Falle, die die Menschen mit wunderbaren Versprechungen anlockte, um sie dann zu vernichten.
Toby lief die ganze Nacht durch die Straßen und fragte sich, was er nun mit seinem Leben anfangen sollte. Sein Glaube an sich selbst war zerstört worden, er fühlte sich wurzellos und wusste weder aus noch ein. Er hatte sich nie vorstellen können, etwas anderes zu tun, als die Menschen zu unterhalten, und wenn er das nicht konnte, blieben ihm nur noch langweilige, eintönige Jobs übrig, wo er den Rest seines Lebens, wie in einen Käfig eingesperrt, verbringen würde. Mr. Anonym.
Niemand würde je wissen, wer er war. Er dachte an die langen, trostlosen Jahre, die bittere Einsamkeit von tausend namenlosen Städten, an die Menschen, die ihm Beifall gespendet und über ihn gelacht und ihn geliebt hatten. Toby weinte. Er weinte um das Vergangene und das Zukünftige. Er weinte, weil er tot war.
Der Morgen dämmerte bereits, als Toby in den weißen Bungalow zurückkehrte, den er mit Alice teilte. Er ging ins Schlafzimmer und blickte auf die schlafende Gestalt hinunter. Er hatte geglaubt, dass sie das Se-sam-öffne-dich des Wunderkönigreichs sein würde. Doch nicht für ihn. Er würde gehen. Er hatte keine Ahnung, wohin. Er war fast siebenundzwanzig und hatte keine Zukunft.
Er legte sich erschöpft auf die Couch. Er schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche der erwachenden Stadt. Die Morgengeräusche von Städten sind alle gleich, und er dachte an Detroit. An seine Mutter. Sie stand in der Küche und buk Apfelkuchen für ihn. Er konnte ihren wundervollen moschusähnlichen weiblichen Geruch, vermischt mit dem Duft von in Butter schmorenden Äpfeln riechen, und sie sagte: »Gott will, dass du berühmt wirst.«
Er stand allein auf einer riesigen Bühne, von Scheinwerfern geblendet, und versuchte, sich an seinen Text zu erinnern. Toby konnte die Zuschauer sehen, wie sie ihre Plätze verließen und auf die Bühne stürmten, um ihn anzugreifen, ihn zu töten. Ihre Liebe war in Hass umgeschlagen. Sie umringten ihn, packten ihn und intonierten: »Toby! Toby! Toby!«
Toby fuhr hoch, sein Mund war wie ausgetrocknet vor Angst. Alice Tanner stand über ihn gebeugt und schüttelte ihn.
»Toby! Telefon. Clifton Lawrence.«
Clifton Lawrences Büro befand sich in einem kleinen Gebäude am Beverly Drive, südlich von Wilshire. Bilder französischer Impressionisten hingen an den getäfelten Wänden, und vor dem dunkelgrünen Marmorkamin waren ein Sofa und einige antike Sessel um einen erlesenen Teetisch gruppiert. Toby hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen.
Eine hübsche rothaarige Sekretärin schenkte Tee ein. »Wie möchten Sie Ihren Tee, Mr. Temple?« Mr. Temple! »Mit einem Stück Zucker.« »Bitte sehr.« Ein sanftes Lächeln, und sie verschwand.
Toby wusste nicht, dass der Tee eine von Fortnum und Mason bezogene Spezialmischung war, auch nicht, dass er mit Irish Baleek parfümiert war, aber er wusste, dass er wunderbar schmeckte. Alles in diesem Büro war wunderbar, besonders der elegante kleine Mann, der in einem Lehnsessel saß und ihn musterte. Clifton Lawrence war kleiner, als Toby erwartet hatte, aber er vermittelte den Eindruck von Autorität und Macht.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mich empfangen«, sagte Toby. »Es tut mir leid, dass ich Sie mit einer Täuschung in -«
Clifton Lawrence warf den Kopf zurück und lachte. »Täuschen, mich? Ich habe gestern mit Goldwyn zu Mittag gegessen und bin abends nur gekommen, weil ich sehen wollte, ob Ihre Begabung Ihrer Frechheit gleichkommt. Das ist der Fall.«
»Aber Sie sind gegangen!« rief Toby aus.
»Mein lieber Junge, man braucht nicht die ganze Dose Kaviar zu essen, um zu wissen, dass er gut ist, stimmt's? Ich wusste nach sechzig Sekunden, was in Ihnen steckt.«
Toby spürte, wie das Gefühl der Euphorie sich wieder einstellte. Nach der düsteren Verzweiflung der vergangenen Nacht in die höchsten Höhen gehoben zu werden, sein Leben neu beginnen zu dürfen -.
»Ich setze große Hoffnungen in Sie, Temple«, sagte Clifton Lawrence. »Es reizt mich, Ihre Karriere aufzubauen. Ich habe beschlossen, als Agent für Sie tätig zu werden.«
Das Gefühl übermäßiger Freude drohte Toby fast zu zerreißen. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte laut geschrieen. Clifton Lawrence würde sein Agent sein!
»… mich unter einer Bedingung mit Ihnen beschäftigen«, sagte Clifton Lawrence. »Dass Sie genau tun, was ich Ihnen sage. Ich dulde keine Launen. Wenn Sie nur einmal aus dem Tritt kommen, ist Schluss. Verstanden?«
Toby nickte schnell. »Ja, Sir. Ich habe verstanden.«
»Dazu gehört, dass Sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich sind.« Er lächelte Toby an und sagte: »Ihre Nummer ist grauenvoll. Allerunterste Schublade.«
Es traf Toby wie ein Schlag in die Magengrube. Clifton Lawrence hatte ihn herzitiert, um ihn für diesen dämlichen Telefonanruf zu bestrafen; er würde ihn nicht annehmen.
Der kleine Agent aber fuhr fort: »Die Aufführung gestern abend war eine Veranstaltung von Amateuren, und genau das sind Sie – ein Amateur.« Clifton Lawrence stand auf und lief hin und her. »Ich werde Ihnen sagen, was in Ihnen steckt, und ich werde Ihnen auch sagen, was Sie brauchen, um ein Star zu werden.«
Toby saß stumm da.
»Fangen wir bei Ihren Witzen an«, sagte Clifton. »Die können Sie getrost vergessen.«
»Nun ja, manche sind vielleicht ein wenig abgedroschen, aber -«
»Als nächstes: Sie haben keinen Stil.«
Toby ballte innerlich die Fäuste. »Das Publikum schien -«
»Als nächstes: Sie können sich nicht bewegen.«
Toby nahm es schweigend zur Kenntnis.
Der kleine Agent trat zu ihm, blickte auf ihn herunter und sagte, als könnte er Tobys Gedanken lesen: »Wenn Sie so schlecht sind, was tun Sie dann hier? Nun, Sie sind hier, weil Sie etwas haben, das man nicht mit Geld kaufen kann. Wenn Sie auf der Bühne stehen, möchte das Publikum Sie am liebsten auffressen. Die lieben Sie. Haben Sie eine Ahnung, wieviel das wert ist?«
Toby holte tief Atem und setzte sich zurück. »Sagen Sie's mir.«
»Mehr, als Sie sich je erträumen könnten. Mit dem richtigen Text und der richtiger1! Präsentation können Sie ein Star werden.«
Toby saß da und sonnte sich im Glanz dieser Worte, und es war, als hätte sein ganzes bisheriges Leben nur zu diesem einen Augenblick hingeführt, als wäre er bereits ein Star und als hätte sich alles erfüllt. Wie seine Mutter es vorhergesagt hatte.
»Der Schlüssel zum Erfolg eines Entertainers ist seine Persönlichkeit«, sagte Clifton Lawrence. »Man kann sie nicht kaufen, und man kann sie nicht vortäuschen. Man muss mit ihr geboren werden. Sie sind einer der Glücklichen, mein Lieber.« Er blickte auf die goldene Piaget-Uhr an seinem Handgelenk. »Ich habe für Sie für zwei Uhr eine Verabredung mit O'Hanlon und Rainger getroffen. Sie sind die besten Autoren in der Branche. Sie arbeiten für alle Spitzenkomiker.«
Toby sagte beunruhigt: »Ich fürchte, ich habe nicht genug Geld -«
Clifton Lawrence ging mit einer Handbewegung darüber hinweg. »Keine Sorge, mein Junge. Sie werden es mir später zurückzahlen.«
Lange, nachdem Toby Temple gegangen war, saß Clifton Lawrence da und überlegte, lächelte in sich hinein, wenn er an dieses großäugige Unschuldsgesicht und die vertrauensvollen, treuherzigen blauen Augen dachte. Es war schon viele Jahre her, dass Clifton sich für einen Unbekannten eingesetzt hatte. Alle seine Klienten waren bedeutende
Stars, und die Studios unternahmen die größten Anstrengungen, um sie für sich zu gewinnen. So etwas wie Spannung hatte es für ihn schon lange nicht mehr gegeben. Früher hatte es mehr Spaß gemacht, war es reizvoller gewesen. Es wäre eine erneute Herausforderung, sich dieses unerfahrenen Jungen anzunehmen, ihn zu fördern und ihn zu einem Superstar aufzubauen. Clifton hatte das Gefühl, dass er an dieser Erfahrung wirklich Freude haben würde. Er mochte den Jungen. Er mochte ihn tatsächlich sehr.
Das Treffen fand in den Twentieth-Century-Fox-Studios am Pico Boulevard in West Los Angeles statt, wo O'Hanlon und Rainger ihr Büro hatten. Toby hatte etwas Umwerfendes in der Art der Suite von Clifton Lawrence erwartet, aber die Räume der Autoren in einem kleinen Holzbungalow wirkten düster und schäbig.
Eine schlampige Sekretärin mittleren Alters in einer wollenen Strickjacke führte Toby in das Büro. Die schmutzig-grünen Wände wiesen als einzigen Schmuck eine zerlöcherte Zielscheibe und ein Schild »Planen Sie im voraus« auf. Eine kaputte Jalousie hielt nur zum Teil die Sonnenstrahlen ab, die auf einen abgetretenen, schmutzigen braunen Teppich fielen. Zwei verschrammte Schreibtische waren aneinandergeschoben und mit Papieren, Bleistiften und halbgeleerten Kaffeebechern bedeckt.
»Hallo, Toby«, begrüßte ihn O'Hanlon. »Entschuldigen Sie die Unordnung. Das Dienstmädchen hat heute seinen freien Tag. – Ich bin O'Hanlon.« Er zeigte auf seinen Partner. »Das ist – äh?«
»Rainger.«
»Ah ja. Das ist Rainger.«
O'Hanlon war groß und breit und trug eine Hornbrille. Rainger war klein und zart. Beide Männer waren Anfang Dreißig und seit zehn Jahren ein erfolgreiches Autoren-Team. Solange Toby mit ihnen arbeitete, nannte er sie »die Jungs«.
Toby sagte: »Wie ich höre, werdet ihr Burschen einige neue Witze für mich schreiben.«
O'Hanlon und Rainger wechselten einen Blick. Rainger sagte: »Cliff Lawrence meint, Sie könnten Amerikas neues Sex-Symbol werden. Wollen mal sehen, was Sie können. Haben Sie eine Nummer parat?«
»Klar«A erwiderte Toby. Ihm fielen Cliftons Bemerkungen ein, und plötzlich hatte er kein Selbstvertrauen mehr.
Die beiden Autoren setzten sich auf die Couch und verschränkten die Arme.
»Schießen Sie los«, sagte O'Hanlon.
Toby sah sie an. »Einfach so?«
»Was hätten Sie denn gern?« fragte Rainger. »Eine Ouvertüre von einem Sechzig-Mann-Orchester?« Er wandte sich an O'Hanlon. »Ruf die Musikabteilung an.«
Du Scheißkerl dachte Toby. Ihr steht auf meiner Abschussliste, alle beide. Er wusste, was sie vorhatten. Sie versuchten, ihn kleinzukriegen, damit sie zu Clifton Lawrence gehen und ihm sagen konnten: Wir können ihm nicht helfen. Er ist ein Langweiler. Nun, so leicht wollte er es ihnen nicht machen. Er setzte ein Lächeln auf, das nicht echt war, und stieg in sein Abbott-und-Costello-Repertoire ein. »He, Lou, schämst du dich nicht? Du entwickelst dich zu einem richtigen Schnorrer. Warum gehst du nicht und suchst dir einen Job?«
»Ich habe einen Job.«
»Was für einen?«
»Arbeitssuche.«
»Das nennst du einen Job?«
»Na klar. Er beschäftigt mich den ganzen Tag, ich habe eine geregelte Arbeitszeit und bin abends pünktlich zum Essen zu Hause.«
Die beiden prüften Toby, wogen ihn ab, analysierten ihn, und mitten in seiner Darbietung fingen sie an zu reden, als wäre er gar nicht im Zimmer.
»Er weiß nicht, wie er stehen soll.«
»Er rudert mit den Händen, als würde er Holz hacken. Wir könnten eine Holzhacker-Nummer für ihn schreiben.«
»Er drückt zu sehr auf die Tube.«
»Jesus, mit dem Text – was bleibt ihm anderes übrig?«
Toby wurde zusehends aus der Fassung gebracht. Er hatte es nicht nötig, sich von diesen beiden Verrückten beleidigen zu lassen. Ihre Einfalle waren vermutlich ohnehin miserabel.
Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen. Er hielt inne, seine Stimme bebte vor Wut: »Ich brauche euch Schweinehunde nicht! Vielen Dank für die Gastfreundschaft.« Er ging auf die Tür zu.
Rainger stand auf. Er schien ehrlich verblüfft. »He! Was ist denn mit Ihnen los?«
Toby drehte sich wütend um. »Was zum Teufel glauben Sie, ist los? Sie – Sie -« Er war so enttäuscht, dass er den Tränen nahe war.
Rainger wandte sich verwirrt an O'Hanlon. »Wir müssen ihn gekränkt haben.«
»Ach herrje!«
Toby holte tief Atem. »Hören Sie zu, Sie beide, es ist mir egal, ob Sie mich mögen oder nicht, aber -«
»Wir lieben Sie!« rief O'Hanlon aus.
»Sie sind ein Schatz!« fiel Rainger ein.
Toby sah einen nach dem anderen völlig verblüfft an. »Was? Sie führten sich wie -«
»Wissen Sie, was mit Ihnen los ist, Toby? Sie sind unsicher. Entspannen Sie sich. Klar, Sie müssen noch viel lernen, aber andererseits, wenn Sie Bob Hope wären, stünden Sie nicht hier.«
O'Hanlon fügte hinzu: »Und wissen Sie, warum? Weil Bob heute in Carmelist.«
»Golf spielen. Spielen Sie Golf?« fragte Rainger.
»Nein.«
Die beiden Autoren sahen sich bestürzt an. »Die ganzen Golfwitze im Eimer. Scheiße!«
O'Hanlon griff zum Telefon. »Bitte, bringen Sie uns einen Kaffee, Zsa Zsa.« Er legte wieder auf und sagte zu Toby: »Wissen Sie, wie viele Möchtegern-Komiker es in dieser seltsamen Branche gibt, in der wir arbeiten?«
Toby schüttelte den Kopf.
»Kann ich Ihnen genau sagen. Drei Milliarden siebenhundertacht-undzwanzig Millionen, gestern abend, sechs Uhr. Milton Berles Bruder nicht mitgerechnet. Bei Vollmond kriechen sie alle aus ihren Schlupfwinkeln. Es gibt nur ein halbes Dutzend echte Spitzenkomiker. Die anderen werden's nie schaffen. Spaß ist die ernsthafteste Sache der Welt. Es erfordert gottverdammte Anstrengung, komisch zu sein, ob man nun ein Komiker ist oder ein Komödiant.«
»Gibt es da einen Unterschied?«
»Einen großen. Ein Komiker öffnet komische Türen. Ein Komödiant öffnet Türen komisch.«
Rainger fragte: »Haben Sie sich je überlegt, was einen Komödianten zu einem Dauerbrenner und einen anderen zum Versager macht?«
»Die Texte«, sagte Toby, der ihnen schmeicheln wollte.
»Scheißdreck. Der letzte neue Witz wurde von Aristophanes erfunden. Im Grunde sind alle Witze gleich. George Burns kann dieselben sechs Witze erzählen, die sein Vorgänger im Programm gerade erst erzählt hat, und Burns hat den größeren Lacherfolg. Und wissen Sie, warum? Persönlichkeit.« Genau das hatte Clifton Lawrence ihm auch gesagt. »Ohne die sind Sie nichts, ein Niemand. Sie fangen mit
Persönlichkeit an und bauen sie zu einem Charakter aus. Nehmen Sie Hope, zum Beispiel. Wenn er herauskäme und einen Jack-BennyMonolog spräche, würde er wie eine Bombe einschlagen. Warum? Weil er einen Charakter aufgebaut hat. Das erwartet das Publikum von ihm. Wenn Hope auftritt, will das Publikum ein Feuerwerk von Witzen hören. Er ist ein liebenswerter Bursche, ein Großstadtjunge, der die Leute um den Finger wickelt. Jack Benny – genau das Gegenteil. Er wüsste nicht, was er mit einem Bob-Hope-Monolog anfangen sollte, aber er kann eine Pause von zwei Minuten einlegen und ein Publikum vor Lachen zum Brüllen bringen. Jeder der Marx Brothers hat seinen eigenen Charakter. Fred Allen ist einmalig. Damit sind wir bei Ihnen. Kennen Sie Ihr Problem, Toby? Sie sind ein bisschen von jedem. Sie imitieren all die Großen. Nun, das ist schön und gut, wenn Sie für den Rest Ihres Lebens zweite Garnitur sein wollen. Wenn Sie aber mehr erreichen möchten, müssen Sie sich einen eigenen Charakter schaffen. Wenn Sie auf der Bühne stehen, muss das Publikum, noch bevor Sie überhaupt den Mund aufmachen, wissen, dass da oben Toby Temple steht. Kapiert?«
»Ja.«
O'Hanlon schaltete sich ein. »Wissen Sie, was Sie haben, Toby? Ein liebenswertes Gesicht. Wenn ich nicht schon Clark Gable versprochen wäre, wäre ich verrückt nach Ihnen. Sie haben etwas Naiv-Süßes an sich. Wenn Sie das richtig verpacken, ließe sich ein Vermögen daraus machen.«
Rainger pflichtete O'Hanlon bei.
»Sie können ungestraft Dinge sagen, die die anderen Jungs nicht bringen dürfen. Es ist wie bei einem Chorknaben, der vor sich hinflucht – man findet es reizend, weil man nicht glaubt, dass er tatsächlich weiß, was er sagt. Als Sie hier reinkamen, fragten Sie, ob wir die Burschen seien, die Ihre Witze schreiben würden. Die Antwort lautet nein. Das hier ist kein Witzladen; wir werden Ihnen zeigen, was in Ihnen steckt und was Sie damit anfangen können. Wir werden einen Charakter für Sie zurecht-schneidern. Nun – was sagen Sie dazu?«
Toby sah von einem zum anderen, grinste überglücklich und sagte: »Krempeln wir die Ärmel hoch und gehen wir an die Arbeit.«
Von nun an aß Toby täglich mit O'Hanlon und Rainger im Studio zu Mittag. Die Kantine der Twentieth Century-Fox war ein riesiger Raum, der von einem Ende zum anderen mit Stars besetzt war. An jedem x-beliebigen Tag konnte Toby Tyrone Power und Loretta
Young und Betty Grable und Don Ameche und Alice Faye und Richard Widmark und Victor Mature und die Ritz Brothers und Dutzende anderer sehen. Einige saßen an Tischen in dem großen Saal, andere aßen in dem kleineren Direktoren-Speiseraum, der neben der Hauptkantine lag. Toby liebte es, sie alle zu beobachten. In kurzer Zeit würde er einer der Ihren sein, die Leute würden ihn um ein Autogramm bitten. Er war auf dem richtigen Weg, und er würde sie alle übertreffen.
Alice war begeistert von dem, was mit Toby geschah. »Ich weiß, du wirst es schaffen, Liebling.«
Toby lächelte sie an und schwieg.
Toby, O'Hanlon und Rainger führten lange Diskussionen über den neuen Typ, den Toby verkörpern sollte.
»Er sollte sich einbilden, ein kluger Mann, ein Mann von Welt zu sein«, sagte O'Hanlon. »Aber jedesmal, wenn er dran ist, macht er Mist.«
»Was macht er beruflich?« fragte Rainger. »Metaphern mischen?«
»Er sollte noch bei seiner Mutter leben. Er ist in ein Mädchen verliebt, aber er fürchtet sich davor, von zu Hause wegzuziehen, um sie zu heiraten. Schon fünf Jahre ist er mit ihr verlobt.«
»Zehn ist eine komischere Zahl.«
»Richtig. Also zehn. Seine Mutter würde selbst einen Hund zur Verzweiflung bringen. Jedesmal, wenn Toby heiraten möchte, wird sie krank. Das Time Magazin ruft jede Woche bei ihr an, um zu erfahren, was es in der Medizin Neues gibt.«
Toby war fasziniert von dem Schlagabtausch. Er hatte noch nie mit Profitextern gearbeitet, und es gefiel ihm. Besonders, da sich alles um ihn drehte. O'Hanlon und Rainger brauchten drei Wochen, um für Toby eine Nummer zu schreiben. Als sie sie ihm schließlich zeigten, war er begeistert. Sie war wirklich gut. Er machte ein paar Änderungsvorschläge, sie fügten ein paar Zeilen hinzu, strichen andere, und Toby Temple war fertig. Clifton Lawrence rief ihn zu sich.
»Sie fangen Sonnabend abend im Bowling Ball an.«
Toby starrte ihn an. Er hatte erwartet, an das Giro oder das Trocadero vermittelt zu werden. »Was – was ist der Bowling Ball?«
»Ein kleiner Club an der Südwest Avenue.«
Toby machte ein enttäuschtes Gesicht. »Ich habe noch nie davon gehört.«
»Und die haben von Ihnen auch noch nichts gehört. Darauf kommt's an, mein Junge. Wenn Sie da Mist machen, wird niemand etwas davon erfahren.« Außer Clifton Lawrence.
Der Bowling Ball war eine richtige Müllkippe. Es gab kein passenderes Wort dafür. Er war nicht besser und nicht schlechter als die zehntausend anderen schmutzigen kleinen Bars im ganzen Land, ein Treffpunkt für Versager. Toby war schon tausendmal da aufgetreten, in tausend Städten. Die Gäste waren Männer mittleren Alters, Arbeiter in dunklen Hemden ohne Krawatte, zu deren Freizeitgewohnheiten es gehörte, sich hier mit ihren Kumpeln zu treffen, mit den müden Kellnerinnen in ihren engen Röcken und tief ausgeschnittenen Blusen anzubändeln und bei einem billigen Whisky oder einem Glas Bier dreckige Witze zu erzählen. Die Show fand auf engem Raum im Hintergrund des Lokals statt, wo drei gelangweilte Musiker spielten. Ein homosexueller Sänger eröffnete die Vorstellung, ihm folgte ein akrobatischer Tänzer und dann eine Stripperin, die mit einer schläfrigen Kobra arbeitete.
Toby saß zusammen mit Clifton Lawrence, O'Hanlon und Rainger an einem Tisch, sah den anderen Darbietungen zu, lauschte dem Publikum und versuchte, dessen Stimmung abzuschätzen.
»Biertrinker«, sagte Toby verächtlich.
Clifton wollte etwas entgegnen, hielt sich aber zurück, als er Tobys Gesicht sah. Toby hatte Angst. Clifton wusste, dass Toby in Lokalen wie diesem schon früher aufgetreten war, aber diesmal war es anders. Diesmal kam es drauf an.
Clifton sagte freundlich: »Wenn Sie die Biertrinker in die Tasche stecken, wird die Champagnerbande ein leichter Gegner für Sie sein. Diese Leute arbeiten den ganzen Tag schwer, Toby. Wenn sie abends ausgehen, wollen sie etwas für ihr Geld. Wenn Sie die zum Lachen bringen können, schaffen Sie's bei allen.«
In diesem Augenblick hörte Toby, wie der gelangweilte Conferencier seinen Namen ankündigte.
»Zeig's ihnen, Tiger!« sagte O'Hanlon.
Toby machte sich auf den Weg.
Er stand auf der Bühne, auf der Hut und gespannt, schätzte das Publikum ab wie ein argwöhnisches Tier, das im Wald Gefahr wittert. Das Publikum war ein Tier mit hundert Köpfen, mit hundert verschiedenen Köpfen; und er musste das Tier zum Lachen bringen. Er holte tief Atem. Liebt mich, betete er.
Er begann mit seiner Nummer.
Und niemand hörte ihm zu. Keiner lachte. Toby fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Die Nummer kam nicht an. Er behielt sein unechtes Lächeln bei und redete weiter, versuchte, den Lärm und die Unterhaltung zu übertönen. Er konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Sie wollten wieder die nackten Weiber. Sie waren an zu vielen Sonnabendabenden zu vielen unbegabten, unkomischen Komikern ausgesetzt gewesen. Toby redete und redete, kämpfte gegen ihre Gleichgültigkeit an.
Er machte weiter, weil es nichts gab, was er sonst hätte tun können. Er blickte hinüber zu Clifton Lawrence und den Jungs, sah, wie sie ihn besorgt beobachteten.
Toby fuhr fort. Es gab kein Publikum, nur Leute, die miteinander redeten, über ihre Probleme und ihr Leben diskutierten. Was sie betraf, hätte Toby Temple ruhig eine Million Meilen weit weg sein können. Oder tot. Seine Kehle war jetzt trocken vor Furcht, und es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen. Aus dem Augenwinkel sah Toby den Manager zur Kapelle hinübergehen. Er würde die Musik anfangen lassen und ihn endgültig mundtot machen. Es war alles vorbei. Tobys Handflächen waren nass, und seine Eingeweide rebellierten. Er konnte warmen Urin an seinem Bein hinunter rinnen fühlen. Er war so nervös, dass er die Worte zu verdrehen begann. Er wagte nicht, Clifton Lawrence oder die Texter anzusehen. Er schämte sich zu sehr. Der Manager stand bei der Kapelle und sprach mit den Musikern. Sie warfen einen Blick zu Toby Temple hinüber und nickten. Toby machte weiter, redete verzweifelt, wünschte, dass es endlich vorbei wäre, wollte irgendwohin rennen und sich verstecken.
Eine Frau mittleren Alters, die an einem Tisch direkt vor Toby saß, kicherte über einen seiner Witze. Ihre Begleiter verstummten, um zuzuhören. Toby redete in wilder Aufregung weiter. Die anderen am Tisch hörten jetzt ebenfalls zu, lachten. Dann der nächste Tisch.
Und der nächste. Und langsam ebbte die Unterhaltung ab. Sie hörten ihm jetzt zu. Gelächter setzte ein, hielt an, wurde stärker und wuchs. Und wuchs. Die Menschen im Raum wurden zu einem Publikum. Und er hatte sie im Griff. Er hatte sie gottverdammt im Griff! Es spielte keine Rolle mehr, dass er in einem billigen Saloon stand, vor einer Horde biertrinkender Sabbermäuler.
Was eine Rolle spielte, war ihr Lachen und ihre Sympathie. Sie erreichte Toby in Wellen der Zuneigung. Zuerst brachte er sie zum Lachen, dann zum Brüllen. Sie hatten noch nie so einen wie ihn gehört, weder in diesem kümmerlichen Lokal noch sonstwo. Sie applaudierten, und sie jubelten ihm zu, und fast hätten sie das Lokal zu Kleinholz gemacht. Sie waren Zeugen der Geburt eines Phänomens. Natürlich konnten sie das nicht wissen. Aber Clifton Lawrence, O'Hanlon und Rainger wussten es. Und Toby Temple. Gott hatte sich endlich durchgesetzt.
Reverend Damian hielt die lodernde Fackel dicht vor Josephines Gesicht und schrie: »O allmächtiger Gott, brenne das Böse in diesem sündigen Kind aus«, und die Gemeinde brüllte: »Amen!« Und Josephine fühlte, wie die Flamme ihr ins Gesicht züngelte, und Reverend Damian schrie: »Hilf dieser Sünderin, den Teufel zu bannen, o Gott. Wir werden ihn hinausbeten, wir werden ihn hinausbrennen, wir werden ihn ertränken«, und Hände packten Josephine, und ihr Gesicht wurde in einen Zuber mit kaltem Wasser getaucht, und sie wurde niedergehalten, wäh-
rend Stimmen in die Nachtluft emporstiegen, den Allmächtigen um Seine Hilfe anflehten. Josephine wand sich, um freizukommen, rang nach Atem, und als sie sie endlich halb bewusstlos herauszogen, erklärte Reverend Damian: »Wir danken Dir, süßer Jesus, für Deine Gnade. Sie ist gerettet! Sie ist gerettet!« Und es herrschte große Freude, und jeder war im Geiste erhoben. Nur Josephine nicht, deren Kopfschmerzen stärker geworden waren.
»Ich habe ein Engagement für Sie in Las Vegas«, sagte Clifton Lawrence zu Toby. »Ich habe mit Dick Landry vereinbart, dass er mit Ihnen an Ihrer Nummer arbeitet. Er ist der beste Arrangeur, den es gibt.«
»Phantastisch! Welches Hotel? Das Flamingo? Das Thunderbird?«
»Das Oasis.«
»Das Oasis?« Toby blickte Cliff ungläubig an, er scherzte wohl. »Ich habe nie -«
»Ich weiß«, Cliff lächelte. »Sie haben nie davon gehört. Klar. Die haben auch nie von Ihnen gehört. Sie engagieren in Wirklichkeit nicht Sie – sie engagieren mich. Ihnen genügt mein Wort, dass Sie gut sind.«
»Keine Sorge«, versprach Toby. »Ich werde Sie nicht blamieren.«
Kurz vor seiner Abreise unterrichtete Toby Alice Tanner über das Engagement in Las Vegas. »Ich weiß, dass du ein großer Star werden wirst«, sagte sie. »Deine Zeit ist gekommen. Sie werden dich anbeten, Darling.« Sie umarmte ihn und sagte: »Wann fahren wir, und was soll ich zur Premiere eines jungen Komiker-Genies anziehen?«
Toby schüttelte betrübt den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte dich mitnehmen, Alice. Das dumme ist nur, dass ich Tag und Nacht arbeiten muss, um eine Menge neuer Texte zu proben.«
Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Armer Toby.« Sie drückte ihn fester an sich. »Wie lange wirst du fortbleiben?«
»Ich weiß es noch nicht. Es ist kein zeitlich begrenztes Engagement.«
Es gab ihr einen leichten Stich, aber sie wusste, dass sie töricht war. »Ruf mich an, sobald du kannst«, sagte sie.
Toby küsste sie und stürmte zur Tür hinaus.
Es schien, als wäre Las Vegas, Nevada, eigens zu Tobys Vergnügen geschaffen worden. Er spürte es, sowie er der Stadt ansichtig wurde. Sie hatte eine wunderbare kinetische Energie, auf die er ansprach, eine vibrierende Kraft, die der in ihm brennenden Kraft gleichkam. Toby flog mit O'Hanlon und Rainger hin, und als sie landeten, wartete eine Limousine vom Hotel Oasis auf sie. Es war Tobys Vorgeschmack auf eine wundervolle Welt, die bald die seine sein sollte. Er genoss es, sich in dem riesigen schwarzen Wagen zurückzulehnen und vom Chauffeur gefragt zu werden: »Hatten Sie einen guten Flug, Mr. Temple?«
Es sind immer die kleinen Leute, die einen Erfolg riechen können, noch ehe er sich einstellt, dachte Toby.
»Es war wie üblich langweilig«, antwortete Toby lässig. Er fing das Lächeln auf, das O'Hanlon und Rainger tauschten, und grinste zurück. Er fühlte sich ihnen sehr verbunden. Sie waren alle ein Team, das gottverdammt beste Team im Showgeschäft.
Das Oasis lag abseits des glanzvollen Strip, weit weg von den berühmteren Hotels. Als die Limousine sich dem Hotel näherte, sah Toby, dass es nicht so groß oder so modisch war wie das Flamingo oder das Thunderbird, aber es hatte etwas Besseres, etwas viel Besseres. Es hatte eine riesige Tafel über dem Hoteleingang, auf der stand:
AB 4. SEPTEMBER LILI WALLACE TOBY TEMPLE
Tobys Name war in Leuchtbuchstaben angebracht, die dreißig Meter hoch zu sein schienen. Kein Anblick in der ganzen gottverdammten Welt war so schön wie dieser.
»Schauen Sie sich das an!« sagte er ehrfürchtig.
O'Hanlon warf einen Blick auf die Tafel und sagte: »Nanu? Lili Walla-ce!« Und er lachte. »Nach der Premiere werden Sie hoffentlich an erster Stelle stehen.«
Der Manager des Oasis, ein Mann in mittleren Jahren mit fahler Gesichtsfarbe, der Parker hieß, begrüßte Toby und geleitete ihn unter schmeichelhaften Reden persönlich in seine Suite. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wir uns freuen, Sie bei uns zu haben, Mr. Temple. Wenn Sie irgend etwas brauchen – irgend etwas -, rufen Sie mich nur an.«
Die freundliche Aufnahme galt Clifton Lawrence, darüber war sich Toby klar. Es war das erstemal, dass der legendäre Agent sich herabgelassen hatte, einen seiner Klienten in dieses Hotel zu vermitteln. Der Manager des Oasis-Hotels hoffte, dass er in der Folgezeit einige von Lawrences wirklich großen Stars bekommen würde.
Die Suite war riesig. Sie bestand aus drei Schlafzimmern, einem großen Salon, einer Küche, einer Bar und einer Terrasse. Auf einem Tisch im Salon stand ein ganzes Sortiment von Flaschen, Blumen und eine große Schale mit frischem Obst und Käse mit einer Empfehlung der Direktion.
»Ich hoffe, Sie werden zufrieden sein, Mr. Temple«, sagte Parker.
Toby blickte sich um und dachte an all die kleinen, von Küchenschaben heimgesuchten Absteigen, in denen er gewohnt hatte. »Ja, ist schon recht.«
»Mr. Landry ist vor einer Stunde angekommen. Ich habe veranlasst, dass das Mirage-Zimmer für Ihre Probe um drei Uhr geräumt wird.«
»Danke.«
»Vergessen Sie nicht, wenn Sie etwas brauchen -« Und der Manager ging unter Verbeugungen hinaus.
Toby stand da und genoss seine Umgebung. Er würde in Hotels wie diesem hier den Rest seines Lebens verbringen. Er würde alles haben – die Weiber, das Geld, den Beifall. Vor allen Dingen den Beifall. Die Leute würden vor ihm sitzen und lachen, jauchzen und ihn gern haben. Das war sein Lebenselixier. Er brauchte nichts anderes.
Dick Landry war Ende Zwanzig, ein zierlicher, schlanker Mann mit einer Glatze und langen, graziösen Beinen. Er hatte als Zigeuner am Broadway angefangen und war über den Revuetanz zum Solo-Tänzer, Choreographen und Regisseur aufgerückt. Landry hatte Geschmack und ein Gespür dafür, was das Publikum wollte. Er konnte zwar aus einer schlechten Nummer keine gute machen, aber er konnte sie gut aussehen lassen, und wenn man ihm eine gute Nummer gab, konnte er sie zu einer Sensation machen. Bis vor zehn Tagen hatte Landry noch nie von Toby Temple gehört, und der einzige Grund, warum Landry seinen hoffnungslos überfüllten Stundenplan über den Haufen geworfen hatte, um nach Las Vegas zu kommen und bei Temples Nummer Regie zu führen, war, dass Clifton Lawrence ihn darum gebeten hatte. Denn Clifton war es gewesen, der Landrys Karriere aufgebaut hatte.
Fünfzehn Minuten, nachdem Dick Landry Toby Temple kennengelernt hatte, wusste er, dass er es mit einem Talent zu tun hatte. Als er Tobys Monolog hörte, musste Landry laut lachen – was selten genug geschah. Es waren nicht sosehr die Witze als die treuherzige Art, wie er sie vortrug. Er war so rührend ehrlich, dass es einem das Herz brach. Er war ein liebenswertes Küken, voller Angst, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Landry verspürte den Wunsch, auf die Bühne zu laufen, ihn zu umarmen und ihm zu versichern, dass alles gutgehen würde.
Als Toby geendet hatte, musste Landry an sich halten, um nicht Beifall zu klatschen. Er ging zu Toby auf die Bühne. »Sie sind gut«, sagte er begeistert. »Wirklich gut.«
Toby war erfreut. »Danke. Cliff sagt, Sie könnten mir zeigen, wie man ganz groß rauskommt.«
Landry entgegnete: »Ich will es versuchen. Als erstes müssen Sie lernen, Abwechslung in Ihren Auftritt zu bringen. Solange Sie nur da oben stehen und Witze erzählen können, werden Sie nie mehr als ein gewöhnlicher Komiker sein. Singen Sie mir mal etwas vor.«
Toby grinste. »Da müssen Sie schon einen Kanarienvogel engagieren. Ich kann nicht singen.«
»Versuchen Sie's.«
Toby versuchte es. Landry war zufrieden. »Ihre Stimme ist zwar nicht kräftig«, sagte er zu Toby, »aber Sie haben Gehör. Mit den richtigen Liedern können Sie das Publikum glauben machen, Sie seien Frank Sinatra. Wir werden ein paar Komponisten beauftragen, etwas für Sie zu arrangieren. Ich möchte nicht, dass Sie dieselben Lieder singen, die jedermann bringt. Zeigen Sie mal, wie Sie sich bewegen.«
Landry beobachtete ihn genau. »Gut, gut. Sie werden zwar nie ein Tänzer sein, aber ich werde dafür sorgen, dass Sie wie einer aussehen.«
»Warum?« fragte Toby. »Singende Tänzer kriegt man für zehn Cents das Dutzend.«
»Genau wie Komiker«, gab Landry zurück. »Ich werde aus Ihnen einen Entertainer machen.«
Toby sagte grinsend: »Krempeln wir die Ärmel hoch und gehen wir an die Arbeit.«
Sie gingen an die Arbeit. O'Hanlon und Rainger waren bei jeder Probe dabei, fügten Zeilen hinzu, schufen neue Szenen und beobachteten Landry, wie er Toby antrieb. Es war ein mörderischer Stundenplan. Toby probte, bis jeder Muskel in seinem Körper schmerzte; er verlor fünf Pfund und wurde schlank und kräftig. Er nahm täglich Gesangstunden und sprach Konsonanten stimmhaft aus, bis er im Schlaf sang. Er arbeitete mit den Jungs an neuen Komödienszenen, brach das dann ab, um neue Lieder zu lernen, die für ihn geschrieben worden waren, und dann war es Zeit, wieder zu proben.
Beinahe jeden Tag fand Toby eine Mitteilung in seinem Fach, dass Alice Tanner angerufen habe. Er erinnerte sich, wie sie versucht hatte, ihn zurückzuhalten. Du bist noch nicht soweit. Nun, jetzt war er soweit, und er hatte es geschafft, trotzdem. Zum Teufel mit ihr! Er warf die Mitteilungen weg. Schließlich kamen keine mehr. Aber die Proben gingen weiter.
Plötzlich war der Abend der Premiere da.
Es ist etwas Geheimnisvolles um die Geburt eines neuen Stars. Es ist, als würde eine telepathische Botschaft umgehend an die vier Eckpfeiler des Show-Business weitergeleitet. Auf magische Weise gelangt die Nachricht nach London und Paris, nach New York und Sydney; wo immer es ein Theater gibt, wird die Botschaft bekannt.
Fünf Minuten, nachdem Toby Temple die Bühne des Oasis-Hotels betreten hatte, hatte es sich herumgesprochen, dass ein neuer Stern am Horizont erschienen war.
Clifton Lawrence flog zu Tobys Premiere und blieb auch zur Spätvorstellung. Toby war geschmeichelt. Clifton vernachlässigte seinetwegen seine anderen Klienten. Als Toby seine Show beendet hatte, gingen beide in das Hotel-Cafe, das die ganze Nacht geöffnet hatte.
»Haben Sie all die Stars gesehen?« fragte Toby. »Als sie zu mir in die Garderobe kamen, bin ich verdammt fast gestorben.«
Clifton lächelte über Tobys Begeisterung. Er war ein so angenehmer Kontrast zu all seinen anderen, blasierten Klienten. Toby war ein Miezekätzchen. Ein süßes, blauäugiges Miezekätzchen.
»Sie erkennen ein Talent auf den ersten Blick«, sagte Clifton. »Auch das Oasis hat es erkannt. Sie wollen einen neuen Vertrag mit Ihnen machen. Sie wollen Sie von fünfundsechzig auf tausend pro Woche heraufsetzen.«
Toby ließ seinen Löffel fallen. »Tausend die Woche? Aber das ist ja phantastisch, Cliff!«
»Und auch das Thunderbird und das El Rancho haben bereits die Fühler ausgestreckt.«
»Schon?« fragte Toby freudig erregt.
»Machen Sie sich nicht gleich in die Hosen. Es handelt sich nur darum, in der Hotelhalle zu spielen.« Er lächelte. »Es ist die alte Geschichte, Toby. Für mich sind Sie der Größte, und Sie selbst halten sich ebenfalls für den Größten – aber sind Sie auch für den Größten der Größte?« Er stand auf. »Ich muss meine Maschine nach New York kriegen. Ich fliege morgen nach London weiter.«
»London? Wann kommen Sie zurück?«
»In ein paar Wochen.« Clifton beugte sich vor und sagte: »Hören Sie, mein Junge. Sie bleiben noch zwei Wochen hier. Nutzen Sie sie gut. Ich möchte, dass Sie an jedem Abend, den Sie auf der Bühne da oben stehen, überlegen, wie Sie noch besser sein könnten. Ich habe O'Hanlon und Rainger überredet zu bleiben. Sie sind bereit, Tag und Nacht mit Ihnen zu arbeiten. Nutzen Sie das aus. Landry wird an den Wochenenden herkommen, um zu sehen, wie alles läuft.«
»Großartig«, sagte Toby. »Danke, Cliff.«
»Oh, beinahe hätte ich's vergessen«, sagte Clifton Lawrence beiläufig. Er zog ein kleines Päckchen aus der Tasche und reichte es Toby.
Es enthielt ein Paar Brillant-Manschettenknöpfe. Sie hatten die Form eines Sterns.
Wann immer Toby etwas Freizeit hatte, entspannte er sich an dem großen Swimming-pool hinter dem Hotel. Fünfundzwanzig Mädchen traten in der Show auf, und immer waren ein Dutzend oder mehr aus dem Ballett da, die sich in Badeanzügen sonnten. Sie wirkten in der heißen Mittagssonne wie spätblühende Blumen, eine schöner als die andere. Toby hatte auch früher keine Schwierigkeiten bei Frauen gehabt, doch nun machte er eine vollkommen neue Erfahrung. Die ShowMädchen hatten noch nie von Toby Temple gehört, aber sein Name stand in Leuchtschrift über dem Hoteleingang. Das genügte. Er war ein Star, und sie kämpften miteinander um das Vorrecht, mit ihm ins Bett zu gehen.
Die nächsten zwei Wochen waren wundervoll für Toby. Er pflegte gegen Mittag aufzuwachen, im Speisesaal zu frühstücken, wo er nebenbei Autogramme gab. Dann probte er ein wenig, und danach pickte er sich eine oder zwei der Schönheiten am Pool heraus, und sie gingen in seine Suite hinauf, um sich in seinem Bett zu amüsieren.
Und Toby lernte etwas Neues. Wegen der knappen Kostüme, die die Mädchen trugen, mussten sie ihre Schamhaare entfernen. Sie stutzten sie derart, dass nur eine lockige Haarsträhne in der Mitte des Hügels übrigblieb.
»Es ist wie ein Aphrodisiakum«, vertraute eines der Mädchen Toby an. »Ein paar Stunden in zu engen Hosen, und man wird zur Nymphomanin.«
Toby gab sich keine Mühe, sich ihre Namen zu merken. Sie waren alle »Baby« oder »Honey« und vermischten sich zu einer Symphonie von Schenkeln und Lippen und gierigen Körpern.
In der letzten Woche seines Engagements im Oasis hatte Toby einen Besucher. Er hatte gerade seinen ersten Auftritt beendet und schminkte sich ab, als der Oberkellner seine Garderobe betrat und ihm zuflüsterte: »Mr. AI Caruso läßt Sie an seinen Tisch bitten.«
AI Caruso war einer der Großen in Las Vegas. Er war Alleininhaber eines Hotels, und es hieß, dass er Anteile an zwei oder drei anderen besaß. Weiter hieß es, er hätte Verbindungen zu Gangsterkreisen, aber das kümmerte Toby nicht. Wichtig war, AI Caruso zu gefallen, um für den Rest seines Lebens Engagements in Las Vegas zu bekommen. Er zog sich rasch an und ging in den Speisesaal, um Al Caruso kennenzulernen.
AI Caruso war ein kleiner Mann in den Fünfzigern mit grauem Haar, sanften, aber lebendigen braunen Augen und einem Bauchansatz. Er erinnerte Toby an eine Miniaturausgabe von Sankt Nikolaus. Als Toby an den Tisch trat, erhob sich Caruso, streckte ihm seine Hand entgegen, lächelte herzlich und sagte: »AI Caruso. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie mir Ihre Show gefallen hat, Toby. Setzen Sie sich zu uns.«
Außer Caruso saßen noch zwei dunkel gekleidete Männer am Tisch. Stämmige Burschen, die an ihrer Coca-Cola nippten und während des ganzen Treffens kein Wort sagten. Toby erfuhr ihre Namen nie. Gewöhnlich pflegte Toby nach seinem ersten Auftritt zu Abend zu essen, und er hatte jetzt einen Bärenhunger, aber Caruso hatte offensichtlich seine Mahlzeit gerade beendet, und Toby wollte nicht interessierter am Essen erscheinen als an seinem Treffen mit dem großen Mann.
»Ich bin beeindruckt von Ihnen, mein Junge«, sagte Caruso. »Wirklich beeindruckt.« Und er strahlte Toby mit seinen lebhaften braunen Augen an.
»Danke, Mr. Caruso«, sagte Toby glücklich. »Das bedeutet mir sehr viel.«
»Nennen Sie mich Al.«
»Ja, Sir-Al.«
»Sie haben Zukunft, Toby. Ich habe manche kommen und gehen sehen. Aber nur die Begabten können sich halten. Sie sind begabt.«
Toby fühlte eine angenehme Wärme durch seinen Körper rieseln. Einen Augenblick dachte er daran, Al Caruso darauf hinzuweisen, dass für geschäftliche Dinge Clifton Lawrence zuständig sei; aber dann entschied er, die Verhandlung selbst zu führen. Wenn Caruso derart scharf auf mich ist, dachte Toby, kann ich vielleicht zu einem besseren Abschluss kommen als Cliff. Toby beschloss, zunächst AI Caruso ein Angebot machen zu lassen, dann würde er zu feilschen beginnen.
»Ich habe mir fast in die Hosen gemacht«, sagte Caruso. »Ihre AffenNummer ist das Komischste, was ich je gehört habe.«
»Aus Ihrem Munde ist das ein ganz besonderes Kompliment«, erwiderte Toby.
Die Augen des kleinen Sankt Nikolaus tränten vor Lachen. Er zog ein weißseidenes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. Er wandte sich an seine beiden Begleiter: »Hab' ich nicht gesagt, dass er komisch ist?«
Die beiden Männer nickten.
Al Caruso wandte sich wieder zu Toby. »Will Ihnen sagen, weshalb ich Sie sprechen wollte, Toby.«
Das war der entscheidende Augenblick, in dem seine Karriere wirklich begann. Clifton Lawrence gondelte irgendwo in Europa herum und schloss Verträge für alte Klienten. Hier hätte er sein sollen, um diesen Vertrag zu machen. Er würde staunen, wenn er zurückkäme!
Toby beugte sich vor und lächelte verbindlich. »Ich bin ganz Ohr, AI.«
»Millie liebt Sie.«
Toby blinzelte; es musste sich um ein Missverständnis handeln. Caruso beobachtete ihn mit funkelnden Augen.
»Es – es tut mir leid«, sagte Toby verwirrt. »Was haben Sie gesagt?«
AI Caruso lächelte freundlich. »Millie liebt Sie. Sie hat es mir gesagt.«
Millie? Konnte das Carusos Frau sein? Seine Tochter? Toby wollte etwas sagen, aber Al Caruso unterbrach ihn.
»Sie ist ein großartiges Mädchen. Ich habe sie drei, vier Jahre ausgehalten.« Er drehte sich zu den anderen beiden Männern um. »Vier Jahre?«
Sie nickten.
Al Caruso wandte sich wieder an Toby. »Ich liebe dieses Mädchen, Toby. Ich bin sozusagen verrückt nach ihr.«
Toby spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. »Mr. Caruso, ich -«
Al Caruso sagte: »Millie und ich haben eine Vereinbarung getroffen. Ich betrüge sie nicht, außer mit meiner Frau, und sie betrügt mich nicht, außer sie erzählt es mir.« Er strahlte Toby an, und diesmal bemerkte Toby hinter dem sanften Lächeln etwas, das sein Blut zu Eis gerinnen ließ.
»Mr. Caruso – «
»Wissen Sie was, Toby? Sie sind der erste, mit dem sie mich jemals betrogen hat.« Er wandte sich an die beiden Männer am Tisch. »Sage ich die Wahrheit?«
Sie nickten.
Als Toby antwortete, zitterte seine Stimme. »Ich schwöre bei Gott, ich wusste nicht, dass Millie Ihre Freundin ist. Wenn ich es auch nur geahnt hätte, hätte ich sie nicht angerührt, ich hätte mich ihr nie genähert, Mr. Caruso -«
Sankt Nikolaus strahlte ihn an. »Al. Nennen Sie mich AI.«
»AI.« Es war wie ein Krächzen. Toby brach der Schweiß aus. »Hören Sie zu, Al«, sagte er. »Ich werde – ich werde sie nie wiedersehen. Nie. Glauben Sie mir, ich -«
Caruso starrte ihn an. »He! Ich glaube, Sie haben mir nicht zugehört.«
Toby schluckte. »Doch, doch, ich habe zugehört. Ich habe jedes Wort gehört, das Sie gesagt haben. Und Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen -«
»Ich sagte, das Kind liebt Sie. Wenn sie Sie haben will, dann soll sie Sie auch kriegen. Ich möchte, dass sie glücklich wird. Verstanden?«
»Ich -« Tobys Gedanken wirbelten durcheinander. Einen verrückten Augenblick lang hatte er tatsächlich geglaubt, dass der Mann ihm gegenüber auf Rache aus war. Stattdessen bot Al Caruso ihm seine Freundin an. Toby hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgelacht. »Mein Gott, Al«, sagte Toby. »Klar. Ich tu, was Sie wollen.«
»Was Millie will.«
»Gut. Was Millie will.«
»Ich wusste, dass Sie ein netter Mann sind«, sagte Al Caruso. Er wandte sich an die beiden Männer am Tisch. »Hab' ich nicht gesagt, dass Toby Temple ein netter Mann ist?«
Sie nickten und tranken schweigend weiter.
Al Caruso erhob sich, und die beiden Männer sprangen sofort auf und traten neben ihn. »Ich werde die Hochzeit selbst ausrichten«, sagte Al Caruso. »Wir werden den großen Bankettsaal im Morocco nehmen. Sie brauchen sich über nichts Gedanken zu machen. Ich werde mich um alles kümmern.«
Die Worte drangen zu Toby wie durch Watte, wie aus großer Entfernung. Sein Hirn registrierte zwar, was AI Caruso sagte, aber er begriff es nicht,
»Augenblick«, protestierte Toby. »Ich kann nicht -«
Caruso legte seine Hand auf Tobys Schulter. »Sie haben Glück, mein Lieber«, sagte er. »Ich meine, wenn Millie mich nicht davon überzeugt hätte, dass ihr zwei euch wirklich liebt, wenn ich den Eindruck hätte gewinnen müssen, dass Sie sie wie eine Zwei-Dollar-Nutte behandelt haben, hätte die ganze Sache ein anderes Ende nehmen können. Verstehen Sie, was ich meine?«
Toby blickte unwillkürlich zu den beiden schwarzgekleideten Männern hinüber, die zustimmend nickten.
»Ihr Engagement hier geht am Sonnabend abend zu Ende«, sagte AI Caruso. »Am Sonntag findet die Hochzeit statt.«
Tobys Kehle war wieder ganz trocken. »Ich – die Sache ist die, AI, ich fürchte, ich habe da einige Engagements. Ich -«
»Die können warten«, sagte Al Caruso mit strahlendem Engelslächeln. »Ich werde Millies Hochzeitskleid selbst aussuchen. Nacht, Toby.«
Toby stand da, blickte den drei Gestalten nach, noch lange, nachdem sie verschwunden waren.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer Millie war.
Am nächsten Morgen waren Tobys Ängste verflogen. Er hatte sich von dem unerwarteten Geschehen überrumpeln lassen. Doch die Zeiten eines Al Capone waren vorbei. Niemand konnte ihn zwingen, jemanden zu heiraten, den er nicht heiraten wollte. Al Caruso war nicht irgendein schäbiger Kerl, der Gewalt anwenden würde; er war ein respektabler Hotelbesitzer. Je mehr Toby über die Lage nachdachte, desto komischer kam sie ihm vor. Er schmückte sie im Geiste aus und hörte schon das Publikum lachen. Natürlich hatte er vor Caruso keine Angst gehabt, aber er würde die Sache so erzählen, als wäre er ängstlich gewesen. Ich trete an seinen Tisch, und da sitzt Caruso, zusammen mit diesen sechs Gorillas, verstehen Sie? Alle haben sie so große Beulen, wo sie ihre Revolver tragen. O ja, es würde eine großartige Story abgeben, er könnte eine phantastische Nummer daraus machen. Den Rest der Woche mied Toby den Swimming-pool und das Kasino und wich allen Mädchen aus. Zwar fürchtete er AI Caruso nicht, aber warum sollte er unnötige Risiken eingehen? Toby hatte ursprünglich geplant, Las Vegas am Sonntagmittag mit dem Flugzeug zu verlassen. Stattdessen bestellte er für Sonnabend abend einen Mietwagen zur Rückseite des Hotelparkplatzes. Er packte seine Koffer, ehe er zu seiner letzten Show hinunterging, damit er sofort nach seinem Auftritt losfahren konnte. Er würde eine Weile Las Vegas fernbleiben. Wenn AI Caruso es wirklich ernst meinte, konnte Clifton Lawrence die Sache in Ordnung bringen.
Tobys Schlussauftritt war sensationell. Das Publikum brachte ihm stehend Ovationen dar, die ersten dieser Art, die er je bekommen hatte. Er stand auf der Bühne und fühlte, wie eine Woge der Sympathie ihm entgegenschlug. Er trug noch eine Zugabe vor, trat dann ab und eilte nach oben. Das waren die großartigsten drei Wochen seines Lebens gewesen. In dieser kurzen Zeit war er von einem Niemand, der mit Kellnerinnen und Krüppeln schlief, zu einem Star aufgestiegen, der die Geliebte von Al Caruso aufs Kreuz gelegt hatte. Schöne Mädchen hatten ihn angefleht, mit ihm zu schlafen, das Publikum bewunderte ihn, und die großen Hotels rissen sich um ihn. Er hatte es geschafft, und er wusste, dass dies nur der Anfang war. Er zog den Zimmerschlüssel aus der Tasche. Als er öffnete, rief eine vertraute Stimme: »Hereinspaziert, mein Junge.«
Zögernd betrat Toby das Zimmer. AI Caruso und seine beiden Freunde warteten auf ihn. Ein kalter Schauder lief Toby den Rücken hinunter. Aber es gab keinen Grund zur Besorgnis. Caruso sagte strahlend: »Sie waren großartig heute abend, Toby, wirklich großartig. «
Toby fühlte sich erleichtert. »Es war ein gutes Publikum.«
Carusos braune Augen funkelten, und er sagte: »Sie haben aus ihm ein gutes Publikum gemacht, Toby. Ich sagte Ihnen ja bereits – Sie haben Talent.«
»Danke, AI.« Er wünschte, sie würden nun gehen, damit er aufbrechen konnte.
»Sie arbeiten schwer«, sagte AI Caruso. Er drehte sich zu seinen Begleitern um. »Hab' ich nicht gesagt, ich habe noch nie jemand so schwer arbeiten sehen?«
Die beiden Männer nickten.
Caruso wandte sich wieder an Toby. »Nun – Millie war ziemlich betrübt, dass Sie sie nicht angerufen haben. Ich habe ihr gesagt, es läge daran, dass Sie so schwer arbeiten müssten.«
»Das stimmt«, sagte Toby schnell. »Ich freue mich, dass Sie Verständnis dafür haben, AI.«
Al lächelte freundlich. »Klar. Aber wissen Sie, wofür ich kein Verständnis habe? Sie haben nicht mal angerufen, um zu erfahren, wann die Hochzeit stattfindet.«
»Ich wollte morgen früh anrufen.«
Al Caruso lachte und sagte tadelnd: »Aus Los Angeles?«
Toby beschlich ein leichtes Unbehagen. »Was reden Sie da, Al?«
Caruso blickte ihn vorwurfsvoll an. »Ihre Koffer stehen fertig gepackt da drin.« Er kniff Toby spielerisch in die Wange. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich jeden umbringen würde, der Millie weh tut.«
»Moment mal! Ich wollte wirklich nicht -«
»Sie sind ein guter Junge, aber Sie sind dumm, Toby. Wahrscheinlich gehört das zu Ihrer Genialität, ha?«
Toby starrte in das pausbäckige, strahlende Gesicht und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Sie müssen mir glauben«, sagte Al Caruso herzlich. »Ich bin Ihr Freund. Ich möchte sichergehen, dass Ihnen nichts Böses geschieht. Um Millies willen. Aber wenn Sie nicht auf mich hören, was kann ich da tun? Wissen Sie, wie man einen sturen Kerl dazu bringt aufzupassen?«
Toby schüttelte wie betäubt den Kopf.
»Zuerst gibt man ihm eins über die Rübe.«
Toby spürte Angst in sich aufsteigen.
»Sind Sie Links- oder Rechtshänder?« fragte Caruso. »Rechtshänder«, murmelte Toby.
Caruso nickte freundlich und drehte sich zu den beiden Männern um. »Brecht ihm den rechten Arm«, sagte er.
Einer der beiden hatte plötzlich ein Brecheisen in den Händen. Toby spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann.
»Um Gottes willen«, hörte er sich sagen. »Das können Sie doch nicht tun.«
Einer der Männer versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. In der nächsten Sekunde fühlte Toby einen unerträglichen Schmerz, als das Brecheisen seinen rechten Arm traf und seine Knochen zertrümmerte. Er stürzte zu Boden, wand sich in unerträglichen Schmerzen. Er versuchte zu schreien, hatte aber nicht genug Atem. Durch seine von Tränen verschleierten Augen erkannte er das lächelnde Gesicht von Al Caruso.
»Hören Sie mir auch zu?« fragte Caruso leise.
Toby nickte unter Qualen.
»Gut.« Er wandte sich an einen der Männer. »Mach seine Hose auf.«
Der Mann beugte sich hinunter und öffnete den Reißverschluss von Tobys Hose. Mit dem Brecheisen holte er Tobys Penis heraus.
Caruso stand einen Augenblick da und betrachtete ihn. »Sie sind ein glücklicher Mann, Toby. Sie sind verdammt gut bestückt.«
Eine derartige Angst hatte Toby noch nie ausgestanden. »O Gott… bitte… tun Sie's nicht… tun Sie mir das nicht an«, krächzte er.
»Ich könnte Ihnen nicht weh tun«, sagte Caruso. »Solange Sie gut zu Millie sind, sind Sie mein Freund. Wenn sie mir aber je erzählt, dass Sie sie auf irgendeine Weise gekränkt haben – verstehen Sie?« Er stieß Tobys gebrochenen Arm mit der Schuhspitze an, und Toby schrie laut auf. »Ich freue mich, dass wir uns verstehen«, sagte Caruso strahlend. »Die Hochzeit findet um ein Uhr statt.«
Carusos Stimme kam und ging in Wellen. Toby spürte, dass er das Bewusstsein verlor. Aber er musste durchhalten. »Ich kann nicht«, wimmerte er. »Mein Arm…«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte AI Caruso. »Ein Arzt ist schon unterwegs. Er wird Ihren Arm schienen und Ihnen eine Spritze geben. Sie werden keine Schmerzen haben. Die Jungs kommen morgen her, um Sie abzuholen. Sie werden doch bereit sein?«
Toby lag in einem bösen, schmerzhaften Traum, starrte hinauf in Sankt Nikolaus' lächelndes Gesicht und wollte nicht glauben, dass etwas Derartiges passieren konnte. Er sah, wie Carusos Fuß sich wieder auf seinen Arm zubewegte.
»B-bestimmt«, stöhnte Toby. »Ich werde bereit sein…«
Und er verlor das Bewusstsein.
Die Hochzeit fand im Ballsaal des Morocco Hotels statt. Halb Las Vegas schien sich ein Stelldichein zu geben. Man sah Entertainer, die Besitzer all der anderen Hotels und Showgirls und im Mittelpunkt von allem Al Caruso und zwei Dutzend seiner Freunde, ruhige, konservativ angezogene Männer, von denen die meisten nicht tranken. Überall standen
verschwenderische Blumenarrangements, Musiker liefen herum, und ein riesiges Büffet und zwei Brunnen, aus denen Champagner floß, waren aufgestellt. Al Caruso hatte an alles gedacht.
Jeder hatte Mitgefühl mit dem Bräutigam, der den Arm in einer Schlinge trug, weil er ihn sich bei einem Sturz auf der Treppe gebrochen hatte. Und alle waren der Meinung, nie zuvor ein so schönes Paar gesehen zu haben. Es war eine wundervolle Hochzeit.
Toby war von den Beruhigungsmitteln, die der Arzt ihm gegeben hatte, so betäubt, dass er die Zeremonie nahezu blind über sich ergehen ließ. Als aber die Wirkung der Drogen nachließ und die Schmerzen ihn wieder packten, kehrten Hass und Zorn zurück. Am liebsten hätte er die unglaubliche Demütigung, die er erleiden musste, jedem der Anwesenden ins Gesicht geschrieen.
Toby blickte zu seiner jungen Frau auf der anderen Seite des Raumes hinüber. Jetzt erinnerte er sich an Millie. Sie war ein hübsches Mädchen Anfang der Zwanzig, hatte honigblondes Haar und eine gute Figur. Toby erinnerte sich, dass sie lauter als die anderen über seine Witze gelacht hatte und ihm überallhin gefolgt war. An etwas anderes erinnerte er sich ebenfalls. Sie war eine der wenigen, die sich geweigert hatten, mit ihm ins Bett zu gehen, und das hatte sie für ihn nur noch begehrenswerter gemacht. Jetzt erinnerte er sich an alles.
»Ich bin verrückt nach dir«, hatte er gesagt. »Magst du mich nicht?« »Natürlich mag ich dich«, hatte sie erwidert. »Aber ich habe einen Freund.« Warum hatte er nicht auf sie gehört! Stattdessen hatte er sie beschwatzt, auf einen Drink zu ihm heraufzukommen, und hatte dann angefangen, ihr komische Geschichten zu erzählen. Millie lachte derart, dass sie kaum merkte, was Toby tat, bis er sie ausgezogen und im Bett hatte.
»Bitte, Toby«, hatte sie ihn angefleht. »Bitte nicht. Mein Freund wird wütend sein.«
»Vergiss ihn. Ich werde mich später um den Burschen kümmern«, hatte Toby gesagt. »Jetzt werde ich mich um dich kümmern.«
Als Toby am nächsten Morgen aufwachte, lag Millie weinend neben ihm. Toby hatte sie in die Arme genommen und gefragt: »He, Baby, was ist los? Hat es dir nicht gefallen?«
»Natürlich. Aber -«
»Komm schon, lass das«, hatte Toby gesagt. »Ich liebe dich.«
Sie hatte sich auf die Ellbogen gestützt, ihm in die Augen geblickt und gesagt: »Wirklich, Toby? Ich meine, wirklich?«
»Verdammt noch mal, ja.« Er wusste, was sie brauchte, und es erwies sich als eine wahre Ermunterung.
Sie hatte ihn beobachtet, wie er vom Duschen zurückkehrte, sein noch nasses Haar mit dem Handtuch abtrocknete und einen seiner Schlager summte. Sie hatte glücklich gelächelt und gesagt: »Ich glaube, ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, Toby.«
»Das ist ja wunderbar. Wollen wir uns das Frühstück bestellen?«
Und das war alles gewesen… Bis jetzt. Weil er mit einem dummen Weibsstück eine einzige Nacht verbracht hatte, war sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt.
Jetzt stand Toby da und sah Millie in ihrem langen, weißen Hochzeitskleid auf sich zukommen und ihn anlächeln, und er verfluchte sich, und er verfluchte seinen Schwanz, und er verfluchte den Tag, an dem er geboren war.
Der Mann auf dem Vordersitz der Limousine kicherte und sagte bewundernd: »Das muss ich Ihnen lassen, Boss. Der arme Kerl hat überhaupt nicht kapiert, was wirklich los ist.«
Caruso lächelte nachsichtig. Es hatte gut geklappt. Seit seine Frau, die der reinste Drachen war, von seinem Verhältnis mit Millie Wind bekommen hatte, war es Caruso klar, dass er Mittel und Wege finden musste, um das blonde Showgirl loszuwerden.
»Erinnere mich daran, dass ich dafür sorge, dass er Millie gut behandelt«, sagte Caruso leise.
Toby und Millie zogen in ein kleines Haus in Benedict Canyon. Anfangs grübelte Toby stundenlang darüber nach, wie er aus dieser Ehe wieder herauskommen könnte: Er wühle Millie so schlecht behandeln, dass sie die Scheidung einreichte. Oder er würde sie mit einem anderen »erwischen« und dann auf einer Scheidung bestehen. Oder er würde sie verlassen und so Caruso herausfordern, irgendetwas zu tun. Aber er änderte seine Ansicht nach einem Gespräch mit Dick Landry.
Einige Wochen nach der Hochzeit aßen sie zusammen im Bei Air, und Landry fragte: »Wie gut kennen Sie AI Caruso eigentlich?«
Toby blickte auf. »Wieso?«
»Lassen Sie sich mit ihm auf nichts ein, Toby. Er ist ein Killer. Ich werde Ihnen etwas erzählen, und die Geschichte ist wahr. Carusos jüngerer Bruder heiratete ein neunzehnjähriges Mädchen, das gerade aus dem Kloster gekommen war. Ein Jahr später erwischte der Junge seine Frau im Bett mit einem anderen. Er erzählte es AI.«
Toby hörte gespannt zu. »Und was geschah dann?«
»Carusos Schläger schnitten dem Burschen den Schwanz ab. Sie tauchten ihn in Benzin und zündeten ihn vor seinen Augen an. Dann verschwanden sie und ließen ihn verbluten.«
Toby erinnerte sich, wie Caruso gesagt hatte: Mach seine Hose auf, erinnerte sich an die harten Hände, die sich an seinem Reißverschluss zu schaffen machten, und kalter Schweiß brach ihm aus. Ihm wurde übel. Er wusste nun, dass es keinen Ausweg für ihn gab.
Josephine fand einen Ausweg, als sie zehn war. Es gab eine Tür in eine andere Welt, wohin sie sich vor den Bestrafungen ihrer Mutter und den ständigen Drohungen vor Höllenqualen und Verdammung retten konnte, eine Welt voll Zauber und Schönheit. Sie saß stundenlang im Kino und sah sich die bezaubernden Menschen auf der Leinwand an. Sie alle wohnten in schönen Häusern und trugen entzückende Kleider, und alle waren so glücklich. Und Josephine dachte: Eines Tages werde ich nach Hollywood fahren und so leben wie sie. Sie hoffte, dass ihre Mutter sie verstehen würde.
Ihre Mutter war der Meinung, dass Filme Machwerke des Teufels seien, deshalb musste Josephine ihre Kinobesuche verheimlichen. Sie bezahlte mit dem Geld, das sie sich als Babysitter verdiente. Heute wurde eine Liebesgeschichte gezeigt, und Josephine beugte sich in freudiger Erwartung vor. Im Vorspann erschien als Produzent: »Sam Winters«.
Es gab Tage, an denen Sam Winters das Gefühl hatte, eine Irrenanstalt statt eines Filmstudios zu leiten und dass alle Insassen nur ein Ziel hatten: ihn kleinzukriegen. Heute war wieder so ein Tag. Es hatte in der Nacht zuvor erneut im Atelier gebrannt, zum viertenmal; der Geldgeber von My Man Friday war vom Star der Serie beleidigt worden und wollte die Show nicht weiterfinanzieren; Bert Firestone, der hochbegabte Nach wuchs-Regisseur des Studios, hatte plötzlich die Produktion eines FünfMillionen-Dollar-Films gestoppt, und Tessie Brand wollte aus einem Film aussteigen, dessen Dreharbeiten in wenigen Tagen beginnen sollten.
Der Brandmeister und der Studio-Aufseher waren in Sams Büro. »Welchen Schaden hat das Feuer gestern abend angerichtet?« fragte Sam.
Der Aufseher sagte: »Die Kulissen sind restlos vernichtet, Mr. Winters. Dekoration fünfzehn müssen wir völlig neu bauen. Sechzehn lässt sich reparieren, aber es wird drei Monate dauern.«
»Die Zeit haben wir nicht!« fuhr Sam ihn an. »Gehen Sie ans Telefon und mieten Sie was bei Goldwyn. Nutzen Sie dieses Wochenende, um mit dem Bau von Kulissen zu beginnen. Los, los, Bewegung!«
Er wandte sich an den Brandmeister, einen Mann namens Reilly, der Sam an den Schauspieler George Bancroft erinnerte.
»Irgendjemand scheint was gegen Sie zu haben, Mr. Winters«, sagte Reilly. »Es handelt sich in allen Fällen eindeutig um Brandstiftung. Haben Sie die >Nörgler< überprüft?«
Die >Nörgler< waren verärgerte Angestellte, die kürzlich gefeuert worden waren oder einen anderen Grund zu haben glaubten, über ihre Arbeitgeber verärgert zu sein.
»Wir haben zweimal alle Personalakten geprüft«, erwiderte Sam, »und nicht das geringste gefunden.«
»Wer immer diese Brände legt, weiß genau, was er tut. Er benutzt einen Zeitzünder, der an eine selbstgebastelte Brandbombe angeschlossen ist. Es könnte sich um einen Elektriker oder einen Mechaniker handeln.«
»Danke für den Hinweis«, sagte Sam. »Ich werde ihn weitergeben.«
»Roger Tapp aus Tahiti.«
»Stellen Sie durch«, sagte Sam. Tapp war der Produzent von My Man Friday, dessen Außenaufnahmen auf Tahiti gedreht wurden. Tony Flet-cher spielte die Hauptrolle.
»Was gibt's?« fragte Sam.
»Sie werden's nicht glauben, Sam. Philipp Heller, der Aufsichtsratsvorsitzende der Gesellschaft, die die Serie finanziert, hat uns hier mit seiner Familie besucht. Gestern nachmittag warfen sie einen Blick hinter die Kulissen, während Tony Fletcher mitten in einer Szene war. Er schrie sie an und beleidigte sie.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte, sie sollten gefälligst von seiner Insel verschwinden.«
»Ach du lieber Gott!«
»Für den hält er sich. Heller ist so außer sich, dass er die Gelder streichen will.«
»Gehen Sie zu Heller und entschuldigen Sie sich. Sofort. Sagen Sie ihm, Tony Fletcher hätte einen Nervenzusammenbruch. Schicken Sie Mrs. Heller Blumen, laden Sie sie zum Dinner ein. Mit Tony werde ich selbst ein Wörtchen reden.«
Die Unterhaltung dauerte dreißig Minuten. Sie begann damit, dass Sam sagte: »Hör zu, du dämlicher Schwanzlutscher…«, und endete mit: »Ich liebe dich auch, Baby. Ich fliege 'rüber, sobald ich mich hier freimachen kann. Und um Himmels willen, Tony, leg Mrs. Heller nicht aufs Kreuz!«
Das nächste Problem war Bert Firestone, der junge Nachwuchs-Regisseur, der die Pan-Pacific-Studios lahmlegte. Die Aufnahmen zu Fire-stones Film There's Always Tomorrow dauerten schon hundert-zehn Tage, und er kostete bereits eine Million Dollar mehr als veranschlagt. Jetzt hatte Bert Firestone die Produktion gestoppt, was bedeutete, dass außer den Stars hundertfünfzig Statisten herumsaßen und nichts taten. Bert Firestone. Ein dreißigjähriger Springinsfeld, der über die Leitung von Fernseh-Lotterien eines Chicagoer Senders zur Filmregie in Hollywood gekommen war. Firestones erste drei Filme waren ziemlich durchschnittlich gewesen, aber sein vierter war ein toller Erfolg geworden. Aufgrund dieses Kassenschlagers war er zum Favoriten aufgestiegen. Sam erinnerte sich an seine erste Begegnung mit ihm. Firestone sah wie ein fünfzehnjähriger Milchbart aus. Er war ein blasser, schüchterner Mann mit winzigen, kurzsichtigen Augen hinter einer dunklen Hornbrille. Sam hatte der Junge leid getan. Firestone kannte niemanden in Hollywood, und Sam hatte sich verpflichtet gefühlt, mit ihm essen zu gehen und dafür zu sorgen, dass er zu Parties eingeladen wurde. Als sie zum erstenmal über There's Always To-morrow gesprochen hatten, war Firestone sehr höflich und zurückhaltend gewesen. Er habe noch viel zu lernen, erklärte er und hing an jedem Wort, das Sam sagte. Sollte er bei diesem Film Regie führen dürfen, sagte er, würde er sich in jeder Hinsicht auf Mr. Winters Sachkenntnis stützen.
Das war, bevor Firestone den Vertrag unterschrieb. Nachdem er ihn unterschrieben hatte, musste man Adolf Hitler für Albert Schweitzer halten. Der kleine pausbäckige Bursche verwandelte sich über Nacht in ein Ungeheuer. Er brach jeden Kontakt ab und ignorierte Sams Besetzungsvorschläge völlig. Er bestand darauf, ein großartiges Drehbuch, dem Sam zugestimmt hatte, völlig umzuschreiben, und er änderte die meisten bereits vereinbarten Aufnahmeorte. Sam hatte ihn rausschmeißen wollen, aber das New Yorker Büro hatte ihm geraten abzuwarten. Rudolph Hergershorn, der Präsident der Gesellschaft, war von dem riesigen Reingewinn aus Firestones letztem Film geradezu hypnotisiert. So war Sam gezwungen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Firestone schien von Tag zu Tag anmaßender zu werden. Er nahm schweigend an einer Produktionssitzung teil, und wenn alle erfahrenen Abteilungsleiter gesprochen hatten, legte er los und stauchte sie zusammen. Sam knirschte mit den Zähnen, aber er konnte nichts tun. In Null Komma nichts erwarb Firestone sich den Spitznamen »Kaiser«, aber seine Mitarbeiter nannten ihn auch den »Kinderschwanz« aus Chicago. Jemand hatte von ihm gesagt: »Er ist ein Zwitter. Wahrscheinlich könnte er sich selbst ficken und ein zweiköpfiges Monstrum gebären.«
Jetzt, mitten in den Aufnahmen, hatte Firestone den Betrieb der Gesellschaft lahmgelegt.
Sam ging zu Devlin Kelly, dem Leiter der künstlerischen Abteilung, hinüber. »Erklären Sie es mir schnell«, sagte Sam.
»Klar, >Kinderschwanz< hat angeordnet -«
»Lassen Sie das. Er heißt Firestone.«
»Verzeihung. Mr. Firestone bat mich, eine Schloss-Kulisse für ihn zu bauen. Er hat die Skizze selbst entworfen. Sie haben sie genehmigt.«
»Sie war gut. Was ist passiert?«
»Nun, wir haben genau das gebaut, was der kleine Scheißkerl wollte, doch als er es sich gestern ansah, gefiel es ihm plötzlich nicht mehr. Eine halbe Million Piepen im Eimer.«
»Ich werde mit ihm reden«, sagte Sam.
Bert Firestone spielte hinter dem Atelier dreiundzwanzig mit dem Filmteam Basketball. Sie hatten ein Spielfeld hergerichtet, hatten Begrenzungslinien gezogen und zwei Körbe aufgestellt.
Sam stand da und schaute einen Augenblick zu. Das Spiel kostete das Studio zweitausend Dollar die Stunde. »Bert!«
Firestone drehte sich um, sah Sam, lächelte und winkte. Der Ball wurde ihm zugespielt, Bert dribbelte, täuschte und verfehlte den Korb. Dann schlenderte er zu Sam hinüber. »Wie steht's?« Als ob nichts geschehen wäre.
Als Sam das jungenhafte, lächelnde Gesicht betrachtete, kam ihm der Gedanke, dass Bert Firestone ein Psychopath war. Talentiert, vielleicht sogar genial, aber ein Geisteskranker. Und fünf Millionen Dollar der Gesellschaft waren in seinen Händen.
»Wie ich höre, gibt es Schwierigkeiten wegen der neuen Kulisse«, sagte Sam. »Regeln wir die Sache.«
Bert Firestone lächelte lässig und erwiderte: »Da gibt's nichts zu regeln, Sam. Die Kulisse passt nicht.«
Sam ging in die Luft. »Was zum Donnerwetter reden Sie da? Wir haben Ihnen genau das hingestellt, was Sie verlangt haben. Sie haben es selbst entworfen. Was also stimmt daran nicht?«
Firestone sah ihn an und blinzelte. »Wieso denn, alles ist in schönster Ordnung. Ich habe nur meine Meinung geändert. Ich möchte kein Schloss mehr. Es ist nicht der richtige Schauplatz. Verstehen Sie, was ich meine? Es ist Ellens und Mikes Abschiedsszene. Ellen soll Mike an Deck seines Schiffes besuchen, kurz bevor es ausläuft.«
Sam starrte ihn an. »Wir haben keine Schiffskulisse, Bert.«
Bert Firestone reckte die Arme, lächelte lässig und sagte: »Bauen Sie mir eine, Sam.«
»Klar, ich bin auch wütend«, sagte Rudolph Hergershorn am Telefon, »aber Sie können ihn nicht ersetzen, Sam. Wir stecken schon zu tief in der Sache drin. Wir haben keine Stars in diesem Film. Unser Star heißt Bert Firestone.«
»Wissen Sie, wie weit er das Budget überzogen hat?«
»Sicher. Und wie Goldwyn sagte: >Ich werde diesen Schweinehund nie wieder engagieren, außer ich brauche ihn.< Wir brauchen ihn, um diesen Film zu beenden.«
»Es ist ein Fehler«, wandte Sam ein. »Man sollte ihm derartige Schweinereien nicht durchgehen lassen.«
»Sam – gefällt Ihnen das, was Firestone bis jetzt abgedreht hat?«
Sam musste ehrlich sein. »Großartig.«
»Bauen Sie ihm sein Schiff.«
Die Kulisse war in zehn Tagen fertig, und Bert Firestone nahm mit seinem Team die Dreharbeiten zu There's Always Tomorrow wieder auf. Der Film wurde zum größten Erfolg des Jahres.
Das nächste Problem war Tessie Brand.
Tessie war die geilste Sängerin im Showgeschäft. Die Nachricht, dass es Sam Winters gelungen war, sie für drei Filme bei den Pan-Pacific-Studios zu verpflichten, hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Während die anderen Studios mit Tessies Agenten verhandelten, war Sam heimlich nach New York geflogen, hatte sich Tessies Show angesehen und sie hinterher zum Essen eingeladen. Es hatte bis sieben Uhr morgens gedauert.
Tessie Brand war eines der hässlichsten Mädchen, die Sam je gesehen hatte, und wahrscheinlich das Begabteste. Es war das Talent, das sich durchsetzte. Als Tochter eines Schneiders in Brooklyn geboren, hatte Tessie nie in ihrem Leben «ine Gesangstunde gehabt. Aber wenn sie auf die Bühne trat und mit einer Stimme loslegte, die die Dachbalken erschütterte, spielte das Publikum verrückt. Tessie hatte als zweite Besetzung in einem Broadway-Musical mitgewirkt, das nur sechs Wochen gelaufen war. Am letzten Abend hatte eine der Hauptdarstellerinnen den Fehler begangen, sich krank zu melden und zu Hause zu bleiben. Tessie Brand gab an jenem Abend ihr Debüt, sang aus vollem Herzen zu den paar Leuten im Publikum, zu denen zufällig auch Paul Varrick, ein Broadway-Regisseur, gehörte. Er stellte Tessie in seinem nächsten Musical als Star heraus. Sie machte aus der mäßigen Show einen Kassenschlager. Die Kritiker überboten sich in dem Versuch, die unglaubliche, häßliche Tessie und ihre sagenhafte Stimme in Superlativen zu beschreiben. Sie nahm ihre erste Platte auf. Über Nacht wurde sie zur Nummer eins. Sie machte eine Plattenserie, und innerhalb eines Monats wurden zwei Millionen Stück verkauft. Sie war wie König Midas, denn alles, was sie berührte, wurde zu Gold. Broadway-Regisseure und Plattenfirmen machten ein Vermögen mit Tessie Brand, und auch Hollywood wollte ins Geschäft einsteigen. Die Begeisterung legte sich, sobald sie einen Blick auf Tessies Gesicht geworfen hatten, aber ihr Kassenerfolg gab ihr eine unwiderstehliche Schönheit.
Nachdem Sam fünf Minuten mit ihr zusammen war, wusste er, wie er sie zu nehmen hatte.
»Was mich nervös macht«, gestand sie Sam am ersten Abend ihrer Bekanntschaft, »ist, wie ich auf dieser großen Leinwand aussehen werde. Ich bin schon in Wirklichkeit hässlich genug, stimmt's? Alle Studios sagen mir, dass sie mich auf schön hintrimmen können, aber ich glaube, das ist ganz großer Mist.«
»Das ist es auch«, sagte Sam. Tessie blickte ihn überrascht an. »Lassen Sie nicht zu, dass man Sie verändert, Tessie. Es wäre Ihr Ruin.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sich selbst müssen Sie verkaufen – Tessie Brand, nicht eine Kunstpuppe da oben.«
»Sie sind der erste, der mich versteht«, sagte Tessie. »Sie sind ein Mensch. Sind Sie verheiratet?«
»Nein«, sagte Sam.
»Treiben Sie sich rum?«
Sam lachte. »Mit Sängerinnen nie – ich bin unmusikalisch.«
»Das ist auch nicht nötig.« Tessie lächelte. »Sie gefallen mir.«
»Gefalle ich Ihnen gut genug, um einige Filme mit mir zu machen?« Sie sah ihn an und antwortete: »Klar.«
»Wundervoll. Ich werde den Vertrag mit Ihrem Agenten ausarbeiten.«
Sie streichelte Sams Hand und sagte: »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht rumtreiben?«
Tessie Brands ersten beiden Filme übertrafen alles bisher Dagewesene. Sie wurde für den ersten von einer Akademie ausgezeichnet und erhielt einen Oscar für den zweiten. Das Publikum in der ganzen Welt stand Schlange vor den Kinos, um Tessie zu sehen und diese unglaubliche Stimme zu hören. Sie war ein Allround-Talent. Sie war komisch, konnte singen und spielen. Ihre Hässlichkeit erwies sich als ein großer Vorteil, weil das Publikum sich mit ihr identifizierte. Tessie Brand wurde ein Erfolgssymbol für alle Reizlosen, Ungeliebten, Unerwünschten.
Tessie heiratete den Hauptdarsteller ihres ersten Films, ließ sich nach den Wiederholungsaufnahmen von ihm scheiden und heiratete den Hauptdarsteller ihres nächsten Films. Sam hatte gerüchtweise gehört, dass auch diese Ehe in die Brüche ging, aber Hollywood war eine Brutstätte für Klatsch. Er schenkte dem keine Aufmerksamkeit, denn er war der Meinung, dass es ihn nichts anging.
Es stellte sich heraus, dass er sich irrte.
Sam telefonierte mit Barry Herman, Tessies Agent. »Was ist los, Barry?«
»Es geht um Tessies neuen Film. Sie ist nicht glücklich damit, Sam.«
Sam geriet in Wut. »Moment mal! Tessie war mit dem Produzenten, dem Regisseur und dem Drehbuch einverstanden. Wir haben die Kulissen bauen lassen und sind startbereit. Es gibt keine Möglichkeit für sie, noch auszusteigen. Ich werde -«
»Sie möchte gar nicht aussteigen.«
Sam war verblüfft. »Was zum Donnerwetter will sie also?«
»Sie will einen neuen Regisseur für den Film.«
Sam brüllte ins Telefon: »Was will sie?«
»Ralph Dastin versteht sie nicht.«
»Dastin ist einer der besten Regisseure in der Branche. Sie kann von Glück sagen, dass sie ihn hat.«
»Ganz Ihrer Meinung, Sam. Aber die chemische Zusammensetzung stimmt nicht. Sie macht den Film nicht, es sei denn, er steigt aus.«
»Sie hat einen Vertrag, Barry.«
»Das weiß ich, mein Lieber. Und glauben Sie mir, Tessie beabsichtigt durchaus, ihn einzuhalten. Solange sie physisch dazu in der Lage ist. Nur – sie wird nervös, wenn sie unglücklich ist, und kann sich dann nicht mehr an ihren Text erinnern.«
»Ich rufe Sie wieder an«, sagte Sam wütend. Er knallte den Hörer hin.
Dieses gottverdammte Luder! Es gab überhaupt keinen Grund, Dastin rauszuwerfen. Wahrscheinlich hatte er sich geweigert, mit ihr zu schlafen, oder etwas ähnlich Lächerliches. Er sagte zu Lucille: »Bitten Sie Ralph Dastin zu mir zu kommen.»:
Ralph Dastin war ein liebenswürdiger Mann in den Fünfzigern. Er hatte als Schriftsteller angefangen und war schließlich Regisseur geworden. Seine Filme hatten Geschmack und Charme.
»Ralph«, begann Sam. »Ich weiß nicht, wie ich -«
Dastin hob die Hand. »Sie brauchen nichts zu sagen, Sam. Ich war sowieso auf dem Weg hierher, um Ihnen mitzuteilen, dass ich kündige.«
»Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Sam.
Dastin zuckte die Schultern. »Unseren Star juckt's. Sie will jemand anders, der sie kratzt.«
»Soll das heißen, dass sie schon einen Ersatz für Sie gefunden hat?«
»Himmel, leben Sie auf dem Mond? Lesen Sie nicht die Klatschspalten?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Wie heißt er?«
»Es ist kein er.«
Sam setzte sich langsam. »Was?«
»Es ist die Kostümbildnerin in Tessies Film. Ihr Name ist Barbara Carter.«
»Sind Sie sicher?« fragte Sam.
»Sie sind der einzige in der ganzen westlichen Hemisphäre, der das nicht weiß.«
Sam schüttelte den Kopf. »Ich habe immer geglaubt, Tessie sei normal.«
»Sam, das Leben ist eine Cafeteria. Tessie ist ein hungriges Mädchen.«
»Nun, ich denke nicht daran, einer gottverdammten Bühnenbildnerin die Leitung eines Vier-Millionen-Dollar-Films anzuvertrauen.«
Dastin grinste. »Da haben Sie aber was Falsches gesagt.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Das heißt, zu Tessies neuer Masche gehört auch die Ansicht, dass Frauen in diesem Geschäft keine faire Chance hätten. Ihr kleiner Star ist sehr feministisch geworden.«
»Ich werde es nicht tun«, sagte Sam.
»Tun Sie, was Sie wollen. Aber ich gebe Ihnen gratis und franko einen Rat: Es ist der einzige Weg, diesen Film jemals zu Ende zu führen.«
Sam telefonierte mit Barry Herman. »Sagen Sie Tessie, dass Ralph Dastin seine Mitarbeit gekündigt hat«, sagte Sam.
»Sie wird erfreut sein, das zu hören.«
Sam knirschte mit den Zähnen und fragte dann: »Hat sie vielleicht schon einen Vorschlag, wer die Regie übernehmen könnte?«
»Ja, den hat sie«, sagte Herman ruhig. »Tessie hat ein sehr begabtes junges Mädchen entdeckt, das sie für geeignet hält. Unter der Führung eines Mannes, der so ausgezeichnet ist wie Sie, Sam -«
»Sparen Sie sich diesen Quatsch«, sagte Sam. »Ist das ihr letztes Wort?«
»Ich fürchte ja, Sam. Tut mir leid.«
Barbara Carter hatte ein hübsches Gesicht, eine gute Figur und war, soweit Sam es beurteilen konnte, vollkommen feminin. Er beobachtete sie, wie sie auf der Ledercouch in seinem Büro Platz nahm und ihre langen, gut geformten Beine übereinanderschlug. Als sie sprach, klang ihre Stimme etwas rauh, aber das rührte vielleicht daher, dass Sam nach irgendeinem Anzeichen suchte. Sie sah ihn prüfend aus sanften grauen Augen an und sagte: »Ich scheine in einer furchtbaren Klemme zu stecken, Mr. Winters. Ich hatte nicht die Absicht, jemanden zu verdrängen. Und doch« – sie hob hilflos die Hände – »sagt Miss Brand, dass sie den Film einfach nicht machen will, wenn ich nicht Regie führe. Was soll ich tun?«
Einen Augenblick war Sam versucht, es ihr zu sagen. Statt dessen fragte er: »Haben Sie Erfahrungen in der Filmbranche – außer, dass Sie Kostümbildnerin sind?«
»Ich war Platzanweiserin, und ich habe eine Menge Filme gesehen.«
Entsetzlich! »Was veranlasst Miss Brand zu der Annahme, dass Sie Regie führen können?«
Als hätte Sam Schleusentore geöffnet, brach es aus Barbara hervor: »Tessie und ich haben viel über diesen Film geredet.« Nicht mehr »Miss Brand«, bemerkte Sam. »Ich bin der Meinung, dass eine Menge an dem Drehbuch falsch ist, und sie stimmte mir zu.«
»Glauben Sie, dass Sie besser wissen, wie man ein Drehbuch schreibt, als ein preisgekrönter Schriftsteller, der ein halbes Dutzend erfolgreiche Filme und Broadway-Stücke geschrieben hat?«
»Durchaus nicht, Mr. Winters! Ich meine nur, dass ich mehr von Frauen verstehe.«
Die grauen Augen blickten jetzt härter, die Stimme klang etwas schärfer. »Finden Sie es nicht lächerlich, dass immer nur Männer Frauenrollen schreiben? Nur wir wissen genau, was wir empfinden. Sehen Sie das nicht ein?«
Sam hatte das Spiel satt. Er wusste, dass er sie verpflichten würde, und er hasste sich dafür, aber schließlich leitete er ein Studio, und es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Filme gemacht wurden. Wenn Tessie Brand wollte, dass ihr Schoßkind bei diesem Film Regie führte, würde Sam sonstwas tun. Ein Tessie-Brand-Film konnte leicht zwanzig bis dreißig Millionen Dollar einspielen. Außerdem konnte Barbara Carter kaum noch großen Schaden anrichten. Jetzt nicht mehr. Die Dreharbeiten standen zu dicht bevor, als dass noch größere Änderungen gemacht werden konnten.
»Sie haben mich überzeugt«, sagte Sam spöttisch. »Sie haben den Job. Ich gratuliere.«
Am nächsten Morgen verkündeten der Hollywood Reporter und Variety auf den ersten Seiten, dass Barbara Carter die Regie des neuen Tessie-Brand-Films übernommen habe. Als Sam die Zeitungen in seinen Papierkorb werfen wollte, fiel ihm eine kleine Nachricht unten auf der Seite ins Auge:
»TOBY TEMPLE FÜR DAS TAHOE HOTEL VERPFLICHTET.«
Toby Temple. Sam erinnerte sich an den eifrigen jungen Komiker in Uniform, und die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Sam nahm sich vor, sich Temple anzuschauen, sollte er je in dieser Stadt spielen.
Er fragte sich, weshalb Temple sich nie mit ihm in Verbindung gesetzt hatte.
Seltsamerweise war es Millie, die für Toby Temples Aufstieg zum Star verantwortlich war. Vor ihrer Heirat war er nur ein rühriger, tüchtiger Komiker, einer von Dutzenden gewesen. Seit der Heirat war etwas Neues hinzugekommen: Hass. Toby war zur Ehe mit einem Mädchen gezwungen worden, das er verachtete, und ihn beherrschte kalte Wut.
Obgleich Toby es nicht merkte, war Millie eine wunderbare, hingebungsvolle Ehefrau. Sie betete ihn an und tat alles, was sie konnte, um ihm zu gefallen. Sie tapezierte und richtete das Haus in Benedict Canyon ein und machte ein wahres Schmuckstück daraus. Aber je mehr Millie versuchte, Toby zu gefallen, desto mehr hasste er sie. Er war stets äußerst höflich zu ihr, achtete darauf, dass er nichts tat oder sagte, was sie dazu veranlassen konnte, sich bei AI Caruso zu beschweren. So lange er lebte, würde Toby den entsetzlichen Schmerz in seinem Arm nicht vergessen und nicht den Anblick von Al Caruso, als er sagte: »Wenn Sie Millie jemals kränken…«
Weil Toby sich nicht an seiner Frau rächen konnte, richtete er seine Wut gegen sein Publikum. Jeder, der mit Geschirr klapperte oder aufstand, um zur Toilette zu gehen, oder zu reden wagte, während Toby auf der Bühne stand, war sofort einer wilden Schimpfkanonade ausgesetzt. Toby machte das mit einem so unschuldigen, naiven Charme, dass das Publikum entzückt war, und wenn Toby ein hilfloses Opfer fertigmachte, lachten die Leute, bis ihnen die Tränen kamen. Sein unschuldiges, argloses Gesicht und seine bösartige, komische Zunge - diese Mischung machte ihn unwiderstehlich. Er konnte die abscheulichsten Dinge sagen und ungestraft davonkommen. Es galt als Auszeichnung, für eine Schimpfkanonade von Toby Temple ausgewählt zu werden. Es kam seinen Opfern nie in den Sinn, dass Toby jedes Wort ernst meinte. War
Toby vorher nur einer von zahlreichen jungen, vielversprechenden Komikern gewesen, wurde er jetzt zum Gesprächsthema im Showgeschäft.
Als Clifton Lawrence aus Europa zurückkehrte, war er verblüfft zu hören, dass Toby ein Showgirl geheiratet hatte. Es schien nicht zu ihm zu passen, aber als er Toby danach fragte, blickte der ihn an und sagte: »Was gibt's da zu erzählen, Cliff? Ich lernte Millie kennen, verliebte mich in sie, und schon war's geschehen.«
Es hatte nicht echt geklungen. Und noch etwas anderes gab dem Agenten ein Rätsel auf. Eines Tages sagte Clifton zu Toby: »Sie werden tatsächlich ein Star. Ich habe Sie für vier Wochen ans Thunderbird verpflichten können. Zweitausend die Woche.«
»Was ist mit der Tournee?«
»Vergessen Sie das. Las Vegas zahlt zehnmal soviel, und jeder wird Ihre Nummer sehen.«
»Streichen Sie Vegas. Besorgen Sie mir die Tournee.«
Clifton sah ihn überrascht an. »Aber Las Vegas ist -«
»Besorgen Sie mir die Tournee.« In Tobys Stimme war ein Ton, den Clifton Lawrence noch nie gehört hatte. Es war nicht Arroganz oder Leidenschaftlichkeit, es war mehr als das, eine heftige, im Zaum gehaltene Wut.
Eine Wut, die in krassem Gegensatz zu seinem Gesicht stand, das heiterer und knabenhafter war denn je.
Von nun an war Toby ständig unterwegs. Es war seine einzige Möglichkeit, dem Gefängnis zu entfliehen. Er spielte in Nachtclubs und Theatern und in Vortragssälen, und wenn diese Engagements beendet waren, bekniete er Clifton Lawrence, ihn an Universitäten zu vermitteln. Egal wohin – nur fort von Millie.
Er erhielt unzählige Angebote von attraktiven Frauen. Es war in jeder Stadt das gleiche. Sie warteten in Tobys Garderobe vor und nach der Show und lauerten ihm in der Hotelhalle auf.
Toby ging mit keiner ins Bett. Er dachte an den abgehackten und verbrannten Penis und an Al Caruso, der zu Toby gesagt hatte: »Sie sind verdammt gut bestückt… Ich könnte Ihnen nicht weh tun. Sie sind mein Freund. Solange Sie gut zu Millie sind…«
Und Toby wies alle Frauen ab.
»Ich liebe meine Frau«, sagte er schüchtern. Und sie glaubten ihm und bewunderten ihn umso mehr, und das Gerücht verbreitete sich, so wie Toby es sich wünschte, Toby Temple trieb sich nicht herum, er war ein treuer Ehemann.
Aber die reizenden Mädchen liefen ihm trotzdem nach, und je mehr er sich Weigerte, um so mehr wollten sie ihn haben. Und Toby sehnte sich so sehr nach einer Frau, dass er unter ständigen physischen Schmerzen litt. Seine Lenden taten ihm so weh, dass es ihm schwerfiel zu arbeiten. Er fing wieder an zu onanieren. Und jedesmal dachte er dabei an all die schönen Mädchen, die darauf warteten, mit ihm ins Bett zu gehen, und er fluchte und haderte mit seinem Schicksal.
Weil Toby Sex nicht haben konnte, dachte er an nichts anderes. Wann immer er nach einer Tournee heimkehrte, wartete Millie auf ihn, sehnsüchtig, liebevoll und bereit. Und sowie Toby sie sah, erlosch sein Verlangen. Sie war die Feindin, und Toby verachtete sie für das, was sie ihm antat. Er zwang sich, mit ihr ins Bett zu gehen, aber tatsächlich befriedigte er AI Caruso. Immer wenn Toby Millie nahm, geschah es mit einer wilden Brutalität, die ihr schmerzvolles Keuchen entlockte. Er bildete sich ein, es seien Freudentränen, und er stieß immer stärker in sie hinein, bis er schließlich in einer Explosion der Wut seinen gehässigen Samen in sie ergoß. Er gab nicht Liebe.
Er gab Hass.
Im Juni 1950 überschritten die Nordkoreaner den 39. Breitengrad und griffen die Südkoreaner an, und Präsident Truman befahl den U.S.Truppen einzugreifen. Ganz gleich, was die übrige Welt dachte, für Toby war der Koreakrieg das Beste, was ihm passieren konnte.
Anfang Dezember war in der Daily Variety zu lesen, dass Bob Hope sich anschickte, eine Weihnachts-Tournee zur Unterhaltung der Truppen in Seoul zu unternehmen. Dreißig Sekunden, nachdem er das gelesen hatte, rief Toby Clifton Lawrence an.
»Sie müssen mich da reinbringen, Cliff«
»Wozu? Sie sind beinahe dreißig Jahre alt. Glauben Sie mir, mein Junge, diese Tourneen sind kein Vergnügen. Ich -«
»Es kümmert mich einen Dreck, ob sie ein Vergnügen sind oder nicht!« schrie Toby ins Telefon. »Unsere Soldaten sind da draußen und setzen ihr Leben aufs Spiel. Ich könnte ihnen wenigstens ein paar Lacher entlocken.«
Das war eine Seite von Toby Temple, die Clifton noch nicht kannte. Er war angetan und freute sich darüber.
»Okay. Wenn Ihnen so viel daran liegt, werde ich sehen, was ich tun kann«, versprach Clifton.
Eine Stunde später rief er Toby wieder an. »Ich habe mit Bob Hope gesprochen. Er wäre glücklich, Sie dabeizuhaben. Wenn Sie aber Ihre Meinung ändern sollten -«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Toby und legte auf.
Clifton Lawrence saß lange da und dachte über Toby nach. Er war sehr stolz auf ihn. Toby war ein wunderbarer Mensch, und Clifton Lawrence war hoch erfreut, derjenige zu sein, der Toby bei seiner Karriere behilflich sein konnte.
Toby spielte in Taegu und Pusan und Chonju und fand Trost in dem Gelächter der Soldaten. Millie verschwand fast völlig aus seinen Gedanken.
Dann war Weihnachten vorüber. Statt nach Hause zurückzukehren, ging Toby nach Guam. Die Jungs mochten ihn. Er ging nach Tokio und unterhielt die Verwundeten im Armee-Lazarett. Aber schließlich war es Zeit heimzufahren.
Im April, als Toby von einer zehnwöchigen Tournee durch den Mittleren Westen zurückkam, erwartete Millie ihn auf dem Flugplatz. Ihre ersten Worte waren: »Liebling – ich bekomme ein Kind!«
Er starrte sie wie betäubt an. Sie verwechselte seine Miene mit dem Ausdruck von Glück.
»Ist es nicht wundervoll?« rief sie aus. »Wenn du jetzt fort bist, habe ich das Kind, das mir Gesellschaft leisten kann. Hoffentlich ist es ein Junge, dann könntest du ihn zu Baseball-Spielen mitnehmen und…«
Toby hörte sich den Rest der affektierten Dummheiten gar nicht erst an. Es war, als würden ihre Worte aus weiter Ferne zu ihm dringen. Insgeheim hatte Toby gehofft, dass es eines Tages irgendeine Fluchtchance für ihn gäbe. Sie waren zwei Jahre verheiratet, und es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Und jetzt das! Millie würde ihn nie freigeben.
Nie.
Das Kind sollte um Weihnachten herum geboren werden. Toby hatte Vorbereitungen getroffen, mit einer Unterhaltungstruppe nach Guam zu fliegen, hatte aber keine Ahnung, ob AI Caruso damit einverstanden sein würde, dass er unterwegs wäre, wenn Millie das Kind bekam. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Toby rief in Las Vegas an.
Er erkannte Carusos fröhliche Stimme sofort. »Hallo, mein Junge!
Schön, Sie wieder mal zu hören.«
»Gleichfalls, AI.«
»Wie ich höre, werden Sie Vater. Sie müssen schrecklich aufgeregt sein.«
»Aufgeregt ist gar kein Ausdruck«, sagte Toby wahrheitsgemäß. Er gab seiner Stimme einen besorgten Klang. »Genau deshalb rufe ich Sie auch an, AI. Das Kind wird um Weihnachten herum geboren werden und -« Er musste sehr vorsichtig sein. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Einerseits möchte ich hier bei Millie sein, wenn das Kind geboren wird, andererseits hat man mich gebeten, wieder nach Korea und Guam zu gehen und die Truppen zu betreuen.«
Es entstand eine lange Pause. »Das ist tatsächlich ein Problem.«
»Ich möchte unsere Jungs nicht enttäuschen, aber genausowenig möchte ich Millie enttäuschen.«
»Nun ja.« Wieder eine Pause. Dann: »Ich werde Ihnen sagen, was ich denke, mein Junge. Wir sind alle gute Amerikaner, stimmt's? Diese Jungs da draußen kämpfen für uns, stimmt's?«
Toby fühlte, wie sich sein Körper entspannte. »Klar. Aber ich würde ungern -«
»Millie wird's schon schaffen«, sagte Caruso. »Die Frauen haben seit Ewigkeiten Kinder bekommen. Sie fliegen nach Korea.«
Sechs Wochen später, am Heiligen Abend, als Toby unter donnerndem Applaus die Bühne der Garnison in Pusan verließ, wurde ihm ein Telegramm ausgehändigt, in dem es hieß, dass Millie bei der Geburt eines totgeborenen Sohnes gestorben war. Toby war frei.
Der 14. August 1952 war Josephine Czinskis dreizehnter Geburtstag. Sie war von Mary Lou Kenyon, die am selben Tag geboren war, zu einer Party eingeladen. Josephines Mutter hatte ihr verboten hinzugehen. »Das sind schlechte Menschen«, hatte Mrs. Czinski sie gewarnt. »Du tätest besser daran, zu Hause zu bleiben und die Bibel zu lesen.« Aber Josephine hatte keineswegs die Absicht, zu Hause zu bleiben. Ihre Freundinnen waren nicht schlecht. Sie wünschte, sie könnte das ihrer Mutter begreiflich machen. Sobald ihre Mutter aus dem Haus war, nahm Josephine fünf Dollar, die sie sich als Babysitter verdient hatte, und ging in die Stadt, wo sie sich einen entzückenden weißen Badeanzug kaufte. Dann fuhr sie zu Mary Lou. Sie hatte das Gefühl, dass es ein wundervoller Tag werden würde.
Mary Lou Kenyon wohnte in dem schönsten aller Häuser der Öl-Leute. Ihr Heim war voller Antiquitäten, kostbarer Wandteppiche und schöner Gemälde. Auf dem Grundstück gab es Wohnpavillons für Gäste, Ställe, eine Tennisanlage, einen privaten Flugzeuglandeplatz und zwei Swim-ming-pools, einen riesigen für die Kenyons und ihre Gäste und hinten einen kleineren für das Personal.
Mary Lou hatte einen älteren Bruder namens David, von dem Josephine von Zeit zu Zeit einen Blick erhaschte. Er war der bestaussehende Junge, dem sie je begegnet war. Er schien etwa zwei Meter groß zu sein, mit breiten Schultern und spöttischen grauen Augen. Er gehörte zum All-America-Team und hatte ein Rhodes-Stipendium. Mary hatte außerdem eine ältere Schwester gehabt, Beth, die gestorben war, als Josephine noch ein kleines Mädchen war.
Jetzt, auf der Party, hielt Josephine hoffnungsvoll Ausschau nach David, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Früher war es vorgekommen, dass er stehengeblieben war und sie angesprochen hatte, aber jedesmal war Josephine rot geworden und stumm geblieben.
Die Party war ein großer Erfolg. Es waren vierzehn Jungen und Mädchen da. Es gab ein Picknick mit Rindfleisch, Hähnchen, Chilli,
Kartoffelsalat und Limonade, das auf der Terrasse von livrierten Butlern und Dienstmädchen hergerichtet wurde. Dann packten Mary Lou und Josephine ihre Geschenke aus, während alle anderen dabeistanden und sie begutachteten.
Mary Lou schlug vor: »Gehen wir schwimmen.«
Alle stürzten sich in die Umkleidekabinen zu beiden Seiten des Schwimmbeckens. Als Josephine ihren neuen Badeanzug anzog, meinte sie, noch nie so glücklich gewesen zu sein. Es war in jeder Hinsicht ein vollkommener Tag, den sie mit ihren Freundinnen verbrachte. Sie gehörte zu ihnen, hatte teil an der Schönheit, die sie überall umgab. Daran war nichts Schlechtes. Sie wünschte, sie könnte die Zeit anhalten, damit dieser Tag nie zu Ende ginge.
Josephine trat ins helle Sonnenlicht hinaus. Als sie auf das Schwimmbecken zuging, merkte sie, dass die anderen sie beobachteten, die Mädchen mit offenkundigem Neid, die Jungen mit abschätzenden, verstohlenen Blicken. In den letzten Monaten hatte sich Josephines Körper in aufregender Weise entwickelt. Ihre Brüste waren fest und prall geworden und spannten gegen ihren Badeanzug, und ihre sanft geschwungenen Hüften verrieten bereits die üppigen Kurven einer Frau. Josephine sprang zu den anderen ins Schwimmbecken. »Spielen wir Marco Polo!« rief jemand.
Josephine liebte dieses Spiel. Sie watete gern mit fest geschlossenen Augen im warmen Wasser herum und rief: »Marco!«, und die anderen mussten antworten: »Polo!« Josephine tauchte nach dem Geräusch ihrer Stimmen, bis sie jemanden zu fassen bekam, und dann war derjenige »dran«.
Sie fingen mit dem Spiel an. Cissy Topping war »dran«. Sie versuchte, den Jungen zu erwischen, den sie mochte, Bob Jackson, konnte ihn aber nicht kriegen, worauf sie sich an Josephine hängte. Josephine schloss fest die Augen und horchte auf das verräterische Geräusch von Spritzern.
»Marco!« rief sie.
Ein Chor antwortete: »Polo!« Josephine stürzte sich auf die nächste Stimme. Sie tastete im Wasser herum. Niemand.
»Marco!« rief sie.
Wieder: »Polo!«im Chor. Sie tappte blind umher, doch ohne Erfolg. Für Josephine spielte es keine Rolle, dass die anderen schneller waren als sie selbst; sie wollte, dass dieses Spiel immer weiterginge, dass es, wie dieser Tag, bis in alle Ewigkeit dauern sollte.
Sie blieb still stehen, bemühte sich, einen Spritzer, ein Kichern, ein
Flüstern zu hören. Sie watete im Schwimmbecken herum, mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen, und erreichte die Leiter. Sie kletterte eine Sprosse hinauf, um ohne ihre eigene Wellenbewegung besser hören zu können.
»Marco!« rief sie.
Doch es folgte keine Antwort. Sie stand still da.
»Marco!«
Schweigen. Es war, als wäre sie ganz allein in einer warmen, nassen, verlassenen Welt. Sie spielten ihr einen Streich. Sie hatten ausgemacht, dass niemand ihr antworten sollte. Josephine lächelte und öffnete die Augen.
Sie stand allein auf der Leiter zum Schwimmbecken. Irgendetwas zwang sie, an sich hinunterzusehen. Der untere Teil ihres weißen Badeanzuges hatte rote Flecken, und ein dünnes Rinnsal von Blut rann zwischen ihren Schenkeln hinab. Die Kinder standen alle am Rand des Schwimmbeckens und starrten sie an. Josephine blickte verzweifelt zu ihnen auf. »Ich -« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schnell tauchte sie wieder ins Wasser zurück, um ihre Schande zu verbergen. »Wir tun so etwas nicht im Swimming-pool«, sagte Mary Lou.
»Polaken tun's«, sagte eine andere Stimme kichernd.
»He, gehen wir duschen.«
»Klar. Ich komme mir klebrig vor.«
»Wer will schon in so was schwimmen?«
Josephine schloss wieder die Augen und hörte, dass sie zu den Kabinen gingen und sie allein ließen. Sie blieb zurück, hielt die Augen fest geschlossen und presste die Beine zusammen, um das anstößige Rinnsal aufzuhalten. Sie hatte noch nie ihre Periode gehabt. Es kam vollkommen unerwartet. Im nächsten Augenblick würden alle zurückkommen und ihr sagen, dass sie sie nur gehänselt hätten, dass sie nach wie vor ihre Freunde wären, dass das Glück nie aufhören würde. Sie würden wiederkommen und erklären, es sei nur ein Spiel gewesen. Vielleicht waren sie schon wieder zurück, bereit weiterzuspielen. Mit fest geschlossenen Augen flüsterte sie: »Marco«, und das Echo erstarb in der Nachmittagsluft. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie mit geschlossenen Augen im Wasser stand.
Wir tun so etwas nicht im Swimming-pool.
Polaken tun's.
Sie bekam heftige Kopfschmerzen. Ihr wurde übel, und ihr Magen krampfte sich plötzlich zusammen. Aber Josephine wusste, dass sie dort mit fest geschlossenen Augen stehen bleiben musste. Bis sie alle wiederkamen und ihr sagten, es sei nur Spaß gewesen.
Sie hörte Schritte und ein Geräusch über sich, und jetzt wusste sie, dass alles in Ordnung war. Sie waren zurückgekommen. Sie schlug die Augen auf und blickte nach oben.
David, Mary Lous älterer Bruder, stand neben dem Bassin, einen Bademantel in den Händen.
»Ich entschuldige mich für alle«, sagte er mit beherrschter Stimme. Er hielt ihr den Bademantel hin. »Hier, komm heraus und zieh das an.«
Aber Josephine schloss die Augen und blieb wie erstarrt stehen. Sie wollte so schnell wie möglich sterben.
Es war einer von Sam Winters' guten Tagen. Der Andrang zu dem Tessie-Brand-Film war gewaltig. Zum Teil lag das natürlich daran, dass Tessie sich selbst übertroffen hatte, um ihre Forderung zu rechtfertigen. Aber was immer der Grund sein mochte, Barbara Carter war zur brillantesten Nachwuchs-Regisseurin des Jahres aufgestiegen. Für Kostümbildnerinnen würde es ein phantastisches Jahr werden.
Die von Pan-Pacific produzierten Fernsehsendungen waren gut angekommen, und My Man Friday war der durchschlagendste Erfolg. Die Fernsehgesellschaft verhandelte mit Sam über einen neuen Fünfjahresvertrag für die Serie.
Sam wollte gerade zum Essen gehen, als Lucille hereinstürzte: »Eben ist jemand erwischt worden, der Feuer in der Requisiten-Abteilung gelegt hat. Sie bringen ihn her.«
Der Mann saß Sam schweigend in einem Sessel gegenüber. Zwei Atelier-Wächter standen hinter ihm. Seine Augen funkelten vor Bosheit. Sam hatte den Schock noch nicht überwunden. »Warum?« fragte er. »Um Himmels willen – warum?«
»Weil ich Ihre gottverfluchte Wohltätigkeit nicht mehr ertragen konnte«, sagte Dallas Burke. »Ich hasse Sie und dieses Studio und das ganze beschissene Geschäft. Ich habe dieses Geschäft aufgebaut, Sie Mistkerl. Ich habe die Hälfte der Ateliers in dieser dreckigen Stadt bezahlt. Alle sind durch mich reich geworden. Warum haben Sie mir keinen Regieauftrag gegeben, statt mich abzuspeisen, indem Sie mir angeblich einen Haufen gottverdammt gestohlener Märchen abkauften? Sie hätten mir das Telefonbuch abgekauft, Sam. Ich wollte keine Gefälligkeiten von Ihnen – ich wollte einen Job. Sie sind schuld, dass ich einmal als Versager sterbe, Sie Scheißkerl, und das kann ich Ihnen nie verzeihen!«
Lange nachdem man Dallas Burke fortgebracht hatte, saß Sam da und dachte über ihn nach, erinnerte sich an all das, was Dallas geleistet hatte, an die wunderbaren Filme, die er gemacht hatte. In jeder anderen Branche wäre er ein Held gewesen, wäre Aufsichtsratsvorsitzender geworden oder hätte sich mit einer hübschen, fetten Pension und mit Ruhm bedeckt zur Ruhe gesetzt. Aber dies war eben die wundervolle Welt des Showgeschäfts.
Anfang der fünfziger Jahre hatte Toby Temple mehr und mehr Erfolg. Er trat in Night-Clubs auf – dem Chez Paree in Chicago, dem Latin Casino in Philadelphia, dem Copacabana in New York. Er gab Wohltätigkeitsveranstaltungen, gastierte in Kinderkrankenhäusern und Wohlfahrtseinrichtungen – er war bereit, für jeden an jedem Ort und zu jeder
Zeit aufzutreten. Das Publikum war sein Herzblut. Er brauchte seinen Applaus und seine Liebe. Er war voll und ganz dem Showgeschäft ergeben. Bedeutende Dinge ereigneten sich in der ganzen Welt, aber für Toby waren sie lediglich Mahlgut für seine Nummer.
Als im Jahre 1951 General MacArthur entlassen wurde und den Ausspruch tat: »Alte Soldaten sterben nicht – sie schwinden dahin«, sagte Toby: »Himmel – wir müssen dieselbe Wäscherei haben.«
Als im Jahre 1952 die Wasserstoffbombe getestet wurde, war Tobys Kommentar: »Das ist gar nichts. Sie hätten meine Premiere in Atlanta erleben sollen.«
Als Nixon seine »Checkers«-Rede hielt, meinte Toby: »Ich würde ihn sofort wählen. Nicht Nixon – Checkers.«
Ike war Präsident, und Stalin starb, und Jung-Amerika trug Davy-Crockett-Mützen, und es gab einen Bus-Boykott in Montgomery.
Und alles wurde in Tobys Nummer verarbeitet.
Wenn er seine scharfen Witze mit der großäugigen Miene verblüffter Unschuld zum Besten gab, brüllten die Zuhörer und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Sein Publikum liebte ihn, und er lebte von dieser Liebe, weidete sich daran und stieg auf der Erfolgsleiter immer höher.
Aber eine tiefe, ziellose Rastlosigkeit beherrschte ihn. Er suchte immer etwas anderes, etwas Neues. Er konnte sich nie richtig amüsieren, weil er stets fürchtete, er könnte irgendwo eine bessere Party versäumen oder vor einem besseren Publikum auftreten oder ein hübscheres Mädchen küssen. Er wechselte die Mädchen so häufig wie seine Hemden. Nach seiner Erfahrung mit Millie fürchtete er den
Gedanken, an irgendjemanden gekettet zu werden. Er erinnerte sich an die Zeit, als er auf »Klo-Tour« gewesen war und die Stars mit den prächtigen Limousinen und den schönen Frauen beneidet hatte. Jetzt hatte er es geschafft, und er war ebenso einsam, wie er damals gewesen war. Wer hatte doch gesagt: »Wenn du dorthin kommst, gibt es kein Dort…«
Es war ihm bestimmt, Nummer eins zu werden, und er wusste, dass er es schaffen würde. Nur eines bedauerte er: dass seine Mutter es nicht mehr miterlebte, wie sich ihre Voraussage bestätigte.
Die einzige Erinnerung an sie war sein Vater.
Das Altersheim in Detroit befand sich in einem hässlichen Backsteinbau aus dem vergangenen Jahrhundert. Seine Mauern bargen den süßlichen Gestank nach Alter und Tod. Toby Temples Vater hatte einen Schlaganfall erlitten und vegetierte nur noch dahin, ein Mann mit teilnahmslosen, apathischen Augen, und Toby stand in der schmutzig-grün ausgelegten Halle des Heimes, das jetzt seinen Vater beherbergte. Die Schwestern und Insassen drängten sich bewundernd um ihn.
»Ich sah Sie letzte Woche in der Harold-Hobson-Show, Toby. Sie waren einfach wunderbar! Wie kommen Sie nur auf all die klugen Sachen, die Sie sagen?«
»Meine Texter kommen darauf«, sagte Toby, und sie lachten über seine Bescheidenheit.
Ein Pfleger kam den Gang herunter und schob einen Rollstuhl vor sich her: Tobys Vater. Er war frisch rasiert und hatte das Haar ordentlich gekämmt. Er hatte sich zu Ehren des Besuches seines Sohnes einen Anzug anziehen lassen.
»Hallo, das ist ja Beau Brummel!« rief Toby, und jeder sah bewundernd Tobys Vater an und wünschte sich, auch einen so wundervollen, berühmten Sohn wie Toby zu haben, der ihn besuchen käme.
Toby trat zu seinem Vater, beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn. »Wem willst du etwas vormachen?« fragte Toby. Er zeigte auf den Pfleger. »Du solltest ihn herumschieben, Pop.«
Alle lachten, behielten die geistreiche Bemerkung im Gedächtnis, um ihren* Freunden berichten zu können, was sie von Toby Temple gehört hatten. Neulich war ich mit Toby Temple zusammen, und er sagte… Ich stand so dicht neben ihm wie jetzt neben dir, und ich hörte ihn…
Er stand herum und unterhielt sie, zog sie auf, und sie waren geradezu verrückt danach. Er hänselte sie mit ihrem Liebesleben und ihrer Gesundheit und ihren Kindern, und eine kleine Weile konnten sie über ihre eigenen Probleme lachen. Schließlich sagte Toby kläglich: »Ich verlasse Sie ungern, Sie sind das bestaussehende Publikum, das ich seit Jahren gehabt habe« – sie würden sich auch daran bestimmt erinnern -, »aber ich muss auch ein wenig mit Pop allein sein. Er hat versprochen, mir ein paar neue Witze zu liefern.«
Sie schmunzelten und lachten und bewunderten ihn.
Toby war allein mit seinem Vater in dem kleinen Besuchszimmer. Selbst dieser Raum roch nach Tod. Doch andererseits: Dazu war dieses Heim da, nicht wahr? dachte Toby. Tod? Es war voll von verbrauchten Müttern und Vätern, die im Weg waren. Sie waren aus kleinen Schlafkammern herausgeholt worden, aus den Esszimmern und Wohnzimmern, wo sie nach und nach zu einer Last geworden waren, wenn man Gäste hatte. Sie waren von ihren Kindern, von Nichten und Neffen in dieses Altenheim gebracht worden. Glaube mir, es ist zu deinem Besten, Vater, Mutter, Onkel George, Tante Bess. Du wirst mit einer Menge sehr netter Leute deines Alters zusammen sein. Du wirst die ganze Zeit Gesellschaft haben. Verstehst du, was ich meine? Was sie wirklich meinten, war: Ich schicke dich dahin, damit du wie all diese anderen nutzlosen Leute stirbst. Ich habe es satt, dich am Tisch dummes Zeug reden und dieselben Geschichten x-mal wiederholen zu hören und die Kinder plagen zu lassen. Ich habe es satt, dass du ins Bett machst. Die Eskimos waren in dieser Hinsicht viel ehrlicher. Die schickten ihre Alten in die eisige Polarnacht hinaus und überließen sie dort ihrem Schicksal.
»Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist«, sagte Tobys Vater. Er sprach stockend. »Ich wollte mit dir reden. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Der alte Art Riley von nebenan ist gestern gestorben.«
Toby starrte ihn an. »Das nennst du eine gute Nachricht?«
»Es bedeutet, dass ich sein Zimmer bekommen kann«, erklärte sein Vater. »Es ist ein Einzelzimmer.«
Und darum drehte es sich im Alter: Überleben, sich an die paar leiblichen Genüsse klammern, die noch übriggeblieben waren. Toby hatte hier Leute gesehen, für die der Tod eine Erlösung gewesen wäre. Aber sie klammerten sich ans Leben. Alles Gute zum Geburtstag, Mr. Dorset. Was empfinden Sie, da Sie heute fünfundneunzig Jahre alt geworden sind?… Wenn ich an die andere Möglichkeit denke, fühle ich mich großartig.
Schließlich war es Zeit für Toby zu gehen.
»Ich besuche dich wieder, sobald ich kann«, versprach Toby. Er gab seinem Vater etwas Bargeld und verteilte großzügig Trinkgelder an die Schwestern und Pfleger. »Sie kümmern sich gut um ihn, ja? Ich brauche den alten Herrn für meine Nummer.«
Und fort war er. In dem Augenblick, als er durch die Tür trat, hatte er sie alle vergessen. Er dachte an seinen Auftritt an diesem Abend.
Wochenlang sprachen sie im Heim über nichts anderes als über seinen Besuch.
Mit siebzehn war Josephine Czinski das schönste Mädchen in Odessa. Sie hatte einen goldbraunen Teint, ihr langes schwarzes Haar zeigte im Sonnenlicht einen Anflug von Kastanienbraun, und ihre tiefbraunen Augen waren mit Goldtupfen gesprenkelt. Sie hatte eine phantastische Figur mit einem vollen, runden Busen, einer schlanken Taille, sanft geschwellten Hüften und langen, wohlgeformten Beinen.
Josephine verkehrte nicht mehr mit den Öl-Leuten. Sie ging jetzt mit den anderen aus. Nach der Schule arbeitete sie als Kellnerin im Golden Derrick, einem beliebten Drive-in-Restaurant. Mary Lou und Cissy Top-ping kamen mit ihren Freunden dorthin. Josephine begrüßte sie immer höflich, aber es war eben doch alles anders als früher.
Josephine war erfüllt von einer Rastlosigkeit, einer Sehnsucht nach etwas, das sie noch nicht kennengelernt hatte. Es war namenlos, aber es existierte. Sie wollte weg aus dieser hässlichen Stadt, wusste aber nicht, wohin sie gehen oder was sie tun wollte. Wenn sie zu lange darüber nachdachte, bekam sie Kopfschmerzen.
Sie ging mit einem Dutzend Jungen und Männern aus. Ihrer Mutter gefiel Warren Hoffmann am besten.
»Warren wäre der richtige Mann für dich. Er geht regelmäßig in die Kirche, hat als Klempner ein gutes Einkommen und ist verrückt nach dir.«
»Er ist fünfundzwanzig und zu dick.«
Ihre Mutter sah Josephine prüfend an. »Arme Polakenmädchen finden keine Ritter in schimmernder Rüstung. Nicht in Texas und nirgendwo sonst. Mach dir bloß nichts vor.«
Josephine pflegte Warren Hoffmann zu erlauben, sie einmal in der Woche ins Kino auszuführen. Er hielt ihre Hand in seinen großen schwitzenden, schwieligen Händen und drückte sie während des ganzen Films. Josephine merkte es kaum. Sie war zu sehr in die Handlung des Films versunken. Was sich da oben abspielte, war eine Auferstehung der Welt schöner Menschen und Dinge, mit denen sie aufgewachsen war, nur war diese Welt noch größer und noch erregender. Josephine empfand dunkel, dass Hollywood ihr alles bieten konnte, was sie wünschte: Lebensfreude, Lachen und Glück. Sie wusste, dass es, abgesehen von einer Heirat mit einem reichen Mann, für sie keine Möglichkeit gab, je ein solches Leben zu führen. Und die reichen Jungs waren alle an die reichen Mädchen vergeben.
Nur einer nicht.
David Kenyon. Josephine dachte oft an ihn. Vor langer Zeit hatte sie ein Foto von ihm aus Mary Lous Haus gestohlen. Sie hielt es in ihrem Schrank verborgen und holte es nur heraus, um es anzuschauen, wenn sie unglücklich war. Es brachte die Erinnerung an David zurück, wie er am Rand des Schwimmbeckens neben ihr stand und sagte: Ich entschuldige mich für alle, und das Gefühl der Kränkung war allmählich geschwunden und durch seine sanfte Herzlichkeit verdrängt worden. Sie hatte David noch einmal nach diesem furchtbaren Tag am Schwimmbecken gesehen, als er ihr den Bademantel gebracht hatte. Er hatte mit seiner Familie in einem Wagen gesessen, und Josephine erfuhr später, dass er zum Bahnhof gefahren worden war. Er war nach Oxford, England, unterwegs. Das war vor vier Jahren gewesen, 1952. David war zwar in den Sommerferien und zu Weihnachten nach Hause gekommen, aber ihre Wege hatten sich nie gekreuzt. Josephine hatte die anderen Mädchen oft über ihn sprechen hören. Außer dem Besitz, den David von seinem Vater geerbt hatte, war ihm von seiner Großmutter ein Vermögen in Höhe von fünf Millionen Dollar hinterlassen worden. Er war eine wirklich gute Partie. Aber nicht für die Tochter einer polnischen Näherin.
Dass David Kenyon aus Europa zurückgekehrt war, wusste Josephine nicht. Es war ein später Sonnabendabend im Juli, und Josephine war bei ihrer Arbeit im Golden Derrick. Ihr schien es, als wäre die halbe Bevölkerung von Odessa ins Drive-in-Restaurant gekommen, um mit Gallonen von Limonade, Eis und Sodawasser gegen die Hitzewelle anzukämpfen. Der Andrang war so groß gewesen, dass Josephine noch keine Möglichkeit gefunden hatte, eine Pause zu machen. Ein Kranz von Autos zog sich ohne Ende über die neon-beleuchtete Auffahrt, wie metallene Tiere, die an einer surrealistischen Wasserstelle Schlange standen. Josephine bediente einen Wagen mit der ihrer Meinung nach millionsten Bestellung von Cheeseburgers und Cokes, hielt die Speisekarte bereit und ging hinüber zu einem weißen Sportwagen, der gerade vorgefahren war.
»Guten Abend«, sagte Josephine freundlich. »Wünschen Sie die Speisekarte?«
»Hallo, Fremde.«
Beim Klang von David Kenyons Stimme begann Josephines Herz heftig zu schlagen. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, nur dass sie ihn noch anziehender fand. Er zeigte Reife und Sicherheit, die er bei seinem Auslandsaufenthalt erworben hatte. Neben ihm saß Cissy Topping, kühl und schön in einem teuren Seidenkomplet.
Cissy sagte: »Hallo, Josie. An einem heißen Abend solltest du aber nicht arbeiten, Schätzchen.«
Als ob Josephine es sich aussuchen könnte, ob sie hierher kommen oder in ein Theater mit Klimaanlage gehen oder mit David Kenyon in einem Sportwagen herumfahren wollte.
Josephine antwortete gelassen: »Es hält mich von der Straße fern« und sah, dass David Kenyon sie anlächelte. Sie wusste, dass er sie verstand.
Noch lange nachdem sie fortgefahren waren, dachte Josephine über David nach. Sie wiederholte sich jedes seiner Worte – Hallo, Fremde… Ich nehme Schweinebraten und ein Bier – nein, lieber Kaffee. Kalte Getränke sind schlecht an einem heißen Abend… Wie gefällt Ihnen die Arbeit hier?… Ich möchte bitte bezahlen… Behalten Sie das Klein-geld…Es war nett, Sie wiederzusehen, Josephine -, suchte nach versteckten Bedeutungen, feinen Unterschieden, die sie vielleicht überhört hatte. Natürlich hätte er nichts sagen können, da Cissy neben ihm saß, aber die Wahrheit war, dass er Josephine nichts zu sagen hatte. Sie war überrascht, dass er sich überhaupt noch an ihren Namen erinnert hatte.
Sie stand vor der Spüle in der kleinen Küche des Restaurants, in Gedanken versunken, als Paco, der junge mexikanische Koch, hinter sie trat und sagte: »Que pasa, Josita? Du hast diesen seltsamen Blick im Auge.«
Sie mochte Paco. Er war Ende Zwanzig, ein schlanker, dunkeläugiger Mann, immer bereit, zu lachen und einen Scherz zu machen, wenn die Spannung stieg und alle nervös waren.
»Wer ist es?«
Josephine lächelte: »Niemand, Paco.«
»Bueno. Weil nämlich sechs hungrige Wagen da draußen verrückt spielen. Vamos!«
Am nächsten Morgen rief er an, und Josephine wusste, wer es war, ehe sie den Hörer abhob. Sie hatte ihn die ganze Nacht nicht aus ihren Gedanken verbannen können. Es war, als ob dieser Anruf die Verlängerung ihres Traumes wäre.
Seine ersten Worte waren: »Sie sind ein Traum. Während ich weg war, sind Sie erwachsen und eine Schönheit geworden«, und sie hätte vor Glück sterben können.
Er führte sie an jenem Abend zum Essen aus. Josephine war auf ein verschwiegenes kleines Restaurant vorbereitet gewesen, in dem David nicht Gefahr lief, seine alten Freunde zu treffen. Stattdessen gingen sie in seinen Klub, wo jeder an ihrem Tisch stehenblieb, um hallo zu sagen. David schämte sich nicht nur nicht, mit Josephine gesehen zu werden, er schien sogar stolz auf sie zu sein. Und sie liebte ihn deswegen und aus hundert anderen Gründen. Sein Aussehen, seine Freundlichkeit und sein Verständnis, die reine Freude, mit ihm zusammenzusein. Sie hatte nie geahnt, dass ein so wundervoller Mensch wie David existieren konnte.
Jeden Tag, nachdem Josephine ihre Arbeit beendet hatte, waren sie zusammen. Josephine musste Männer abwehren, seit sie vierzehn war, denn sie besaß eine sexuelle Ausstrahlung, die herausfordernd wirkte. Immer betätschelten Männer sie, streckten die Hände nach ihr aus, versuchten, ihre Brüste zu drücken oder ihr unter den Rock zu greifen, weil sie meinten, sie könnten das Mädchen damit reizen und ahnten nicht, wie sehr es davon abgestoßen wurde.
David Kenyon war anders. Er legte nur seinen Arm um sie oder berührte sie gelegentlich, und Josephines ganzer Körper reagierte sofort. Bei keinem anderen Mann hatte sie jemals dieses Gefühl gehabt. An den Tagen, an denen sie David nicht sah, konnte sie an nichts anderes denken.
Sie fand sich damit ab, dass sie in ihn verliebt war. Als die Wochen vergingen und sie immer mehr Zeit miteinander verbrachten, entdeckte Josephine, dass das Wunder geschehen war: Auch David hatte sich in sie verliebt.
Er besprach seine Probleme und seine familiären Schwierigkeiten mit ihr. »Mutter will, dass ich die Unternehmensleitung übernehme«, sagte David zu ihr, »aber ich bin nicht sicher, ob ich damit den Rest meines Lebens verbringen will.«
Außer Ölquellen und Raffinerien besaßen die Kenyons eine der größten Viehfarmen im Südwesten, eine Hotelkette, einige Banken und eine große Versicherungsgesellschaft.
»Kannst du nicht einfach nein sagen, David?«
David seufzte: »Du kennst meine Mutter nicht.«
Josephine hatte Davids Mutter kennengelernt. Sie war eine winzige Frau (es schien unmöglich, dass David aus dieser zarten Gestalt hervorgegangen war), die drei Kinder geboren hatte. Während und nach jeder Schwangerschaft war sie sehr krank gewesen und hatte nach der dritten Niederkunft eine Herzattacke gehabt. Die ganzen Jahre hindurch beschrieb sie ihren Kindern wiederholt ihr Leiden, und diese wuchsen in dem Glauben auf, dass ihre Mutter bewusst ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um jedes von ihnen zur Welt zu bringen. Es gab ihr eine gewaltige Macht über die Familie, die sie schonungslos ausübte.
»Ich möchte mein eigenes Leben führen«, erklärte David Josephine, »aber ich kann nichts tun, was meine Mutter verletzt. Die Wahrheit ist – Dr. Young glaubt nicht, dass sie noch lange bei uns sein wird.«
Eines Abends erzählte Josephine David von ihren Träumen, nach Hollywood zu gehen und ein Star zu werden. Er sah sie an und sagte ruhig: »Ich werde dich nicht gehen lassen.« Sie merkte, dass ihr Herz wie wild schlug. Jedesmal wenn sie beisammen waren, wurde das Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen stärker. Josephines Herkunft bedeutete David gar nichts. Er besaß keinen Funken von Snobismus, und das machte den Vorfall, der sich eines Abends im Drive-in-Re-staurant abspielte, um so empörender.
Es war Polizeistunde, und David wartete draußen im Wagen auf sie. Josephine war mit Paco in der kleinen Küche, räumte noch rasch die letzten Tabletts weg.
»Ernste Verabredung, was?« fragte Paco.
Josephine lächelte. »Woher weißt du?«
»Weil du wie Weihnachten aussiehst. Dein hübsches Gesicht leuchtet von oben bis unten. Sag ihm von mir, er sei ein einziger glücklicher hombre!«
Josephine sagte lächelnd: »Werd' ich.« Einer plötzlichen Regung folgend, beugte sie sich vor und gab Paco einen Kuss auf die Wange. Einen Augenblick später hörte sie das Dröhnen eines Motors und dann das Kreischen von Reifen. Sie konnte gerade noch sehen, wie Davids weißes Coupe gegen den Kotflügel eines anderen Wagens krachte und davon-raste. Sie stand ungläubig da und sah die Schlusslichter in der Nacht verschwinden.
Um drei Uhr morgens, als Josephine sich ruhelos im Bett hin- und herwarf, hörte sie draußen vor ihrem Schlafzimmer einen Wagen vorfahren. Sie eilte zum Fenster und blickte hinaus. Hinter dem Steuer saß David. Er war betrunken. Schnell zog Josephine sich einen Morgenrock über und ging hinaus.
»Steig ein«, befahl David. Josephine öffnete den Wagenschlag und glitt neben ihn. Es folgte eine lange, drückende Stille. Als David endlich sprach, war seine Stimme belegt, aber nicht nur vom Whisky, den er getrunken hatte. Es war eine Wut in ihm, eine wilde Raserei, die die Worte aus ihm heraustrieb wie eine Serie kleiner Explosionen. »Du gehörst mir nicht«, sagte David. »Du bist frei und kannst tun und lassen, was dir beliebt. Aber solange du mit mir ausgehst, erwarte ich von dir, dass du nicht jeden gottverfluchten Mexikaner küsst. Verstanden?«
Sie sah ihn hilflos an und sagte dann: »Als ich Paco küsste, war es wegen – er sagte etwas, das mich glücklich machte. Er ist mein Freund.«
David holte tief Atem, versuchte, der Gefühle, die in ihm tobten, Herr zu werden. »Ich werde dir etwas erzählen, das ich noch keinem Menschen erzählt habe.«
Josephine saß abwartend da, fragte sich, was als nächstes kommen würde.
»Ich habe eine ältere Schwester«, sagte David. »Beth – ich bete sie an.«
Josephine hatte eine undeutliche Erinnerung an Beth, eine blonde, hellhäutige Schönheit, die Josephine immer aufgesucht hatte, wenn sie zu Mary Lou zum Spielen hinübergegangen war. Josephine war acht gewesen, als Beth starb. David musste ungefähr fünfzehn gewesen sein. »Ich erinnere mich an ihren Tod«, sagte Josephine.
Davids nächste Worte waren ein Schock. »Beth lebt.«
Sie starrte ihn an. »Aber ich -jeder glaubte -«
»Sie ist in einer Irrenanstalt.« Er wandte ihr das Gesicht zu, seine Stimme war wie erloschen. »Sie wurde von einem unserer mexikanischen Gärtner vergewaltigt. Beths Schlafzimmer lag in der Halle gegenüber von meinem. Ich hörte ihre Schreie und raste in ihr Zimmer. Er hatte ihr das Nachthemd heruntergerissen und lag auf ihr und -« Seine Stimme brach in der Erinnerung. »Ich rang mit ihm, bis meine Mutter hereingerannt kam und die Polizei rief. Sie kam schließlich und brachte den Mann ins Gefängnis. In derselben Nacht beging er in seiner Zelle Selbstmord. Aber Beth hatte den Verstand verloren. Sie wird nie wieder aus der Anstalt herauskommen. Nie. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich sie liebe, Josie. Sie fehlt mir so sehr. Seit dieser Nacht kann ich – ich – es nicht ertragen -«
Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte: »Es tut mir leid, David. Ich verstehe. Ich bin froh, dass du mir's erzählt hast.«
Auf eine seltsame Art hatte dieser Vorfall sie nur noch enger miteinander verbunden. Sie sprachen über Dinge, die sie noch nie erörtert hatten. David lächelte, als Josephine ihm von dem religiösen Fanatismus ihrer Mutter erzählte. »Ich hatte mal so einen Onkel«, sagte er. »Er verschwand in einem Kloster in Tibet.«
»Nächsten Monat werde ich vierundzwanzig«, sagte David eines Tages zu Josephine. »Es ist eine alte Familientradition, dass die Kenyon-Männer bis vierundzwanzig verheiratet sind«, und ihr Herz hüpfte vor Freude.
Am nächsten Abend hatte David Karten für ein Stück im Globe Theat-re. Als er Josephine abholte, sagte er: »Vergessen wir das Stück. Reden wir von unserer Zukunft.«
Sowie Josephine das hörte, wusste sie, dass alles, wofür sie gebetet hatte, sich erfüllen würde. Sie konnte es in Davids Augen lesen. Sie waren voll Liebe und Verlangen.
Sie sagte: »Fahren wir zum Dewey Lake hinaus.«
Sie wollte, dass es der romantischste Heiratsantrag würde, der je gemacht worden war, etwas, das sie ihren Kindern immer wieder erzählen könnte. Sie wollte sich an jeden Augenblick dieser Nacht erinnern.
Dewey Lake war ein kleiner See, etwa vierzig Meilen von Odessa entfernt. Die Nacht war schön und sternenübersät, mit einem sanften, zunehmenden Mond. Die Sterne tanzten auf dem Wasser, und die Luft war voller rätselhafter Geräusche einer geheimen Welt, eines Mikrokosmos des Universums, wo winzige, unsichtbare Geschöpfe sich liebten und Beute machten und selbst Beute wurden und starben.
Josephine und David saßen schweigend im Wagen und horchten auf die Geräusche der Nacht. Josephine beobachtete ihn, wie er hinter dem Steuer des Wagens saß, sein anziehendes Gesicht war gespannt und ernst. Sie hatte ihn noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick. Sie wollte etwas Wundervolles für ihn tun, ihm etwas geben, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Und plötzlich wusste sie, was sie tun würde.
»Gehen wir schwimmen, David«, sagte sie.
»Wir haben keine Badeanzüge mit.«
»Spielt keine Rolle.«
Er wandte sich ihr zu, um sie anzublicken, und wollte etwas sagen, aber Josephine war schon ausgestiegen und rannte zum Ufer des Sees hinunter. Als sie anfing, sich auszuziehen, konnte sie ihn hinter sich hören. Sie sprang ins warme Wasser. Einen Augenblick später war David neben ihr.
»Josie…«
Sie wandte sich ihm zu, ihr Körper schmerzte vor Verlangen nach ihm. Sie umarmten sich im Wasser, und sie konnte seine männliche Härte spüren, und er sagte: »Wir können nicht, Josie.« Seine Stimme war erstickt vor Verlangen nach ihr. Sie langte hinunter und sagte: »Doch. O ja, David.«
Sie waren wieder am Ufer, und er war auf ihr und in ihr und eins mit ihr, und sie waren beide ein Teil der Sterne und der Erde und der samtenen Nacht.
Sie lagen lange beieinander und hielten sich umschlungen. Viel später erst, nachdem David sie zu Hause abgesetzt hatte, erinnerte sich Josephine, dass er nicht um sie angehalten hatte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Was sie miteinander geteilt hatten, war eine stärkere Bindung als jede Heiratszeremonie. Er würde morgen um ihre Hand anhalten.
Josephine schlief am nächsten Tag bis Mittag. Sie wachte mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf. Das Lächeln war noch da, als ihre Mutter ins Schlafzimmer kam, ein entzückendes altes Hochzeitskleid über dem Arm. »Geh zu Brubaker hinüber und bring mir zwölf Meter Tüll. Mrs. Topping hat mir soeben ihr Hochzeitskleid gebracht. Ich muss es bis Sonnabend für Cissy ändern. Sie und David Kenyon heiraten.«
David Kenyon hatte seine Mutter aufgesucht, gleich nachdem er Josephine nach Hause gefahren hatte. Sie lag im Bett, eine winzige, gebrechliche Frau, die einst sehr schön gewesen war.
Davids Mutter schlug die Augen auf, als er in ihr gedämpft beleuchtetes Schlafzimmer trat. Sie lächelte, als sie sah, wer es war. »Hallo, mein Sohn, du bist noch spät auf.«
»Ich war mit Josephine aus, Mutter.«
Sie sagte nichts darauf, beobachtete ihn nur mit ihren intelligenten grauen Augen.
»Ich werde sie heiraten«, sagte David.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann nicht zulassen, dass du einen solchen Fehler machst, David.«
»Du kennst Josephine nicht gut genug. Sie ist -«
»Sicherlich ist sie ein reizendes Mädchen. Aber sie ist keine Frau für einen Kenyon. Cissy Topping würde dich glücklich machen. Und wenn du sie heiratest, würde das auch mich glücklich machen.«
Er nahm ihre gebrechliche Hand in die seine und sagte: »Ich liebe dich sehr, Mutter, aber ich bin durchaus in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.«
»Wirklich?« sagte sie leise. »Tust du immer das Richtige?«
Er starrte sie an, und sie sagte: »Kann man sich darauf verlassen, dass du immer richtig handelst, David? Dass du nicht den Kopf verlierst? Nichts Furchtbares tust -«
Er riss seine Hand weg.
»Weißt du immer, was du tust, mein Sohn?« Ihre Stimme war noch leiser.
»Mutter, um Himmels willen!«
»Du hast dieser Familie schon genug angetan, David. Bürde mir nicht noch mehr auf. Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen.«
Sein Gesicht war aschfahl. »Du weißt, dass ich nicht – ich konnte nichts dafür -«
»Du bist zu alt, um wieder fortgeschickt zu werden. Jetzt bist du ein Mann. Ich möchte, dass du auch wie ein Mann handelst.«
Seine Stimme war voll tiefer Qual. »Ich – liebe sie -«
Sie bekam einen Anfall, und David ließ den Arzt holen. Später hatten er und der Arzt eine Unterredung.
»Ich fürchte, Ihre Mutter wird nicht mehr lange leben, David.«
Und so wurde die Entscheidung für ihn getroffen.
Er besuchte Cissy Topping.
»Ich liebe eine andere«, sagte David. »Meine Mutter dachte immer, dass du und ich -«
»Das dachte ich auch, Liebling.«
»Ich weiß, es ist etwas Ungeheuerliches, worum ich dich bitten möchte, aber wärest du bereit, mich zu heiraten, bis – bis meine Mutter stirbt, und dich dann von mir scheiden zu lassen?«
Cissy sah ihn an und sagte leise: »Wenn du das willst, David.«
Es kam ihm vor, als wäre ein unerträgliches Gewicht von seinen Schultern genommen worden. »Danke, Cissy, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr -«
Sie lächelte und sagte: »Wozu sind alte Freunde da?«
Sofort nachdem David gegangen war, rief Cissy Topping Davids Mutter an. Alles, was sie sagte, war: »Es ist alles geregelt.«
Das einzige, was David Kenyon nicht vorausgesehen hatte, war, dass Josephine von der bevorstehenden Heirat hören würde, ehe er ihr alles erklären konnte. Als David zu Josephines Haus kam, wurde die Tür von Mrs. Czinski geöffnet.
»Ich möchte gerne Josephine sprechen«, sagte er.
Sie blitzte ihn mit Augen an, aus denen ein bösartiger Triumph leuchtete. »Jesus wird Seine Feinde bezwingen und niederschlagen, und die Bösen sollen für immer verflucht sein.«
David sagte geduldig: »Ich möchte mit Josephine reden.«
»Sie ist fort«, sagte Mrs. Czinski. »Sie ist fortgegangen!«
Der staubige Greyhound Bus, der von Odessa über El Paso und San Bernardino nach Los Angeles fuhr, war um sieben Uhr morgens in der Hollywood-Station in der Vine Street eingetroffen, und während der zweitägigen Reise über fünfzehnhundert Meilen war aus Josephine Czinski Jill Castle geworden. Äußerlich war sie die alte geblieben. Innerlich hatte sie sich verändert. Etwas in ihr war verschwunden. Das Lachen war erstorben!
In dem Augenblick, als sie die Nachricht gehört hatte, wusste Josephine, dass sie fliehen musste. Sie begann, achtlos ihre Kleider in einen Koffer zu werfen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie fahren oder was sie tun würde, wenn sie dort ankäme. Sie wusste nur, dass sie fort musste, auf der Stelle.
Als sie ihr Schlafzimmer verließ und die Fotos der Filmstars an der Wand sah, wusste sie plötzlich, wohin sie fahren würde. Zwei Stunden später saß sie im Bus nach Hollywood. Odessa und alle Bewohner dieser Stadt traten in den Hintergrund, verblassten immer mehr, als der Bus sie ihrer neuen Bestimmung entgegenfuhr. Sie versuchte, ihre wahnsinnigen Kopfschmerzen zu vergessen. Vielleicht hätte sie der schrecklichen Schmerzen wegen einen Arzt aufsuchen sollen. Aber jetzt war das gleichgültig. Sie waren ein Teil ihrer Vergangenheit, und sie war sicher, sie würden vergehen. Von jetzt an würde das Leben wunderbar werden. Josephine Czinski war tot. Es lebe Jill Castle.