Es gibt einen Geruch, der den Misserfolg begleitet. Es ist ein Gestank, der wie ein Krankheitserreger haftet. So wie Hunde die Angst eines Menschen wittern, spüren die Leute instinktiv, wenn ein Mann auf dem Weg nach unten ist. Ganz besonders in Hollywood.
Jeder wusste, dass Clifton Lawrence erledigt war, noch bevor er selbst es wusste. Man konnte es überall in seinem Umkreis riechen.
Clifton hatte in der Woche nach ihrer Rückkehr aus den Flitterwochen weder von Toby noch von Jill etwas gehört. Er hatte ein teures Geschenk geschickt und drei telefonische Nachrichten hinterlassen, die unbeantwortet geblieben waren. Jill. Wer weiß, was sie gesagt hatte, um Toby gegen ihn einzunehmen, doch Clifton wusste, dass er einen Waffenstillstand erwirken musste. Er und Toby bedeuteten einander zuviel, als dass jemand zwischen sie treten durfte.
Clifton fuhr eines Morgens, als er wusste, dass Toby im Studio sein würde, zu ihrem Haus hinaus. Jill sah ihn die Auffahrt heraufkommen und öffnete ihm die Tür. Sie sah verwirrend schön aus, und er sagte es ihr. Sie war liebenswürdig. Sie saßen im Garten und tranken Kaffee, und sie erzählte ihm von der Hochzeitsreise und wo sie überall gewesen waren. Sie sagte: »Es tut mir leid, dass Toby Ihre Anrufe nicht erwidert hat, Cliff. Sie glauben gar nicht, wie es hier zugeht.« Sie lächelte entschuldigend, und da wusste Clifton, dass er sich in ihr geirrt hatte. Sie war nicht sein Feind.
»Ich wünsche mir, dass wir neu beginnen und Freunde werden«, sagte er.
»Danke, Cliff. Ich auch.«
Clifton überkam ein Gefühl unendlicher Erleichterung. »Ich möchte eine Dinner-Party für Sie und Toby geben. Ich werde mir den Gesellschaftsraum vom Bistro reservieren lassen. Sonnabend in einer Woche. Smoking, und hundert Ihrer besten Freunde. Was halten Sie davon?«
»Wunderbar. Toby wird sich freuen.«
Jill wartete bis zum Nachmittag der Party, rief dann an und sagte: »Es tut mir schrecklich leid, Cliff, ich fürchte, ich kann am heutigen Abend nicht dabeisein. Ich bin ein wenig müde. Toby meint, ich sollte zu Hause bleiben und mich ausruhen.«
Clifton gelang es, seine Erregung zu beherrschen. »Das tut mir sehr leid, Jill, aber ich verstehe es natürlich. Toby wird doch kommen können, nicht wahr?«
Er hörte ihren Seufzer durch das Telefon. »Ich fürchte, nein, lieber
Freund. Er würde nie ohne mich irgendwohin gehen. Ich wünsche Ihnen eine nette Party.« Und sie legte auf.
Es war zu spät, die Party abzusagen. Die Rechnung betrug dreitausend Dollar. Aber sie kostete Clifton mehr als das. Er war von seinem Ehrengast, seiner Nummer eins und einzigem Klienten, versetzt worden, und jeder Eingeladene, die Filmbosse, die Stars, die Regisseure, alle Leute, die in Hollywood zählten, wussten das. Clifton versuchte, es mit der Entschuldigung zu vertuschen, Toby fühle sich nicht wohl. Er hätte nichts Schlimmeres sagen können. Als er am nächsten Nachmittag den Herald Examiner in die Hand nahm, stieß er auf ein Bild von Mr. und Mrs. Toby Temple, aufgenommen am Abend zuvor beim Baseball im Dodgers Stadium.
Clifton Lawrence wusste nun, dass er um seine Existenz kämpfte. Wenn Toby ihn fallenließ, würde niemand mehr zu ihm kommen. Keine der großen Agenturen würde mit ihm verhandeln, weil er keine Klienten mehr anzubieten hatte; und der Gedanke war unerträglich, alles wieder aus eigener Kraft aufbauen zu müssen. Dazu war es zu spät. Er musste einen Weg finden, Frieden mit Jill zu schließen. Er rief Jill an und sagte ihr, dass er zu ihr kommen und mit ihr sprechen wollte.
»Natürlich«, erwiderte sie. »Ich sagte gerade gestern abend noch zu Toby, dass wir Sie in der letzten Zeit viel zu selten gesehen haben.«
»Ich werde in fünfzehn Minuten da sein«, versprach Clifton. Er ging zur Hausbar hinüber und goss sich einen doppelten Scotch ein.
Das hatte er in letzter Zeit zu oft getan. Es war eine schlechte Angewohnheit, während eines Arbeitstages zu trinken, aber wem machte er etwas vor? Was für eine Arbeit? Er erhielt täglich Angebote für Toby, aber es gelang ihm nicht, den großen Mann in den Sessel zu bekommen, geschweige denn, die Angebote mit ihm zu besprechen. Früher hatten sie über alles gesprochen. Er erinnerte sich an die herrliche Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, an ihre Tourneen, die Parties und das Lachen und die Mädchen. Sie waren wie Zwillinge gewesen. Toby hatte ihn gebraucht, hatte auf ihn gezählt. Und nun… Clifton goss sich noch etwas ein und sah befriedigt, dass seine Hände nicht mehr so zitterten.
Als Clifton im Haus der Temples eintraf, saß Jill auf der Terrasse und trank Kaffee. Sie blickte auf und lächelte, als er auf sie zukam. Du bist ein Geschäftsmann, sagte Clifton zu sich selbst. Du musst sie überzeugen.
»Nett, Sie zu sehen, Cliff. Setzen Sie sich, bitte.«
»Danke, Jill.« Er nahm ihr gegenüber an dem breiten schmiedeeisernen Tisch Platz und musterte sie. Sie trug ein weißes Sommerkleid, und der Kontrast zu ihrem schwarzen Haar über der sonnengebräunten Haut war phantastisch. Sie sah jünger aus und – er konnte es nur so bezeichnen – in gewisser Weise unschuldig. Sie sah ihn mit warmen, freundlichen Augen an.
»Kann ich Ihnen irgend etwas anbieten, Cliff?«
»Nein, danke. Ich habe gerade erst gefrühstückt.«
»Toby ist nicht da.«
»Ich weiß. Ich wollte mit Ihnen allein sprechen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Meine Entschuldigung annehmen«, bat Clifton eindringlich. Nie in seinem Leben hatte er jemanden um etwas gebeten, und nun befand er sich in der Rolle eines Bittstellers. »Wir – ich bin wohl mit dem linken Fuß aufgestanden. Vielleicht war es mein Fehler. Wahrscheinlich sogar. Toby ist so lange mein Klient und Freund gewesen, dass ich – ich wollte ihn beschützen. Können Sie das verstehen?«
Jill, die braunen Augen fest auf ihn gerichtet, nickte und sagte: »Natürlich, Cliff.«
Er holte tief Luft. »Ich weiß nicht, ob er Ihnen je die Geschichte erzählt hat, aber ich war es, der Toby den Aufstieg ermöglichte. Als ich ihn zum erstenmal sah, wusste ich sofort, dass er ein großer Star werden würde.« Er sah, dass sie ihm aufmerksam zuhörte. »Ich war damals für viele bedeutende Klienten tätig, Jill. Ich ließ sie alle sausen, um mich ausschließlich Tobys Karriere zu widmen.«
»Toby hat mir erzählt, wieviel Sie für ihn getan haben«, sagte sie.
»Wirklich?« Er verachtete sich für die Begierde in seiner Stimme.
Jill lächelte. »Er erzählte mir von dem Tag, als er Ihnen vormachte, Sam Goldwyn würde Sie anrufen, und dass Sie trotzdem hingingen, um sich Toby anzusehen. Das war nett.«
Clifton beugte sich vor und sagte: »Ich möchte nicht, dass irgend etwas die Beziehung zwischen Toby und mir beeinträchtigt. Ich stecke in der Klemme und brauche Sie. Ich bitte Sie, alles zu vergessen, was zwischen uns gewesen ist. Ich bitte um Entschuldigung für mein Verhalten. Ich glaubte, Toby schützen zu müssen. Nun, ich hatte Unrecht. Ich glaube, Sie werden eine großartige Frau für ihn sein.«
»Das wünsche ich mir. Von ganzem Herzen.«
»Wenn Toby mich fallenläßt, ich – ich glaube, es würde mich umbringen. Ich spreche jetzt nicht vom Geschäft. Er und ich haben – er ist wie ein Sohn für mich. Ich liebe ihn.« Er verachtete sich dafür, aber er hörte sich wieder bitten: »Jill, um Himmels willen…« Er brach mit erstickter Stimme ab.
Sie blickte ihn lange mit ihren tiefbraunen Augen an und streckte ihm dann die Hand hin. »Ich hege keinen Groll«, sagte Jill. »Können Sie morgen abend zum Dinner kommen?«
Clifton atmete tief ein, lächelte dann glücklich und sagte: »Danke.« Seine Augen waren plötzlich feucht. »Ich – ich werde Ihnen das nie vergessen. Niemals.«
Als Clifton am nächsten Morgen sein Büro betrat, fand er einen Einschreibebrief vor, der ihn davon in Kenntnis setzte, dass seine Mitarbeit nicht mehr benötigt werde und dass er nicht mehr berechtigt sei, Toby Temple als Agent zu vertreten.
Jill Castle war das Aufregendste, was Hollywood seit der Erfindung des Kinos erlebt hatte. In einer Gesellschaft, wo jeder das Spiel von des Kaisers Kleidern spielte, benutzte Jill ihre Zunge wie eine Sense. In einer Stadt, in der die Schmeichelei Grundlage jeder Unterhaltung war, sagte Jill furchtlos ihre Meinung. Sie hatte Toby an ihrer Seite, und sie schwang seine Macht wie eine Keule, attackierte alle wichtigen Studioleiter. So etwas hatten sie noch nicht erlebt. Sie wagten nicht, Jill zu beleidigen, weil sie Toby nicht beleidigen wollten. Er war Hollywoods kreditwürdigster Star, und sie wollten ihn, sie brauchten ihn.
Toby war erfolgreicher denn je. Seine Fernsehshow hielt immer noch Platz eins bei der wöchentlichen Einschaltquote, seine Filme brachten enormes Geld, und wenn Toby in Las Vegas spielte, verdoppelten die Kasinos ihre Gewinne. Toby war die heißeste Ware im Showgeschäft. Sie wollten ihn für Gastrollen, Plattenalben, persönliche Auftritte, für Werbung, Benefizveranstaltungen, Unterhaltungsfilme – sie wollten, sie wollten, sie wollten.
Die wichtigsten Leute in der Stadt überschlugen sich, um Toby zu gefallen. Sie begriffen schnell, dass der Weg, Toby zu gefallen, über Jill führte. Sie begann, alle Verabredungen und Termine für Toby selber zu planen und sein Leben zu organisieren, so dass nur für diejenigen Raum darin war, die ihr passten. Sie hatte eine unüberwindliche Mauer um ihn errichtet, und nur die Reichen, die Berühmten und die Mächtigen durften passieren. Sie war der Gralshüter. Das kleine polnische Mädchen aus Odessa, Texas, empfing und war Gast von Gouverneuren, Botschaftern, berühmten Künstlern und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Diese Stadt hatte ihr Schreckliches angetan. Aber das würde nie mehr geschehen. Nicht, solange sie Toby hatte.
Die Menschen, die sich wirklich in Schwierigkeiten befanden, waren diejenigen, die auf Jills Abschussliste standen. Sie lag mit Toby im Bett und ließ ihre ganze Sinnlichkeit spielen.
Als Toby entspannt und verausgabt war, schmiegte sie sich in seine Arme und sagte: »Darling, habe ich dir eigentlich schon von der Zeit erzählt, als ich auf der Suche nach einem Agenten war und zu dieser Frau ging – wie hieß sie doch gleich? – o ja! Rose Dunning. Sie sagte mir, sie habe eine Rolle für mich, und sie setzte sich auf ihr Bett, um den Text mit mir zu lesen.«
Toby wandte sich um und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist passiert?«
Jill lächelte. »Dumm und unschuldig, wie ich war, fühlte ich, während ich las, ihre Hand meinen Schenkel hinaufstreichen.« Jill warf den Kopf zurück und lachte. »Ich war zu Tode erschrocken. Ich bin nie in meinem Leben so schnell gerannt.«
Zehn Tage später wurde Rose Dunnings Agenturlizenz von der Zulassungskommission der Stadt auf Dauer widerrufen.
Am folgenden Wochenende waren Toby und Jill in ihrem Haus in Palm Springs. Toby lag auf einem Massagetisch im Patio, ein türkisches Handtuch unter sich, während Jill ihm eine lange, entspannende Massage zuteil werden ließ. Toby lag auf dem Rücken, Wattebäusche schützten seine Augen gegen die starken Sonnenstrahlen. Jill massierte seine Füße mit einer halbcremigen Lotion ein.
»Du hast mir wahrhaftig die Augen über Cliff geöffnet«, sagte Toby. »Er war nichts als ein Parasit, der mich aussaugte. Wie ich höre, läuft er in der Stadt herum und versucht, einen Partnerschaftsvertrag zu kriegen. Niemand will ihn haben. Ohne mich kann er sich nicht mal verhaften lassen.«
Jill zögerte einen Augenblick und sagte: »Cliff tut mir leid.«
»Das ist die gottverdammte Schwierigkeit mit dir, Liebling. Du denkst mit dem Herzen statt mit dem Kopf. Du musst härter werden.«
Jill lächelte. »Ich kann nichts dafür. So bin ich eben.« Sie begann, an Tobys Beinen zu arbeiten, ihre Hände strichen mit leichten, seine Sinne weckenden Bewegungen langsam seine Schenkel hinauf. Er bekam eine Erektion.
»O Gott«, stöhnte er.
Ihre Hände bewegten sich höher hinauf, auf Tobys Leisten zu. Sie glitt mit den Händen zwischen seine Schenkel, unter ihn und schob einen cremigen Finger in seinen Anus. Sein Penis wurde steinhart. »Schnell, Baby«, verlangte er. »Leg dich auf mich.«
Sie waren auf See, mit der Jill, dem großen Motorsegler, den Toby ihr gekauft hatte. Tobys erste Fernsehshow der neuen Saison sollte am folgenden Tag aufgezeichnet werden.
»Das ist der schönste Urlaub, den ich in meinem ganzen Leben gehabt habe«, sagte Toby. »Ich hasse es, wieder an die Arbeit zu gehen.«
»Es ist eine wundervolle Show«, sagte Jill. »Es hat mir soviel Spaß gemacht, sie vorzubereiten. Alle waren so nett.« Sie verstummte kurz und fügte wie beiläufig hinzu: »Fast alle.«
»Was meinst du damit?« Tobys Stimme klang scharf. »Wer war nicht nett zu dir?«
»Niemand, Liebling. Ich hätte es nicht erwähnen sollen.«
Aber schließlich erlaubte sie Toby, es ihr zu entlocken, und am nächsten Tag wurde Eddie Berrigan, der Besetzungschef, gefeuert.
In den folgenden Monaten erfand Jill diese und jene Geschichte über weitere Besetzungschefs auf ihrer Liste, und einer nach dem anderen verschwand. Jeder, der sie einst ausgenutzt hatte, würde büßen müssen. Es war, dachte sie, wie beim Paarungsritus mit der Bienenkönigin. Sie hatten alle ihr Vergnügen gehabt, und jetzt mussten sie sterben.
Sie nahm Sam Winters aufs Korn, den Mann, der Toby gesagt hatte, sie habe kein Talent. Sie sagte nie ein Wort gegen ihn; im Gegenteil, sie lobte ihn Toby gegenüber. Aber sie lobte immer andere Studio-Chefs ein kleines bisschen mehr… Die anderen Gesellschaften hatten Programme, die für Toby besser geeignet waren… Regisseure, die ihn wirklich verstanden. Jill fügte hinzu, sie könne sich nicht helfen, aber sie glaube, dass Sam Winters Tobys Talent nicht wirklich schätze. In Kürze war auch Toby dieser Meinung. Nachdem Clifton Lawrence fort war, hatte Toby niemanden mehr, mit dem er sich unterhalten konnte, außer Jill. Als Toby beschloss, seine Filme bei einer anderen Gesellschaft zu drehen, glaubte er, es sei seine eigene Idee. Aber Jill sorgte dafür, dass Sam Winters die Wahrheit erfuhr. Vergeltung.
Es gab einige Leute in Tobys Umgebung, die der Meinung waren, Jills Einfluss könne nicht von Dauer sein, sie sei nur ein zeitweiliger Eindringling, eine vorübergehende Laune. Also tolerierten sie sie oder behandelten sie mit kaum verhüllter Verachtung. Das war ihr Fehler. Jill schloss einen nach dem anderen aus. Sie wollte niemanden in der
Nähe haben, der in Tobys Leben wichtig gewesen war oder der ihn gegen sie beeinflussen könnte. Sie sorgte dafür, dass Toby seinen Anwalt und seine Public-Relations-Firma wechselte, und stellte Leute nach ihrer eigenen Wahl ein. Sie wurde die drei Macs und Tobys Gefolge von Handlangern los. Sie wechselte alle Dienstboten aus. Es war jetzt ihr Haus, und sie war darin die Herrin.
Eine Party bei den Temples war zur begehrtesten Sache der Stadt geworden. Jeder, der etwas galt, war da. Schauspieler mischten sich mit Angehörigen der Oberen Zehntausend, mit Gouverneuren und Direktoren mächtiger Wirtschaftsunternehmen. Die Presse war immer vollzählig anwesend, eine Art Bonus für die glücklichen Gäste. Nicht nur, dass sie zu den Temples gingen und sich wunderbar amüsierten, es erfuhr auch jeder, dass sie bei den Temples gewesen waren und sich wunderbar amüsiert hatten.
Wenn die Temples nicht Gastgeber waren, waren sie Gäste. Es gab eine wahre Flut von Einladungen. Sie wurden zu Premieren, Wohltätigkeitsessen, politischen Veranstaltungen, Eröffnungen von Restaurants und Hotels eingeladen.
Toby hätte es genügt, allein mit Jill zu Hause zu bleiben, aber sie ging gerne aus. An manchen Abenden mussten sie auf drei oder vier Parties gehen, und sie hetzte Toby von einer zur anderen.
»Himmel, du hättest Unterhaltungschef beim Fernsehen werden sollen«, sagte Toby lachend.
»Ich tu's für dich, Liebling«, erwiderte Jill.
Toby machte einen Film für MGM und hatte einen aufreibenden Arbeitsplan. Eines Abends kam er spät und erschöpft nach Hause und fand seine Abendgarderobe für ihn herausgelegt. »Wir gehen doch nicht schon wieder aus, Baby? Wir sind nicht einen einzigen Abend in dem ganzen gottverfluchten Jahr zu Hause geblieben!«
»Es ist der Hochzeitstag der Davis. Sie wären schrecklich beleidigt, wenn wir nicht aufkreuzten.«
Toby ließ sich aufs Bett fallen. »Ich habe mich auf ein hübsches heißes Bad und einen ruhigen Abend gefreut. Nur wir beide.«
Aber Toby ging zu der Party. Und weil er immer »aufgekratzt«, immer der Mittelpunkt sein musste, schöpfte er aus seinem riesigen KraftReservoir, bis jeder lachte und applaudierte und jedem erzählte, was für ein überaus komischer Mann Toby Temple war. Spät in jener Nacht, als Toby im Bett lag, konnte er nicht schlafen; sein Körper war ausgelaugt, aber sein Geist durchlebte wieder die Triumphe des Abends, Satz für Satz, Gelächter um Gelächter. Er war ein sehr glücklicher Mann. Und alles verdankte er Jill. Wie wäre Tobys Mutter von ihr begeistert gewesen.
Im März bekamen sie eine Einladung zu den Filmfestspielen in Cannes.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Toby, als Jill ihm die Einladung zeigte. »Das einzige Cannes, zu dem ich gehe, ist mein Badezimmer. Ich bin müde, Liebling. Ich habe mir den Hintern abgearbeitet.«
Jerry Guttmann, Tobys Public-Relations-Mann, hatte Jill gesagt, es bestünde eine gute Chance, dass Tobys Film ausgezeichnet werden würde, und es wäre gut, wenn Toby anwesend wäre.
Kürzlich hatte Toby geklagt, dass er immer müde sei und doch nicht schlafen könne. Nachts nahm er Schlaftabletten, durch die er am anderen Morgen benommen war. Jill bekämpfte das Gefühl der Müdigkeit, indem sie ihm Benzedrin zum Frühstück verabreichte, so dass Toby genügend Energie hatte, um den Tag zu überstehen. Jetzt schien der Kreislauf von Aufputschmitteln und Beruhigungsmitteln seinen Tribut von ihm zu fordern.
»Ich habe die Einladung schon angenommen«, sagte Jill zu Toby, »aber ich werde sie rückgängig machen. Kein Problem, Liebling.«
»Fahren wir doch einen Monat nach Palm Springs hinunter und legen uns einfach in die Seife.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Was?«
Er saß still da. »Ich meinte Sonne. Ich weiß nicht, warum Seife herauskam.«
Sie lachte. »Weil du so komisch bist.« Jill drückte ihm die Hand. »Auf jeden Fall, Palm Springs klingt wundervoll. Ich bin zu gerne mit dir allein.«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, seufzte Toby. »Ich habe einfach nicht mehr genug Saft. Ich glaube, ich werde alt.«
»Du wirst nie alt werden. Du wirst mich noch überleben.«
Er grinste. »Ich schätze, mein Penis wird immer noch weiterleben, wenn ich schon längst gestorben bin.« Er rieb sich den Hinterkopf und sagte: »Ich glaube, ich werde ein Nickerchen machen. Um ehrlich zu sein, ich fühle mich nicht ganz auf dem Posten. Wir haben heute abend doch keine Verabredung, nicht wahr?«
»Nichts, was ich nicht verschieben könnte. Ich werde die Dienstboten wegschicken und das Dinner für dich heute abend selbst kochen. Nur für uns beide.«
»He, das wird großartig sein.«
Er sah sie hinausgehen und dachte: Mein Gott, ich bin der glücklichste Bursche, der je gelebt hat.
Sie gingen spät zu Bett in jener Nacht. Jill hatte Toby ein warmes Bad und eine auflockernde Massage gemacht, seine ermüdeten Muskeln geknetet und die Spannung von ihm genommen.
»Ah, das ist wundervoll«, murmelte er. »Wie bin ich nur ohne dich ausgekommen?«
»Kann ich mir nicht vorstellen.« Sie kuschelte sich an ihn. »Toby, erzähl mir von den Filmfestspielen in Cannes. Wie sind sie? Ich bin noch nie dagewesen.«
»Es ist nur eine Clique kleiner Betrüger, die aus aller Welt zusammenströmen, um sich gegenseitig ihre miserablen Filme aufzuschwatzen. Es ist die größte Hochstapelei in der Welt.«
»Das klingt aufregend«, sagte Jill.
»Nun ja, in gewisser Hinsicht ist es aufregend. Der Ort ist voll von Originalen.« Er musterte sie einen Augenblick. »Willst du wirklich zu diesen dämlichen Filmfestspielen?«
Sie schüttelte schnell den Kopf. »Nein, wir werden nach Palm Springs fahren.«
»Zum Teufel, wir können jederzeit nach Palm Springs fahren.«
»Wirklich, Toby, es ist nicht wichtig.«
Er lächelte. »Weißt du, warum ich so verrückt nach dir bin? Jede andere Frau in der Welt hätte mich geplagt, mit ihr zu den Festspielen zu reisen. Du brennst darauf, dorthin zu kommen, aber sagst du etwas? Nein. Du möchtest mit mir zu den Springs fahren. Hast du schon abgesagt?«
»Noch nicht, aber -«
»Tu's nicht. Wir fahren nach Indien.« Ein verdutzter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Sagte ich Indien? Ich meine – Cannes.«
Als ihre Maschine in Orly landete, wurde Toby ein Überseetelegramm ausgehändigt. Sein Vater war im Altersheim gestorben. Es war zu spät für Toby, zur Beerdigung zu fahren. Er traf Vorkehrungen, dass ein neuer Flügel dem Heim angefügt wurde, der nach seinen Eltern benannt werden sollte.
Die ganze Welt war in Cannes.
Hollywood, London und Rom, vereint zu einer prächtigen, vielsprachigen Kakophonie in Technicolor und Panavision. Aus allen Ecken der Welt scharten sich die Filmemacher an der französischen Riviera, trugen Behälter voller Träume unter den Armen, Zelluloidrollen auf englisch und französisch und japanisch und ungarisch und polnisch, die sie über Nacht reich und berühmt machen sollten. Die Croisette war vollgestopft mit Profis und Amateuren, Veteranen und Neulingen, Kommenden und Gewesenen, und alle konkurrierten um die begehrten Preise. Wenn man einen Preis bei den Filmfestspielen in Cannes errang, bedeutete das Geld auf der Bank; wenn der Gewinner noch keinen Vertrag mit einem Verleih hatte, konnte er einen bekommen, und wenn er schon einen hatte, konnte er ihn verbessern.
Jedes Hotel in Cannes war ausgebucht, und die Besucherflut hatte sich die Küste hinauf und hinunter nach Antibes, Beaulieu, Saint-Tropez und Menton ergossen. Die Bewohner der kleinen Dörfer sperrten vor Ehrfurcht Mund und Nase auf über die berühmten Leute, die ihre Straßen und Restaurants und Bars füllten. '
Die Zimmer waren schon Monate im voraus reserviert worden, aber Toby Temple hatte keine Schwierigkeiten, eine große Suite im Carlton zu bekommen. Toby und Jill wurden überall, wohin sie auch kamen, gefeiert. Die Kameras klickten unaufhörlich, und ihre Bilder erschienen in der ganzen Welt. Das Goldene Paar, König und Königin von Hollywood. Reporter interviewten Jill und fragten nach ihrer Meinung über alles, von französischen Weinen bis zu afrikanischer Politik. Josephine Czinski aus Odessa, Texas, lag in weiter Ferne.
Tobys Film gewann zwar keinen Preis, aber zwei Abende vor Beendigung der Festspiele verkündete das Preisrichterkomitee, dass Toby Temple für seinen Beitrag auf dem Gebiet der Unterhaltung mit einem Sonderpreis ausgezeichnet werden sollte.
Es war eine Veranstaltung, bei der man Smoking trug, und der große Bankettsaal im Carlton quoll über von Gästen. Jill saß auf der Estrade neben Toby. Sie bemerkte, dass er nicht aß. »Was ist los, Liebling?« fragte sie.
Toby schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich habe ich zuviel Sonne abbekommen. Ich fühle mich ein bisschen benebelt.«
»Morgen werde ich dafür sorgen, dass du dich ausruhst.« Jill hatte einen Tagesplan für Toby aufgestellt: Interviews mit Paris Match und der Londoner Times am Vormittag, Lunch mit einer Gruppe von Fernsehreportern, danach eine Cocktail-Party. Sie beschloss, die weniger wichtigen Verabredungen zu streichen.
Als das Essen beendet war, erhob sich der Bürgermeister von Cannes und stellte Toby vor: »Mesdames, messieurs et nos invites
honores, c'est un grand privilege ce jour pour moi de vous introduire un komme qni a donne bonheur etplaisirau monde entier.J'ai l'hon-neur de lui presenter cette medaille speciale, un signe de nos affecti-ons et appredations.« Er hielt eine goldene Medaille mit Band empor und verbeugte sich vor Toby. »Monsieur Toby Temple!« Ein begeisterter Applaus brach los, und das Publikum im großen Bankettsaal erhob sich zu einer Ovation. Toby blieb bewegungslos auf seinem Stuhl sitzen.
»Steh auf«, flüsterte Jill.
Langsam erhob sich Toby, blass und unsicher. Er stand einen Augenblick da, lächelte und ging dann aufs Mikrophon zu. Auf halbem Weg stolperte er und sank bewusstlos zu Boden.
Toby Temple wurde in einer Düsenmaschine der französischen Luftwaffe nach Paris geflogen und auf dem schnellsten Weg ins amerikanische Hospital gebracht, wo er auf die Intensivstation gelegt wurde. Die besten Spezialisten Frankreichs wurden gerufen, während Jill in einem Privatzimmer im Hospital saß und wartete. Sechsunddreißig Stunden aß und trank sie nichts und nahm keinen der Telefonanrufe entgegen, die aus allen Teilen der Welt im Hospital einliefen.
Sie saß da, starrte die Wände an und sah und hörte nichts vom geschäftigen Treiben ringsum. Ihre Gedanken waren nur auf das eine gerichtet: Toby musste wieder gesund werden. Toby war ihre Sonne, und wenn die Sonne erlosch, würde auch der Schatten sterben. Das konnte sie nicht zulassen.
Es war fünf Uhr morgens, als Dr. Duclos, der Chefarzt, das Privatzimmer betrat, das Jill sich genommen hatte, um Toby nahe zu sein. »Mrs. Temple – ich fürchte, es hat keinen Sinn, das Unglück zu beschönigen. Ihr Gatte hat einen schweren Schlaganfall erlitten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er nie wieder gehen oder sprechen können.«
Als man Jill endlich erlaubte, Tobys Krankenzimmer zu betreten, war sie entsetzt über sein Aussehen. Über Nacht war Toby alt geworden und geschrumpft, als wären alle seine Lebenssäfte aus ihm herausgeflossen. Seine Arme und Beine waren partiell gelähmt, und obgleich er grunzende, tierische Laute von sich geben konnte, war er unfähig zu sprechen.
Es dauerte sechs Wochen, bis die Ärzte einem Transport zustimmten. Als Toby und Jill in Kalifornien eintrafen, wurden sie auf dem Flugplatz von Presse und Fernsehen und Hunderten von besorgten Fans umdrängt. Toby Temples Erkrankung war eine Super-Sensation gewesen. Unaufhörlich riefen Freunde und Bekannte an, um sich nach Tobys Befinden und seinen Fortschritten zu erkundigen. Fernsehteams versuchten, ins Haus zu gelangen, um Aufnahmen von ihm zu machen. Es kamen Schreiben vom Präsidenten und von Senatoren und Tausende von Briefen und Postkarten von Verehrern, die Toby Temple liebten und für ihn beteten.
Aber die Einladungen hatten aufgehört. Niemand rief an, um sich nach Jills Befinden zu erkundigen oder zu fragen, ob sie zu einem gemütlichen Dinner kommen oder irgendwohin fahren oder einen Film sehen wollte. Niemand in Hollywood sorgte sich auch nur im entferntesten um Jill.
Sie hatte Tobys Hausarzt, Dr. Eli Kaplan, kommen lassen, der zwei berühmte Neurologen hinzugezogen hatte, einen vom UCLA Medical Center und den anderen vom John Hopkins. Ihre Diagnose entsprach der von Dr. Duclos in Paris.
»Es ist wichtig, stets daran zu denken«, sagte Dr. Kaplan zu Jill, »dass Tobys Verstand in keiner Weise gelitten hat. Er kann alles hören und begreifen, was Sie sagen, aber sein Sprechvermögen und seine Bewegungsfunktionen sind beeinträchtigt. Er kann nicht reagieren.«
»Wird – wird er immer so bleiben?«
Dr. Kaplan zögerte. »Es ist unmöglich, eine absolut sichere Prognose zu stellen, aber unserer Meinung nach ist sein Nervensystem zu sehr beschädigt, als dass eine Therapie eine nachhaltige Wirkung haben könnte.«
»Doch Sie wissen es nicht genau.«
»Nein…«
Aber Jill wusste es.
Zusätzlich zu den drei Schwestern, die Toby rund um die Uhr pflegten, ließ Jill jeden Morgen einen Heilgymnastiker kommen, der mit Toby arbeitete. Der Mann trug Toby in den Swimming-pool und hielt ihn in den Armen, vorsichtig die Muskeln und Sehnen streckend, während Toby im warmen Wasser schwach mit den Beinen zu stoßen und die Arme zu bewegen versuchte. Es war kein Fortschritt zu erkennen. In der vierten Woche wurde eine Sprach-Therapeutin engagiert. Sie kam jeden Nachmittag eine Stunde und versuchte, Toby wieder das Sprechen beizubringen.
Nach zwei Monaten konnte Jill keine Änderung feststellen. Nicht die geringste. Sie ließ Dr. Kaplan kommen.
»Sie müssen etwas tun, um ihm zu helfen«, verlangte sie. »Sie können ihn nicht in diesem Zustand lassen.«
Er blickte sie hilflos an. »Es tut mir leid, Jill. Ich habe versucht, Ihnen zu erklären…«
Jill saß noch lange, nachdem Dr. Kaplan gegangen war, allein in der Bibliothek. Einer ihrer heftigen Kopfschmerzanfälle setzte wieder ein, aber sie hatte keine Zeit, jetzt an sich zu denken. Sie ging zu Toby hinauf.
Er saß aufgestützt im Bett und starrte ins Leere. Als Jill auf ihn zuging, leuchteten Tobys tiefblaue Augen auf. Sie folgten Jill hell und lebendig, als sie an sein Bett trat und auf ihn hinunterblickte. Er bewegte die Lippen, und ein unverständlicher Laut kam heraus. Tränen der Enttäuschung stiegen ihm in die Augen. Jill erinnerte sich an Dr. Kaplans Worte: Es ist wichtig, stets daran zu denken, dass Tobys Verstand in keiner Weise gelitten hat.
Jill setzte sich auf die Bettkante. »Toby, ich möchte, dass du mir zuhörst. Du wirst aus diesem Bett aufstehen. Du wirst wieder gehen, und du wirst wieder sprechen.« Tränen rannen ihm über die Wangen. »Du wirst es tun«, sagte Jill. »Du wirst es für mich tun.«
Am folgenden Morgen entließ Jill die Schwestern, den Heilgymnastiker und die Sprach-Therapeutin. Sowie er die Neuigkeit hörte, suchte Dr. Kaplan Jill auf.
»In Bezug auf den Heilgymnastiker bin ich ganz Ihrer Meinung, Jill. Aber die Schwestern! Es muss ständig jemand bei Toby sein -«
»Ich werde bei ihm sein.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich da einlassen. Ein Mensch allein kann nicht -«
»Ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.«
Sie schickte ihn fort.
Die Schinderei begann.
Jill unternahm den Versuch, etwas zu tun, was die Ärzte als unmöglich bezeichnet hatten. Als sie Toby das erstemal hochhob und ihn in seinen Rollstuhl setzte, erschrak sie darüber, wie leicht er war. Sie brachte ihn im Aufzug, der inzwischen installiert worden war, hinunter und begann mit ihm im Schwimmbecken zu arbeiten, wie sie es bei dem Heilgymnastiker gesehen hatte. Aber was nun folgte, unterschied sich grundlegend von der Arbeit des Therapeuten. Wo er behutsam und zart gewesen war, ging Jill hart und unerbittlich vor. Wenn Toby zu sprechen versuchte, um ihr zu bedeuten, dass er müde sei und es nicht mehr ertragen könne, sagte Jill: »Du bist noch nicht fertig. Noch einmal. Für mich, Toby!«
Und sie zwang ihn, es noch einmal zu versuchen.
Und noch einmal, bis er vor Erschöpfung weinend dasaß. Nachmittags ging Jill daran, Toby sprechen zu lehren. »Ooh… oooooooh.«
»Ahaaah… aaaaaaaaaagh.«
»Nein! Oooooooooooh. Mit runden Lippen, Toby. Befiehl ihnen, dir zu gehorchen. Oooooooooh.«
»Aaaaaaaaagh…«
»Nein, verdammt noch mal! Du wirst wieder sprechen! Los, sag es -Oooooooh.«
Und er versuchte es von neuem.
Jill fütterte ihn jeden Abend und legte ihn ins Bett und hielt ihn in den Armen. Sie zog seine nutzlosen Hände langsam an ihrem Körper auf und ab, von ihren Brüsten hinunter zu der weichen Spalte zwischen ihren Beinen. »Fühl das, Toby«, flüsterte sie. »Das ist alles dein, Liebling. Es gehört dir. Ich will dich. Ich will, dass du gesund wirst, damit wir uns wieder lieben können. Ich will, dass du wieder mit mir schläfst, Toby.«
Er blickte sie mit seinen lebendigen, hellen Augen an und gab unzusammenhängende, wimmernde Laute von sich.
»Bald, Toby, bald.«
Jill war unermüdlich. Sie entließ das Personal, weil sie niemanden im Haus haben wollte. Danach begann sie selbst zu kochen. Sie bestellte die Lebensmittel telefonisch und verließ das Haus nie. Anfangs war sie noch damit beschäftigt gewesen, Telefonanrufe entgegenzunehmen, aber die waren bald seltener geworden und hatten dann gänzlich aufgehört. Die Nachrichtensprecher verlasen keine Bulletins mehr über Toby Temples Zustand. Die Welt wusste, dass er im Sterben lag. Es war nur eine Frage der Zeit.
Doch Jill würde Toby nicht sterben lassen. Und wenn er starb, würde sie mit ihm sterben.
Die Tage verschwammen zu einer langen, endlosen Folge von Müh und Plagerei. Jill war um sechs Uhr früh auf den Beinen. Als erstes musste sie Toby säubern. Er konnte nichts mehr halten. Obgleich er einen Katheter hatte und eine Windel trug, beschmutzte er sich nachts, und die Bettwäsche sowie Tobys Pyjamas mussten häufig gewechselt werden. Der Gestank im Schlafzimmer war fast unerträglich. Jill füllte eine Schüssel mit warmem Wasser, nahm einen Schwamm und ein weiches Tuch und säuberte Tobys Körper von Urin und Kot. Wenn er sauber war, trocknete sie ihn ab und puderte ihn, dann rasierte und kämmte sie ihn.
»So, nun siehst du großartig aus, Toby. Deine Verehrer sollten dich jetzt sehen. Ja, sie werden dich schon bald sehen. Sie werden um den Eintritt kämpfen, um dich zu sehen. Der Präsident wird dasein – alle werden dasein, um Toby Temple zu sehen.«
Dann bereitete Jill Tobys Frühstück. Sie machte Haferflockenbrei oder lockere Mehlspeisen oder Rührei; Speisen, die sie ihm in den Mund löffeln konnte. Sie fütterte ihn wie ein Baby und redete die ganze Zeit auf ihn ein und versprach ihm, dass er wieder gesund werden würde.
»Du bist Toby Temple«, intonierte sie im Sing-Sang. »Jeder liebt dich, jeder möchte dich wiederhaben. Deine Fans da draußen warten auf dich, Toby. Du musst für sie gesund werden.«
Und ein neuer, entsetzlich strapaziöser Tag begann.
Sie schob seinen nutzlosen, gelähmten Körper zum Schwimmbecken. Nach den Übungen massierte sie ihn und fuhr mit der Sprechtherapie fort. Dann war es Zeit für sie, ihm eine Mahlzeit zuzubereiten, und danach würde alles wieder von vorn beginnen. Und unaufhörlich erzählte Jill Toby, wie wunderbar er wäre, wie sehr man ihn liebte. Er war Toby Temple, und die Welt wartete auf seine Rückkehr. Abends brachte sie ihm oft eines der Alben mit seinen Presseausschnitten und hielt es hoch, damit er es sehen konnte.
»Da sind wir mit der Queen. Erinnerst du dich noch, wie sie dich an diesem Abend feierten? So wird es wieder werden. Du wirst größer denn je sein, Toby, größer denn je.«
Am Abend kroch sie erschöpft auf das Notlager, das sie sich neben seinem Bett eingerichtet hatte. Um Mitternacht wurde sie von einem widerlichen Gestank geweckt. Sie schleppte sich zu Tobys Bett, um seine Windel zu wechseln und ihn zu säubern. Und dann war es schon wieder soweit, mit den Vorbereitungen fürs Frühstück zu beginnen und einem neuen Tag ins Auge zu blicken.
Und wieder einem. In einer endlosen, eintönigen Folge.
Jeden Tag trieb Jill Toby ein bisschen härter an, ein bisschen weiter. Ihre Nerven waren so angespannt, dass sie Toby ins Gesicht schlug, wenn sie den Eindruck hatte, dass er sich keine Mühe gab. »Wir werden den Kampf gewinnen«, sagte sie leidenschaftlich. »Du wirst wieder gesund werden.«
Jill war von der aufreibenden Routine, die sie sich auferlegte, körperlich total erschöpft, aber wenn sie sich nachts hinlegte, fand sie keinen Schlaf. Zu viele Bilder tanzten durch ihren Kopf wie Szenen aus alten Filmen. Sie und Toby, umdrängt von Reportern bei den Filmfestspielen in Cannes… Der Präsident in ihrem Haus in Palm Springs, wie er Jill ein Kompliment machte. Fans, die sich bei einer Premiere um Toby und sie scharten… Das Goldene Paar… Toby, wie er hinaufschritt, um seine Medaille in Empfang zu nehmen, und zu Boden stürzte… stürzte… Schließlich versank sie in Schlaf.
Manchmal wachte sie mit einem plötzlichen heftigen Kopfschmerzanfall auf, der nicht verschwinden wollte. Sie lag in der Dunkelheit, kämpfte gegen den Schmerz an, bis die Sonne aufging, und dann war es Zeit, sich auf die Füße zu zwingen.
Und alles würde wieder von vorn beginnen. Es war, als wären sie und Toby die einzigen Überlebenden einer längst vergessenen Katastrophe. Ihre Welt war auf die Dimensionen dieses Hauses, dieser Räume, dieses Mannes zusammengeschrumpft. Von der Morgendämmerung bis nach Mitternacht trieb sie sich unbarmherzig an.
Und sie trieb Toby an, ihren in dieser Hölle gefangenen Toby, gefangen in einer Welt, in der es einzig Jill gab, der er blindlings gehorchen musste.
Aus den düster und qualvoll sich dahinschleppenden Wochen wurden Monate. Toby begann zu weinen, wenn er Jill auf sich zukommen sah, denn er wusste, dass er bestraft werden würde. Von Tag zu Tag wurde Jill unbarmherziger. Sie zwang Tobys nutzlose Glieder, sich zu bewegen, bis er unerträgliche Schmerzen litt. Mit gurgelnden Lauten versuchte er, sie zu bitten aufzuhören, aber Jill hatte nur eine Antwort: »Noch nicht. Nicht, bevor du wieder ein Mann bist, nicht, bevor wir es ihnen allen zeigen werden.« Und sie knetete seine kraftlosen Muskeln weiter. Er war ein hilfloses, erwachsenes Baby, eine Pflanze, ein Nichts. Aber wenn Jill ihn anblickte, sah sie ihn, wie er einst wieder sein würde, und sie erklärte: »Du wirst jetzt gehen!«
Dann stellte sie ihn auf die Füße und hielt ihn aufrecht, während sie ein Bein vor das andere zwang, so dass er sich wie eine betrunkene, ausgerenkte Marionette vorwärts bewegte.
Ihre Kopfschmerzen traten immer häufiger auf. Helles Licht oder ein lautes Geräusch oder eine plötzliche Bewegung konnten sie auslösen. Ich muss einen Arzt aufsuchen, dachte sie. Später, wenn es Toby wieder gutgeht. Jetzt hatte sie weder Zeit noch einen Raum für sich.
Sie war nur für Toby da.
Jill schien wie besessen. Ihre Kleider hingen lose an ihr, aber sie hatte keine Ahnung, wieviel sie abgenommen hatte oder wie sie aussah. Ihr Gesicht war mager und verzerrt, ihre Augen hohl. Ihr einst herrlich schimmerndes schwarzes Haar war stumpf und strähnig. Sie wusste es nicht, aber sie hätte sich auch nichts daraus gemacht.
Eines Tages fand Jill ein Telegramm unter der Tür, in dem sie gebeten wurde, Dr. Kaplan anzurufen. Dafür war keine Zeit. Der Arbeitsplan musste eingehalten werden.
Die Tage und Nächte wurden zu einem kafkaesken Alptraum, der daraus bestand, Toby zu baden, Übungen mit ihm zu machen, seine Windeln zu wechseln, ihn zu rasieren und zu füttern.
Und dann begann alles wieder von vorn.
Sie schaffte ein Gehgestell für Toby an, legte seine Finger um die Holme und bewegte seine Beine, hielt ihn aufrecht und versuchte, ihm die Bewegungen zu zeigen, schob ihn vor und zurück durch das Zimmer, bis sie fast im Stehen einschlief und kaum noch wusste, wo oder wer sie war oder was sie tat.
Dann kam ein Tag, an dem Jill klar wurde, dass es ein Ende haben musste.
Sie war die halbe Nacht mit Toby aufgewesen und schließlich in ihr eigenes Schlafzimmer gegangen, wo sie kurz vor Morgengrauen in einen betäubenden Schlaf gefallen war. Als sie aufwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Sie hatte bis weit nach zwölf geschlafen. Toby war weder gefüttert noch gebadet, noch gewindelt worden. Er lag hilflos in seinem Bett und wartete wahrscheinlich in panischer Unruhe auf sie. Jill wollte sich erheben und stellte fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war von einer so bleiernen Müdigkeit erfüllt, dass ihr ausgepumpter Körper ihr nicht länger gehorchen wollte. Sie lag da, hilflos und in dem Bewusstsein, dass sie verloren hatte, dass alles umsonst gewesen war, die ganzen höllischen Tage und Nächte, die Monate der Agonie, nichts hatte auch nur den geringsten Erfolg gehabt. Ihr Körper hatte sie ebenso im Stich gelassen, wie Toby von seinem Körper verraten worden war. Jill hatte keine Kraft mehr, um sie auf ihn zu übertragen, und sie hätte am liebsten geweint. Es war aus. Sie hörte ein Geräusch an ihrer Schlafzimmertür und wandte den Kopf. Toby stand im Türrahmen, ohne Hilfe, mit zitternden Armen das Gehgestell umklammernd, aus seinem Mund drangen unverständliche, sabbernde Geräusche, er kämpfte darum, etwas zu sagen.
Er versuchte, »Jill« zu sagen. Sie begann unbeherrscht zu schluchzen und konnte nicht aufhören.
Von diesem Tage an waren Tobys Fortschritte augenfällig. Zum ersten Mal wusste auch er, dass er gesund werden würde. Er wehrte sich nicht mehr, wenn Jill ihn über die Grenze seiner Kraft antrieb. Er wollte für sie gesund werden. Jill war seine Göttin geworden; hatte er sie vorher geliebt, so betete er sie jetzt an.
Und etwas war auch in Jill vorgegangen. Vorher war es ihr eigenes Leben gewesen, um das sie gekämpft hatte. Toby war bloß das Instrument, das sie gezwungenermaßen benutzte. Doch das hatte sich jetzt geändert. Als wäre Toby ein Teil von ihr geworden. Sie waren ein Körper und ein Geist und eine Seele, besessen vom selben Ziel. Sie waren durch ein reinigendes Fegefeuer gegangen. Sein Leben hatte in ihren Händen gelegen, und sie hatte es gehegt und gestärkt und gerettet, und daraus war eine Art von Liebe erwachsen. Toby gehörte zu ihr, so wie sie zu ihm gehörte.
Jill stellte Tobys Ernährung um, so dass er bald sein früheres Körpergewicht wiedererlangte. Er verbrachte täglich einige Zeit in der Sonne und unternahm lange Spaziergänge auf dem Anwesen, zunächst mit Hilfe des Gehgestells, später mit einem Stock. Als der Tag kam, an dem Toby allein gehen konnte, feierten beide das Ereignis mit einem Essen bei Kerzenlicht.
Schließlich befand Jill, dass Toby vorgeführt werden konnte. Sie rief Dr. Kaplan an.
»Jill! Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Ich habe bei Ihnen angerufen, aber es meldete sich niemand. Ich habe ein Telegramm geschickt, und als ich nichts hörte, nahm ich an, Sie hätten Toby irgendwohin gebracht. Ist er – hat er -«
»Kommen Sie und überzeugen Sie sich selbst, Eli.«
Dr. Kaplan konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Es ist unglaublich«, sagte er zu Jill. »Es – es ist wie ein Wunder.«
»Es ist ein Wunder«, entgegnete Jill. Nur musst du dir in diesem Leben deine Wunder selbst schaffen, weil Gott anderweitig beschäftigt ist.
»Die Leute rufen mich immer noch an, um sich nach Toby zu erkundigen«, sagte Dr. Kaplan. »Offensichtlich haben sie Sie nie erreichen können. Sam Winters ruft wenigstens einmal in der Woche an. Auch Clifton Lawrence hat oft angerufen.«
Clifton Lawrence war für Jill uninteressant. Aber Sam Winters! Das war gut. Jill musste einen Weg finden, um die Welt wissen zu lassen, dass Toby Temple immer noch ein Superstar war, dass sie beide immer noch das Goldene Paar waren.
Am nächsten Morgen rief Jill Sam Winters an und fragte ihn, ob er Lust hätte, Toby zu besuchen. Sam traf eine Stunde später ein. Jill öffnete ihm die Haustür, und Sam versuchte, sich sein Entsetzen über ihr Aussehen nicht anmerken zu lassen. Jill war um zehn Jahre gealtert seit ihrer letzten Begegnung. Ihre Augen lagen eingesunken und von braunen Ringen umgeben in einem von tiefen Linien gezeichneten Gesicht. Sie hatte so stark abgenommen, dass sie fast einem Skelett glich.
»Nett, dass Sie gekommen sind, Sam. Toby wird sich freuen, Sie zu sehen.«
Sam war darauf vorbereitet gewesen, Toby im Bett vorzufinden, als einen Schatten dessen, was er einst gewesen war, aber auf ihn wartete eine kaum glaubliche Überraschung. Toby ruhte auf einer Liege neben dem Schwimmbecken, und als Sam näher kam, stand Toby auf, ein wenig langsam zwar, aber sicher, und streckte ihm eine feste Hand entgegen. Er war braungebrannt, wirkte gesund und sah besser aus als vor seinem Schlaganfall. Wie durch einen geheimnisvollen chemischen Prozess schienen Jills Gesundheit und Lebenskraft in Tobys Körper geflossen zu sein, während Tobys Krankheit nun Jill ergriffen hatte.
»Hallo! Großartig, Sie wiederzusehen, Sam.«
Toby sprach ein wenig langsamer und präziser als früher, aber klar und kräftig. Kein Anzeichen einer Lähmung, wie Sam gehört hatte. Das war unverändert das jungenhafte Gesicht mit den strahlenden blauen Augen. Sam umarmte Toby herzlich und sagte: »Mein Gott, Sie haben uns wirklich einen Schreck eingejagt.«
Toby grinste und sagte: »Sie brauchen mich nicht >mein Gott< zu nennen, wenn wir allein sind.«
Sam musterte Toby eingehender und staunte. »Ich komme ehrlich nicht darüber hinweg. Verdammt noch mal, Sie sehen jünger aus. Die ganze Stadt hatte schon Begräbnisvorbereitungen getroffen.«
»Nur über meine Leiche«, sagte Toby lächelnd.
Sam meinte: »Es ist phantastisch, was die Ärzte heute alles -«
»Nicht die Ärzte.« Toby wandte seinen Blick Jill zu, und reine Bewunderung strahlte aus seinen Augen. »Wollen Sie wissen, wer es fertiggebracht hat? Jill. Ganz allein Jill. Mit ihren beiden Händen. Sie schickte alle fort und brachte mich wieder auf die Beine.«
Sam warf Jill einen verblüfften Blick zu. Er hatte sie nicht für eine Frau gehalten, die zu derart selbstlosem Handeln fähig war. Vielleicht hatte er sie falsch eingeschätzt. »Was für Pläne haben Sie?« fragte er Toby. »Ich nehme an, dass Sie sich ausruhen wollen und -«
»Toby wird wieder arbeiten«, sagte Jill. »Er ist viel zu engagiert, um untätig herumzusitzen.«
»Ich bin ganz wild auf Arbeit«, stimmte Toby zu.
»Vielleicht hat Sam etwas für dich«, gab Jill das Stichwort.
Beide beobachteten ihn. Sam wollte Toby nicht entmutigen, aber er wollte auch keine falschen Hoffnungen wecken. Es war unmöglich, mit einem Star einen Film zu machen, wenn er nicht versichert war, und keine Gesellschaft der Welt würde Toby Temple versichern.
»Im Augenblick haben wir nichts Geeignetes auf Lager«, sagte Sam vorsichtig. »Aber ich werde natürlich die Augen offenhalten.«
»Sie haben Angst, ihn einzusetzen, nicht wahr?« Es war, als ob sie seine Gedanken lesen könnte.
»Selbstverständlich nicht.« Doch beide wussten, dass er log.
Niemand in Hollywood würde das Risiko eingehen, Toby Temple wieder zu engagieren.
Toby und Jill sahen sich einen jungen Komiker im Fernsehen an.
»Er ist erbärmlich«, schnaubte Toby. »Verdammt noch mal, ich wünschte, ich könnte wieder auf dem Bildschirm erscheinen. Vielleicht sollte ich einen Agenten nehmen. Jemand, der sich in der Stadt umtut und erfährt, was los ist.«
»Nein!« Jills Stimme klang entschieden. »Es kommt nicht in Frage, dass jemand mit dir hausieren geht. Du bist nicht irgendein Landstreicher, der Arbeit sucht. Du bist Toby Temple. Wir werden dafür sorgen, dass sie zu dir kommen.«
Toby lächelte schief und sagte: »Sie werden uns nicht gerade die Tür einrennen, Baby.«
»Sie werden«, versprach Jill. »Sie wissen nur nicht, in welcher Form du bist. Du bist jetzt besser denn je. Wir müssen es ihnen nur zeigen.«
»Vielleicht sollte ich als Akt posieren.«
Jill hörte ihm nicht zu. »Ich habe eine Idee«, sagte sie bedächtig. »Eine Ein-Mann-Show.«
»Was?«
»Eine Ein-Mann-Show.« In ihrer Stimme schwang wachsende Erregung mit. »Ich werde das Huntington Hartford Theatre dafür mieten. Ganz Hollywood wird dasein. Und hinterher werden sie dir die Tür einrennen!«
Und ganz Hollywood war tatsächlich da: Produzenten, Regisseure, Kollegen, Kritiker – all diejenigen, die im Showgeschäft zählten. Das Theater an der Vine Street war im Nu ausverkauft, und Hunderte waren abgewiesen worden. Eine jubelnde Menge drängte sich davor, als Toby und Jill eintrafen. Es war ihr Toby Temple. Er war von den Toten auferstanden und zu ihnen zurückgekehrt, und sie liebten ihn mehr denn je.
Das Publikum war zum Teil aus Respekt vor einem Mann da, der berühmt und groß gewesen war, die meisten aber waren aus Neugier gekommen. Sie waren da, um einem sterbenden Helden, einem erlöschenden Star Tribut zu zollen.
Jill hatte die Show persönlich zusammengestellt. Sie war zu O'Hanlon und Rainger gegangen, und die hatten ein glänzendes Repertoire geschrieben, das mit einem Monolog begann, in dem die Stadt auf die Schippe genommen wurde, weil sie Toby begrub, während er noch am Leben war. Jill hatte sich an ein Team von Liedertextern gewandt, das bereits mehrere Preise gewonnen hatte. Sie hatten noch nie für einen speziellen Interpreten geschrieben, aber
als Jill sagte: »Toby beteuert, dass Sie die einzigen Texter der Welt sind, die…«
Dick Landry kam aus London angeflogen, um die Show zu inszenieren.
Jill hatte die besten Leute zusammengetrommelt, um Toby zu unterstützen, aber letztlich würde alles von dem Star selbst abhängen. Es war eine Ein-Mann-Show, und er würde ganz allein auf der Bühne stehen.
Und der Augenblick kam. Die Lichter des Hauses verlöschten, und das Theater war von jener erwartungsvollen Ruhe erfüllt, die dem Heben des Vorhanges vorangeht, von dem Stoßgebet, dass an diesem Abend ein Wunder geschehen möge.
Das Wunder geschah.
Als Toby Temple auf die Bühne schlenderte, mit sicherem und festem Schritt, mit dem bekannten schelmischen Lächeln, das sein knabenhaftes Gesicht erhellte, hielten alle den Atem an, und frenetischer Applaus brach los, ein Jubel, der das Theater volle fünf Minuten erschütterte.
Toby stand da, wartete auf das Abklingen des Höllenlärms, und als das Publikum sich schließlich beruhigt hatte, sagte er: »Das nennen Sie einen Empfang?« Und sie brüllten vor Lachen.
Er war glänzend. Er erzählte Geschichten und sang und tanzte, und er attackierte jeden, und es war, als ob er nie fortgewesen wäre. Das Publikum konnte nicht genug von ihm kriegen. Er war immer ein Superstar gewesen, aber jetzt war er mehr; er war zur lebenden Legende geworden.
Im Variety war am nächsten Tag zu lesen: »Sie kamen, um Toby Temple zu begraben, aber sie blieben, um ihn zu preisen und ihm zuzujubeln. Und wie er es verdiente! Es gibt niemanden im Showgeschäft, der den Zauber des alten Meisters hat. Es war ein Abend der Ovationen, und niemand, der das Glück hatte dabeizusein, wird diesen denkwürdigen Abend je vergessen…«
Der Kritiker des Hollywood Reporter schrieb: »Das Publikum war da, um einen großen Star zurückkehren zu sehen, aber Toby Temple bewies, dass er nie fort gewesen war.«
Auch alle anderen Kritiken lobten und priesen ihn in den höchsten Tönen. Von diesem Augenblick an klingelten Tobys Telefone unaufhörlich. Briefe und Telegramme mit Einladungen und Angeboten häuften sich.
Man rannte ihm die Tür ein.
Toby wiederholte seine Ein-Mann-Show in Chicago, Washington und New York; überall, wohin er kam, war er eine Sensation. Jetzt interessierte man sich mehr für ihn denn je zuvor. In einer Welle der Nostalgie wurden Tobys alte Filme in Filmkunsttheatern und an Universitäten gezeigt. Fernsehstationen veranstalteten eine Toby-Temple-Woche und brachten seine alten Variete-Aufzeichnungen.
Es gab Toby-Temple-Puppen und Toby-Temple-Spiele und Toby-Temple-Puzzles und Comic-Hefte und T-Shirts. Hersteller von Kaffee und Zigaretten und Zahnpasta machten mit ihm Reklame.
Toby wirkte in einem Musikfilm bei Universal mit und verpflichtete sich, Gastrollen in allen großen Variete-Veranstaltungen zu geben. Die konkurrierenden Fernsehanstalten hatten ihre Autoren beauftragt, Konzeptionen für eine neue Toby-Temple-Stunde zu entwickeln.
Die Sonne war wieder aufgegangen, und sie schien auf Jill.
Es gab wieder Parties und Empfänge, und da waren dieser Botschafter und jener Senator und Privatfilmvorführungen und… Jeder wollte das Paar überall dabeihaben. Sie wurden zum Dinner ins Weiße Haus eingeladen, eine Ehre, die gewöhnlich Staatsoberhäuptern vorbehalten blieb. Sie wurden mit Applaus bedacht, wo immer sie erschienen.
Aber jetzt galt der Applaus ebensosehr Jill wie Toby. Die Geschichte ihres großartigen Einsatzes, ihrer Großtat, Toby gegen jede Aussicht auf Erfolg allein wieder gesund gemacht zu haben, hatte die Phantasie der Welt entflammt. Sie wurde von der Presse als die Liebesgeschichte des Jahrhunderts gefeiert. Das Magazin Time brachte die beiden als Titelbild, und die dazugehörige Story war eine einzige Huldigung für Jill.
In einem Fünf-Millionen-Dollar-Vertrag wurde Toby als Star für eine neue wöchentliche Fernsehshow verpflichtet, die bereits im September, also schon in zwölf Wochen, anlaufen sollte.
»Wir gehen nach Palm Springs, damit du dich inzwischen ausruhen kannst«, sagte Jill.
Toby schüttelte den Kopf. »Du bist lange genug eingesperrt gewesen. Jetzt wollen wir etwas vom Leben haben.« Er legte seine Arme um sie und fügte hinzu: »Ich bin nicht sehr wortgewandt, Baby, und was herauskommt, sind meistens nur Witze. Ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich für dich empfinde. Ich – du solltest wissen, dass mein Leben eigentlich erst begann, als ich dich kennenlernte.« Er wandte sich jäh ab, damit Jill seine Tränen nicht sehen konnte.
Toby vereinbarte eine Europa-Tournee mit seiner Ein-Mann-Show, die nach London, Paris und sogar nach Moskau führen sollte. Jeder kämpfte darum, ihn zu engagieren. Er war in Europa inzwischen genauso berühmt wie in Amerika.
Sie waren mit dem Boot unterwegs, an einem sonnigen, funkelnden Tag, und segelten nach Catalina. An Bord war ein Dutzend Gäste, unter
ihnen Sam Winters und O'Hanlon und Rainger, die als Hauptautoren für die Texte von Tobys neuer Fernsehshow ausersehen worden waren. Alle hielten sich im Salon auf, spielten und plauderten miteinander. Jill blickte umher und bemerkte, dass Toby nicht da war. Sie ging auf das Deck hinauf.
Toby stand an der Reling und starrte auf die See. Jill trat zu ihm. »Fühlst du dich nicht wohl?« fragte sie.
»Ich betrachte nur das Wasser, Baby.«
»Es ist herrlich, nicht wahr?«
»Für einen Hai vielleicht.« Er schauderte. »Aber ich möchte nicht darin sterben. Ich habe immer große Angst vor dem Ertrinken gehabt.«
Sie legte ihre Hand auf seine. »Was hast du nur?«
Er sah sie an. »Ich will nicht sterben. Ich fürchte mich vor dem, was da draußen ist. Hier bin ich ein großer Mann. Jeder kennt Toby Temple. Aber da draußen…? Weißt du, wie ich mir die Hölle vorstelle? Als einen Ort, wo es kein Publikum gibt.«
Der Friars Club gab ein Essen mit Toby Temple als Ehrengast. Ein Dutzend Spitzenkomiker saß auf dem Podium, zusammen mit Toby und Jill, Sam Winters und dem Direktor der Fernsehgesellschaft, mit der Toby abgeschlossen hatte. Jill wurde gebeten, aufzustehen und den Beifall entgegenzunehmen. Er war frenetisch.
Die jubeln mir zu, dachte Jill. Nicht Toby. Mir!
Der Ansager war der Talkmaster einer berühmten nächtlichen TalkShow. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich ich bin, Toby hier zu sehen«, sagte er. »Denn wenn wir ihn heute abend nicht hier ehrten, müssten wir das Bankett auf dem Friedhof abhalten.«
Gelächter.
»Und glauben Sie mir, das Essen da ist fürchterlich. Haben Sie jemals auf einem Friedhof gegessen? Die servieren dort die Reste vom Letzten Abendmahl.«
Gelächter.
Er wandte sich an Toby. »Wir sind wirklich stolz auf Sie, Toby. Im Ernst. Wie ich höre, sind Sie gebeten worden, einen Teil Ihres Körpers der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Man will ihn in einem Gefäß in der Harvard Medical School konservieren. Das Problem ist nur, dass sie kein Gefäß finden konnten, das groß genug ist, um ihn aufzunehmen.«
Brüllendes Gelächter.
Als Toby zu seiner Erwiderung aufstand, übertraf er sie alle.
Alle waren sich darüber einig, dass es das beste Essen war, das die Friars je veranstaltet hatten.
Auch Clifton Lawrence war an jenem Abend anwesend.
Er saß an einem der hinteren Tische in der Nähe der Küche, zusammen mit anderen unwichtigen Leuten. Er war gezwungen gewesen, sich alten Freunden aufzudrängen, um auch nur diesen Platz zu bekommen. Seit Toby Temple ihn gefeuert hatte, hing an Clifton Lawrence der Makel des Verlierers. Er hatte versucht, sich einer großen Agentur anzuschließen, aber da er keine Klienten mehr besaß, hatte er nichts zu bieten. Dann hatte Clifton es bei kleineren Agenturen versucht, aber die waren an einem Mann seines Alters nicht interessiert; die wollten energische, junge Leute. Schließlich hatte er sich mit einem Job ohne Gewinnbeteiligung bei einer kleinen, neu gegründeten Agentur zufriedengegeben. Sein Wochengehalt war geringer als der Betrag, den er früher an einem einzigen Abend bei Romanoff ausgegeben hatte.
Er erinnerte sich an den ersten Tag in der neuen Agentur. Sie gehörte drei energischen jungen Männern – oder vielmehr Kindern -, alle Ende Zwanzig. Ihre Klienten waren Rock-Stars. Zwei der Agenten waren bärtig, und alle trugen Jeans, Sporthemden und Tennisschuhe ohne Socken. Sie gaben Clifton das Gefühl, tausend Jahre alt zu sein. Sie redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Sie nannten ihn »Dad« und »Pop«, und er musste an den Respekt denken, der ihm einst in dieser Stadt bezeugt worden war, und war den Tränen nahe.
Der einstmals elegante, lebensfrohe Mann war heruntergekommen und verbittert. Toby Temple war sein ganzer Lebensinhalt gewesen, und Clifton sprach wie unter Zwang über diese vergangene Zeit. Es war alles, woran er dachte. Das und Jill. Clifton machte sie für alles, was ihm geschehen war, verantwortlich. Toby konnte nichts dafür; er war von diesem Luder beeinflusst worden. Aber, oh, wie Clifton Jill Hasste!
Er saß hinten im Saal und beobachtete die Menge, die Jill Temple applaudierte, als einer der Männer am Tisch sagte: »Toby hat wirklich unverschämtes Glück. Ich wünschte, ich hätte ein Stück von der. Sie ist großartig im Bett.«
»Nanu?« fragte jemand zynisch. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Sie wird in diesem Porno-Kintopp im Pussycat-Theater gezeigt. Teufel, es sah aus, als würde sie dem Kerl die Leber aus dem Leib saugen.«
Cliftons Mund war plötzlich so trocken, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Sind Sie – sind Sie sicher, dass es Jill Castle war?« fragte er.
Der Fremde wandte sich ihm zu. »Klar bin ich sicher. Sie läuft allerdings unter einem anderen Namen – Josephine Soundso. Ein verrückter Polakenname.« Er starrte Clifton an und sagte: »He! Sie sind doch Clif-ton Lawrence!«
Es gibt ein Gebiet am Santa Monica Boulevard, an der Grenze zwischen Fairfax und La Cienega, das Countyterritorium ist. Als Teil einer Insel, umgeben von der City von Los Angeles, untersteht es der Coun-tyverwaltung, die weniger strikt als die der City ist. In einem Gebiet von sechs Häuserblocks befinden sich allein vier Kinos, die ausschließlich Pornofilme zeigen, ein halbes Dutzend Bücherläden, wo man in Einzelkojen über Fernsehschirme scharfe Filme sehen kann, und ein Dutzend Massagesalons mit jungen Mädchen, die Experten sind in allem, bloß nicht in Massagen. Mitten drin liegt das Pussycat-Theater.
Es waren vielleicht zwei Dutzend Leute in dem verdunkelten Theater; von zwei Frauen abgesehen, die Händchen haltend dasaßen, ausschließlich Männer. Clifton blickte sich im Zuschauerraum um und fragte sich, was diese Leute mitten an einem sonnigen Tag in diese verdunkelte Höhle trieb, um Stunden damit zu verbringen, sich auf der Leinwand anzusehen, wie andere Leute Unzucht trieben.
Der Hauptfilm begann, und Clifton vergaß alles außer dem, was auf der Leinwand geschah. Er beugte sich auf seinem Sitz vor, konzentrierte sich auf die Gesichter der Darstellerinnen. Es ging um einen jungen CollegeProfessor, der seine Studentinnen zum Nachtunterricht in sein Schlafzimmer schmuggelte. Alle waren jung, überraschend attraktiv und unglaublich begabt. Sie gingen eine Vielfalt von sexuellen Praktiken durch, oral, vaginal und anal, bis der Professor ebenso befriedigt wie seine Schülerinnen war.
Aber keines der Mädchen war Jill. Sie muss dabeisein, dachte Clifton. Dies war seine einzige Chance, um sich je für das rächen zu können, was sie ihm angetan hatte. Er würde dafür sorgen, dass Toby diesen Film zu sehen bekam. Es würde ihm wehtun, doch er würde darüber hinwegkommen. Jill aber würde vernichtet werden. Wenn Toby erfuhr, was für eine Hure er geheiratet hatte, würde er sie mit einem Tritt hinausbefördern. Jill musste in diesem Film sein.
Und plötzlich war sie da – auf Breitwand, in wundervollen, herrlichen, lebendigen Farben. Sie hatte sich inzwischen sehr verändert. Jetzt war sie dünner, schöner und erfahrener. Aber es war Jill. Clifton saß da, schlang die Szene in sich hinein, schwelgte in ihr, frohlockte und weidete seine Sinne, erfüllt von einem elektrisierenden Gefühl des Triumphes und der Rache.
Clifton blieb auf seinem Platz, bis der Nachspann kam. Da war es: Josephine Czinski. Er stand auf und ging nach hinten in die Vorführkabine. Ein Mann in Hemdsärmeln saß in dem kleinen Raum und studierte Wettergebnisse. Er blickte auf, als Clifton eintrat, und sagte: »Hier ist kein Zutritt, Kumpel.«
»Ich möchte eine Kopie dieses Films kaufen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ist unverkäuflich.« Er widmete sich wieder seinen Wettergebnissen.
»Ich zahle Ihnen hundert Piepen, wenn Sie mir eine Kopie davon machen. Niemand wird es je erfahren.«
Der Mann schaute nicht mal auf.
»Zweihundert«, sagte Clifton.
Der Vorführer blätterte eine Seite um.
»Dreihundert.«
Der Mann blickte auf und musterte Clifton. »Bar?«
»Bar.«
Um zehn Uhr am nächsten Morgen kam Clifton mit einer Filmspule unter dem Arm vor Tobys Haus an. Nein, kein Film, dachte er beglückt. Dynamit. Genug, um Jill Castle in die Hölle zu sprengen.
Die Tür wurde von einem englischen Butler geöffnet, den Clifton noch nie gesehen hatte.
»Sagen Sie Mr. Temple, Clifton Lawrence möchte ihn sprechen.«
»Tut mir leid, Sir. Mr. Temple ist nicht hier.«
»Ich werde auf ihn warten«, sagte Clifton bestimmt.
Der Butler erwiderte: »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Mr. und Mrs. Temple sind heute früh nach Europa abgereist.«
Europa war eine Serie von Triumphen.
An Tobys Premierenabend im Palladium in London war Oxford Circus von einer Menschenmenge blockiert, die versuchte, einen Blick auf Toby und Jill zu erhaschen. Den gesamten Bezirk um die Argyll Street herum hatte die Polizei abgesperrt. Als die Menschenmassen außer Kontrolle gerieten, wurde zur Unterstützung eiligst berittene Polizei eingesetzt. Punkt acht Uhr traf die königliche Familie ein, und die Vorstellung begann.
Toby übertraf die höchsten Erwartungen. Mit seinem Gesicht, das vor Unschuld strahlte, attackierte er die britische Regierung und ihren alten Akademikerdünkel. Er erklärte, wie sie es fertigbrachte, weniger mächtig als Uganda zu sein, und wie das einem verdienstvolleren Land nicht hätte passieren können. Sie brüllten vor Lachen, weil sie wussten, dass Toby Temple nur Spaß machte. Er meinte kein Wort im Ernst. Toby liebte sie. Und sie liebten ihn.
Der Empfang in Paris war noch stürmischer. Jill und Toby waren Gäste im Elysee-Palast und wurden in einer Limousine des Präsidenten durch die Stadt gefahren. Sie erschienen jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen, und wenn sie im Theater auftauchten, musste das Polizeiaufgebot verstärkt werden, um die Menschen zurückzuhalten. Nach der Vorstellung wurden Toby und Jill zu ihrer Limousine geleitet, als plötzlich die Menge die Polizeikette durchbrach und Hunderte von Franzosen sie bestürmten: »Toby, Toby… on veut Toby!« Sie streckten ihm Kugelschreiber und Autogrammbücher entgegen und drängten nach vorn, um den großen Toby Temple und seine großartige Jill zu berühren. Die Polizei war nicht in der Lage, sie zurückzuhalten; die Menge fegte sie beiseite, riss an Tobys Kleidern und kämpfte um ein Souvenir. Toby und Jill wurden beinahe erdrückt, aber Jill hatte keine Angst. Dieser Tumult war eine Huldigung für sie. Sie hatte diesen Menschen Toby zurückgegeben.
Die letzte Station ihrer Reise war Moskau.
Moskau im Juni ist eine der reizvollsten Städte der Welt. Graziöse weiße Birken, umgeben von gelben Blumenrabatten, säumen die breiten Boulevards, auf denen Einheimische und Besucher im Sonnenschein flanieren. Es ist die Saison der Touristen. Abgesehen von offiziellen Besuchern werden alle Touristen in Rußland durch Intourist betreut, der von der Regierung kontrollierten Agentur, die Verkehrsverbindungen, Hotelunterkünfte und gelenkte Stadtrundfahrten arrangiert. Aber auf Toby und Jill wartete auf dem Internationalen Flughafen von Scheremetjewo eine große Limousine, die sie ins Metropol Hotel fuhr, das sonst nur für VIPs aus den Satellitenstaaten reserviert ist.
General Juri Romanowitsch, ein hoher Parteifunktionär, kam ins Hotel, um sie willkommen zu heißen. »Wir zeigen nicht viele amerikanische Filme in Rußland, Mr. Temple, aber Ihre Filme sind hier oft gelaufen. Das russische Volk ist der Meinung, dass es für das Genie keine Grenzen gibt.«
Toby war für drei Vorstellungen im Bolschoitheater engagiert worden. Am Eröffnungsabend wurde Jill in den Beifall mit einbezogen. Wegen der Sprachgrenze brachte Toby den größten Teil seines Auftritts als Pantomime, und das Publikum war hingerissen. Er hielt eine Hetzrede in seinem Pseudo-Russisch, und ihr Lachen und ihr Applaus hallten in dem riesigen Theater wie eine Liebeserklärung wider.
An den nächsten beiden Tagen begleitete General Romanowitsch To-by und Jill auf privaten Stadtrundfahrten. Sie besuchten den Gorki-Park, fuhren auf dem Riesenrad und besichtigten die historische Sankt Basilius Kathedrale. Sie wurden in den Moskauer Staatszirkus geführt, und es wurde ein Bankett für sie gegeben, wo ihnen der goldene Kaviar, der seltenste von acht Kaviarsorten, serviert wurde.
Am Nachmittag vor Tobys letztem Auftritt machten sich die Temples für einen Einkaufsbummel fertig. Toby sagte: »Warum gehst du nicht allein, Baby? Ich glaube, ich werde mich eine Weile hinlegen.«
Jill sah ihn einen Augenblick forschend an. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»O doch. Ich bin bloß ein bisschen müde. Geh nur und kauf Moskau leer.«
Jill zögerte. Toby sah blass aus. Wenn diese Tournee vorüber war, würde sie dafür sorgen, dass er eine lange Erholungspause bekam, ehe er eine neue Fernsehshow begann. »Also gut«, stimmte sie zu, »mach ein Nickerchen.«
Jill ging durch die Halle zum Ausgang, als sie eine Männerstimme rufen hörte: »Josephine«, und noch während sie sich umwandte, wusste sie, wer es war, und im Bruchteil einer Sekunde geschah das Wunder wieder.
David Kenyon kam lächelnd auf sie zu und sagte: »Ich freue mich so, dich zu sehen«, und sie glaubte, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Er ist der einzige Mann, dem das je bei mir gelungen ist, dachte Jill.
»Darf ich dich zu einem Drink einladen?« fragte David.
»Ja«, antwortete sie.
Die Hotelbar war groß und gut besucht, aber sie fanden einen vergleichsweise ruhigen Tisch in einer Ecke, wo sie sich unterhalten konnten.
»Was machst du in Moskau?« fragte Jill.
»Ich versuche, für unsere Regierung ein Ölabkommen auszuarbeiten.«
Ein gelangweilter Ober schlenderte an ihren Tisch und nahm ihre Getränkebestellung entgegen.
»Wie geht es Cissy?«
David sah sie kurz an und sagte dann: »Wir haben uns vor ein paar Jahren scheiden lassen.« Er wechselte bewusst das Thema. »Ich habe deinen Lebensweg verfolgt. Ich bin von Kindesbeinen an ein Fan von Toby Temple gewesen.« Das klang so, als ob Toby sehr alt wäre. »Ich bin froh, dass er wieder gesund ist. Als ich las, dass er einen Schlaganfall hatte, machte ich mir Sorgen um dich.« In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Jill an längst vergangene Zeiten erinnerte.
»Ich fand Toby in Hollywood und London großartig«, sagte David.
»Warst du da?« fragte Jill überrascht.
»Ja.« Dann fügte er schnell hinzu: »Ich hatte geschäftlich dort zu tun.«
»Warum bist du nicht hinter die Bühne gekommen?«
Er zögerte. »Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich wusste nicht, ob du mich sehen wolltest.«
Ihre Getränke wurden in schweren, gedrungenen Gläsern serviert.
»Auf dich und Toby«, sagte David. Und in der Art, wie er es sagte, lag ein Hauch von Trauer und Sehnsucht…
»Wohnst du immer im Metropol?« fragte Jill.
»Nein. Es war verdammt schwierig -« Er bemerkte die Falle zu spät. Er lächelte schief. »Ich hätte schon vor fünf Tagen aus Moskau abreisen sollen. Ich blieb, weil ich hoffte, dir zu begegnen.«
»Weshalb, David?«
Er antwortete lange nicht. Dann sagte er schließlich: »Jetzt ist es zwar zu spät, aber ich werde es dir dennoch sagen, weil ich glaube, dass du ein Recht hast, es zu erfahren.«
Und er sprach über seine Ehe mit Cissy, wie sie ihn überlistet hatte, von ihrem Selbstmordversuch und von der Nacht, als er Jill gebeten hatte, ihn am See zu treffen. Es kam alles in einem zutiefst erregten Wortschwall heraus, der Jill erschütterte.
»Ich habe dich immer geliebt.«
Sie saß da und lauschte ihm, und ein Gefühl des Glücks durchströmte
ihren Körper wie wärmender Wein. Es war, als ob ein schöner Traum wahr würde, es war alles, was sie gewollt, was sie sich gewünscht hatte. Jill blickte den Mann ihr gegenüber forschend an, und sie erinnerte sich an seine kräftigen Hände und an seinen harten, fordernden Körper, und sie schwankte unter einem Ansturm der Gefühle. Aber Toby war ein Teil von ihr geworden, er war ihr Fleisch und Blut; David…
Eine Stimme neben ihr sagte: »Mrs. Temple! Wir haben Sie überall gesucht!« Es war General Romanowitsch.
Jill sah David an. »Ruf mich morgen früh an.«
Tobys letzte Vorstellung im Bolschoitheater war aufregender als alles, was jemals dort gegeben worden war. Die Zuschauer warfen Blumen auf die Bühne und jubelten und trampelten und weigerten sich zu gehen. Es war ein Höhepunkt in Tobys triumphaler Laufbahn. Nach dem Auftritt war ein Empfang vorgesehen, aber Toby sagte zu Jill: »Ich bin erledigt, Göttin. Warum gehst du nicht allein hin? Ich fahre ins Hotel zurück und nehme eine Mütze Schlaf.«
Jill ging allein zum Empfang, aber es war, als stünde David jeden Augenblick neben ihr. Sie unterhielt sich mit ihren Gastgebern und tanzte und bedankte sich für die ihr erwiesenen Huldigungen, doch die ganze Zeit durchlebte sie im Geist ihre Begegnung mit David. Ich habe das falsche Mädchen geheiratet. Cissy und ich sind geschieden. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.
Um zwei Uhr morgens verabschiedeten sich Jills Begleiter vor ihrer Hotelsuite von ihr. Sie trat ein und fand Toby mitten im Zimmer bewusstlos auf dem Boden, die rechte Hand zum Telefon ausgestreckt.
Toby Temple wurde eilends in einem Krankenwagen zur Diplomatischen Poliklinik gebracht. Drei berühmte Spezialisten wurden mitten in der Nacht gerufen, um ihn zu untersuchen. Jeder bezeigte Jill sein Mitgefühl. Der Krankenhausdirektor geleitete sie in ein Privatbüro, wo sie auf Nachricht wartete. Es ist wie eine Wiederaufführung, dachte Jill. All das hat sich schon einmal ereignet. Es war alles sehr vage und unwirklich.
Stunden später öffnete sich die Tür zum Büro, und ein kleiner, fetter Russe watschelte herein. Er trug einen schlechtsitzenden Anzug und sah wie ein erfolgloser Klempner aus. »Ich bin Dr. Durow«, sagte er. »Ich betreue den Fall Ihres Gatten.«
»Ich möchte wissen, wie es ihm geht.«
»Setzen Sie sich bitte, Mrs. Temple.«
Jill war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie aufgestanden war. »Sagen Sie es mir.«
»Ihr Mann hat einen Schlaganfall gehabt – eine Cerebral-Thrombose.«
»Wie schlimm ist es?«
»Es ist einer – wie sagen Sie? – der schwersten, gefährlichsten Fälle. Wenn Ihr Mann überleben sollte – und es ist noch zu früh, darüber etwas zu sagen -, wird er nie wieder gehen oder sprechen können. Sein Geist
ist klar, aber er ist völlig gelähmt.«
Bevor Jill Moskau verließ, rief David sie an.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut«, sagte er. »Ich werde dir beistehen. Wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich dasein. Vergiss das nicht.«
Es war das einzige, was Jill half, in dem beginnenden Alptraum ihren Verstand zu behalten.
Die Heimreise war eine teuflische Wiederholung der Vergangenheit. Die Krankenbahre im Flugzeug, der Krankenwagen vom Flughafen zum Haus, das Krankenzimmer.
Nur dass es diesmal nicht das gleiche war. Jill hatte es sofort gewusst, als man ihr erlaubte, Toby zu sehen. Sein Herz schlug, seine lebenswichtigen Organe funktionierten; in jeder Hinsicht war er ein lebender Organismus. Und trotzdem war er es nicht. Er war ein atmender, pulsierender Leichnam, ein toter Mann in einem Sauerstoffzelt mit Schläuchen und Nadeln in seinem Körper, die ihn mit jenen Lösungen versorgten, die nötig waren, um ihn am Leben zu erhalten. Sein Gesicht mit den hochgezogenen Lippen, die sein Zahnfleisch entblößten, war so entsetzlich verzerrt, dass es aussah, als ob er grinste. Ich fürchte, ich kann Ihnen keine Hoffnung machen, hatte der russische Arzt gesagt.
Das war vor vielen Wochen gewesen. Nun waren sie wieder zu Hause in Bel-Air. Jill hatte sofort Dr. Kaplan hinzugezogen, der Fachärzte kommen ließ, die ihrerseits weitere Kapazitäten gerufen hatten, und es kam immer dieselbe Antwort: ein schwerer Schlaganfall, der die Nervenzentren schwer beschädigt oder gar zerstört hatte, und es bestand kaum eine Chance, die eingetretenen Schäden zu heilen.
Schwestern betreuten ihn rund um die Uhr, und ein Heilgymnastiker arbeitete mit Toby, aber es waren alles leere Gesten.
Das Objekt dieser ganzen Aufmerksamkeit bot einen schauerlichen Anblick. Tobys Haut war gelblich geworden, und das Haar fiel ihm büschelweise aus. Seine gelähmten Glieder waren runzlig und sehnig. Auf seinem Gesicht stand das entsetzliche Grinsen, das er nicht kontrollieren konnte – der Kopf eines Toten.
Doch seine Augen waren lebendig. Und wie lebendig! Sie leuchteten mit der Kraft eines in einer nutzlosen Schale gefangenen Geistes. Jedesmal wenn Jill sein Zimmer betrat, folgten ihr Tobys Augen begierig. Worum baten sie? Dass sie ihn wieder gehen, wieder sprechen lehrte? Ihn wieder in einen Mann verwandelte?
Schweigend und nachdenklich blickte sie auf ihn hinunter. Ein Teil von mir liegt in diesem Bett, leidend, gefangen. Sie waren miteinander verbunden. Sie hätte alles gegeben, um Toby zu retten, sich selbst zu retten. Aber sie wusste, dass es aussichtslos war.
Unaufhörlich kamen Anrufe, und es war eine Wiederholung all jener anderen Telefonanrufe, all jener früheren Sympathiebeweise.
Aber dann kam ein anderer Anruf. David Kenyon meldete sich. »Ich wollte nur sagen, wenn ich etwas für dich tun kann – gleichgültig, was -, ich bin bereit.«
Jill rief sich seinen Anblick ins Gedächtnis, groß und stattlich und gesund, und sie dachte an die deformierte Karikatur eines Mannes im Zimmer nebenan. »Danke, David. Ich bin dir wirklich dankbar. Aber da ist nichts zu machen. Jedenfalls vorläufig nicht.«
»Wir haben hervorragende Ärzte in Houston«, sagte er. »Einige der besten in der Welt. Ich könnte veranlassen, dass sie ihn untersuchen.«
Jills Kehle zog sich zusammen. Wie sehr wünschte sie, dass David zu ihr käme, sie von hier fortbrächte! Aber es war nicht möglich. Sie war an Toby gefesselt, und sie wusste, dass sie ihn nie verlassen konnte.
Nicht, solange er lebte.
Dr. Kaplan hatte Toby gründlich untersucht. Jill wartete in der Bibliothek auf ihn. Sie drehte sich um, als er hereinkam. Der Arzt versuchte zu scherzen: »Tja, Jill, ich habe eine gute Nachricht, und ich habe eine schlechte Nachricht.«
»Sagen Sie mir die schlechte zuerst.«
»Ich fürchte, Tobys Nervensystem ist zu schwer beschädigt, als dass er je wieder gesund werden könnte. Daran besteht kein Zweifel. Er hat keine Chance. Er wird nie wieder gehen oder sprechen können.«
Sie blickte ihn lange an und fragte dann: »Und die gute Nachricht?« Dr. Kaplan lächelte. »Tobys Herz ist erstaunlich kräftig. Bei sorgfältiger Pflege kann er noch zwanzig Jahre leben.«
Jill blickte ihn ungläubig an. Zwanzig Jahre. War das die gute Nachricht? Sie sah sich an diese entsetzliche Fratze da oben gekettet, gefangen in einem Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie konnte sich nie von Toby scheiden lassen. Niemand würde das verstehen. Sie war die Heldin, die ihm das Leben gerettet hatte. Jeder würde sich verraten, betrogen fühlen, wenn sie ihn jetzt preisgab. Sogar David Kenyon.
David rief sie nun täglich an, und immer wieder versicherte er ihr, wie wunderbar ihre Treue und Selbstlosigkeit wäre, und beide waren sich des tiefen Gefühls für einander bewusst.
Unausgesprochen blieb der Satz: Wann stirbt Toby?
Drei Krankenschwestern pflegten Toby im Schichtdienst rund um die Uhr. Sie waren flott, tüchtig und so unpersönlich wie Maschinen. Jill war dankbar für ihre Anwesenheit, denn sie konnte es nicht ertragen, in To-bys Nähe zu sein. Der Anblick dieser hässlichen, grinsenden Maske stieß sie ab. Sie fand alle möglichen Entschuldigungen, seinem Zimmer fernzubleiben. Wenn Jill sich zwang, zu ihm zu gehen, fühlte sie sofort eine
Veränderung in ihm. Selbst die Schwestern merkten es. Toby lag bewegungslos und hilflos da, versteinert in seiner gelähmten Hülle. Doch sowie Jill das Zimmer betrat, begann Vitalität aus diesen blauen Augen zu sprühen. Jill konnte Tobys Gedanken so klar lesen, als würde er laut sprechen: Lass mich nicht sterben. Hilf mir! Hilf mir!
Jill blickte auf seinen verfallenen Körper hinunter und dachte: Ich kann dir nicht helfen. Du möchtest so nicht leben. Du möchtest sterben.
Der Gedanke begann in Jill Gestalt anzunehmen.
Die Zeitungen waren voll von Geschichten über kranke Ehemänner, deren Frauen sie von ihren Schmerzen befreit hatten. Selbst einige Ärzte gaben zu, dass sie bewusst gewisse Patienten sterben ließen. Euthanasie nannte man das. Gnadentod. Aber Jill wusste, dass es auch Mord genannt werden konnte, obgleich nichts in Toby mehr lebte außer diesen verfluchten Augen, die ihr überallhin folgten.
In den nächsten Wochen verließ Jill das Haus nicht mehr. Die meiste Zeit schloss sie sich in ihrem Schlafzimmer ein. Ihre Kopfschmerzen waren wiedergekehrt, und sie konnte keine Linderung finden.
Zeitungen und Zeitschriften brachten Geschichten über den gelähmten Superstar und seine hingebungsvolle Frau, die ihn schon einmal gesund gepflegt hatte. Alle Zeitschriften stellten Vermutungen an, ob Jill dieses Wunder wiederholen könnte. Aber sie wusste, dass es keine Wunder mehr geben würde. Toby würde nie mehr gesund werden.
Zwanzig Jahre, hatte Dr. Kaplan gesagt. Und da draußen war David und wartete auf sie. Sie musste einen Weg finden, aus ihrem Gefängnis zu entkommen.
Es begann an einem dunklen, trüben Sonntag. Vormittags regnete es, und der Regen hielt den ganzen Tag an und trommelte auf das Dach und gegen die Fenster des Hauses, bis Jill glaubte, sie würde verrückt werden. Sie war in ihrem Schlafzimmer, las und versuchte, das eintönige Klopfen der Regentropfen aus ihren Gedanken zu verbannen, als die Nachtschwester hereinkam. Sie hieß Ingrid Johnson. Sie war steif und nordisch.
»Die Kochplatte oben funktioniert nicht«, meldete sie. »Ich muss in die Küche hinunter, um Mr. Temples Essen zu kochen. Könnten Sie ein paar Minuten bei ihm bleiben?«
Jill fühlte die Missbilligung in der Stimme der Schwester. Sie fand es seltsam, dass eine Frau die Nähe des Krankenbettes ihres Mannes mied. »Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Jill.
Sie legte das Buch weg und ging durch die Diele zu Tobys Krankenzimmer. Als sie den Raum betrat, drang ihr der bekannte Gestank in die Nase. Augenblicklich wurde ihr ganzes Bewusstsein von den Erinnerungen an jene langen, fürchterlichen Monate überflutet, als sie um Tobys Rettung gekämpft hatte.
Tobys Kopf ruhte auf einem großen Kissen. Als er Jill erkannte, be-
lebten sich seine Augen plötzlich, sandten rasende Botschaften aus. Wo bist du gewesen? Warum bist du mir ferngeblieben? Ich brauche dich. Hilf mir! Es war, als könnten seine Augen sprechen. Jill sah auf diesen widerlichen, verunstalteten Körper mit der grinsenden Totenmaske hinab und ekelte sich. Du wirst nie wieder gesund werden, hol dich der Teufel! Du musst sterben! Ich will, dass du stirbst!
Als Jill Toby anstarrte, bemerkte sie, wie sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte. Sie zeigten Schock und Unglauben und begannen dann, sich mit Hass und einer so nackten Feindseligkeit zu füllen, dass Jill unwillkürlich einen Schritt vom Bett zurücktrat. Ihr wurde bewusst, was passiert war: Sie hatte ihre Gedanken laut ausgesprochen.
Sie drehte sich um und floh aus dem Zimmer.
Gegen Morgen hörte es auf zu regnen. Tobys alter Rollstuhl war vom Keller heraufgeholt worden. Die Tagesschwester fuhr Toby in seinem Stuhl in den Garten hinaus, damit er ein wenig Sonne abbekam. Jill hörte das Geräusch des Rollstuhls, der durch die Diele zum Fahrstuhl geschoben wurde. Sie wartete ein paar Augenblicke und ging dann hinunter. Sie kam an der Bibliothek vorbei, als das Telefon läutete. Es war David, der aus Washington anrief.
»Wie geht es dir heute?« Es klang warm und liebevoll.
Sie war noch nie so froh gewesen, seine Stimme zu hören. »Mir geht's gut, David.«
»Ich wünschte, du wärest bei mir, Liebling.«
»Ich auch. Ich liebe dich so sehr. Und ich brauche dich. Ich möchte, dass du mich in deinen Armen hältst. O David…«
Instinktiv drehte Jill sich um. Toby war in der Halle, festgeschnallt im Rollstuhl, wo ihn die Schwester einen Augenblick allein gelassen hatte. Die blauen Augen funkelten Jill Hasserfüllt und mit einer solchen Arglist an, dass es wie ein körperlicher Schlag war. Seine Gedanken sprachen zu ihr durch seine Augen, schrieen sie an: Ich bringe dich um! Jill ließ entsetzt den Hörer fallen.
Sie rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinauf, spürte, wie Tobys Hass sie wie eine gewalttätige, böse Kraft verfolgte. Sie blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer, lehnte jedes Essen ab. Sie saß in einem tranceähnlichen Zustand in einem Sessel, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Augenblick am Telefon. Toby wusste. Er wusste. Sie konnte ihm nicht mehr gegenübertreten.
Schließlich kam die Nacht. Es war Mitte Juli, und die Luft hielt noch die Hitze des Tages. Jill öffnete weit die Schlafzimmerfenster, um die wenn auch schwache Brise einzufangen.
In Tobys Zimmer hatte Schwester Gallagher Dienst. Sie ging auf Zehenspitzen hinein, um einen Blick auf ihren Patienten zu werfen. Schwester Gallagher wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen, dann wäre es ihr vielleicht möglich, dem armen Mann zu helfen. Sie zog die Decken um
Toby fest. »Jetzt schlafen Sie gut«, sagte sie heiter. »Ich komme wieder, um nach Ihnen zu sehen.« Keine Reaktion. Er bewegte nicht einmal die Augen, um sie anzublicken.
Vielleicht ist es ganz gut, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann, dachte Schwester Gallagher. Sie warf ihm einen letzten Blick zu und zog sich dann in ihren kleinen Aufenthaltsraum zurück, um sich eine späte Fernsehsendung anzusehen. Schwester Gallagher liebte Talk-Shows. Sie liebte es, Filmstars über sich selbst plaudern zu sehen. Das machte sie so furchtbar menschlich, fast wie gewöhnliche, alltägliche Leute. Sie stellte den Apparat leise, damit ihr Patient nicht gestört würde. Aber Toby Temple hätte es auf keinen Fall gehört. Seine Gedanken waren woanders.
Das Haus schlief ruhig und fest in der gut bewachten Geborgenheit des Bel-Air-Waldes. Vom Sunset Boulevard weit unten trieben gedämpft ein paar verschwommene Verkehrsgeräusche herauf. Schwester Gallagher sah sich einen späten Film an. Sie wünschte, es wäre einer der alten Toby-Temple-Filme. Das fände sie aufregend: Mr. Temple im Fernsehen zu sehen und zu wissen, dass er persönlich hier war, nur ein paar Meter von ihr entfernt.
Gegen vier Uhr morgens nickte Schwester Gallagher mitten in einem Horrorfilm ein.
In Tobys Schlafzimmer herrschte tiefe Stille.
In Jills Zimmer war das einzige vernehmbare Geräusch das Ticken der Uhr auf ihrem Nachttisch. Jill lag nackt im Bett. Sie schlief fest und hielt mit einem Arm ihr Kopfkissen umschlungen. Ihr Körper hob sich dunkel von den weißen Laken ab. Die Straßengeräusche waren gedämpft und klangen weit entfernt.
Jill warf sich ruhelos im Schlaf herum und fröstelte. Sie träumte, dass sie und David auf ihrer Hochzeitsreise in Alaska waren. Sie wanderten über eine weite, froststarre Ebene, und plötzlich kam ein Sturm auf. Der Wind wehte ihnen eisige Luft in die Gesichter, und sie konnten kaum atmen. Jill wandte sich nach David um, aber er war fort. Sie befand sich allein in der kalten Arktis, hustete und rang nach Luft.
Ein ersticktes Keuchen weckte Jill. Sie hörte ein grässliches, japsendes Schnaufen, ein Todesröcheln, und sie schlug die Augen auf. Das Geräusch kam aus ihrer eigenen Kehle. Sie konnte nicht atmen. Ein eisiger Luftmantel überzog sie wie eine obszöne Decke, liebkoste ihren nackten Körper, streichelte ihre Brüste, küsste ihre Lippen mit einem kalten, übelriechenden Atem, der nach Grab roch. Jills Herz klopfte wie wild, als sie um Luft rang. Ihre Lungen brannten vor Kälte. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und es war, als hielte ein unsichtbares Gewicht sie nieder. Sie wusste, dass es ein Traum sein musste, aber gleichzeitig konnte sie dieses scheußliche Röcheln in ihrer Kehle hören, als sie nach Atem rang. Sie starb. Aber konnte man in einem bösen Traum sterben? Jill spürte, wie kalte Fühler ihren Körper erforschten, ihr zwischen die Beine und in sie hineindrangen, sie ausfüllten, und mit einer plötzlichen Gewissheit, die ihr Herz stocken ließ, erkannte sie, dass es Toby war. Irgendwie, auf irgendeine Art war es Toby. Und das aufwallende Entsetzen gab Jill die Kraft, sich ans Fußende vorzukrallen, nach Atem ringend, mit Geist und Körper um ihr Leben kämpfend. Sie erreichte den Boden, richtete sich mühsam auf und rannte auf die Tür zu, spürte, wie die Kälte sie verfolgte, sie umgab, nach ihr griff. Ihre Finger fanden den Türknauf und drehten ihn. Keuchend rannte sie in die Diele hinaus, ihre ausgehungerten Lungen mit Sauerstoff füllend.
Die Diele war warm und ruhig. Jill stand mit unkontrollierbar klappernden Zähnen da. Sie drehte sich um und blickte in ihr Zimmer. Es sah normal und friedlich aus. Ein Alptraum hatte sie in seinen Krallen gehalten. Jill zögerte einen Augenblick, ehe sie langsam durch die Tür zurückging. Ihr Zimmer war warm. Sie hatte nichts zu befürchten. Natürlich konnte Toby ihr nichts antun.
In ihrem Aufenthalts räum wachte Schwester Gallagher auf und ging, um nach ihrem Patienten zu sehen.
Toby Temple lag im Bett, genau, wie sie ihn verlassen hatte. Seine Augen starrten zur Decke empor, auf etwas gerichtet, das Schwester Gal-lagher nicht sehen konnte.
Danach kehrte der Alptraum regelmäßig wieder, wie das finstere Omen eines Verhängnisses, die Vorausahnung eines kommenden Schreckens. Langsam entstand in Jill ein namenloses Entsetzen. Wo sie sich auch im Haus aufhielt, überall spürte sie Tobys Gegenwart. Wenn die Schwester ihn ausfuhr, konnte Jill ihn hören. Tobys Rollstuhl gab ein hohes Quietschen von sich, und es zerrte an Jills Nerven, wenn sie es hörte. Ich muss ihn in Ordnung bringen lassen, dachte sie. Sie vermied es, auch nur in die Nähe von Tobys Zimmer zu gehen, aber es spielte keine Rolle. Er war überall anwesend und lauerte auf sie.
Sie hatte jetzt ständig Kopfschmerzen, ein wildes, rhythmisches Klopfen, das ihr keine Ruhe ließ. Sie wünschte, dass der Schmerz nur eine Stunde lang nachließe, eine Minute, eine Sekunde. Sie musste schlafen. Sie ging ins Dienstmädchenzimmer hinter der Küche, so weit von Tobys Wohntrakt entfernt wie möglich. Das Zimmer war warm und still. Jill legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Sie schlief sofort ein.
Sie wurde durch die stinkende, eisige Luft geweckt, die das Zimmer füllte, nach ihr griff und versuchte, sie einzuhüllen. Jill sprang auf und rannte zur Tür hinaus.
Die Tage waren schon schrecklich genug, aber die Nächte waren noch schlimmer. Sie liefen immer nach demselben Schema ab. Jill ging in ihr Zimmer und legte sich ins Bett, kämpfte darum, wach zu bleiben, fürchtete einzuschlafen, weil sie wusste, dass Toby kommen würde.
Aber ihr erschöpfter Körper gewann die Oberhand, und schließlich schlief sie ein.
Sie wurde durch die Kälte geweckt. Sie lag zitternd im Bett, fühlte die eisige Luft an sich heraufkriechen, und eine Woge des Bösen überschwemmte sie wie ein schrecklicher Fluch. Sie sprang auf und floh in stummem Entsetzen.
Es war drei Uhr morgens.
Jill war in ihrem Sessel über einem Buch eingeschlafen. Allmählich wachte sie auf und öffnete die Augen in dem stockdunklen Schlafzimmer. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Dann wusste sie, was es war: Als sie eingeschlafen war, hatten alle Lichter gebrannt. Sie fühlte ihr Herz rasend klopfen, und sie dachte: Kein Grund zur Aufregung, Schwester Gallagher muss hereingekommen sein und die Lichter gelöscht haben.
Dann hörte sie das Geräusch. Es kam durch die Halle… ein Quietschen… Quietschen… Toby s Rollstuhl. Er bewegte sich auf ihre Schlafzimmertür zu. Jill sträubten sich die Nackenhaare. Es ist nur ein Ast, der im Wind gegen das Haus klopft, oder ein Knarren im Dachgebälk, sagte sie sich. Doch sie wusste, dass es das nicht war. Sie hatte dieses Geräusch schon zu oft gehört. Quietschen… Quietschen… wie die Musik des Todes. Es kann nicht Toby sein, dachte sie. Er liegt hilflos in seinem Bett. Ich verliere noch den Verstand. Sie hörte, wie das Geräusch näher kam. Jetzt war es an ihrer Tür. Nun war es nicht mehr zu vernehmen. Dann folgte plötzlich ein Splittern und dann Stille.
Jill verbrachte den Rest der Nacht in der Dunkelheit in ihren Sessel gekauert, zu verstört, um sich zu bewegen.
Am Morgen fand sie vor ihrer Schlafzimmertür eine zerbrochene Vase auf dem Boden, die von einem Ständer in der Diele heruntergestoßen worden war.
Jill sprach mit Dr. Kaplan. »Glauben Sie, dass der Geist den Körper beherrschen kann?« fragte sie.
Er sah sie fragend an. »Wie meinen Sie das?«
»Wenn Toby – unbedingt aus seinem Bett heraus wollte, würde er das fertigbringen?«
»Sie meinen ohne Hilfe? In seiner augenblicklichen Verfassung?« Er warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Er ist absolut unfähig, sich zu bewegen, vollkommen unfähig.«
Jill gab sich nicht zufrieden. »Wenn – wenn er wirklich entschlossen wäre aufzustehen – wenn es irgend etwas gäbe, was ihn dazu zwingen könnte…«
Dr. Kaplan schüttelte den Kopf. »Unser Verstand gibt dem Körper Befehle, aber wenn der physische Bewegungsapparat blockiert ist, wenn die Befehle des Gehirns nicht an die Muskeln übermittelt werden können, dann bleiben die Signale ohne Folgen.«
Sie musste es genau wissen. »Glauben Sie, dass Gegenstände durch den Geist bewegt werden können?«
»Meinen Sie Telekinese? Es werden eine Menge Experimente damit gemacht, aber niemand konnte bisher Beweise vorlegen, die mich überzeugt hätten.«
Da war aber die zerbrochene Vase vor ihrer Schlafzimmertür.
Jill wollte ihm davon erzählen, von der kalten Luft, die ihr immer nachwehte, von Tobys Rollstuhl vor ihrer Tür, aber Dr. Kaplan würde nur denken, dass sie verrückt sei. War sie es? War etwas mit ihr nicht in Ordnung? Verlor sie den Verstand?
Als Dr. Kaplan gegangen war, trat Jill vor den Spiegel, um sich anzusehen. Sie war über ihren Anblick entsetzt. Ihre Wangen waren eingefallen, und ihre Augen standen riesig in einem blassen, knochigen Gesicht. Wenn ich so weitermache, dachte Jill, werde ich vor Toby sterben. Sie sah ihr strähniges, glanzloses Haar und ihre spröden, rissigen Fingernägel an. David darf mich nie so sehen. Ich muss auf mich achten. Von jetzt an, sagte sie sich, gehst du einmal in der Woche in den Schönheitssalon, und du wirst drei Mahlzeiten täglich essen und acht Stunden schlafen.
Am nächsten Morgen vereinbarte Jill einen Termin mit dem Schönheitssalon. Sie war erschöpft, und als sie unter der warmen, bequemen Trockenhaube saß, wurde sie von dem monotonen Summen eingeschläfert, und der Alptraum begann wieder. Sie lag im Bett und schlief. Sie konnte Toby hören, wie er in seinem Rollstuhl in ihr Schlafzimmer kam… Quietschen… Quietschen. Langsam richtete er sich in seinem Stuhl auf, stellte sich auf die Beine und bewegte sich auf sie zu, grinsend, die skelettartigen Hände nach ihrer Kehle ausgestreckt. Jill wachte wild schreiend auf und versetzte den Schönheitssalon in Aufruhr. Sie flüchtete, ohne sich das Haar auskämmen zu lassen.
Nach diesem Erlebnis hatte Jill Angst, das Haus wieder zu verlassen. Und Angst, darin zu bleiben.
Mit ihrem Kopf schien etwas nicht zu stimmen. Jetzt waren es nicht mehr nur die Kopfschmerzen. Sie wurde vergesslich. Sie ging aus irgendeinem Grund nach unten in die Küche, stand da und wusste nicht mehr, was sie hier gewollt hatte. Ihr Gedächtnis begann ihr Streiche zu spielen. Einmal kam Schwester Gordon, um etwas mit ihr zu besprechen; Jill war erstaunt, eine Schwester hier zu sehen, und dann fiel ihr plötzlich ein, warum sie da war. Der Regisseur wartete auf den Einsatz von Jill. Sie versuchte, sich an ihren Text zu erinnern. Ich fürchte, nicht sehr gut, Doktor. Sie musste mit dem Regisseur sprechen und herausbekommen, wie sie es seiner Meinung nach sagen sollte. Schwester Gordon hielt ihre Hand und sagte: »Mrs. Temple! Mrs. Temple! Fühlen Sie sich nicht wohl?« Und Jill kehrte wieder in ihre Umgebung, in die Gegenwart zurück, von Schreck gepackt über das, was mit ihr vorging. Sie wusste, dass sie so nicht weitermachen konnte. Sie musste unbedingt herausbekommen, ob ihr Verstand gelitten hatte oder ob Toby doch in der Lage war, sich irgendwie zu bewegen, ob er einen Weg gefunden hatte, sie anzugreifen, und sie umzubringen versuchte.
Sie musste ihn sehen. Sie zwang sich, durch den langen Gang zu To-bys Schlafzimmer zu gehen. Einen Augenblick stand sie davor, straffte sich, und dann betrat Jill Tobys Zimmer.
Toby lag im Bett, und die Schwester wusch ihn mit dem Schwamm ab. Sie blickte auf, sah Jill und sagte: »Nanu, da ist ja Mrs. Temple. Wir nehmen gerade ein hübsches Bad, nicht wahr?«
Jill wandte ihren Blick der Gestalt auf dem Bett zu.
Tobys runzlige Beine und Arme waren zu strickähnlichen Anhängseln an einem zusammengeschrumpften, verkrümmten Rumpf geworden. Zwischen seinen Beinen lag wie eine lange, obszöne Schlange sein nutzloser Penis, schlapp und hässlich. Die gelbe Färbung war aus Tobys Gesicht verschwunden, aber das starrende, idiotische Grinsen war immer noch da. Der Körper war tot, aber die Augen waren erschreckend lebendig. Durchbohrend, forschend, abwägend, planend, hassend; arglistige blaue Augen, in denen die geheimen Pläne, die tödliche Entscheidung standen. Es ist wichtig, stets daran zu denken, dass sein Verstand nicht gelitten hat, hatte der Arzt zu ihr gesagt. Er konnte denken und fühlen und hassen. Dieser Verstand hatte nichts anderes zu tun, als seine Rache zu planen, sich einen Weg auszudenken, um sie zu vernichten. Toby wünschte ihren Tod, wie sie seinen Tod wünschte.
Als Jill jetzt auf ihn hinabblickte, in diese vor Abscheu lodernden Augen starrte, konnte sie ihn sagen hören: Ich werde dich töten, und sie konnte die Wellen des Hasses fühlen, die sie wie körperliche Schläge trafen.
Jill starrte in diese Augen, und sie erinnerte sich an die zerbrochene Vase, und sie wusste, dass keiner der Alpträume Einbildung gewesen war. Er hatte einen Weg gefunden.
Sie wusste jetzt, dass es Tobys Leben gegen das ihre galt.
Nachdem Dr. Kaplan Toby eingehend untersucht hatte, kam er zu Jill. »Meiner Meinung nach sollten Sie die Therapie im Schwimmbecken aufgeben«, sagte er. »Es ist reine Zeitverschwendung. Ich hatte gehofft, wir könnten damit eine gewisse Stärkung der Muskulatur erreichen, aber es schlägt nicht an. Ich werde mit dem Heilgymnastiker sprechen.«
»Nein!« Es war ein schriller Schrei.
Dr. Kaplan blickte sie überrascht an. »Jill, ich weiß, was Sie schon einmal für Toby getan haben. Aber diesmal ist es hoffnungslos. Ich -«
»Wir dürfen nicht aufgeben. Noch nicht.« In ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit.
Dr. Kaplan zögerte und hob dann die Schultern. »Nun, wenn es Ihnen soviel bedeutet, aber -«
»Es ist mir sehr wichtig.«
In diesem Augenblick war es das Wichtigste auf der Welt. Es würde Jill das Leben retten.
Sie wusste jetzt, was sie tun musste.
Der folgende Tag war ein Freitag. David rief Jill an, um ihr zu sagen, dass er geschäftlich nach Madrid müsse.
»Möglicherweise kann ich dich am Wochenende nicht anrufen.«
»Du wirst mir fehlen«, sagte Jill. »Sehr.«
»Du mir auch. Geht es dir gut? Du klingst so anders. Bist du müde?« Jill zwang sich, die Augen offenzuhalten, den entsetzlichen Schmerz in ihrem Kopf zu vergessen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letztemal gegessen oder geschlafen hatte. Sie war so schwach, dass sie kaum stehen konnte. Sie legte alle Kraft in ihre Stimme. x»Mir geht es gut, David.«
»Ich liebe dich, Darling. Pass gut auf dich auf.«
»Das tue ich, David. Ich liebe dich. Vergiss es nicht.« Gleichgültig, was geschieht.
Sie hörte den Wagen des Heilgymnastikers in die Auffahrt einbiegen und eilte mit klopfendem Herzen und zitternden Beinen, die sie kaum zu tragen vermochten, die Treppe hinunter. Sie öffnete die Tür, als der Heilgymnastiker gerade klingeln wollte.
»Morgen, Mrs. Temple«, sagte er. Er wollte hereinkommen, doch Jill vertrat ihm den Weg. Er sah sie überrascht an.
»Dr. Kaplan hat entschieden, Mr. Temples heilgymnastische Übungen abzusetzen«, sagte Jill.
Das Gesicht des Heilgymnastikers verriet überraschten Unwillen. Er war also vergeblich hier herausgefahren. Das hätte man ihm auch früher mitteilen können. Gewöhnlich hätte er sich über diese Behandlung beschwert. Aber Mrs. Temple war so bewunderungswürdig mit ihren furchtbaren Sorgen. Er lächelte verständnisvoll und sagte: »Schon gut, Mrs. Temple. Ich verstehe.«
Er ging zurück zu seinem Wagen.
Jill wartete, bis sie den Wagen fortfahren hörte. Dann ging sie wieder nach oben. Auf halbem Weg wurde sie erneut von einem Schwindelanfall gepackt, und sie musste sich ans Treppengeländer klammern, bis er abebbte. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück. Täte sie es, würde sie sterben.
Sie ging auf die Tür von Tobys Zimmer zu, drehte den Knauf und trat ein. Schwester Gallagher saß in einem Sessel und arbeitete an einer Stickerei. Sie blickte überrascht auf, als sie Jill in der Tür stehen sah. »Oh!« sagte sie. »Sie kommen uns besuchen. Wie nett.« Sie drehte sich zum Bett hin. »Ich weiß, dass Mr. Temple sich freut. Freuen wir uns nicht, Mr. Temple?«
Toby saß, von Kissen gestützt, aufrecht im Bett. Seine Augen sandten Jill die Botschaft: Ich werde dich töten.
Jill wandte ihre Augen ab und ging zu Schwester Gallagher hinüber. »Ich fürchte, dass ich mich in letzter Zeit meinem Mann nicht genügend gewidmet habe.«
»Nun ja, das habe ich gelegentlich auch schon gedacht«, zwitscherte Schwester Gallagher. »Aber dann habe ich gesehen, dass Sie selber krank sind, und sagte mir deshalb -«
»Es geht mir wieder viel besser«, unterbrach Jill sie. »Ich wäre gern allein mit Mr. Temple.«
Schwester Gallagher sammelte ihre Stickereiutensilien zusammen und stand auf. »Selbstverständlich«, sagte sie, »das wird uns bestimmt sehr freuen.« Sie drehte sich zu dem grinsenden Gesicht im Bett um. »Ist es nicht so, Mr. Temple?« Zu Jill gewandt, fügte sie hinzu: »Ich werde schnell in die Küche hinuntergehen und mir eine gute Tasse Tee machen.«
»Nein. Ihr Dienst ist in einer halben Stunde beendet. Sie können schon jetzt gehen. Ich werde hierbleiben, bis Schwester Gordon kommt.« Jill schenkte ihr ein kurzes, beruhigendes Lächeln. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde bei ihm bleiben.«
»Ich glaube, das wäre für mich eine willkommene Gelegenheit, um einzukaufen, und -«
»Fein«, sagte Jill. »Dann gehen Sie nur.«
Jill stand unbeweglich da, bis sie die Haustür zufallen und Schwester Gallaghers Wagen abfahren gehört hatte. Als das Motorengeräusch in der Sommerluft erstorben war, drehte sich Jill zu Toby um.
Seine Blicke waren beharrlich auf ihr Gesicht geheftet. Sie zwang sich, ans Bett zu treten, schlug die Bettdecke zurück und blickte auf die ausgezehrte, gelähmte Gestalt mit den kraftlosen Beinen hinunter.
Der Rollstuhl stand in einer Ecke. Jill fuhr ihn neben das Bett und schob ihn so hin, dass sie Toby hineinsetzen konnte. Sie streckte die Arme nach ihm aus und hielt plötzlich inne. Sie musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihn zu berühren. Das ausgemergelte Gesicht mit dem idiotisch grinsenden Mund und den hellen, Gift sprühenden blauen Augen war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sie beugte sich vor und zwang sich, Toby an den Armen hochzuheben. Er war fast gewichtslos, aber Jill konnte es wegen ihrer körperlichen Erschöpfung kaum bewältigen. Als sie seinen Körper berührte, hatte sie das Gefühl, von eisiger Luft eingehüllt zu werden. Der Druck in ihrem Kopf wurde unerträglich. Vor ihren Augen erschienen helle, farbige Punkte, und sie begannen zu tanzen, immer schneller, bis ihr schwindlig wurde. Sie glaubte, ohnmächtig zu werden, wusste aber, dass sie das nicht zulassen durfte. Nicht, wenn sie am Leben bleiben wollte. Mit übermenschlicher Anstrengung zerrte sie Tobys schlaffen Körper in den Rollstuhl und gurtete ihn fest. Sie blickte auf ihre Uhr. Ihr blieben nur noch zwanzig Minuten.
Jill brauchte fünf Minuten, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen, sich einen Badeanzug anzuziehen und in Tobys Zimmer zurückzukehren.
Sie löste die Bremse am Rollstuhl und schob Toby durch den Gang in den Lift. Sie stand hinter ihm, während sie abwärts fuhren, damit sie seine Augen nicht sehen musste. Aber sie konnte sie fühlen. Und sie konnte die ungesunde, feuchte Kälte der Luft spüren, die sich im Fahrstuhl ausbreitete, sie einhüllte, überwältigte, ihre Lungen mit Fäulnis anfüllte, bis sie zu würgen begann. Sie konnte nicht atmen. Sie sank keuchend in die Knie, kämpfte darum, nicht bewusstlos zu werden, solange sie mit ihm in dem Lift gefangen war. Sie war der Bewusstlosigkeit nahe, als sich die Fahrstuhltür öffnete. So schnell sie konnte, kroch sie in das warme Sonnenlicht hinaus, lag tief atmend auf dem Boden und sog die frische Luft ein. Langsam kam sie wieder zu Kräften. Sie drehte sich zum Fahrstuhl um. Toby wartete lauernd im Rollstuhl. Jill schob ihn rasch aus dem Lift und auf das Schwimmbecken zu. Es war ein herrlicher, wolkenloser Tag, warm und balsamisch, und die Sonne funkelte auf dem blauen, klaren Wasser.
Jill rollte den Krankenstuhl an den Rand des Beckens, wo das Wasser tief war, und legte die Bremse vor. Sie trat vor den Rollstuhl. Tobys Augen waren wachsam und verwirrt auf sie gerichtet. Jill griff nach den Gurten, die Toby im Stuhl hielten, und zurrte sie so fest, wie sie konnte; zog mit aller ihr noch verbliebenen Kraft und spürte, dass ihr von der Anstrengung wieder schwindlig wurde. Dann war es geschafft. Jill sah, wie Tobys Augen sich veränderten, als er begriff, was geschah, und wie sie sich mit panischer Angst füllten.
Jill löste die Bremse, packte den Griff des Rollstuhls und schob ihn auf das Wasser zu. Toby versuchte, seine gelähmten Lippen zu bewegen, versuchte zu schreien, doch er brachte keinen Laut heraus, und die Wirkung war entsetzlich. Sie konnte es nicht ertragen, in seine Augen zu blicken. Sie wollte nicht wissen, was er empfand.
Sie schob den Rollstuhl ganz an das Becken heran.
Dort blieb er hängen. Er wurde von einer Betonschwelle am Rand zurückgehalten. Sie drückte kräftig, aber er rollte nicht über die Schwelle. Es war, als ob Toby durch seine bloße Willenskraft den Rollstuhl zurückhielt. Jill bemerkte, wie er, um sein Leben kämpfend, sich in dem Stuhl aufzurichten versuchte. Er würde loskommen, sich befreien, mit seinen knochigen Fingern nach ihrer Kehle greifen… Sie konnte hören, wie er schrie: Ich will nicht sterben… Ich will nicht sterben, und sie wusste nicht, ob es ihre Einbildung war oder ob es tatsächlich geschah. Unter dem Ansturm des Entsetzens kehrte plötzlich ihre Kraft zurück, und sie stieß, so kräftig sie konnte, gegen die Rücklehne des Rollstuhls. Er sprang nach vorn und aufwärts in die Luft und hing dort, wie es schien, bewegungslos eine Ewigkeit, ehe er laut aufklatschend ins Schwimmbecken stürzte. Der Rollstuhl schien noch lange auf dem Wasser zu schwimmen, ehe er langsam zu sinken begann. Die Wasserwirbel drehten den Stuhl um, so dass Jill als letztes Tobys Augen sah, die sie in die Hölle verfluchten, ehe sich das Wasser über ihnen schloss.
Sie stand eine Ewigkeit da, schauderte in der warmen Mittagssonne und ließ die Kraft in ihren Geist und Körper zurückfließen. Als sie endlich fähig war, sich wieder zu bewegen, stieg sie über die Schwimmbadtreppe ins Wasser hinunter, damit ihr Badeanzug nass wurde. Dann ging sie ins Haus, um die Polizei zu rufen.
Toby Temples Tod machte Schlagzeilen in der ganzen Welt. Und wenn Toby wie ein Volksheld gefeiert wurde, verehrte man Jill wie eine Heldin. Hunderttausende von Wörtern wurden über sie gedruckt, ihre Bilder erschienen in allen Medien. Ihre große Liebesgeschichte wurde wieder und wieder berichtet, und das tragische Ende gab ihr eine noch größere Eindringlichkeit. Briefe und Beileidstelegramme strömten in ihr Haus: von Staatsoberhäuptern, Hausfrauen, Politikern, Millionären, Sekretärinnen. Die Welt hatte einen persönlichen Verlust erlitten; Toby hatte die Gabe seines Lachens mit seinen Verehrern geteilt, und sie würden ihm ewig dankbar sein. Die Ätherwellen waren voller Lobpreisungen über ihn, und jeder Sender würdigte ihn.
Es würde nie mehr einen zweiten Toby Temple geben.
Die Gerichtsverhandlung über die Todesursache fand im Kriminalgerichtsgebäude an der Grand Avenue im Geschäftszentrum von Los Angeles in einem kleinen, beengten Gerichtssaal statt. Ein Untersuchungsrichter führte den Vorsitz der Verhandlung vor der mit sechs Geschworenen besetzten Jury.
Der Saal war brechend voll. Als Jill ankam, stürzten sich Fotografen und Reporter und Fans auf sie. Sie trug ein einfaches schwarzes Kostüm. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, hatte aber nie schöner ausgesehen. In den wenigen Tagen seit Tobys Tod war Jill wieder aufgeblüht. Zum erstenmal seit Monaten konnte sie tief und traumlos schlafen. Sie hatte einen unersättlichen Appetit, und ihre Kopfschmerzen waren verflogen. Der Dämon war verschwunden.
Jill hatte täglich mit David telefoniert. Er wollte zur Gerichtsverhandlung kommen, aber Jill hatte darauf bestanden, dass er fortbliebe. Später würden sie genug Zeit füreinander haben.
»Für den Rest unseres Lebens«, hatte David ihr gelobt.
Sechs Zeugen wurden in der Verhandlung aufgerufen. Schwester Gal-lagher, Schwester Gordon und Schwester Johnson sagten über den allgemeinen Tagesablauf ihres Patienten und über seinen Zustand aus. Schwester Gallagher war bei ihrer Zeugenaussage.
»Um welche Zeit wäre Ihr Dienst am fraglichen Morgen beendet gewesen?« fragte der Vorsitzende.
»Um zehn.«
»Wann gingen Sie tatsächlich?«
Zögern. »Neun Uhr dreißig.«
»War es üblich, Mrs. Gallagher, dass Sie Ihren Patienten verließen, ehe Ihre Ablösung kam?«
»Nein, Sir. Es war das erstemal.«
»Würden Sie erklären, wie Sie dazu kamen, an diesem Tag früher zu gehen?«
»Es war Mrs. Temples Vorschlag. Sie wollte mit ihrem Mann allein sein.«
»Danke. Das ist alles.«
Schwester Gallagher verließ den Zeugenstand. Natürlich war Toby Temples Tod ein Unfall, dachte sie. Es ist ein Jammer, dass man eine so großartige Frau wie Jill Temple einer derartig schweren Prüfung unterziehen muss. Schwester Gallagher blickte zu Jill hinüber und empfand einen leisen Stich von Schuld. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie in Mrs. Temples Schlafzimmer gegangen war und sie im Sessel eingeschlafen vorgefunden hatte. Schwester Gallagher hatte leise das Licht ausgedreht und die Tür geschlossen, damit Mrs. Temple nicht gestört wurde. In der dunklen Diele hatte Schwester Gallagher eine Vase auf einem Ständer angestoßen, die hinuntergefallen und zerbrochen war. Sie hatte es Mrs. Temple gestehen wollen, aber die Vase sah sehr kostbar aus, und als Mrs. Temple es nicht erwähnt hatte, beschloss Schwester Gallagher, nichts zu sagen.
Der Heilgymnastiker war im Zeugenstand.
»Sie haben gewöhnlich mit Mr. Temple täglich Übungen gemacht?«
»Ja, Sir.«
»Fanden diese Übungen im Schwimmbecken statt?«
»Ja, Sir. Das Wasser wurde auf sechsunddreißig Grad angeheizt und -«
»Haben Sie Mr. Temple an dem fraglichen Tag behandelt?«
»Nein, Sir.«
»Würden Sie uns bitte sagen, warum?« »Sie schickte mich fort.« »Mit >sie< meinen Sie Mrs. Temple?« »Genau.«
»Hat sie Ihnen irgendeinen Grund dafür angegeben?« »Sie sagte, dass Dr. Kaplan die Übungen mit ihm nicht mehr wünschte.«
»Sie verließen also das Haus, ohne Mr. Temple gesehen zu haben?« »So ist es. Ja.«
Dr. Kaplan trat in den Zeugenstand.
»Mrs. Temple rief Sie nach dem Unfall an, Dr. Kaplan. Haben Sie den
Verstorbenen sofort nach Ihrer Ankunft auf dem Schauplatz untersucht?«
»Ja. Die Polizei hatte die Leiche aus dem Schwimmbecken herausgezogen. Sie war immer noch im Rollstuhl angeschnallt. Der Polizeiarzt und ich untersuchten die Leiche und stellten fest, dass es für jeden Wiederbelebungsversuch zu spät war. Beide Lungen waren mit Wasser gefüllt. Wir konnten keinerlei Lebenszeichen mehr entdecken.«
»Was haben Sie dann getan, Dr. Kaplan?«
»Ich habe mich um Mrs. Temple gekümmert. Sie befand sich in einem Zustand akuter Hysterie. Ich war ihretwegen sehr beunruhigt.«
»Dr. Kaplan, war zwischen Ihnen und Mrs. Temple eine Diskussion über die Absetzung der heilgymnastischen Übungen vorangegangen?«
»Ja. Ich sagte ihr, dass sie meiner Meinung nach Zeitverschwendung wären.«
»Wie hat Mrs. Temple darauf reagiert?«
Dr. Kaplan blickte zu Jill hinüber und antwortete: »Sie reagierte ungewöhnlich. Sie bestand darauf, dass wir es weiter versuchten.« Er zögerte. »Da ich unter Eid stehe und diese Untersuchungskommission ein Interesse an der Wahrheit haben muss, fühle ich mich verpflichtet, noch etwas zu sagen.«
Lautlose Stille hatte sich über den Saal gesenkt. Jill starrte ihn an. Dr. Kaplan wandte sich an die Jury.
»Ich möchte hier zu Protokoll geben, dass Mrs. Temple wahrscheinlich die großartigste und tapferste Frau ist, der zu begegnen ich je die Ehre hatte.« Alle Augen im Saal waren nun auf Jill gerichtet. »Als ihr Mann das erstemal einen Schlaganfall erlitt, glaubte keiner von uns, dass er auch nur die geringste Chance hätte zu genesen. Nun, sie pflegte ihn ganz allein gesund. Sie tat für ihn, was kein Arzt, den ich kenne, hätte tun können. Auch wenn ich mir noch so große Mühe geben würde, ich könnte Ihnen nicht schildern, was Mrs. Temple für ihren Mann getan hat.« Er warf einen Blick zu Jill hinüber und sagte: »Sie ist ein Vorbild für uns alle.«
Die Zuschauer brachen in Beifall aus.
»Das wäre alles, Doktor«, sagte der Vorsitzende. »Ich möchte Mrs. Temple in den Zeugenstand rufen.«
Alle beobachteten Jill, als sie sich erhob und langsam zur Vereidigung in den Zeugenstand schritt.
»Ich weiß, was für eine Qual das für Sie ist, Mrs. Temple, und ich will versuchen, es so schnell wie möglich zu beenden.«
»Danke.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Als Dr. Kaplan sagte, dass die heilgymnastischen Übungen eingestellt werden sollten, warum wollten Sie sie trotzdem fortsetzen?«
Sie blickte zu ihm auf, und er konnte den tiefen Schmerz in ihren Augen sehen. »Weil ich wollte, dass mein Mann jede Chance bekäme, wieder gesund zu werden. Toby liebte das Leben, und ich wollte es ihm wiederschenken. Ich -« Ihre Stimme schwankte, doch sie fuhr fort: »Ich musste ihm allein helfen.«
»Am Todestag Ihres Mannes kam der Heilgymnastiker ins Haus, und Sie schickten ihn weg.«
»Ja.«
»Obgleich Sie vorhin sagten, dass Sie die Fortsetzung der Behandlung wünschten. Können Sie Ihr Vorgehen erklären?«
»Das ist ganz einfach. Ich fühlte, dass unsere Liebe als einziges eine Aussicht bot, Toby zu heilen. Ich hatte ihn zuvor gesund gepflegt…« Sie brach ab, unfähig weiterzusprechen. Dann fasste sie sich sichtlich mühsam und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich musste ihm beweisen, wie sehr ich ihn liebte, wie sehr ich wünschte, dass er wieder gesund würde. «
Jeder im Gerichtssaal beugte sich vor, um auch das leiseste Wort mitzubekommen.
»Würden Sie uns erzählen, was am Unfallmorgen geschah?«
Für eine volle Minute herrschte Stille, während Jill ihre Kräfte sammelte; dann sprach sie: »Ich ging in Tobys Zimmer. Er schien glücklich zu sein, mich zu sehen. Ich sagte ihm, dass ich ihn selber zum Schwimmbecken bringen würde, dass ich ihn wieder gesund machen würde. Ich zog meinen Badeanzug an, damit ich mit ihm im Wasser trainieren könnte. Als ich ihn aus dem Bett in seinen Rollstuhl heben wollte, überkam mich – überkam mich eine Schwäche. Da hätte ich eigentlich merken müssen, dass ich körperlich nicht kräftig genug war für das, was ich tun wollte. Aber ich konnte es nicht lassen. Nicht, wenn ich ihm helfen wollte. Ich bekam ihn in den Rollstuhl und sprach auf dem ganzen Weg zum Schwimmbecken hinunter auf ihn ein. Ich rollte ihn an den Rand…«
Sie hielt inne, und im Saal herrschte atemlose Stille. Das einzige Geräusch kam von den eifrig stenografierenden Reportern.
»Ich beugte mich vor, um die Gurte aufzuschnallen, die Toby im Rollstuhl festhielten, und ich bekam wieder einen Schwächeanfall und sank zu Boden. Ich – ich muss unglücklicherweise die Bremse berührt haben. Der Stuhl setzte sich in Bewegung. Ich versuchte, ihn zu packen, aber er – er rollte in das Becken mit – mit Toby, der darin angeschnallt war.« Ihre Stimme klang erstickt. »Ich sprang hinterher und kämpfte darum, ihn freizubekommen, aber die Gurte waren zu fest. Ich versuchte, den Stuhl aus dem Wasser zu ziehen, aber er war – er war zu schwer. Er… war… einfach… zu… schwer.« Sie schloss einen Moment die Augen, um ihren tiefen Schmerz zu verbergen. Dann, fast flüsternd: »Ich versuchte, ihm zu helfen, und ich tötete ihn.«
Die Jury brauchte nicht einmal drei Minuten, um zu einem Urteilsspruch zu gelangen: Toby Temple war durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Clifton Lawrence saß hinten im Gerichtssaal und vernahm das Urteil.
Er war überzeugt, dass Jill Toby umgebracht hatte. Aber es gab keine Möglichkeit, das zu beweisen. Sie war davongekommen. Der Fall war erledigt.
Zur Beerdigung strömte eine Flut von Menschen herbei. Sie fand in Fo-rest Lawn an einem sonnigen Herbstmorgen statt, dem Tag, an dem Toby Temples neue Fernsehserie zum erstenmal hätte ausgestrahlt werden sollen. Tausende von Menschen wälzten sich durch das hügelige Gelände und versuchten, einen Blick auf all die Berühmtheiten zu erhaschen, die hier waren, um Toby Temple die letzte Ehre zu erweisen. Kameramänner des Fernsehens nahmen die Begräbnisfeierlichkeiten aus größerer Distanz auf und rückten zu Großaufnahmen nahe an die Stars und Produzenten und Regisseure am Grab heran. Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte einen Abgesandten geschickt. Man sah Gouverneure, Filmbosse, Präsidenten großer Unternehmen und Repräsentanten jedes Berufsverbandes, dem Toby angehört hatte: SAG und AFTRA und ASCAP und AGVA. Der Präsident der Ortsgruppe Beverly Hills der Veteranen Auswärtiger Kriege war in voller Uniform erschienen. Ebenso Abordnungen der örtlichen Polizei und Feuerwehr.
Und auch das Fußvolk war da. Die Kulissenschieber und Bühnenarbeiter und Statisten und Stuntmen, die mit Toby Temple zusammen gearbeitet hatten. Von den Garderobiers über die Beleuchter bis zu den Regieassistenten. Und viele andere; und alle waren gekommen, um einem großen Amerikaner zu huldigen. O'Hanlon und Rainger waren da und dachten an das magere Jüngelchen, das in ihr Büro bei Twentieth Century-Fox marschiert war. Wie ich höre, werdet ihr Burschen einige neue Witze für mich schreiben…Er rudert mit den Händen, als würde er Holz hacken. Wir könnten eine Holzhacker-Nummer für ihn schreiben… Er drückt zu sehr auf die Tube… Jesus, mit dem Text – was bleibt ihm anderes übrig?… Ein Komiker öffnet komische Türen. Ein Komödiant öffnet Türen komisch. Und Toby Temple hatte schwer gearbeitet und gelernt und war an die Spitze gelangt. Er war ein Verrückter, dachte Rainger, aber er war unser Verrückter.
Clifton Lawrence war da. Der kleine Agent war beim Friseur gewesen und hatte seinen Anzug bügeln lassen, aber seine Augen verrieten ihn. Es waren die Augen eines Versagers. Auch Clifton war in Erinnerungen versunken. Er erinnerte sich an jenen ersten absurden Anruf. Sam Gold-wyn möchte, dass Sie sich einen jungen Komiker ansehen… Und Tobys Auftritt in der Schule. Man braucht nicht die ganze Dose Kaviar zu essen, um zu wissen, dass er gut ist, stimmt's?… Ich habe beschlossen, als Agent für Sie tätig zu werden, Toby… Wenn Sie die Biertrinker in die
Tasche stecken, wird die Champagnerbande ein leichter Gegner für Sie sein… Ich kann Sie zum größten Star im Showgeschäft machen. Alle hatten sich um Toby Temple gerissen: die Studios, die Fernsehgesellschaften, die Nachtklubs. Sie haben so viele Klienten, dass ich manchmal den Eindruck habe, Sie kümmern sich nicht genug um mich…Es ist wie beim Gruppensex, Cliff. Irgend jemand bleibt immer mit einem Ständer zurück… Ich brauche Ihren Rat, Cliff…Es geht um das Mädchen…
Clifton Lawrence hatte eine Menge Erinnerungen.
Neben Clifton stand Alice Tanner.
Sie war in die Erinnerung an Tobys erste Vorsprache in ihrem Büro versunken. Irgendwo hinter all diesen Filmstars steckt ein junger Mann mit einer großen Begabung… Nachdem ich diese Profis gestern abend gesehen habe, glaube ich nicht, dass ich das Zeug dazu habe. Und ihre Liebe zu ihm. O Toby, ich liebe dich so sehr… Ich liebe dich auch, Alice… Dann war er gegangen. Aber sie war dankbar dafür, dass er einmal ihr gehört hatte.
Auch AI Caruso war gekommen, um Toby die letzte Ehre zu erweisen. Er war gebeugt und grauhaarig, und seine braunen Nikolausaugen standen voll Tränen. Er erinnerte sich daran, wie wunderbar Toby zu Millie gewesen war.
Sam Winters war da. Er dachte an das Vergnügen, das Toby Temple Millionen von Menschen geschenkt hatte, und er fragte sich, ob es den Schmerz aufwog, den Toby einigen anderen zugefügt hatte.
Jemand stieß Sam leise an, und als er sich umdrehte, sah er ein hübsches, etwa achtzehnjähriges schwarzhaariges Mädchen. »Sie kennen mich nicht, Mr. Winters«, sagte sie lächelnd, »aber ich habe gehört, dass Sie ein Mädchen für den neuen William-Forbes-Film suchen. Ich bin aus Ohio, und…«
David Kenyon war da. Jill hatte ihn gebeten, nicht zu kommen, aber David hatte darauf bestanden. Er wollte ihr nahe sein. Jill vermutete, dass es jetzt keinen Schaden mehr anrichten konnte. Sie hatte ihre Vorstellung beendet.
Das Stück war vorbei und ihre Rolle zu Ende. Jill war so glücklich und so müde. Es war, als ob das Fegefeuer, durch das sie gegangen war, den harten Kern der Verbitterung in ihr ausgebrannt, alle Schmerzen und Enttäuschungen und allen Hass gelöscht hätte. Jill Castle war beim Brandopfer gestorben, und Josephine Czinski war aus der Asche wiedergeboren worden. Sie hatte nun wieder Frieden, war voller Liebe für jeden und war von einer Zufriedenheit erfüllt, wie sie sie seit ihrer Jugend nicht mehr empfunden hatte. Sie war noch nie so glücklich gewesen. Sie hätte es am liebsten der ganzen Welt mitgeteilt.
Die Begräbnisfeierlichkeiten gingen zu Ende. Jemand reichte Jill den Arm, und sie ließ sich zur Limousine führen. Als sie zum Wagen kam, stand David dort und blickte sie bewundernd an. Jill lächelte ihm zu.
David nahm ihre Hände in die seinen, und sie wechselten ein paar Worte miteinander. Ein Pressefotograf machte einen Schnappschuss von ihnen.
Jill und David beschlossen, fünf Monate mit der Heirat zu warten, damit für die Öffentlichkeit die Schicklichkeit gewahrt wurde. David verbrachte einen großen Teil jener Zeit außer Landes, aber sie telefonierten jeden Tag miteinander. Vier Monate nach Tobys Beerdigung rief David Jill an und sagte: »Ich hatte einen Gedankenblitz. Warten wir nicht länger. Ich muss nächste Woche zu einer Konferenz nach Europa. Fahren wir mit der Bretagne nach Frankreich. Der Kapitän kann uns trauen. Unsere Flitterwochen verbringen wir in Paris, und von dort reisen wir so lange, wie du willst, irgendwohin. Was meinst du?« »O ja, David, ja!«
Sie umfasste das Haus noch einmal mit einem Blick und dachte an alles, was hier geschehen war. Sie erinnerte sich an ihre erste DinnerParty und an die vielen darauffolgenden Parties und an Tobys Krankheit und ihren Kampf, ihm das Leben wiederzuschenken. Und dann… hier gab es zu viele Erinnerungen. Sie war froh, von hier fortzukommen.
Davids Privatjet flog Jill nach New York. Dort wartete eine Limousine auf sie, um sie ins Regency Hotel an der Park Avenue zu bringen. Der Direktor persönlich geleitete Jill in ein riesiges Penthouse-Apartment.
»Das Hotel steht in jeder Hinsicht zu Ihren Diensten, Mrs. Temple«, sagte er. »Mr. Kenyon hat uns angewiesen, dafür zu sorgen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen.«
Zehn Minuten, nachdem Jill im Hotel eingetroffen war, rief David von Texas aus an. »Bist du gut untergebracht?« fragte er.
»Es ist ein bisschen beengt«, sagte Jill lachend. »Hier sind fünf Schlafzimmer, David. Was fange ich mit denen bloß an?«
»Wenn ich da wäre, würde ich es dir zeigen«, sagte er.
»Leere Versprechungen«, neckte sie ihn. »Wann werde ich dich sehen?«
»Die Bretagne läuft morgen mittag aus. Ich muss noch einiges hier abwickeln. Ich treffe dich an Bord des Schiffes. Ich habe die HochzeitsSuite reservieren lassen. Glücklich, Liebling?«
»Ich bin noch nie glücklicher gewesen«, versicherte Jill. Und es war wahr. Alles, was vorher geschehen war, all der Schmerz und die Pein hatten sich gelohnt. Jetzt schien es fern und verschwommen, wie ein halbvergessener Traum.
»Ein Wagen wird dich morgen früh abholen. Der Fahrer wird dir deine Schiffskarte bringen.«
»Ich werde bereit sein«, sagte Jill.
Morgen.
Das Foto von Jill und David Kenyon, das bei Tobys Beerdigung aufgenommen und an eine Zeitungskette verkauft worden war, hätte der Auslöser gewesen sein können. Auch eine unachtsame Bemerkung von einem der Angestellten des Hotels, in dem Jill wohnte, oder eines Mannschaftsmitglieds der Bretagne. Auf keinen Fall wäre es möglich gewesen, die Heiratspläne einer Persönlichkeit, die so berühmt war wie Jill Temple, geheimzuhalten. Den ersten Hinweis auf ihre bevorstehende Heirat brachte eine Meldung von Associated Press, die sowohl von den Zeitungen in den Vereinigten Staaten als auch in ganz Europa auf der ersten Seite groß herausgestellt wurde.
Auch im Hollywood Reporter und in der Daily Variety wurde darüber berichtet.
Die Limousine fuhr Punkt zehn vor dem Hotel vor. Ein Pförtner und drei Pagen luden Jills Gepäck in den Wagen. Der Morgenverkehr war mäßig, und die Fahrt zum Pier 90 nahm weniger als eine halbe Stunde in Anspruch.
Ein ranghoher Schiffsoffizier empfing Jill am Fallreep. »Es ist uns eine Ehre, Sie an Bord zu haben, Mrs. Temple«, sagte er. »Alles ist für Sie bereit. Wollen Sie mir bitte folgen?«
Er begleitete Jill aufs Promenadendeck und führte sie in eine große, luftige Suite mit einem eigenen Sonnendeck. Die Kabinen waren mit frischen Blumen reich geschmückt.
»Der Kapitän bat mich, Ihnen seine Empfehlung zu übermitteln. Er wird Sie heute abend beim Dinner persönlich begrüßen. Mich hat er beauftragt, Ihnen zu sagen, dass es ihm eine Ehre ist, Ihre Eheschließung vorzunehmen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Jill. »Wissen Sie, ob Mr. Kenyon schon an Bord ist?«
»Wir haben soeben einen Telefonanruf bekommen. Er ist vom Flughafen unterwegs. Sein Gepäck ist schon hier. Wenn Sie irgend etwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Jill. »Im Augenblick brauche ich nichts.« Und das stimmte. Es gab nichts, was sie nicht schon hatte. Sie war die glücklichste Frau der Welt.
Es wurde an die Kabinentür geklopft, ein Steward trat ein und brachte noch mehr Blumen. Jill sah sich die Karte an. Sie waren vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Erinnerungen. Sie verbannte sie aus ihren Gedanken und begann auszupacken.
Er stand an der Reling auf dem Hauptdeck und musterte die Passagiere, die an Bord kamen. Jeder war in festlicher Stimmung, bereitete sich auf einen Urlaub vor oder traf liebe Bekannte an Bord. Einige lächelten ihm zu, aber der Mann schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Er beobachtete die Laufplanke.
Um elf Uhr vierzig vormittags, zwanzig Minuten vor der Abfahrt, raste
ein von einem Chauffeur gelenkter Silver Shadow den Pier 90 hinauf und hielt. David Kenyon sprang aus dem Wagen, sah auf seine Uhr und sagte zum Chauffeur: »Perfektes Timing, Otto.«
»Danke, Sir. Und darf ich Ihnen und Mrs. Kenyon eine glückliche Hochzeitsreise wünschen?«
»Danke.« David Kenyon eilte auf die Laufplanke zu, wo er seine Schiffskarte vorwies. Er wurde von dem Offizier, der sich um Jill gekümmert hatte, an Bord geleitet.
»Mrs. Temple ist in Ihrer Kabine, Mr. Kenyon.«
»Ich danke Ihnen.«
David konnte sie sich in der Hochzeits-Suite vorstellen, wo sie auf ihn wartete, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Als David weitergehen wollte, rief eine Stimme: »Mr. Kenyon…«
David drehte sich um. Der Mann, cfer an der Reling gestanden hatte, kam auf ihn zu, ein Lächeln auf dem Gesicht. David hatte ihn noch nie gesehen. David hatte das instinktive Misstrauen des Millionärs gegenüber freundlichen Fremden. Beinahe ausnahmslos wollten sie etwas.
Der Mann streckte die Hand aus, und David ergriff sie vorsichtig. »Kennen wir uns?« fragte David.
»Ich bin ein alter Freund von Jill«, sagte der Mann, und David wurde freundlicher. »Mein Name ist Lawrence. Clifton Lawrence.«
»Sehr erfreut, Mr. Lawrence.« Er war voll Ungeduld.
»Jill bat mich, heraufzugehen und Sie zu empfangen«, sagte Clifton. »Sie hat eine kleine Überraschung für Sie.«
David sah ihn an. »Was für eine Überraschung?«
»Kommen Sie mit, ich werde sie Ihnen zeigen.«
David zögerte einen Augenblick. »Na schön. Wird es lange dauern?«
Clifton Lawrence blickte zu ihm auf und lächelte: »Ich glaube nicht.«
Sie nahmen einen Aufzug zum C-Deck, drängten sich durch die Passagiere und Besucher hindurch zu einer breiten Doppeltür. Clifton öffnete sie und führte David hinein. David fand sich in einem großen, leeren Kinosaal. Er blickte sich verwirrt um. »Hier drin?«
»Hier drin«, bestätigte Clifton lächelnd.
Er drehte sich um, sah zum Vorführer in der Kabine hinauf und nickte. Der Vorführer war geldgierig. Clifton hatte ihm zweihundert Dollar geben müssen, bevor er einwilligte mitzumachen. »Wenn das herauskommt, verliere ich meinen Job bei der Reederei«, hatte er gemurrt.
»Niemand wird es je erfahren«, hatte Clifton ihm versichert. »Es handelt sich um einen Scherz. Sie müssen nur die Türen abschließen, wenn ich mit meinem Freund hereinkomme, und den Film ablaufen lassen. Wir werden in zehn Minuten wieder draußen sein.«
Schließlich hatte der Vorführer zugestimmt.
Jetzt blickte David Clifton verwirrt an. »Ein Film?« fragte David.
»Bitte setzen Sie sich, Mr. Kenyon.«
David nahm einen Platz am Mittelgang ein und streckte seine langen Beine aus. Clifton setzte sich auf die andere Seite. Er beobachtete Davids Gesicht, als die Lichter ausgingen und die hellen Bilder auf der großen Leinwand zu flimmern begannen.
Er hatte das Gefühl, als ob ihm jemand mit einem großen Hammer in die Magengrube schlug. David starrte zu den obszönen Bildern auf der Leinwand empor, und sein Gehirn weigerte sich aufzunehmen, was seine Augen sahen. Jill, eine junge Jill, wie sie ausgesehen hatte, als er sich in sie verliebt hatte, lag nackt auf einem Bett. Er konnte jeden Gesichtszug klar erkennen. Er beobachtete, stumm vor Unglauben, wie auf der Leinwand ein Mann mit gespreizten Beinen sich auf das Mädchen setzte und ihr seinen Penis in den Mund steckte. Sie begann liebevoll, zärtlich daran zu lutschen, dann kam ein anderes Mädchen dazu, spreizte Jills Beine und steckte ihre Zunge tief in sie hinein. David glaubte, sich übergeben zu müssen. Einen wütenden, hoffnungsvollen Augenblick glaubte er, dass dies Trickaufnahmen seien, eine Fälschung, aber die Kamera erfasste jede Bewegung, die Jill machte. Dann tauchte der Mexikaner auf und bestieg Jill, und ein roter Vorhang ging vor Davids Augen nieder. Er war wieder fünfzehn Jahre alt, und es war seine Schwester Beth, die er da oben beobachtete, seine Schwester auf dem nackten mexikanischen Gärtner in ihrem Bett, keuchend: O Gott, ich liebe dich, Juan. Fick mich weiter. Hör nicht auf! Und David stand in der Tür, ungläubig, und sah seine geliebte Schwester. Er war von einer blinden, unbeherrschbaren Wut ergriffen worden und hatte einen Brieföffner vom Schreibtisch gepackt, war zum Bett gerannt, hatte seine Schwester beiseite gerissen und den Brieföffner in die Brust des Gärtners gestoßen, wieder und immer wieder, bis die Wände über und über mit Blut bespritzt waren und Beth schrie: O Gott, nein! Hör auf, David! Ich liebe ihn. Wir werden heiraten! Überall war Blut. Davids Mutter war ins Zimmer gestürzt und hatte David weggeschickt. Später erfuhr er, dass seine Mutter den Bezirksstaatsanwalt, einen guten Freund der Familie Kenyon, angerufen hatte. Sie hatten eine lange Unterredung in der Bibliothek gehabt, und die Leiche des Mexikaners war ins Gefängnis gebracht worden. Am folgenden Morgen wurde gemeldet, dass er in seiner Zelle Selbstmord begangen habe. Drei Wochen später war Beth in eine Irrenanstalt gebracht worden.
Das alles flutete jetzt in David zurück, die unerträgliche Schuld, die er auf sich geladen hatte, und er wurde rasend. Er zog den ihm gegenüber sitzenden Mann hoch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, schlug auf ihn ein, schrie sinnlose, dumme Worte, griff ihn an wegen Beth und Jill und wegen seiner eigenen Schande. Clifton Lawrence versuchte, sich zu verteidigen, aber er konnte die Schläge nicht abwehren. Eine Faust schmetterte auf seine Nase, und er spürte, wie etwas brach. Eine Faust prallte gegen seinen Mund, und er spürte, wie das Blut floss. Er stand hilflos da, erwartete den nächsten Schlag. Aber plötzlich hörten die Schläge auf. Es war nichts mehr zu vernehmen außer seinem gequälten, röchelnden Atem und den lüsternen Lauten, die von der Leinwand kamen.
Clifton zog ein Taschentuch heraus, um das Blut zu stillen. Er stolperte aus dem Kinosaal, bedeckte Nase und Mund mit seinem Taschentuch und machte sich auf den Weg zu Jills Kabine. Als er am Speisesaal vorbeikam, öffneten sich kurz die Schwingtüren zur Küche, und er ging hinein, an den geschäftigen Köchen und Stewards und Kellnern vorbei. Er fand eine Eismaschine, schaufelte Eisstücke in ein Tuch und hielt es sich vor Nase und Mund. Als er weitergehen wollte, sah er vor sich einen riesigen Hochzeitskuchen, gekrönt von kleinen Zuckerfiguren einer Braut und eines Bräutigams. Clifton griff zu und drehte der Braut den Kopf ab und zerquetschte ihn zwischen den Fingern.
Dann ging er zu Jill.
Das Schiff war in Fahrt. Jill konnte die Bewegung des 55 000-Ton-nen-Liners spüren, als er vom Pier ablegte. Sie fragte sich, was David aufgehalten haben konnte.
Als sie beinahe ausgepackt hatte, wurde an die Kabinentür geklopft. Sie rief: »David!« und öffnete die Tür.
Clifton Lawrence stand vor ihr. Sein Gesicht war zerschlagen und blutig. Jill ließ die Arme sinken und starrte ihn an. »Was tun Sie denn hier? Was – was ist Ihnen passiert?«
»Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen, Jill.«
Sie konnte ihn kaum verstehen.
»Und Ihnen etwas von David ausrichten.«
Jill sah in verständnislos an. »Von David?«
Clifton trat ein.
Er machte Jill nervös. »Wo ist David?«
Clifton wandte sich an sie und sagte: »Erinnern Sie sich, wie die Filme in den alten Tagen waren? Da waren die guten Jungs mit den weißen Hüten und die bösen Jungs mit den schwarzen Hüten, und am Ende wusste man immer, dass die bösen Jungs ihre gerechte Strafe bekommen würden. Ich bin mit diesen Filmen aufgewachsen, Jill. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass das Leben wirklich so ist, dass die Jungs mit den weißen Hüten immer gewinnen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Es ist beruhigend zu wissen, dass es im Leben manchmal wie in diesen alten Filmen zugeht.« Er lächelte sie mit böse zugerichteten, blutenden Lippen an und sagte: »David ist fort. Für immer.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
In diesem Augenblick spürten sie beide, wie die Bewegung des Schiffes zum Halten kam. Clifton ging auf das Sonnendeck hinaus und blickte über die Schiffsreling. »Kommen Sie her.«
Jill zögerte einen Augenblick und folgte ihm dann, von einer namenlosen, wachsenden Angst ergriffen. Sie blickte über die Reling hinunter. Tief unten konnte sie David auf das Lotsenboot umsteigen sehen, das gleich darauf von der Bretagne ablegte. Sie umklammerte die Reling. »Warum?« fragte sie ungläubig. »Was ist passiert?«
Clifton Lawrence drehte sich zu ihr um und sagte: »Ich habe ihm Ihren Film gezeigt.«
Und sie wusste sofort, was er meinte, und stöhnte: »O mein Gott. Nein! Bitte nicht! Sie haben mich umgebracht!«
»Dann sind wir quitt.«
»Raus!« schrie sie. »Verschwinden Sie!« Sie warf sich auf ihn, und ihre Nägel krallten sich in seine Wangen und rissen tiefe Wunden hinein. Clifton holte aus und schlug ihr heftig ins Gesicht. Sie fiel auf die Knie und umklammerte ihren Kopf im Schmerz.
Clifton stand da und blickte sie lange an. So wollte er sich an sie erinnern. »Wiedersehen, Josephine Czinski«, sagte er.
Clifton verließ Jills Kabine und ging zum Bootsdeck hinauf, wobei er die untere Hälfte seines Gesichts mit dem Taschentuch bedeckt hielt. Er ging langsam, musterte die Gesichter der Passagiere, hielt Ausschau nach einem frischen Gesicht, nach einem ungewöhnlichen Typ. Man wusste nie, wann man vielleicht über ein neues Talent stolpern würde. Er war bereit, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Vielleicht hatte er Glück und entdeckte wieder einen Toby Temple.
Kurz nachdem Clifton gegangen war, stand Claude Dessard vor Jills Kabine und klopfte an die Tür. Keine Antwort, aber der Oberzahlmeister konnte Geräusche von innen hören. Er wartete einen Augenblick, hob dann die Stimme und sagte: »Madame Temple, hier ist Claude Dessard, der Oberzahlmeister. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Keine Antwort. Jetzt schlug Dessards inneres Warnsystem an. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas Entsetzliches bevorstand, und er hatte eine Vorahnung, dass es mit dieser Frau zusammenhing. Eine Folge wilder, abscheulicher Gedanken tanzte durch sein Gehirn. Sie war ermordet oder gekidnappt worden oder -. Er drehte am Türgriff. Die Tür war unverschlossen. Langsam stieß Dessard sie auf. Jill Temple stand am anderen Ende der Kabine und blickte, den Rücken ihm zugekehrt, aus dem Bullauge. Dessard wollte etwas sagen, aber ihre wie gefroren wirkende, starre Haltung ließ ihn schweigen. Er stand einen Augenblick unbeholfen da, fragte sich, ob er sich still zurückziehen sollte, als die Kabine plötzlich von einem schauerlichen Klageschrei erfüllt wurde, der von einem schmerzgepeinigten Tier herzurühren schien. Hilflos angesichts einer solchen tiefen, geheimen Qual zog Dessard sich zurück und schloss behutsam die Tür hinter sich.
Einen Augenblick blieb Dessard vor der Kabine stehen und lauschte auf die unartikulierten Schreie. Dann drehte er sich tief berührt um und ging zum Kinosaal auf dem Hauptdeck.
Beim Essen an jenem Abend gab es zwei leere Plätze am Kapitänstisch. Zwischen zwei Gängen winkte der Kapitän zu Dessard hinüber, der als Gastgeber einer Gruppe von weniger prominenten Passagieren zwei Tische entfernt fungierte. Dessard entschuldigte sich und eilte zum Kapitänstisch hinüber.
»Ah, Dessard«, sagte der Kapitän freundlich. Er senkte die Stimme, und sein Ton änderte sich. »Was ist mit Mrs. Temple und Mr. Kenyon passiert?«
Dessard blickte sich nach den anderen Gästen um und flüsterte: »Wie Sie wissen, hat Mr. Kenyon mit dem Lotsen am Ambrose-Feuerschiff das Schiff verlassen. Mrs. Temple ist in ihrer Kabine.«
Der Kapitän fluchte in gedämpftem Ton. Er war ein Mensch, der es nicht liebte, wenn sein geordneter Tagesablauf gestört wurde. »Merde! Alle Vorbereitungen für die Heirat sind getroffen worden«, sagte er.
»Ich weiß, Kapitän.« Dessard zuckte die Schultern und hob die Augen gen Himmel. »Amerikaner«, sagte er.
Jill saß allein in der verdunkelten Kabine in einem Sessel, die Knie zur Brust heraufgezogen, und starrte ins Leere. Sie trauerte tief, aber nicht um David Kenyon oder Toby Temple oder um sich selbst. Sie trauerte um ein kleines Mädchen namens Josephine Czinski. Jill hatte so viel für dieses kleine Mädchen tun wollen, und jetzt waren alle die wunderbaren, zauberhaften Träume, die sie für sie gehegt hatte, zerschlagen.
Jill saß da, mit leerem Blick, von einer Niederlage getroffen, die jenseits von allem Vorstellbaren war. Noch vor wenigen Stunden hatte ihr die Welt gehört, sie hatte alles in Händen gehalten, was sie sich jemals wünschte, und jetzt hatte sie nichts. Langsam wurde ihr bewusst, dass ihre Kopfschmerzen wieder eingesetzt hatten. Sie hatte sie vorher des anderen Schmerzes wegen nicht bemerkt, des quälenden Schmerzes wegen, der tief in ihrem Inneren wühlte. Aber jetzt fühlte sie, wie das Band um ihre Stirn sich enger spannte. Sie zog die Knie noch dichter zur Brust empor und versuchte, alles zu vergessen. Sie war so müde, so schrecklich müde. Alles, was sie wollte, war, immer so zu sitzen und nicht denken zu müssen. Dann würde der Schmerz vielleicht aufhören, wenigstens eine kleine Weile.
Jill schleppte sich zum Bett hinüber, streckte sich darauf aus und schloss die Augen.
Dann fühlte sie es. Eine Welle kalter, stinkender Luft kam auf sie zu, umhüllte sie, liebkoste sie. Und sie hörte seine Stimme, die ihren Namen rief. Ja, dachte sie, ja. Langsam, fast wie in Trance, stand Jill auf und ging aus ihrer Kabine, folgte der lockenden Stimme in ihrem Kopf.
Es war zwei Uhr morgens, und die Decks lagen verlassen, als Jill aus ihrer Kabine trat. Sie starrte auf das Meer hinunter, beobachtete das sanfte Klatschen der Wellen gegen den Rumpf, während das Schiff durchs Wasser pflügte, und lauschte auf die Stimme. Jills Kopf- schmerzen waren jetzt schlimmer, ein quälender Schraubstock. Aber die Stimme tröstete sie, sie brauche sich nicht zu grämen, und versicherte ihr, dass alles gut werden würde. Blicke hinunter, sagte die Stimme.
Jill blickte ins Wasser hinunter und sah dort etwas treiben. Es war ein Gesicht. Tobys Gesicht, das sie anlächelte, aus dem die blauen Augen zu ihr aufblickten. Die eisige Brise begann zu wehen, drängte sie dichter an die Reling.
»Ich musste es tun, Toby«, flüsterte sie. »Du siehst das ein, nicht wahr?«
Der Kopf im Wasser nickte, hob und senkte sich, lud sie ein, zu kommen und sich ihm anzuschließen. Der Wind wurde kälter, und Jills Körper erschauerte. Hab keine Angst, sagte die Stimme in ihr. Das Wasser ist tief und warm… Du wirst hier bei mir sein… Immer. Komm, Jill.
Sie schloss einen Moment die Augen, aber als sie sie wieder aufschlug, war das lächelnde Gesicht immer noch da, hielt sich neben dem Schiff. Komm zu mir, lockte die Stimme.
Sie beugte sich vor, um es Toby zu erklären, damit er sie in Frieden ließe, und der eisige Wind erfasste sie, und plötzlich trieb sie in der weichen Samtnacht, tanzte im Raum. Tobys Gesicht kam näher, kam auf sie zu, und sie fühlte die gelähmten Arme sie umfassen und halten. Und sie waren zusammen, für immer und ewig.
Dann war da nur noch der linde Nachtwind und die zeitlose See.
Und die Sterne oben, in denen alles geschrieben stand.
Dank
Folgenden Film- und Fernsehproduzenten bin ich für ihre Hilfe zu großem Dank verpflichtet:
Seymour Berns
Larry Gelbart
Bert Granet
Harvey Orkin
Marty Rackin
David Swift
Robert Weitman
Und ein herzlicher Dank dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Erfahrungen mit mir geteilt haben, geht an:
Marty Allen
Milton Berle
Red Buttons George Burns
Jack Carter Buddy Hackett Groucho Marx
Jan Murray
Der Autor