10. Das Buch des Zauberers

Die unsichtbaren Leute bewirteten ihre Gäste königlich. Es war sehr komisch, mit anzusehen, wie die Teller und die Schüsseln zum Tisch kamen, obwohl man niemanden sah, der sie trug. Es wäre sogar komisch gewesen, wenn die Dinge sich parallel zum Boden bewegt hätten, wie man das von Sachen, die in unsichtbaren Händen getragen wurden, erwartet. Aber das taten sie nicht. Sie bewegten sich hüpfend und springend durch den langen Speisesaal. Am höchsten Punkt der einzelnen Sprünge schwebten die Schüsseln etwa vier Meter über dem Boden; dann kamen sie herunter und hielten ganz plötzlich etwa einen Meter über dem Fußboden an. Wenn die Schüssel so etwas wie Suppe oder Gulasch enthielt, war das Resultat ziemlich entsetzlich.

»Ich werde langsam neugierig«, flüsterte Eustachius Edmund zu. »Meinst du, es sind Menschen? Sie kommen mir eher wie große Heuschrecken oder wie riesige Frösche vor.«

»So sieht es aus«, sagte Edmund. »Aber rede das bloß nicht Lucy ein – sie mag Insekten nicht besonders, vor allem keine großen.«

Sie hätten das Mahl viel mehr genossen, wenn es nicht so schrecklich chaotisch verlaufen wäre und wenn die Unterhaltung nicht nur aus Zustimmung bestanden hätte. Die unsichtbaren Leute stimmten allem zu. Tatsächlich waren ihre Bemerkungen meist so gehalten, daß man kaum widersprechen konnte. »Ich sage immer, daß man gerne ißt, wenn man hungrig ist« oder »Es wird dunkel, wie immer am Abend«, oder sogar: »Oh, ihr seid übers Wasser gekommen. Das ist ein ausgesprochen nasses Zeug, nicht?« Und Lucy konnte nicht anders, als zu dem dunklen, gähnenden Treppenaufstieg hinzuschauen – sie konnte ihn von ihrem Platz aus sehen – und sich zu überlegen, was sie wohl vorfinden würde, wenn sie am nächsten Morgen dort hinaufstieg. Aber davon abgesehen war es eine gute Mahlzeit. Es gab Pilzsuppe, gekochtes Huhn, heißen gekochten Schinken, Stachelbeeren, rote Johannisbeeren, Quark, Sahne, Milch und Met. Die anderen mochten den Met, aber Eustachius bereute hinterher, daß er davon getrunken hatte.

Als Lucy am nächsten Morgen aufwachte, war es so, wie wenn man an einem Tag aufwacht, an dem man eine Prüfung hat oder zum Zahnarzt muß. Es war ein wunderschöner Morgen, die Bienen schwirrten durch das offene Fenster ein und aus, und der Rasen draußen sah aus, als läge er irgendwo in England. Lucy stand auf und zog sich an, und beim Frühstück versuchte sie, zu reden und zu essen wie sonst immer. Dann, nachdem ihr die Anführerstimme alles erklärt hatte, was sie oben tun mußte, verabschiedete sie sich von den anderen, ging schweigend zum Fuß der Treppe und stieg hinauf, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Es war recht hell, und das war gut so. Genau vor ihr, über dem ersten Treppenabsatz, lag ein Fenster. Bis dorthin konnte sie das Tick-tack-tick-tack einer Großvateruhr in der Halle unten hören. Doch dann kam sie am Treppenabsatz an und mußte sich nach links zu den nächsten Stufen wenden, und von dort aus hörte sie die Uhr nicht mehr.

Jetzt war sie oben angelangt. Lucy schaute sich um und erblickte einen langen und breiten Flur, an dessen Ende ein Fenster lag. Offensichtlich erstreckte sich der Gang über die ganze Länge des Hauses. Er war mit Schnitzereien verziert, getäfelt, auf dem Boden lag ein Teppich, und an beiden Seiten gingen viele Türen ab. Sie blieb stehen. Es war mucksmäuschenstill. Nicht einmal das Piepsen einer Maus oder das Schwirren einer Fliege oder das Flattern eines Vorhangs war zu hören. Lediglich ihr Herz hörte sie klopfen.

Die letzte Tür links, dachte sie. Es war furchtbar, daß es die allerletzte Tür war. Um dorthin zu kommen, mußte sie an allen anderen Türen vorbeigehen. Und in jedem der Zimmer konnte der Zauberer sein – vielleicht schlief er, vielleicht war er wach, vielleicht war er unsichtbar, und vielleicht war er sogar tot. Aber es nutzte nichts, darüber nachzudenken. Sie machte sich auf den Weg. Der Teppich war so dick, daß man ihre Schritte nicht hören konnte.

Bis jetzt gibt es überhaupt nichts, wovor man Angst haben müßte, sagte sich Lucy. Es war tatsächlich ein ruhiger und sonniger Flur; vielleicht ein bißchen zu ruhig. Es wäre angenehmer gewesen, wenn auf den Türen keine so seltsamen, lilafarbenen Zeichen aufgemalt gewesen wären – verschnörkelte und komplizierte Zeichen, die offensichtlich etwas bedeuteten und vielleicht sogar etwas gar nicht so Schönes. Und noch angenehmer wäre es gewesen, wenn diese Masken nicht an der Wand gehangen hätten. Nicht, daß sie richtig häßlich gewesen wären – aber die leeren Augenhöhlen sahen eigenartig aus, und wenn man sich nicht dagegen wehrte, dann begann man sich schon bald einzubilden, sie würden sich bewegen, sobald man ihnen den Rücken zuwandte.

Etwa nach der sechsten Tür bekam sie den ersten richtigen Schreck. Eine Sekunde lang war sie fast sicher, daß ein böses, kleines, bärtiges Gesicht aus der Wand aufgetaucht war und ihr eine Grimasse geschnitten hatte. Sie zwang sich, stehenzubleiben und es zu betrachten. Es war überhaupt kein Gesicht. Es war ein kleiner Spiegel, der gerade so groß war wie ihr Gesicht. Über dem Spiegel war Haar angebracht, darunter hing ein Bart, und wenn man in den Spiegel schaute, dann paßte das Gesicht genau zwischen das Haar und den Bart, und es sah so aus, als gehöre eins zum andern. Ich habe nur im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln mein eigenes Gesicht gesehen, sagte sich Lucy. Das war alles. Ganz harmlos. Aber der Anblick ihres Gesichts mit dem Haar und dem Bart gefiel ihr nicht, und so ging sie weiter. (Ich weiß nicht, wofür der bärtige Spiegel war, denn ich bin kein Zauberer.)

Bevor sie die letzte Tür links erreichte, begann Lucy sich zu fragen, ob der Flur inzwischen länger geworden oder ob dies vielleicht ein Teil des Zaubers war, der über dem Haus lag. Aber endlich hatte sie es geschafft. Und die Tür war offen.

Es war ein großer Raum mit drei großen Fenstern. Vom Fußboden bis zur Decke standen Bücher; mehr Bücher, als Lucy jemals zuvor gesehen hatte. Winzig kleine Bücher, dicke und schwere Bücher und Bücher, die größer waren als die größte Kirchenbibel, die ihr je gesehen habt. Alle waren in Leder gebunden und von einem alten, gelehrten und magischen Duft umgeben. Aber von ihren Anweisungen wußte sie, daß sie sich um diese Bücher nicht zu kümmern brauchte. Denn das Buch, das Zauberbuch, lag auf einem Lesetisch mitten im Zimmer. Sie sah, daß sie es im Stehen lesen mußte (sowieso gab es keine Stühle) und daß sie beim Lesen mit dem Rücken zur Tür stehen mußte. Sie drehte sich um und wollte die Tür schließen.

Aber die Tür ging nicht zu.

Manche mögen ja anderer Meinung sein, aber ich glaube, daß Lucy recht hatte. Sie sagte, es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie die Tür hätte zumachen können, und daß es unangenehm war, an einem solchen Ort zu stehen, mit einer offenen Tür direkt im Rücken. Mir wäre es genauso gegangen. Aber Lucy hatte keine andere Wahl.

Eine Sache, die sie sehr beunruhigte, war die Größe des Buches. Der Anführer hatte ihr nicht sagen können, an welcher Stelle der Zauberspruch stand, mit dem man die Dinge sichtbar machte. Er schien über ihre Frage überrascht zu sein. Er hatte erwartet, sie würde das Buch von vorne an durchblättern, bis sie zur richtigen Stelle kam. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, daß es andere Möglichkeiten gab, in einem Buch eine bestimmte Stelle zu finden. Aber da brauche ich ja Tage und Wochen! dachte Lucy mit einem Blick auf das riesige Buch. Und mir kommt es jetzt schon so vor, als wäre ich seit Stunden hier!

Sie ging zum Tisch und legte die Hand auf das Buch. Beim Anfassen spürte sie ein Kitzeln in den Fingerspitzen, als wäre es elektrisch geladen. Sie versuchte, das Buch zu öffnen, doch es gelang ihr nicht gleich. Das lag jedoch daran, daß es mit zwei Bleiklammern verschlossen war, und als sie diese entfernt hatte, ging es ganz leicht auf. Und was für ein Buch es war!

Es war nicht gedruckt, sondern mit der Hand geschrieben, und zwar in einer klaren und gleichmäßigen Handschrift, mit dicken Abstrichen und dünnen Aufstrichen und sehr großen Buchstaben, die leichter zu lesen waren als Druckschrift. Es sah so wunderschön aus, daß Lucy es eine ganze Minute lang anstarrte und das Lesen völlig vergaß. Das Papier war steif und glatt und strömte einen angenehmen Geruch aus. Am Rand und um die großen bunten Buchstaben am Anfang jedes Zauberspruchs herum waren Bilder.

Es gab keine Titelseite und keinen Titel; die Zaubersprüche begannen sofort, und die ersten enthielten auch nichts Wichtiges. Es waren Kuren gegen Warzen (man mußte die Hände bei Mondlicht in einer silbernen Schüssel waschen), gegen Zahnweh und gegen Krämpfe und einen Zauberspruch, um einen Bienenschwarm einzufangen. Das Bild von einem Mann mit Zahnweh war so lebensecht, daß einem die Zähne wehtaten, wenn man es zu lange anschaute, und die goldenen Bienen, die den vierten Zauberspruch einrahmten, sahen einen Moment lang so aus, als flögen sie wirklich.

Lucy konnte sich von dieser ersten Seite kaum losreißen, aber als sie umblätterte, entdeckte sie, daß die nächste Seite genauso interessant war. Aber ich muß weiterblättern, dachte sie. So blätterte sie etwa dreißig Seiten weiter, und wenn sie sich alles gemerkt hätte, dann hätte sie dort lernen können, wie man einen vergrabenen Schatz findet, wie man sich an Dinge erinnert, die man vergessen hat, wie man Dinge vergißt, die man vergessen will, woher man weiß, ob jemand die Wahrheit spricht, wie man Wind, Nebel, Schnee, Hagel oder Regen herbeirufen oder verhüten kann, wie man einen Zauberschlaf einleitet oder wie man einem Mann einen Eselskopf anhext (so, wie das dem armen Bottom in Shakespeares »Sommernachtstraum« passiert ist). Und je länger sie las, desto schöner und wirklicher wurden die Bilder. Dann kam sie zu einer Seite, die voll war mit Bildern, daß man die Schrift kaum sehen konnte. Aber die ersten Worte konnte sie lesen. Da hieß es: Ein unfehlbarer Zauberspruch, der diejenige, die ihn spricht, unendlich schön macht. Lucy betrachtete die Bilder mit der Nase am Papier. Vorher hatten sie verworren und undeutlich ausgesehen, doch jetzt konnte Lucy sie plötzlich klar erkennen. Auf dem ersten war ein Mädchen abgebildet, das vor einem Lesetisch stand und in einem riesigen Buch las. Und das Mädchen war genauso angezogen wie Lucy. Auf dem nächsten Bild stand Lucy (denn das Mädchen auf dem Bild war sie selbst) mit offenem Mund und einem ziemlich schrecklichen Ausdruck auf dem Gesicht da und sang oder sagte etwas. Auf dem dritten Bild war sie unendlich schön geworden. Wenn man bedenkt, wie klein das Bild zuerst ausgesehen hatte, war es eigenartig, daß die Lucy auf dem Bild jetzt genauso groß zu sein schien wie die wirkliche Lucy; und sie sahen sich gegenseitig in die Augen, und die wirkliche Lucy schaute nach ein paar Minuten weg, weil sie von der Schönheit der anderen Lucy geblendet war, obwohl sie in diesem wunderschönen Gesicht noch immer eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst entdeckte. Und jetzt erschienen ihr die Bilder klar und rasch hintereinander. Sie sah sich auf einem hohen Thron bei einem Wettbewerb in Kalormen, und alle Könige der Welt kämpften um sie, weil sie so schön war. Dann wandelten sich die Wettbewerbe zu Kriegen, und ganz Narnia und Archenland, Telmar und Kalormen, Galma und Terebinthia lagen kahl durch den Zorn der Könige und Grafen und Herzöge, die um ihre Gunst kämpften. Dann wechselte das Bild, und die noch immer unendlich schöne Lucy war wieder in England. Und Suse (die immer als die Schönheit der Familie gegolten hatte) kam aus Amerika zurück. Die Suse auf dem Bild sah genauso aus wie die wirkliche Suse, nur unscheinbarer und mit einem häßlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Suse war eifersüchtig auf die strahlende Schönheit Lucys, aber das machte gar nichts, weil sich jetzt niemand mehr für Suse interessierte.

Ich werde den Zauberspruch sprechen, dachte Lucy. Es ist mir egal. Ich werde es tun. Sie dachte es ist mir egal, weil sie das starke Gefühl hatte, daß sie es nicht tun durfte.

Aber als sie wieder auf die ersten Worte des Zauberspruchs schaute, da sah sie mitten in der Schrift an einer Stelle, wo vorher ganz sicher kein Bild gewesen war, das große Gesicht eines Löwen, des Löwen, das Gesicht Aslans, das ihr entgegenstarrte. Es war aus derart strahlendem Gold, daß sie dachte, es bewege sich aus der Buchseite heraus auf sie zu. Tatsächlich war sie sich hinterher nie ganz sicher, ob es sich nicht doch ein wenig bewegt hatte. Auf jeden Fall kannte sie den Ausdruck auf dem Gesicht sehr gut. Der Löwe knurrte, und man konnte fast alle Zähne sehen. Sie bekam furchtbare Angst und blätterte sofort um.

Ein wenig später stieß sie auf einen Zauberspruch, der einem verriet, was die anderen von einem dachten. Lucy hätte den anderen Zauberspruch – der einen unendlich schön machte – furchtbar gerne ausprobiert. Deshalb hatte sie das Gefühl, sie müsse als Entschädigung dafür, daß sie den anderen nicht gesagt hatte, wenigstens diesen Spruch ausprobieren. Sehr schnell, damit sie es sich nicht noch einmal anders überlegte, sprach sie die Worte (aber nichts kann mich dazu bringen, euch den Spruch zu verraten). Dann wartete sie darauf, daß etwas passierte.

Da nichts geschah, begann sie, die Bilder zu betrachten. Und sofort sah sie etwas, was sie zuallerletzt erwartet hätte – ein Bild eines Dritte-Klasse-Abteils im Zug, in dem zwei Schulmädchen saßen. Sie erkannte sie sofort. Es waren ihre Schulfreundinnen Marjorie und Anne. Nur war es jetzt viel mehr als nur ein Bild. Es lebte. Sie konnte sehen, wie die Telegrafenmasten vor dem Fenster vorbeiflogen. Sie sah, daß die beiden Mädchen lachten und redeten. Nach und nach (wie bei einem Radio, das warmläuft) konnte sie hören, was sie sagten.

»Werde ich dich in diesem Schuljahr ab und zu sehen?« fragte Anne. »Oder bist du noch immer so begeistert von dieser Lucy?«

»Ich weiß nicht, was du mit begeistert meinst«, antwortete Marjorie.

»O doch, das weißt du«, sagte Anne. »Im letzten Schuljahr warst du ganz verrückt nach ihr.«

»Nein, das war ich nicht«, protestierte Marjorie. »So blöde bin ich nicht! Sie ist ja auf ihre Art ganz nett. Aber gegen Ende des Jahres hatte ich ziemlich genug von ihr.«

»Dazu werde ich dir keine Gelegenheit mehr geben!« rief Lucy. »Du falsches Biest!« Aber der Klang ihrer eigenen Stimme erinnerte sie lediglich daran, daß sie mit einem Bild sprach und daß die richtige Marjorie weit weg in einer anderen Welt war.

Also, dachte Lucy, das hätte ich nicht von ihr erwartet! Und ich habe so viel für sie getan im letzten Schuljahr und habe zu ihr gehalten, wie das nicht viele von den anderen Mädchen getan hätten. Und das weiß sie auch! Und jetzt sagt sie so etwas – ausgerechnet zu Anne! Ich frage mich, ob alle meine Freundinnen so sind. Da sind noch viele andere Bilder. Nein, ich werde nicht mehr hinschauen. Nein, nein – und mit großer Anstrengung blätterte sie um, aber vorher war noch eine riesige Zornesträne auf die Seite getropft.

Auf der nächsten Seite kam sie zu einem Zauberspruch Zur Belebung des Geistes. Hier gab es weniger Bilder zu sehen, aber die wenigen waren einfach wunderschön. Und das, was Lucy las, war eher wie eine Geschichte als wie ein Zauberspruch. Die Geschichte erstreckte sich über drei Seiten, und bevor sie am Ende der Seite angelangt war, hatte sie vergessen, daß sie las. Sie erlebte die Geschichte, als geschähe sie in Wirklichkeit, und all die Bilder waren ebenfalls wirklich. Als sie auf der dritten Seite angelangt war und zu Ende gelesen hatte, dachte sie: Das ist die schönste Geschichte, die ich jemals gelesen habe, oder die ich jemals lesen werde. Oh, ich wollte, ich hätte zehn Jahre lang weiterlesen können. Zumindest will ich sie noch einmal lesen.

Aber hier begann die Zauberkraft des Buches zu wirken. Man konnte nicht zurückblättern. Die rechten Seiten konnte man umblättern; aber die linken Seiten nicht.

O wie schade! dachte Lucy. Ich hätte sie so gerne noch einmal gelesen. Na ja, jedenfalls will ich sie mir merken. Sie handelte von ... von ... o je, es verblaßt alles! Und selbst der Teil auf dieser letzten Seite verschwindet! Das ist ein sehr seltsames Buch. Wie kann es nur sein, daß ich die Geschichte vergessen habe? Sie handelte von einem Becher und einem Schwert und einem Baum und einem grünen Berg, soviel weiß ich noch. Aber an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Was soll ich bloß machen?

Aber es fiel ihr nie mehr ein. Seit jenem Tag empfand Lucy jedesmal ein Glücksgefühl, wenn sie etwas erlebte, was sie an diese vergessene Geschichte im Buch des Zauberers erinnerte.

Sie blätterte um, und zu ihrer Überraschung waren auf dieser Seite überhaupt keine Bilder. Doch die ersten Worte lauteten: Ein Zauberspruch, um unsichtbare Dinge sichtbar zu machen. Sie las ihn durch, um sich mit den schwierigen Wörtern vertraut zu machen, dann sagte sie ihn laut vor sich hin. Sie wußte sofort, daß er wirkte, denn während sie sprach, wurden die Großbuchstaben oben auf der Seite farbig, und am Rand tauchten die Bilder auf. Es war, wie wenn etwas, was mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurde, nach und nach sichtbar wird. Aber statt die Farbe von Zitronensaft anzunehmen (das ist die einfachste unsichtbare Tinte), wurde hier alles golden und blau und dunkelrot. Es waren eigenartige Bilder, und sie enthielten viele Gestalten, die Lucy nicht allzusehr gefielen. Und dann dachte sie: Ich glaube, ich habe alles sichtbar gemacht, nicht nur die Stampfer. An einem Ort wie hier gibt es ja vielleicht noch viele andere unsichtbare Dinge. Ich bin nicht sicher, daß ich sie alle sehen will.

In diesem Augenblick hörte sie sanfte, schwere Schritte auf dem Korridor hinter sich; und natürlich erinnerte sie sich daran, daß man ihr gesagt hatte, der Zauberer liefe immer auf bloßen Füßen herum und mache nicht mehr Geräusche als eine Katze. Es ist immer besser, sich umzudrehen, statt sich von hinten anschleichen zu lassen, und das tat Lucy. Dann leuchtete ihr Gesicht auf, und einen Moment lang (aber das wußte sie natürlich nicht) sah sie fast so schön aus wie die andere Lucy auf dem Bild, und mit einem kleinen Aufschrei des Entzückens und mit ausgestreckten Armen rannte sie vorwärts. Denn dort in der Tür stand Aslan selbst, der Löwe, der höchste aller Könige. Und er war fest und wirklich und warm, und er ließ es zu, daß Lucy ihn küßte und sich in seiner schimmernden Mähne vergrub. Und an dem leisen erdbebenartigen Geräusch, das aus seinem Innern kam, meinte Lucy sogar zu spüren, daß er schnurrte.

»O Aslan«, sagte sie. »Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist.«

»Ich war die ganze Zeit hier«, antwortete er. »Aber du hast mich eben erst sichtbar gemacht.«

»Aslan!« meinte Lucy fast ein wenig vorwurfsvoll. »Treibe keine Scherze mit mir. Als ob ich dich sichtbar machen könnte!«

»Doch, das tatest du«, sagte Aslan. »Glaubst du denn nicht, daß ich meinen eigenen Regeln gehorche?«

Nach einer kleinen Pause redete er weiter. »Kind«, sagte er. »Ich glaube, du hast gelauscht.«

»Gelauscht?«

»Du hast gehört, was deine beiden Schulfreundinnen über dich gesagt haben.«

»Oh, das meinst du? Ich hätte nie gedacht, daß das Lauschen war, Aslan. War das nicht Zauberei?«

»Wenn man anderen Leuten durch Zauberei nachspioniert, ist das genauso, wie wenn man ihnen sonstwie nachspioniert. Und du hast deine Freundin falsch eingeschätzt. Sie ist schwach, aber sie liebt dich. Sie hatte Angst vor dem älteren Mädchen und hat deshalb etwas gesagt, was gar nicht stimmt.«

»Ich glaube nicht, daß ich jemals vergessen werde, was sie über mich gesagt hat.«

»Nein, das wirst du nicht.«

»O je«, sagte Lucy. »Habe ich jetzt alles verdorben? Meinst du, wir wären weiterhin Freundinnen geblieben, wenn das nicht passiert wäre – wirklich gute Freundinnen, vielleicht fürs ganze Leben –, und daß es jetzt nicht mehr möglich ist?«

»Kind«, sagte Aslan. »Habe ich dir nicht schon einmal erklärt, daß niemand jemals erfährt, was passiert wäre!«

»Doch, Aslan, das hast du«, sagte Lucy. »Es tut mir leid. Aber bitte ...«

»Rede weiter, mein liebes Herz!«

»Werde ich jemals die Geschichte noch einmal lesen dürfen, die, an welche ich mich nicht mehr erinnern kann? Wirst du sie mir erzählen, Aslan? O bitte, bitte, bitte.«

»Ja, natürlich, ich werde sie dir noch jahrelang erzählen. Aber jetzt komm. Wir müssen den Herrn des Hauses begrüßen.«

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