Fast drei Wochen waren seit ihrer Landung vergangen, als die »Morgenröte« aus dem Hafen von Enghafen geschleppt wurde. Man hatte feierliche Abschiedsworte getauscht, und eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, um ihrer Abfahrt zuzusehen. Jubel war erklungen, und Tränen waren geflossen, als Kaspian seine letzte Rede vor den Bewohnern der Einsamen Inseln gehalten und sich vom Herzog und seiner Familie verabschiedet hatte. Aber als das Schiff, dessen lilafarbenes Segel noch untätig flatterte, sich weiter von der Küste entfernte und der Klang von Kaspians Trompete vom Achterdeck her übers Wasser schwächer wurde, da verstummte alles. Dann kam die »Morgenröte« vor den Wind. Das Segel blähte sich, das Schleppboot löste sich und begann zurückzurudern, die erste richtige Welle schob sich unter den Bug der »Morgenröte« und sie erwachte wieder zum Leben. Die dienstfreien Männer gingen nach unten, Drinian übernahm die erste Wache auf dem Achterdeck, und das Schiff wandte sich an der südlichen Spitze von Avra nach Osten.
Die folgenden Tage waren herrlich. Lucy hielt sich für das glücklichste Mädchen der Welt. Jeden Morgen erwachte sie, sah die Spiegelungen des sonnenbeschienenen Wassers an der Decke ihrer Kajüte tanzen und betrachtete all die schönen neuen Dinge, die sie auf den Einsamen Inseln geschenkt bekommen hatte – Seestiefel und Halbstiefel und Wämser und Tücher. Dann ging sie hinauf und blickte vom Vorderdeck auf ein Meer, dessen Blau jeden Tag strahlender wurde. Und sie atmete eine Luft, die jeden Tag wärmer wurde. Danach wurde mit einem Appetit gefrühstückt, wie man ihn nur auf See haben kann.
Lucy verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, auf der kleinen Bank im Heck zu sitzen und mit Riepischiep Schach zu spielen. Es war lustig, ihm dabei zuzuschauen, wie er mit beiden Pfoten die Figuren anhob, die viel zu groß waren für ihn, und wie er auf den Zehenspitzen stand, wenn er einen Zug in der Mitte des Schachbretts machen mußte. Er war ein guter Spieler, und wenn er sich ordentlich auf das Spiel konzentrierte, dann siegte er gewöhnlich. Aber ab und zu gewann Lucy, weil Riepischiep etwas sehr Lächerliches machte. Da schickte er zum Beispiel seinen Springer in die kombinierte Gefahr der Königin und des Turms. Dies geschah, weil er für den Augenblick vergessen hatte, daß es sich um ein Schachspiel handelte, und meinte, es ginge um einen wirklichen Kampf. Dabei ließ er den Springer tun, was er an dessen Stelle selbstverständlich getan hätte. Denn sein Kopf war voll mit aussichtslosen Hoffnungen, mit Angriffen bis zum Tod oder bis zum Sieg und mit bis zuletzt gehaltenen Stellungen.
Aber diese schöne Zeit währte nicht lange. Eines Abends sah Lucy, während sie müßig auf die lange Rinne des Kielwassers hinunterschaute, die das Schiff hinter sich ließ, wie sich im Westen mit erstaunlicher Geschwindigkeit eine mächtige Wolkenwand bildete. Dann riß die Wand auf, und durch die Lücke war ein gelber Sonnenuntergang zu sehen. All die Wellen hinter dem Schiff schienen ungewöhnliche Formen anzunehmen, und das Meer hatte eine graubraune oder gelbliche Farbe, ähnlich der Farbe von schmutzigem Segeltuch. Die Luft wurde kalt. Das Schiff bewegte sich unruhig, so als fühle es hinter sich die Gefahr. Das Segel war abwechselnd schlaff und im nächsten Moment straff gespannt. Während Lucy diese Dinge bemerkte und auf die plötzlich bedrohlich klingenden Geräusche des Windes lauschte, rief Drinian: »Alle Mann an Deck!« Schlagartig begann eine wilde Geschäftigkeit. Die Luken wurden geschlossen, das Feuer in der Kombüse wurde gelöscht, die Männer kletterten in die Takelage, um das Segel zu reffen. Noch bevor sie fertig waren, traf sie der Sturm. Lucy schien es so, als hätte sich genau vor dem Bug ein riesiges Meerestal gebildet, in das sie hinabrasten; tiefer, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Dann kam ein großer, grauer Wasserberg – viel höher als der Mast – auf sie zugerast. Es sah so aus, als wäre ihnen der Tod gewiß, doch sie wurden zur Spitze des Wasserberges hochgeworfen. Dann schien sich das Schiff im Kreis zu drehen. Ein Wasserfall überspülte das Deck; Achterdeck und Vorderdeck waren wie zwei Inseln, und dazwischen lag ein wild tosendes Meer. Oben in der Takelage lagen die Matrosen auf der Rah und versuchten verzweifelt, das Segel unter Kontrolle zu bringen. Ein gerissenes Tau stand seitwärts im Wind – so gerade und so starr, als wäre es ein Stock.
»Geht nach unten, Herrin!« rief Drinian. Und Lucy, die wußte, daß Landratten die Mannschaft nur stören, gehorchte. Es war nicht einfach. Die »Morgenröte« hing schrecklich nach steuerbord über, und das Deck war geneigt wie ein Hausdach. An die Reling geklammert, arbeitete sie sich bis hin zur Leiter. Dort mußte sie warten, weil gerade zwei Männer heraufgeklettert kamen. Dann stieg sie so gut es ging nach unten. Glücklicherweise hielt sie sich gut fest, denn gerade als sie am Fuß der Leiter angekommen war, brach tosend die nächste Welle über das Deck und umspülte sie bis hoch an die Schultern. Zwar war sie von der Gischt und dem Regen schon völlig durchnäßt, aber die Welle war noch kälter. Sie rannte zur Kajütentür, stürzte hinein und schloß die Tür vor dem entsetzlichen Anblick der Geschwindigkeit, mit der sie in der Dunkelheit darinrasten. Aber das schreckliche Durcheinander der Geräusche – das Knarren, das Stöhnen, das Knacken, das Klappern, das Tosen und das Donnern, das hier unten nur noch erschreckender klang als auf dem Achterdeck –, das konnte sie nicht ausschließen.
Den ganzen nächsten und übernächsten Tag ging es so weiter. Es ging weiter, bis man sich kaum an die Zeit erinnern konnte, bevor es begonnen hatte. Am Ruder mußten immer drei Männer stehen, und selbst sie schafften es kaum, irgendeinen Kurs zu halten. Und die Pumpe mußte ebenfalls ständig bemannt sein. Und keiner kam richtig zur Ruhe, man konnte nichts kochen und nichts trocknen, ein Mann fiel über Bord, und kein Sonnenstrahl war zu sehen.
Als es vorbei war, machte Eustachius die folgende Eintragung in sein Tagebuch.
3. September. Heute ist seit einer Ewigkeit der erste Tag, an dem ich schreiben kann. Wir wurden dreizehn Tage und dreizehn Nächte lang vor einem Hurrikan hergetrieben. Ich weiß es, weil ich sorgfältig mitgezählt habe, obwohl alle anderen sagen, es seien nur zwölf Tage gewesen. Phantastisch, wenn man mit Leuten, die nicht einmal richtig zählen können, eine gefahrliche Reise unternimmt! Ich habe eine schreckliche Zeit hinter mir, auf riesige Wellen hinauf und wieder herunter, ständig naß bis auf die Haut, und es wurde nicht einmal der Versuch gemacht, uns ordentliche Mahlzeiten zu kochen. Es erübrigt sich zu sagen, daß es hier kein Funkgerät und nicht einmal eine Leuchtrakete gibt, und so bestand keine Möglichkeit, um Hilfe zu signalisieren. All das beweist nur, was ich schon immer sage, nämlich daß es Wahnsinn ist, sich in so einer miesen kleinen Badewanne aufs Meer zu wagen. Es wäre schon schlimm genug, selbst wenn man mit normalen Leuten zusammen wäre statt mit diesen Teufeln in Menschengestalt. Kaspian und Edmund haben mich wirklich brutal behandelt. In der Nacht, in der wir den Mast verloren haben (jetzt ist nur noch ein Stumpf übrig), haben sie mich gezwungen, an Deck zu kommen und wie ein Sklave zu arbeiten, obwohl mir ganz und gar nicht gut war. Lucy hat dem Ganzen die Spitze aufgesetzt und gesagt, Riepischiep würde furchtbar gerne helfen, aber er sei zu klein. Ich frage mich, warum sie nicht begreift, daß das kleine Biest alles nur aus Angabe macht. Selbst in ihrem Alter müßte man schon soviel Verstand aufbringen. Heute liegt das entsetzliche Schiff endlich ruhig, die Sonne scheint, und wir haben uns herumgestritten, was wir jetzt tun sollen. Wir haben noch genug zu essen für sechzehn Tage, aber das meiste schmeckt abscheulich. (Die Hühner wurden alle über Bord gespült. Aber bei dem Sturm hätten sie sowieso aufgehört, Eier zu legen.) Das eigentliche Problem ist das Wasser. Zwei Fässer scheinen angeschlagen worden zu sein und sind leer (wieder einmal eine echt narnianische Leistung). Mit kleinen Tagesrationen, nämlich einem viertel Liter für jeden, reicht es für zwölf Tage. (Es gibt noch eine Menge Rum und Wein, aber das verstehen sogar sie, daß das nur noch durstiger macht.)
Wenn wir könnten, wäre es natürlich das einfachste, sofort nach Westen zu drehen und auf die Einsamen Inseln zuzuhalten. Aber es hat achtzehn Tage gedauert, bis wir an der Stelle waren, wo wir jetzt sind, und mit dem Sturm hinter uns waren wir wahnsinnig schnell. Selbst wenn wir Ostwind bekämen, würden wir zurück vermutlich viel länger brauchen. Und im Moment gibt es keinerlei Anzeichen für Ostwind – tatsächlich weht überhaupt kein Wind. Und was das Zurückrudern betrifft, so würde es viel zu lange dauern, und Kaspian sagt, die Männer könnten nicht mit einem viertel Liter Wasser pro Tag rudern. Ich bin jedoch fast sicher, daß dies nicht stimmt. Ich versuchte ihm zu erklären, daß der Mensch sich durch das Schwitzen abkühlt und daß die Männer deshalb weniger Wasser brauchen, wenn sie arbeiten. Aber er ist nicht darauf eingegangen. So macht er es immer, wenn ihm keine Antwort einfällt. Die anderen haben alle dafür gestimmt, weiterzusegeln, in der Hoffnung darauf, daß man Land findet. Ich hielt es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß wir nicht wissen, ob vor uns Land liegt, und ich habe versucht, ihnen die Gefährlichkeit derartiger Illusionen vor Augen zu führen. Statt einen besseren Plan vorzulegen, hatten sie den Nerv, mich zu fragen, welchen Vorschlag ich denn hätte. Daraufhin habe ich ihnen kühl und ruhig erklärt, ich sei entführt und ohne meine Einwilligung auf diese idiotische Reise mitgenommen worden, deshalb wäre es wohl kaum meine Sache, ihnen aus der Patsche zu helfen.
4. September. Noch immer windstill. Zum Essen gab es sehr kleine Rationen, und ich bekam noch weniger als die anderen. Kaspian ist sehr geschickt beim Verteilen und denkt, ich würde es nicht merken. Aus irgendeinem Grund wollte Lucy mir dafür einen Teil ihrer Portion geben, aber dieser Besserwisser Edmund, der sich in alles einmischt, hat es nicht zugelassen. Die Sonne ist ziemlich heiß. Hatte den ganzen Abend furchtbaren Durst.
5. September. Noch immer windstill und sehr heiß. Habe mich den ganzen Tag über sehr schlecht gefühlt und bin sicher, daß ich Fieber habe. Natürlich haben sie nicht genug Verstand, um ein Thermometer an Bord zu haben.
6. September. Ein entsetzlicher Tag. Ich wachte nachts auf, und mir wurde klar, daß ich Fieber hatte und dringend etwas Wasser trinken mußte. Das hätte jeder Arzt auch gesagt. Der Himmel weiß, daß ich der Allerletzte bin, der sich einen ungerechten Vorteil verschaffen will, aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß diese Wasserrationierung auch für Kranke gilt. Ich hätte ja auch die anderen aufgeweckt und um ein wenig Wasser gebeten, aber ich war der Meinung, es wäre egoistisch, sie aufzuwecken. Deshalb stand ich auf, nahm meine Tasse und verließ auf Zehenspitzen das schwarze Loch, in dem wir schlafen. Ich war sehr vorsichtig, um Kaspian und Edmund nicht zu stören, denn sie schlafen schlecht, seit es so heiß ist und das Wasser rationiert wird. Ich versuche immer, an andere zu denken, ob sie nun nett zu mir sind oder nicht. Ich habe es bis zu dem großen Raum geschafft, wenn man es einen Raum nennen kann, wo die Ruderbänke und die Ladung sind. Das Ding mit dem Wasser stand an meinem Ende. Alles lief prächtig, aber bevor ich mir eine Tasse voll abgezapft hatte, mußte mich ausgerechnet dieser kleine Schnüffler Riepischiep erwischen. Ich versuchte zu erklären, ich wolle an Deck und frische Luft schnappen (die Sache mit dem Wasser hatte ja mit ihm nichts zu tun), und er fragte mich, warum ich dann eine Tasse bei mir hätte. Er machte so ein Theater, daß das ganze Schiff aufwachte. Sie haben mich skandalös behandelt. Ich fragte, so, wie das vermutlich jeder getan hätte, warum Riepischiep mitten in der Nacht um das Wasserfaß herumschleicht. Er sagte, da er zu klein sei, um an Deck zu helfen, halte er jede Nacht beim Wasser Wache, damit dafür ein weiterer Mann schlafen könne. Und jetzt kommt die verdammte Ungerechtigkeit: sie haben alle ihm geglaubt! Das ist das Letzte!
Ich mußte mich entschuldigen, sonst wäre das gefahrliche kleine Biest mit dem Schwert auf mich losgegangen. Und dann hat Kaspian sein wahres Gesicht als brutaler Tyrann gezeigt und hat so laut, daß es alle hören konnten, gesagt, daß jeder, der beim Wasserstehlen ertappt würde, in Zukunft »zwei Dutzend« bekäme. Ich wußte nicht, was er damit meinte, bis Edmund es mir erklärte. Solche Sachen stehen in den Büchern, die diese Kinder lesen.
Nach dieser feigen Drohung schlug Kaspian einen anderen Ton an und begann, herablassend zu werden. Er sagte, ich täte ihm leid und alle anderen würden sich genauso fiebrig fühlen wie ich, und wir müßten alle das Beste daraus machen und so weiter. Ekelhafter, eingebildeter Besserwisser. Bin heute den ganzen Tag im Bett geblieben.
7. September. Heute kam ein wenig Wind auf, aber noch immer von Westen. Haben ein paar Meilen Richtung Osten zurückgelegt mit einem Teil des Segels auf dem »Geschworenenmast«, wie Drinian ihn nennt. Das heißt, daß der Bugspriet aufgerichtet und am Stumpf des richtigen Masts angebunden wurde (sie nennen das »festzurren«). Noch immer schrecklich durstig.
8. September. Wir segeln weiter nach Osten. Ich bleibe jetzt den ganzen Tag in meiner Koje und sehe niemand außer Lucy, bis die beiden Ungeheuer zu Bett gehen. Lucy gibt mir ein wenig von ihrer Wasserration ab. Sie sagt, Mädchen würden nicht so durstig werden wie Jungen. Ich habe das schon öfters gedacht, aber es müßte auf See noch besser bekannt werden.
9. September. Land in Sicht; ein sehr hoher Berg weit vor uns im Südosten.
10. September. Der Berg ist inzwischen größer und klarer, aber noch immer sehr weit weg. Heute tauchten zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder Möwen auf.
11. September. Haben ein paar Fische gefangen und gegessen. Haben gegen sieben Uhr abends in drei Faden tiefem Wasser in einer Bucht dieser bergigen Insel Anker geworfen. Kaspian, dieser Idiot, ließ uns nicht an Land, weil es schon dunkel wurde und er Angst hatte vor den Wilden und den Tieren. Zusätzliche Wasserration heute abend.
Was sie auf dieser Insel erwartete, sollte Eustachius mehr als alle anderen betreffen, aber es kann nicht mit seinen eigenen Worten berichtet werden, weil er nach dem elften September lange Zeit vergaß, Tagebuch zu führen.
Als der Morgen sehr heiß, aber mit einer tiefhängenden grauen Wolkendecke anbrach, fanden sich die Abenteurer in einer Bucht, die so von Kliffen und schroffen Felsen eingerahmt war, daß sie wie ein norwegischer Fjord aussah. Vor ihnen, am Kopf der Bucht, lag flaches Land, das dicht bewachsen war mit zedernähnlichen Bäumen, zwischen denen ein schnell dahinfließender Bach ins Meer mündete. Dahinter erhob sich ein steiler Abhang mit einem zerklüfteten Kamm, und hinter diesem Abhang sah man verschwommen dunkle Berge, die bis zu den Wolken aufragten und deren Spitzen man deshalb nicht erkennen konnte. Auf den näherliegenden Kliffen der Bucht sah man hier und da weiße Linien, die alle als Wasserfälle erkannten, obwohl sie aus der Entfernung regungslos und still dazuliegen schienen. Tatsächlich war die ganze Gegend sehr ruhig, und das Wasser in der Bucht war so glatt wie Glas. Die Kliffe spiegelten sich mit jeder Einzelheit darin wider. Auf einem Bild wäre die Szene hübsch gewesen, aber im richtigen Leben war sie recht bedrückend. Es war kein Land, das Besucher willkommen hieß.
Die ganze Schiffsmannschaft begab sich in zwei Bootsladungen an Land, und alle tranken, wuschen sich im Fluß, aßen und ruhten sich aus. Dann sandte Kaspian vier Männer zum Schiff zurück, und die Arbeit begann. Es gab so viel zu tun. Die Fässer mußten an Land gebracht und die beschädigten mußten – sofern möglich – repariert und zusammen mit den anderen wieder aufgefüllt werden. Dann mußte ein Baum – und zwar eine Kiefer, falls es das hier gab – gefällt und ein neuer Mast daraus gezimmert werden; Segel mußten geflickt und eine Jagdgruppe organisiert werden, um soviel Wild wie nur irgend möglich zu erlegen; Kleider mußten gewaschen und geflickt und unzählige kleine Reparaturen ausgeführt werden. Denn die »Morgenröte« war kaum mehr als das stolze Schiff zu erkennen, das Enghafen verlassen hatte – jetzt, aus der Entfernung, sah man das noch deutlicher. Sie sah ganz verstümmelt aus, die Farbe war abgeblättert, und jeder hätte sie für ein Wrack gehalten. Auch die Offiziere und die Mannschaft sahen nicht besser aus – sie waren abgemagert, blaß, hatten vom mangelnden Schlaf rote Augen und waren in Lumpen gehüllt.
Als Eustachius unter einem Baum lag und mit anhörte, wie all dies besprochen wurde, sank ihm das Herz. Gab es denn keinerlei Erholung? Es sah so aus, als brächte dieser erste Tag auf dem langersehnten Land genauso viel harte Arbeit wie ein Tag auf See. Dann kam ihm ein hervorragender Gedanke. Niemand beachtete ihn – alle schwatzten über ihr Schiff, und zwar so, als verspürten sie tatsächlich Liebe zu diesem gräßlichen Ding. Warum sollte er sich da nicht einfach verdrücken? Er würde ein Stückchen landeinwärts spazieren, eine kühle, luftige Stelle oben in den Bergen suchen, ein schönes langes Schläfchen machen und erst zu den anderen zurückkehren, wenn die Tagesarbeit beendet war. Er wußte, daß ihm das guttun würde. Aber er würde sorgfältig darauf achten, die Bucht und das Schiff nicht aus den Augen zu verlieren, um sicherzustellen, daß er wieder zurückfand. Er hatte keine Lust, hier in dieser Gegend zurückgelassen zu werden.
Sofort führte er seinen Plan aus. Er erhob sich leise und schlenderte im Schutz der Bäume davon. Er bemühte sich, langsam zu gehen und so, als hätte er kein bestimmtes Ziel, damit jeder, der ihn sah, annahm, er würde sich nur die Beine vertreten. Er war überrascht, wie rasch hinter ihm die Gespräche der anderen verklangen und wie still und warm und dunkelgrün der Wald wurde. Schon bald wagte er es, schneller und entschlossener auszuschreiten.
Kurz darauf trat er aus dem Wald heraus. Vor ihm lag ein steiler Hang. Das Gras war trocken und glatt, aber wenn er Hände und Füße benutzte, war es zu schaffen, und obwohl er außer Atem war und sich häufig die Stirn abwischte, stolperte er stetig vorwärts.
Das zeigte übrigens, obwohl er selbst das nie vermutet hätte, daß sein neuer Lebensstil ihm gutgetan hatte; der alte Eustachius, Haralds und Albertas Eustachius, hätte diese Kletterei schon nach zehn Minuten aufgegeben.
Langsam und mit vielen Verschnaufpausen erreichte er den Bergkamm. Er hatte erwartet, von hier aus bis ins Herz der Insel sehen zu können, aber die Wolken hingen inzwischen tiefer, und eine Nebelwand schob sich auf ihn zu. Er setzte sich hin und schaute zurück. Er war jetzt so hoch oben, daß die Bucht unter ihm ganz winzig aussah und man weit aufs Meer hinausschauen konnte. Dann umschloß ihn undurchdringlich und doch nicht kalt von allen Seiten der Nebel von den Bergen, und er legte sich hin und wälzte sich herum, um eine bequeme Lage zu finden, in der er sich wohlfühlte.
Aber er fühlte sich nicht wohl, oder zumindest nicht sehr lange. Zum ersten Mal in seinem Leben begann er, sich einsam zu fühlen. Dieses Gefühl entstand nur sehr allmählich. Und dann fing er an, sich über alles mögliche Sorgen zu machen. Nicht der geringste Laut war zu hören. Plötzlich kam ihm der Gedanke, er könne schon stundenlang hier gelegen haben. Vielleicht waren die anderen schon weg! Vielleicht hatten sie ihn absichtlich weggehen lassen, um ihn hier zurückzulassen! In panischer Angst sprang er auf und begann den Abstieg.
Zuerst war er zu ungeduldig, glitt auf der steil abfallenden Grasfläche aus und rutschte ein paar Meter hinunter. Dann dachte er, er sei dadurch zu weit nach links geraten – und dort hatte er beim Aufstieg einige Kliffe gesehen. Deshalb krabbelte er wieder so nah wie möglich zu der Stelle zurück, von der er – wie er meinte – aufgebrochen war, und begann den Abstieg von neuem. Diesmal hielt er sich nach rechts. Nun schienen die Dinge besser zu verlaufen. Er ging sehr vorsichtig, denn er konnte nur einen Meter weit sehen, und um ihn herum herrschte noch immer Totenstille. Es ist sehr unangenehm, vorsichtig gehen zu müssen, wenn einem eine innere Stimme ständig sagt: schnell, schnell, schnell! Jede Sekunde wurde der Gedanke, zurückgelassen zu werden, bedrohlicher. Wenn er Kaspian und die Kinder auch nur ein wenig verstanden hätte, dann hätte er natürlich gewußt, daß sie so etwas niemals tun würden.
»Endlich!« sagte Eustachius, als er einen Abhang mit losen Steinen heruntergeschlittert kam (das nennt man Geröllhalde) und auf ebener Erde stand. »Und jetzt – wo sind die Bäume? Da vorne ist etwas Dunkles. Oh, ich glaube, der Nebel lichtet sich.«
Das stimmte. Das Licht wurde immer heller und zwang ihn zum Blinzeln. Der Nebel hob sich. Er befand sich in einem völlig unbekannten Tal, und das Meer war nirgendwo zu sehen.