Paulo Coelho Elf Minuten

Und diese, eine Frau, war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als sie vernahm, daß er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salböl…

Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es.

Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?

Simon antwortete und sprach: »Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat.«

Er aber sprach zu ihm: »Du hast recht geurteilt.«

Und dann wandte er sich zu der Frau und sprach zu Simon: »Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben, diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben, diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.

Deshalb sage ich zu dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.«

Lukas, 7: 37-47

Weil ich die erste und die letzte bin

Bin ich verehrt und verachtet

Bin ich Hure und Heilige

Bin ich Gattin und Jungfrau

Bin ich Mutter und Tochter

Bin ich die Arme meiner Mutter

Bin ich unfruchtbar, und die Zahl meiner Kinder ist groß

Bin ich gut vermählt und ledig

Bin ich die gebiert und niemals geboren hat

Bin ich die Trösterin der Wehen

Bin ich die Gattin und der Gatte und es war mein Mann, der mich geschaffen hat

Ich bin die Mutter meines Vaters

Bin die Schwester meines Mannes und er ist mein abgelehnter Sohn

Achtet mich immer

Denn ich bin die Anstoß Erregende und die Prächtige

Hymne an Isis, 3. oder 4. Jh. n. Chr., entdeckt in Nag Hammadi

Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.

Moment mal. »Es war einmal« ist die beste Art, ein Märchen für Kinder zu beginnen, während »Prostituierte« nach etwas klingt, was für Erwachsene gedacht ist. Darf man ein Buch mit einem so offensichtlichen Widerspruch beginnen? Im Leben stehen wir schließlich auch dauernd mit einem Fuß im Märchen und mit dem anderen im Abgrund, und darum wollen wir es bei diesem Anfang belassen: Es war einmal eine Prostituierte namens Maria.

Wie alle Prostituierten war auch Maria einmal ein unschuldiges Mädchen gewesen und hatte während ihrer Jugendzeit davon geträumt, dem Mann ihres Lebens zu begegnen (reich, schön, intelligent), ihn zu heiraten (im Brautkleid), mit ihm zwei (dereinst berühmte) Kinder zu haben und in einem schönen Haus (mit Blick aufs Meer) zu wohnen. Marias Vater war Bauer, ihre Mutter Schneiderin, in ihrer Heimatstadt im Nordosten Brasiliens gab es nur ein Kino, einen Nachtclub, eine Bankfiliale; deshalb wartete Maria immer darauf, daß eines Tages ein Märchenprinz auftauchen, ihr Herz im Sturm nehmen und mit ihr aufbrechen würde, um die Welt zu erobern.

Solange aber der Märchenprinz nicht kam, konnte sie nur träumen. Mit elf verliebte sie sich zum ersten Mal. Auf dem Schulweg. Am ersten Schultag. In einen Jungen aus der Nachbarschaft. Die beiden sprachen nie ein Wort miteinander, aber Maria merkte bald, daß die schönsten Augenblicke des Tages für sie die auf der staubigen Straße waren, wenn die Sonne im Zenit stand und sie durstig und müde versuchte, mit dem Jungen Schritt zu halten.

So ging es mehrere Monate lang: Maria, die im Grunde nicht gern lernte und in ihrer Freizeit nur vor dem Fernseher saß, konnte den nächsten Schultag jeweils kaum erwarten; im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen fand sie die Wochenenden todlangweilig. Da die Zeit einem jungen Menschen viel länger vorkommt als einem Erwachsenen, erschien es ihr unerträglich, daß jeder Tag ihr nur zehn Minuten mit ihrem Liebsten bescherte und dafür unendlich viele Stunden, in denen sie an den Jungen nur denken und sich ausmalen konnte, wie schön es wäre, mit ihm zu reden.

Und dann geschah es. Eines Morgens sprach der Junge sie an und bat sie, ihm einen Bleistift zu leihen. Maria antwortete nicht, blickte ihn abweisend an und ging schnell weiter. In Wirklichkeit war sie vor Angst wie versteinert gewesen, als sie ihn auf sich zukommen sah. Sie fürchtete, er könnte merken, wie verliebt sie in ihn war, was sie sich alles von ihm erhoffte, wie sehr sie davon träumte, mit ihm Hand in Hand am Schultor vorbei- und die Straße bis zum Ende zu gehen, bis in eine große Stadt, wo es angeblich Märchenprinzen gab und Künstler, viele Autos und Kinos und alle möglichen tollen Dinge, die man unternehmen konnte.

Tagsüber im Unterricht konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie machte sich Vorwürfe, aber zugleich war sie erleichtert, weil sie dem Jungen auch aufgefallen war und dieser den Bleistift offensichtlich nur als Vorwand benutzt hatte, um mit ihr ein Gespräch zu beginnen, denn als er zu ihr gekommen war, hatte sie einen Kugelschreiber in seiner Tasche bemerkt. Sie wartete darauf, daß er sie erneut ansprechen würde, und in der Nacht und all die folgenden Nächte – malte sie sich die Antworten aus, die sie ihm beim nächsten Mal geben würde, und was die richtige Art wäre, eine Liebesbeziehung zu beginnen, die nie enden würde.

Aber es gab kein nächstes Mal. Obwohl sie weiterhin zusammen zur Schule gingen – Maria mal ein paar Schritte vor ihm mit einem Bleistift in der Hand, mal hinter ihm, um ihn zärtlich anzusehen –, sprach er sie bis zum Ende des Schuljahres nie wieder an.

In den großen, endlosen Ferien wachte sie eines Morgens mit Blut an den Beinen auf und dachte, sie müßte sterben. Sie beschloß, dem Jungen einen Brief zu schreiben, in dem sie ihm ihre Liebe gestand; danach würde sie in den sertão, in die Wildnis, gehen und von einem dieser fürchterlichen Tiere nämlich dem Werwolf oder dem Maultier ohne Kopf –, von denen die Bauern der Gegend immer munkelten, getötet werden. Wenigstens wußten ihre Eltern dann nicht, daß sie tot war, und konnten hoffen, daß ihr Kind von einer reichen, kinderlosen Familie geraubt worden und eines Tages – reich und erfolgreich – zurückkehren würde; Marias große Liebe dagegen würde sich ein Leben lang grämen, sie nicht wieder angesprochen zu haben.

Maria kam nicht dazu, den Brief zu schreiben, denn ihre Mutter trat ins Zimmer, sah die roten Bettücher und sagte lächelnd:

»Jetzt bist du ein junges Mädchen, Töchterchen.« Maria wollte wissen, was das Blut damit zu tun habe, daß sie jetzt ein junges Mädchen war, doch ihre Mutter konnte es ihr nicht richtig erklären. Sie sagte nur, es sei normal und von nun an müsse sie an vier oder fünf Tagen im Monat eine Art Puppenkissen zwischen den Beinen tragen. Geht das bei den Männern auch so? fragte Maria, denn sie konnte sich nicht vorstellen, wie das bei ihnen funktionieren sollte. Aber sie erhielt die Auskunft, daß Männer keine monatlichen Blutungen hätten. Männern passiere das nicht, nur Frauen. Zuerst haderte Maria mit dem lieben Gott wegen dieser Ungerechtigkeit, doch mit der Zeit fand sie sich mit der Menstruation ab. Mit der Abwesenheit des Jungen konnte sie sich jedoch nicht abfinden, und sie machte sich ständig Vorwürfe, weil sie vor dem weggelaufen war, was sie sich am meisten gewünscht hatte. Einen Tag vor Schulbeginn ging sie in die einzige Kirche des Ortes und gelobte vor dem Bildnis des heiligen Antonius, daß sie die Initiative ergreifen und den Jungen ansprechen würde. Gott sei Dank waren die Ferien endlich vorbei. Am nächsten Tag machte sie sich so hübsch wie möglich. Sie zog das neue Kleid an, das die Mutter für sie genäht hatte, und trat vor das Haus. Aber der Junge kam und kam nicht. Eine bange Woche verging, bis sie von ihren Kameraden erfuhr, er sei in eine andere Stadt gezogen.

»Er ist weit weggezogen«, sagte einer.

Da lernte Maria, daß gewisse Dinge nicht nachholbar, sondern auf ewig verloren sein können. Sie lernte auch, daß es einen Ort namens >Weit weg< gab, daß die Welt groß und ihr Städtchen klein war und daß die interessanten Menschen am Ende immer weggingen. Sie wäre selbst gern weggegangen, aber sie war noch sehr jung; dennoch beschloß sie, daß sie eines Tages dem Jungen folgen und den vertrauten staubigen Straßen für immer den Rücken kehren würde.

An den neun folgenden Freitagen ging sie zur Kommunion und betete zur Jungfrau Maria, sie bald hier herauszuholen.

Vergebens versuchte sie, eine Spur des Jungen zu finden, aber niemand wußte, wohin er mit seinen Eltern gezogen war. Und Maria kam zu dem Schluß, daß die Welt zu groß, die Liebe etwas Gefährliches und die Jungfrau Maria dort im Himmel zu weit weg wohnte, um die Bitten der Kinder zu hören.

Die Jahre vergingen, Maria besuchte weiter die Schule, lernte Mathematik und Erdkunde, schaute sich regelmäßig die Serien im Fernsehen an, las in der Schule unter dem Pult die ersten erotischen Zeitschriften. Sie begann auch ein Tagebuch, dem sie ihr, wie sie fand, uninteressantes Leben anvertraute und ihre Sehnsucht nach der weiten Welt, von der ihnen der Erdkundelehrer erzählte – den Meeren, den schneebedeckten Alpen, aber auch von den Männern mit Turban und eleganten, schmuckbehangenen Frauen. Aber da das Leben nicht nur aus unerfüllbaren Wünschen bestehen kann – vor allem, wenn die Mutter Schneiderin ist und der Vater auf dem Feld arbeitet und fast nie zu Hause ist –, begriff Maria bald, daß sie ihrer Umgebung mehr Beachtung schenken sollte. Sie lernte eifrig, um es im Leben zu etwas zu bringen, während sie zugleich jemanden suchte, mit dem sie ihre Sehnsucht nach Abenteuern teilen konnte.

Mit fünfzehn verliebte sie sich in einen Jungen, den sie während einer Karwochenprozession kennengelernt hatte. Sie machte denselben Fehler nicht noch einmal: Die beiden redeten miteinander, freundeten sich an, gingen zusammen ins Kino und auf Partys. Erneut stellte sie fest, daß die Liebe mehr mit der Abwesenheit als mit der Gegenwart der geliebten Person zu tun hatte: Wenn sie den Jungen nicht sah, vermißte sie ihn, und sie verbrachte Stunden damit, sich auszumalen, was sie beim nächsten Wiedersehen sagen würde, erinnerte sich an jeden Augenblick, den sie zusammen verbracht hatten, und grübelte, was sie richtig oder falsch gemacht hatte. Sie gefiel sich in der Rolle des schon etwas erfahreneren Mädchens, das schon eine Liebe hatte gehen lassen und es bitter bereute. Jetzt war sie wild entschlossen, um den jungen Mann zu kämpfen: sie wollte heiraten, Kinder haben, in dem Haus am Meer wohnen. Ihre Mutter, mit der sie sich besprach, fand sie dafür noch zu jung.

»Aber du warst doch auch erst sechzehn, als du Vater gehe iratet hast!«

Die Mutter wollte nicht zugeben, daß eine ungewollte Schwangerschaft der Grund gewesen war, und brach das Gespräch sofort ab.

»Damals war eben alles anders«, sagte sie nur.

Am nächsten Tag durchstreifte Maria mit dem Jungen die Felder vor dem Städtchen. Sie unterhielten sich, und Maria fragte, ob er auch so große Lust habe zu reisen; als Antwort nahm er sie in den Arm und küßte sie.

Der erste Kuß ihres Lebens! Wie oft hatte sie von diesem Augenblick geträumt! Noch dazu vor dieser Kulisse mit den fliegenden Reihern, dem Sonnenuntergang, der wilden Steppenlandschaft, in die von ferne Musik herüberschallte. Maria tat erst so, als wolle sie nicht, doch bald küßte sie ihn auch oder tat vielmehr, was sie so oft im Kino, in Illustrierten und im Fernsehen gesehen hatte: Sie rieb ihre Lippen heftig an seinen und bewegte dabei ihren Kopf halb rhythmisch, halb unkontrolliert von einer Seite zur anderen. Sie spürte, daß die Zunge des Jungen hin und wieder ihre Zähne berührte, und fand das köstlich.

Da hörte er plötzlich auf, sie zu küssen.

»Willst du nicht?« fragte er.

Was sollte sie darauf antworten? Was wollte er? Natürlich wollte sie. Aber eine Frau durfte sich doch nicht gleich hingeben, vor allem nicht ihrem zukünftigen Ehemann, sonst wurde er womöglich mißtrauisch und hielt sie für ein leichtfertiges Mädchen. Darum sagte sie lieber nichts.

Er umarmte und küßte sie wieder, aber mit spürbar weniger Begeisterung. Dann hörte er auf. Er war ganz rot im Gesicht und Maria merkte, daß etwas nicht stimmte, hatte aber Angst zu fragen. Sie nahm ihn bei der Hand, und sie gingen ins Städtchen zurück, wobei sie über belanglose Dinge redeten, als wäre nichts geschehen.

In jener Nacht schrieb sie in dem Bewußtsein, daß etwas Schlimmes passiert war, in wohlgesetzten und auch etwas umständlichen Worten in ihr Tagebuch:

Wenn wir jemandem begegnen und uns in ihn verlieben, haben wir das Gefühl, daß das ganze Universum einverstanden ist; heute habe ich das bei Sonnenuntergang erlebt. Wenn jedoch etwas nicht klappt, wenn etwas schiefläuft, dann ist plötzlich alles dahin, als wäre es nie gewesen: die Reiher, die Musik in der Ferne, der Geschmack seiner Lippen. Wie kann soviel Schönheit von einer Minute auf die andere vergehen?

Das Leben rast mit uns dahin, und innerhalb von Sekunden gelangen wir vom Himmel in die Hölle.


Am nächsten Tag redete sie mit ihren Freundinnen. Alle hatten gesehen, daß sie mit ihrem >Liebsten< spazierengegangen war – es reicht schließlich nicht, daß man eine große Liebe hat, man muß auch alles tun, damit die anderen wissen, daß man begehrt ist. Die Freundinnen waren sehr neugierig darauf, zu erfahren, was passiert war, und Maria berichtete stolz, das Beste sei die Zunge gewesen, die ihre Zähne berührt habe. Eins der Mädchen lachte.

»Hast du den Mund nicht aufgemacht?«

Schlagartig wurde ihr alles klar – die Frage, die Enttäuschung.

»Wozu?«

»Damit die Zunge hineinkann.«

»Und was ist der Unterschied?«

»Dafür gibt es keine Erklärung. Man küßt nun mal so.«

Heimliches Kichern, mitleidiges Lächeln – eine süße Genugtuung für jene Mädchen, in die sich noch kein Junge verliebt hatte. Maria tat so, als wäre das nicht weiter wichtig, und stimmte in ihr Gelächter ein – obwohl ihr eigentlich zum Weinen zumute war. Insgeheim verfluchte sie die Filme, von denen sie gelernt hatte, daß man beim Küssen die Augen schließt, den Kopf des anderen zwischen beide Hände nimmt, die Lippen aneinander reibt, die ihr aber das Wesentliche, das Wichtigste, vorenthalten hatten. Sie redete sich ein: Ich wollte mich nicht gleich hingeben, weil ich nicht überzeugt war, doch jetzt habe ich herausgefunden, daß du der Mann meines Lebens bist, und sie wartete auf die nächste Gelegenheit.

Aber sie sah den Jungen erst drei Tage darauf im Clubhaus der Gemeinde wieder, wo er mit ihrer besten Freundin Händchen hielt – derjenigen, die sie nach dem Kuß gefragt hatte. Sie spielte wieder die Gleichgültige, hielt den ganzen Abend durch, redete Belangloses mit ihren anderen Freundinnen und tat so, als bemerke sie die mitleidigen Blicke nicht, mit denen sie bedacht wurde. Erst als sie wieder zu Hause war, brach sie zusammen und weinte die ganze Nacht. Acht Monate kam sie nicht darüber hinweg. Ihr war klargeworden: Weder war die Liebe für sie, noch sie für die Liebe gemacht. Sie trug sich jetzt mit dem Gedanken, Nonne zu werden und den Rest ihres Lebens einer Art Liebe zu weihen, die nicht verletzte und keine Wunden im Herzen zurückließ – der Liebe zu Jesus. In der Schule sprachen sie von Missionaren, die nach Afrika gingen, und sie beschloß, daß dies der Ausweg aus einem Leben ohne große Gefühle sei. Sie plante, ins Kloster zu gehen, absolvierte einen Erste-Hilfe-Kurs (da in Afrika so viele Menschen krank waren), beteiligte sich eifrig am Religionsunterricht und sah sich bereits als eine moderne Heilige, die Leben rettete und in der Wildnis mitten unter Tigern und Löwen hauste.

Doch ihr fünfzehntes Lebensjahr bescherte ihr nicht nur die Entdeckung des Zungenkusses und der Liebe als Quelle vielen Leids, sondern noch etwas Drittes: die Selbstbefriedigung. Es geschah fast zufällig, als sie an einem Nachmittag, als sie allein zu Hause war, auf ihrem Bett lag und an ihrem Körper herumspielte. Sie hatte das schon als Kind sehr gemocht – bis ihr Vater sie eines Tages dabei überrascht und ihr kommentarlos eine Tracht Prügel verabreicht hatte. Sie hatte die Schläge nie vergessen und daraus gelernt, daß sie sich nie in Anwesenheit anderer berühren durfte; da sie zu Hause kein eigenes Zimmer hatte, unterließ sie es ganz und vergaß das angenehme Gefühl.

Bis zu jenem Nachmittag, fast sechs Monate nach dem bewußten Kuß. Die Mutter war beim Einkaufen, der Vater mit einem Freund unterwegs, und im Fernsehen lief kein interessantes Programm. Maria, die auf ihrem Bett lag, begann ihren Körper nach unerwünschten Härchen abzusuchen, die sie mit der Pinzette auszupfen wollte. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie einen kleinen Knubbel oberhalb ihrer Vagina; sie begann mit ihm zu spielen und konnte nicht mehr aufhören; es wurde immer köstlicher, immer intensiver, und ihr ganzer Körper – vor allem der Teil, den sie berührte – wurde steif.

Allmählich gelangte sie in eine Art paradiesischen Zustand, das Gefühl wurde immer intensiver, sie hörte nichts mehr, alles verschwamm vor ihren Augen zu einem goldenen Dunst, bis sie vor Lust aufstöhnte und ihren ersten Orgasmus hatte.

Es war so, als wäre sie in den siebten Himmel aufgestiegen und würde nun wieder langsam mit einem Fallschirm zur Erde herunterschweben. Ihr Körper war schweißnaß, aber sie fühlte sich ganz erfüllt, voller Energie. Das also war Sex! Wie wunderbar! Nicht wie in den erotischen Fotoromanen, in denen alle von Lust redeten, dazu aber ein schmerzverzerrtes Gesicht machten. Sie brauchte keinen Mann, der ihre Seele mißachtete und nur ihren Körper liebte. Sie konnte alles selbst machen! Sie befriedigte sich erneut, und diesmal stellte sie sich vor, daß ein Fernsehstar sie berührte. Und wieder gelangte sie in den siebten Himmel und schwebte mit dem Fallschirm herunter, noch erfüllter, noch lebendiger. Sie wollte gerade ein drittes Mal beginnen, als ihre Mutter heimkam.

Maria sprach mit ihren Freundinnen über ihre Entdeckung, sagte aber nicht, daß sie diese erst vor ein paar Stunden gemacht hatte. Außer zweien wußten alle Bescheid, aber keine hatte bislang gewagt, die Sache anzusprechen. Erstmals konnte sich Maria als Vorkämpferin ihrer Clique fühlen; sie erfand ein >Bekenntnis-Spiel< und bat jede zu erzählen, wie sie sich am liebsten selbst befriedigte. So erfuhr sie von verschiedenen Techniken, wie der, es mitten im Sommer unter der Decke zu tun (weil Schwitzen angeblich half), eine Gänsefeder zu benutzen, um die bewußte Stelle zu berühren (wie die Stelle hieß, wußte sie nicht), einen Jungen das machen zu lassen (was Maria überflüssig vorkam) oder die Dusche des Bidets zu benutzen.

Jedenfalls gab Maria, nachdem sie die Selbstbefriedigung entdeckt und einige der von ihren Freundinnen empfohlenen Techniken angewandt hatte, endgültig den Plan auf, Nonne zu werden. Es verschaffte ihr viel Lust. Auch wenn es von der Kirche als große Sünde angeprangert wurde. Unter ihren Freundinnen kursierten die wildesten Geschichten: daß man vom Masturbieren überall am Körper Pickel bekam oder wahnsinnig oder sogar schwanger werden konnte. Maria nahm die Risiken gern in Kauf und befriedigte sich wöchentlich mindestens einmal, meistens mittwochs, wenn ihr Vater mit seinen Freunden zum Kartenspielen wegging.

Gleichzeitig wurde sie in ihrer Beziehung zu Männern immer unsicherer – und der Wunsch, wegzugehen, wurde immer größer. Sie verliebte sich ein drittes und ein viertes Mal, konnte inzwischen küssen, berührte sich oder ließ sich berühren, wenn sie mit ihren Liebsten allein war – aber immer lief etwas falsch, und die Beziehung endete immer genau dann, wenn Maria das sichere Gefühl hatte, den Richtigen gefunden zu haben, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Männer bedeuten nur Schmerz, Frustration und Kummer, dachte sie.

An einem Nachmittag, als sie im Park war und eine Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn spielen sah, merkte sie, daß sie auf den Traum von Ehemann, Kindern und einem Haus mit Meerblick doch nicht ganz verzichten wollte; nur verlieben wollte sie sich nicht mehr, denn die Leidenschaft machte alles kaputt!

So vergingen Marias Jugendjahre. Sie wurde immer hübscher, und wegen ihrer geheimnisvollen, traurigen Aura hatte sie viele Verehrer. Sie verabredete sich auch mit dem einen oder anderen, träumte und litt – obwohl sie sich doch geschworen hatte, sich nie wieder zu verlieben. Bei einer dieser Verabredungen verlor sie ihre Jungfräulichkeit auf der Rückbank eines Wagens; sie und ihr Freund berührten sich heftiger als sonst, der Junge fing Feuer, und da sie es satt hatte, die letzte Jungfrau in ihrer Clique zu sein, ließ sie zu, daß er in sie eindrang. Doch statt sie wie das Masturbieren in den siebten Himmel zu heben, tat ihr dieses erste Mal nur weh und hinterließ einen Blutfleck auf ihrem Kleid, der nur schwer wieder herausging. Sie fühlte sich auch nicht verzaubert wie beim ersten Kuß – keine fliegenden Reiher, kein Sonnenuntergang, keine Musik… aber daran wollte sie nicht mehr denken.

Sie hatte mit dem Jungen noch ein paarmal Sex und setzte ihn unter Druck mit der Drohung, ihrem Vater zu erzählen, daß er sie vergewaltigt habe, und der wäre imstande, ihn umzubringen. Sie machte ihn zu einem Werkzeug, um Erfahrungen zu sammeln, wobei sie auf alle möglichen Arten und Weisen zu ergründen suchte, worin die Lust beim Sex mit einem Partner liegen könnte.

Sie kam nicht dahinter; Masturbieren war viel weniger anstrengend, und sie hatte mehr davon – auch wenn das Fernsehen, die Illustrierten, Ratgeber und Freundinnen im Chor verkündeten, daß ein Mann wichtig sei. Maria begann zu glauben, daß sie ein sexuelles Problem hätte, das sie mit niemandem besprechen konnte. Daher stürzte sie sich aufs Lernen und vergaß lange Zeit diese wunderbare, mörderische Sache, die Liebe hieß.


Aus dem Tagebuch der inzwischen siebzehnjährigen Maria:

Ich möchte herausfinden, was das ist: die Liebe. Ich weiß, daß ich lebendig gewesen bin, als ich geliebt habe, und ich weiß auch, daß nichts an meinem heutigen Leben, so interessant es auf den ersten Blick aussehen mag, mich wirklich begeistert.

Aber die Liebe ist etwas Schreckliches: Ich sehe meine Freundinnen leiden, und das soll mir nicht auch passieren. Dieselben, die mich früher wegen meiner Naivität ausgelacht haben, fragen mich jetzt, wie ich es fertigbringe, die Männer im Griff zu haben. Ich lächle und schweige, weil ich weiß, daß die Arznei schlimmer ist als der Schmerz: Ich verliebe mich einfach nicht. Mit jedem Tag, der vergeht, sehe ich deutlicher, wie schwach, wankelmütig, unsicher die Männer sind und für einige Überraschungen gut… Einige der Väter meiner Freundinnen haben mir schon Angebote gemacht, ich habe abgelehnt. Früher war ich schockiert, jetzt glaube ich, daß die Männer eben so sind.

Ich will begreifen, was Liebe ist, aber bislang leide ich nur. Diejenigen, die meine Seele berühren, können meinen Körper nicht erwecken. Und die, denen ich mich hingebe, können meine Seele nicht berühren.

Mit neunzehn schloß Maria die Sekundarschule ab und nahm eine Stelle in einem Stoffladen an. Der Chef verliebte sich in sie – aber Maria wußte nun, wie man einen Mann benutzte, ohne von ihm benutzt zu werden. Er durfte sie nie auch nur anfassen, obwohl sie ihn, ihrer Anziehungskraft voll bewußt, immer wieder provozierte.

Die Macht der Schönheit! Und wie mochte die Welt für die häßlichen Frauen aussehen? Maria hatte etliche Freundinnen, die bei Partys unbeachtet blieben und zu denen keiner »Hallo, wie geht's!« sagte. Erstaunlicherweise maßen diese Mädchen dem wenigen an Liebe, das sie bekamen, viel mehr Wert bei, litten schweigend, wenn sie abgewiesen wurden, und setzten auf etwas anderes, als sich nur für jemanden schönzumachen. Sie waren unabhängiger, nahmen sich mehr Zeit für sich selbst, obwohl ihnen das Leben nach Marias Ansicht doch bestimmt unerträglich vorkommen mußte.

Sie selbst hingegen wußte, wie anziehend sie war. Allerdings vergaß sie die Warnung ihrer Mutter nicht: »Die Schönheit hält nicht ewig an, Töchterchen.«

Ihren Chef hielt sie auf Distanz, flirtete aber auch mit ihm, was ihr eine beachtliche Gehaltserhöhung einbrachte. Wie lange sie ihn noch hoffen lassen könnte, sie eines Tages doch noch ins Bett zu kriegen, wußte sie nicht, aber einstweilen verdiente sie gut. Dazu kam no ch ein Überstundenzuschlag, weil der Mann sie einfach soviel wie möglich um sich haben wollte, vielleicht aus Angst, sie könnte in ihrer Freizeit der großen Liebe begegnen. So arbeitete sie vierundzwanzig Monate hintereinander, konnte ihren Eltern monatlich etwas Geld abgeben und noch etwas auf die hohe Kante legen. Endlich war es soweit! Sie hatte genug Geld beisammen, um eine Woche in der Stadt ihrer Träume Urlaub zu machen, am Ort der Künstler, dem berühmtesten Postkartenmotiv ihres Landes: in Rio de Janeiro!

Ihr Chef erbot sich, sie zu begleiten und alle Kosten zu übernehmen, aber Maria flunkerte, ihre Mutter lasse sie nur unter der Bedingung an einen der gefährlichsten Orte der Welt reisen, daß sie im Haus eines Vetters übernachte, der Jiu-Jitsu praktiziere.

»Außerdem, Senhor«, fuhr sie fort, »können Sie den Laden doch nicht einfach allein lassen, ohne eine vertrauenswürdige Person, die auf ihn aufpaßt.«

»Sag nicht Senhor zu mir«, sagte er, und Maria las in seinen Augen das Feuer der Leidenschaft – und das kannte sie nur zu gut. Sie war überrascht, weil sie bisher geglaubt hatte, der Mann sei nur an Sex interessiert; sein Blick aber verhieß genau das Gegenteil: »Ich kann dir ein schönes Zuhause bieten, Kinder, und deine Eltern werde ich auch unterstützen.« Und mit Blick auf die Ungewisse Zukunft, beschloß Maria, das Feuer am Brennen zu halten.

Sie sagte, sie würde den Laden vermissen und die netten Menschen, mit denen sie so gern zusammen sei (sie nannte extra niemand Bestimmten, ließ offen, ob sich das mit den »netten Menschen« auf ihn bezog). Im übrigen werde sie schon auf ihre Handtasche achten und aufpassen, daß ihr nichts Böses geschehe. In Wahrheit jedoch wollte sie sich von nichts und niemandem ihre erste Woche in völliger Freiheit kaputtmachen lassen. Sie würde alles ausprobieren, im Meer baden, Wildfremde ansprechen, Schaufensterbummel machen und sich bereit halten für den Märchenprinzen, der endlich kommen und sie erlösen sollte.

»Eine Woche geht schnell vorbei«, sagte sie mit verführerischem Läche ln und hoffte im stillen, daß sie sich irrte. »Die geht schnell vorbei, und dann kehre ich zu meiner Arbeit zurück.«

Der Chef war untröstlich, zierte sich ein bißchen, willigte aber schließlich ein, denn er hatte vor, bei ihrer Rückkehr um ihre Hand anzuha lten; er wollte nur nicht zu dreist sein und alles kaputtmachen.

Maria reiste achtundvierzig Stunden mit dem Bus, nahm sich ein Zimmer in einer fünftklassigen Pension in Copacabana, und noch bevor sie ihren Koffer richtig ausgepackt hatte, zog sie ihren ne uen Bikini an und ging an den Strand. Die paar Wolken am Himmel konnten sie nicht abschrecken. Sie blickte aufs Meer und fürchtete sich und fühlte sich unsicher. Ängstlich blickte sie auf die Wellen. Schließlich ging sie doch ins Wasser.

Niemand am Strand bemerkte dieses Mädchen, das zum ersten Mal das Meer sah, das Reich der Liebes-und Meeresgöttin Jemanja, den Atlantik mit seinen Strömungen und seiner Gischt, der auf der anderen Seite an Afrika mit seinen Löwen grenzte. Als sie aus dem Wasser stieg, wurde sie zuerst von einer Sandwichverkäuferin angesprochen, dann von einem schönen Schwarzen, der sie fragte, ob sie abends frei sei, um mit ihm auszugehen, und schließlich von einem Mann, der kein einziges Wort Portugiesisch sprach und sie mit Gesten einlud, ein Kokoswasser mit ihm zu trinken.

Maria kaufte ein Sandwich, weil es ihr peinlich war, nein zu sagen, doch auf die beiden fremden Männer ging sie nicht ein. Plötzlich wurde sie traurig: endlich konnte sie tun, was sie wollte, und trotzdem benahm sie sich absolut unmöglich. Warum? Sie setzte sich und wartete, daß die Sonne hinter den Wolken hervorkam.

Der Mann, der kein Portugiesisch sprach, erschien mit einer Kokosnuß an ihrer Seite. Froh darüber, daß sie nicht mit ihm reden mußte, trank sie das Kokoswasser, lächelte, und er lächelte zurück. Eine Zeitlang saßen sie wortlos da, lächelten hinüber und herüber – bis der Mann ein rot eingebundenes Miniwörterbuch aus der Tasche zog und mit ausländischem Akzent »bonita« – »hübsch« – sagte. Sie lächelte wieder und war durchaus bereit, ihren Märchenprinzen zu treffen, aber er sollte zumindest ihre Sprache sprechen und etwas jünger sein.

Der Mann ließ nicht locker, blätterte weiter in dem Wörterbüchlein herum und stammelte dann:

»Heute abend essen?«

Und dann: »Schweiz.«

Und sagte dann jene Worte, die – in welcher Sprache auch immer – wie die Glocken des Paradieses klingen:

»Job! Dollar!«

Maria kannte kein Restaurant >Schweiz<. Aber sollten die Dinge wirklich so einfach sein und die Träume so schnell in Erfüllung gehe n? Besser mißtrauisch sein: Vielen Dank für die Einladung, ich bin schon vergeben, und sie war auch nicht daran interessiert, Dollars zu kaufen.

Der Mann, der kein einziges Wort ihrer Antwort verstand, verzweifelte allmählich; er gab das Hinundhergelächle auf, ließ sie stehen und kam kurz darauf mit einem Dolmetscher zurück. Durch ihn erklärte er, daß er aus der Schweiz komme (kein Restaurant, das Land war gemeint) und gern mit ihr zu Abend essen würde, da er ihr einen Job anzubieten habe. Der Dolmetscher, der sich als Berater des Ausländers und Sicherheitsmann des Hotels vorstellte, in dem der Mann abgestiegen war, flüsterte ihr zu:

»Wenn ich du wäre, würde ich einwilligen. Dieser Mann ist ein wichtiger Künstleragent und nach Rio gekommen, um neue Talente zu entdecken, die in Europa für ihn arbeiten sollen. Wenn du willst, kann ich dir andere Frauen vorstellen, die früher für ihn gearbeitet haben: Inzwischen sind sie reich und verheiratet und haben Kinder, und Dinge wie Arbeitslosigkeit und Angst vor Straßenräubern sind für sie Fremdwörter geworden.«

Zum Schluß versuchte er sie noch mit seiner Bildung zu beeindrucken: »Übrigens werden in der Schweiz Uhren und ausgezeichnete Schokolade hergestellt.«

Marias einzige künstlerische Erfahrung hatte bislang darin bestanden, in einem Passionsstück, das die Stadtverwaltung alljährlich in der Karwoche organisierte, die stumme Rolle einer Wasserverkäuferin zu spielen. Sie war übernächtigt von der langen Busreise, aber das Meer hatte sie erregt, und sie war hungrig und fü hlte sich verloren, weil sie weit und breit niemanden kannte. Sie hatte solche Situationen schon vorher erlebt, in denen ein Mann etwas verspricht und danach nicht hält – und wußte deshalb, daß die Geschichte mit der Künstlerin nur wieder ein Trick war, sie für etwas zu interessieren, das sie abzulehnen vorgab.

Sie spürte, daß die Heilige Jungfrau ihr diese Chance gegeben hatte und sie jede Sekunde dieser Urlaubswoche auskosten mußte. Ein gutes Restaurant kennenzulernen bedeutete, daß sie später zu Hause etwas Interessantes zu erzählen hatte. Deshalb nahm sie sein Angebot an, unter der Bedingung, daß der Dolmetscher sie begleitete. Sie hatte es satt, in einem fort zu lächeln und so zu tun, als verstehe sie auch nur ein Wort dessen, was der Ausländer sagte. Jetzt hatte sie nur ein Problem, ein ganz entscheidendes: Sie hatte nichts Richtiges anzuziehen. Eine Frau gibt so etwas nicht zu (eher noch nimmt sie hin, daß ihr Mann sie betrügt), aber da sie diese Männer nicht kannte und sie vermutlich nie wiedersehen würde, hatte sie nichts zu verlieren.

»Ich bin gerade aus dem Nordosten angekommen, ich habe nichts Anständiges anzuziehen.« Der Mann bat sie durch den Dolmetscher, sich keine Sorgen zu machen, und ließ sich die Adresse ihres Hotels geben. Am späten Nachmittag erhielt sie ein Kleid, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keines gesehen hatte, dazu ein Paar Schuhe, die so viel gekostet haben mußten, wie sie im ganzen Jahr verdiente.

Sie spürte: Hier begann der Weg, von dem sie in ihrer Kindheit und Jugend im sertão immer geträumt hatte. Da gab es nur Dürre, junge Männer ohne Zukunft, das ehrliche aber arme Städtchen, in dem sie ein ödes, uninteressantes Leben geführt hatte. Jetzt würde sie bald schon die Prinzessin des Universums sein! Ein Mann hatte ihr einen Job und Dollars versprochen und ihr ein sündhaft teures Paar Schuhe und ein märchenhaftes Kleid geschenkt! Es fehlte noch das entsprechende Makeup, aber die Rezeptionistin ihres Hotels half ihr aus, sagte ihr allerdings auch, daß nicht alle Ausländer gut seie n, so wie auch nicht alle Bewohner Rios Straßenräuber seien.

Maria schlug die Warnung in den Wind, zog das im wahrsten Sinne himmlische Kleid an, verbrachte Stunden vor dem Spiegel. Sie bedauerte, daß sie ihren Fotoapparat zu Hause gelassen hatte und diesen Augenblick nicht festhalten konnte. Beinahe wäre sie zu spät zu ihrer Verabredung gekommen. Sie rannte hinaus wie Aschenputtel und hastete zu dem Hotel, in dem der Schweizer abgestiegen war.

Zu ihrer Überraschung sagte der Dolmetscher gleich, daß er sie nicht begleiten würde.

»Mach dir wegen der Sprache keine Sorgen – das wichtigste ist, daß er sich an deiner Seite wohl fühlt.«

»Aber wie denn, wenn er nicht versteht, was ich sage?«

»Genau deshalb. Du brauchst dich nicht zu unterhalten, es ist eine Frage von Energien.«

Maria wußte nicht, was sie sich unter »Energien« vorstellen sollte; bei ihr zu Hause verständigten sich die Menschen immer noch mit Worten. Und da wollte dieser Mailson ihr weismachen, in Rio de Janeiro und im Rest der Welt sei alles anders?

»Du brauchst es nicht zu verstehen, sieh nur zu, daß er sich wohl fühlt. Der Mann ist Witwer, kinderlos und Besitzer eines Nachtclubs. Er sucht Brasilianerinnen, die im Ausland auftreten wollen. Ich habe ihm gesagt, daß du nicht der Typ dafür seist, aber er hat nicht lockergelassen und gesagt, er habe sich in dich verliebt, als er dich aus dem Wasser kommen sah. Er hat auch deinen Bikini hübsch gefunden.« Er machte eine Pause. »Ehrlich, wenn du hier einen Freund finden willst, mußt du dir ein anderes Bikinimodell besorgen; außer diesem Schweizer gefällt er bestimmt niemandem.«

Maria tat so, als habe sie das nicht gehört. Mailson fuhr fort: »Ich glaube, er sucht nicht nur ein Abenteuer mit dir; er findet, daß du das Talent hast, eine Hauptattraktion in seinem Nachtclub zu werden. Natürlich hat er dich weder singen hören noch tanzen sehen, aber so was kann man lernen, während die Schönheit – die hat man entweder, oder man hat sie nicht. Diese Europäer glauben wirklich, alle Brasilianerinnen seien sinnlich und könnten Samba tanzen. Wenn er es ernst meint, rate ich dir, bevor du das Land verläßt, um einen unterzeichneten Vertrag zu bitten – mit vom Schweizer Konsulat beglaubigter Unterschrift. Morgen früh bin ich am Strand vor dem Hotel, komm zu mir, falls du noch Fragen hast.«

Der Schweizer nahm lächelnd ihren Arm und zeigte auf das wartende Taxi.

»Wenn er andere Absichten hat und du auch – der Tarif für eine Nacht ist dreihundert Dollar. Mach es nicht für weniger.«

Noch bevor sie antworten konnte, waren sie auf dem Weg zum Restaurant. Der Mann suchte mühsam nach Worten.

»Arbeiten? Job? Dollar? Brasilianischer Star?« Maria gingen Mailsons Worte nicht aus dem Sinn: dreihundert Dollar für eine Nacht! Was für ein Reichtum! Sie brauchte nicht aus Liebe zu leiden, konnte den Mann bezirzen, wie sie es mit dem Besitzer des Stoffladens gemacht hatte, heiraten, Kinder bekommen und ihren Eltern ein bequemes Leben bieten. Was hatte sie zu verlieren? Er war alt, vielleicht würde er schon bald sterben, und sie würde endlich reich sein. Es sah so aus, als wären in der Schweiz alle reich, aber als gebe es dort zu wenig Frauen.

Während des Essens redeten sie nur wenig – hier ein Lächeln, da ein Lächeln, und Maria begriff allmählich, was Mailson mit »Energien« gemeint hatte. Der Mann zeigte ihr ein Album mit Fotos, deren Bildunterschriften in einer für sie unverständlichen Sprache geschrieben waren. Das Album enthielt unzählige Fotos von Frauen in Bikini (alle viel gewagter als der, den sie am Nachmittag getragen hatte), Zeitungsausschnitte und bunte Prospekte, überschrieben mit dem einzigen Wort, das sie verstand, das aber falsch geschrieben war: »Brazil« (mit »z« statt mit »s«). Sie trank viel, trank sich Mut an, für den Fall, daß der Schweizer ihr tatsächlich ein Angebot machte (dreihundert Dollar waren schließlich nicht zu verachten, und ein bißchen Alkohol machte die Dinge sehr viel einfacher, vor allem, wenn niemand aus ihrer Stadt in der Nähe war). Aber der Mann benahm sich wie ein Gentleman, er zog sogar den Stuhl für sie zurück und schob ihn wieder nach vorn, während sie sich setzte, und erhob sich, als sie schließlich erschöpft aufstand und sich verabschiedete. Sie schlug ein Treffen am Strand für den nächsten Tag vor – auf die Uhr zeigen, mit den Händen eine Wellenbewegung machen und ganz langsam »morgen« sagen –, und er schaute ebenfalls auf seine Uhr (wahrscheinlich ein Schweizer Fabrikat) und war einverstanden.

Maria schlief schlecht. Träumte, daß alles ein Traum war. Wachte auf und stellte fest, daß es keiner war: Auf dem Stuhl in dem einfachen Zimmer lag ein wunderschönes Kleid, und darunter stand ein wunderschönes Paar Schuhe, und da war auch noch die Verabredung am Strand.


Aus Marias Tagebuch an dem Tag, an dem sie den Schweizer kennenlernte:

Alles sagt mir, daß ich kurz davor stehe, eine falsche Entscheidung zu treffen, aber wer handelt, macht zwangsläufig auch Fehler. Was will die Welt von mir? Daß ich keine Risiken eingehe? Daß ich wieder dahin zurückkehre, wo ich herkomme, und nie den Mut aufbringe, ja zum Leben zu sagen?

Ich habe schon einmal eine falsche Entscheidung getroffen, als ich elf Jahre alt war und ein Junge mich bat, ihm meinen Bleistift zu leihen; seither habe ich begriffen, daß sich manchmal keine zweite Gelegenheit ergibt und man besser die Geschenke annimmt, die die Welt einem vor die Füße legt. Natürlich ist es riskant, aber ist es riskanter, als mit dem Überlandbus zu fahren?

Wenn ich jemandem treu sein muß, dann in erster Linie mir selbst. Ich muß erst einmal die mittelmäßigen Lieben satt haben, die mir bislang über den Weg gelaufen sind, um mich dann auf die Suche nach der wahren Liebe zu begeben. Viel Lebenserfahrung habe ich nicht, aber eines weiß ich: daß man nichts besitzen kann, alles ist Illusion – sowohl materielle wie spirituelle Güter. Wer schon einmal etwas verloren hat, von dem er glaubte, er würde es nie verlieren (etwas, das mir so häufig passiert ist), weiß am Ende, daß ihm nichts gehört.

Und wenn ich nichts besitze, muß ich auch meine Zeit nicht damit vergeuden, mich um Dinge zu sorgen, die mir nicht gehören; es ist besser, ich lebe jeden Tag, als wäre es der erste (oder der letzte) Tag meines Lebens.


Am nächsten Tag teilte sie dem Schweizer durch Mailson mit, der sich nun als ihr empresario bezeichnete, sie nehme sein Angebot unter der Voraussetzung an, daß sie einen vom Schweizer Konsulat beglaubigten Vertrag erhalte. Der Schweizer, der solche Forderungen gewohnt zu sein schien, sagte, dies sei ganz in seinem Sinne, da man, um in seinem Land zu arbeiten, den Nachweis erbringen müsse, daß niemand sonst im Land diese Arbeit tun könnte – und dieser Nachweis sei unschwer zu erbringen, da Schweizerinnen keine besonders begabten Sambatänzerinnen seien. Sie gingen gemeinsam ins Stadtzentrum, der empresario verlangte bei der Vertragsunterzeichnung einen Vorschuß von fünfhundert Dollar in bar für Maria, von denen er dreißig Prozent einbehielt.

»Das ist ein Wochengehalt als Vorschuß. Eine Woche, verstehst du? Den Rest erhältst du ohne Abzug, ich bekomme nur bei der ersten Zahlung etwas.«

Bis zu jenem Augenblick war die Reise, der Gedanke, weit wegzufahren, nur ein Traum gewesen – und Träume sind sehr bequem, sofern wir nicht gezwungen sind, sie in die Tat umzusetzen. So gehen wir keine Risiken ein, vermeiden Frustrationen, schwierige Momente, und wenn wir alt sind, können wir immer den anderen die Schuld in die Schuhe schieben – vorzugsweise unseren Eltern, unseren Ehemännern oder unseren Kindern – dafür, daß wir unsere Träume nicht wahr gemacht haben.

Und nun war plötzlich die Chance da, auf die sie so sehr gewartet hatte, von der sie aber gewollt hätte, daß sie nie kam! Wie sollte sie sich den Herausforderungen und Gefahren eines Lebens stellen, das sie nicht kannte? Wie all das aufgeben, woran sie gewöhnt war? Warum hatte die Heilige Jungfrau sie vor eine derart schwierige Entscheidung gestellt?

Maria tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie es sich jederzeit anders überlegen könnte, daß alles nur ein unverbindlicher Spaß war – noch etwas, was sie später zu Hause erzählen könnte. Nun war sie mehr als tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, hatte dreihundertfünfzig Dollar in der Tasche, und wenn sie morgen beschließen sollte, ihre Koffer zu packen und zu fliehen, würde keiner sie jemals wiederfinden.

Den Nachmittag nach dem Besuch im Konsulat verbrachte Maria allein am Strand, wo sie am Meer entlang spazierenging, den Kindern beim Spielen zusah und die Volleyballspieler, die Bettler, die Trinker und die Verkäufer von typisch brasilianischem Kunsthandwerk (made in China) beobachtete, Jogger und Fitneßfreaks, die sich durch Gymnastik jung halten wollten, ausländische Touristen, Mütter mit Kinderwagen und Rentner, die ganz hinten am Strand Karten spielten. Sie war nach Rio de Janeiro gekommen, hatte in einem erstklassigen Restaurant gegessen, einen Auslä nder kennengelernt, war in einem Konsulat gewesen, verfügte über einen empresario und hatte obendrein ein neues Kleid und ein neues Paar Schuhe geschenkt bekommen, die sich zu Hause niemand, wirklich niemand kaufen konnte.

Und jetzt?

Sie schaute aufs Meer, in die Richtung, in der sie aufgrund ihrer Geographiekenntnisse Afrika vermutete, Afrika mit seinen Löwen und seinen Urwäldern voller Gorillas. Wenn sie sich jedoch nicht immer geradeaus nach Osten, sondern auch ein wenig in Richtung Norden bewegte, würde sie in einem märchenhaften Reich namens Europa landen, wo es einen Eiffelturm, EuroDisney und den Schiefen Turm von Pisa gab. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte wie jede Brasilianerin Samba tanzen gelernt, noch bevor sie Mama sagen konnte; es stand ihr frei, zurückzukommen, wenn es ihr nicht gefiel. Sie hatte inzwischen gelernt, daß man Gelegenheiten beim Schöpfe packen mußte.

Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, >nein< zu Dingen zu sagen, zu denen sie gern >ja< gesagt hätte, war entschlossen gewesen, nur Situationen zu durchleben, in denen sie die Kontrolle hatte – wie bei Abenteuern mit Männern, zum Beispiel. Jetzt stand sie vor dem Unbekannten, das so unbekannt war, wie dieses Meer einst für die Seefahrer gewesen war, die es überquert hatten – das hatte sie im Geschichtsunterricht gelernt. Sie konnte immer noch nein sagen, aber würde sie es dann nicht für den Rest ihres Lebens bereuen, so wie damals mit ihrer allerersten Liebe, ihrem Schulkameraden, der für immer verschwand? Warum sollte sie diesmal nicht ein Ja wagen?

Aus einem sehr einfachen Grund: Sie war ein Mädchen aus der Provinz, ohne jegliche Lebenserfahrung. Sie hatte zwar eine gute Schule besucht, kannte sich mit Telenovelas bestens aus und wußte, daß sie schön war. Doch das allein genügte nicht, um sich in der Welt zu behaupten.

Sie sah eine Gruppe von Leuten, die lachend auf die Wellen guckten und nicht wagten, ins Wasser zu gehen. Vor zwei Tagen war es ihr ganz gleich ergangen, aber jetzt hatte sie keine Angst mehr, ging ins Wasser, wann immer sie dazu Lust hatte, als wäre sie hier geboren. Würde es ihr in Europa nicht genauso gehen?

Sie betete still für sich, bat die Jungfrau Maria wieder um Rat, und bald schon fühlte sie sich eins mit ihrem Entschluß, den Weg weiterzuge hen, denn sie wußte sich beschützt. Zurückkommen konnte sie immer noch, doch die Chance, weit wegzugehen, kam vielleicht nicht wieder. Es lohnte sich, das Risiko einzugehen. Es sei denn, der Traum würde in einer achtundvierzigstündigen Fahrt mit einem Bus ohne Aircondition dahinschmelzen. Es sei denn, der Schweizer überlegte es sich anders.

Sie war so aufgeregt, daß sie, als er sie erneut zum Abendessen einlud, versuchte, sinnlich zu sein, und seine Hand nahm, doch der Mann zog seine sofort zurück, und Maria begriff – mit einer gewissen Furcht und mit einer gewissen Erleichterung –, daß er es wirklich ernst meinte. »Samba-Star«, sagte der Mann. »Samba-Star schön brasilianisch! Reise nächste Woche!«

Alles war wunderbar, aber an »Reise nächste Woche« war absolut nicht zu denken. Maria erklärte, daß sie keine Entscheidung fällen könne, ohne ihre Eltern zu fragen. Der Schweizer zeigte wütend auf eine Kopie des unterzeichneten Vertrags, und zum ersten Mal wurde ihr mulmig.

»Vertrag!« sagte er. Obwohl sie entschlossen war zu reisen, wollte sie sich noch einmal mit Mailson beraten, schließlich wurde er ja dafür bezahlt, daß er sie beriet.

Mailson schien allerdings jetzt mehr damit beschäftigt, eine deutsche Touristin zu verführen, die gerade im Hotel angekommen war und in der Überzeugung »oben ohne« am Strand saß, daß Brasilien das freizügigste Land der Welt sei (ohne zu bemerken, daß sie die einzige Person mit nackten Brüsten war und daß alle peinlich berührt herüberguckten). Maria konnte seine Aufmerksamkeit nur schwer auf sich lenken.

»Und wenn ich es mir nun anders überlege?« fragte sie. »Ich weiß nicht, was im Vertrag steht, aber vielleicht läßt er dich festnehmen.«

»Er wird mich niemals finden!«

»Auch wahr. Also mach dir keine Sorgen.« Der Schweizer jedoch, der bereits fünfhundert Dollar, ein Paar Schuhe, ein Kleid, zwei Abendessen und die Notarskosten im Konsulat investiert hatte, war allmählich beunruhigt. Daher beschloß er, da Maria darauf bestand, mit ihrer Familie zu sprechen, zwei Flugtickets zu kaufen und sie zu ihrem Geburtsort zu begleiten. Mit Lächeln hier und Lächeln da begann sie allmählich zu begreifen, daß mit Verführung, Gefühlen und Verträgen nicht zu spaßen war.

Alle im Städtchen waren überrascht und stolz, als die schöne Maria in Begleitung eines Ausländers ankam, der sie in Europa zu einem großen Star machen wollte. Alle Nachbarn wußten es bereits, und die Freundinnen aus der Schule fragten: »Aber wie ist das passiert?«

Um das Bildnis der Jungfrau herum waren ein paar Worte eingraviert: »O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir uns an dich wenden. Amen.«

»Sag diesen Satz unbedingt mindestens einmal am Tag. Und…«

Er zögerte, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück.

»…wenn du eines Tages zurückkehrst, sollst du wissen, daß ich auf dich warten werde. Ich habe die Gelegenheit verstreichen lassen, dir etwas ganz Einfaches zu sagen: Ich liebe dich. Vielleicht ist es zu spät, aber wissen solltest du es trotzdem…«

»Eine Gelegenheit verstreichen lassen« – sie hatte sehr früh gelernt, was das hieß. »Ich liebe dich« hingegen war ein Satz, den sie in ihrem zweiundzwanzigjährigen Leben häufig gehört hatte, aber er klang hohl in ihren Ohren weil niemals etwas Ernstes, Tiefes daraus geworden war, keine dauerhafte Beziehung. Maria dankte ihm für seine Worte und merkte sie sich gut (was wußte sie schon, was das Leben ihr noch vorbehielt, und es konnte nicht schaden, eine Notlösung in petto zu haben). Sie gab ihm einen keuschen Kuß auf die Wange und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, davon.

Zurück in Rio, beantragte und erhielt sie in nur einem Tag ihren Paß. Roger sagte etwas in seinem wortarmen, gestenreichen Portugiesisch, was Maria mit »früher hat das länger gedauert« übersetzte. Dann wurden mit Mailsons Hilfe die letzten Reisevorbereitungen getroffen (Kleider, Schuhe, Makeup, alles, wovon eine Frau wie sie träumen konnte). Roger lud sie am Vorabend ihrer Abreise in einen Nachtclub ein, sah sie tanzen und war begeistert von seiner Wahl – er hatte wirklich den großen Star für den >Gilbert Club< vor sic h, die schöne Dunkle mit den hellen Augen und rabenschwarzen Haaren. Die Arbeitsbewilligung des Schweizer Konsulats wurde fertig, sie packten die Koffer. Maria plante heimlich, diesen Mann in sich verliebt zu machen – schließlich war er weder alt noch häßlich, noch arm. Was wollte sie mehr?

Sie kam erschöpft in Genf an, und noch auf dem Flughafen zog sich ihr Herz angstvoll zusammen: Sie entdeckte, daß sie von dem Mann an ihrer Seite vollkommen abhängig war – sie kannte weder das Land noch die Sprache, und die Kälte machte ihr auch zu schaffen. Rogers Verhalten änderte sich von Stund an. Seine Freundlichkeit war verflogen. Er hatte zwar nie versucht, sie zu küssen oder ihre Brüste zu berühren, aber sein Blick war so distanziert wie möglich geworden. Er brachte sie in eine kleine Pension, stellte sie einer anderen Brasilianerin vor, einer jungen, traurigen Frau, die Vivian hieß und sie auf die Arbeit vorbereiten sollte.

Vivian musterte sie nüchtern von Kopf bis Fuß, ohne Mitgefühl für die junge Frau, die zum ersten Mal im Ausland war. Anstatt sie zu fragen, wie sie sich fühlte, kam sie direkt zur Sache.

»Mach dir keine Illusionen. Er fährt immer nach Brasilien, wenn eine seiner Tänzerinnen heiratet, was sehr häufig vorkommt. Er weiß, was er will, und ich denke, du auch: Du bist sicher auch auf der Suche nach einem dieser drei Dinge hergekommen: Abenteuer, Geld oder Ehemann?«

Woher wußte Vivian das? Suchten etwa alle dasselbe? Oder konnte Vivian Gedanken lesen?

»Alle Mädchen hier wollen eines dieser drei Dinge«, fuhr Vivian fort. »Für Abenteuer ist es schlicht zu kalt, und außerdem wirst du sie dir nicht leisten können. Was das Geld betrifft, so wirst du allein schon ein Jahr arbeiten müssen, um dein Rückflugticket zu bezahlen, Unterkunft und Essen werden dir auch abgezogen.«

»Aber…«

»Ich weiß, du willst sagen: Das war nicht so abgemacht. Tatsächlich aber hast du nur vergessen zu fragen – wie alle. Wärest du aufmerksamer gewesen, hättest du den Vertrag gelesen, den du unterzeichnet hast, dann wüßtest du, worauf du dich eingelassen hast, denn die Schweizer lügen nicht, obwohl sie geschickt zu schweigen verstehen.«

Der Boden unter Marias Füßen tat sich auf.

»Und was den Ehemann betrifft, so ist jedes Mädchen, das heiratet, ein wirtschaftlicher Verlust für Roger. Daher ist es uns verboten, mit den Kunden zu reden. Wenn du etwas in der Richtung unternehmen willst, mußt du große Risiken eingehen. Dieser Club hier ist nicht wie die Clubs in der Rue de Berne.«

»Rue de Berne?«

»Die Männer kommen hier mit ihren Frauen her, und die wenigen Touristen, die sich hierher verirren und die familiäre Atmosphäre bemerken, gehen, um Frauen zu finden, woandershin. Vor allen Dingen mußt du tanzen können; wenn du auch singen kannst, steigt nicht nur dein Gehalt, sondern auch der Neid der anderen. Daher rate ich dir, das mit dem Singen erst gar nicht zu versuchen. Vor allem telefonier möglichst nicht. Da wirst du mehr ausgeben, als du verdienst, und das ist ohnehin nur wenig.«

»Aber er hat mir fünfhundert Dollar pro Woche versprochen.«

»Du wirst schon sehen.«


Aus Marias Tagebuch, in der zweiten Woche ihres Aufenthaltes in der Schweiz.

Ich bin in den Club gegangen, habe dort einen sogenannten Tanzdirektor aus einem Land namens Marokko vorgefunden, der meinte, mir jeden Schritt eines Tanzes beibringen zu müssen, von dem er glaubt, es sei Samba, obwohl er noch nie einen Fuß auf brasilianischen Boden gesetzt hat. Ich hatte keine Zeit, mich von der langen Flugreise zu erholen, es hieß gleich lächeln und tanzen – gleich am ersten Abend.

Wir sind sechs Mädchen, keine ist glücklich, und keine weiß, was sie hier eigentlich soll. Die Kunden trinken und applaudieren, werfen mir Kußhände zu und machen heimlich anzügliche Gesten, mehr nicht.

Gestern wurde der Lohn bezahlt, allerdings nur ein Zehntel des vertraglich vereinbarten Betrages, der Rest wurde einbehalten, um meine Unterkunft und mein Flugticket zu bezahlen. Vivians Berechnungen zufolge wird das ein Jahr dauern – anders gesagt, in dieser Zeit kann ich nirgendwo anders hin.

Aber lohnt es sich überhaupt wegzulaufen? Ich bin gerade angekommen, ich kenne mich noch nicht aus. Es ist doch kein Problem, sieben Abende pro Woche zu tanzen! Früher machte ich das aus Vergnügen, jetzt mache ich es für Geld und Ruhm; den Beinen macht es nichts aus, das einzig Schwierige ist, das Lächeln auf den Lippen zu halten.

Ich habe die Wahl, entweder ein Opfer der Welt zu sein oder eine Abenteuerin auf der Suche nach ihrem Schatz. Es ist alles nur eine Frage, wie ich mein Leben angehe.


Maria traf ihre Wahl: Sie wollte eine Abenteuerin auf der Suche nach ihrem Schatz sein – sie hörte nicht auf ihre Gefühle, weinte nicht mehr ins Kopfkissen, vergaß einfach, wer sie war; sie fand heraus, daß sie genügend Willenskraft hatte, um sich vorzumachen, es hätte das Mädchen aus der kleinen Stadt im Landesinnern nie gegeben, und deshalb brauchte sie sich auch nach niemandem zu sehnen. Gefühle konnten warten. Zuerst mußte sie Geld verdienen, Land und Leute kennenlernen, und am Ende würde sie erfolgreich in ihr Dorf zurückkehren.

Ansonsten war alles so wie in Brasilien, wie in ihrem Heimatort: Die Frauen im Club sprachen untereinander portugiesisch, beklagten sich über die Männer, schimpften über die Arbeitszeiten, kamen zu spät in den Club, provozierten den Chef und erzählten von ihren Märchenprinzen – die meist weit weg waren oder verheiratet oder arm und sich von den Frauen aushaken ließen. Das Ambiente war nicht glamourös wie auf Rogers Faltprospekten, sondern genau so, wie Vivian es beschrieben hatte: familiär. Die Mädchen durften keine Einladungen annehmen, weil sie auf ihren Arbeitsausweisen als »Sambatänzerinnen« registriert waren. Wenn sie sich dabei erwischen ließen, wie sie einen Zettel mit einer Telefonnummer entgegennahmen, durften sie zwei Wochen lang nicht arbeiten. Maria, die sich unter ihrem Job etwas Aufregenderes vorgestellt hatte, wurde immer trauriger und lustloser.

In den ersten zwei Wochen verließ sie kaum die Pension, in der sie untergebracht war, außer um zur Arbeit zu gehen, denn sie konnte sich nicht verständlich mache n, da sie kein Französisch sprach. Schließlich kam sie in ihrem kleinen Genfer Zimmer ohne Fernseher, in dem sie sich zu Tode langweilte, zu folgendem Schluß: a) Sie würde nie finden, was sie suchte, solange sie nicht sagen konnte, was sie dachte. Dazu muß te sie die Sprache lernen. b) Da alle ihre Kolleginnen dasselbe suchten, mußte sie anders sein. Wie sie das anstellen sollte, wußte sie allerdings noch nicht.


Aus Marias Tagebuch vier Wochen nach ihrer Ankunft in Genf:

Ich bin schon eine Ewigkeit hier, spreche kein Französisch, höre den ganzen Tag lang Musik im Radio, starre an die Zimmerdecke und denke an zu Hause. In meiner Freizeit kann ich es jeweils kaum erwarten, daß es Zeit wird, um zur Arbeit zu geben, und wenn ich arbeite, kann ich es kaum erwarten, daß ich wieder in die Pension zurückkann. Anders ausgedrückt, ich lebe in der Zukunft statt in der Gegenwart.

Eines Tages, in einer fernen Zukunft, werde ich mein Flugticket haben, kann ich nach Brasilien zurückkehren, den Stoffladenbesitzer heiraten und muß mir dann die boshaften Kommentare der Freundinnen anhören, die selbst nie etwas riskiert haben und deshalb bei den anderen nur Niederlagen sehen wollen. Nein, das will ich nicht; da springe ich lieber aus dem Flugzeug, wenn es über dem Ozean fliegt, beziehungsweise, da die Flugzeugfenster ja nicht aufgehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als hier zu sterben. Doch bevor ich sterbe, werde ich um mein Leben kämpfen. Wenn ich allein klarkomme, komme ich überallhin.


Am nächsten Tag schrieb sie sich umgehe nd in einen Vormittagskurs für Französisch ein, wo sie Menschen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen und unterschiedlichsten Alters traf, Männer mit bunten Kleidern und vielen goldenen Armbändern, Frauen, die immer ein Kopftuch trugen, Kinder, die schneller lernten als die Erwachsenen. Sie war stolz darauf zu erfahren, daß alle ihr Land kannten, den Karneval, den Samba, den Fußball und den berühmtesten Menschen der Welt, der Pele hieß.

Nachmittags spazierte sie durch die Stadt und probierte ihre Französischkenntnisse aus, kaufte köstliche Schokolade und einen Käse, den sie noch nie gekostet hatte. Sie entdeckte die Fontäne im See, den Schnee auf den Bergen und wußte, sie war die einzige aus ihrem Heimatort, die so etwas je gesehen hatte. Sie entdeckte die Schwäne, sie entdeckte Restaurants, in denen ein behagliches Kaminfeuer brannte. Sie war auch überrascht, daß nicht alle Plakate für Uhren warben, sondern auch für Banken – wenngleich sie nicht verstehen konnte, wieso es so viele Banken für so wenige Einwohner gab und selten jemand drin war, aber sie beschloß, nicht weiter nachzufragen.

Nach drei Monaten aufgesetzter Fröhlichkeit im >Gilbert Club< verliebte sie sich in einen Araber aus ihrem Französischkurs. Ihre brasilianische Lebensfreude und Sinnlichkeit gewann die Oberhand, und drei Wochen später fuhr sie, statt zur Arbeit zu gehen, mit ihrem Freund zu einem Aussichtspunkt an einem Berg in der Nähe von Genf. Als sie am nächsten Abend zur Arbeit erschien, zitierte Roger sie in sein Büro und kündigte ihr fristlos, mit der Begründung, sie sei ihren Kolleginnen ein schlechtes Vorbild. Roger war außer sich und brüllte, daß auf brasilianische Frauen kein Verlaß sei. Er ließ auch ihre Ausrede nicht gelten, sie habe hohes Fieber gehabt, und klagte darüber, daß er nun wieder nach Brasilien reisen müsse, um einen Ersatz zu finden, und daß er lieber eine Show mit jugoslawischer Musik und machen sollte, mit jugoslawischen Tänzerinnen, die sehr viel hübscher und verläßlicher seien.

Maria war zwar jung, aber gewitzt. Nachdem ihr Liebhaber ihr erzählt hatte, daß in der Schweiz die Arbeitsgesetze sehr streng seien und sie vorbringen könne, sie sei für Sklavenarbeit mißbraucht worden, da der Club einen großen Teil ihres Gehaltes einbehielt, ging sie nochmals in Rogers Büro zurück. Diesmal sprach sie in einigermaßen korrektem Französisch mit ihm und drohte mit einem Anwalt. Sie verließ den Raum unter Beschimpfungen, aber mit fünftausend Dollar Entschädigung, einer Summe, die sie sich nie hatte träumen lassen – alles wegen des magischen Wortes >Anwalt<. Jetzt konnte sie den Araber ungehindert lieben, ein paar Geschenke kaufen, ein paar Fotos von sich im Schnee machen lassen und als Siegerin nach Hause zurückkehren.

Zuallererst rief sie zu Hause eine Nachbarin an, weil die Eltern kein Telefon hatten, und erzählte, daß sie glücklich sei und eine großartige Karriere vor sich habe, niemand zu Hause sollte sich Sorgen machen. Da Roger das Zimmer in der Pension angemietet hatte, mußte sie in Kürze ausziehen. Es sah so aus, als bliebe ihr nichts anderes übrig, als zu ihrem Liebhaber zu gehen, ihm ewige Liebe zu schwören, seinen Glauben anzunehmen und ihn zu heiraten (auch wenn dies womöglich hieß, daß sie fortan immer ein Kopftuch tragen müßte); schließlich war allgemein bekannt, daß die Araber sehr reich waren, und das genügte.

Aber ihr Freund war zu dem Zeitpunkt bereits über alle Berge – und im Grunde ihres Herzens dankte sie der Jungfrau Maria, weil sie nun nicht gezwungen war, ihren Glauben zu verraten. Einerseits hatte sie genü gend Geld für einen Rückflug und wußte, daß sie, wenn alle Stricke rissen, den Stoffhändler immer noch heiraten konnte. Andererseits hatte sie eine Arbeitsgenehmigung als Sambatänzerin und eine gültige Aufenthaltsbewilligung und konnte auch schon leidlich Französisch. Darauf beschloß Maria, nun Geld mit ihrer Schönheit zu verdienen. Das traute sie sich zu.

Noch in Brasilien hatte sie ein Buch über einen Hirten gelesen, der auf der Suche nach seinem Schatz viele Schwierigkeiten meistern mußte, die ihm letztlich halfen, seine Träume zu verwirklichen; genau das war auch bei ihr der Fall. Ihr war vollkommen bewußt, daß sie entlassen worden war, um sich ihrem eigentlichen Schicksal zu stellen. Ihr Traum war, Fotomodell oder Mannequin zu werden.

Sie mietete ein kleines Zimmer (ohne Fernseher, aber sie mußte eisern sparen, bis sie wirklich viel Geld verdiente), und am nächsten Tag klapperte sie die Agenturen ab. Alle sagten, daß sie eine Fotomappe abgeben müsse. Schließlich war das eine Investition in ihre Karriere – jeder Traum hat seinen Preis. Sie gab viel Geld für einen hervorragenden Fotografen aus, der wenig redete und viel verlangte: Er hatte einen riesigen Kostümfundus in seinem Studio, und sie posierte in extravaganten, edlen Kleidern und sogar in einem Bikini, auf den ihr einziger Bekannter in Rio de Janeiro, Mailson, bestimmt stolz gewesen wäre. Sie bat um einige Extraabzüge, damit sie diese im nächsten Brief ihrer Familie schicken und zeigen konnte, wie glücklich sie in der Schweiz war. Ihre Eltern würden glauben, sie sei nun reich, habe eine beneidenswerte Garderobe und würden es allen erzählen. Sie würde im Ort berühmt werden. Und bei ihrer Rückkehr würde sie von einer Blaskapelle empfangen werden, und wer weiß, vielleicht ließ der Bürgermeister sogar einen Platz nach ihr benennen.

Sie kaufte ein Handy und wartete nun darauf, zu ihrem ersten Job gerufen zu werden. Sie aß bei einem billigen Chinesen, und um sich die Zeit zu vertreiben, büffelte sie Französisch.

Aber die Zeit verging nur langsam, und das Telefon klingelte nicht. Sie war überrascht, daß niemand sie ansprach, wenn sie am Seeufer spazierenging, außer ein paar Drogenhändlern, die immer an derselben Stelle unter der Brücke anzutreffen waren, die den schönen alten Park mit dem neueren Teil der Stadt verband. Sie begann an ihrer Schönheit zu zweifeln, weil niemand anders sie ansprach, bis eine ihrer ehemaligen Arbeitskolleginnen aus dem Club, die sie zufällig in einem Cafe traf, ihr versicherte, daß es nicht an ihr liege. Die Schweizer wollten eben niemanden stören, und die Ausländer hätten Angst, wegen »sexueller Belästigung« festgenommen zu werden.

Eintrag in Marias Tagebuch an einem Abend, als sie nicht mehr den Mut hatte, das Haus zu verlassen, zu leben und weiter auf den Anruf zu warten. Doch der kam nicht.

Heute bin ich an einem Vergnügungspark vorbeigekommen. Da ich mit meinem Geld haushalten muß, habe ich mir nur die Leute angesehen. Ich habe lange vor einer Achterbahn gestanden: Ich sah die meisten Leute da hineingehen, um den großen Kick zu erleben, doch wenn die Bahn sich in Bewegung gesetzt hatte, kamen sie vor Angst fast um und wollten wieder aussteigen.

Was wollten sie bloß? Wenn sie das Abenteuer suchten, sollten sie dann nicht bereit sein, es bis zum Ende durchzustehen? Oder glaubten sie, daß es besser wäre, dieses Auf und Ab nicht mitzumachen und die ganze Zeit in einem Karussell zu sitzen und auf der Stelle zu kreisen?

Im Augenblick bin ich zu einsam, um an Liebe zu denken, aber ich muß mir einreden, daß das vorübergeht, daß ich Arbeit bekomme. Außerdem ich bin hier, weil ich dieses Schicksal selbst gewählt habe. Die Achterbahn ist wie mein Leben, und das Leben ist ein starkes, berauschendes Spiel. Leben heißt mit einem Fallschirm abspringen; Leben heißt etwas riskieren, hinfallen und wieder aufstehen; Leben ist wie Steilwandklettern, es bedeutet, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis man den eigenen Gipfel erklommen hat.

Es fällt mir nicht leicht, weit weg von meiner Familie zu sein, meine Gefühle nicht in meiner Muttersprache ausdrücken zu können, aber von heute an werde ich jedesmal, wenn ich deprimiert hin, an diesen Vergnügungspark denken. Was für ein Gefühl wäre es, wenn ich abends in meinem Bett einschlafen und morgens plötzlich in einer Achterhahn aufwachen würde?

Nun, zuallererst würde ich das Gefühl haben, gefangen zu sein, mir würde in den Kurven vor Angst speiübel werden, und ich würde aussteigen wollen. Wenn ich allerdings darauf vertraue, daß die Schienen mein Schicksal sind, daß Gott diese Maschine lenkt, dann würde dieser Alptraum etwas Aufregendes. Die Achterbahn wäre genau das, was sie auch ist, eine sichere, vertrauenswürdige Konstruktion mit kleinen Wägelchen, die an ihr Ziel gelangen werden. Und während der Fahrt kann ich die Landschaft um mich herum betrachten und vor Aufregung schreien.

Obwohl sie Gedanken aufschreiben konnte, die sie für sehr weise hielt, gelang es ihr nicht, ihren eigenen Rat zu beherzigen. Die Augenblicke, in denen sie deprimiert war, wurden zahlreicher, und das Telefon schwieg weiterhin. Um sich die Zeit zu vertreiben und ihr Französisch zu üben, kaufte sich Maria irgendwelche Klatschzeitschriften, stellte aber bald fest, daß es auf die Dauer teuer wurde. Sie ging in die Stadtbücherei. Die Dame an der Ausleihe sagte ihr, sie könne ihr zwar keine Zeitschriften ausleihen, ihr dafür aber einige einfache Bücher auf französisch empfehlen.

»Ich habe keine Zeit, Bücher zu lesen.«

»Wieso haben Sie keine Zeit? Was machen Sie denn?«

»Eine ganze Menge: Ich lerne Französisch, schreibe Tagebuch und…«

»Und was?«

Sie wollte gerade sagen: »…und warte darauf, daß das Telefon klingelt«, schwieg dann aber.

»Ach, Kind, Sie sind jung, haben das Leben vor sich! Lesen Sie! Vergessen Sie, was man Ihnen über Bücher gesagt hat, und lesen Sie!«

»Aber ich hab doch schon viel gelesen!«

Plötzlich fiel Maria wieder das ein, was Mailson einmal als »Energien« bezeichnet hatte. Die Bibliothekarin vor ihr wirkte einfühlsam und sanft und wie jemand, der ihr notfalls helfen könnte. Sie mußte sie für sich einnehmen, intuitiv spürte sie, daß diese Frau eine Freundin werden könnte.

»Ich möchte noch mehr lesen. Helfen Sie mir bitte bei der Auswahl.«

Die Frau gab ihr ein Buch mit dem Titel Der kleine Prinz. In derselben Nacht begann sie, darin zu blättern, schaute sich die Zeichnungen am Anfang an und entdeckte ein Bild von etwas, das wie ein Hut aussah, von dem der Autor aber meinte, Kinder würden darin eine Schlange mit einem Elefanten im Bauch erkennen. »Ich glaube, ich war nie ein Kind«, dachte sie bei sich. »Für mich sieht das wie ein Hut aus.« Da sie keinen Fernseher hatte, las sie weiter und begleitete den kleinen Prinzen auf seinen Reisen. Doch als es dann in der Geschichte um die Liebe ging, wurde sie traurig – denn sie hatte sich geschworen, die Liebe aus ihren Gedanken zu verbannen. Von den schmerzlichen romantischen Szenen zwischen einem Prinzen, einem Fuchs und einer Rose einmal abgesehen, fesselte sie das Buch so sehr, daß sie alles andere vergaß. Zumindest sah sie jetzt nicht mehr alle fünf Minuten nach, ob der Akku des Handys ge laden war (ihre größte Angst war, daß sie die Chance ihres Lebens wegen einer Nachlässigkeit verpassen könnte).

Maria ging nun regelmäßig in die Bücherei, ließ sich von der Bibliothekarin beraten, die ebenso einsam wirkte wie sie selbst, redete mit ihr über das Leben und über die Autoren. Ihr Erspartes war inzwischen fast aufgebraucht. Bald würde sie nicht einmal mehr genug Geld haben, um ein Rückflugticket zu kaufen. Doch da das Leben immer auf kritische Situationen wartet, um sich dann von seiner Sonnenseite zu zeigen, klingelte endlich das Telefon.

Drei Monate nachdem sie das französische Wort für >Rechtsanwalt< im richtigen Moment angewandt hatte und von der Entschädigung lebte, die sie dadurch erwirkt hatte, rief endlich eine Modelagentur an. Ob Mademoiselle Maria unter dieser Nummer zu erreichen sei. Die Antwort war ein kühles »Ja«, das Maria lange geübt hatte, um jegliche Erwartung daraus zu tilgen. Sie erfuhr, daß ein arabischer Modefotograf, dem ihre Mappe sehr gefallen hätte, sie einlud, an einer Modenschau teilzunehmen. Maria erinnerte sich an die kürzlich erlebte Enttäuschung mit einem anderen Araber, dachte aber auch an das Geld, das sie dringend brauchte.

Sie verabredeten sich in einem schicken Restaurant. Ein eleganter Herr kam herein, viel besser aussehend als ihr arabischer Exfreund. Eine der ersten Fragen, die er ihr stellte, war, ob sie das Bild an der Wand neben ihrem Tisch erkenne. »Wissen Sie, von wem es ist? Von Joan Miro. Kennen Sie Joan Miro?«

Maria schwieg und tat, als müßte sie sich auf das Essen konzentrieren, das erheblich besser war als das bei ihrem billigen Chinesen. Gleichzeitig nahm sie sich vor, bei ihrem nächsten Bibliotheksbesuch ein Buch über Miro auszuleihen.

Doch der Araber ließ nicht locker. »An diesem Tisch da hat immer Federico Fellini gesessen. Wie finden Sie die Filme von Fellini?«

Sie antwortete, daß sie sie liebe. Der Araber wollte ins Detail gehen, worauf Maria, der klar war, daß ihre Bildung den Test nicht bestehen würde, mit offenen Karten spielte.

»Ich will Ihnen nichts vormachen. Der einzige Unterschied, den ich kenne, ist der zwischen Coca-Cola und Pepsi. Wollten Sie mit mir nicht über eine Modenschau sprechen?«

Die Offenheit des Mädchens schien den Araber positiv zu beeindrucken. »Darüber sprechen wir nach dem Abendessen bei einem Drink.«

Es entstand eine Pause, während sie sich gegenseitig taxierten und die Gedanken des anderen zu erraten versuchten.

»Sie sind sehr hübsch«, brach der Araber das Schweigen. »Wenn Sie sich zu einem Drink mit mir in meinem Hotel entschließen können, zahle ich Ihnen tausend Franken.«

Maria schaltete sofort. War die Modelagentur schuld? War es ihre eigene Schuld, hätte sie in bezug auf das Abendessen genauer nachfragen müssen? Nein, die Agentur konnte nichts dafür, und sie selbst auch nicht und auch nicht der Araber: genauso liefen die Dinge eben. Plötzlich sehnte sie sich nach dem sertão zurück und nach den Armen ihrer Mutter. Sie erinnerte sich an Mailson, an den Abend in Rio, als er von den üblichen dreihundert Dollar gesprochen hatte; damals war sie geschmeichelt gewesen, für eine Nacht von einem Mann eine solche Summe angeboten zu bekommen. In diesem Augenblick jedoch wurde ihr bewußt, daß sie niemanden hatte, absolut niemanden, mit dem sie sich beraten konnte; sie war allein in einer fremden Stadt, und trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre hatte sie nicht genug Lebenserfahrung, um zu wissen, was sie tun sollte.

»Kann ich bitte noch etwas Wein haben?«

Der Araber schenkte ihr ein, während ihre Gedanken schneller reisten als der kleine Prinz zu den verschiedenen Planeten. Sie war hierher gekommen auf der Suche nach Abenteuern, Geld und vielleicht einem Mann. Sie war nicht naiv, sie kannte die Männer und hatte erwartet, daß sie irgendwann einen solchen Antrag bekommen würde. Trotzdem träumte sie weiter von einer Karriere als Model, von Starruhm, einem reichen Mann, einer Familie, Kindern, Enkeln, schönen Kleidern und einer triumphalen Rückkehr in ihre Heimatstadt. Und sie träumte davon, alle Schwierigkeiten allein mit ihrer Intelligenz, ihrem Charme und ihrer Willenskraft zu meistern.

Aber die Wirklichkeit war kein Traum. Zur großen Überraschung des Arabers brach sie unversehens in Tränen aus. Der Mann wußte nicht, wie er reagieren sollte: seinem Beschützerinstinkt nachgeben oder sich dafür schämen, daß seine Begleiterin so aus der Rolle fiel. Er wollte gerade dem Kellner winken, sofort die Rechnung zu bringen, als Maria sagte: »Bitte nicht. Schenken Sie mir lieber noch etwas nach, und lassen Sie mich ausweinen.«

Maria mußte an den Jungen denken, der sie um den Bleistift gebeten hatte, und an den anderen Jungen, den sie mit geschlossenem Mund geküßt hatte, an ihre Woche in Rio de Janeiro, an die Männer, die sie benutzt hatten, ohne ihr etwas dafür zurückzugeben, an die Leidenschaften und Lieben, die sie auf ihrem Weg zurückgelassen hatte. Ihr Leben war, trotz der vermeintlichen Freiheit, ein endloses Warten auf ein Wunder gewesen, auf die wahre Liebe oder wenigstens ein Liebesabenteuer mit Happy-End, wie im Film. Oder wie in den Romanen, die sie gelesen hatte. Ein Schriftsteller hatte behauptet, daß nicht die Zeit den Menschen verändere und auch nicht die Weisheit – das einzige, was jemanden verändern könne, sei die Liebe. So ein Unsinn! Wer das geschrieben hatte, kannte nur die halbe Wahrheit.

Natürlich konnte die Liebe das Leben eines Menschen von einem Augenblick auf den anderen ganz und gar verändern. Doch nicht nur die Liebe brachte den Menschen dazu, ungewohnte Wege einzuschlagen, sondern auch die Verzweiflung. Ja, vielleicht konnte die Liebe jemanden verändern, aber Verzweiflung schafft es schneller.

Was nun, Maria?

Sollte sie davonlaufen, so schnell wie möglich nach Brasilien zurückkehren, Französischlehrerin werden und den Stoffhändler heiraten? Oder sollte sie eine einzige Nacht etwas weitergehen in einer Stadt, in der sie niemanden kannte und in der niemand sie kannte? Und würden die eine Nacht und das schnell verdiente Geld sie dazu verleiten weiterzumachen, so lange, bis es kein Zurück mehr gab? Stand sie vor einer einmaligen Gelegenheit, oder war dies eine Prüfung der Jungfrau Maria?

Der Blick des Arabers schweifte vom Bild Joan Miros zu dem Tisch, an dem Fellini immer gespeist hatte, und weiter zur jungen Garderobiere, zu den Gästen, die ein und aus gingen.

»War Ihnen das nicht klar?«

»Noch mehr Wein, bitte«, schluchzte Maria nur.

Sie betete, daß der Kellner nicht ausgerechnet jetzt an ihren Tisch treten und die Rechnung bringen würde. Und der Kellner, der alles von fern aus den Augenwinkeln beobachtete, betete, daß der Mann und das Mädchen endlich zahlten, weil das Restaurant voll war und Gäste darauf warteten, daß ein Tisch frei wurde.

Nach einer Weile, die ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam, sagte Maria: »Hatten Sie >ein Drink für tausend Franken< gesagt?«

Ihre Stimme kam ihr selbst fremd vor.

»Ja«, antwortete der Araber, dem es schon leid tat, den Vorschlag gemacht zu haben. »Aber ich möchte auf gar keinen Fall…«

»Bitte verlangen Sie die Rechnung! Wir werden den Drink in Ihrem Hotel nehmen.«

Wieder kam ihr die eigene Stimme fremd vor. Bis heute war sie ein freundliches, wohlerzogenes, fröhliches Mädchen gewesen und hätte nicht im Traum so mit einem Fremden zu reden gewagt. Aber es schien, als wäre jenes Mädchen für immer gestorben: Vor ihr lag ein anderes Leben, in dem Drinks tausend Franken kosteten.

Und alles verlief genau so, wie sie es erwartet hatte: Sie ging mit dem Araber ins Hotel, schlürfte Champagner, bis sie völlig betrunken war, machte die Beine breit, wartete, bis er einen Orgasmus hatte (sie kam nicht darauf, einen eigenen vorzutäuschen), wusch sich in der Marmorbadewanne, nahm das Geld und genehmigte sich den Luxus eines Taxis bis zu ihrer Wohnung.

Dort warf sie sich aufs Bett und schlief die ganze Nacht traumlos.


Aus Marias Tagebuch, am Tag danach.

Ich erinnere mich an alles, nur nicht an den Augenblick, in dem ich die Entscheidung getroffen habe. Merkwürdigerweise habe ich überhaupt keine Schuldgefühle. Früher hielt ich die Mädchen, die für Geld mit jemandem ins Bett gehen, für Frauen, denen das Leben keine andere Wahl gelassen hat – und jetzt sehe ich, daß das nicht stimmt.

Ich hätte nein sagen können, keiner hat mich gezwungen.

Ich gehe durch die Straßen, schaue die Leute an, um zu sehen, ob sie ein Leben führen, das sie selbst gewählt haben. Oder ob sie das Schicksal gewähren lassen. Eine Hausfrau, die davon träumt, Model zu werden, ein Bankangestellter, der eigentlich Musiker werden wollte, ein Zahnarzt, der heimlich ein Buch geschrieben hat und lieber Schriftsteller wäre, das Mädchen, das davon geträumt hatte, als Fernsehschauspielerin Karriere zu machen, aber nur einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gefunden hat.

Ich tue mir gar nicht leid. Ich bin kein Opfer, denn ich hätte das Restaurant hocherhobenen Hauptes mit unangetasteter Ehre und leerer Brieftasche verlassen können. Ich hätte dem Araber eine Moralpredigt halten oder versuchen können, ihn dazu zu bringen, in mir eine Prinzessin zu sehen, die lieber erobert als bezahlt werden wollte. Ich hatte viele Möglichkeiten, dennoch habe ich das Schicksal für mich entscheiden lassen, welchen Weg ich einschlug.

Ich stehe nicht allein da, obwohl es so aussieht, als sei es mein Schicksal, am Rand der Gesellschaft zu leben. Aber bei der Suche nach dem Glück ergeht es uns allen gleich – dem Angestellten/Musiker ebenso wie dem Zahnarzt/Schriftsteller, der Kassiererin/Schauspielerin, der Hausfrau/Model – keiner von uns ist glücklich.


War's das? War es so einfach?

Sie befand sich mutterseelenallein in einer fremden Stadt, in der sie niemanden kannte, doch was für sie gestern noch eine Qual gewesen war, gab ihr heute ein starkes Gefühl von Freiheit, und sie genoß es, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.

Sie beschloß, den Tag dafür zu nutzen, über sich selbst nachzudenken. Bislang hatte sie sich immer nur um alle anderen gekümmert: um ihre Mutter, die Schulkameraden, den Vater, die Angestellten der Modelagentur, den Französischlehrer, den Kellner, die Bibliothekarin. Sie hatte sogar versucht, die Gedanken der Passanten auf der Straße zu erraten. Aber niemand dachte über irgend etwas nach, noch viel weniger über sie, eine arme Ausländerin, die niemandem fehlen würde, wenn sie morgen verschwände.

Genug! Sie verließ früh das Haus, trank ihren Morgenkaffee im gewohnten Bistro, spazierte hinunter zum See, wo sie in eine Demonstration von Kurden hineinlief, die in der Schweiz im Exil lebten, wie eine Frau sagte, die ihren kleinen Hund ausführte. Maria, die es plötzlich satt hatte, weiter so zu tun, als wüßte sie alles, fragte nach: »Woher kommen die Kurden?«

Sie war überrascht, als die Frau ihr die Antwort schuldig blieb. So war es nun mal: Alle tun so, als wüßten sie alles, und wenn man genauer nachfragt, wissen sie gar nichts. Sie kam an einem Internetcafe vorbei. Vielleicht konnte sie sich hier erkundigen? Einer der Gäste, die sie ansprach, fand für sie heraus, daß die Kurden aus Kurdistan kamen, einer Region in der südlichen Türkei und dem nördlichen Irak. Mit dieser Information ging sie wieder zurück an den See, wo die Kurden immer noch demonstrierten. Sie versuchte, die Frau mit dem Hündchen in der Menschenmenge zu erspähen, um ihr zu sagen, was sie herausgefunden hatte – aber die war inzwischen gegangen, wahrscheinlich weil der Hund die laute Menschenmenge mit ihren Schärpen, Kopftüchern und der fremdartigen Musik nicht ertrage n konnte.

>Diese Frau, das bin ich. Oder besser gesagt, das war ich. Immer habe ich so getan, als wüßte ich alles, habe mich hinter meinem Schweigen versteckt, bis dieser Araber mich dermaßen ärgerte, daß ich den Mut aufbrachte, zu sagen, daß ich Miro nicht kenne und gerade mal eine Coca-Cola von einer Pepsi unterscheiden kann. Und – war er schockiert? Hat er seine Meinung über mich geändert? Keineswegs! Ihm hat meine Spontaneität gefallen. Immer wenn ich klüger erscheinen wollte, als ich war, habe ich verloren. Genug damit!<

Hatte die Modelagentur gewußt, was der Araber in Wirklichkeit wollte? War Maria nur ein naives Gänschen gewesen? Oder ging auch die Agentur davon aus, er würde ihr eine Arbeit in seiner Heimat besorgen?

Trotzdem fühlte sich Maria an die sem grauen Morgen in Genf weniger allein. Die Temperatur war auf null Grad gefallen, die Kurden demonstrierten weiter, die Straßenbahnen fuhren wie üblich pünktlich nach Fahrplan, die Juweliere legten ihre Schmuckkreationen in die Schaufenster, die Banken öffneten, die Clochards lagen auf den Parkbänken am See, und die Schweizer gingen zur Arbeit. Maria fühlte sich weniger allein, weil sie – für alle anderen unsichtbar – neben sich eine Frau spürte.

Sie glich der Jungfrau Maria, ihrer Namenspatronin. Maria lächelte, und die Frau lächelte zurück. Eine Stimme riet ihr aufzupassen, denn die Dinge seien komplizierter, als sie denke. Maria entgegnete, sie sei ein erwachsener Mensch und könne selbst beurteilen, wie einfach oder kompliziert die Dinge seien. Im übrigen könne sie nicht glauben, daß sich das Schicksal gegen sie verschworen habe und sie daran hindern wolle, ihren Traum zu verwirklichen. Im Gegenteil, denn ein Mann sei bereit gewesen, für einen Abend mit ihr tausend Schweizer Franken zu zahlen. Nur müßte sie in den nächsten Tagen entscheiden, ob sie mit den tausend Franken ein Flugticket kaufen und nach Hause zurückkehren wolle, oder lieber noch hierbleiben, um mehr Geld zu verdienen und sich schöne Kleider und Reisen leisten und ihren Eltern ein Haus kaufen zu können.

Die unsichtbare Frau neben ihr ließ Marias Einwände nicht gelten, doch Maria konterte, gerade weil das Leben so komplex sei, müsse sie jetzt in Ruhe darüber nachdenken – sosehr sie sich auch über die Begleitung freue.

Nüchtern überlegte sie, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete. Ihre Schulfreundinnen, die den Ort nie verlassen hatten, würden meinen, daß ihr bei ihrer Arbeit gekündigt worden sei, weil sie nie das Zeug zum internationalen Star gehabt hatte. Ihre Mutter wäre enttäuscht, weil sie die versprochenen Monatszuwendungen nicht bekommen würde. Ihr Vater würde für den Rest seines Lebens mit einem »Ich hab's ja gleich gesagt«-Gesicht herumlaufen. Und sie selbst würde wieder im Stoffladen arbeiten, den Besitzer heiraten – und das alles, obwohl sie weit herumgekommen war, Französisch gelernt und sogar einmal Schnee erlebt hatte.

Andererseits gab es Drinks für tausend Schweizer Franken. Natürlich würde das nicht ewig so bleiben, denn auch sie würde nicht ewig schön bleiben, aber sie konnte hart arbeiten und in kürzester Zeit genug Geld verdienen, um alles aufzuholen und in die Welt zurückzukehren, diesmal aber, um selbst die Regeln festzusetzen. Ihr unmittelbares Problem war einzig, daß sie nicht wußte, wo und wie sie anfangen sollte.

Da fiel ihr die Rue de Berne ein, von der im >Gilbert Club< öfter die Rede gewesen war.

Sie ging zu einer der großen Tafeln, mit denen das touristenfreund liche Genf dafür sorgt, daß die Fremden sich auch ja nicht verlaufen können, und fragte einen Mann, der davor stand, nach dem Weg.

Dieser blickte sie erstaunt an und meinte dann, es sei wohl ein Mißverständnis und sie wolle nach Bern, in die Schweizer Hauptstadt. Als Maria verneinte, musterte er sie von Kopf bis Fuß und entfernte sich wortlos, wahrscheinlich weil er eine versteckte Kamera vermutete und sich nicht blamieren wollte. Doch Maria fand die Rue de Berne auch ohne seine Hilfe – so groß war die Stadt nun auch wieder nicht.

Ihre unsichtbare Begleiterin, die geschwiegen hatte, solange sie sich auf die Karte konzentrierte, versuchte sie davon abzubringen. Es sei keine Frage der Moral, sondern sie wolle verhindern, daß Maria einen Weg ohne Umkehr einschlage.

Maria sagte, wenn sie imstande sei, genug Geld für ein Rückflugticket nach Brasilien zu verdienen, würde sie mit allem fertig werden. Im übrigen habe kein einziger Mensch, der ihr auf ihrem Spaziergang begegnet sei, das Leben, das er führe, frei gewählt. So sah die Wirklichkeit aus.

»Wir leben in einem Jammertal«, sagte sie zu ihrer unsichtbaren Begleiterin. »Wir können noch soviel träumen das wirkliche Leben ist hart, unerbittlich, traurig. Was wollen Sie mir denn sagen: daß die anderen mich deswegen verdammen werden? Niemand wird es erfahren – dies ist nur eine Phase in meinem Leben.«

Mit einem sanften, aber wehmütigen Lächeln entschwand die unsichtbare Freundin.

Maria ging wieder zum Vergnügungspark. Sie kaufte sich eine Karte für die Achterbahn, kreischte und schrie mit den anderen vor Vergnügen, denn sie wußte nun, daß es nicht gefährlich war, sondern nur ein Spiel. Sie aß in einem teuren japanischen Restaurant, einfach aus dem Bedürfnis heraus, sich etwas zu gönnen. Sie war fröhlich, brauchte nicht mehr auf einen Anruf zu warten oder jeden Rappen zweimal umzudrehen, bevor sie ihn ausgab.

Gegen Abend rief sie von unterwegs die Modelagentur an, meldete, daß das Treffen sehr angenehm verlaufen sei, und bedankte sich. Wenn die Agentur Models vermittelte, würde sie die Fotos des Shootings sehen wollen. Wenn sie dagegen Frauen vermittelte, würde sie ihr neue Dates antragen. Man würde ja sehen.

Sie überquerte die Brücke und kehrte in ihr kleines Zimmer zurück. Einen Fernseher würde sie sich nicht kaufen, obwohl sie sich ihn jetzt leisten konnte. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, mußte nachdenken.


Aus Marias Tagebuch am selben Abend (mit der Randbemerkung >ganz überzeugt bin ich nicht<).

Ich habe herausgefunden, warum ein Mann für eine Frau bezahlt: Er will glücklich sein.

Er wird nicht tausend Franken zahlen, nur um einen Orgasmus zu haben. Er will glücklich sein. Ich will auch glücklich sein, alle wollen wir glücklich sein, aber keiner ist es. Was habe ich zu verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang… Es fällt schwer, es auch nur zu denken, geschweige denn zu schreiben… Also, noch mal: Was kann ich verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang zu einer Prostituierten zu werden?

Meine Ehre würde ich verlieren. Meine Würde. Meine Selbstachtung. Wenn ich es mir recht überlege, dann habe ich nie auch nur eines dieser drei Dinge besessen. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, mir ist es nicht gelungen, den Richtigen in mich verliebt zu machen, immer habe ich die falschen Entscheidungen getroffen – jetzt lasse ich einmal das Leben für mich entscheiden.


Die Agentur rief am nächsten Tag an, erkundigte sich nach den Fotos und wann die Modenschau stattfinden würde, da sie für jedes Shooting eine Vermittlungsgebühr einbehalte. Maria, die sie an den Araber weiterverwies, schloß daraus, daß die Agentur so ahnungslos gewesen war wie sie selbst.

Sie ging in die Stadtbücherei und wollte sich mit Büchern über Sex eindecken. Es galt, sich in einem ihr völlig unbekannten Bereich zu bewähren – höchstens ein Jahr, hatte sie sich vorgenommen –, und dazu gehörte, daß sie lernte, wie sie sich verhalten mußte, wie sie Lust geben und als Gegenleistung Geld dafür bekommen konnte.

Zu ihrer Enttäuschung sagte die Bibliothekarin, sie habe keine Bücher über Sex, nur ein paar Aufklärungsbücher. Maria überflog das Inhaltsverzeichnis und gab die Bände gleich wieder zurück: da ging's nicht um Glücklichsein, sondern nur um Erektion, Penetration, Impotenz, Verhütungsmethoden, langweilige Dinge. Sie erwog kurz, einen Band über die >Hintergründe der Frigidität bei Frauen< mitzunehmen: sie selbst konnte nur durch Selbstbefriedigung zum Orgasmus kommen, obwohl sie es schön fand, von einem Mann genommen zu werden und zu spüren, wie er in sie eindrang.

Aber sie war ja nicht auf der Suche nach Lust, sondern nach Arbeit. Sie dankte der Bibliothekarin, ging in ein Dessousgeschäft und tätigte eine erste Investition in die Karriere, die sich möglicherweise am Horizont abzeichnete – Wäsche, die sie aufreizend fand. Anschließend begab sie sich in die Rue de Berne. Diese begann bei einer Kirche (und zufällig ganz in der Nähe des japanischen Restaurants, in dem sie am Tag zuvor zu Abend gegessen hatte), wurde dann zu einer Straße mit Schaufenstern, in denen billige Uhren zum Verkauf angeboten wurden, und an ihrem Ende lagen alle Nachtclubs, von denen sie gehört hatte. Zu dieser Tageszeit waren sie allerdings geschlossen. Sie ging wieder an den See und kaufte dort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, fünf Pornozeitschriften, die sie dann eingehend im Hinblick auf mögliche Wünsche ihrer künftigen Kunden studierte. So brachte sie die Zeit herum, bis es Abend wurde, und ging dann wieder in die Rue de Berne. Dort suchte sie sich eine Bar mit dem suggestiven Namen >Copacabana< aus.

Noch hatte sie nichts entschieden, sagte sie zu sich selbst. Es war nur ein Versuch. Sie hatte sich in der ganzen Zeit, seit sie in der Schweiz war, nie besser und freier gefühlt.

»Suchen Sie Arbeit?« fragte der Besitzer, der hinter einem Tresen Gläser wusch. Das Lokal bestand aus ein paar Tischen, einer Ecke mit einer Art Tanzfläche und ein paar an die Wand gestellten Sofas. »Daraus wird nichts. Es sei denn, Sie haben eine Arbeitsbewilligung. Denn hier wird das Gesetz eingehalten.«

Maria zeigte ihren Ausweis, und der Mann schien gleich bessere Laune zu bekommen.

»Haben Sie Erfahrung?«

Sie wußte nicht, was sie antworten sollte: würde sie ja sagen, so würde er fragen, wo sie vorher gearbeitet hatte. Würde sie nein sagen, so würde er sie möglicherweise ablehnen.

»Ich schreibe an einem Buch.«

Der Gedanke war aus dem Nichts gekommen, wie von einer fremden Stimme eingeflüstert. Sie merkte, daß der Mann wußte, daß sie log, auch wenn er so tat, als glaube er ihr.

»Bevor Sie sich entscheiden, sollten Sie mit einem der Mädchen sprechen. Wir haben hier jede Nacht mindestens sechs Brasilianerinnen. Die können Ihnen sagen, was Sie hier erwartet.«

Maria wollte noch sagen, daß sie keine Ratschläge brauche, daß sie sich noch nicht entschieden habe, aber der Mann hatte sie stehenlassen und war zur anderen Seite der Bar gegangen, ohne ihr auch nur ein Glas Wasser anzubieten.

Die anderen Mädchen stellten sich ein, und der Besitzer machte Maria mit ein paar Brasilianerinnen bekannt. Keine von ihnen schien große Lust zu haben, mit der Neuen zu sprechen. Vielleicht haben sie Angst vor der Konkurrenz, dachte Maria. Dann erklang Musik, ein paar brasilianische Lieder (das Lokal hieß nicht umsonst >Copacabana<), und es kamen noch mehr Mädchen, einige mit asiatischen Gesichtszügen und andere, die aussahen, als seien sie direkt von den beschneiten, romantischen Bergen rund um Genf heruntergestiegen. Doch sie alle, wie auch der Besitzer, behandelten Maria wie Luft. Allmählich beschlich sie das Gefühl, daß selbst dieser Versuch schon eine falsche Entscheidung war. Endlich, nach zwei Stunden sie war inzwischen fast am Verdursten und hatte nur eine Zigarette nach der anderen geraucht –, kam eine der Brasilianerinnen zu ihr.

»Warum hast du dieses Lokal ausgesucht?«

Maria konnte wieder auf die Geschichte mit dem Buch zurückgreifen oder das tun, was sie getan hatte, als es um die Kurden und Joan Miro ging: die Wahrheit sagen.

»Wegen des Namens. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und ich weiß auch nicht, ob ich anfangen will.«

Das Mädchen war von dieser ehrlichen, geraden Antwort sichtlich überrascht. Sie trank einen Schluck von einem Getränk, das wie Whisky aussah. Sie habe Heimweh nach Brasilien, sagte sie. Heute abend würde wenig los sein, weil gerade ein großer Kongreß, der in der Umgebung von Genf stattfinden sollte, abgesagt worden sei. Als sie merkte, daß Maria gehen wollte, hielt sie sie zurück:

»Es ist ganz einfach, du mußt nur drei Regeln einhalten. Die erste lautet: Verliebe dich in niemanden, mit dem du zusammenarbeitest oder mit dem du für Geld ins Bett gehst. Die zweite: Glaube nicht an Versprechen und bestehe auf.

Vorauszahlung. Die dritte: Keine Drogen.«

Und nachdem sie kurz innegehalten hatte:

»Und fang gleich an. Wenn du heute nach Hause gehst, ohne zuvor mit einem Freier weggegangen zu sein, wirst du es dir morgen zweimal überlegen und nicht den Mut aufbringen wiederzukommen.«

Maria war nur auf ein Informationsgespräch vorbereitet gewesen, fühlte sich in die Enge getrieben und entschied blitzschnell, wie in Panik, daß sie die Herausforderung annehmen wollte.

»In Ordnung. Ich fange heute an.« Daß sie erst gestern zum ersten Mal mit einem Freier zusammengewesen war, verschwieg sie. Die Frau ging zum Besitzer, den sie Milan nannte, und er kam, um sich mit Maria zu unterhalten.

»Tragen Sie hübsche Unterwäsche?« Das hatte sie noch keiner gefragt. Nicht einmal ihre Liebhaber, auch der Araber und ihre Freundinnen nicht, noch viel weniger ein Fremder. Aber hier kam man direkt zur Sache.

»Ich trage einen hellblauen Slip. – Und keinen Büstenhalter«, fügte sie provozierend hinzu.

Aber sie wurde nur getadelt: »Morgen tragen Sie bitte einen schwarzen Slip, einen passenden BH, Strumpfhalter und Strümpfe. Es gehört zum Ritual, soviel Wäsche wie möglich auszuziehen.«

Und da er sicher war, eine Anfängerin vor sich zu haben, brachte ihr Milan gleich noch den Rest des Rituals bei. Dazu gehörte, daß die Männer, die hierherkamen, im Glauben belassen wurden, das >Copacabana< sei ein gewöhnlicher Nachtclub, kein Bordell. Die Männer kamen in der Absicht, dort eine Frau anzutreffen, die zufällig ohne Begleitung war. Wenn jemand zu Maria an den Tisch trat und daran nicht gehindert wurde, weil er als »exklusiver Freier« eines bestimmten Mädchens galt, würde er sie als erstes zu einem Drink einladen.

Darauf könne Maria mit Ja oder Nein antworten. Es stand ihr frei, ihre Begleitung auszuwählen, obwohl es nicht ratsam war, pro Abend mehr als einmal Nein zu sagen. Wenn die Antwort Ja war, müsse sie einen Fruchtcocktail wählen, das rein zufällig teuerste Getränk auf der Karte. Kein Alkohol, und der Freier dürfe nie für sie aussuchen.

Als nächstes wollten die Männer normalerweise tanzen. Die meisten waren Stammkunden und harmlos. Auf die »exklusiven Freier« ging Milan nicht näher ein. Die Polizei und das Gesundheitsministerium würden monatliche Blutuntersuchungen verlangen, um sicherzustellen, daß sie keine ansteckenden Geschlechtskrankheiten hatte. Der Gebrauch eines Präservativs sei Pflicht, obwohl er, Milan, das natürlich nicht überprüfen könne. Sie dürften niemals einen Skandal heraufbeschwören – Milan war verheiratet, ein Familienvater, der um seinen guten Ruf und den guten Namen des Nachtclubs besorgt war.

Er fuhr mit der Beschreibung des Rituals fort: Nach dem Tanzen bringe der Freier sie an den Tisch zurück und tue dann so, als wäre ihm völlig überraschend die Idee gekommen, sie einzuladen, mit ihm in ein Hotel zu gehen. Der normale Tarif sei dreihundertfünfzig Franken, von denen Milan fünfzig als Tischmiete bekam (ein legaler Trick, mit dem er sich mögliche Klagen vom Hals hielt).

Maria versuchte zu verhandeln: »Aber ich habe doch eintausend Franken für…«

Doch Milan ignorierte ihren Einwand und wollte schon weggehen, da schaltete sich die Brasilianerin, die das Gespräch mitgehört hatte, ein.

»Sie macht nur Spaß«, sagte sie beschwichtigend. Und zu Maria sagte sie in schönem, wohlklingendem Portugiesisch: »Sag das nicht noch einmal. Dies ist das teuerste Lokal von Genf. Er kennt die Preise und weiß, daß keiner tausend Franken bezahlt, um mit jemandem ins Bett zu gehen, ausgenommen wenn du Glück hast und gut bist – >spezielle Freier<.«

Milan (Maria würde später feststellen, daß er Jugoslawe war und seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebte) warf ihr einen Blick zu, der besagte: Dreihundertfünfzig Franken und keinen Rappen mehr.

»Richtig, das ist der Preis«, sagte Maria beschämt. Zuerst entschied er über die Farbe ihrer Unterwäsche, jetzt über den Preis ihres Körpers.

Aber er ließ ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, und fuhr mit seinen Instruktionen fort: Keine Einladungen in Häuser oder Hotels, die nicht der Fünfsternekategorie angehörten. Im Zweifelsfall müsse sie ihren Freier in ein Hotel bringen, das ein paar Häuserblocks entfernt lag. Und immer im Taxi, angeblich um zu verhindern, daß die Frauen der anderen Clubs in der Rue de Berne sich das Gesicht des Freiers merkten. Maria dagegen glaubte, der wahre Grund sei vielmehr, daß dieser Freier es sich auf dem Weg sonst anders überlegen könnte. Aber diesmal behielt sie ihre Gedanken für sich – die Diskussion über den Preis hatte ihr gereicht.

»Und wie gesagt: Kein Alkohol im Dienst – wie die Polizisten im Film. Ich lasse Sie jetzt allein, bald geht der Betrieb los.«

»Sag danke«, sagte die Brasilianerin auf portugiesisch.

Maria bedankte sich. Milan lächelte, aber dann kam ihm noch eine letzte Verhaltensregel in den Sinn: »Ehe ich's vergesse: Die Zeit zwischen dem Bestellen eines Getränks und dem Verlassen des Lokals darf nicht mehr als fünfundvierzig Minuten betragen, maximal fünfundvierzig Minuten – in der Schweiz, wo überall Uhren hängen, lernen sogar Jugoslawen und Brasilianer, pünktlich zu sein. Vergessen Sie nicht, daß ich mit den Kommissionen meine Kinder ernähre.«

Das würde sie bestimmt nicht vergessen.

Damit drückte er ihr ein Glas Mineralwasser mit Kohlensäure und Zitrone in die Hand, das man leicht für einen Gin Tonic halten konnte, und bat sie zu warten. Der Nachtclub belebte sich allmählich; Männer kamen herein, schauten sich um. Kaum hatten sie sich gesetzt, gesellte sich ein Mädchen wie selbstverständlich zu ihnen, als wären sie alte Bekannte und wollten sich jetzt nach einem langen Arbeitstag gemeinsam etwas amüsieren. Bei jedem Mann, der eine Begleiterin fand, atmete Maria erleichtert auf. Sie fühlte sich allerdings schon sehr viel besser. Vielleicht, weil sie in der Schweiz und nicht zu Hause war, vielleicht, weil sie früher oder später das Abenteuer, Geld oder einen Mann finden würde, wie sie es sich immer erträumt hatte. Vielleicht auch, weil sie seit Wochen zum ersten Mal abends ausging und in einem Lokal gelandet war, wo brasilianische Musik spielte und wo jemand sie auf portugiesisch angesprochen hatte. Sie scherzte und lachte mit den anderen Mädchen, die um sie herum saßen, trank Fruchtcocktails, unterhielt sich fröhlich.

Keine von ihnen hatte sie begrüßt oder in ihrem neuen Beruf willkommen geheißen, aber sie hatte nichts anderes erwartet, schließlich war sie eine Konkurrentin, die um dieselben Trophäen stritt. Sie fühlte sich nicht deprimiert, sondern stolz denn sie kämpfte und war nicht hilflos. Sie konnte jederzeit durch die Tür hinaustreten und gehen, aber sie würde sich immer daran erinnern, daß sie den Mut gehabt hatte, bis hierher zu kommen, Dinge auszuhandeln und zu besprechen, an die sie bisher nie auch nur zu denken gewagt hatte. Sie war kein Opfer des Schicksals, sagte sie sich immer wieder: Sie riskierte etwas, übertrat Grenzen, erlebte Dinge, auf die sie später in der Stille ihres Herzens, im Alter, sehnsüchtig zurückblicken würde.

Niemand würde kommen und sie ansprechen, ganz bestimmt nicht. Keiner würde morgen behaupten, daß alles nur ein verrückter Traum gewesen sei, den sie nie mehr zu träumen wagen würde. Denn sie hatte begriffen, daß tausend Franken für eine Nacht ihr wahrscheinlich nicht noch einmal angeboten werden würden und daß es sicherer war, einen Rückflug nach Brasilien zu buchen. Zum Zeitvertreib rechnete sie nach, wieviel jedes dieser Mädchen verdiente: Wenn sie dreimal pro Abend mit einem Freier weggingen, verdienten sie in fünf Arbeitsstunden soviel wie Maria vorher in zwei Monaten im Stoffladen.

So viel? Nun ja, sie selbst hatte in einer Nacht tausend Franken verdient, aber vielleicht war das nur Anfängerglück. Auf jeden Fall aber war ihr Verdienst als normale Prostituierte sehr viel höher als das Gehalt einer Französischlehrerin in ihrem Heimatstädtchen. Dabei mußte sie dafür nur eine Zeitlang in einer Bar sitzen, tanzen, die Beine breitmachen – Schluß, aus. Sie brauchte nicht einmal zu reden.

Geld konnte ein Grund sein, dachte sie weiter. Aber war das alles? Hatten die Beteiligten – Freier und Frauen – dabei ihren Spaß? Würde es sehr viel anders sein, als in der Schule getuschelt worden war? Mit Präservativ war es ungefährlich. Und sie riskierte auch nicht, daß jemand aus ihrem Ort sie wiedererkannte; denn nach Genf kamen laut den Mitstudenten in ihrem Französischkurs nur Leute, die irgendwelche Bankgeschäfte tätigen wollten. Die meisten Brasilianer, die es sich leisten konnten, gingen am liebsten shoppen, vorzugsweise in Miami oder Paris.

Neunhundert Schweizerfranken pro Nacht, fünf Tage pro Woche. Ein Vermögen! Was machten diese Mädchen noch hier, wenn sie in einem Monat genügend verdienten, um heimzufliegen und ihren Eltern ein Haus zu kaufen? Arbeiteten sie erst seit kurzem hier?

Oder – und Maria hatte Angst, sich diese Frage zu stellen war es womöglich sogar schön?

Wieder hätte sie gern etwas getrunken – der Champagner hatte vergangene Nacht sehr geholfen. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Vor ihr stand ein etwa dreißigjähriger Mann in der Uniform einer Luftfahrtgesellschaft.

Plötzlich stand die Zeit still, und Maria hatte das Gefühl, aus ihrem Körper herauszutreten, neben sich zu stehen, vor Scham zu vergehen. Sie merkte, wie sie rot wurde, nickte lächelnd und spürte, daß sich in dieser Minute ihr Leben für immer veränderte.

Fruchtcocktail, Unterhaltung, was machen Sie hier, es ist kalt, nicht wahr? Mögen Sie diese Musik, also ich mag Abba lieber, die Schweizer sind kalt, sind Sie aus Brasilien? Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Land. Vom Karneval. Wie hübsch ihr Brasilianerinnen doch seid!

Lächeln, sich schüchtern für die Komplimente bedanken. Tanzen, aber auf den Blick Milans achten, der sich manchmal am Kopf kratzt und auf seine Armbanduhr zeigt. Rasierwasserduft des Mannes. Sie begreift schnell, daß sie sich an Gerüche gewöhnen muß. Dieser Mann zumindest benutzt ein blumiges Aftershave. Sie tanzen eng. Noch ein Fruchtcocktail, die Zeit vergeht, hatte Milan nicht gesagt, maximal fünfundvierzig Minuten? Sie schaut auf die Uhr, der Freier fragt, ob sie jemanden erwarte, sie sagt, in einer Stunde kämen ein paar Freunde, er lädt sie ein, mit ihm ins Hotel zu kommen. Dreihundertfünfzig Franken, Dusche nach dem Sex (der Mann meinte verwundert, das habe er noch nie erlebt). Sie ist nicht Maria, jemand anderes ist in ihrem Körper, der nichts fühlt, nur mechanisch eine Art Ritual durchführt. Milan hatte ihr alles beigebracht, nur nicht, wie man sich von einem Freier verabschiedet, sie dankt, er weiß auch nicht recht, was er tun soll, ist müde.

Sie kämpft mit sich, möchte nach Hause, aber sie muß in den Nachtclub zurück und die fünfzig Franken abgeben. Noch ein Mann, noch ein Cocktail, noch mehr Fragen zu Brasilien, noch eine Dusche (diesmal ohne Kommentare dazu). Wieder kehrt sie in die Bar zurück, Milan nimmt seine Kommission in Empfang, sagt, daß sie gehen kann, heute sei wenig los. Sie nimmt kein Taxi, geht die Rue de Berne entlang, an den anderen Nachtclubs vorbei, blickt in die Schaufenster mit den Uhren, geht bis zur Kirche an der Ecke vor (die auch heute wieder geschlossen ist, immer geschlossen…). Niemand erwidert ihren Blick wie immer.

Sie geht wie in einer Art Trance durch die Kälte. Fühlt die Temperatur nicht, weint nicht, denkt nicht an das Geld, das sie verdient hat. Gewisse Menschen sind dazu geboren, das Leben allein zu bewältigen, das ist weder gut noch schlecht, c'est la vie. Maria ist einer dieser Menschen.

Sie zwingt sich, über diese erste Nacht nachzudenken. Heute hat sie angefangen, fühlt sich aber bereits als Professionelle, die das ihr Leben lang gemacht hat. Sie empfindet eine gewisse Zärtlichkeit sich selbst gegenüber, ist zufrieden, weil sie nicht weggelaufen ist. Jetzt muß sie entscheiden, ob sie weitermachen will. Wenn sie weitermacht, wird sie die Beste sein – bisher war sie nirgendwo die Beste.

Sie lernt sehr schnell: Nur die Stärksten überleben. Um stark zu sein, muß man die Beste sein, daran gibt es nichts zu deuteln.


Aus Marias Tagebuch eine Woche später:

Ich bin kein Körper mit einer Seele, ich bin eine Seele, die einen sichtbaren Teil besitzt, der Körper heißt. In all diesen Tagen war die Seele, anders als ich es mir vorgestellt hatte, immer ganz da. Sie sprach nicht mit mir, kritisierte mich nicht, hatte kein Mitleid mit mir: sie hat mich nur beobachtet.

Inzwischen weiß ich auch, warum: Es liegt daran, daß ich schon so lange die Liebe aus meinen Gedanken verbannt hatte. Nun entzieht sie sich mir, beleidigt, als würde sie von mir nicht genügend gewürdigt, als fühle sie sich nicht willkommen. Aber wenn ich nicht an die Liebe denke, bin ich nichts.

Als ich nach dieser ersten Nacht ins >Copacabana< zurückkam, wurde ich schon viel respektvoller behandelt offenbar probieren es viele Mädchen einmal und bringen es dann nicht fertig, weiterzumachen. Wer weitermacht, wird zu einer Art Verbündeten, Mitstreiterin, weil sie versteht, welche Gründe – oder vielmehr, welche nicht vorhandenen Gründe einen dazu bewogen haben, diese Art Leben zu wählen.

Alle träumen davon, daß jemand kommt und sie als die wahre Frau entdeckt, als sinnliche Gefährtin und Freundin. Und alle gehen bei jeder neuen Begegnung von vornherein davon aus, daß der Traum nicht in Erfüllung gehen wird.

Ich muß über die Liebe schreiben. Ich muß nachdenken und noch mal nachdenken, schreiben, über die Liebe schreiben sonst erträgt meine Seele das nicht.


Obwohl die Liebe für sie so wichtig war, vergaß Maria den Rat nie, den man ihr in der ersten Nacht gegeben hatte, und lebte die Liebe nur auf den Seiten ihres Tagebuches aus. Ansonsten setzte sie alles daran, die Beste zu sein, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, nicht allzuviel nachzudenken und einen guten Grund für das zu finden, was sie tat.

Das war am schwierigsten: Was war der wahre Grund?

Sie tat es, weil sie mußte. Aber das stimmte nicht ganz schließlich mußten alle Geld verdienen, und nicht alle entschieden sich dafür, am Rand der Gesellschaft zu leben. Sie tat es, weil sie eine neue Erfahrung machen wollte. Auch das stimmte nicht ganz; die Welt war voller neuer Erfahrungen – wie beispielsweise Skilaufen oder mit einem Schiff auf dem Genfer See spazierenfahren; diese Erfahrungen hatten sie bislang nur nicht interessiert. Sie tat es, weil sie nichts zu verlieren hatte, weil ihr Leben eine tägliche, ständige Frustration war.

Nein, keine dieser Antworten stimmte, besser nicht weiter darüber nachdenken und im Leben das mitnehmen, was kommt. Sie hatte viel mit den anderen Prostituierten gemein und auch mit allen anderen Frauen, die sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte: Heiraten, ein sicheres Leben haben – das war der größte Traum. Diejenigen, die nicht davon träumten, hatten entweder einen Mann (fast ein Drittel ihrer Kolleginnen war verheiratet) oder gerade eine Scheidung hinter sich. Um sich selbst zu verstehen, versuchte Maria vorsichtig zu ergründen, warum die anderen diesen Beruf ergriffen hatten.

Sie erfuhr nichts Neues. Maria listete die Antworten auf. Die Kolleginnen erzählten, daß sie a) ihren Mann finanziell unterstützen mußten. Und was, wenn der Mann eifersüchtig wurde? Wenn einer seiner Freunde im >Copacabana< auftauchte? wollte Maria weiterfragen, traute sich aber nicht. b) der Mutter ein Haus kaufen wollten, ein Grund, der sich edel anhö rte, aber eher eine Ausrede war; c) Geld zusammensparen mußten, um das Rückflugticket zu kaufen (eine unter den Kolumbianerinnen, Thailänderinnen, Peruanerinnen, Philippininnen und Brasilianerinnen weitverbreitete Begründung, wenngleich sie meist ein Vielfaches des nötigen Betrages verdient und wieder ausgegeben hatten, aus Angst, sich ihren Traum zu erfüllen); d) es zu ihrem eigenen Vergnügen taten (das paßte nicht gut ins Bild); e) sonst nichts geschafft hatten (eine äußerst fadenscheinige Begründung, denn in der Schweiz gab es viele andere Jobs, wie Putzfrau, Köchin, Aupair).

Am Ende fand sie keinen guten Grund und ließ davon ab, die Welt um sich herum erklären zu wollen.

Milan hatte recht gehabt: Kein Freier zahlte eintausend Schweizer Franken für ein paar Stunden mit ihr.

Andererseits zahlten alle anstandslos die dreihundertfünfzig Franken, die sie verlangte, als kennten sie den Tarif im voraus und fragten nur nach, um sie zu erniedrigen oder um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

Eines der Mädchen meinte: »Die Prostitution ist ein Gewerbe, bei dem es genau umgekehrt zugeht wie bei allen anderen Gewerben: Wer anfängt, verdient mehr, wer Erfahrung hat, verdient weniger. Tu immer so, als wärst du noch Anfängerin.«

Sie wußte immer noch nicht, was es mit den >speziellen Freiern< auf sich hatte. Nur in der ersten Nacht war kurz davon die Rede gewesen, und weder Milan noch die Frauen kamen je darauf zurück. Nach und nach lernte sie die wichtigsten Tricks ihres Gewerbes, wie zum Beispiel daß man nie nach dem Privatleben des Freiers fragen, immer lächeln und überhaupt möglichst wenig reden sollte und keinerlei Treffen außerhalb des Nachtclubs vereinbaren. Der wichtigste Ratschlag kam von einer Philippinin namens Nyah: »Du mußt auch stöhnen, wenn er einen Orgasmus hat. Dann wird dir der Freier treu bleiben.«

»Aber wozu? Sie bezahlen doch dafür, daß sie befriedigt werden.«

»Da irrst du dich. Ein Mann beweist nicht durch eine Erektion, daß er ein Mann ist. Er ist ein Mann, wenn er einer Frau Lust verschaffen kann. Wenn er einer Prostituierten Lust verschaffen kann, dann wird er sich für den Besten von allen halten.«

So vergingen sechs Monate: Maria lernte, wie das >Copacabana< funktionierte. Da es der teuerste Nachtclub der Rue de Berne war, bestand die Kundschaft zum größten Teil aus Managern, die spät nach Hause kommen konnten, da sie »mit Klienten essen gingen«. Doch die zeitliche Grenze für diese »Abendessen«, die nicht überschritten werden durfte, war dreiundzwanzig Uhr.

Die meisten der Prostituierten, die dort arbeiteten, waren zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt, blieben im Durchschnitt zwei Jahre im Haus und wurden dann von Neuankömmlingen abgelöst. Sie gingen danach zuerst ins >Neon<, später ins >Xenium<, und mit zunehmendem Alter nahm der Preis ab, und es gab keine festen Arbeitsstunden mehr. Fast alle endeten im >Tropical Ecstacy<, das auch Frauen über dreißig akzeptierte. Aber waren sie erst einmal dort angekommen, konnten sie gerade noch Kost und Logis bezahlen, indem sie ein oder zwei Studenten pro Tag bedienten.

Maria ging mit vielen Männern ins Bett. Alter und Kleidung spielten für sie keine Rolle. Entscheidend für ihr >Ja< oder >Nein< war, wie sie rochen. Sie hatte nichts gegen Zigaretten einzuwenden, aber sie haßte billiges Rasierwasser oder Freier, die nicht regelmäßig duschten oder deren Kleidung nach Alkohol stank. Das >Copacabana< war ein ruhiges Lokal und die Schweiz womöglich das beste Land, um dort als Prostituierte zu arbeiten – vorausgesetzt, man hatte Arbeit und eine Aufenthaltsbewilligung und die Papiere waren in Ordnung und man bezahlte regelmäßig die Sozialversicherung. Milan wiederholte ständig, er wolle nicht, daß seine Kinder seinen Namen in der Sensationspresse sahen. Er konnte strenger sein als die Polizei, wenn es darum ging, die rechtliche Situation der Frauen, die er unter Vertrag hatte, zu prüfen.

Wenn man erst einmal das Hindernis der ersten oder der zweiten Nacht überwunden hatte, war es ein Beruf wie jeder andere auch. Ein Beruf, in dem man hart arbeitete, gegen die Konkurrenz ankämpfte, sich bemühte, einen Qualitätsstandard zu halten. Man »riß seine Stunden ab«, war etwas gestreßt, beklagte sich über den Arbeitsanfall und ruhte sich am Sonntag aus. Die meisten Prostituierten waren sehr gläubig, sie gingen zur Messe oder zu ihren Gebeten, ihren Treffen mit Gott.

Maria hingegen kämpfte auf den Seiten ihres Tagebuches, um ihre Seele nicht zu verlieren. Sie machte die überraschende Entdeckung, daß es jedem fünften Freier nicht darum ging, Liebe zu machen, sondern darum, zu reden. Sie zahlten anstandslos den Tabellenpreis, das Hotel, und wenn es an der Zeit war, sich auszuziehen, meinten sie, es sei nicht notwendig. Diese Freier wollten lieber über den Arbeitsstreß reden, die untreue Ehefrau, die Einsamkeit, weil sie niemanden hatten, mit dem sie reden konnten (und was einsam sein hieß, wußte Maria nur zu gut).

Anfangs fand sie das sehr merkwürdig. Bis sie eines Tages einen französischen Headhunter ins Hotel begleitete. Er schilderte seine Tätigkeit (die darin bestand, Kandidaten für hohe Managerposten zu finden), als sei es die allerinteressanteste Sache der Welt. Und doch sprach er voller Mitleid von den Menschen, die er vermittelte:

»Wissen Sie, wer der einsamste Mensch der Welt ist?« fragte er Maria. »Es ist der Manager mit einer erfolgreichen Karriere, der ein Riesengehalt verdient, das Vertrauen seiner Vorgesetzten und seiner Untergebenen genießt, eine Familie, Kinder hat, denen er bei den Schularbeiten hilft, und dem eines Tages jemand wie ich mit folgendem Vorschlag kommt: >Wollen Sie den Job wechseln und das Doppelte verdienen?<

Dieser Mann, der alles hat, um sich begehrt und glücklich zu fühlen, wird zum armseligsten Menschen der Welt. Warum? Weil er niemanden hat, mit dem er reden kann. Er überlegt, ob er meinen Vorschlag annehmen soll, kann aber weder mit seinen Arbeitskollegen darüber reden, denn die würden alles tun, um ihn zum Bleiben zu bewegen, noch mit seiner Frau, weil sie nur jahrelang seine erfolgreiche Karriere begleitet hat und viel von Sicherheit, aber nichts von Risiken versteht. Er kann mit niemandem reden und steht vor der großen Entscheidung seines Lebens. Können Sie sich vorstellen, was dieser Mann fühlt?«

Nein, nicht er war der einsamste Mensch auf der Welt, denn den einsamsten Menschen der Welt kannte Maria bestens: Das war sie selbst. Dennoch stimmte sie ihrem Freier in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld zu – das dann auch kam. Und von da an merkte sie, daß sie herausfinden mußte, wie sie ihren Freiern etwas von dem enormen Druck abnehmen konnte, der auf ihnen zu lasten schien; und wie sie ihre Dienstleistungen und gleichzeitig ihre Verdienstmöglichkeiten verbessern konnte.

Als Maria begriffen hatte, daß es ebenso lukrativ, wenn nicht noch lukrativer sein konnte, seelische Bedürfnisse zu befriedigen, als körperliche, ging sie wieder in die Bibliothek, wälzte Bücher über Eheprobleme, Psychologie, Politik. Die Bibliothekarin war begeistert – weil das Mädchen, für das sie so große Sympathie hegte, es aufgegeben hatte, an Sex zu denken, und sich jetzt ernsthafteren Themen widmete. Sie las regelmäßig die Zeitung, besonders den Wirtschaftsteil – da der größte Teil ihrer Freier Manager war. Sie lieh Ratgeber aus – denn fast alle baten sie um Rat. Sie studierte Abhandlungen über den Menschen und seine Gefühle – denn alle litten aus irgendwelchen Gründen. Maria war eine respektable Hure, sie war anders als ihre Kolleginnen, und nach sechs Monaten in ihrem Beruf hatte sie eine hochkarätige, große und treue Kundschaft, was den Neid, die Eifersucht, aber auch die Bewunderung ihrer Kolleginnen weckte.

Was den Sex betraf, hatte er ihr selbst bisher keine Befriedigung verschafft. Für sie bedeutete Sex nur, die Beine breitzumachen, zu verlangen, daß der Freier ein Präservativ benutzte, etwas zu stöhnen, um das Trinkgeld zu erhöhen (bis zu fünfzig Franken, wie sie dank der Philippinin Nyah herausgefunden hatte), und nach dem Verkehr zu duschen, um mit dem Wasser ein wenig ihre Seele zu reinigen. Keine Varianten. Keine Küsse – der Kuß war für eine Prostituierte heiliger als alles andere. Nyah hatte ihr beigebracht, daß sie den Kuß für die Liebe ihres Lebens aufbewahren sollte, so wie im Märchen vom Dornröschen; den Kuß, der sie aus dem Schlaf wecken und in die Welt der Märchen zurückbringen würde, in eine Schweiz, die nur noch das Land der Schokolade, der Kühe und der Uhren war.

Auch kein Orgasmus, keine Lust, keine Erregung. In ihrem Bemühen, die Beste von allen zu werden, hatte sich Maria einige pornographische Filme angesehen in der Hoffnung, etwas davon für ihre Arbeit verwenden zu können. Sie hatte viele interessante Dinge gesehen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, sie bei ihren Freiern anzuwenden – sie dauerten zu lange, und Milan hatte es gern, wenn die Frauen mindestens drei Freier pro Nacht bedienten.

Am Ende dieses ersten halben Jahres hatte Maria sechzigtausend Schweizer Franken auf ihr Bankkonto einbezahlt, konnte sich teurere Restaurants und auch einen Farbfernseher leisten (den sie allerdings nie benutzte), und sie überlegte sogar, in eine bessere Wohnung umzuziehen. Sie hätte jetzt Bücher kaufen können, ging aber weiter in die Bibliothek, die ihre Brücke zu einer realen, solideren und dauerhafteren Welt war. Sie unterhielt sich gern mit der Bibliothekarin, die sich freute, weil Maria offenbar eine Arbeit gefunden hatte und vielleicht auch eine Liebe, obwohl sie nie nachfragte, weil sie schüchtern und diskret war, wie es sich für eine Schweizerin gehörte (auch wenn ihre Landsleute im >Copacabana< und im Bett genauso unverkrampft, fröhlich oder voller Komplexe waren wie jedes andere Volk der Welt).


Aus Marias Tagebuch, an einem lauen Sonntagnachmittag:

Alle Männer, die kleinen wie die großen, die arroganten oder schüchternen, die sympathischen oder abweisenden, haben eins gemeinsam: Sie haben Angst, wenn sie in den Nachtclub kommen. Die Erfahrenen verbergen ihre Angst, indem sie laut reden, während die Schüchternen sie nicht überspielen können und sich zuerst Mut antrinken müssen. Was aber nichts daran ändert, daß sie alle Angst haben vielleicht mit Ausnahme der >speziellen Freier<, die mir Milan noch immer nicht vorgestellt hat.

Wovor haben sie Angst? Eigentlich müßte ich diejenige sein, die Angst hat. Ich gehe mit ihnen in ein Hotel, bin ihnen körperlich unterlegen, trage keine Waffen bei mir. Die Männer sind wirklich merkwürdig, und ich meine nicht nur die, die ins >Copacabana< kommen, sondern alle, die ich bislang kennengelernt habe. Sie schlagen, schreien, drohen – aber kommen um vor Angst vor einer Frau. Vielleicht nicht vor der, die sie geheiratet haben, aber es gibt immer eine, die sie fürchten und nach deren Pfeife sie tanzen. Und sei es die eigene Mutter.


Die Männer, die sie in Genf kennengelernt hatte, taten alles, um selbstsicher zu wirken, als hätten sie die ganze Welt im Griff und ihr eigenes Leben auch; aber dahinter verbarg sich die Angst vor der Ehefrau, die Panik, keine Erektion zustande zu bringen, nicht einmal bei einer einfachen Prostituierten, die sie bezahlten, Manns genug zu sein. Wenn sie in einen Laden gingen, sich Schuhe kauften, die sie dann doch drückten, würden sie mit der Quittung in der Hand wiederkommen und ihr Geld zurückverlangen. Doch wenn sie bei einer Prostituierten aus dem >Copacabana<, die sie bezahlt hatten, keine Erektion hatten, kamen sie nicht wieder, aus Angst, ihr Versagen habe sich unter den anderen Prostituierten schon herumgesprochen, und das wäre eine Schande.

>Eigentlich sollte ich mich schämen<, notierte Maria. >Tatsächlich aber tun sie es.<

Maria versuchte peinliche Situationen immer zu vermeiden, und wenn einer angetrunken oder müde wirkte, konzentrierte sie sich auf Liebkosungen und Masturbation – was den Männern gefiel.

Man mußte vermeiden, daß sie sich schämten. Diese Männer, die bei ihrer Arbeit so mächtig und arrogant waren, die sich tagsüber mit Angestellten, Kunden, Lieferanten herumschlugen und mit Vorurteilen, Geheimnissen, Verstellung, Heuchelei, Angst, Unterdrückung umgehen konnten, ließen den Tag in einem Nachtclub ausklingen, und sie gaben gern dreihundertfünfzig Franken dafür aus, einmal eine Nacht lang nicht sie selbst sein zu müssen.

>Eine Nacht lang? Da übertreibst du aber, Maria! Tatsächlich sind es fünfundvierzig Minuten, minus die Zeit, die zum Ausziehen, ein paar Zärtlichkeiten, etwas Small talk und wieder Anziehen draufgeht, macht elf Minuten für den eigentlichen Sex.<

Elf Minuten. Die Welt drehte sich um etwas, was nur elf Minuten dauerte!

Und wegen dieser elf Minuten von den vierundzwanzig Stunden eines Tages (einmal angenommen, daß alle mit ihren Ehepartnern täglich Sex hatten, was unwahrscheinlich war und nicht stimmte) heirateten sie, ernährten sie eine Familie, ertrugen das Kindergequengel, erfanden die wildesten Ausreden, wenn sie zu spät nach Hause kamen. Wegen dieser elf Minuten schauten sie zighunderte anderer Frauen an, mit denen sie gern am Genfersee entlangspaziert wären. Wegen dieser elf Minuten kauften sie teure Kleidung für sich und noch viel teurere für die Frauen, bezahlten sie Prostituierte, um das zu kompensieren, was ihnen fehlte, erhielten sie eine riesige Industrie für Kosmetik, Diäten, Gymnastik, Pornographie, Macht aufrecht – und wenn sie mit anderen Männern zusammen waren, sprachen sie überraschenderweise nie über Frauen, sondern nur über die Arbeit, über Geld oder Sport.

Da lief etwas ganz verkehrt in dieser Zivilisation – und nicht nur in bezug auf die Abholzung des Amazonaswaldes, die Ozonschicht, das Pandasterben, die Zigarette, krebserregende Nahrungsmittel, die Situation in den Gefängnissen, wie die Zeitungen behaupteten.

Es war genau in dem Bereich, in dem Maria tätig war: beim Sex.

Aber Maria war nicht hier, um die Menschheit zu retten; sondern um ihr Bankkonto wachsen zu lassen, weitere sechs Monate Einsamkeit zu ertragen, weil sie sich entschlossen hatte zu bleiben, um monatlich einen Betrag an ihre Mutter überweisen und sich alles leisten zu können, wovon sie immer geträumt hatte. Sie zog in eine sehr viel bessere Wohnung mit Zentralheizung um, und von ihrem Fenster aus sah sie auf eine Kirche, ein japanisches Restaurant, einen Supermarkt und ein sympathisches Cafe, in das sie immer ging, um Zeitung zu lesen. Nur noch ein halbes Jahr, das hatte sie sich geschworen, würde sie das >Copacabana< ertragen: Darf ich Sie zu einem Drink einladen, tanzen, wie finden Sie Brasilien, Hotel, im voraus abkassieren, reden und die richtigen Stellen berühren – am Körper wie auch in der Seele (vor allem in der Seele), bei den intimsten Problemen helfen, eine Freundin sein. Und dies alles für eine halbe Stunde, in der elf Minuten für Beine auf, Beine zu, lustvolles Stöhnen draufgingen. Danke, hoffentlich sehen wir uns nächste Woche wieder, Sie sind wirklich ein toller Mann, ich werde mir den Rest der Geschichte bei unseren nächsten Treffen anhören, großzügiges Trinkgeld, das war doch nicht nötig, es war mir ein Vergnügen.

Und sich vor allem – oberstes Gebot – nie verlieben. Das war der vernünftigste Rat, den Vivian ihr gegeben hatte, bevor sie verschwand – möglicherweise, weil sie sich verliebt hatte.

Auch Maria waren erstaunlicherweise in nur zwei Monaten schon mehrfach Heiratsanträge gemacht worden, darunter drei wirklich ernstgemeinte: vom Direktor einer Buchhaltungsfirma, von dem Flugkapitän, mit dem sie in der ersten Nacht ins Hotel gegangen war, und vom Besitzer eines Spezialgeschäfts für Taschenmesser und Stichwaffen. Alle drei hatten ihr versprochen, »sie da herauszuholen« und ihr eine ordentliche Wohnung, eine Zukunft mit Kindern und Enkeln zu geben.

Und das alles nur für elf Minuten am Tag? Das konnte nicht sein! Jetzt, nach ihrer Erfahrung im >Copacabana<, wußte sie, daß sie nicht die einzige war, die sich einsam fühlte. Der Mensch kann eine Woche lang ohne Trinken auskommen, zwei Wochen, ohne zu essen, viele Jahre ohne ein Dach über dem Kopf – aber die Einsamkeit kann er nicht ertragen. Das war für alle die schlimmste Qual. Die Männer im >Copacabana< und die vielen anderen, die ihre Begleitung suchten, litten wie sie selbst unter diesem zerstörerischen Gefühl – dem Gefühl, niemandem auf der Welt wichtig zu sein.

Um den Versuchungen der Liebe zu entgehen, ließ sie ihr Herz nur im Tagebuch sprechen. Ins >Copacabana< traten nur ihr Körper und ihr Verstand, der immer aufnahmefähiger, immer schärfer wurde. Es gelang ihr, sich einzureden, daß eine höhere Instanz sie nach Genf und in die Rue de Berne geschickt habe, und jedes weitere Buch, das sie in der Bibliothek auslieh, bestätigte ihr aufs neue: Niemand hatte vernünftig über diese elf wichtigsten Minuten des Lebens geschrieben. Vielleicht war dies ihr Schicksal, so schwierig es ihr jetzt erscheinen mochte: ein Buch zu schreiben, ihre Geschichte, ihr Abenteuer zu erzählen.

Genau, Abenteuer. Obwohl es ein verbotenes Wort war, das niemand auszusprechen wagte, etwas, was die meisten lieber im Fernsehen sahen, in Filmen, die zu den unterschiedlichsten Stunden des Tages wieder und wieder gezeigt wurden, war es genau das, was sie suchte. Es paßte zu Wüsten, zu Reisen an unbekannte Orte, zu geheimnisvollen Männern, die auf einem Schiff mitten im Fluß ein Gespräch anfingen, zu Flugzeugen, Filmstudios, Indiostämmen, Gletschern, Afrika.

Ihr gefiel die Vorstellung, ein Buch zu schreiben, und sie überlegte sich sogar einen Titel: Elf Minuten.

Sie begann die Freier in drei Typen aufzuteilen: die >Terminators< (nach einem Film, den sie sehr gern mochte), die schon mit einer Alkoholfahne hereinkamen, niemanden sahen und von allen gesehen werden wollten, die kaum tanzten und gleich ins Hotel gingen. Die >Pretty Woman<-Typen (auch wegen eines Films), die versuchten, elegant, höflich, zärtlich zu sein, als würde es von dieser Art Güte abhängen, daß die Welt wieder in die rechte Bahn kam, und die so taten, als wären sie rein zufällig hier vorbeigekommen; später im Hotel waren sie anfangs sanft und unsicher, aber am Ende fordernder als die Terminators. Schließlich die Männer Typ >Der Pate< (nochmals wegen eines Films), die den Körper einer Frau wie eine Ware behandelten; sie waren die ehrlichsten, tanzten, unterhielten sich, gaben kein Trinkgeld, wußten, was sie kauften und was es wert war, ließen sich niemals vom Gerede der Frau einwickeln, die sie ausgesuc ht hatten; sie waren die einzigen, die, auf sehr subtile Weise, die Bedeutung des Wortes Abenteuer kannten.


Aus Marias Tagebuch, an einem Abend, an dem sie nicht arbeiten konnte, weil sie ihre Tage hatte:

Wenn ich heute jemandem mein Leben erzählen sollte, könnte ich es so drehen, daß man meinen könnte, ich sei eine unabhängige, mutige und glückliche Frau. Nichts davon ist wahr: Ich darf das einzige Wort nicht erwähnen, das viel wichtiger ist als die elf Minuten – Liebe.

Mein ganzes Leben lang habe ich unter Liebe eine Art selbstgewählter Sklaverei verstanden. Ich habe mich getäuscht: Freiheit gibt es nur dort, wo Liebe ist. Wer sich vollkommen hingibt, wer sich frei fühlt, liebt am meisten.

Und wer am meisten liebt, der fühlt sich frei.

Was auch immer ich erleben, tun, herausfinden kann, nichts hat einen Sinn ohne Liebe. Ich hoffe, daß diese Zeit schnell vorbeigeht, damit ich die Suche nach mir selbst wiederaufnehmen kann – die sich in einem Mann widerspiegelt, der mich versteht, der mir nicht weh tut.

Aber was sage ich da? In der Liebe kann keiner dem anderen weh tun; für seine Gefühle ist jeder selbst verantwortlich, und wir können nicht die anderen dafür verantwortlich machen.

Ich habe gelitten, als ich die Männer verlor, in die ich mich verliebt hatte. Heute bin ich überzeugt, daß man niemanden verlieren kann, ganz einfach weil man niemanden besitzt. Das ist die wahre Erfahrung von Freiheit: das Wichtigste auf der Welt zu haben, ohne es zu besitzen.


Weitere drei Monate vergingen, der Herbst kam und schließlich das im Kalender markierte Datum: neunzig Tage bis zur Rückreise. Es war alles so schnell und gleichzeitig so langsam gegangen, fand sie, und ihr wurde klar, daß die Zeit in zwei unterschiedlichen Dimensionen ablief, die von ihrer jeweiligen Stimmung abhingen. Doch wie auch immer, ihr Abenteuer war bald zu Ende. Sie könnte natürlich weitermachen, aber sie hatte das traurige Lächeln der unsichtbaren Frau nicht vergessen, die sie bei dem Spaziergang am See begleitet und gesagt hatte, daß die Dinge nicht so einfach waren, wie Maria dachte. Maria hatte versucht, einfach weiterzumachen, sich der Herausforderung von dieser Art Leben zu stellen. Allmählich hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, daß irgendwann der Moment kommt, an dem man aufhören muß. In neunzig Tagen würde sie nach Brasilien zurückkehren, von dem verdienten Geld (viel mehr, als sie sich erhofft hatte) eine kleine Farm und ein paar Kühe kaufen (brasilianische, keine Schweizer); sie würde ihre Eltern einladen, bei ihr zu wohnen, sie würde zwei Angestellte einstellen und das Unternehmen zum Laufen bringen.

Obwohl sie fand, daß man nur in der Liebe wahre Freiheit erfahren und keiner einen anderen besitzen kann, lechzte sie insgeheim nach Rache – und dazu gehörte eine triumphale Rückkehr nach Brasilien. Nachdem sie ihre Farm eingerichtet hätte, wollte sie in die Stadt fahren, bei der Bank vorbeigehen, wo der Junge arbeitete, der sie wegen ihrer besten Freundin hatte sitzenlassen, und eine große Einzahlung – in Schweizer Franken – machen. Sie malte sich aus, wie er reagieren würde: »Hallo, wie geht's, erkennst du mich nicht?« Und sie würde gespielt angestrengt in ihrem Gedächtnis kramen und sich dann entschuldigen, es sei zu lange her, sie habe inzwischen auch ein ganzes Jahr in EUROPA (langsam aussprechen, damit seine Kollegen es hörten) verbracht. Besser gesagt, in der Schweiz (das klang exotischer und abenteuerlicher als Frankreich), wo die besten Banken der Welt angesiedelt sind. Wer er sei?

Sollte er doch sagen, sie seien zusammen zur Schule gegangen. Dann konnte sie immer noch die freundliche Dame spielen, die höflicherweise so tut, als könnte sie sich erinnern. Damit würde sie es ihm heimzahlen. Dann mußte sie ihre Farm in Schuß bringen. Und wenn alles so lief, wie sie es sich vorstellte, könnte sie sich dann auch dem widmen, was ihr im Leben am wichtigsten war: Sie würde ihre wahre Liebe finden, den Mann, der, ohne es zu wissen, all diese Jahre auf Maria gewartet hatte und dem sie nur noch nicht begegnet war.

Maria beschloß, sich das mit dem Buch Elf Minuten aus dem Kopf zu schlagen. Sie mußte sich jetzt auf die Farm konzentrieren, Pläne für die Zukunft machen, sonst bestünde die Gefahr, daß sie ihren Abreisetermin erneut hinausschob.

An jenem Nachmittag zog sie los, um sich mit ihrer besten einzigen – Freundin zu treffen, der Bibliothekarin. Sie erzählte ihr, daß sie sich für Landwirtschaft und Viehzucht interessiere, und wollte Fachliteratur ausleihen. Darauf gestand ihr die Bibliothekarin: »Wissen Sie, vor ein paar Monaten, als Sie immer herkamen, um Bücher über Sex auszuleihen, habe ich mir schon Sorgen um Sie gemacht. Schließlich lassen sich viele hübsche Mädchen vom schnellen Geld verführen und vergessen, daß sie eines Tages alt sein und keine Gelegenheit mehr haben werden, den Mann ihres Lebens zu treffen.«

»Meinen Sie Prostitution?«

»Das ist ein starkes Wort.«

»Wie gesagt, ich arbeite in einem Unternehmen für Fleischimund – export. Aber angenommen, ich wollte mich prostituieren, wäre das denn so schlimm? Vorausgesetzt, ich höre rechtzeitig damit auf? Schließlich heißt jung sein doch auch Fehler machen.«

»Das sagen alle Süchtigen: Man muß nur wissen, wann man aufhören muß. Und keiner hört auf.«

»Sie müssen einmal sehr schön gewesen sein, sind in einem Land geboren, in dem sich gut leben läßt, das seine Einwohner achtet. Reicht das aus, um sich glücklich zu fühlen?«

»Ich bin stolz darauf, mein Leben soweit gemeistert zu haben.«

Sollte sie weiter von sich erzählen? Das Mädchen sollte doch etwas lernen vom Leben!

»Ich habe eine glückliche Kind heit verlebt und in Bern die besten Schulen besucht. Dann bin ich zum Arbeiten nach Genf gekommen. Ich habe einen Mann kennengelernt, mich in ihn verliebt, ihn geheiratet. Ich habe alles für ihn getan, und er hat alles für mich getan. Die Zeit verging, und dann kam die Rente. Als er endlich Zeit hatte, um das zu machen, was er wollte, wurden seine Augen traurig vielleicht weil er sein ganzes Leben nie an sich selbst gedacht hatte. Wir haben nie ernsthaft gestritten, wir hatten keine großen Gefühle, er hat mich nie betrogen, und er hat mich nie schlecht behandelt. Wir haben ein normales Leben geführt, so normal, daß er sich ohne Arbeit nutzlos, bedeutungslos gefühlt hat und ein Jahr darauf an Krebs gestorben ist.«

So war es gewesen, aber die junge Frau könnte davon negativ beeinflußt werden.

»Wie auch immer, ein Leben ohne Überraschungen ist allemal besser«, schloß sie. »Vielleicht wäre mein Mann sonst noch früher gestorben.«

Mit den Büchern unter dem Arm verließ Maria die Bibliothek, entschlossen, alles über die Führung landwirtschaftlicher Betriebe zu lernen. Da sie den Nachmittag frei hatte, beschloß sie, einen Spaziergang zu machen, und entdeckte in der Altstadt neben einem normalen blauen Straßenschild eine kleine Plakette mit einer Sonne und der Inschrift >Chemin de Saint-Jacques< – Jakobsweg. Was war das bloß? Da es auf der anderen Straßenseite ein Cafe gab und sie gelernt hatte zu fragen, wenn sie etwas nicht wußte, ging sie hinein und erkundigte sich.

»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen hinter dem Tresen. Es war ein elegantes Lokal, und der Kaffee kostete dreimal soviel wie sonstwo. Aber da sie jetzt Geld und nichts weiter zu tun hatte, bestellte Maria einen Kaffee und vertiefte sich in ihre Fachbücher. Voller Begeisterung öffnete sie eines der Bücher, konnte sich aber nicht auf ihre Lektüre konzentrieren – sie war so langweilig. Wieviel interessanter wäre es doch, mit einem ihrer Freier über das Thema zu sprechen sie wußten am besten, wie man Geld nutzbringend einsetzte. Sie zahlte den Kaffee, dankte der Bedienung und hinterließ ein gutes Trinkgeld (sie hatte, was das betraf, einen Aberglauben entwickelt: wer viel gibt, bekommt auch viel zurück). Sie stand auf, ging zur Tür und hörte, ohne sich der Bedeutung des Augenblicks bewußt zu sein, die Worte, die ihre Zukunft, ihre Farm, ihre Vorstellung vom Glück, ihre weibliche Seele, ihre Einstellung als Mensch, ihren Platz in der Welt verändern sollten. »Moment mal!«

Sie schaute überrascht zur Seite. Dies hier war ein respektables Cafe, nicht das >Copacabana<, wo Männer Frauen anbaggern, die Frauen sich aber nichts gefallen lassen müssen.

Sie wollte so tun, als hätte sie nichts gehört, doch dann war ihre Neugier stärker, und sie blickte sich um und sah eine merkwürdige Szene. Auf dem Boden kniete ein etwa dreißigjähriger, langhaariger Mann (oder sollte sie besser sagen »ein junger Mann um die Dreißig«? Warum fühlte sie sich oft schon so alt?). Um sich herum hatte er Stifte ausgebreitet, und er zeichnete einen Herrn, der an einem Tisch saß, vor sich ein Glas Pastis. Beim Eintreten hatte sie die beiden nicht bemerkt.

»Geh noch nicht! Ich zeichne nur schnell dieses Porträt. Und dann würde ich gern dich porträtieren.«

Maria antwortete – und dadurch, daß sie antwortete, stellte sie die Verbindung zum Universum her, die ihr bislang gefehlt hatte: »Ich habe kein Interesse.«

»Du strahlst ein Licht aus. Laß mich wenigstens eine Skizze machen.«

Was hieß da Skizze? >Lichtsie porträtieren! Sie begann zu spekulieren: Was, wenn er wirklich berühmt ist und das Bild mit mir in Paris oder Salvador de Bahia ausgestellt wird? Märchenhaft!

Was machte dieser Mann mit all dem Kram um sich herum in diesem teuren, vornehmen Cafe?

Als hätte die Bedienung ihre Gedanken erraten, sagte sie leise: »Er ist ein sehr bekannter Maler.«

Ihr Instinkt hatte sie also nicht getäuscht. Maria versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Er kommt öfter her, immer in Begleitung von wichtigen Leuten. Er sagt, ihm gefällt das Ambiente hier, es inspiriert ihn; er macht ein großes Bild mit wichtigen Genfer Persönlichkeiten, im Auftrag der Stadtverwaltung.«

Maria blickte den Mann an, der gerade gemalt wurde. Wieder las die Kellnerin ihre Gedanken.

»Er ist Chemiker und hat eine revolutionäre Entdeckung gemacht. Er hat dafür den Nobelpreis bekommen.«

»Geh nicht«, wiederholte der Maler. »Ich bin in fünf Minuten fertig. Bestell, was du magst, es geht auf meine Rechnung.«

Wie hypnotisiert, setzte sich Maria an die Bar; da sie normalerweise nichts trank, bestellte sie einfach dasselbe wie der Nobelpreisträger, einen Pastis. Sie sah dem Mann bei der Arbeit zu. >Ich bin keine stadtbekannte Persönlichkeit, deshalb wird er an etwas anderem interessiert sein<, dachte Maria, die innerlich sofort abblockte: >Er ist nicht mein Typ!< Das war immer ihre Rettung, wenn sie in Gefahr stand, sich zu verlieben. Innerlich gefestigt, konnte sie nun gefahrlos noch ein paar Minuten bleiben – wer weiß, vielleicht hatte die Kellnerin ja recht und dieser Mann konnte ihr die Tore zu einer unbekannten Welt öffnen. Hatte sie nicht von einer Karriere als Model geträumt?

Sie beobachtete, wie flink er seine Arbeit beendete – offenbar handelte es sich um ein sehr großes Bild, doch es war nach einem komplizierten System zusammengefaltet, und so konnte sie die anderen darauf abgebildeten Gesichter nicht sehen. Und wenn dies nun eine ganz besondere Gelegenheit wäre? Der Mann (sie beschloß, ihn für sich »Mann« und nicht »Junger Mann« zu nennen, weil sie sich sonst älter fühlen müßte) schien nicht der Typ Mann zu sein, der auf diese Tour eine Nacht mit ihr herausschinden wollte. Maria schwor sich, sich auf keine neuen Bekanntschaften einzulassen, die ihre schönen Zukunftspläne beeinträchtigen könnten.

»Danke, Sie können sich jetzt wieder bewegen«, sagte der Maler kurz darauf zu dem Chemiker, der aus einem Traum zu erwachen schien.

Und zu Maria knapp und energisch: »Und du, setz dich dort hinten in die Ecke! Das Licht ist großartig.«

Und dann war es, als wäre alles bereits vom Schicksal in die Wege geleitet, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, als hätte sie diesen Mann schon ein Leben lang gekannt oder diesen Augenblick im Traum erlebt und wüßte, was zu tun sei: Maria nahm ihr Glas Pastis, ihre Tasche, ihre Bücher über Landwirtschaft und ging zu dem ihr zugewiesenen Platz am Fenster. Der Maler brachte die Stifte, Farbtiegelchen, eine Packung Zigaretten und kniete vor ihr nieder.

»Bleib genau so sitzen und beweg dich nicht!«

»Das ist zuviel verlangt. Mein Leben ist immer in Bewegung.«

Sie versuchte, natürlich zu bleiben, obwohl der Blick dieses Mannes sie verunsicherte. Sie zeigte durch die Fensterscheibe hinaus auf die Straße und auf das Schild.

»Was ist der Jakobsweg?«

»Eine Pilgerstraße. Im Mittelalter kamen Menschen von überall her durch diese kleine Gasse; sie waren auf dem Weg nach Spanien, zu einer Stadt namens Santiago de Compostela.«

Er entfaltete einen Teil der Leinwand, legte sich die Stifte zurecht. Maria wußte immer noch nicht, was sie tun sollte.

»Das heißt, wenn ich diesem Weg immer weiter folge, gelange ich nach Spanien?«

»Nach zwei oder drei Monaten. Darf ich dich um einen Gefallen bitten? Sag einfach mal einen Moment lang gar nichts! Es wird nicht länger als zehn Minuten dauern. Und nimm das Paket vom Tisch!«

»Es sind Bücher!« entgegnete sie leicht irritiert wegen seines resoluten Tons. Er sollte merken, daß er eine gebildete Frau vor sich hatte, die ihre Zeit in Bibliotheken verbrachte, nicht in Boutiquen. Aber er nahm selbst das Paket und stellte es einfach auf den Boden.

Sie hatte ihn nicht beeindrucken können, hatte es auch nicht ernsthaft versucht, sie war schließlich »außerdienstlich« hier und sparte sich ihre Verführungskünste für später und für Männer auf, die für ihre Dienste gut zahlten. Warum sollte sie mit diesem Maler anbandeln, der womöglich nicht einmal genug Geld hatte, sie zu einem Kaffee einzuladen? Ein Mann in seinem Alter sollte das Haar nicht lang tragen, das wirkt lächerlich, fand sie. Wie kam sie bloß darauf, daß er kein Geld hatte? Das Mädchen an der Bar hatte gesagt, er sei bekannt – oder war es der Chemiker, der berühmt war? Sie musterte ihn eingehend. Nach ihrer Erfahrung hatten Männer, die sich wie er nachlässig kleideten, oft mehr Geld als Herren in Anzug und Krawatte. Die Kleidung des Malers ließ jedoch keine Rückschlüsse zu.

>Wieso denke ich über diesen Mann nach? Was interessiert mich das Bild?<

Zehn Minuten waren kein zu hoher Preis für die Chance, durch ein Bild unsterblich zu werden. Sie sah, daß er sie neben den preisgekrönten Chemiker malte, und fragte sich, ob er am Ende doch eine Form von Bezahlung fordern würde.

»Dreh den Kopf zum Fenster!«

Wieder gehorchte sie widerspruchslos – was absolut nicht ihre Art war. Sie sah den Leuten nach, die draußen vorbeigingen, blickte zur Plakette mit der Sonne hoch, überlegte, daß diese Gasse nicht nur die Jahrhunderte, sondern all den Fortschritt, die großen Veränderungen in der Welt und in den Menschen überdauert hatte. Vielleicht war das ja ein gutes Omen, und das Bild würde auch in fünfhundert Jahren noch in einem Museum hängen…

Der Mann begann zu zeichnen, und je länger er zeichnete, desto mehr verlor Maria ihre anfängliche Begeisterung, desto kleiner und unbedeutender fühlte sie sich. Als sie das Cafe betreten hatte, war sie eine selbstbewußte Frau gewesen, fähig, eine schwierige Entscheidung zu treffen eine Arbeit aufzugeben, die Geld einbrachte –, um sich einer noch schwierigeren Herausforderung zu stellen: in ihrem Heimatland eine Farm zu führen. Jetzt fühlte sie sich völlig verunsichert, und das war ein Gefühl, das sie sich als Prostituierte nicht leisten konnte.

Sie entdeckte schließlich den Grund für ihr Unbehagen: Zum ersten Mal seit vielen Monaten betrachtete sie jemand nicht wie ein Objekt und auch nicht als Frau, sondern als eine Herausforderung – etwas, was er nicht verstehen konnte. Dabei war sie sicher leicht zu durchschauen: >Sieht er wohl meine Seele, meine Ängste, meine Zerbrechlichkeit, meine Unfähigkeit, mit einer Welt klarzukommen, die ich im Griff zu haben vorgebe, über die ich aber nichts weiß?<

Lächerlich. Sie machte sich etwas vor.

»Ich würde gern…«

»Schscht«, sagte der Mann. »Ich sehe dein Licht.«

Das hatte noch niemand zu ihr gesagt. »Ich sehe deine harten Brüste«, »ich sehe deine wohlgeformten Schenkel«, »ich sehe diese exotische Schönheit aus den Tropen« oder allerhöchstem »ich sehe, daß du aus diesem Leben herauswillst, warum erlaubst du mir nicht, dir ein Apartment einzurichten« – ja, diese Art von Bemerkungen war sie gewohnt, aber »dein Licht«? Meinte er vielleicht das Abendlicht?

»Dein inneres Licht«, sagte er, als hätte er gemerkt, daß sie nichts verstanden hatte.

Inneres Licht. Na, da lag er aber gründlich daneben, dieser naive Maler, der trotz seiner dreißig Jahre noch nichts vom Leben wußte. Es war eben doch so: Frauen reiften schneller als Männer, und Maria – die zwar viel über das Leben nachdachte, dabei aber unbeschwert und nüchtern blieb, sagte sich, daß sie bestimmt kein besonderes >Licht< besaß, wie der Maler behauptete. Vielleicht meinte er ihre besondere Ausstrahlung. Sie war ein Mensch wie viele andere, die unter ihrer Einsamkeit litten und ihr Leben vor sich zu rechtfertigen suchten. Sie gab vor, stark zu sein, wenn sie schwach war, gab vor schwach zu sein, wenn sie sich stark fühlte; sie hatte jegliche Form von Leidenschaft von sich ferngehalten – und all das nur, um ihre Arbeit einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Aber jetzt, kurz vor dem Ziel, hatte sie Pläne für die Zukunft und Gewissensbisse wegen der Vergangenheit – so jemand hat kein >besonderes Leuchten<. Vielleic ht wollte der Maler sie damit nur zum Schweigen und Stillsitzen bringen und dazu, sich vor ihm zum Narren zu machen.

>Inneres Licht<. Er hätte etwas anderes sagen können, wie zum Beispiel, >du hast ein schönes Profil<.

Wie gelangt Licht in ein Haus? Wenn die Fenster geöffnet sind. Wie gelangt Licht in einen Menschen? Wenn das Tor der Liebe geöffnet ist. Und ihres war definitiv nicht geöffnet. Er mußte ein schlechter Maler sein, er verstand überhaupt nichts.

»Das war's, ich bin fertig«, sagte er und begann sein Material einzusammeln.

Maria rührte sich nicht. Sie hätte sich gern das Bild angesehen, wollte aber nicht aufdringlich sein. Die Neugier siegte. Er hatte nur ihr Gesicht gezeichnet; er hatte sie gut getroffen. Doch hätte sie nicht gewußt, daß sie Modell gesessen hatte, hätte sie es für das Porträt einer sehr starken Persönlichkeit gehalten, die von einem >Licht< erfüllt war, wie sie es an sich nie gesehen hatte.

»Ich heiße Ralf, Ralf Hart. Wenn du willst, spendiere ich dir noch einen Drink.«

»Nein, danke.«

Offenbar verlief die Begegnung genauso traurig, wie sie es vorhergesehen hatte: Ein Mann versucht, eine Frau zu verführen.

»Bitte noch zwei Pastis«, bestellte er trotzdem.

Hatte sie etwas Besseres vor? Etwa ein langweiliges Buch über Landwirtschaft zu lesen? Zum x-ten Mal am See spazierenzugehen? Oder mit jemandem zu reden, der in ihr ein Licht sah, von dem sie nichts wußte, und zwar genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender als Beginn der Endphase ihrer >Erfahrung< angekreuzt hatte.

»Was machst du?«

Das war die Frage, die sie jedesmal, wenn sie mit jemandem ins Gespräch kam (was mit Schweizern aufgrund ihrer sprichwörtlichen Diskretion selten passierte), am liebsten überhörte. Was sollte sie darauf erwidern?

»Ich arbeite in einem Nachtclub.«

Jetzt war's heraus. Ein Zentnergewicht fiel von ihr ab und sie war zufrieden mit sich, weil sie gelernt hatte, zu fragen (>wer sind die Kurden?<, >was ist der Jakobsweg?<) und zu antworten (>ich arbeite in einem Nachtclub!<), ohne sich darum zu scheren, was die anderen von ihr denken mochten.

Maria spürte, daß er weiterfragen wollte, und genoß ihren kleinen Sieg; der Maler, der ihr ein paar Minuten zuvor noch Befehle erteilt hatte und genau zu wissen schien, was er wollte, war nun ein Mann wie jeder andere, voller Fragen angesichts einer Frau, die er nicht kannte.

»Und diese Bücher?«

Sie zeigte sie ihm. Landwirtschaft. Der Mann blickte noch fragender.

»Bist du Sexarbeiterin?«

Er hatte es gewagt. Etwa, weil sie sich wie eine Prostituierte kleidete? Sie mußte unbedingt Zeit gewinnen. Das, was jetzt begann, schien ein interessantes Spiel zu werden, ein Spiel, bei dem sie nichts zu verlieren hatte.

»Warum denken Männer nur an das eine?«

Er legte die Bücher auf den Tisch zurück.

»Sex und Landwirtschaft. Beides langweilig.«

Wie bitte? Plötzlich fühlte sie sich herausgefordert. Wie konnte er so schlecht über ihren Beruf reden? Er wußte wohl nicht, was genau sie machte, hatte nur eine vage Ahnung, aber sie durfte ihm keine Antwort schuldig bleiben.

Malerei; etwas Statisches, eine unterbrochene Bewegung, ein Foto, das dem Original nie genau entspricht. Ein toter Gegenstand, für den sich niemand mehr interessiert außer den Malern selbst – gebildeten Wichtigtuern, die nicht mit der Zeit gegangen sind. Hast du schon einmal von Joan Miro gehört? Ich nicht, oder vielmehr erst vor kurzem, in einem Restaurant, und ich kann nicht sagen, daß dies mein Leben entscheidend verändert hätte.«

Sie wußte nicht, ob sie zu weit gegangen war – denn die Drinks kamen, und das Gespräch wurde unterbrochen. Beide schwiegen minutenlang. Maria dachte, daß es Zeit war zu gehen, und vielleicht hatte Ralf Hart dasselbe gedacht. Aber die zwei vollen Gläser mit diesem gräßlichen Getränk lieferten einen Vorwand, weiter zusammenzubleiben.

»Warum das Buch über Landwirtschaft?«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich war schon in der Rue de Berne. Als du gesagt hast, was du machst, habe ich mich erinnert, daß ich dich schon einmal gesehen habe: in diesem teuren Nachtclub. Dennoch ist es mir beim Zeichnen vorhin nicht eingefallen: Dein Licht war zu stark.«

Maria hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen sich auftat. Zum ersten Mal schämte sie sich für ihre Tätigkeit, obwohl sie nicht den geringsten Grund dafür hatte. Sie arbeitete, um sich und ihre Familie zu ernähren. Aber er sollte sich dafür schämen, daß er in die Rue de Berne ging! Von einem Augenblick auf den anderen war der ganze Zauber verflogen.

Monate in der Schweiz. Ich weiß, wie diskret die Schweizer sind, weil sie in einem kleinen Land leben, in dem jeder jeden kennt. Darum kümmert sich auch keiner um das, was der andere macht. Deine Bemerkung war unangebracht und sehr unhöflich, aber falls es deine Absicht war, mich zu erniedrigen, um dich besser zu fühlen, dann verlierst du nur deine Zeit. Vielen Dank für den Pastis, er schmeckt grauenhaft. Trotzdem werde ich ihn austrinken und danach noch eine Zigarette rauchen. Du aber kannst sofort gehen, denn für berühmte Maler schickt es sich nicht, mit einer Hure am selben Tisch zu sitzen. Denn genau das bin ich, weißt du? Eine Hure. Ohne das geringste Schuldgefühl, von Kopf bis Fuß eine Hure. Und darin liegt meine Tugend: daß ich weder mir noch dir etwas vormache. Denn es lohnt sich nicht, und du hast es auch nicht verdient, daß ich dich belüge. Glaubst du, der berühmte Chemiker am anderen Ende des Cafes hat nicht gesehen, was ich bin?« Ihre Stimme wurde lauter. »Eine Hure! Und weißt du, was? Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit – zu wissen, daß ich dieses verdammte Land in genau neunzig Tagen verlassen werde, mit vo llem Portemonnaie, sehr viel weltgewandter als bei meiner Ankunft und durchaus in der Lage, einen guten Wein auszuwählen, mit einem Koffer voller Fotos von mir im Schnee und als jemand, der die Männer kennt.«

Das Mädchen am Tresen spitzte erschrocken die Ohren. Der Chemiker verzog keine Miene. Aber vielleicht lag es auch am Alkohol, oder daran, daß sie bald schon wieder in ihrer brasilianischen Kleinstadt sein würde. Vielleicht genoß sie es auch einfach, sagen zu können, wie sie ihr Geld verdiente, und über die schockierten Reaktionen, die kritischen Blicke, das empörte Kopfschütteln zu lachen.

»Du hast richtig gehört? Eine Hure, nichts anderes und das ist meine Tugend!«

Er sagte nichts. Rührte sich nicht. Und Maria redete selbstbewußt weiter: »Du bist ein Maler, der nichts von seinen Modellen versteht. Vielleicht ist der Chemiker, der da verschlafen in der Ecke sitzt, ja in Wahrheit ein Eisenbahner. Und alle anderen Personen auf deinem Bild sind auch nicht, was sie zu sein vorgeben. Sonst hättest du nie sage n können, daß du in mir ein >besonderes, inneres Licht< siehst – ausgerechnet in mir, einer HURE!«

Die letzten Worte hatte sie laut und sehr langsam ausgesprochen. Der Chemiker fuhr zusammen, die Kellnerin brachte die Rechnung.

»Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß du eine Prostituierte bist, sondern mit der Frau, die du bist.« Ralf übersah die Rechnung und sagte ebenfalls langsam, aber mit leiser Stimme: »Du hast ein Leuchten. Es kommt von deinem starken Willen, deiner Kraft, wie sie nur Menschen haben, die bereit sind, zur Verwirklichung ihrer Ziele große Opfer zu bringen. Deine Augen – dieses Licht zeigt sich in deinen Augen.«

Maria fühlte sich entwaffnet; er hatte sich nicht provozieren lassen. Sie wollte glauben, daß er sie verführen wollte, nichts weiter. Sie durfte nicht denken – zumindest nicht in den nächsten neunzig Tagen –, daß es interessante Männer auf der Welt gab.

»Siehst du diesen Pastis da vor dir?« fuhr er fort. »Du siehst nur einen Pastis. Ich hingegen, der ich in das hineinschauen muß, was ich male, sehe die Pflanze, aus der er gemacht ist, die Stürme, denen die Pflanze getrotzt hat, die Hand, die die Aniskörner geerntet hat, deren Reise bis hierher, rieche den Duft des Anises und sehe seine Farbe, ehe er dem Alkohol hinzugefügt wurde. Wenn ich eines Tages diese Szene male, ist das alles auch in dem Bild enthalten, obwohl du dann meinst, nur ein gewöhnliches Glas Pastis vor dir zu haben. Ebenso wie ich vorhin, als du auf die Gasse hinausgesehen und an den Jakobsweg gedacht hast – denn ich weiß, woran du dachtest –, auch deine Kindheit, Jugend, deine zerronnenen Träume, deine Pläne gemalt habe und deine Kraft – die hat mich am meisten verwirrt. Als du das Bild gesehen hast…«

Maria schwieg. Innerlich öffnete sie einen Spaltbreit ihr Visier, obwohl sie wußte, wie schwierig es werden würde, es später wieder zu schließen.

»Ich habe dieses Licht gesehen… auch wenn dort nur eine Frau war, die dir ähnlich sah.«

Wieder dieses peinliche Schweigen. Maria schaute auf die Uhr. »Ich muß bald gehen. Warum hast du gesagt, daß Sex langweilig ist?«

»Das solltest du besser wissen als ich.«

»Ich weiß es, weil es mein Arbeitsgebiet ist. Und weil ich jeden Tag das gleiche mache. Aber du mit deinen dreißig Jahren…«

»Neunundzwanzig…«

»…jung, gutaussehend, berühmt, der noch an diesen Dingen interessiert sein und es nicht nötig haben sollte, in die Rue de Berne zu gehen.«

»Ich hatte es aber nötig. Ich bin mit einigen deiner Kolleginnen ins Bett gegangen. Allerdings nicht, weil ich Probleme habe, eine Frau zu finden. Das Problem liegt woanders.«

Maria spürte ein Quentchen Eifersucht und war entsetzt. Sie merkte, daß sie jetzt wirklich gehen mußte.

»Es war mein letzter Versuch. Jetzt habe ich aufgegeben«, sagte Ralf, während er das auf dem Boden verstreute Material zusammensammelte.

»Hast du ein körperliches Problem?«

»Überhaupt nicht. Nur Desinteresse.«

Unmöglich.

»Dann zahl die Rechnung und laß uns dann Spazierengehen!

Ich glaube, es geht vielen so, und niemand spricht es aus. Es tut gut, mit jemandem zu reden, der so ehrlich ist wie du.«

Sie gingen den >Jakobsweg< entlang, hinunter zum See einen Weg, der quer durch die Berge führte und an einem fernen Ort in Spanien endete. Sie begegneten Leuten, die vom Mittagessen kamen, Müttern mit ihren Kinderwagen, Touristen, die Fotos von der schönen Fontäne im See machten, muslimischen Frauen mit Kopftuch, joggenden Jungen und Mädchen – sie alle Pilger auf dem Weg zu der legendären Stadt Santiago de Compostela, die es vielleicht nicht einmal gab und an welche die Menschen glaubten, damit ihr Leben ein Ziel und einen Sinn hatte. Diesen von so vielen Menschen ausgetretenen Weg gingen nun dieser Mann mit den langen Haaren und dem schweren Beutel voller Farben, Leinwände, Stifte und die etwas jüngere Frau mit einem Beutel voller Bücher über Landwirtschaft. Keinem der beiden fiel ein, sich zu fragen, warum sie gemeinsam diese Wallfahrt machten. Es kam ihnen ganz natürlich vor. Er wußte alles über sie, und sie wußte nichts über ihn.

Und deshalb beschloß sie zu fragen. Anfangs tat er etwas bescheiden, aber sie wußte, wie man einen Mann zum Reden bringt, und da erzählte er ihr, daß er (ein Rekord bei neunundzwanzig Jahren) zweimal verheiratet gewesen, viel gereist war, berühmte Schauspieler und gekrönte Häupter kennengelernt und unvergeßliche Feste gefeiert hatte. Er war in Genf geboren, hatte in Madrid, Amsterdam, New York und in Südfrankreich in einer Stadt namens Tarbes gelebt, die in den wenigsten Touristenführern vorkam, die er aber wegen ihrer Nähe zu den Bergen und der Gastfreundschaft ihrer Einwohner liebte. Sein künstlerisches Talent war entdeckt worden, als er zwanzig Jahre alt war. Ein großer Kunsthändler hatte zufällig in einem japanischen Restaurant in Genf gegessen, dessen Inneneinrichtung von ihm gestaltet worden war. Er hatte viel Geld verdient, war jung und gesund, konnte tun, was er wollte, fahren, wohin er wollte, treffen, wen er wollte. Er hatte schon alle weltlichen Genüsse erlebt, die ein Mann erleben kann, ging in seinem Beruf auf; und dennoch, trotz alledem, trotz Ruhm, Geld, Frauen, Reisen, war er unglücklich, hatte er nur eine Freude im Leben: seine Malerei.

»Haben die Frauen dir so weh getan?« fragte sie und merkte sofort, wie töricht die Frage war, wie aus einem Handbuch mit dem Titel Wie erobere ich einen Mann?.

»Nein, sie haben mir nie weh getan. Ich war in beiden Ehen glücklich. Ich wurde betrogen und habe betrogen, wie es in jeder normalen Ehe vorkommt. Dennoch hat mich der Sex nach einer Weile nicht mehr interessiert. Ich liebte meine Frauen immer noch, sie fehlten mir, wenn sie nicht da waren, aber Sex – warum reden wir überhaupt über Sex?«

»Weil ich, wie du selbst gesagt hast, eine Prostituierte bin.«

»Mein Leben ist nicht besonders interessant. Ein Künstler, der schon früh Erfolg hatte, was schon an sich sehr selten vorkommt und in der Malerei noch seltener. Der heute jede Art von Bildern malen und damit viel Geld verdienen kann – auch wenn sich die Kritiker noch so sehr darüber entrüsten, weil sie glauben, nur sie wüßten, was Kunst ist. Jemand, von dem alle glauben, er habe für alles eine Antwort parat! Je weniger ich sage, für um so weiser hält man mich.«

Jede Woche, erzählte er weiter, war er irgendwo auf der Welt eingeladen. Er hatte eine Agentin in Barcelona (ob Maria wisse, wo das liege? Ja, in Spanien). Sie kümmerte sich um alles Finanzielle, um Einladungen, Ausstellungen, drängte ihn aber nie zu etwas, wozu er keine Lust hatte, denn nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit hatten sie eine gewisse Stabilität auf dem Markt erreicht.

»Langweile ich dich auc h nicht mit meiner Geschichte?« Seine Stimme klang etwas verunsichert.

»Ich würde sagen, es ist eine recht ungewöhnliche Geschichte. Viele Menschen würden gern in deiner Haut stecken.«

Ralf wollte mehr über Maria erfahren.

»Ich bin drei, je nachdem, wer mich besucht. Das naive Mädchen, das bewundernd zu den Männern hochblickt und andächtig ihren Geschichten über Macht und Ruhm lauscht. Die Femme fatale, die sich sofort die Schüchternen und Unsicheren greift und das Heft in die Hand nimmt, die diesen Männern ein Gefühl von Ungezwungenheit gibt, weil sie sich um nichts mehr kümmern müssen. Und schließlich die liebevolle Mutter, die alles versteht und sich geduldig allerlei Geschichten anhört, die sie sofort wieder vergißt. Welche der drei möchtest du kennenlernen?«

»Dich.«

Maria erzählte und erzählte, zum ersten Mal, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Es war ihr ein Bedürfnis. Dabei merkte sie plötzlich, daß außer der Woche in Rio und dem ersten Monat in der Schweiz trotz ihres nicht gerade konventionellen Berufs nichts wirklich Aufregendes in ihrem Leben passiert war. Nichts als Wohnung, Arbeit, Wohnung, Arbeit.

Als sie fertig erzählt hatte, saßen sie wieder in einem Cafe auf der anderen Seeseite, fern vom Jakobsweg, und jeder dachte über das Schicksal des anderen nach.

»Fehlt dir etwas?« fragte sie.

»Das Wort für >auf Wiedersehen<.«

Ja. Denn es war kein gewöhnlicher Nachmittag gewesen. Sie fühlte sich bang, angespannt, weil sie eine Tür aufgestoßen hatte und jetzt nicht wußte, wie sie sie wieder schließen konnte.

»Wann kann ich das Bild sehen?«

Ralf reichte ihr die Visitenkarte seiner Agentin in Barcelona.

»Ruf sie in einem halben Jahr an, wenn du dann noch in Europa bist. >Die Gesichter Genfs<, berühmte und anonyme Menschen, wird zuerst in einer Galerie in Berlin ausgestellt werden. Danach soll das Bild in ganz Europa gezeigt werden.«

Maria mußte an ihren Kalender denken, an die verbleibenden neunzig Tage, in denen jede Beziehung, jede Bindung eine Gefahr darstellen konnte.

>Was ist wichtiger im Leben?< überlegte sie. >Richtig leben oder so tun als ob? Es jetzt wagen und sagen, daß dies der schönste Nachmittag war, den ich hier verbracht habe, weil jemand mir vorbehaltlos zugehört hat? Oder wieder die Rüstung der Frau mit der Willenskraft und dem >besonderen Licht< anlegen und einfach weggehen?<

Vorhin auf dem Jakobsweg, als sie sich aus ihrem Leben erzählen hörte, war sie eine glückliche Frau gewesen. Sie konnte zufrieden sein – das allein war schon ein großes Geschenk.

»Ich werde dich besuchen«, sagte Ralf Hart.

»Tu das nicht. Ich reise bald wieder nach Brasilien zurück. Es ist doch schon alles gesagt.«

»Ich werde dich als Freier aufsuchen.«

»Das wird demütigend für mich sein.«

»Ich werde kommen, damit du mich rettest.«

Er hatte ihr gesagt, daß er sich für Sex nicht mehr interessiere. Sie wollte ihm sagen, daß es ihr genauso ging, hielt sich aber zurück – sie war in ihren negativen Äußerungen schon zu weit gegangen und zog es vor zu schweigen.

Wie rührend! Da stand sie wieder vor einem Jungen, nur daß er diesmal keinen Bleistift wollte, sondern etwas Gesellschaft. Sie sah auf ihr Leben zurück und konnte sich zum ersten Mal verzeihen. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern die des unsicheren Jungen, der nach dem ersten Versuch aufgegeben hatte. Sie waren Kinder gewesen, und Kinder verhalten sich eben so. Weder sie noch der Junge hatte etwas falsch gemacht, und darüber war sie sehr erleichtert, sie fühlte sich besser, sie hatte die erste große Chance ihres Lebens nicht mutwillig vertan. Solche Dinge passierten eben, gehörten mit zur Initiation des Menschen auf der Suche nach seinem anderen Teil.

Allerdings war die Situation jetzt anders. So gut ihre Gründe auch sein mochten – ich gehe nach Brasilien, ich arbeite in einem Nachtclub, wir hatten keine Zeit, uns besser kennenzulernen, ich bin nicht an Sex interessiert, will von Liebe nichts wissen, muß eine Farm führen lernen, ich verstehe nichts von Malerei, wir leben in zu verschiedenen Welten –, das Leben stellte sie vor eine Herausforderung. Sie war kein Kind mehr, sie mußte eine Wahl treffen.

Sie zog es vor, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. Sie verabschiedete sich mit einem Händedruck, wie es in diesem Land üblich war, und ging in die Richtung ihrer Wohnung. Wenn er wirklich der Mann war, wie sie ihn sich wü nschte, würde er sich von ihrem Schweigen nicht einschüchtern lassen.


Auszug aus Marias Tagebuch, am selben Tag geschrieben.

Als wir heute auf diesem seltsamen Jakobsweg am See entlanggegangen sind, hat der Mann – ein Maler, der ein so anderes Leben führt als ich – ein Steinchen ins Wasser geworfen. An der Stelle, an welcher der Stein hineinfiel, bildeten sich kleine Kreise, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie eine Ente erreichten, die zufällig vorbeischwamm. Sie erschrak aber nicht, sondern spielte einfach mit den Wellen.

Wenige Stunden zuvor war ich in ein Cafe gegangen, hatte eine Stimme gehört, und es war so, als habe Gott einen Stein ins Wasser geworfen. Die Wellen der Energie berührten mich und einen Mann, der in einer Ecke ein Bild malte. Er hat die Energie des Steins gespürt und ich auch. Und nun?

Ein Maler weiß, wann er sein Modell gefunden hat. Ein Musiker weiß, wann sein Instrument gestimmt ist. Wenn ich mein Tagebuch lese, kommt es mir so vor, als ob bestimmte Sätze nicht von mir stammten, sondern von einer Frau voller >Licht<, die ich bin und die zu sein ich mich weigere.

Ich kann so weitermachen wie bisher. Aber ich kann mich auch wie die Ente im See vergnügen und mich über den Wellengang freuen, der plötzlich aufgekommen ist und das Wasser aufgewühlt hat.

Dieser Stein hat einen Namen: Leidenschaft – wenn zwei Menschen einander begegnen, kann er wie ein Blitz einschlagen. Die Leidenschaft liegt in der Erregung, die das Unerwartete hervorruft, in dem Wunsch, etwas mit Hingabe zu tun, in der Gewißheit, daß es einem gelingen wird, einen Traum zu verwirklichen. Die Leidenschaft gibt uns Zeichen, die uns im Leben leiten – und es bleibt mir überlassen, diese Zeichen zu deuten.

Ich würde gern glauben, daß ich verliebt bin. In jemanden, den ich nicht kenne und der in meinen Plänen nicht vorgesehen war. All diese Monate der Selbstkontrolle, diese Weigerung, mich zu verlieben, haben genau das Gegenteil bewirkt: Ich bin auf den ersten Menschen geflogen, der mir eine andere Art von Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Wie gut, daß ich mir seine Telefonnummer nicht geben ließ, daß ich nicht weiß, wo er wohnt, daß ich nicht versucht habe, ihn zu halten!

Aber selbst wenn ich ihn bereits verloren hätte, so habe ich wenigstens einen glücklichen Tag in meinem Leben dazugewonnen. Und so, wie es um die Welt bestellt ist, grenzt ein glücklicher Tag schon an ein Wunder.


Als sie an jenem Abend ins >Copacabana< trat, war er da und wartete auf sie. Er war der einzige Freier. Milan, der das Leben dieser Brasilianerin mit einer gewissen Neugier verfolgte, sah, daß das Mädchen die Schlacht verloren hatte.

»Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

»Ich muß arbeiten. Ich darf meinen Job nicht verlieren.«

»Ich bin als Freier hier.«

Dieser Mann, der am Nachmittag im Cafe so selbstsicher gewirkt, der den Stift so sicher geführt hatte, der wichtige Persönlichkeiten traf, eine Agentin in Barcelona hatte und bestimmt viel Geld verdiente – jetzt zeigte er seine Verletzlichkeit. Er war in einen Bereich eingedrungen, in den er nicht hätte eindringen dürfen, er hatte ein anderes Schlachtfeld gewählt als das romantische Cafe am Jakobsweg. Der Zauber des Nachmittags war verflogen. »Nun, nimmst du meine Einladung an?«

»Ein andermal. Ich hab heute noch Kundschaft.« Milan hörte das Ende des Satzes; er hatte sich geirrt, das Mädchen war doch nicht der Liebe in die Falle gegangen. Allerdings fragte er sich am Ende dieser Nacht, in der wenig los war, wieso Maria die Begleitung eines Alten, eines Buchhalters und eines Versicherungsvertreters vorgezogen hatte… Nun, es ging ihn nichts an, mit wem sie ins Bett ging, und solange Maria brav ihre Kommission zahlte, sollte es ihm recht sein.

>Ich denke an ihn, weil ich mit ihm reden konnte.<

Lächerlich! Dachte sie auch an die Bibliothekarin? Nein. Dachte sie an Nyah, die Philippinin, die einzige ihrer Kolleginnen im >Copacabana<, mit der sie sich ein wenig austauschen konnte? Nein, sie dachte nicht an sie. Und doch war Nyah jemand, in deren Gesellschaft sie sich wohl fühlte.

Sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf die spätsommerliche Hitze zu lenken, die gerade herrschte, und auf den Supermarkt, zu dem sie es tags zuvor nicht mehr geschafft hatte. Sie schrieb ihrem Vater einen langen Brief und beschrieb ihm genauestens das Stück Land, das sie gern kaufen wollte und das ihren Eltern bestimmt gefallen würde. Sie nannte kein Datum für ihre Rückkehr, ließ aber durchblicken, daß sie bald kommen wollte. Sie schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein, wachte wieder auf. Fand heraus, daß die Bücher über Landwirtschaft für die Schweiz taugen mochten, sich aber auf brasilianische Verhältnisse nicht übertragen ließen.

Am Nachmittag ließ der Druck im Vulkan etwas nach, das Erdbeben verebbte ein wenig. Sie entspannte sich. Die Leidenschaft war schon ein paarmal so über sie hereingebrochen und immer am nächsten Tag wieder abgeklungen. Ihre Welt war nicht aus den Fugen geraten. Sie hatte Eltern, die sie liebten; da war ein Mann, der auf sie wartete und ihr jetzt häufig schrieb und von dem Stoffladen berichtete, der hervorragend lief. Selbst wenn sie heute die Abendmaschine zurück nach Brasilien nähme, hätte sie genug Geld, um zumindest eine kleine Farm zu kaufen. Sie hatte das Schlimmste hinter sich, die Sprachbarriere, die Einsamkeit, den Tag, als sie mit dem Araber im Restaurant gesessen und ihre Seele dazu gebracht hatte, nicht gegen das aufzubegehren, was ihr Körper tat. Sie wußte sehr genau, was ihr Traum war, und wollte alles dafür geben, und in diesem Traum waren Männer nicht vorgesehen. Zumindest keine, die nicht ihre Muttersprache sprachen und nicht in ihrer Heimat lebten.

Maria mußte sich eingestehen, daß sie das Erdbeben zum Teil selbst verursacht hatte. Warum hatte sie nicht gesagt: >Ich bin allein, fühle mich genauso elend wie du, gestern hast du mein, Licht' gesehen, und seit meiner Ankunft hier war das das erste Schöne und Ernsthafte, was ein Mann zu mir gesagt hat

Das Radio spielte ein altes Chanson: >Meine Liebe stirbt, ehe sie beginnt<. Ja, genau das war bei ihr der Fall, das war ihr Schicksal.


Aus Marias Tagebuch, zwei Tage nachdem wieder Normalität eingekehrt war.

Die Leidenschaft bewirkt, daß man nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr normal arbeiten kann, sie raubt einem den Seelenfrieden. Sie reißt alles mit, was sich ihr in den Weg stellt, und das macht vielen angst.

Niemand möchte seine Welt in Unordnung bringen. Deshalb schaffen es viele, diese Bedrohung unter Kontrolle zu halten. Deshalb versuchen viele, ihre Welt wie ein Haus von allen Seiten abzustützen, obwohl dessen Balken längst morsch sind.

Das sind die Ingenieure des Überfälligen.

Andere wieder handeln genau umgekehrt: Sie geben sich blind hin, ohne nachzudenken, und hoffen, in der Leidenschaft die Lösung all ihrer Probleme zu finden. Sie übertragen dem anderen die alleinige Verantwortung für ihr Glück und die alleinige Schuld an ihrem Unglück. Entweder sind sie permanent euphorisch, weil etwas Wunderbares mit ihnen passiert ist, oder permanent deprimiert, weil etwas Unerwartetes alles zerstört hat.

Was ist weniger zerstörerisch: sich von der Leidenschaft fernzuhalten oder sich ihr blind hinzugeben? Ich weiß es nicht.


Drei Tage später kam Ralf Hart wieder ins >Copacabana<, und er kam fast zu spät, weil Maria sich bereits mit einem anderen Freier unterhielt. Als sie ihn sah, verabschiedete sie sich sofort höflich von dem anderen mit der Begründung, sie könne jetzt nicht tanzen, da sie jemanden erwarte.

Erst da gestand sie sich ein, daß sie all diese Tage auf ihn gewartet hatte. Und in diesem Augenblick akzeptierte sie alles, was das Schicksal ihr beschert hatte.

Sie machte sich keine Vorwürfe; im Gegenteil, sie freute sich, weil sie sich diesen Luxus leisten konnte, da sie Genf bald verlassen würde; sie wußte, daß diese Liebe unerfüllbar war, und gerade weil sie nichts erwartete, würde sie alles bekommen, was dieser Lebensabschnitt ihr noch geben konnte.

Ralf fragte, ob sie einen Drink wolle, und Maria bestellte einen Fruchtcocktail. Milan, der so tat, als würde er Gläser spülen, sah zu Maria herüber und verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte sie veranlaßt, ihre Meinung zu ändern? Er hoffte, sie würde nicht nur vor dem Getränk sitzen bleiben – und war erleichtert, als der Freier sie zum Tanzen aufforderte. Sie hielten sich an das Ritual. Es gab keinen Grund zur Sorge.

Maria spürte Ralfs Hand an ihrer Taille, seine Wange an ihrer Wange, sie hörte die laute Musik, die gottlob jede Unterhaltung verhinderte. Mit einem Fruchtcocktail konnte man sich keinen Mut antrinken, und die wenigen Worte, die sie gewechselt hatten, waren förmlich gewesen. Jetzt war es eine Frage der Zeit: Würden sie in ein Hotel gehen? Würden sie Liebe machen? Kein Problem, zumal er ja angeblich nicht an Sex interessiert war. Die Arbeit würde nur darin bestehen, ein Ritual einzuhalten und dadurch den letzten Rest Leidenschaft in ihr abzutöten. Warum hatte sie sich von ihrer ersten Begegnung bloß so verunsichern lassen?

In dieser Nacht würde sie die verständnisvolle Mutter sein. Ralf Hart war nur ein verzweifelter Mann wie Millionen andere auch. Wenn sie ihre Rolle gut spielte, wenn sie sich an den Weg hielt, den sie für ihre Arbeit im >Copacabana< entworfen hatte, dann brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Aber es war sehr gefährlich, diesen Mann in ihrer Nähe zu haben: jetzt, da sie seinen Duft wahrnahm (und er gefiel ihr) und seine Berührung spürte (und sie gefiel ihr), wurde ihr klar, daß sie auf ihn wartete (und das gefiel ihr nicht).

Fünfundvierzig Minuten lang hatten sie alle Regeln eingehalten. Danach wandte sich Ralf an Milan: »Ich nehme sie für den Rest der Nacht mit. Ich zahle soviel wie drei Freier.«

Milan dachte achselzuckend, nun würde die Brasilianerin der Liebe doch noch in die Falle gehen. Maria war überrascht: sie hatte nicht geahnt, daß Ralf die Regeln so genau kannte.

»Gehen wir zu mir nach Hause!«

Vielleicht war das wirklich die beste Entscheidung, dachte sie. Obwohl es gegen alle Empfehlungen Milans verstieß, beschloß sie, eine Ausnahme zu machen. So konnte sie einerseits feststellen, ob er verheiratet war, und andererseits sehen, wie berühmte Maler wohnten, und eines Tages würde sie darüber einen kleinen Artikel für das Lokalblättchen zu Hause schreiben – damit alle wüßten, daß sie während ihres Europaaufenthaltes in Künstler-und Intellektuellenkreisen verkehrt hatte.

>Was für eine absurde Ausrede!< schalt sie sich innerlich.

Eine halbe Stunde später erreichten sie Cologny, einen Vorort von Genf: ein Dorfplatz mit einer Kirche, einer Bäckerei, dem Rathaus, alles wie im Bilderbuch. Und er wohnte tatsächlich in einem zweistöckigen Haus, nicht in einem Apartment! Erste Einschätzung: Er mußte tatsächlich Geld haben, Häuser waren sehr teure Immobilien. Zweite Einschätzung: Wäre er verheiratet, hätte er sie schon wegen der Nachbarn nicht zu sich eingeladen.

Also war er reich und ledig.

Sie betraten eine Eingangshalle, von der eine Treppe in den ersten Stock führte. Ralf geleitete sie aber geradeaus in die zwei Zimmer im hinteren Teil des Hauses, die auf einen Garten hinausgingen. Ein Eßzimmer mit einem Eßtisch und vielen Bildern an den Wänden. Im Salon nebenan: ein paar Sofas, Stühle, vollgestopfte Bücherschränke, überquellende Aschenbecher und schmutzige Gläser.

»Soll ich Kaffee machen?«

Maria schüttelte den Kopf. Nein, noch soll er mich nicht anders behandeln. Ich fordere meine Dämonen geradezu heraus, indem ich genau das Gegenteil dessen tue, was ich mir vorgenommen habe. Bloß keine Panik: Heute werde ich die Rolle der Prostituierten spielen oder der Freundin oder die der Verständnisvollen Mutter, obwohl ich in meiner Seele ein junges Mädchen bin, das Zärtlichkeit braucht. >Erst zum Schluß, wenn alles vorbei ist, dann kannst du mir einen Kaffee kochen!<

»Hinten im Garten liegt mein Studio, meine Seele. Hier, zwischen diesen Bildern und Büchern, ist mein Verstand, das, was ich denke.«

Zu Marias Wohnung gehörte kein Garten. Und es gab auch keine Bücher, außer denen aus der Stadtbücherei denn es lohnte sich ja nicht, Geld für etwas auszugeben, was man gratis bekommen konnte. Bei ihr gab es auch keine Bilder – nur ein Poster vom Chinesischen Staatszirkus aus Shanghai, den sie unbedingt einmal live erleben wollte.

Ralf nahm eine Flasche Whisky und streckte sie ihr hin.

»Nein, danke.«

Er goß sich ein Glas ein, ohne Eis, ohne alles, und kippte es herunter. Er begann über das Leben zu philosophieren durchaus interessante Gedanken –, und doch konnte er Maria nicht täuschen. Sie wußte nur allzu gut, daß dieser Mann Angst vor dem hatte, was jetzt geschehen könnte, da sie allein waren. Maria übernahm wieder die Kontrolle.

Ralf schenkte sich noch einmal ein und sagte beiläufig: »Ich brauche dich.«

Eine Pause. Langes Schweigen. >Hilf ihm nicht über dieses Schweigen hinweg, mal sehen, wie er fortfährt.<

»Ich brauche dich, Maria. Du hast Licht, obwohl ich spüre, daß du mir nicht glaubst und meinst, ich wolle dich mit meinen Worten verführen. Frag nicht >Warum ich? Was ist Besonderes an mir?< An dir ist nichts Besonderes, nichts, wofür ich eine Erklärung hätte. Dennoch – und darin liegt das Geheimnis des Lebens – kann ich an nichts anderes mehr denken.«

»Ich hätte nicht gefragt«, log sie.

»Wenn ich nach einer Erklärung suchen würde, könnte ich sagen: Die Frau, die ich vor mir habe, hat es geschafft, das Leiden zu überwinden und es in etwas Positives, Kreatives zu verwandeln. Aber das reicht als Erklärung nicht aus.«

Die Situation wird allmählich brenzlig, dachte Maria. Ralf fuhr fort.

»Und ich? Ich bin kreativ, meine Bilder sind in Galerien auf der ganzen Welt gesucht, ich habe mir einen Traum erfüllt, ich bin ein geachteter Bürger meines Dorfes, meine Frauen haben mich nie um Alimente gebeten, ich bin gesund, sehe gut aus, kurz, ich habe alles, was ein Mann sich nur erträumen kann… Und doch stehe ich hier und sage zu einer Frau, die ich erst kürzlich in einem Cafe getroffen und mit der ich gerade mal einen Nachmittag verbracht habe: >Ich brauche dich!< Weißt du, was Einsamkeit ist?«

»Ja, ich weiß es.«

»Aber du weißt nicht, was Einsamsein heißt, wenn du gleichzeitig jede Menge Leute treffen könntest, überall eingeladen bist, zu Partys, Cocktails, Theaterpremieren. Wenn andauernd das Telefon klingelt und Frauen dran sind, die deine Arbeit großartig finden, die mit dir zu Abend essen wollen schöne, intelligente, gebildete Frauen. Und etwas hält dich ab und sagt: >Geh nicht! Du wirst dich nicht amüsieren. Du wirst nur eine weitere Nacht damit vertun, Eindruck zu schinden, dir selbst zu beweisen, daß du fähig bist, die ganze Welt zu verführen.<

Dann bleibe ich zu Hause, gehe in mein Studio, suche das Licht, das ich in dir gesehen habe. Aber ich sehe dieses Licht nur, solange ich arbeite.«

»Was kann ich dir geben, das du nicht schon hast?« entgegnete sie. Die Bemerkung über die anderen Frauen tat weh, aber schließlich hatte er sie, Maria, dafür bezahlt, um sie an seiner Seite zu haben.

Er war bei seinem dritten Whisky angelangt, und Maria stellte sich vor, wie der Alkohol seine Kehle hinunterrann, im Magen brannte, in Ralfs Blutkreislauf gelangte, ihn ermutigte, und sie fühlte sich ebenfalls beschwipst, obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

»Gut. Ich kann deine Liebe nicht kaufen, aber du hast gesagt, daß du alles über Sex weißt. Bring es mir bei. Oder erzähl mir etwas über Brasilien. Was auch immer, wenn ich nur bei dir sein darf.«

Was jetzt?

»In Brasilien kenne ich nur zwei Städte: die Kleinstadt, in der ich geboren wurde, und Rio de Janeiro. In puncto Sex glaube ich nicht, daß ich dir etwas beibringen kann. Ich bin bald dreiundzwanzig und du nur sechs Jahre älter, aber du hast viel intensiver gelebt als ich. Die Männer, mit denen ich mich sonst treffe, bezahlen dafür, daß ich mache, was sie wollen, und nicht umgekehrt.«

»Ich habe bereits alles getan, wovon ein Mann träumen kann, mit zwei, drei Frauen auf einmal. Aber ich weiß nicht, ob ich viel gelernt habe.«

Wieder Schweigen, nur daß diesmal Maria an der Reihe war, etwas zu sagen. Und er half ihr nicht, so wie sie vorher ihm nicht geholfen hatte.

»Willst du mich als Professionelle?«

»Ich will dich so, wie du willst.«

Nein, das hätte er nicht antworten dürfen, denn es war genau das, was sie hören wollte. Wieder das Erdbeben, der Vulkan, der Sturm. Sie würde unweigerlich in die eigene Falle gehen, den Mann verlieren, den sie nie wahrhaft gehabt hatte.

»Du kannst es, Maria. Bring es mir bei. Vielleicht rettet es mich und dich und bringt uns beide zurück ins Leben. Du hast recht, ich bin nur sechs Jahre älter als du, und doch habe ich schon mehrere Leben gelebt. Unsere Erfahrungen sind vollkommen unterschiedlich, aber wir sind beide verzweifelt. Das einzige, was uns Frieden schenkt, ist, zusammenzusein.«

Warum sagte er all diese Dinge? Es war unmöglich, und dennoch stimmte es. Sie hatten sich nur einmal gesehen, und schon brauchten sie einander. Was würde nur daraus werden, wenn sie sich häufiger sahen? Maria war eine intelligente Frau, die die Menschen genau beobachtete; sie hatte sich in ihrem Leben einiges vorgenommen, aber sie hatte auch eine Seele, die ihr >Licht< kennenlernen und entdecken mußte.

Sie war es allmählich müde, das zu sein, was sie war, und obwohl die bevorstehende Rückreise nach Brasilien eine interessante Herausforderung war, hatte sie noch nicht alles gelernt, was es hier für sie zu lernen gab. Ralf Hart war ein Mann, der Herausforderungen angenommen hatte, und jetzt bat er ausgerechnet sie – dieses Mädchen, diese Prostituierte, diese verständnisvolle Mutter –, ihn zu retten. Es war grotesk!

Andere Männer hatten sich ihr gegenüber genauso verhalten. Viele hatten keine Erektion zustande gebracht, andere wollten wie Kinder behandelt werden, wieder andere hätten sie gern zur Ehefrau gehabt, weil es sie erregte, daß sie mit vielen Männern im Bett gewesen war. Obwohl sie noch keinen dieser >speziellen Freier< kennengelernt hatte, wußte sie, wie groß der Vorrat an Phantasien war, die die menschliche Seele bevölkerten. Doch kein anderer Mann hatte sie je gebeten: >Führe mich hier heraus!< Sie wollten im Gegenteil Maria immer mit in ihre Welt nehmen.

Und obwohl sie nach jedem Mal noch ein wenig reicher und innerlich noch ein wenig leerer gewesen war, hatte doch jeder dieser Männer sie etwas gelehrt. Allerdings, wenn einer von ihnen wirklich Liebe suchte und Sex nur ein Teil dieser Suche war, wie wollte sie dann behandelt werden?

Was gehörte für sie zu einer ersten Begegnung?

»Ein Geschenk«, sagte Maria.

Ralf Hart sah sie verständnislos an. Ein Geschenk? Er hatte für diese Nacht im Taxi schon im voraus bezahlt, da er das Ritual kannte. Was hatte sie also gemeint?

Aber Maria hatte plötzlich begriffen, welche Gefühle ein Mann und eine Frau brauchen. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Nebenzimmer.

»Wir werden nicht ins Schlafzimmer hinaufgehen«, sagte sie.

Sie löschte fast alle Lichter, setzte sich auf den Teppich und bat ihn, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie sah, daß es dort einen Kamin gab.

»Mach den Kamin an!«

»Aber es ist doch Sommer!«

»Mach den Kamin an! Du hast mich gebeten, heute nacht die Führung zu übernehmen, und das gehört dazu.«

Sie sah ihn fest an, hoffte, er würde wieder ihr >Licht< sehen. Er sah es, denn er ging in den Garten und holte ein paar vom Regen naßgewordene Holzscheite, legte ein paar alte Zeitungen dazu. Er ging in die Küche, um eine neue Flasche Whisky zu holen, aber Maria sagte: »Hast du mich gefragt, was ich will?«

»Nein.«

»Die Person, die bei dir ist, muß spüren, daß sie für dich existiert. Denk an sie! Denk darüber nach, ob sie Whisky oder Gin oder Kaffee möchte. Frag, was sie möchte!«

»Was möchtest du trinken?«

»Wein. Und ich möchte, daß du auch welchen trinkst.«

Er ließ den Whisky stehen und kam mit einer Flasche Wein zurück. Inzwischen hatte das Feuer schon die Holzscheite angebrannt; Maria löschte die restlichen Lichter, so daß der Raum nur noch vom Kaminfeuer erhellt war. Sie verhielt sich so, als hätte sie schon immer gewußt, daß dies der erste Schritt war: den anderen merken zu lassen, daß man ihn wahrnimmt.

Sie kramte in ihrer Handtasche und fand einen Kugelschreiber, den sie in einem Supermarkt gekauft hatte.

»Der ist für dich. Ich habe ihn gekauft, um damit meine Ideen für meine Farm aufzuschreiben. Drei Tage habe ich geschrieben und geschrieben, bis ich nicht mehr konnte. Es klebt ein wenig von meinem Schweiß, meiner Konzentration, meinem Willen daran, und darum schenke ich ihn dir jetzt.«

Sanft legte sie den Kugelschreiber in seine Hand.

»Anstatt dir etwas zu kaufen, was du vielleicht gern hättest, gebe ich dir etwas, was wirklich mir gehört. Ein Geschenk. Als Zeichen meiner Achtung vor dem Menschen, der vor mir sitzt, damit er versteht, wieviel es mir bedeutet, bei ihm zu sein. Jetzt hast du einen kleinen Teil von mir, den ich dir freiwillig und spontan gegeben habe.«

Ralf erhob sich, ging zum Bücherregal und kam mit einem Gegenstand zurück. Er reichte ihn Maria:

»Das ist der Waggon einer elektrischen Eisenbahn, die ich als kleiner Junge hatte. Ich durfte nie allein damit spielen, weil mein Vater sie dafür zu kostbar fand. Also mußte ich immer warten, bis er Lust hatte, die Eisenbahn aufzubauen – hier in diesem Zimmer. Normalerweise verbrachte er seine Sonntage damit, Opern zu hören. Daher hat die Eisenbahn meine Kindheit überlebt, aber sie hat mir keine Freude gebracht. Im ersten Stock habe ich alle Schienen aufbewahrt, die Lokomotive, die kleinen Bahnhöfe, sogar die Gebrauchsanleitung; weil ich eine Eisenbahn hatte, die mir nicht wirklich gehörte, mit der ich nicht spielte. Es wäre besser gewesen, sie wäre kaputtgegangen wie andere Spielsachen, die ich als Kind bekommen habe und an die ich mich nicht mehr erinnern kann, weil ich sie kaputtgemacht habe, weil man als Kind die Welt voller Leidenschaft entdeckt und dabei vieles kaputtmacht. Diese unversehrte Eisenbahn jedoch erinnert mich immer an einen ungelebten Teil meiner Kindheit, weil die Eisenbahn zu wertvoll oder mein Vater anderweitig beschäftigt war. Oder vielleicht weil mein Vater jedesmal, wenn er die Eisenbahn aufbaute, Angst hatte, mich seine Liebe spüren zu lassen.«

Maria starrte ins Feuer. Etwas war geschehen – aber es lag nicht am Wein oder der gemütlichen Atmosphäre. Es hing mit der Übergabe der Geschenke zusammen.

Ralf wandte sich dem Kamin zu. Sie schwiegen und lauschten dem Knistern des Feuers. Sie tranken Wein, als wäre es nicht wichtig, etwas zu sagen, zu reden, zu tun. Einfach nur dasein, einer beim anderen und in dieselbe Richtung schauen.

»Ich habe viele unversehrte Eisenbahnen in meinem Leben«, sagte Maria nach einer Weile. »Eine davon ist mein Herz. Ich habe auch damit gespielt, wenn die anderen die Schienen aufbauten, und es war nicht immer der richtige Moment.«

»Aber du hast geliebt?«

»Ja, ich habe geliebt, ich habe sehr geliebt. Ich habe so sehr geliebt, daß ich, als ich meiner ersten Liebe nicht gegeben habe, was sie wollte – einen Bleistift –, geflohen bin.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Ich bringe dir etwas bei, was auch ich erst lernen mußte: schenken. Das Schenken von etwas, was einem gehört. Einem anderen etwas geben, bevor man ihn um etwas Wic htiges bittet. Du hast meinen Schatz: den Kugelschreiber, mit dem ich einige meiner Träume aufgeschrieben habe. Ich habe deinen Schatz: einen Eisenbahnwagen, einen Teil deiner Kindheit, den du nicht gelebt hast. Ich habe jetzt einen Teil deiner Vergangenhe it und du einen Teil meiner Gegenwart. Und das ist schön.«

Sie sagte das alles wie selbstverständlich, ohne sich über sich selbst zu wundern, als hätte sie schon lange gewußt, daß dies die beste und einzige Art zu handeln war. Langsam erhob sie sich, nahm ihre Jacke vom Bügel und küßte ihn auf die Wange. Ralf, der weiter wie hypnotisiert ins Feuer starrte und vermutlich an seinen Vater dachte, machte keine Anstalten aufzustehen.

»Ich habe nie recht verstanden, warum ich diesen Waggon aufbewahrt habe. Bis he ute: um ihn in einer Nacht im Schein des Kaminfeuers zu verschenken. Jetzt wird das Haus leichter.«

Er sagte, er werde gleich morgen die restlichen Waggons, die Schienen, Lokomotiven, Rauchkapseln einem Waisenhaus schenken.

»Vielleicht ist diese Eisenbahn inzwischen eine Rarität und ein kleines Vermögen wert«, meinte Maria und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Darum ging es doch gar nicht, sondern darum, sich von etwas zu befreien, was unserem Herzen noch viel mehr bedeutet.

Bevor sie noch mehr unpassende Dinge sagen konnte, küßte sie ihn noch einmal auf die Wange und ging zur Tür. Er schaute immer noch ins Feuer, und sie bat ihn höflich, aufzustehen und ihr die Tür zu öffnen.

Ralf erhob sich, und sie erklärte ihm, die Brasilianer hätten einen merkwürdigen Aberglauben: Wenn man jemanden zum ersten Mal besuche, dürfe man die Tür beim Weggehen nie selbst öffnen, denn sonst würde man nie wieder in dieses Haus zurückkehren.

»Ich möchte zurückkommen.«

»Obwohl wir uns nicht ausgezogen haben und ich nicht in dich eingedrungen bin, dich nicht einmal angefaßt habe, haben wir uns geliebt.«

Sie lachte. Er erbot sich, sie nach Hause zu bringen, aber Maria lehnte ab.

»Ich werde dich morgen im >Copacabana< besuchen.«

»Tu's nicht. Warte eine Woche. Ich habe gelernt, daß Warten das Schwierigste ist, und möchte mich auch daran gewöhnen; ich möchte spüren, daß du bei mir bist, selbst wenn ich dich nicht an meiner Seite habe.«

Sie ging zu Fuß durch die dunkle Nacht. Normalerweise waren ihre nächtlichen Gänge durch Genf von Traurigkeit geprägt gewesen, von finanziellen Sorgen und Zeitplänen, von Heimweh, auch nach ihrer Muttersprache, die außer ihren Kolleginnen niemand sprach.

Heute jedoch ging sie, um sich selbst zu finden oder vielmehr die Frau, die vierzig Minuten lang mit einem Mann vor dem Feuer gesessen hatte und voller Licht, Weisheit, Erfahrung, Zauber gewesen war. Sie hatte das Gesicht dieser Frau vor nicht allzu langer Zeit gesehen, als sie am See spazierengegangen war und überlegt hatte, ob sie ein Leben führen sollte, das ihr fremd war – an jenem Nachmittag hatte die Frau traurig gelächelt. Maria hatte ihr Gesicht ein zweites Mal auf einer zusammengefalteten Leinwand gesehen, und nun war es wieder da.

Erst viel später, als die magische Erscheinung verschwunden war, nahm sie ein Taxi.

Sie sollte lieber nicht über den Abend nachdenken, sonst machte sie alles kaputt. Sie durfte nicht zulassen, daß Ungeduld all das Gute zerstörte, das sie gerade erlebt hatte. Wenn es diese andere Maria wirklich gab, würde sie im richtigen Augenblick wieder dasein.


Auszug aus Marias Tagebuch, an dem Abend geschrieben, als sie den Eisenbahnwaggon geschenkt bekam:

Das tiefe Begehren, das realste Begehren ist dann in einem, wenn man zum ersten Mal auf jemanden zugeht. Das löst das Knistern aus. Danach erst kommen Mann und Frau ins Spiel. Aber das, was zuvor geschah – was die gegenseitige Anziehung auslöste –, kann man nicht erklären. Es ist das Begehren in seiner ursprünglichen, reinsten Form.

Wenn das Begehren in diesem ursprünglichen Zustand ist, verlieben sich Mann und Frau in das Leben, kosten sie jeden Augenblick ehrfürchtig und ganz bewußt aus und feiern jeden dieser Augenblicke wie eine Segnung.

Solche Menschen kennen keine Eile, sie überstürzen nichts, tun nichts Unbedachtes. Sie wissen, daß das Unausweichliche geschieht, daß die Wahrheit immer wirksam wird. Sie packen jede Gelegenheit beim Schopf und lassen keinen magischen Augenblick ungenutzt verstreichen, weil sie wissen, wie wichtig jede einzelne Sekunde ist.


In den darauffolgenden Tagen sah Maria, daß sie in die Falle gegangen war, die sie so sehr zu meiden versucht hatte – aber sie war deswegen weder traurig noch besorgt.

Im Gegenteil: Da sie nichts zu verlieren hatte, war sie frei.

So romantisch die Situation auch war: Maria mußte sich im klaren sein, daß Ralf früher oder später einsehen würde, daß sie nur eine Hure, er dagegen ein geachteter Künstler war; daß sie aus einem fernen, ewig krisengeschüttelten Land kam, er dagegen in einem Paradies lebte, dessen Bewohner von Geburt an ein geordnetes, geschütztes Leben führen durften. Er hatte eine hervorragende Ausbildung genossen, die allerbesten Schulen und Museen der Welt besucht, während sie nicht studiert hatte. Solche Träume sind nicht von Dauer, und Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß die Wirklichkeit selten mit ihren Träumen übereinstimmte. Ihre größte Freude war jetzt, daß sie wunschlos glücklich sein konnte und nicht danach strebte, jemanden zu besitzen.

>Wie romantisch ich bin, mein Gott!<

Während der Woche versuchte sie herauszufinden, was Ralf glücklich machen könnte; er hatte ihr ihr >Licht< gezeigt und ihr ihre, wie sie glaubte, für immer verlorene Würde zurückgegeben. Sie würde sich bei ihm nur mit Sex revanchieren können. Er hielt es für ihre Spezialität. Da aber Sex im >Copacabana< wenig Abwechslung bot, beschloß sie, sich anderswo inspirieren zu lassen.

Sie lieh sich Pornofilme aus und fand sie erneut uninspirierend – außer einigen Varianten beim Gruppensex. Da die Filme wenig weiterhalfen, beschloß sie zum ersten Mal, seit sie in Genf war, Bücher zu kaufen – obwohl sie weiterhin keine Lust hatte, ihre Wohnung mit ausgelesenen Büchern vollzustopfen. In einer Buchhandlung, die sie entdeckt hatte, als sie mit Ralf auf dem Jakobsweg gegangen war, erkundigte sie sich, ob sie etwas zum Thema dahatten.

»Massenhaft«, antwortete die Buchhändlerin. »Tatsächlich scheinen sich die Leute nur mit Sex zu beschäftigen. Es gibt eine Spezialabteilung, aber letztlich enthält jeder dieser Romane hier mindestens eine Sexszene. Ob sie nun in schönen Liebesgeschichten eingebettet ist oder in ernsthaften Traktaten über Verhaltensforschung, Tatsache ist: Die Menschen denken an nichts anderes.«

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