Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß sich die Buchhändlerin irrte: Es war falsch zu glauben, daß alle Welt nur an diesem Thema interessiert war. Natürlich machten alle Diäten, kauften sich Perücken, verbrachten Stunden beim Friseur oder im Fitneßstudio, trugen aufreizende Kleider, versuchten den gewünschten Funken zu entfachen – aber was kam dabei heraus? Wenn's zur Sache ging: elf Minuten, Schluß, aus. Keine Kreativität, nichts, was sie in den siebten Himmel erhob; in Null Komma nichts war der Funke schon zu schwach, um das Feuer am Brennen zu halten.
Es war zwecklos, mit der blonden Buchhändlerin weiterzudiskutieren, die glaubte, die Welt könne mit Büchern erklärt werden. Maria ließ sich die Spezialabteilung zeigen und entdeckte dort verschiedene Bände über homosexuelle und lesbische Sexpraktiken, außerdem Enthüllungsgeschichten über das Sexleben des Klerus sowie reichbebilderte Sexfibeln aus dem Orient. Ein Buchtitel stach ihr ins Auge: Der heilige Sex. Das war zumindest mal etwas anderes.
Sie kaufte das Buch, ging nach Hause, stellte das Radio auf einen Sender mit ruhiger Musik ein, die ihr immer beim Nachdenken half. Der Band enthielt zahlreiche Illustrationen von Liebesstellungen, die bestimmt höchstens von Zirkusakrobaten ausgeführt werden konnten; der dazugehörige Text war langweilig.
Maria wußte von Berufs wegen nur zu gut, daß beim Sex nicht allein die Stellung, die man einnimmt, wichtig war und daß Variationen sich wie selbstverständlich ergaben, ähnlich wie Tanzschritte. Dennoch versuchte sie weiterzulesen.
Nach zwei Stunden war ihr klar: Die Autorin des Buches hatte vom Sex keine Ahnung: nichts als viel Theorie, ein bißchen Kamasutra, nutzlose Rituale, idiotische Vorschläge. Aus dem Klappentext ging hervor, daß die Autorin im Himalaja meditiert hatte (wo denn?), Joga-Kurse besucht (davon hatte Maria schon gehört) und selbst viele Bücher gewälzt hatte: Sie zitierte den einen oder andern Autor, aber zum Wesentlichen war sie nicht vorgestoßen. Sex war keine Theorie, hatte nichts mit Räucherstäbchen, Berührungspunkten, Verbeugungen und Salemaleikums zu tun. Was maßte die Frau sich an, ein Buch über ein Thema zu schreiben, in dem nicht einmal Maria, die in dem Bereich arbeitete, sich genau auskannte? Vielleicht war der Himalaja daran schuld oder das Bedürfnis, etwas zu verkomplizieren, dessen Schönheit in der Einfachheit und in der Leidenschaft lag. Wenn diese Frau fähig war, ein so dummes Buch auf den Markt zu bringen, dann sollte sie, Maria, sich schnellstens wieder ihrem Buchprojekt Elf Minuten zuwenden. Ihr Buch wäre zumindest nicht zynisch noch verlogen, sondern ihre eigene, authentische Geschichte.
Aber zum Schreiben hatte sie momentan weder Zeit noch Lust; sie mußte ihre ganze Energie darauf verwenden, Ralf glücklich zu machen und zu lernen, wie man einen landwirtschaftlichen Betrieb führt.
Aber erst einmal mußte sie zu Abend essen und später ins >Copacabana< gehen.
Aus Marias Tagebuch, gleich nachdem sie das langweilige Buch zur Seite gelegt hat:
Ich bin einem Mann begegnet und habe mich in ihn verliebt. Ich habe es aus einem einfachen Grund zugelassen: Ich erhoffe mir nichts. Ich weiß, daß ich in drei Monaten über alle Berge sein werde. Ralf wird dann nur noch eine Erinnerung sein. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten ohne Liebe; ich bin an meine Grenzen gestoßen.
Ich schreibe gerade eine Geschichte für Ralf. Ob er je wieder in den Nachtclub kommen wird, weiß ich nicht, aber zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das vollkommen egal. Es reicht, daß ich ihn liebe, in Gedanken bei ihm bin, in dieser schönen Stadt, die er mit seinen Schritten, seinen Worten, seiner Zärtlichkeit lebendiger macht. Wenn ich dieses Land verlasse, wird es ein Gesicht, einen Namen haben und in meiner Erinnerung mit einem Abend am Kaminfeuer verbunden sein. Alles, was ich sonst hier erlebt habe, wird neben dieser Erinnerung verblassen.
Ich würde mich gern für das bei ihm revanchieren, was er für mich getan hat. Ich habe lange nachgedacht und herausgefunden, daß ich nicht zufällig in dieses Cafe gegangen bin; die wichtigsten Begegnungen sind von den Seelen abgemacht, noch bevor die Körper sich sehen.
Im allgemeinen ereignen sich diese Begegnungen, wenn wir an eine Grenze gelangen, wenn wir emotional sterben und wiedergeboren werden müssen. Die Begegnungen warten auf uns – aber meistens versuchen wir zu verhindern, daß sie sich ereignen. Wenn wir verzweifelt sind und nichts mehr zu verlieren haben oder wenn wir begeistert sind, dann manifestiert sieb das Unbekannte, und unser Universum ändert seine Wegrichtung.
Alle können lieben, denn sie wurden mit dieser Gabe geboren. Einige Menschen lieben von Anfang an richtig, aber die meisten müssen es erst wieder lernen, müssen sich daran erinnern, wie man liebt, und ausnahmslos alle müssen auf dem Scheiterhaufen ihrer vergangenen Gefühle brennen und Freuden und Schmerzen, Höhen und Tiefen wiedererleben, bis sie den roten Faden erkennen, der unsere Begegnungen miteinander verknüpft; ja, es gibt diesen roten Faden.
Und dann lernen die Körper die Sprache der Seele: Sex. Damit kann ich mich bei dem Mann revanchieren, der mir meine Seele zurückgegeben hat, obwohl er nicht weiß, wie wichtig er für mein Leben geworden ist. Er hat mich darum gebeten, und ich werde es ihm geben; ich möchte, daß er sehr glücklich wird.
Manchmal ist das Leben geizig: man verbringt Tage, Wochen, Monate und Jahre, ohne etwas Neues zu fühlen. Und dann öffnet sich plötzlich – wie bei Maria mit Ralf eine Tür, und in den offenen Raum stürzt eine wahre Lawine. In einem Augenblick hat man gar nichts und im nächsten mehr, als man ertragen kann.
Zwei Stunden später ging Maria ins >Copacabana<. Milan sprach sie an: »Du bist also mit dem Maler weggegangen.«
Ralf war im Hause offenbar kein Unbekannter – das hatte sie schon gedacht, als er für drei Freier bezahlt hatte, noch dazu gleich den richtigen Betrag, ohne nach dem Preis zu fragen. Maria nickte vielsagend, aber Milan, der ein alter Hase war, ließ sich von ihr nicht täuschen.
»Vielleicht bist du ja für den nächsten Schritt bereit. Einer der speziellen Freier fragt immer nach dir. Ich habe ihm gesagt, daß du keine Erfahrung hast, und er hat mir geglaubt; aber vielleicht ist ja die Zeit reif für einen Versuch.«
>Spezieller Freier?<
»Und was hat das mit dem Maler zu tun?«
»Er ist auch ein spezieller Freier.«
Also hatten ihre Kolleginnen alles, was sie mit Ralf Hart gemacht hatte, schon durchexerziert. Sie biß sich auf die Lippe und sagte nichts – sie hatte eine schöne Woche gehabt, konnte nicht vergessen, was sie geschrieben hatte.
»Soll ich dasselbe machen wie mit ihm?«
»Ich weiß nicht, was ihr gemacht habt; aber wenn dich heute abend jemand auf einen Drink einlädt, sag nein. Die speziellen Freier zahlen besser. Du wirst sehen: Du wirst es nicht bereuen.«
Der Abend begann wie immer. Die Thailänderinnen steckten wie üblich die Köpfe zusammen, die Kolumbianerinnen spielten die Welterfahrenen, während Maria und die zwei anderen Brasilianerinnen scheinbar blasiert in einer Ecke lehnten. Es gab noch eine Österreicherin, zwei Deutsche. Der Rest waren Frauen aus dem ehemaligen Ostblock, alle hübsch, großgewachsen und blauäugig – sie wurden immer schneller als die anderen weggeheiratet.
Die Männer kamen – Russen, Schweizer, Deutsche, zumeist vielbeschäftigte Manager, die sich die teuersten Prostituierten einer der teuersten Städte der Welt leisten konnten. Einige wandten sich zu Marias Tisch, aber sie hielt den Blick auf Milan gerichtet, und der schüttelte nur immer wieder den Kopf. Maria war zufrieden: sie wollte in dieser Nacht nicht die Beine breitmachen, schlecht riechende Männer in ihre Hotels begleiten; sie wollte nur einem sexüberdrüssigen Mann beibringen, wie man Liebe macht. Und keine andere Frau als sie hatte die notwendige Phantasie, um die Geschichte der Gegenwart neu zu erfinden.
Gleichzeitig fragte sie sich: >Warum wollen diese Männer, nach all ihren Erfahrungen, zum Anfang zurückkehren?< Nun, das war nicht ihr Problem; solange sie gut zahlten, war sie bereit, sie zu bedienen.
Ein Mann, jünger als Ralf, kam herein; gutaussehend, schwarzhaarig, perfekte Zähne, in einem Anzug mit Stehkragen, der irgendwie chinesisch wirkte – ohne Krawatte, darunter ein makellos weißes Hemd. Er ging an die Bar zu Milan, der zu Maria herübersah. Der Mann kam auf sie zu.
»Darf ich Ihnen einen Drink spendieren?«
Milan nickte, und Maria lud den Mann ein, sich zu ihr an den Tisch zu setzen. Sie bestellte ihren Fruchtcocktail und wartete darauf, daß er sie zum Tanzen aufforderte.
»Ich heiße Terence«, stellte er sich vor. »Ich arbeite bei einer Plattengesellschaft in England. Da ich weiß, daß ich in einem vertrauenswürdigen Lokal bin, kann ich hoffentlich davon ausgehen, daß das unter uns bleibt.«
Maria fing gerade an, von Brasilien zu erzählen, als er sie unterbrach: »Milan sagt, du würdest verstehen, was ich will.«
»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Aber ich verstehe etwas von dem, was ich mache.«
Das Ritual wurde nicht eingehalten; er bezahlte die Rechnung, nahm sie beim Arm, sie stiegen in ein Taxi, und er reichte ihr tausend Franken. Maria mußte kurz an den Araber denken, mit dem sie in dem Restaurant mit den vielen berühmten Bildern zu Abend gegessen hatte; heute erhielt sie zum ersten Mal wieder diesen Betrag, doch statt sich darüber zu freuen, wurde sie nervös.
Das Taxi hielt vor einem der teuersten Hotels der Stadt. Der Mann grüßte den Portier, zeigte, daß er mit dem Hotel vertraut war. Sie gingen direkt auf sein Zimmer, eine Suite mit Blick auf den Fluß. Er öffnete eine Flasche Wein – bestimmt ein alter Jahrgang – und bot Maria ein Glas an.
Im Trinken beobachtete sie ihn. Wieso holte sich ein so gutaussehender, wohlhabender Mann eine Prostituierte?
Da er fast nichts sagte, schwieg auch sie die meiste Zeit und versuchte sich auszumalen, was einen speziellen Freier zufriedenstellen könnte. Ihr war klar, daß sie nicht die Initiative ergreifen durfte, aber sie würde mitmachen. Schließlich bot sich nicht jede Nacht die Gelegenheit, tausend Franken zu verdienen.
»Wir haben Zeit«, sagte Terence. »Alle Zeit, die wir brauchen. Du kannst hier schlafen, wenn du willst.«
Ihre Unsicherheit kehrte zurück. Der Mann wirkte keineswegs eingeschüchtert und redete mit ruhiger Stimme, er war anders als alle anderen. Er wußte, was er wollte; er legte zum richtigen Zeitpunkt die richtige Musik im richtigen Zimmer mit dem richtigen Ausblick auf. Sein Anzug war gut geschnitten, der Koffer, der in einer Ecke stand, war klein, als brauchte er nicht viel zum Reisen – oder als wäre er nur für die eine Nacht nach Genf gekommen.
»Ich werde zu Hause schlafen«, entgegnete Maria.
Der Mann, der vor ihr stand, veränderte sich vollkommen. Seine Gentlemanaugen funkelten plötzlich kalt. »Setz dich hin«, sagte er und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.
Das war ein Befehl! Ein regelrechter Befehl. Maria gehorchte, und merkwürdigerweise fand sie das erregend.
»Setz dich gerade hin. Streck den Rücken wie eine Klassefrau. Sonst wirst du gezüchtigt.«
Züchtigen! >Spezieller Freier
»Ich weiß, was Sie wollen.« Sie blickte ihm tief in die kalten, blauen Augen. »Und ich bin nicht bereit dazu.«
Der Mann schien wieder der alte zu werden. Offenbar sah er ihr an, daß sie es ernst meinte. »Trink deinen Wein«, sagte er. »Ich werde dich zu nichts zwingen. Du kannst noch ein bißchen bleiben oder schon gehen, ganz wie du willst.«
Das beruhigte sie etwas.
»Ich habe eine Arbeit. Ich habe einen Chef, der mich protegiert und an mich glaubt. Bitte, sagen Sie ihm nichts!«
Maria sagte das weder weinerlich noch bittend – es war schlicht ihre Lebenswirklichkeit.
Terence war auch wieder der Mann von vorher geworden weder weich noch hart, nur jemand, der im Gegensatz zu den anderen Freiern den Eindruck machte, daß er wußte, was er wollte. Jetzt schien er wie aus einer Trance zu erwachen, aus einer Rolle in einem Theaterstück herauszutreten, das noch nicht begonnen hatte.
Lohnte es sich, einfach wegzugehen, ohne die Wahrheit über den >speziellen Freier< zu ergründen?
»Was genau wollen Sie?«
»Du weißt es. Schmerz. Leiden. Und viel Lust.«
>Was haben Schmerz und Leiden mit Lust zu tun?< überlegte Maria. Obwohl sie unbedingt glauben wollte, daß es sehr wohl so war, und damit einen großen Teil der negativen Erfahrungen in ihrem Leben ins Positive zu wenden.
Er nahm sie bei der Hand und führte sie zum Fenster: auf der anderen Seite des Sees konnten sie die Türme der Kathedrale sehen – Maria erinnerte sich daran, daß sie dort vorbeigekommen war, als sie mit Ralf Hart den Jakobsweg entlanggegangen war.
»Siehst du diesen Fluß, diesen See, diese Häuser, diese Kirche? Vor fünfhundert Jahren war dies alles schon da. Nur die Stadt wirkte verlassen; eine unbekannte Krankheit hatte sich über ganz Europa ausgebreitet, und niemand wußte, weshalb so viele Menschen starben. Sie nannten die Krankheit den Schwarze Tod – eine Strafe, die Gott wegen der Sünden der Menschen auf die Welt geschickt hatte.
Da beschloß eine Gruppe Menschen, sich für die Menschheit zu opfern: Sie brachten dar, was sie am meisten fürchteten: den körperlichen Schmerz. Tag und Nacht gingen sie über diese Brücken, durch diese Straßen, geißelten ihre Körper mit Peitschen oder Ketten. Sie litten im Namen Gottes und lobten Gott mit ihren Schmerzen. Bald schon entdeckten sie, daß sie dabei glücklicher waren, als wenn sie Brot backten, auf dem Feld arbeiteten, ihr Vieh fütterten. Der Schmerz war kein Leiden mehr, sondern die Lust daran, die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Der Schmerz verwandelte sich in Freude, in Lebensgefühl, in Lust.«
Seine Augen hatten denselben kalten Glanz wie kurz zuvor. Terence griff nach dem Geld, das sie auf den Schreibtisch gelegt hatte, nahm hundertfünfzig Franken davon und steckte sie in ihre Handtasche.
»Mach dir wegen deines Chefs keine Sorgen. Hier ist seine Kommission, und ich verspreche dir, ihm nichts zu sagen. Du kannst gehen.«
Sie nahm das ganze Geld.
»Nein!«
Es war der Wein, der Araber im Restaurant, die Frau mit dem traurigen Lächeln; es war die Vorstellung, nie wieder an jenen verdammten Ort zurückzukehren; es war die Angst vor der Liebe, die in der Gestalt eines Mannes in ihr Leben getreten war; es waren die Briefe an ihre Mutter, die von einem schönen Leben voller Arbeitsmöglichkeiten erzählten; es war der Junge, der sie in ihrer Kindheit um einen Bleistift gebeten hatte; es waren ihre Kämpfe mit sich selbst; es war Schuld, Neugier, Geld; es war ihre Suche nach den eigenen Grenzen, nach den verpaßten Chancen und Gelegenheiten. Eine andere Maria trat an ihre Stelle: Sie machte keine Geschenke, sondern gab sich als Opfer hin.
»Ich habe keine Angst mehr. Machen wir weiter. Wenn nötig, bestrafen Sie mich, weil ich aufsässig war. Ich habe gelogen, verraten und jene mißachtet, die mich beschützt und geliebt haben.«
Sie war in das Spiel eingestiegen. Sie sagte das Richtige.
»Knie nieder!« sagte Terence mit seiner leisen, bedrohlichen Stimme.
Maria gehorchte. Sie war noch nie so behandelt worden, und sie wußte nicht, ob es gut oder schlecht war, nur, daß sie weitermachen wollte, es verdient hatte, erniedrigt zu werden für all das, was sie in ihrem Leben getan hatte. Sie ging in einer Person auf, einer neuen Person, einer Frau, die sie überhaupt nicht kannte.
»Du wirst bestraft werden. Weil du nutzlos bist, die Regeln nicht kennst, nichts über Sex weißt, über das Leben, über die Liebe.«
Während er sprach, wurde Terence zu zwei verschiedenen Männern. Demjenigen, der ruhig die Regeln erklärte, und demjenigen, der sie dazu brachte, sich als der elendste Mensch der Welt zu fühlen.
»Weißt du, warum ich deine Unsicherheit akzeptiere? Weil es keine größere Lust gibt, als jemanden in eine fremde Welt einzuführen. Diesem Menschen die Jungfräulichkeit zu nehmen – nicht seinem Körper, sondern seiner Seele, begreifst du?« Sie verstand.
»Heute darfst du Fragen stellen. Aber das nächste Mal beginnt das Stück, sobald sich der Vorhang öffnet, und du kannst nicht wieder aufhören. Wenn du aufhörst, dann liegt es daran, daß unsere Seelen nicht zusammenpassen. Vergiß nicht: Es ist ein Rollenspiel. Du mußt die Person sein, die zu sein du dich nie getraut hast. Nach und nach wirst du merken, daß du diese Person tatsächlich bist, doch einstweilen tu einfach so als ob, denk dir etwas aus.«
»Und wenn ich den Schmerz nicht ertrage?«
»Es gibt keinen Schmerz, es gibt etwas, das zu Genuß, zu Mysterium wird. Es gehört zum Rollenspiel, zu bitten >behandle mich nicht so, du tust mir sehr weh!< oder: >Hör auf, ich ertrage es nicht mehr!<. Deshalb sei vorsichtig, senk den Kopf und sieh mich nicht an!«
Maria, die kniete, senkte den Kopf und starrte zu Boden.
»Um zu vermeiden, daß einer von uns körperlich zu Schaden kommt, gibt es zwei Codes. Wenn einer von uns >gelb< sagt, heißt das, daß die Gewalt etwas zurückgenommen werden muß. Sagt einer >rot<, muß sofort aufgehört werden.«
»Sie haben gesagt >einer von uns« »Die Rollen werden getauscht. Den einen gibt es nicht ohne den anderen, und keiner kann den anderen erniedrigen, ohne seinerseits erniedrigt zu werden.« Das waren schreckliche Worte, die aus einer Welt stammten, die sie nicht kannte, einer Welt voller Schatten, Schlamm, Verderbnis. Dennoch wollte sie weitermachen ihr Körper zitterte vor Angst und Erregung.
Terence' Hand berührte sie mit unerwarteter Zärtlichkeit am Kopf.
»Schluß!«
Er bat sie aufzustehen. Ohne besondere Zärtlichkeit, aber auch ohne die aggressive Kälte, die er soeben gezeigt hatte. Noch immer zitternd zog sich Maria die Jacke wieder an. Terence sah Maria an.
»Rauch eine Zigarette, bevor du gehst!«
»Es ist nichts passiert.«
»Das war auch nicht notwendig. Es wird in deiner Seele beginnen, und wenn wir uns das nächste Mal treffen, bist du bereit.«
»War diese Nacht tausend Franken wert?«
Er gab keine Antwort. Zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie tranken den Wein aus, hörten die schöne Musik zu Ende, genossen gemeinsam die Stille. Bis der Augenblick gekommen war, etwas zu sagen, und Maria war selbst erstaunt, als sie sich sagen hörte:
»Ich verstehe nicht, warum ich Lust habe, diesen Sumpf zu betreten.«
»Tausend Franken.«
»Nein, das ist es nicht.«
Terence schien mit ihrer Antwort zufrieden zu sein.
»Ich habe mich das auch schon gefragt. Der Marquis de Sade sagte, daß die wichtigsten Erfahrungen des Menschen die seien, die ihn an seine Grenzen führen. Daß wir nur so lernen – weil es unseren ganzen Mut braucht. Wenn ein Chef seinen Angestellten demütigt oder ein Mann seine Frau demütigt, ist er entweder ein Feigling, oder er rächt sich für das, was das Leben ihm vorenthalten hat; er ist ein Mensch, der es nie gewagt hat, in sich hinein und in die Tiefe seiner Seele zu blicken; einer, der niemals wissen wollte, woher dieser Drang kommt, das Tier in sich loszulassen; einer, der nicht begreifen will, daß Sex, Schmerz und Liebe Grenzerfahrungen des Menschen sind.
Und nur wer diese Grenzen kennt, kennt das Leben; der Rest ist nur Zeitvertreib, Routine, Älterwerden und Sterben, wobei man nicht einmal weiß, was man hier auf Erden eigentlich gemacht hat.«
Wieder die Straße, wieder die Kälte, wieder der Wunsch, lange durch die Nacht zu gehen. Der Mann irrte sich, man brauchte seine Dämonen nicht zu kennen, um Gott zu finden. Maria begegnete einer Gruppe junger Leute, die aus einer Bar kamen; sie waren fröhlich, hatten etwas getrunken, waren schön, gesund, standen kurz vor dem Abschlußexamen und dem Beginn dessen, was sie >das wahre Leben< nannten: Arbeit, Hochzeit, Kinder, Fernsehen, Verbitterung, Alter, das Gefühl, viel verpaßt zu haben, Abhängigkeit von andern, Einsamkeit, Tod.
Was lief da ab? Auch Maria suchte Ruhe, um ihr »wahres Leben« zu leben. Die Zeit in der Schweiz und ein Gewerbe, in dem sie sich früher nie gesehen hätte, waren nur eine dieser schwierigen Lebensphasen gewesen, die alle Menschen früher oder später durchstehen müssen. In dieser schwierigen Phase ging sie ins >Copacabana<, ging für Geld mit Männern aus, spielte je nach Freier mal die naive Unschuld, mal die femme fatale, mal die zärtliche Mutter. Aber das war nur ihre Arbeit, die sie so professionell wie möglich (wegen der Trinkgelder) und (aus Angst, sich daran zu gewöhnen) so desinteressiert wie möglich machte. Neun Monate lang hatte sie alles unter ihrer Kontrolle gehabt, und jetzt, kurz bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte, entdeckte sie, daß sie imstande war, bedingungslos zu lieben und grund los zu leiden. Als hätte das Leben dieses krasse Mittel gewählt, um ihr etwas über ihre eigenen Mysterien, ihre Licht- und Schattenseiten beizubringen.
Aus Marias Tagebuch in derselben Nacht, in der sie Terence das erste Mal getroffen hatte:
Er hat de Sade erwähnt, von dem ich noch keine einzige Zeile gelesen, nur die üblichen Klischees zum Sadismus gehört habe: Wir erkennen uns nur, wenn wir an unsere Grenzen gelangen. Das ist richtig. Aber es ist auch falsch, weil man die Selbsterkenntnis auch nicht zu weit treiben sollte; der Mensch wurde nicht nur dazu geschaffen, seine Erkenntnisse zu mehren, sondern auch dazu, den Boden zu pflügen, auf den Regen zu warten, sein Getreide anzubauen, zu ernten und Brot zu backen.
Ich bin zwei Frauen: Die eine will die Freude, das Abenteuer, die Leidenschaft, welche das Leben ihr bieten kann, voll auskosten; die andere will Sklavin einer Routine, eines Familienlebens sein, all der Dinge, die geplant und erfüllt werden können. Ich bin Hausfrau und Hure zugleich, im selben Körper, und beide befinden sich in einem ständigen Kampf miteinander.
Die Begegnung einer Frau mit sich selbst ist ein Spiel mit ernsten Gefahren. Ein göttlicher Tanz. Wenn wir uns selbst finden, sind wir zwei göttliche Energien, zwei Universen, die aufeinandertreffen. Wenn in diesem Aufeinandertreffen die nötige gegenseitige Achtung fehlt, zerstört ein Universum das andere.
Maria war wieder in Ralf Harts Wohnzimmer, das Feuer brannte im Kamin, beide saßen auf dem Boden, tranken Wein, und die Erinnerung an die vergangene Nacht mit dem englischen Manager war nichts als ein Traum oder Alptraum – je nach Marias Stimmung. Jetzt suchte sie wieder nach dem Grund ihres Seins – oder vielmehr die völlige Hingabe, die keine Gegenleistung erwartet.
Sie war reifer geworden, während sie auf diesen Augenblick gewartet hatte. Sie hatte herausgefunden, daß die wirkliche Liebe, so wie sie sie sich vorgestellt hatte, nichts mit dieser durch die Liebesenergie hervorgerufenen Kettenreaktion von Ereignissen zu tun hatte: Zeit der Werbung, gegenseitige Versprechen, Heirat, Kinder, Warten, Küche, sonntags der Vergnügungspark, noch mehr Warten, gemeinsam alt werden, Ende der Warterei und statt dessen die Pensionierung des Ehemannes, Krankheiten, das Gefühl, daß man die Chance verpaßt hat, um gemeinsam seine Träume zu verwirklichen.
Sie schaute den Mann an, dem sich hinzugeben sie beschlossen hatte. Und dem sie niemals sagen wollte, was sie fühlte, weil es für ihre Gefühle noch keine Ausdrucksform gab, nicht einmal eine körperliche. Er wirkte entspannter, als hätte eine vielversprechende Phase seines Lebens begonnen. Er lächelte, erzählte von seiner kürzlichen Reise nach München, wo er sich mit einem wichtigen Museumsdirektor getroffen hatte.
»Er hat gefragt, ob das Bild der Gesichter Genfs fertig sei. Ich habe ihm gesagt, daß ich einer der Hauptfiguren begegnet sei und sie gern malen würde. Einer Frau voller Licht. Aber ich will nicht von mir reden. Ich möchte dich umarmen. Ich begehre dich.«
Begehren. Begehren? Begehren! Das war der Aus gangspunkt für diese Nacht, denn mit dem Begehren kannte sie sich aus.
Man konnte beispielsweise das Begehren wecken, indem man den Gegenstand der Begierde zurückhielt.
»Nun, dann begehre mich. Du sitzt in einem Meter Entfernung von mir, bist in einen Nachtclub gegangen, hast für meine Dienste bezahlt, weißt, daß du das Recht hast, mich zu berühren. Aber wage es nicht! Sieh mich an. Sieh mich an, und stell dir vor, daß ich vielleicht nicht will, daß du mich ansiehst. Stell dir vor, was meine Kleidung verhüllt.« Sie trug zur Arbeit immer schwarze Kleidung und verstand nicht, warum die anderen Mädchen im >Copacabana< aufreizende Dekolletes und schreiende Farben bevorzugten. Ihrer Meinung nach war für einen Mann eine Frau begehrenswert, der er ebensogut im Büro, im Zug oder im Haus der Freundin der Ehefrau hätte begegnen können.
Ralf sah sie an. Maria spürte, daß er sie mit den Blicken auszog, und ihr gefiel es, auf diese Weise begehrt zu werden ohne daß es einen Kontakt gab, wie in einem Restaurant oder in einer Warteschlange vor dem Kino.
»Wir befinden uns in einem Bahnhof«, fuhr Maria fort. »Ich warte mit dir auf den Zug. Du kennst mich nicht. Aber deine Blicke kreuzen sich zufällig mit meinen, und ich weiche ihnen nicht aus. Du kannst meinen Blick nicht deuten, denn obwohl du intelligent bist und fähig, das >Licht< der Menschen zu sehen, bist du zuwenig sensibel, um zu sehen, was dieses Licht beleuchtet.«
Sie schlüpfte in eine Rolle. Das Gesicht des englischen Managers, das sie am liebsten schnell wieder vergessen hätte, drängte sich ihr auf; er war da, leitete ihre Phantasie.
»Ich blicke dich fest an, und ich frage mich vielleicht: >Kenne ich ihn von irgendwoher?< Oder ich bin zerstreut. Oder ich habe Angst, du könntest mich unsympathisch finden. Vielleicht kennst du mich, und ich lasse dich kurz im Zweifel, ob ich dich auch kenne oder dich mit jemandem verwechselt habe.
Aber ich könnte auch einfach einen Mann treffen wollen. Oder ich bin auf der Flucht vor einer Liebe, die mich hat leiden lassen. Ich könnte mich an jemandem rächen wollen, der mich betrogen hat, und beschließen, mir am Bahnhof einen Wildfremden anzulachen. Oder ich könnte mir wünschen, nur für diese Nacht deine Hure zu sein, nur um Abwechslung in mein ödes Leben zu bringen. Und ich könnte soga r tatsächlich eine Frau sein, die auf den Strich geht.«
Maria schwieg. Ihre Gedanken wanderten zurück in das Hotel am Fluß, zu der Demütigung – >gelb<, >rot<, >Schmerz und viel Lust<. Das hatte ihre Seele in einer Art und Weise durcheinandergebracht, die ihr nicht gefiel.
Ralf bemerkte es und versuchte, sie wieder in den Bahnhof zurückzuholen. »Begehrst du mich bei dieser Begegnung auch?«
»Ich weiß es nicht. Wir reden nicht miteinander. Du weißt es auch nicht.«
Sie war erneut abgelenkt. Die Idee mit dem >Ro llenspiel< war jedenfalls sehr hilfreich; es ließ die wahre Person zutage treten, verscheuchte die vielen falschen Personen, die in ihr wohnten.
»Tatsache aber ist, daß ich meinen Blick nicht abwende, und du weißt nicht, was du machen sollst. Sollst du näher treten? Wirst du abgelehnt? Werde ich einen Aufsichtsbeamten rufen? Oder werde ich dich zu einer Tasse Kaffee einladen?«
»Ich komme gerade aus München zurück«, sagte Ralf Hart, und seine Stimme klang anders, fremd. »Ich habe vor, eine Reihe von Bildern über die verschiedenen Gesichter des Sex zu malen. Die vielen Masken, die die Menschen aufsetzen, um niemals die wahre Begegnung zu erleben.«
Er kannte sich mit Rollenspielen aus. Milan hatte gesagt, auch Ralf sei ein spezieller Freier. Die Alarmglocken schrillten, aber Maria brauchte Zeit, um nachzudenken.
»Der Museumsdirektor hat mich gefragt, was die Grundidee für mein Bild sei. Ich habe ihm geantwortet: >Frauen, die sich frei fühlen und ihr Geld mit Sex verdienen.< Er meinte: >Das geht nicht. Wir nennen solche Frauen Huren.< Ich entgegnete: >Richtig, es sind Prostituierte, ich werde die Geschichte der Prostitution studieren und sie intellektuell aufbereiten, aber so, daß es dem Bildungsstand der Museumsbesucher entspricht. Kunst kann das, wissen Sie. Schwerverdauliches ansprechend darbieten.<
Der Direktor beharrte: >Aber Sex ist doch kein Tabu mehr. Das Thema ist schon so häufig abgehandelt worden, daß es schwierig ist, etwas Neues zu machen.< Ich habe darauf geantwortet: >Wissen Sie überhaupt, woher das sexuelle Begehren kommt?< – >Vom Instinkt her<, sagte der Direktor. – >Ja, vom Instinkt, das weiß jeder. Aber ich will keine wissenschaftliche Ausstellung machen. Ich möchte thematisieren, wie sich die Menschen diese Anziehungskraft erklären: ein Philosoph beispielsweise.< Der Direktor bat mich, ihm ein Beispiel zu nennen. Ich habe ihm gesagt: >Wenn mich im Zug nach Hause eine Frau ansieht, werde ich mit ihr reden; ich werde zu ihr sagen, daß wir, da wir uns nicht kennen, die Freiheit haben, alles zu tun, wovon wir geträumt haben, unsere Phantasien auszuleben, und daß wir anschließend in unsere Wohnungen, zu unseren Ehepartnern zurückkehren und uns nie wieder sehen würden.< Und dann, am Bahnhof, sehe ich dich.«
»Deine Geschichte ist so spannend, daß das Begehren dabei verfliegt.«
Ralf lachte zustimmend. Der Wein war ausgetrunken, und der Maler ging in die Küche, um eine zweite Flasche zu holen. Maria blieb sitzen, blickte ins Feuer. Sie wußte, wie es weitergehen würde, genoß aber einstweilen die gemütliche Atmosphäre und vergaß den englischen Manager.
Ralf schenkte beide Gläser voll.
»Sag mal, wie würde diese Geschichte mit dem Direktor eigentlich ausgehen?«
»Da ich es mit einem Intellektuellen zu tun habe, würde ich Plato zitieren. Plato zufolge waren Männer und Frauen zu Beginn der Schöpfung nicht, was sie heute sind; es gab nur ein Wesen – klein, ein Körper, ein Hals und ein Kopf mit zwei Gesichtern, von denen jedes in eine andere Richtung blickte. So, als wären zwei Geschöpfe mit dem Rücken aneinandergeklebt, mit zwei verschiedenen Geschlechtern und mit vier Beinen und vier Armen.
Die Götter der alten Griechen aber waren eifersüchtig und erkannten, daß ein Geschöpf mit vier Armen mehr arbeiten konnte. Zudem hielten die beiden Gesichter ständig Wache, und daher konnte das Wesen nicht aus dem Hinterhalt angegriffen werden. Es verbrauchte weniger Energie, konnte mit vier Beinen länger laufen oder stehen. Und noch gefährlicher: Dieses Wesen war zweigeschlechtlich, es konnte sich also eigenständig fortpflanzen.
Da sagte Zeus, der oberste Gott im Olymp: >Ich habe einen Plan, um diesen Sterblichen die Kraft zu nehmen.<
Und mit einem Blitz spaltete er das Wesen in zwei Teile und schuf so Mann und Frau. Die Erdenbewohner verdoppelten sich dadurch auf einen Schlag, wurden aber gleichzeitig orientierungslos und schwach: nun mußten alle nach ihrem verlorenen anderen Teil suchen, ihn umarmen und in dieser Umarmung die alte Kraft wiedererlangen, die Fähigkeit zur Eintracht, die Zähigkeit, die es braucht, um lange Wege zurückzulegen und ermüdende Arbeit zu ertragen. Diese Umarmung, in der die beiden Körper wieder miteinander verschmelzen, nennen wir Sex.«
»Ist diese Geschichte wahr?«
»Nach Plato, ja.«
Maria sah ihn fasziniert an, und die Erlebnisse der vergangenen Nacht waren wie weggewischt.
Während er begeistert diese merkwürdige Geschichte erzählte, sah sie, wie der Mann, der vor ihr saß, von demselben Licht erfüllt war, das er in ihr gesehen hatte. Seine Augen glänzten nicht vor Begehren, sondern aus Freude.
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«
Ralf antwortete, sie dürfe ihn um alles bitten.
»Kannst du herausfinden, warum einige Menschen, nachdem die Götter jenes vierbeinige Wesen geteilt hatten, diese Umarmung, diese Verschmelzung als eine Sache, ein beliebiges Gewerbe ansahen – das ihnen keine Energie gab, sondern sie ihnen nahm?«
»Redest du von der Prostitution?«
»Genau. Kannst du herausfinden, ob der Sex anfangs etwas Heiliges war?«
»Wann immer du möchtest«, antwortete Ralf.
Maria hielt dem Druck nicht mehr stand.
»Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, daß Frauen, und vor allem auch Huren, fähig sind zu lieben?«
»Ja, der ist mir an dem Tag gekommen, als wir in dem Cafe in der Altstadt am Tisch saßen und ich dein Licht sah. Als ich dir einen Pastis spendierte, traf ich die Wahl, an alles zu glauben, auch an die Möglichkeit, daß du mich der Welt wiedergibst, die ich vor langer Zeit verlassen habe.«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Maria, die Meisterin, mußte ihr sofort zur Hilfe kommen, sonst würde sie ihn küssen, ihn umarmen, ihn anflehen, sie nie zu verlassen.
»Kehren wir zum Bahnhof zurück«, sagte sie. »Oder besser gesagt, zu dem Tag, an dem wir zum ersten Mal hier bei dir waren und du erkannt hast, daß ich existiere, und mir ein Geschenk gemacht hast. Es war ein erster Versuch, um dir Zutritt zu meiner Seele zu verschaffen, obwohl du nicht wußtest, ob ich dich hereinlassen würde. Aber darum geht es ja auch in deiner Geschichte: Die Menschen wurden getrennt und sind nun auf der Suche nach dieser Umarmung, die sie wieder vereint. Das ist unser Instinkt. Aber auch der Ansporn dafür, alle Hindernisse zu überwinden, die sich bei dieser Suche einstellen.
Ich möchte, daß du mich anschaust, aber so, daß ich es nicht merke. Das erste Begehren ist wichtig, weil es ein verstecktes, unerlaubtes Begehren ist. Du weißt nicht, ob du deinen verlorenen Teil vor dir hast. Er weiß es auch nicht, aber die gegenseitige Anziehungskraft besteht – man muß nur daran glauben.«
>Woher nehme ich das bloß?< fragte sie sich. >Ich hole das alles aus den Tiefen meines Herzens, weil ich wollte, es wäre immer so gewesen. Diese Träume gehören zu meinem eigenen Traum als Frau.<
Sie zog einen Träger ihres Kleides etwas herunter, so daß ihr Brustansatz sichtbar wurde.
»Du begehrst nicht, was du siehst, sondern, was du dir vorstellst.«
Ralf Hart sah eine Frau mit schwarzem Haar und ebenso schwarzen Kleidern, die auf dem Boden seines Salons saß und verrückte Wünsche hatte wie den, mitten im Sommer den Kamin anzuzünden. Ja, er wollte sich vorstellen, was diese Kleider verhüllten, er konnte die Größe ihrer Brüste sehen, wußte, daß sie den Büstenhalter, den sie trug und der wahrscheinlich in ihrem Beruf vorgeschrieben war, nicht brauchte. Ihre Brüste waren weder groß noch klein, sie waren jung. Ihr Blick verriet nichts. Was machte sie da? Warum gab er dieser gefährlichen, unmöglichen Beziehung Nahrung? Er hatte kein Problem, eine Frau zu bekommen. Er war reich, jung, berühmt, sah gut aus. Er liebte seine Arbeit, hatte die Frauen, die er geheiratet hatte, geliebt und war wiedergeliebt worden. Er war ein Mensch, der eigentlich hätte sagen müssen: >Ich bin glücklich.<
Aber er war es nicht. Während die meisten Menschen um ein Stück Brot kämpften, ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, die ihnen erlaubte, in Würde zu leben, hatte Ralf Hart all das im Überfluß und fühlte sich deswegen nur um so kläglicher. Rückblickend könnte er in den letzten Jahren vielleicht zwei oder drei Tage nennen, an denen er aufgewacht, die Sonne oder den Regen gesehen und glücklich gewesen war, am Leben zu sein – wunschlos glücklich, planlos glücklich. Von diesen wenigen Tagen abgesehen, war der Rest seines Lebens mit Träumen, Frustrationen und Erfolgen und dem Wunsch dahingegangen, sich selbst zu übertreffen, Reisen über die eigenen Grenzen hinaus zu machen. Er hatte das ganze Leben damit verbracht, etwas zu beweisen, nur wußte er nicht genau, wem.
Er sah die schöne Frau an, die in diskretes Schwarz gekleidet war und die er zufällig getroffen hatte, obwohl er sie schon zuvor in einem Nachtclub gesehen und festgestellt hatte, daß sie nicht dorthin paßte. Sie wollte, daß er sie begehrte, und er begehrte sie sehr, viel mehr, als sie sich vorstellen konnte – aber es waren nicht ihre Brüste oder ihr Körper; er begehrte ihre Gesellschaft. Er wollte sie im Arm halten, dabei schweigend ins Feuer blicken, Wein trinken, die eine oder andere Zigarette rauchen – mehr nicht. Das Leben bestand aus einfachen Dingen, er war es leid, all diese Jahre etwas gesucht zu haben, von dem er nicht wußte, was es war.
Allerdings, wenn er das tat, wenn er sie berührte, wäre alles verloren. Denn trotz des >Lichtes<, das er in Maria sehen konnte, wußte er, wie sehr er sie vermissen würde, wie gut es an ihrer Seite war. Zahlte er? Ja. Und er würde für die Zeit bezahlen, die nötig war, um sie zu erobern, sich mit ihr an den See zu setzen, ihr von Liebe zu sprechen und von ihr das gleiche zu hören. Es war besser, nichts zu riskieren, die Dinge nicht zu überstürzen, nichts zu sagen.
Ralf Hart hörte auf, sich zu quälen, und konzentrierte sich wieder auf das Spiel, das sie beide soeben erfunden hatten. Die Frau, die vor ihm saß, hatte recht: Der Wein, die Zigarette, ihre Gegenwart allein genügte nicht; es bedurfte einer anderen Art von Trunkenheit, einer anderen Art von Feuer.
Sie trug ein Trägerkleid, er konnte ihre Haut sehen, ihre halb entblößte Brust, die eher bräunlich als weiß schimmerte. Er begehrte sie. Er begehrte sie sehr.
Maria sah die Veränderung in Ralfs Augen. Sich begehrt zu fühlen erregte sie mehr als alles andere. Es hatte nichts mit dem Standardablauf zu tun – ich möchte mit dir Liebe machen, will heiraten, will, daß du einen Orgasmus hast, will ein Kind haben, will Verbindlichkeit. Nein, das Begehren war ein freies Gefühl, ein im Raum schwebender Wunsch, der das Leben erfüllte – und das reichte; dieser Wunsch trieb alles voran, brachte Berge zum Einstürzen… und ließ ihr Geschlecht feucht werden.
Der Wunsch hatte am Anfang von allem gestanden – ihr Land zu verlassen, eine neue Welt zu entdecken, Französisch zu lernen, ihre Vorurteile zu überwinden, von einer Farm zu träumen, bedingungslos zu lieben, sich allein wegen des Blickes eines Mannes als Frau zu fühlen. Mit kalkulierter Langsamkeit streifte sie den anderen Träger herab, und das Kleid glitt an ihrem Körper herunter. Dann hakte sie den Büstenhalter auf. Sie blieb so, mit nacktem Oberkörper sitzen, fragte sich, ob er sich auf sie stürzen, sie berühren, Liebesschwüre stammeln würde oder ob er sensibel genug war, um das eigene Begehren als die wahre sexuelle Lust zu empfinden.
Alles um sie herum versank, es gab keine Geräusche mehr, der Kamin, die Bilder, die Bücher verschwammen. An ihre Stelle trat eine Art Trance, in der nur das obskure Objekt der Begierde existierte und nichts sonst von Bedeutung war.
Der Mann rührte sich nicht. Anfangs spürte sie eine gewisse Schüchternheit in seinen Augen, aber die hielt nicht an. Er betrachtete sie, und in Gedanken liebkoste er sie mit der Zunge, machten sie Liebe, schwitzten sie, umarmten sie sich, vermischten Zärtlichkeit mit Heftigkeit, schrien sie und stöhnten sie gemeinsam.
In Wirklichkeit dagegen sagten sie nichts, keiner von beiden rührte sich, und das erregte Maria noch mehr, weil auch sie frei war zu denken, was sie wollte. Sie stellte sich vor, wie sie ihn bat, sie sanft zu berühren, spreizte die Beine, masturbierte vor ihm, stieß liebevolle und vulgäre Worte hervor, als seien sie ein und dasselbe, hatte mehrere Orgasmen, weckte die Nachbarn auf, weckte die ganze Welt auf mit ihren Schreien. Da war ihr Mann, der ihr Lust und Freude schenkte, mit dem sie sie selbst sein konnte, mit dem sie über ihre sexuellen Probleme reden und dem sie auch sagen konnte, wie gern sie für den Rest der Nacht, der Woche, den Rest ihres Lebens bei ihm bleiben würde.
Ihre Gesichter waren schweißnaß. Es war der Kamin, sagte einer im Geiste dem andern. Aber Mann wie Frau waren an ihre Grenzen gelangt, indem sie ihre ganze Vorstellungskraft ausgeschöpft und miteinander eine Ewigkeit schöner Augenblicke erlebt hatten. Sie mußten aufhören; ein Schritt weiter, und die Magie des Augenblicks würde von der Wirklichkeit zerstört werden.
Ganz langsam – denn das Ende ist immer schwieriger als der Anfang – hakte sie den Büstenhalter wieder zu, verhüllte ihre Brüste. Sie waren zurück in der Wirklichkeit. Die Dinge ringsum tauchten wieder auf, sie zog das Kleid hoch, das ihr bis zur Taille heruntergerutscht war, lächelte und berührte sanft sein Gesicht. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Wange, wußte auch nicht, wie lange er sie dort halten und wie kräftig er sie packen durfte.
Sie hätte ihm gern gesagt, daß sie ihn liebte. Aber das würde alles zerstören, es könnte ihn erschrecken oder noch schlimmer dazu führen, daß er ihr antwortete, daß er sie auch liebe. Maria wollte das nicht: Die Freiheit ihrer Liebe bestand darin, nichts zu erbitten und nichts zu erhoffen.
»Wer zu fühlen imstande ist, weiß, daß man Lust empfinden kann, noch bevor man den anderen berührt. Die Worte, die Blicke, alles enthält das Mysterium des Tanzes. Aber der Zug ist angekommen, jeder geht in seine Richtung. Ich hoffe, dich auf dieser Reise zu begleiten – wohin ging sie noch mal?«
»Zurück nach Genf«, war Ralfs Antwort.
»Wer genau hinschaut und den Menschen entdeckt, von dem er immer geträumt hat, der weiß, daß die sexuelle Energie noch vor der körperlichen Vereinigung da ist. Die größte Lust ist nicht der Sex, es ist die Leidenschaft, mit der dieser praktiziert wird. Wenn diese Leidenschaft von hoher Qualität ist, vollendet der Sex den Tanz, aber er ist niemals das Wichtigste.«
»Du redest über die Liebe wie eine Lehrerin.«
Maria fuhr fort, denn das war ihre Verteidigung, ihre Art, alles zu sagen, ohne sich selbst einzubringen:
»Liebende machen die ganze Zeit Liebe, selbst wenn sie gerade nicht miteinander schlafen. Wenn die Körper sich finden, ist das nur wie ein überlaufendes Glas. Liebende können stundenlang, tagelang beieinander sein. Sie können den Tanz an einem Tag beginnen und am nächsten beenden oder aus übergroßer Lust sogar überhaupt nicht wieder aufhören. Das hat nichts mit den elf Minuten zu tun.«
»Wie bitte?«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
»Verzeih. Ich weiß nicht, was ich sage.«
»Ich auch nicht.«
Sie stand auf, gab ihm einen Kuß und ging hinaus.
Aus Marias Tagebuch am nächsten Morgen:
Gestern nacht, als Ralf Hart mich ansah, hat er verstohlen eine Tür aufgestoßen wie ein Dieb; doch er hat mir nichts gestohlen; im Gegenteil, es blieb ein Duft nach Rosen zurück als hätte mich mein Liebster besucht und nicht ein Dieb.
Jeder Mensch hat seine eigenen Wünsche, sein eigenes Begehren. Sie sind Teil seines Schatzes. Sie können jemanden fernhalten, aber gemeinhin ziehen sie denjenigen, der wichtig ist, an. Meine Seele hat dieses Gefühl gewählt, und es ist so intensiv, daß es sich auf alle und alles um mich herum übertragen kann.
Jeden Tag wähle ich aufs neue die Wahrheit, mit der ich leben will. Ich versuche, praktisch zu sein, effizient, professionell. Aber wenn ich könnte, würde ich immer meine Wünsche und mein Begehren zu Gefährten wählen. Nicht aus Notwendigkeit und auch nicht, um nicht so einsam zu sein, sondern einfach nur, weil es mir guttut, weil es gut ist.
Im Durchschnitt waren sie achtunddreißig Frauen, die regelmäßig ins >Copacabana< kamen, aber Maria konnte nur eine, die Philippinin Nyah, annähernd als Freundin bezeichnen. Im allgemeinen blieben die Frauen zwischen sechs Monaten und drei Jahren da. Entweder wurden sie sofort weggeheiratet oder als feste Geliebte abgeworben, oder aber sie hatten keine Anziehungskraft mehr auf die Freier und wurden von Milan höflich gebeten, sich nach einem anderen Arbeitsplatz umzusehen.
Alle wußten, wie wichtig es war, die Kundschaft der anderen zu respektieren. Sich gegenseitig die Freier auszuspannen galt nicht nur als unehrenhaft, sondern konnte auch sehr gefährlich werden. Ein paar Tage zuvor hatte eine Kolumbianerin eine Rasierklinge aus der Tasche gezogen, sie auf das Glas einer Jugoslawin gelegt und seelenruhig gedroht, die Kollegin zu entstellen, wenn diese sich noch einmal unterstand, sich von einem ihrer Stammkunden, einem Bankdirektor, einladen zu lassen. Die Jugoslawin konterte, der Bankdirektor sei ein freier Mensch, sie könne nichts dafür, wenn er sie gewählt habe.
Am selben Abend kam der Mann herein, begrüßte die Kolumbianerin und ging dann zum Tisch der Jugoslawin. Er spendierte ihr einen Drink, und während er mit ihr tanzte, zwinkerte die Jugoslawin ihrer Rivalin zu – allzu provozierend, wie Maria fand –, als wollte sie sagen: >Siehst du? Er hat mich gewählt.<
Ein vielsagendes Zwinkern, das auch hieß: Er hat mich ausgesuc ht, weil ich hübscher bin, weil ich beim letzten Mal mit ihm mitgegangen bin und es ihm gefallen hat. Die Kolumbianerin sagte nichts. Als die Jugoslawin zwei Stunden später zurückkam, setzte die andere sich neben sie, holte seelenruhig die Rasierklinge aus der Tasche und fuhr der Rivalin mit der Klinge neben dem Ohr entlang. Der Schnitt war nicht tief, nicht gefährlich, aber doch so, daß eine kleine Narbe zurückblieb, die die andere immer an diese Nacht erinnern würde. Die beiden wurden handgreiflich, Blut spritzte, die Kunden verließen erschrocken das Lokal.
Als die Polizei kam und wissen wollte, was passiert war, sagte die Jugoslawin, sie habe sich an einem Glas geschnitten, das vom Regal heruntergefallen sei (im >Copacabana< gab es keine Regale). Das war das Gesetz des Schweigens oder die omertá, wie die italienischen Prostituierten sagten: Alles, was man in der Rue de Berne unter sich erledigen konnte, von der Liebe bis hin zum Tod, erledigte man unter sich, ohne die Hüter des Gesetzes. Man machte selbst das Gesetz.
Die Polizei wußte von der omertá, wußte, daß die Frau log, und ließ die Sache trotzdem auf sich beruhen. Milan dankte den Beamten für ihr schnelles Eingreifen, entschuldigte sich für das Mißverständnis und murmelte etwas von einer Intrige eines Konkurrenten.
Sobald sie draußen waren, zitierte Milan die beiden Mädchen zu sich und setzte sie vor die Tür. Das >Copacabana< sei ein anständiges Lokal (eine Behauptung, die Maria nicht ganz nachvollziehen konnte), das seinen guten Ruf wahren müsse (was Maria amüsierte) und in dem Handgreiflichkeiten schon aus Respekt vor der Kundschaft tabu seien. Das sei oberstes Gebot.
Zweites Gebot war das der totalen Diskretion, »wie bei einer Schweizer Bank«, sagte Milan, zumal die Kunden genauso handverlesen waren wie die Privatklientel einer Bank – sie verfügten über einen guten Leumund und ein ausgeglichenes Konto. Manchmal erschienen Kunden, die nicht hierherpaßten, und es war auch schon vorgekommen, daß Mädchen nicht bezahlt, angegriffen oder bedroht worden waren. Aber über die Jahre hatte Milan einen Blick dafür entwickelt, wen er hereinlassen durfte und wen nicht. Keine der Frauen wußte genau, wonach sich sein Maßstab richtete, aber es war mehrmals vorgekommen, daß er gutangezogene Herren aus einem halbleeren Lokal hinauskomplimentiert hatte mit der Begründung, alle Tische seien besetzt, was soviel hieß wie: Lassen Sie sich hier nicht mehr blicken! Andererseits hatte Milan auch unrasierte Leute in Sportkleidung spontan zu einem Glas Champagner eingeladen. Der Besitzer des >Copacabana< beurteilte die Menschen eben nicht nach dem Aussehen, und er täuschte sich selten.
Bei einer guten Geschäftsbeziehung müssen alle Beteiligten zufrieden sein. Die meisten Freier waren verheiratet, gutsituiert, erfolgreich. Auch einige Prostituierte waren verheiratet, hatten Kinder und gingen zu Elternabenden in die Schule. Nur wenn der Vater eines Mitschülers ihrer Kinder im >Copacabana< auftauchte, wurde es peinlich wenn auch nicht riskant, denn da die Situation für beide Seiten unangenehm war, schwiegen auch beide.
Unter den Kolleginnen gab es Kameradschaft, aber keine Freundschaft; niemand erzählte viel von sich, und wenn die eine oder andere doch einmal mehr aus sich herausging, konnte Maria ihren Äußerungen weder Bitterkeit noch Schuldgefühle oder Traurigkeit entnehmen – höchstens Resignation. Doch gleichzeitig hatten sie alle diesen seltsam herausfordernden, stolzen und zuversichtlichen Blick, als wollten sie es mit der ganzen Welt aufnehmen. Bereits nach einer Woche galt man als »Professionelle« und hatte sich an die Standesregeln zu halten: niemals eine Ehe in Gefahr bringen (eine Prostituierte darf keine Bedrohung für die Stabilität einer Ehe sein), niemals Einladungen zu Treffen außerhalb der Arbeitszeit annehmen, den Kunden zuhören, ohne eine eigene Meinung zu äußern, wenn der Orgasmus dran war, zu stöhnen, die Polizisten auf der Straße zu grüßen, die Arbeits-und Gesundheitspapiere immer auf dem neuesten Stand zu halten und last not least die eigene Tätigkeit nicht allzu sehr zu hinterfragen – sie waren, was sie waren, Punktum.
Maria galt bald als die Intellektuelle der Gruppe, weil sie sich abends, bevor der Betrieb losging, die Zeit mit Lesen vertrieb. Anfangs hatten ihr die Kolleginnen neugierig über die Schulter gesehen, in der Hoffnung auf eine süffige Liebesgeschichte, aber als sie merkten, um was für trockene und uninteressante Themen wie Wirtschaft, Psychologie und (seit kurzem) Führung landwirtschaftlicher Betriebe es sich handelte, ließen sie Maria bald in Ruhe, und diese konnte ungestört lesen und sich Notizen machen.
Bald hatte sie auch Milans Vertrauen gewonnen, denn sie erfreute sich eines großen, festen Kundenstamms und hatte immer Arbeit, selbst wenn einmal nicht viel los war. Dies trug ihr hinwiederum ein gewisses Ressentiment seitens ihrer Kolleginnen ein, welche die Brasilianerin ehrgeizig, arrogant und geldgierig fanden. Letzteres stritt sie auch nicht ab, doch verhielt es sich mit den anderen nicht genauso?
Abfällige Bemerkungen bringen einen nicht um, sie gehören zum Leben eines erfolgreichen Menschen nun mal dazu, und man gewöhnt sich lieber gleich daran. Maria hielt jedenfalls unbeirrt an ihren zwei Zielen fest: zum vorgesehenen Termin nach Brasilien zurückzukehren und eine Farm zu kaufen.
Sie war jetzt tage in, tagaus mit ihren Gedanken bei Ralf. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich, obwohl ihr Geliebter nicht bei ihr war und obwohl sie insgeheim bereute, ihm ihre Liebe gestanden und damit alles aufs Spiel gesetzt zu haben. Andererseits: Was riskierte sie schon, wenn sie keine Gegenleistung erwartete? Sie erinnerte sich, wie ihr Herz schneller geschlagen hatte, als Milan erwähnte, daß er ein spezieller Freier sei – oder gewesen sei. Was bedeutete das? Sie war eifersüchtig, fühlte sich hintergangen.
Eifersucht war normal, obwohl das Leben sie gelehrt hatte, daß es unsinnig ist, zu glauben, man könne jemand anderen besitzen – wer das glaubte, machte sich etwas vor. Dennoch sollte die Eifersucht weder unterdrückt noch überbewertet oder als Zeichen von Schwäche verurteilt werden.
Der liebt stärker, der seine Schwäche zeigen kann. Wenn meine Liebe wahrhaftig ist (und ich sie mir nicht nur einbilde), wird die Freiheit die Eifersucht besiegen und auch den damit verbundenen Schmerz – denn auch dieser Schmerz, ist ganz natürlich. Sportler wissen: Wer sein Ziel erreichen will, muß bereit sein, seine tägliche Dosis Schmerz oder Unbehagen zu ertragen. So unangenehm und demotivierend es anfangs sein mag, mit der Zeit begreift man es als Teil eines Prozesses, und wenn die Schmerzen eines Tages ausbleiben, haben wir Angst, daß das Training nicht mehr wirkt.
Die Gefahr liegt darin, den Schmerz zu fokussieren, ihm gar einen Namen zu geben, ihn nicht vergessen zu können; doch über dieses Stadium war Maria Gott sei Dank hinaus.
Dennoch überraschte sie sich dabei, wie sie überlegte, wo Ralf wohl steckte, warum er sie nicht besuchte, ob er diese Geschichte mit dem Bahnhof und dem unterdrückten Begehren dumm gefunden, ob sie ihn mit ihrer Liebeserklärung in die Flucht geschla gen hatte. Um zu verhindern, daß sich ihre schönen Gefühle ins Gegenteil verkehrten, entwickelte sie eine Methode:
Wann immer ihr etwas Positives in Zusammenhang mit Ralf Hart einfiel – das konnte das Kaminfeuer sein oder der Wein oder etwas, was sie gern mit ihm besprochen hätte, oder auch nur die angenehme Bangigkeit, nicht zu wissen, wann sie ihn wiedersehen würde –, hielt Maria mitten in ihrer Tätigkeit inne, lächelte und dankte dem Himmel dafür, daß sie am Leben war und keine Erwartungen an den Mann stellte, den sie liebte.
Wenn aber ihr Herz sich über seine Abwesenheit grämte oder darüber, was sie bei ihrem letzten Treffen Unsinniges gesagt haben mochte, dann redete sie sich gut zu.
>Na gut<, sagte sie zu ihrem Herzen, >denk, was du willst, während ich mich wichtigeren Dingen widme.<
Dann versenkte sie sich wieder in ihre Bücher oder achtete besonders genau auf ihre Umgebung – auf Farben, Menschen, Geräusche (vor allem auf das Geräusch ihrer eigenen Schritte), auf den Autolärm, auf das Rascheln beim Umblättern der Buchseiten, auf Gesprächsfetzen und dann verschwanden die negativen Gedanken wieder. Sie wiederholte den Trick so lange, bis die >negativen Gedanken< – weil Maria sie annahm und zugleich freundlich in die Schranken verwies – länger fernblieben.
Einer dieser negativen Gedanken war, daß sie Ralf womöglich nie wiedersehen würde. Mit ein wenig Übung und viel Geduld gelang es ihr, den negativen in einen positiven Gedanken zu verwandeln: Selbst wenn sie einmal nicht mehr hier lebte, würde Genf für immer mit dem Gesicht eines Mannes mit langem, altmodisch geschnittenem Haar, kindlichem Lächeln und tiefer Stimme verbunden bleiben. Und wenn dann jemand sie fragen würde, wie ihr die Stadt vorgekommen sei, die sie als junge Frau kennengelernt hatte, könnte sie sagen:
>Schön, imstande zu lieben und geliebt zu werden.<
Aus Marias Tagebuch, an einem Tag, an dem sie erst später ins >Copacabana< mußte:
Sex ist wie eine Droge, das merke ich immer deutlicher, und hat für die meisten Leute, mit denen ich hier zusammentreffe, eine ähnliche Funktion: Der Sex soll ihnen helfen, der Realität zu entfliehen, ihre Probleme zu vergessen, sich zu entspannen. Er ist auch genauso schädlich wie eine Droge.
Wenn jemand sich berauschen will, egal ob mit Sex oder etwas anderem, dann ist das seine Sache; mit guten oder weniger guten Konsequenzen, je nachdem. Aber wenn wir im Leben weiterkommen wollen, müssen wir lernen, zwischen gut und wirklich gut zu unterscheiden.
Anders als meine Kunden glauben, kann man Sex nicht zu beliebigen Zeiten praktizieren. Jeder hat dafür eine innere Uhr, deren Zeiger auf die innere Uhr seines Partners abgestimmt sein müssen. Das klappt nicht immer. Wer liebt, braucht den Sex nicht, um sich gut zu fühlen. Zwei Menschen, die sich liebhaben, müssen ihre Zeiger geduldig und beharrlich in vielfältigen Rollenspielen aufeinander abstimmen, bis sie begreifen, daß Liebe sehr viel mehr ist als eine Begegnung zweier Körper; es ist eine »Umarmung« von Körper und Seele zugleich.
Alles ist wichtig. Ein Mensch, der sein Leben intensiv lebt, genießt die ganze Zeit, auch ohne Sex. Und wenn er Sex hat, dann geschieht das aus dem Überfluß heraus. Wie bei einem Glas Wein, das so lange gefüllt wird, bis es irgendwann zwangsläufig überläuft. Genauso unausweichlich ist die körperliche Vereinigung, weil der Mensch in diesem Augenblick den Ruf des Lebens annimmt, weil er dann – und nur dann fähig ist, loszulassen, die Kontrolle aufzugeben.
PS: Habe gerade gelesen, was ich da geschrieben habe. Himmel, klingt das intellektuell!
Kurz nachdem sie dies geschrieben hatte und sich auf eine weitere Nacht als >zärtliche Mutter< oder >naive Unschuld< vorbereitete, ging die Tür des >Copacabana< auf, und Terence kam herein.
Milan hinter der Bar wirkte zufrieden: das Mädchen hatte seine Erwartungen nicht enttäuscht. Maria mußte sofort an Terence' Worte denken, die so rätselhaft auf sie gewirkt hatten: »Schmerz, Leid und viel Lust.«
»Ich bin extra aus London herübergeflogen, um dich zu sehen. Ich habe viel an dich gedacht.«
Sie lächelte, versucht e dabei, ihr Lächeln nicht ermutigend wirken zu lassen. Wieder hielt er sich nicht an das Ritual, lud sie weder zu einem Drink noch zum Tanzen ein, setzte sich einfach nur an ihren Tisch.
»Wenn ein Lehrer seiner Schülerin etwas Neues zeigt, entdeckt der Lehrer dabei auch etwas Neues.«
»Ich weiß, wovon du redest«, entgegnete Maria, die an Ralf Hart denken mußte und die bedauerte, daß nicht Ralf, sondern Terence dasaß und sie seine Wünsche respektieren und alles tun mußte, um ihn zufriedenzustellen.
»Willst du weitermachen?«
Tausend Franken. Ein verborgenes Universum. Ein Chef, der sie ansah. Die Gewißheit, daß sie aufhören könnte, wann sie wollte. Das festgelegte Datum ihrer Rückkehr nach Brasilien.
Ein anderer Mann, auf dessen Besuch sie vergebens wartete.
»Hast du's eilig?« fragte Maria.
Er verneinte. Was sie wolle?
»Ich möchte meinen Drink, meinen Tanz, Respekt.«
Er zögerte minutenlang, aber das gehörte zum Rollenspiel, zum Beherrschen und zum Beherrschtwerden. Er spendierte ihr einen Drink, tanzte mit ihr, ließ ein Taxi kommen, gab ihr unterwegs das Geld. Sie hielten vor demselben Hotel. Sie traten ein, er grüßte den italienischen Portier genauso wie in der Nacht, als sie sich kennengelernt hatten. Terence bewohnte auch wieder dieselbe Suite mit Blick auf den Fluß wie beim ersten Mal.
Terence nahm ein Feuerzeug, und erst da bemerkte Maria, daß Dutzende von Kerzen im Raum verteilt waren. Er begann sie anzuzünden.
»Was willst du wissen? Warum ich so bin? Warum du die Nacht offenbar großartig gefunden hast, die wir zusammen verbracht haben? Willst du wissen, ob du auch so bist?«
»Ein brasilianischer Aberglaube besagt, daß man nie mehr als drei Kerzen mit demselben Streichholz anzünden darf. Du hast dagegen verstoßen.«
Er überhörte die Bemerkung.
»Du bist wie ich. Du bist nicht wegen der tausend Franken hier, sondern aus einem Gefühl von Schuld, Abhängigkeit, mangelnder Selbstsicherheit heraus und wegen deiner Komplexe. Es ist weder gut noch schlecht, es liegt in der Natur des Menschen.«
Er nahm die Fernbedienung des Fernsehers, wechselte mehrmals den Kanal, bis er bei einer Nachrichtensendung stehenblieb, in der Flüchtlinge versuchten, einem Krieg zu entkommen.
»Siehst du das? Oder hast du auch schon diese anderen Programme gesehen, in denen Menschen ihre persönlichen Probleme vor aller Welt ausbreiten? Bist du schon mal zum Kiosk gegangen und hast die Schlagzeilen gelesen? Die Welt weidet sich am Leid und am Schmerz. Sadismus des Zuschauers und zugleich Masochismus, weil wir, obwohl wir nicht müssen, uns mit dem Leid der anderen konfrontieren und identifizieren.«
Er goß zwei Gläser Champagner ein, stellte den Fernseher ab und zündete, unbekümmert von Marias Aberglauben, noch mehr Kerzen an.
»Ich sage es noch einmal: Es liegt in der Natur des Menschen. Seit wir aus dem Paradies vertrieben worden sind, erfahren wir Leid oder sehen zu, wie andere leiden. Das läßt sich nun mal nicht ändern.«
Draußen donnerte es, ein heftiges Gewitter zog herauf.
»Ich bringe es einfach nicht fertig, mir vorzustellen, daß du mein Meister bist und ich deine Sklavin. Es kommt mir so lächerlich vor. Wir haben diese Rollenspiele nicht nötig, das Leben fügt uns schon genug Leid zu«, sagte Maria.
Terence hatte inzwischen alle Kerzen angezündet, nahm eine, stellte sie mitten auf den Tisch, brachte Kaviar, schenkte Champagner nach. Maria trank hastig, dachte an die tausend Franken, die schon in ihrer Tasche steckten, an das Unbekannte, das sie faszinierte und ihr gleichzeitig angst machte, überlegte, wie sie ihre Angst in den Griff bekommen könnte. Sie wußte, daß mit diesem Mann keine Nacht wie die andere sein würde, fürchtete sich aber nicht.
»Setz dich!«
Die Stimme war bald sanft, bald fordernd und herrisch. Maria gehorchte, und es überlief sie heiß; dieser Befehl war ihr vertraut, sie fühlte sich sicherer.
>Rollenspiel. Ich muß in die Rolle schlüpfen.<
Es tat gut, Befehle zu erhalten. Sie brauchte nicht nachzudenken, nur zu gehorchen. Sie bat um mehr Champagner, er brachte ihr Wodka; der stieg schneller zu Kopf, enthemmte rascher.
Er öffnete die Flasche, Maria trank praktisch allein, während es draußen blitzte und donnerte, als wollte auch der Himmel seine gewalttätige Seite zeigen.
Irgendwann holte Terence einen kleinen Koffer aus dem Schrank und stellte ihn aufs Bett.
»Beweg dich nicht!«
Maria rührte sich nicht. Er öffnete den Koffer und holte Lederriemen und ein Paar Handschellen aus verchromtem Metall heraus.
»Mach die Beine breit!«
Sie gehorchte. Wehrlos, unterwürfig, weil sie es so wollte. Sie merkte, daß er ihr zwischen die Beine schaute, ihren schwarzen Slip sehen konnte, den Strumpfhalter, die Strümpfe, die Schenkel, daß er sich ihre Scham, ihr Geschlecht vorstellte.
»Steh auf!«
Sie sprang auf. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu halten, sie merkte, daß sie betrunkener war, als sie erwartet hatte.
»Schau mich nicht an! Senk den Kopf, verneige dich vor deinem Meister!«
Noch bevor sie den Kopf senken konnte, nahm sie wahr, wie eine feine Peitsche aus dem Koffer geholt wurde und in der Luft knallte – als hätte sie ein Eigenleben.
»Trink. Halte den Kopf gesenkt, aber trink!«
Sie trank noch mehr Wodka. Das war kein Spiel, kein Theater mehr, sondern Realität: sie hatte nichts mehr im Griff. Sie fühlte sich als Objekt, als Werkzeug, und paradoxerweise gab ihr diese Unterwerfung ein Gefühl vollkommener Freiheit. Sie war nicht mehr die Meisterin, diejenige, die lehrt, tröstet, Bekenntnisse anhört, die Begehren erweckt; sie war nur noch das Mädchen aus der brasilianischen Provinz, das sich vor dem übermächtigen Mann verneigte.
»Zieh dich aus!«
Ein knapper Befehl, der kein Begehren ausdrückte und gerade deshalb erotisch wirkte. Den Kopf ehrerbietig auf die Brust gesenkt, knöpfte Maria ihr Kleid auf und ließ es zu Boden gleiten.
»Du machst alles verkehrt, hörst du?«
Wieder knallte die Peitsche in der Luft.
»Du mußt bestraft werden. Ein großes Mädchen wie du, wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen? Du solltest vor mir knien!«
Maria schickte sich an niederzuknien, aber die Peitsche unterbrach sie mitten in der Bewegung; zum ersten Mal berührte die Schnur ihr Fleisch – Gesäß. Es brannte, schien aber keine Spuren zu hinterlassen.
»Habe ich nicht gesagt, du sollst niederknien?«
»Nein.«
Wieder berührte die Peitsche ihr Gesäß.
»Sag >Nein, Meister!<«
Und noch ein Peitschenhieb. Diesmal brannte es heftiger. Sie konnte jederzeit aufhören; oder sich entscheiden, bis zum Ende zu gehen, nicht wegen des Geldes, sondern weil – wie Terence bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte – ein Mensch sich nur dann wirklich kennt, wenn er bis an seine Grenzen vorstößt.
Und dies hier war neu; das war ein Abenteuer; ob sie weitermachen wollte oder nicht, konnte sie immer noch entscheiden; in diesem Augenblick hörte sie auf, das Mädchen mit den drei Zielen im Leben zu sein, das Geld mit seinem Körper verdiente, das einen Mann kennengelernt und interessante Geschichten von ihm zu hören bekommen hatte. Hier war sie niemand – und da sie niemand war, war sie alles, was sie träumte.
»Zieh dich nackt aus! Und geh dazu auf und ab, damit ich dich sehen kann!«
Wieder gehorchte sie, hielt den Kopf gesenkt, schwieg. Der Mann, der sie ungerührt beobachtete, war vollständig bekleidet. Er war nicht mehr derselbe wie der, der sie im Nachtclub angesprochen hatte. Dieser Mann war ein Odysseus aus London, ein Theseus, der vom Himmel heruntergestiegen, ein Entführer, der in die sicherste Stadt der Welt und das verschlossenste Herz der Welt eingedrungen war. Sie zog Slip und BH aus, fühlte sich zugleich wehrlos und geborgen. Die Peitsche knallte wieder durch die Luft, berührte aber diesmal ihren Körper nicht.
»Halt den Kopf gesenkt! Du bist hier, um gedemütigt zu werden, um dich allem zu unterwerfen, was ich wünsche, verstanden?«
»Ja, Meister.«
Er packte ihre Arme, fesselte ihre Handgelenke. »Ich werde dich so lange züchtigen, bis du gelernt hast, dich zu benehmen.«
Er schlug sie auf die Hinterbacken, mit der Hand. Maria schrie auf. Diesmal hatte es weh getan.
»Ach, du beklagst dich, was? Na, du wirst schon noch erleben, was guttut.«
Noch bevor sie reagieren konnte, steckte ein lederner Knebel in ihrem Mund. Sie hätte noch reden, hätte noch >gelb< oder >rot< sagen können, aber sie spürte, daß sie diesen Mann alles mit ihr machen lassen und daß sie nicht heil davonkommen würde. Sie war nackt, geknebelt, trug Handschellen an den Handgelenken, und statt Blut floß Wodka in ihren Adern.
Noch ein Klaps auf die Hinterbacken. »Geh auf und ab!«
Maria setzte sich in Bewegung, gehorchte den Kommandos »halt«, »dreh dich nach rechts«, »setz dich«, »mach die Beine breit«. Hin und wieder erhielt sie unvermittelt einen K laps. Sie spürte den Schmerz, fühlte die Erniedrigung, die mächtiger und stärker war als der Schmerz, und wähnte sich in einer anderen Welt, in der nichts weiter existierte als Schmerz und Erniedrigung; und diese vollkommene Selbstaufgabe, der blinde Gehorsam, die Vorstellung, das Ich zu verlieren, keine Wünsche, keinen eigenen Willen mehr zu haben, mündeten in einem geradezu religiösen Gefühl. Sie war vollkommen naß, erregt, und verstand nicht, wieso. »Knie dich wieder hin!« Da sie zum Zeichen ihres Gehorsams und ihrer Demütigung den Kopf immer gesenkt hielt, konnte Maria nicht sehen, was um sie herum geschah. Doch sie hörte den Mann heftig atmen, als wäre er es müde, mit der Peitsche zu knallen und mit der Hand auf ihr Gesäß zu schlagen, während sie selbst sich immer kräftiger und voller Energie fühlte. Sie hatte jetzt jegliches Schamgefühl verloren. Es machte ihr nichts aus, zu zeigen, daß sie Gefallen daran fand. Sie begann zu stöhnen, wollte, daß er ihr Geschlecht berührte, aber der Mann packte sie statt dessen und warf sie aufs Bett.
Gewaltsam – aber mit einer Gewalt, von der sie wußte, daß sie ihr nichts anhaben konnte – schob er ihre Beine auseinander und band sie an den Bettpfosten fest. Sie lag da, geknebelt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, mit gespreizten Beinen.
Wann würde er in sie eindringen? Sah er nicht, daß sie bereit war, daß sie ihm dienen wollte, seine Sklavin, sein Tier, sein Objekt war, daß sie alles tun würde, was er verlangte?
»Soll ich dich fertigmachen?«
Sie spürte, wie er mit dem Griff der Peitsche ihr Geschlecht berührte. Er rieb damit von oben nach unten, und in dem Augenblick, als er ihre Klitoris berührte, verlor sie die Kontrolle. Plötzlich kam der Orgasmus, ein Orgasmus, wie ihn Dutzende, Hunderte von Männern in all den Monaten nicht hatten wecken können. Ein Licht explodierte, sie spürte, wie sie in eine Art schwarzes Loch in ihrer Seele fiel. Dort vermischte sich intensiver Schmerz mit intensiver Angst zu totaler Lust und trug sie über Grenzen hinaus, die sie nicht kannte. Maria stöhnte, schrie mit vom Knebel erstickter Stimme, wälzte sich auf dem Bett hin und her, spürte, wie die Handschellen in ihre Gelenke schnitten und die Lederriemen in ihre Fußgelenke, und gerade weil sie sich nicht bewegen konnte, bewegte sie sich wie nie zuvor. Weil sie einen Knebel im Mund hatte und niemand sie würde hören können, schrie sie, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Da waren Schmerz und Lust, der Peitschengriff, der immer stärker auf ihre Klitoris drückte. Und der Orgasmus drang aus ihrem Mund, aus dem Geschlecht, den Augen, aus allen Poren.
Sie verfiel in eine Art Trance, kam dann allmählich wieder zu sich: Es gab keine Peitsche mehr zwischen ihren Beinen, nur die vom reichlichen Schweiß nasse Scham, und zärtliche Hände nahmen ihr die Handschellen ab und lösten die Lederriemen von ihren Füßen.
Sie blieb liegen, verwirrt, außerstande, den Mann anzusehen, weil sie sich schämte, sich ihrer Schreie, ihres Orgasmus schämte. Terence strich ihr übers Haar und atmete ebenfalls schwer – aber die Lust war ganz allein ihr vorbehalten gewesen; er hatte keinerlei Ekstase erlebt.
Sie schmiegte sich an den vollkommen angekleideten Mann, der vom vielen Befehlen, Schreien, Kontrollieren ganz erschöpft war. Ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte, was sie jetzt machen sollte, aber sie fühlte sich sicher, geborgen: er hatte sie zu einem Teil ihrer selbst geführt, den sie nicht kannte, er war ihr Beschützer und ihr Meister.
Sie begann zu weinen, und er wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Was hast du mit mir gemacht?« fragte sie unter Tränen.
»Das, was du wolltest.«
Sie schaute ihn an und spürte, daß sie ihn verzweifelt brauchte.
»Ich habe dir keine Gewalt angetan, habe dich nicht gezwungen und habe dich nicht >gelb< sagen hören; meine Macht war nur die, die du mir gegeben hast. Es gab keinen Zwang, keine Erpressung, nur deinen Willen; obwohl du die Sklavin warst und ich der Meister, bestand meine Macht nur darin, dich in deine eigene Freiheit zu stoßen.«
Handschellen. Lederriemen an den Füßen. Knebel. Demütigung, die stärker und intensiver gewesen war als der Schmerz. Dennoch – und da hatte er recht – war sie vom Gefühl vollkommener Freiheit erfüllt gewesen. Maria fühlte sich voller Energie, Lebenskraft und war überrascht, daß der Mann so erschöpft war.
»Hattest du keinen Orgasmus?«
»Nein«, sagte er. »Die Aufgabe des Meisters ist, die Sklavin zu zwingen. In der Lust der Sklavin liegt die Freude des Meisters.«
All das war unverständlich, weil es nicht dem entsprach, was sie darüber gehört hatte, und es im realen Leben so etwas nicht gab. Aber dies hier war die Welt der Phantasie. Maria fühlte sich voller Licht, und Terence wirkte matt, erschöpft.
»Du kannst gehen, wann du willst«, sagte er. »Ich möchte nicht gehen, ich möchte verstehen.«
»Da gibt es nichts zu verstehen.« Sie erhob sich, schön und intensiv in ihrer Nacktheit, und schenkte Wein in zwei Gläser. Sie zündete zwei Zigaretten an und reichte ihm eine – die Rollen hatten sich vertauscht, sie war die Meisterin, die den Sklaven bediente, ihn für die Lust entschädigte, die er ihr gegeben hatte.
»Ich werde mich gleich anziehen und gehen. Aber vorher würde ich gern noch ein bißchen reden.«
»Da gibt es nichts zu reden. Das genau wollte ich, und du warst wunderbar. Ich bin müde, morgen früh muß ich zurück nach London.«
Er legte sich aufs Bett und schloß die Augen. Maria wußte nicht, ob er nur so tat, als ob er schliefe, aber das war ihr gleichgültig. Sie rauchte genüßlich ihre Zigarette, trank langsam ihren Wein aus und schaute dabei, die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, auf den Fluß und auf den See hinunter; sie wünschte sich, ein anderer Mann könnte sie jetzt so sehen nackt, erfüllt, befriedigt, selbstsicher.
Sie kleidete sich an, ging grußlos hinaus. Da sie sich nicht sicher war, ob sie wieder hierher zurückkommen wollte, kam es ihr nicht darauf an, daß Terence ihr die Tür öffnete.
Terence hörte die Tür zuschlagen, wartete aber noch eine Weile, um zu sehen, ob sie zurückkam, weil sie noch etwas vergessen hatte. Dann stand er auf und zü ndete sich eine Zigarette an.
Das Mädchen hatte Klasse, dachte er. Sie hatte die Peitsche großartig zu nehmen gewußt, die gewöhnlichste, älteste und gleichzeitig leichteste der körperlichen Züchtigungen. Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal diese geheimnisvolle Verbindung zweier Menschen erlebt hatte, die sich einander nähern wollen, denen dies aber nur gelingt, indem sie einander weh tun.
Dort draußen übten sich unbewußt Millionen Paare in der Kunst des Sadomasochismus. Sie gingen zur Arbeit und wieder heim, beschwerten sich über alles, wurden handgreiflich, fühlten sich elend – waren aber zutiefst an das eigene Unglück gebunden und wußten nicht, daß es nur einer Geste bedurfte, eines >Auf Nimmerwiedersehen<, um sich aus der Unterdrückung zu befreien. Terence hatte das bei seiner ersten Ehefrau erlebt, einer berühmten englischen Sängerin. Er war von Eifersucht zerfressen gewesen, hatte ihr ständig Szenen gemacht, hatte tagsüber unter Beruhigungsmitteln und nachts unter Alkohol gestanden. Sie liebte ihn, verstand nicht, warum er das tat. Er liebte sie verstand aber ebensowenig, warum er sich so verhielt. Doch das wechselseitige Leid, das sie einander zufügten, schien für ihr Leben ebenso notwendig wie wesentlich.
Einmal hatte ein Musiker, der ihm unter all den exzentrischen Menschen merkwürdig normal vorgekommen war, ein Buch im Studio vergessen. Die Venus im Pelz von Leopold von Sacher-Masoch. Terence hatte darin geblättert und dabei einiges über sich selbst erfahren:
»Die schöne Frau entkleidete sich und nahm eine lange Peitsche mit einem kleinen Griff, den sie sich am Handgelenk befestigte. >Du hast es so gewollt<, sagte sie, >also werde ich dich auspeitschen.< – >Tu es<, murmelte ihr Geliebter. >Ich flehe dich an.<«
Seine Frau befand sich auf der anderen Seite der Studioscheibe und probte. Sie hatte darum gebeten, das Mikrofon auszuschalten, das den Technikern erlaubte mitzuhören. Terence, der zwischen ihr und dem Pianisten eine Liaison vermutete, fiel es wie Schuppen von den Augen:
Seine Frau brachte ihn zum Wahnsinn, aber ihm war, als könne er ohne zu leiden nicht mehr leben, so sehr war es ihm schon zur Gewohnheit geworden.
»Ich werde dich auspeitschen«, sagte die nackte Frau in dem Roman, den er in der Hand hielt. »Tu es, ich flehe dich an«, murme lte ihr Geliebter.
Er sah gut aus, hatte Macht im Studio, warum mußte er so leben?
Weil es ihm gefiel. Es geschah ihm recht, daß er litt: das Leben war sehr gut zu ihm gewesen, und er hatte Geld, Achtung und Ruhm nicht verdient. Zudem glaubte er, daß er beruflich irgendwann an einen Punkt käme, an dem er vom Erfolg abhängig sein würde, und das erschreckte ihn, denn er hatte schon viele aus großer Höhe abstürzen sehen.
Er las das Buch ganz durch. Anschließend las er alles, was ihm über diese geheimnisvolle Verbindung zwischen Schmerz und Lust in die Hände fiel. Irgendwann entdeckte seine Frau die Videos, die er auslieh, die Bücher, die er versteckte, fragte, ob er krank sei. Terence sagte, es gehe ihm gut, dies sei nur Anschauungsmaterial für einen neuen Auftrag. Und ganz nebenbei machte er ihr den Vorschlag: »Vielleicht sollten wir das einmal ausprobieren.« Sie probierten es aus. Anfangs zaghaft, genau nach den Handbüchern, die sie in Pornoläden fanden. Allmählich entwickelten sie neue Techniken, riskierten mehr, gingen bis an ihre Grenzen – und konnten gleichzeitig spüren, wie ihre Ehe immer stabiler wurde. Sie waren Komplizen bei etwas Verborgenem, Verbotenem, Verdammtem.
Ihre Erfahrungen flossen in die Kunst ein: Sie kreierten ein spezielles Leder-Outfit mit Nieten. Seine Frau trat mit Peitsche, Strumpfhalter, Stiefeln auf und brachte das Publikum zum Rasen. Ihre neue Platte schaffte es auf den ersten Platz der englischen Hitparade und wurde in ganz Europa zu einem Riesenerfolg. Terence wunderte sich, wie selbstverständlich die Jugend seine persönlichen Phantasien aufnahm, und seine einzige Erklärung dafür war, daß sie darüber ihre latenten Wünsche nach Gewalt intensiv, aber harmlos ausleben konnten.
Die Peitsche wurde zum Markenzeichen der Band, tauchte auf T-Shirts, Aufklebern, Postkarten auf und als Tattoo. Weil er glaubte, sich dadurch besser selbst zu verstehen, machte Terence sich daran, den Ursprung dieser Phantasien zu studieren.
Am Anfang standen nicht, wie er Maria gegenüber behauptet hatte, die Flagellanten, die den schwarzen Tod abwenden wollten. Von Anbeginn der Zeit hatte der Mensch erkannt, daß Leiden, wenn es ohne Furcht angenommen wurde, zur Freiheit führen konnte.
Schon im alten Ägypten, in Rom und Persien wußten sie bereits, daß ein Mensch sein Land und die Welt rettet, wenn er sich opfert. In China wurde, wenn eine Naturkatastrophe hereinbrach, der Kaiser bestraft, weil er der Vertreter der Gottheit auf Erden war. Die besten Krieger Spartas im antiken Griechenland wurden einmal im Jahr von morgens bis abends zu Ehren der Göttin Artemis ausgepeitscht. Die Menge feuerte sie an, die Schmerzen mit Würde zu ertragen, denn sie bereiteten sie auf den Krieg vor. Am Ende des Tages untersuchten die Priester die Wunden auf dem Rücken der Krieger und lasen aus ihnen die Zukunft der Stadt.
Die Wüstenväter, eine alte christliche Klostergemeinschaft des vierten Jahrhunderts in Alexand ria, geißelten sich, um die Dämonen auszutreiben oder zu zeigen, wie nutzlos der Körper bei der spirituellen Suche war. Die Heiligenlegenden sind voll solcher Beispiele: So ging die heilige Rosa barfuß durch Dornengestrüpp, der heilige Dominik Loricatus geißelte sich regelmäßig vor dem Schlafengehen, die Märtyrer wählten freiwillig den qualvollen Tod am Kreuz oder in den Fängen wilder Tiere. Alle beteuerten, daß der Schmerz, wenn er erst einmal überwunden war, zur religiösen Ekstase führen könne. Jüngeren, unbestätigten Untersuchungen zufolge konnten sich in den Wunden bestimmte Pilze entwickeln und bei den Patienten Visionen hervo rrufen.
Die empfundene Lust schien so groß gewesen zu sein, daß Flagellation weltweit auch außerhalb der Klöster in Mode kam. 1718 wurde das Traktat über die Autoflagellation veröffentlicht, das lehrte, wie man durch Schmerz zu Lust kam, ohne daß dabei der Körper Schaden nahm. Schon zu Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Europa Hunderte von Orten, an denen Menschen sich geißelten, um Freude zu erfahren. Als Beleg gibt es Aufzeichnungen von Königen und Prinzessinnen, die sich von ihren Sklaven auspeitschen ließen, bis sie herausfanden, daß die Lust nicht nur darin bestand, geschlagen zu werden, sondern auch dann, Schmerz zuzufügen – obwohl es mühsamer und undankbarer war.
Während er seine Zigarette zu Ende rauchte, dachte Terence mit einer gewissen Genugtuung, daß wohl die wenigsten, wenn sie es nicht selbst erlebt hatten, dies je nachvollziehen könnten. Er gehörte einer Art verschworener Gemeinschaft an, zu der nur wenige Auserwählte Zutritt hatten. Aber es war vermutlich besser so. Er brauchte nur daran zu denken, wie aus seiner qualvollen Ehe eine wunderbare Ehe geworden war. Seine Frau wußte, warum er in Genf war. Sie hatte nichts dagegen – im Gegenteil. Sie freute sich, wenn ihr Mann nach einer harten Arbeitswoche die Belohnung erhielt, die er sich wünschte.
Das Mädchen, das gerade gegangen war, hatte alles verstanden. Er fühlte, daß seine Seele ihrer Seele nah war. Doch er war nicht bereit, sich zu verlieben, denn er liebte seine Frau. Aber ihm gefiel der Gedanke, daß er frei war, von einer neuen Beziehung zu träumen.
Er mußte sie nur noch das Schwierigste erleben lassen: sich in die Venus im Pelz zu verwandeln, in die Dominatrix, die Meisterin, die imstande war, erbarmungslos zu demütigen und zu züchtigen. Bestand sie auch diese Probe, so war er bereit, sein Herz zu öffnen und sie hereinzulassen.
Trunken von Wodka und von Lust notierte Maria in ihr Tagebuch:
Als ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich alles. Als ich aufhörte, die zu sein, die ich war, habe ich mich selbst gefunden.
Als ich die Demütigung und die totale Unterwerfung erfahren habe, war ich frei. Ich weiß nicht, ob ich krank bin oder ob alles nur ein Traum war oder nur einmal im Leben geschieht. Ich weiß nur, daß es für mich nicht lebensnotwendig ist, aber ich würde ihn gern noch einmal treffen, das Erlebnis wiederholen, noch weiter gehen, ah ich bisher gegangen bin.
Ich bin ein bißchen erschrocken, wie weh es tat, aber der Schmerz war weniger stark als die Demütigung – er war nur ein Vorwand. In dem Augenblick, in dem ich den ersten Orgasmus hatte – den keiner der vielen Männer in den letzten Monaten in mir erwecken konnte –, fühlte ich mich (paradoxerweise?) Gott näher. Ich erinnerte mich an das, was Terence über den schwarzen Tod gesagt hatte und über die Flagellanten, die ihren Schmerz zur Rettung der Menschheit darbrachten und darin Lust fanden. Ich selbst wollte weder die Menschheit noch ihn retten; ich war einfach nur dort.
Bei der körperlichen Liebe liegt die Kunst in der Kontrolle und im Kontrollverlust.
Diesmal war es kein Rollenspiel. Sie waren tatsächlich zum Bahnhof gegangen. Maria hatte Ralf darum gebeten, weil es dort ihre Lieblingspizza gab. Es konnte nicht schaden, etwas kapriziös zu sein. Ralf hätte einen Tag früher wieder auftauchen sollen, als sie noch eine Frau war, die die Liebe, ein Kaminfeuer, Wein und Begehren suchte. Aber das Leben hatte anders entschieden, und heute war sie schon deshalb den ganzen Tag ohne ihre Übung ausgekommen, sich auf die Geräusche und die Gegenwart zu konzentrieren, weil sie keinen Augenblick an Ralf gedacht und dafür Dinge herausgefunden hatte, die sie viel mehr interessierten.
Was sollte sie mit dem Mann anfangen, der neben ihr saß und eine Pizza verspeiste, die er vielleicht nicht einmal mochte, nur damit Maria ihn anschließend nach Hause begleitete? Als er in den Nachtclub kam und sie zu einem Drink einlud, hatte Maria mit dem Gedanken gespielt, ihm zu sagen, daß sie kein Interesse mehr habe, daß er sich jemand andern suchen solle; andererseits mußte sie unbedingt mit jemandem über die vergangene Nacht reden.
Sie hatte versucht, mit der einen oder anderen Kollegin ins Gespräch zu kommen, die auch >spezielle Freier< bediente, aber keine ließ sich dazu herab, denn die meisten empfanden die gewitzte Maria als potentielle Bedrohung. Von allen Männern, die sie kannte, würde vermutlich nur Ralf Hart sie verstehen, zumal er laut Milan auch ein >spezieller Freier< war. Aber nun blickte er sie mit vor Liebe leuchtenden Augen an, und das machte alles noch schwieriger. Vielleicht war es besser, gar nichts zu sagen. »Was weißt du über Schmerz, Leid und viel Lust?« Sie hatte sich mal wieder nicht beherrschen können.
Ralf sagte: »Ich weiß alles darüber. Aber es interessiert mich nicht.« Die Antwort war schnell gekommen, und Maria war schockiert. Wußten also alle etwas darüber, nur sie nicht? Großer Gott, was war das bloß für eine Welt?
»Ich habe meine Dämonen und meine Schattenseiten kennengelernt«, fuhr Ralf fort. »Ich bin bis zum Grund gegangen, habe alles ausprobiert, nicht nur in diesem Bereich, in vielen and eren Bereichen auch. Dennoch bin ich in der Nacht, in der wir uns zuletzt gesehen haben, über meine Grenzen des Begehrens – nicht des Schmerzes hinausgegangen. Ich bin in die Tiefe meiner Seele hinabgetaucht und weiß, daß ich noch viel vom Leben erwarte.« Er hätte am liebsten gesagt: »Und ein Teil davon bist du, bitte geh diesen Weg nicht weiter.« Aber er traute sich nicht. Statt dessen rief er ein Taxi und bat den Fahrer, sie an den See zu fahren, wo sie eine Ewigkeit zuvor, an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, spazierengegangen waren. Maria wunderte sich über die Bitte, sagte aber nichts, denn obwohl ihr Verstand noch benebelt war von den Ereignissen der vergangenen Nacht, spürte sie instinktiv, daß viel auf dem Spiel stand.
Erst unten an der Seepromenade erwachte sie aus ihrer Benommenheit. Es war noch Sommer, aber nachts schon empfindlich kalt.
»Was wollen wir hier?« fragte sie, als sie aus dem Taxi stiegen. »Der Wind ist frisch, ich werde mich erkälten.«
»Ich habe über das nachgedacht, was du am Bahnhof gesagt hast. Leid und Lust. Zieh deine Schuhe aus.«
Darum hatte sie schon einmal einer ihrer Freier gebeten und schon beim Anblick ihrer Füße eine Erektion bekommen. Sollte das Abenteuer sie nicht in Ruhe lassen?
»Ich werde mich erkälten.«
»Tu, was ich dir sage«, beharrte er. »Du wirst dich nicht erkälten, weil wir nicht lange bleiben werden. Vertrau mir, wie ich dir vertraue.«
Maria hätte es nicht begründen können, aber irgendwie spürte sie, daß er ihr helfen wollte; vielleicht, dachte sie, hatte er Dinge erlebt, die er ihr ersparen wollte. Aber Maria mochte sich nicht helfen lassen; sie war mit ihrer neuen Welt zufrieden, in der, wie sie herausgefunden hatte, der Schmerz kein Problem mehr war. Doch dann dachte sie an Brasilien, daran, daß es unmöglich sein würde, dort einen Partner zu finden, mit dem sie dieses neue Universum teilen könnte. Sie zog die Schuhe aus. Der Boden war mit spitzen Kieselsteinchen bedeckt, die ihre Strümpfe zerrissen – egal, sie konnte sich neue kaufen.
»Zieh die Jacke aus!«
Sie hätte nein sagen können, aber letzte Nacht hatte sie herausgefunden, welche Freude es bedeutete, zu allem ja zu sagen, was ihr begegnete. Sie zog die Jacke aus, ihr Körper war noch warm und reagierte nicht gleich, ließ sie erst nach und nach frösteln.
»Laß uns gehen. Und laß uns dabei miteinander reden.«
»Das geht nicht; der Boden ist zu steinig.«
»Gerade deswegen; ich möchte, daß du diese Steine spürst, möchte, daß sie dir weh tun, weil du offensichtlich – genauso wie ich – Schmerz in Verbindung mit Lust erlebt hast, eine Erfahrung, die ich dir aus der Seele reißen muß.« Maria hätte am liebsten gesagt: >Laß nur. Mir gefällt's.< Doch sie ging langsam, und die spitzen Steinchen brannten unter ihren kalten Fußsohlen.
»Eine meiner Ausstellungen hat mich genau zu dem Zeitpunkt nach Japan geführt, als ich in das verwickelt war, was du >Leid, Demütigung und viel Lust< genannt hast. Damals glaubte ich, es gebe keinen Weg zurück, daß ich nur immer tiefer hineingeraten und von meinem Leben nichts übrigbleiben würde außer dem Wunsch, zu züchtigen und gezüchtigt zu werden. Wir sind schließlich Menschen, wir entwickeln früh Schuldgefühle, haben Angst, wenn das Glück machbar wird, und haben den Drang, die anderen zu bestrafen, weil wir uns ständig ohnmächtig, ungerecht behandelt und unglücklich fühlen. Für seine Sünden bezahlen und die Sünder bestrafen können – ist das nicht köstlich? Ja, das ist wunderbar.«
Maria ging weiter, Schmerzen und Kälte machten es ihr schwer, genau auf seine Worte zu achten. »Du hast Spuren an den Handgelenken.« Die Handschellen. Sie hatte mehrere Armbänder angelegt, um die Spuren zu verbergen. Doch was man kennt, sieht man.
»Nun, wenn alles, was du in deinem Leben erlebt hast, dich zu diesem Schritt bewogen hat, bin ich der letzte, der dich daran hindern will; aber er hat nichts mit dem wahren Leben zu tun…«
»Welcher Schritt?«
»Schmerz und Lust. Sadismus und Masochismus. Nenne es, wie du willst. Aber wenn du überzeugt bist, daß dies dein Weg ist, werde ich leiden, mich an das Begehren erinnern, an unsere Begegnungen, an den Spaziergang auf dem Jakobsweg, an dein Licht. Ich werde deinen Kugelschreiber in Ehren halten, und jedesmal, wenn ich den Kamin anzünde, werde ich mich an dich erinnern. Aber ich werde dich nicht mehr besuchen.«
Maria bekam Angst, fand, daß der Augenblick gekommen war, einen Rückzieher zu machen, die Wahrheit zu sagen, aufzuhören, so zu tun, als wisse sie mehr als er.
»Was ich vor kurzem, oder vielmehr gestern, erlebt habe, hatte ich bisher noch nie erlebt. Und es erschreckt mich, daß ich an der äußersten Grenze der Entwürdigung mich selbst gefunden habe.«
Ihre Zähne klapperten, ob vor Schmerz oder vor Kälte, vermochte sie nicht zu sagen, und ihre Füße brannten höllisch.
»Zu meiner Ausstellung in einer Region namens Kumano kam ein Holzfäller«, fuhr Ralf unbeirrt fort. »Ihm gefielen meine Bilder nicht, aber er konnte sie deuten und begriff, was ich erlebte und fühlte. Am nächsten Tag kam er zu mir ins Hotel und fragte, ob ich zufrieden sei; wenn ja, könnte ich ruhig so weitermachen. Sonst würde er mich einladen, ihn ein paar Tage zu begleiten. Er hat mich auf Steinen gehen lassen, so wie ich dich. Er hat mich Kälte spüren lassen. Hat mich dazu gebracht, die Schönheit des Schmerzes zu begreifen, nur daß dies ein von der Natur und nicht vom Menschen verursachter Schmerz war. Er sagte, es sei eine Übung des Shugendo, einer jahrhundertealten Religion.
Er sagte auch, daß er den Schmerz nicht fürchte. Um seine Seele zu beherrschen, müsse man auch seinen Körper beherrschen lernen. Und er sagte mir, daß ich den Schmerz falsch benutze und dies sehr schädlich sei. Dieser ungebildete Holzfäller glaubte mich besser zu kennen als ich mich selbst, und das ärgerte mich. Zugleich aber machte es mich stolz, zu sehen, daß meine Bilder so genau ausdrückten, was ich fühlte.«
Maria spürte, wie sich ein ganz besonders spitzer Stein in ihre Fußsohle bohrte, aber die Kälte war stärker als der Schmerz, ihre klammen Glieder waren gefühllos, und sie vermochte Ralfs Worten nicht recht zu folgen. Warum wollten die Männer in Gottes schöner Welt ihr bloß immer nur den Schmerz zeigen? Den heiligen Schmerz, den lustvollen Schmerz, den Schmerz mit oder ohne Erklärungen, immer nur Schmerz, Schmerz, Schmerz…
Sie stieß mit dem verletzten Fuß an einen anderen Stein; sie unterdrückte einen Schrei und ging weiter. Anfangs hatte sie versucht, ihre Selbstbeherrschung, ihre Integrität, all das zu bewahren, was er >Licht< nannte. Aber jetzt bewegte sie sich langsam, während ihre Gedanken im Kreis gingen, so daß ihr davon ganz übel wurde. Sie war drauf und dran stehenzubleiben, nichts davon ergab einen Sinn, und dennoch blieb sie nicht stehen.
Sie blieb aus Selbstachtung nicht stehen; sie hätte so lange weiter barfuß gehen können, wie es notwendig war, es würde nicht ein ganzes Leben lang dauern. Und plötzlich dachte sie: Was ist, wenn ich morgen nicht im >Copacabana< erscheine, wegen einer ernsthaften Fußverletzung oder Grippe und Fieber, weil ich nicht warm genug angezogen war? Sie dachte an die Freier, die auf sie warteten, an Milan, der ihr so sehr vertraute, an das Geld, das sie nicht verdienen würde, an die Farm, an ihre Eltern, die so stolz auf sie waren. Aber vor Schmerz konnte sie nicht weiter nachdenken, und so setzte sie nur brav einen Fuß vor den anderen und wünschte sich sehnlich, Ralf möge endlich ihre Mühen anerkennen und ihr sagen, es sei genug, sie könne ihre Schuhe wieder anziehen.
Doch Ralf wirkte unbeteiligt, weit weg, als könne er sie nur so von der Versuchung befreien, die am Ende tiefere Spuren hinterlassen würde als die Handschellen. Obwohl sie wußte, daß er ihr helfen wollte, und obwohl sie sich bemühte, weiterzugehen und ihm das Licht ihrer Willenskraft zu zeigen, ließ der Schmerz weder profane noch edle Gedanken zu – er war nur Schmerz, nahm allen Raum ein, machte ihr angst und zwang sie, ihre Grenzen wahrzunehmen.
Doch sie tat einen Schritt vorwärts. Und noch einen.
Der Schmerz nahm jetzt ihre Seele in Besitz und schwächte sie, denn es ist eine Sache, in einem Fünfsternehotel nackt, mit Wodka, Kaviar und einer Peitsche zwischen den Beinen etwas Theater zu machen, aber etwas ganz anderes war es, barfuß durch die Kälte über spitze Steine zu gehen. Maria fühlte sich verloren, brachte kein Wort heraus. Ihre Welt bestand nur noch aus kleinen spitzen Steinen, die den Weg zwischen den Bäumen markierten.
Doch in dem Augenblick, als sie aufgeben wollte, erfüllte sie ein merkwürdiges Gefühl: Sie war an ihre Grenzen gelangt, und dahinter lag ein leerer Raum, in dem sie über sich zu schweben schien und nichts mehr spürte. War dies das Gefühl, das die Büßer empfanden? Am anderen Ende des Schmerzes entdeckte sie eine Tür zu einer neuen Bewußtseinsebene, in der es nur noch unerbittlich waltende Natur gab – und sie selbst, die unbesiegbar voranschritt. Alles um sie herum verschwamm zu einem Traum: der schlechtbeleuchtete Park, der dunkle See, der schweigende Mann, das eine oder andere Pärchen, das achtlos an ihnen vorbeiging und nicht merkte, daß Maria auf bloßen Füßen mühsam dahinhumpelte. War es die Kälte oder der Schmerz? Plötzlich spürte sie ihren Körper nicht mehr, gelangte in einen Zustand, in dem es weder Wünsche noch Angst gab, nur einen – wie sollte sie es nennen? – geheimnisvollen >Frieden<. Die Schmerz-Grenze war nicht ihre Grenze; sie konnte sie überschreiten.
Sie dachte an alle Menschen, die unfreiwillig litten, und da war sie, die sich willentlich Schmerz zufügte – aber das war ihr nicht mehr wichtig, sie hatte die Barriere des Körpers durchbrochen, und jetzt blieb ihr nur noch die Seele, das >Licht<, eine Art Leere – die jemand einst das Paradies genannt hatte. Es gibt gewisse Arten von Schmerz, die man nur vergessen kann, wenn man über sich schwebt.
Als nächstes konnte sie sich nur daran erinnern, daß Ralf sie in den Arm nahm, sein Jackett auszog und es ihr über die Schultern legte. Sie mußte in Ohnmacht gefallen sein; doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war zufrieden, hatte keine Angst mehr – hatte gesiegt. Sie hatte sich vor diesem Mann nicht erniedrigt.
Die Minuten wurden zu Stunden, sie mußte in seinen Armen eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war es noch dunkel, und sie befand sich in einem Zimmer mit einem Fernsehapparat in einer Ecke und sonst gar nichts. Weiß, leer.
Ralf kam mit einer heißen Schokolade.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Du bist da angekommen, wo du hinkommen wolltest.«
»Ich möchte keine Schokolade, ich möchte Wein. Und ich möchte zu unserem Platz vor dem Kamin, zu den überall verstreuten Büchern.«
Unwillkürlich hatte sie >unser Platz< gesagt. Sie sah auf ihre Füße: Außer einer kleinen Schramme hatte sie nur rote Druckstellen, die in wenigen Stunden nicht mehr zu sehen wären. Mühsam stieg sie die Treppe hinunter; sie ging in ihre Ecke, zum Teppich vor dem Kamin – und stellte fest, wie wohl sie sich dort fühlte, als wäre es ihr angestammter Platz hier im Haus.
»Dieser Holzfäller hat mir gesagt, daß, wenn man seinem Körper das Äußerste abverlangt, der Geist dann eine merkwürdige spirituelle Kraft entwickelt, die mit dem >Licht< zu tun hat, das ich in dir gesehen habe. Was hast du gefühlt?«
»Daß der Schmerz der Freund der Frauen ist.«
»Darin liegt die Gefahr.«
»Daß der Schmerz eine Grenze hat.«
»Darin liegt die Rettung. Vergiß das nicht.«
Maria war verwirrt; sie hatte jenen >Frieden< erlebt, als sie über ihre Grenzen hinausgegangen war. Er hatte ihr eine andere Art Schmerz gezeigt, der ihr eine eigenartige Lust bereitet hatte.
Ralf holte eine große Mappe hervor und öffnete sie. Sie enthielt Zeichnungen.
»Die Geschichte der Prostitution. Du hast mich darum gebeten, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Ja, sie hatte ihn darum gebeten, aber nur so, um sich interessant zu machen. Jetzt war das vollkommen unwichtig.
»Die Beschäftigung mit diesem Thema war wie eine Reise über unbekannte Meere. Daß es das älteste Gewerbe der Welt ist, wie man so sagt, wußte ich. Aber über seine Geschichte wußte ich so gut wie nichts. Beziehungsweise über seine doppelte Geschichte.«
»Und diese Zeichnungen?«
Ralf Hart wirkte enttäuscht, weil sie ihn nicht verstand. Er beherrschte sich aber und fuhr fort: »Das sind Skizzen, die ich gemacht habe, während ich las, forschte und lernte.«
»Laß uns ein andermal darüber reden; heute möchte ich bei dem einen Thema bleiben. Ich muß den Schmerz begreifen.«
»Du hast ihn gestern gespürt und herausgefunden, daß er zur Lust führt. Du hast ihn heute gespürt und den Frieden gefunden. Ich will dir nur sagen: Gewöhne dich nicht daran, denn er ist eine starke Droge. Er findet sich in unserem Alltag, im verborgenen Leiden, im Verzicht, den wir leisten. Und wir geben dann der Liebe Schuld am Scheitern unserer Träume. Der Schmerz erschreckt, wenn er sein wahres Gesicht zeigt, aber er ist verführerisch, wenn er als Opfer, als Verzicht erscheint. Oder als Feigheit. Sosehr der Mensch den Schmerz auch ablehnt, so sehr liebt er ihn auch, macht er ihn zu einem Teil seines Lebens.«
»Das glaube ich nicht. Niemand leidet gern.«
»Wenn du begreifst, daß du, ohne zu leiden, leben kannst, dann ist damit ein großer Schritt getan – aber glaube ja nicht, daß jemand anders dich verstehen wird. Nein, niemand leidet gern, und dennoch suchen alle den Schmerz, das Opfer, und fühlen sich dadurch gerechtfertigt, fühlen sich rein, glauben, sich damit die Anerkennung ihrer Kinder, Ehemänner und Ehefrauen, Nachbarn und auch von Gott zu verdienen. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber nachdenken, du mußt nur wissen, daß das, was die Welt bewegt, nicht die Suche nach der Lust ist, sondern der Verzicht auf alles, was wichtig ist.
Zieht der Soldat in den Krieg, um den Feind zu töten? Nein: Er wird für sein Land sterben. Zeigt die Frau ihrem Mann gern, daß sie zufrieden ist? Nein: Sie möchte, daß er sieht, wie sie sich für ihn abplagt, um ihn glücklich zu machen. Geht der Mann zur Arbeit, weil er glaubt, sich darin selbst zu verwirklichen? Nein: Er rackert sich ab für seine Familie. Und so weiter: Kinder, die auf ihre Träume verzichten, um den Eltern eine Freude zu machen, Eltern, die auf ihr Leben verzichten, um den Kindern eine Freude zu machen – Schmerz und Leid werden so zu Beweisen für etwas, was allein Freude bringen sollte: Liebe.«
»Hör auf!«
Ralf schwieg. Der Augenblick war gekommen, das Thema zu wechseln, und er holte die Zeichnungen eine nach der anderen hervor. Anfangs wirkte alles verwirrend auf sie, es gab Umrisse von Menschen – aber auch Kritzeleien, Farben, nervöse oder geometrische Linien. Allmählich begann sie jedoch zu verstehen, was er meinte, weil er jedes seiner Worte mit einer Handbewegung unterstrich und mit jedem Satz tiefer in eine Welt führte, zu der zu gehören sie sich bisher strikt geweige rt hatte – indem sie sich einredete, daß alles nur eine vorübergehende Phase ihres Lebens sei, ein Weg, Geld zu verdienen, und weiter nichts.
»Nun, ich habe herausgefunden, daß es nicht nur eine, sondern zwei Geschichten der Prostitution gibt. Eine kennst du selbst sehr gut, weil es auch deine ist: Ein hübsches Mädchen macht die Erfahrung, daß sie davon leben kann, wenn sie ihren Körper verkauft. Einige von ihnen beherrschen am Ende ganze Nationen, wie Messalina Rom; andere werden zur Legende, wie Madame du Barry, für andere endet das Abenteuer tragisch, wie bei der Spionin Mata Hari. Doch die meisten riskieren nichts, sind deshalb auch nicht erfolgreich, sondern nichts weiter als junge Mädchen aus der Provinz, die ausgezogen sind, Ruhm, einen Ehemann und Abenteuer zu suchen, und am Ende eine andere Wirklichkeit kennenlernen, eine Zeitlang darin eintauchen, sich daran gewöhnen. Sie glauben, immer alles im Griff zu haben, aber letztlich gibt's für sie kein Zurück mehr. Seit mehr als dreitausend Jahren schaffen Künstler ihre Skulpturen, ihre Bilder, schreiben sie ihre Bücher. Und auch die Huren üben ihr Gewerbe seit Menschengedenken aus. Es scheint sich nicht viel verändert zu haben. Möchtest du Genaueres erfahren?«
Maria nickte. Sie mußte Zeit gewinnen, den Schmerz begreifen. Sie ahnte, daß etwas sehr Schlimmes ihren Körper verlassen hatte, als sie durch den Park gegangen war.
»Huren kommen schon in den Texten des klassischen Altertums vor, die alten Ägypter schrieben von ihnen in Hieroglyphen, und auch in sumerischen Schriftstücken und im Alten und Neuen Testament wird von ihnen berichtet. Aber als Gewerbe institutionalisiert und legalisiert wird die Prostitution erst im sechsten Jahrhundert vor Christus, als der Gesetzgeber Solon in Griechenland staatlich kontrollierte Bordelle einrichtet und eine Steuer auf >den Handel mit Fleisch< erhebt. Sehr zur Freude der Athener Geschäftsleute. Die Huren wurden ihrerseits anhand der Steuern klassifiziert, die sie zahlten.
Die billigste – eine Sklavin, die den Bordellbesitzern gehörte wurde pornai genannt. Die nächsthöhere Stufe war die peripatetica, die ihre Kunden auf der Straße suchte. Auf dem höchsten Preis- und Qualitätsniveau befand sich die hetaera, die >weibliche Begleitung<, die über eigenes Geld verfügte, Geschäftsleute auf deren Reisen begleitete, Ratschläge erteilte, ins politische Leben der Stadt eingriff. Im Mittelalter wurde wegen der ansteckenden Geschlechtskrankheiten…«
Stille, Angst vor Grippe und dazu die Hitze, die der Kamin abstrahlte und die sie jetzt brauchte, um Körper und Seele aufzuwärmen. Maria wollte diese Geschichte nicht weiterhören sie vermittelte ihr das Gefühl, daß die Welt stehengeblieben war, daß alles sich wiederholte, daß der Mensch niemals in der Lage sein würde, dem Sex den verdienten Respekt entgegenzubringen.
Aus Marias Tagebuch in der Nacht, in der sie barfuß durch den Jardin Anglais in Genf gegangen war:
Mich interessiert nicht, ob das, was ich tue, einmal heilig war oder nicht. ICH HASSE,WAS ICH TUE. Es zerstört meine Seele, läßt mich den Kontakt zu mir selbst verlieren, zeigt mir, daß Schmerz eine Entschädigung ist, Geld alles kauft, alles rechtfertigt.
Niemand, den ich kenne, ist glücklich; die Freier wissen, daß sie für das, was sie eigentlich gratis bekommen sollten, bezahlen müssen, und das ist deprimierend. Die Prostituierten wissen, daß sie das verkaufen müssen, was sie lieber nur aus Lust und Zärtlichkeit geben möchten, und das ist zerstörerisch. Ich habe schwer mit mir gekämpft, bevor ich niedergeschrieben und akzeptiert habe, daß ich unglücklich bin, unzufrieden – ich muß noch ein paar Wochen durchhalten.
Dennoch kann ich nicht einfach schweigen und so tun, als wäre alles normal, nur eine vorübergehende Phase in meinem Leben. Ich möchte sie vergessen, ich muß lieben nur das, ich muß lieben.
Das Leben ist zu kurz – oder zu lang, als daß ich mir erlauben könnte, es so zu vertun.
Das ist nicht sein Haus. Es ist auch nicht ihr Haus. Es ist weder Brasilien noch die Schweiz, sondern ein Hotel – das irgendwo auf der Welt sein könnte und dessen pseudofamiliäres Ambiente doppelt kühl wirkt.
Es ist nicht das Hotel mit dem schönen Blick auf den Fluß, mit der Erinnerung an den Schmerz, die Ekstase; die Fenster dieses Hotels gehen auf den Jakobsweg, einen Weg für Pilger statt Büßer, einen Ort, wo die Menschen einander in den Straßencafes begegnen, das >Licht< entdecken, miteinander reden, sich anfreunden, sich verlieben. Es regnet, und um diese Nachtzeit liegt der Jakobsweg wie ausgestorben da – vielleicht muß der Weg sich ein wenig vo n den vielen Füßen erholen, die seit Jahrhunderten tagtäglich auf ihm entlanggegangen sind.
Das Licht ausmachen. Die Gardinen zuziehen.
Bitten, er möge sich ausziehen. Sie zieht sich auch aus. Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann sie im matten Lichtschein, der von draußen hereinfällt, die Umrisse des Mannes erkennen. Bei ihrem letzten Treffen hatte nur sie einen Teil ihres Körpers entblößt.
Zwei sorgfältig gefaltete Seidentücher hervorholen, aus denen alle Parfüm- und Seifenrückständ e herausgespült worden sind. Ihn bitten, sich die Augen zu verbinden. Er zögert, macht eine Bemerkung über die verschiedenen Höllen, durch die er bereits gegangen ist. Sie sagt, es sei keine Hölle und sie brauche vollständige Dunkelheit, denn jetzt sei sie an der Reihe, ihm etwas beizubringen. Er läßt es mit sich geschehen, legt die Augenbinde an. Sie tut es ihm nach; jetzt ist es stockfinster. Sie fassen sich bei den Händen, um zum Bett zu gelangen.
>Nein, wir dürfen uns nicht hinlegen. Wir werden uns hinsetzen, einander gegenüber, nur etwas näher beieinander als beim ersten Mal, so daß meine Knie deine Knie berühren.<
Sie hatte das schon immer einmal machen wollen, aber nie genügend Zeit dafür gehabt. Weder mit ihrem ersten Freund noch mit dem Mann, mit dem sie zum ersten Mal geschlafen hatte. Auch nicht mit dem Araber, der für die tausend Franken, die er bezahlt hatte, vielleicht mehr erwartet hatte, als sie geben konnte. Und auch nicht mit den vielen Männern, die sich bei ihr abwechselten und die manchmal aus einem animalischen Trieb, manchmal aus einem Wiederholungszwang oder Männlichkeitswahn mit ihr schliefen und die sie manchmal kaum beachtet hatte, trotz der romantischen Anwandlungen, die manche von ihnen an den Tag legten.
Sie denkt an ihr Tagebuch. Sie hat genug von alledem. Sie weiß, daß sie in wenigen Wochen abreisen wird, und deshalb gibt sie sich diesem Mann hin, weil in ihm das Licht ihrer eigenen Liebe verborgen ist. Die Erbsünde bestand nicht darin, daß Eva den Apfel aß, sondern darin, daß Eva Adam mit hineinzog, weil sie sich nicht traute, diese Erfahrung allein zu machen.
Es gibt Dinge, die kann man nicht teilen. Wir sollten aber auch keine Angst vor den Ozeanen haben, auf die wir uns freiwillig hinauswagen; Angst ist ein schlechter Ratgeber. Menschen gehen durch die Hölle, bis sie das begriffen haben.
Wir sollen einander lieben, nicht aber einander besitzen wollen. Ich liebe diesen Mann, weil ich ihn nicht besitze und er mich nicht besitzt. Wir sind frei in unserer Hingabe, das muß ich mir dutzend-, hundert-, millionenfach vorsagen, damit ich es endlich selbst auch glaube.
Maria denkt an ihre Kolleginnen im >Copacabana<. Denkt an ihre Mutter, an ihre Freundinnen zu Hause: sie alle glauben, daß der Mann nur für diese elf Minuten am Tag lebt und bereit ist, dafür auch noch ein Wahnsinnsgeld zu zahlen. Aber das stimmt nicht; der Mann hat auch weibliche Seiten, auch er sucht die Begegnung, sucht einen Sinn für sein Leben.
Ob ihre Mutter es genauso machte wie Maria, wenn sie mit ihrem Mann schlief und den Orgasmus nur vortäuschte? Oder durfte in der brasilianischen Provinz eine Frau nicht zeigen, daß sie beim Sex Lust empfand? Maria wußte so wenig vom Leben, von der Liebe. Aber jetzt, mit verbundenen Augen und zeitlich völlig ungebunden, wird sie zu den Ursprüngen zurückkehren und genau dort beginnen, wo sie schon immer hatte beginnen wollen.
>Die Berührung. Vergiß die Kolleginnen, die Freier, deine Mutter, deinen Vater, es ist stockdunkel um dich herum.< Den ganzen Nachmittag hatte sie überlegt, was sie dem Mann schenken könnte, der ihr ihre Würde zurückgegeben und ihr gezeigt hatte, sie hatte begreifen lassen, daß Freude wichtiger ist als Schmerz.
>Ich möchte ihm eine Freude bereiten, ihn mich etwas Neues lehren lassen, wie gestern, als er mich etwas Neues über den Schmerz lehrte und mir die doppelte Geschichte der Prostitution erzählt hat. Ich habe gesehen, wie glücklich es ihn macht, wenn er mir etwas beibringen darf, also soll er mir etwas beibringen, mich führen. Ich wüßte gern, wie man zum Körper gelangt, bevor man zur Seele, zur Penetration, zum Orgasmus kommt.<
Sie streckt die Hand vor und bittet ihn, das gleiche zu tun. Flüstert ihm zu, daß sie möchte, daß er in dieser Nacht, an diesem Niemandsort, ihre Haut entdeckt, die Grenze zwischen ihr und der Welt. Sie bittet ihn, sie zu berühren, sie mit seinen Händen zu spüren, denn die Körper verstehen einander, auch wenn die Seelen sich nicht immer einig sind. Dann berührt er sie, und sie berührt ihn auch, und als hätten sie sich vorher abgesprochen, meiden sie die Körperteile, in denen die sexuelle Energie schneller fließt.
Seine Finger berühren ihr Gesicht, sie spürt einen leichten Farbgeruch, einen Geruch, der ihm immer anhaften wird, und wenn er sich tausendmal, millionenmal die Hände wäscht; einen Geruch, mit dem er geboren wurde, der schon da war, als er zum ersten Mal einen Baum sah oder ein Haus und davon träumte, all das zu zeichnen. Auch er muß etwas an ihrer Hand gerochen haben, doch sie weiß nicht, was es ist, und will nicht fragen, weil in diesem Augenblick alles Körper ist und sonst Schweigen herrscht.
Sie streichelt und wird gestreichelt. Sie könnte die ganze Nacht so weitermachen, weil es wunderbar ist, weil das Ziel nicht Sex ist – und in diesem Augenblick, eben weil kein Druck da ist, spürt sie die feuchte Hitze zwischen ihren Beinen. Irgendwann wird er ihr Geschlecht berühren und merken, daß sie ihn begehrt. Sie fragt sich nicht, ob es gut oder schlecht ist, aber ihr Körper reagiert nun einmal so. Und sie will nicht sagen, berühr mich hier, da oder dort, langsamer, schneller. Die Hände des Mannes berühren nun ihre Achselhöhlen, die Härchen an ihren Armen stellen sich auf, und sie möchte seine Hände am liebsten wegschieben, auch wenn es sich so schön anfühlt, daß es fast weh tut. Sie streichelt ihn an den gleichen Stellen, spürt seine Achselhöhlen, die sich anders anfühlen als ihre eigenen. Sie will nicht nachdenken. Einfach nur berühren.
Seine Finger umkreisen ihre Brust wie ein lauerndes Tier. Sie möchte, daß sie sich schneller bewegen, daß sie ihre Brustwarzen berühren, weil ihre Wünsche seinen Händen vorauseilen. Vielleicht reizt er sie absichtlich, weil er weiß, was sie möchte, läßt sich Zeit, unendlich viel Zeit. Ihre Brustwarzen sind hart, er spielt mit ihnen, und das verursacht ihr noch mehr Gänsehaut, und sie zerfließt. Jetzt wandern seine Hände über ihren Bauch, hinab zu den Beinen, den Füßen, er fährt mit beiden Händen an der Innenseite ihrer Schenkel entlang, spürt die Hitze, nähert sich aber nicht, seine Berührung ist sanft, federleicht, und je leichter sie ist, um so verrückter macht es sie.
Sie tut dasselbe, hält die Hände gleichsam in der Schwebe, streift nur sacht über die Härchen an seinen Beinen und spürt auch die Hitze, als sie sich seinem Geschlecht nähert. Es kommt ihr so vor, als hätte sie plötzlich und auf geheimnisvolle Weise ihre Jungfräulichkeit wiedererlangt, als entdeckte sie zum ersten Mal einen männlichen Körper. Sie berührt seinen Penis. Er ist nicht hart, wie sie gedacht hatte. Sie selbst ist ganz naß. Das ist ungerecht, aber vielleicht braucht der Mann länger, wer weiß.
Und sie beginnt ihn zu liebkosen, nicht routiniert wie eine Prostituierte, sondern zart, wie es nur Jungfrauen können. Der Mann reagiert, sein Penis beginnt in ihren Händen zu wachsen, und sie erhöht langsam den Druck, weiß nun, wo sie ihn berühren muß. Jetzt ist er erregt, sehr erregt, streicht mit den Fingern ihren Schamlippen entlang, während sie möchte, daß er kräftiger zupackt und seine Finger dort hineinwühlt. Er aber verteilt etwas von ihrer Nässe auf die Klitoris und umkreist diese mit den gleichen lauernden Bewegungen wie vorher ihre Brustwarzen. Dieser Mann berührt sie, wie sie sich selbst berühren würde.
Eine Hand wandert wieder zur Brust hinauf, wie gut das ist, wie sehr sie sich wünscht, sich in seine Arme zu schmiegen! Aber nein, sie entdecken ihre Körper, haben Zeit, brauchen viel Zeit. Sie könnten sich jetzt lieben, und das wäre nur natürlich und bestimmt schön, aber sie muß sich beherrschen, darf den Zauber dieser Entdeckungsreise nicht zerstören. Sie erinnert sich an den Wein, den sie in der ersten Nacht getrunken hatten, langsam, genießerisch, wie er sie gewärmt hatte, sie die Welt anders sehen ließ, enthemmte.
Sie will diesen Mann genießen wie einen guten Wein und dadurch all den schlechten Wem vergessen, den man in sich hineinkippt, der aber nur betrunken macht und einen mit Kopfschmerzen und einem Gefühl von seelischer Leere zurückläßt.
Sie hält inne, verschränkt sanft ihre Finger mit seinen, hört ihn stöhnen und möchte auch stöhnen, beherrscht sich aber, spürt die Hitze an ihrem ganzen Körper und an seinem genauso. Wenn der Orgasmus ausbleibt, verteilt sich die Energie, geht ins Hirn, läßt einen an nichts anderes denken als daran, bis zum Ende zu gehen. Doch sie will genau dies: aufhören, mittendrin aufhören, die Lust durch den Körper fließen lassen, Geist und Begehren wieder erneuern, wieder Jungfrau sein.
Sie nimmt die Binde von den Augen und löst auch seine. Beide sind nackt, sehen einander einfach nur an, ohne zu lächeln. >Ich bin die Liebe, ich bin die Musik<, denkt sie. >Laß uns tanzen.<
Aber sie sagt es nicht laut. Sie reden über Triviales: Wann treffen wir uns wieder, sie schlägt einen Termin vor, vielleicht in zwei Tagen. Er sagt, er würde sie gern zu einer Vernissage mitnehmen, sie zögert. Das würde bedeuten, seine Welt kennenzulernen, seine Freunde. Und was würden die sagen? Was würden sie denken?
Sie lehnt ab. Aber er merkt, daß sie gern eingewilligt hätte, und er versucht sie zu überreden, mit den verrücktesten Begründungen, die aber Teil des Tanzes sind, den sie jetzt tanzen, und am Ende gibt sie nach, weil es genau das war, was sie wollte. Er schlägt als Treffpunkt das Cafe vor, in dem sie sich kennenlernten. Sie sagt nein, die Brasilianer seien abergläubisch, sie dürften sich nicht zweimal am selben Ort treffen, weil sich der Kreis sonst schließen und alles zu Ende sein könnte.
Er sagt, er sei glücklich, daß sie den Kreis nicht schließen wolle. Sie entscheiden sich für eine Kirche, von der aus man auf die Stadt sehen kann und die am Jakobsweg liegt und Teil dieser geheimnisvollen Wallfahrt ist, die beide machen, seit sie einander begegnet sind.
Aus Marias Tagebuch, am Tag, bevor sie ihr Rückflugticket nach Brasilien kauft:
Es war einmal ein Vogel. Er besaß ein Paar vollkommener Flügel und glänzende, bunte, wunderbare Federn und war dazu geschaffen, frei am Himmel zu fliegen, denen zur Freude, die ihn sahen.
Eines Tages sah eine Frau diesen Vogel und verliebte sich in ihn. Sie schaute mit vor Staunen offenem Mund seinem Flug zu, ihr Herz schlug schneller, ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Er bat sie, ihn zu begleiten, und beide schwebten in vollkommener Harmonie am Himmel. Und sie bewunderte, verehrte, feierte den Vogel.
Aber dann dachte sie: Vielleicht möchte er ferne Gebirge kennenlernen! Und die Frau bekam Angst. Fürchtete, daß sie so etwas mit einem anderen Vogel nie wieder erleben könnte. Und sie wurde neidisch auf den Vogel, der aus eigener Kraft fliegen konnte.
Und sie fühlte sich allein.
Und dachte: >Ich werde dem Vogel eine Falle stellen. Wenn er zurückkommt, wird er nie wieder wegfliegen können.<
Der Vogel, der auch verliebt war, kam am nächsten Tag zurück, ging in die Falle und wurde in einen Käfig gesteckt.
Die Frau schaute täglich nach dem Vogel. Er war ihre ganze Leidenschaft, und sie zeigte ihn ihren Freundinnen, die meinten: »Du hast vielleicht ein Glück.« Dennoch vollzog sich eine merkwürdige Veränderung: Seit sie den Vogel besaß und ihn nicht mehr zu erobern brauchte, begann sie das Interesse an ihm zu verlieren. Der Vogel, der nicht mehr fliegen konnte, was den Sinn seines Lebens ausmachte, wurde schwach, glanzlos, häßlich. Die Frau beachtete ihn nicht mehr, fütterte ihn nur noch und reinigte seinen Käfig.
Eines Tages starb der Vogel. Die Frau war tieftraurig und konnte ihn nicht vergessen. Aber sie erinnerte sich dabei nicht an den Käfig, nur an den Tag, an dem sie den Vogel zum ersten Mal gesehen hatte, wie er fröhlich zwischen den Wolken dahinflog.
Hätte sie genauer in sich hineingeschaut, so hätte sie bemerkt, daß das, was sie am Vogel so sehr begeisterte, seine Freiheit war, sein kräftiger Flügelschlag, nicht sein Körper.
Ohne den Vogel verlor auch für die Frau das Leben seinen Sinn, und der Tod klopfte an ihre Tür. – »Wozu bist du gekommen?« fragte sie den Tod. – »Damit du wieder mit dem Vogel zusammen am Himmel fliegen kannst«, gab der Tod zur Antwort. »Wenn du ihn hättest fliegen und immer wiederkommen lassen, hättest du ihn geliebt und noch mehr bewundert; aber nun brauchst du mich, um ihn wiederzusehen.«
Maria begann den Tag mit etwas, was sie im Geiste schon monatelang durchgespielt hatte: Sie ging in ein Reisebüro und reservierte ein Rückflugticket nach Brasilien für in zwei Wochen, genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender angekreuzt hatte.
Von nun an würde Genf das Gesicht eines Mannes tragen, den sie geliebt und der sie wiedergeliebt hatte. Die Rue de Berne dagegen würde nur eine Straße sein, benannt nach der Hauptstadt der Schweiz. Sie würde sich an ihr Zimmer erinnern, an den See, daran, wie sie Französisch gelernt hatte, an all die Verrücktheiten, die ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen macht (sie hatte am Tag zuvor Geburtstag gehabt), bis sie begreift, daß es eine Grenze gibt.
Sie würde den Vogel nicht einsperren, ihm aber auch nicht vorschlagen, sie nach Brasilien zu begleiten; er verkörperte das einzig wirklich Reine, das ihr je begegnet war. Ein solcher Vogel mußte frei fliegen können und von der Sehnsucht nach einer Zeit zehren, in der er mit seiner Gefährtin zusammen geflogen ist. Aber sie war ein solcher Vogel; Ralf Hart an ihrer Seite zu haben würde bedeuten, immer an die Zeit im >Copacabana< erinnert zu werden. Und das war ihre Vergangenheit, nicht ihre Zukunft.
Sie beschloß, sich erst am Tag ihrer Abreise zu verabschieden, sonst müßte sie zu oft daran denken, daß sie bald nicht mehr hier sein würde. Also betrog sie ihr Herz und ging an jenem Morgen durch Genf, als wäre sie immer durch diese Straßen, auf den Altstadthügel, über den Jakobsweg, die Mont-Blanc-Brücke, in die Cafes gegangen, in denen sie inzwischen Stammgast war. Sie schaute dem Flug der Möwen zu, den Gemüse- und Obsthändlern, die ihre Marktstände abbauten, den Angestellten, die zum Mittagessen aus ihren Büros strömten; genießerisch biß sie in einen schönen Apfel, blickte auf den Regenbogen in der Wassersäule, die mitten aus dem See aufstieg, beobachtete die verstohlenen, fröhlichen Blicke der Leute, die an ihr vorbeikamen, Blicke voller Begehren, leere Blicke – einfach Blicke. Sie hatte fast ein Jahr lang in einer Stadt gelebt, wie es viele gab auf der Welt und die ohne ihre besondere Architektur und die unverhältnismäßig zahlreichen Bankenschilder ebensogut in Brasilien hätte liegen können. Es gab einen Jahrmarkt. Es gab feilschende Hausfrauen und Schüler, die unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand Vater krank, Mutter pflegebedürftig – die Schule schwänzten und nun Arm in Arm mit ihrer Liebsten auf der Seepromenade spazierengingen. Es gab Leute, die sich heimisch fühlten, und solche, die sich fremd fühlten. Es gab Skandalblätter und ernsthafte Zeitschriften für Geschäftsleute (die man allerdings nur bei der Lektüre der Skandalblätter antraf).
Sie ging in die Bibliothek, um das Handbuch über Landwirtschaft zurückzubringen. Sie hatte nichts verstanden, aber dieses Buch hatte sie immer in den Augenblicken, in denen sie glaubte, die Kontrolle über sich und ihr Schicksal zu verlieren, an ihr Lebensziel erinnert. Es war ihr stiller Begleiter gewesen – ein gelber, schmuckloser Umschlag, ein paar Grafiken –, ein Leuchtturm in den dunklen Nächten der letzten Wochen.
>Immer schmiede ich Pläne für die Zukunft! Und dann werde ich doch jedes Mal aufs neue von der Gegenwart überrumpelt!< sagte sie zu sich selbst. Zuerst hatte sie sich in der Verzweiflung, dann in der Unabhängigkeit gefunden, dann in der Liebe, später im Schmerz und nun erneut in der Liebe hoffentlich blieb es dabei!
Doch während einige ihrer Arbeitskolleginnen über die Vorzüge bestimmter Männer und über das Glück redeten, das sie im Bett erlebten, hatte sie selbst in all diesen Monaten nicht herausgefunden, was denn nun das Beste oder Schlechteste am Sex war. Sie hatte ihr Problem nicht gelöst: Sie gelangte durch Penetration nicht zum Orgasmus, und der Geschlechtsakt war für sie zu etwas so Banalem verkommen, daß sie in dieser >Umarmung des Wiederfindens< (wie Ralf es nannte) vielleicht nie das Feuer und das Glück finden würde, das sie suchte.
Oder brauchte es vielleicht auch Liebe, damit man Lust im Bett empfand, wie es in sehr vielen Romanen zu lesen stand?
Die sonst so ernste Bibliothekarin (die sie als ihre einzige Freundin betrachtete, obwohl sie es ihr niemals gesagt hatte) war an diesem Tag ungewöhnlich fröhlich und gut gelaunt. Als Maria kam, hatte sie gerade Mittagspause und lud sie ein, ein Sandwich mit ihr zu teilen. Maria dankte und sagte, sie habe schon gegessen.
»Sie haben lange für das Buch gebraucht.«
»Ich habe nichts verstanden.«
»Wissen Sie noch, worum sie mich anfangs gebeten haben?«
Nein, Maria erinnerte sich nicht, doch als sie das maliziöse Lächeln der Frau sah, konnte sie sich vorstellen, um welches Thema es gegangen war. Sex.
»Wissen Sie, nachdem Sie gekommen waren und Bücher über Sex gesucht hatten, habe ich unsere Bestände zu diesem Thema durchgesehen. Viel war nicht vorhanden, und da wir auch zur Bildung unserer Jugend beitragen sollen, habe ich einige Bücher bestellt. Das ist eine bessere Aufklärung, als wenn die jungen Leute beispielsweise zu Prostituierten gehen.«
Die Bibliothekarin wies auf einen Stapel Bücher in einer Ecke, alle ordentlich in graues Papier eingeschlagen.
»Ich hatte noch keine Zeit, sie einzuordnen, aber ich habe immer mal wieder einen Blick hineingeworfen und war entsetzt über das, was ich gefunden habe.«
Maria konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt kommen würde: unbequeme Stellungen, Sadomasochismus und derlei Dinge. Sie sollte besser gehen. Aber unter welchem Vorwand? Sie wußte nicht mehr, ob sie gesagt hatte, daß sie in einer Bank oder in einer Boutique arbeitete. Lügen war so anstrengend.
»Sie wären bestimmt auch entsetzt. Wußten Sie beispielsweise, daß die Klitoris erst kürzlich entdeckt wurde?«
Kürzlich wohl kaum. Ralf Harts Hände schienen sich trotz der Dunkelheit auf dem Terrain gut auszukennen.
»Sie wurde offiziell 1559 anerkannt, nachdem der Arzt Realdo Columbo ein Buch mit dem Titel De re anatomica veröffentlicht hatte, in dem er sie als >ein hübsches, nützliches Ding< beschreibt. Stellen Sie sich das mal vor.« Beide lachten.
»Zwei Jahre darauf, 1561, nahm ein anderer Arzt, Gabriele Fallopio, die Entdeckung für sich in Anspruch. Also wirklich! Da diskutieren zwei Männer – Italiener natürlich, die verstehen etwas davon – darüber, wer offiziell die Klitoris in die Weltgeschichte eingebracht hat.«
So interessant das alles war: Maria wollte nichts mehr hören, zumal sie spürte, wie ihr Geschlecht naß wurde allein bei dem Gedanken an die Berührung, die Augenbinde, die Hände, die über ihren Körper wanderten. Nein, sie war nicht tot für den Sex, dieser Mann hatte sie irgendwie erlöst. Wie gut es war, lebendig zu sein!
Die Bibliothekarin redete weiter: »Aber sogar, nachdem sie >entdeckt< worden war, wurde die Klitoris nicht geachtet. Die Verstümmelungen, von denen die Zeitungen berichten und durch die bestimmte Stämme in Afrika noch heute ihren Frauen das Recht auf Lust absprechen, sind nichts Neues. Auch in Europa wurde im neunzehnten Jahrhundert bei vielen Frauen die Klitoris operativ entfernt, weil man glaubte, in diesem kleinen, unbedeutenden Teil der weiblichen Anatomie liege die Quelle von Hysterie, Epilepsie, Promiskuität, Unfruchtbarkeit.«
Maria streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden, aber die Bibliothekarin redete unbeirrt weiter.
»Noch schlimmer ist, daß der liebe Doktor Freud, der Entdecker der Psychoanalyse, gesagt hat, der weibliche Orgasmus müsse sich bei einer normalen Frau von der Klitoris zur Vagina bewegen. Seine getreuesten Schüler gingen später sogar so weit zu behaupten, es sei ein Zeichen von Infantilität, wenn die sexuelle Lust auf die Klitoris beschränkt bliebe, oder schlimmer noch, ein Zeichen von Bisexualität. Dabei wissen wir doch alle, wie schwierig es ist, nur durch Penetration zum Orgasmus zu kommen. Es ist schön, von einem Mann genommen zu werden, aber die Lust steckt in diesem kleinen Körnchen, das ein Italiener entdeckt hat!«
Dann hatte Freud ihr Problem also bereits diagnostiziert und ihre Sexualität als infantil beschrieben, denn Marias Orgasmus hatte sich nicht in die Vagina begeben. Oder sollte etwa Freud sich geirrt haben?
»Und der G-Punkt, was meinen Sie dazu?«
»Wissen Sie, wo der sitzt?«
Die Frau errötete, hustete, druckste herum: »Gleich, wenn Sie hereinkommen, im ersten Stock, Fenster ganz hinten.«
Genialer Vergleich! Die Vagina als Gebäude! Vielleicht hatte sie ja diese Erklärung in einem dieser reichbebilderten Aufklärungsbücher für junge Mädchen gefunden. Das Bild: Ein Mann klopft an, tritt ein, entdeckt in dem Mädchenkörper ein ganzes Universum.
Sie selbst hatte beim Masturbieren immer diesen G-Punkt der Klitoris vorgezogen, da er bei ihr ein eigenartig beklemmendes Gefühl, eine Mischung aus Lust und Qual hervorrief. Sie ging immer direkt in den ersten Stock, zum Fenster ganz hinten!
Als ihr klar wurde, daß die Frau nicht aufhören würde zu reden – vielleicht weil sie in Maria eine Seelenverwandte vermutete, der sie ihr verpaßtes Sexualleben erzählen könnte –, winkte sie ihr wortlos zu und ging hinaus.
Maria hatte keine Lust, ins >Copacabana< zurückzukehren, und dennoch fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, ihre Arbeit zu Ende zu führen. Sie konnte nicht sagen, warum – schließlich hatte sie genug angespart. An diesem Nachmittag konnte sie noch ein paar Einkäufe machen, mit dem Geschäftsführer der Bank reden, der ihr Kunde war und ihr versprochen hatte, sie in Bankdingen zu beraten. Sie könnte einen Kaffee trinken, ein paar Habseligkeiten per Post nach Hause schicken, die nicht mehr in ihre Koffer paßten. Sie fühlte sich bedrückt und wußte nicht, warum, vielleicht, weil die Abreise in zwei Wochen nun definitiv feststand. Sie mußte diese Zeit herumbringen, die Stadt mit anderen Augen sehen, sich darüber freuen, daß sie dies alles erlebt hatte.
Sie kam an eine Kreuzung, die sie schon hundertmal überquert hatte und von der aus sie den See sehen konnte, die Wassersäule und vorn an der Uferpromenade die Blumenuhr, eines der Wahrzeichen der Stadt, und diese Uhr ließ nicht zu, daß sie log, weil…
Plötzlich stand die Zeit still, die Welt.
Was hatte es bloß mit dieser Geschichte einer wiedererlangten Jungfräulichkeit auf sich, die sie seit dem Aufwachen heute früh beschäftigte?
Die Welt war wie eingefroren, die Uhrzeiger gingen nicht weiter. Maria stand vor etwas Ernstem und sehr Wichtigem in ihrem Leben. Sie durfte nicht vergessen, es nicht machen wie mit ihren nächtlichen Träumen, die sie immer aufschreiben wollte und an die sie sich nie erinnerte…
>Denk an nichts. Die Welt ist stehengeblieben. Was ist los?<
GENUG!
Die hübsche Geschichte vom Vogel, die sie gerade geschrieben hatte: Handelte sie von Ralf Hart?
Nein, sie handelte von ihr selbst!
PUNKTUM!
Es war 11 Uhr 11, und ihre eigene Zeit war in diesem Augenblick stehengeblieben. Sie fühlte sich fremd im eigenen Körper, wurde sich erneut der erst vor kurzem wiedererlangten Jungfräulichkeit bewußt, die so zart und gefährdet war. Maria war verloren, wenn sie hierblieb. Sie mußte sofort weg. Sie hatte den Himmel erlebt und ganz gewiß auch die Hölle, aber das Abenteuer war bald zu Ende. Sie konnte nicht noch zwei Wochen warten, zehn Tage, eine Woche – sie mußte sofort wegrennen, denn beim Anblick der Blumenuhr, der knipsenden Touristen und spielenden Kinder wurde ihr plötzlich klar, warum sie so traurig war: Sie wollte nicht zurück nach Brasilien.
Der Grund hieß weder Ralf Hart noch Schweiz, noch Abenteuer. Der wahre Grund war ganz einfach: Geld.
Geld! Ein Stück Papier, mit gedeckten Farben bedruckt und von dem alle glaubten, es sei etwas wert. Maria glaubte es, alle glaubten es bis zu dem Augenblick, in dem sie mit einem Berg solcher Papierstückchen in eine Bank gingen (eine respektable, äußerst diskrete Schweizer Traditionsbank, versteht sich) und bitten würden: >Kann ich ein paar Stunden meines Lebens erwerben?< und zur Antwort bekämen: >Nein, die verkaufen wir nicht; die kaufen wir nur an.<
Bremsenquietschen, ein schimpfender Fahrer, ein lächelnder alter Herr, der sie auf englisch bat zurückzutreten, da die Fußgängerampel noch auf Rot stehe. Maria erwachte aus ihrer Trance.
>Ich glaube, ich habe da gerade etwas herausgefunden, was alle sowieso schon wissen.<
Doch dem war nicht so: Sie blickte auf die Leute, die mit gesenktem Kopf an ihr vorbeihasteten, um zur Arbeit, zur Schule, zum Arbeitsamt, in die Rue de Berne zu kommen, und die sich zu sagen schienen: >Ich kann noch ein bißchen warten.
Ich habe einen Traum, aber er muß nicht heute gelebt werden, ich muß schließlich Geld verdienen.< Selbstverständlich hatte ihr Gewerbe einen schlechten Ruf – obwohl sie auch nur ihre Zeit verkaufte, wie alle anderen auch; Dinge tat, die sie nicht mochte, wie alle anderen auch; unerträgliche Leute ertrug, wie alle anderen auch; ihren kostbaren Körper und ihre kostbare Seele im Namen einer Zukunft hingab, die niemals kam, wie alle anderen auch; meinte, noch nicht genug zu haben, wie alle anderen auch; nur noch ein kleines bißchen wartete, wie alle anderen auch; noch etwas wartete, noch etwas mehr verdiente, die Verwirklichung ihrer Träume auf später verschob denn gerade war sie zu beschäftigt, hatte eine wichtige Verabredung, Freier, die auf sie warteten, Stammkunden, die bis zu tausend Franken pro Nacht zu zahlen bereit waren.
Und zum ersten Mal in ihrem Leben beschloß sie, trotz all der guten Dinge, die sie mit dem verdienten Geld kaufen konnte wer weiß, noch ein Jahr? –, ganz bewußt, mit klarem Verstand und absichtlich, eine Chance verstreichen zu lassen. Sie wartete, bis die Ampel auf Grün sprang, überquerte die Straße und blieb vor der Blumenuhr stehen. Sie dachte an Ralf, spürte wieder sein Begehren im Hotelzimmer, als sie nur ihren Oberkörper entblößt hatte, fühlte, wie seine Hände ihre Brüste, ihr Geschlecht, ihr Gesicht berührten, und wurde naß. Sie blickte auf die riesige Wassersäule im See und hatte an Ort und Stelle, vor allen Leuten und ohne sich zu berühren, einen Orgasmus.
Niemand bemerkte es; dazu waren alle viel zu beschäftigt.
Nyah, die einzige ihrer Kolleginnen, mit der sie freundschaftlich verkehrte, rief Maria zu sich, als diese ins >Copacabana< kam. Nyah saß mit einem Araber zusammen, und beide lachten.
»Schau dir das bloß einmal an«, sagte sie zu Maria. »Schau mal, was er von mir will!«
Der Araber blickte mit einem verschmitzten Lächeln zu ihr hoch und öffnete dann den Deckel von einer Art Zigarrenkiste. Maria linste hinein, konnte aber nicht erkennen, ob irgendwelche Spritzen oder Beutelchen dann lagen. Aber nein, es war ein Objekt, von dem er offenbar selbst nicht richtig wußte, wie es funktionierte.
»Sieht aus wie aus dem letzten Jahrhundert!« sagte Maria.
»Das Ding ist tatsächlich aus dem letzten Jahrhundert«, pflichtete ihr der Araber bei. »Der Apparat ist über hundert Jahre alt und hat ein Vermögen gekostet.«
Maria sah eine Reihe Ventile, eine Kurbel, Elektrokabel, kleine Metallkontakte, Batterien. Es sah aus wie das Innere eines alten Radioapparates, aus dem zwei Kabel herauskamen, an deren Enden kleine, fingergroße Glasstäbe befestigt waren.
Nichts, was ein Vermögen kosten konnte.
»Wie funktioniert das?«
Nyah gefiel Marias Frage nicht, obwohl sie der Brasilianerin grundsätzlich vertraute. Wer weiß, vielleicht hatte Maria ja ein Auge auf ihren Freier geworfen.
»Er hat es mir bereits erklärt. Es ist ein Violetter Zauberstab.«
Dann hatte es Nyah plötzlich eilig, den Araber von Maria loszueisen. Aber der Mann schien von dem Interesse, das sein Spielzeug geweckt hatte, ganz begeistert.
»Um die Jahrhundertwende, so um 1900, als die ersten Batterien auf den Markt kamen, begann die westliche Schulmedizin mit Elektrizität zu experimentieren, um damit Geisteskrankheiten oder Hysterie zu heilen. Sie wurde auch zur Pickelbekämpfung und Revitalisierung der Haut eingesetzt. Sehen Sie diese beiden Kabelenden? Sie wurden hier angelegt« er zeigte auf seine Schläfen –, »und die Batterie versetzte einem einen solchen Schlag, wie man ihn sonst nur bei sehr kalter, trockener Luft bekommt.«
In Brasilien gab es das nicht, aber in der Schweiz kam es häufig vor. Maria hatte dieses charakteristische Knistern zuerst beim Offnen einer Taxitür gehört und einen elektrischen Schlag bekommen. Da sie dachte, daß es am Auto lag, hatte sie sich beschwert, doch der Fahrer hatte sie verspottet und war, als sie das Fahrgeld verweigerte, fast handgreiflich geworden. Er hatte recht gehabt; es lag nicht am Auto, sondern an der sehr trockenen Schweizer Luft. Inzwischen war Maria ein gebranntes Kind und hütete sich davor, Metallgegenstände anzufassen. Im Supermarkt fand sie schließlich einen Armreif, der die im Körper angesammelte Elektrizität entlud.
Sie wandte sich an den Araber:
»Aber das ist sehr unangenehm!«
Nyah wurde durch Marias Bemerkungen immer nervöser. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, legte sie ihren Arm besitzergreifend um die Schultern des Mannes.
»Das hängt davon ab, wo man ihn anlegt.« Der Araber lachte laut.
Dann drehte er an der kleinen Kurbel, und die beiden Stäbe verfärbten sich violett. Blitzschnell berührte er die beiden Frauen damit; Maria hörte ein Klicken, aber der elektrische Schlag war nicht mehr als ein leichtes Kitzeln.
Milan trat hinzu. »Ich muß Sie bitten, diesen Apparat hier nicht zu benutzen.«
Der Araber steckte die Stäbe wieder in den Kasten. Die Philippinin nutzte die Gelegenheit, um erneut zum Aufbruch zu mahnen. Der Mann ging nur halbherzig darauf ein. Die Neue wirkte sehr viel interessierter am Violetten Zauberstab als die Frau, die ihn weglotsen wollte. Er schlüpfte in seine Jacke, steckte den Kasten in eine Ledertasche und meinte: »Heute werden sie wieder gebaut und sind in Insiderkreisen wieder sehr in Mode gekommen. Aber so einen wie den, den ich Ihnen gezeigt habe, findet man nur noch antiquarisch beziehungsweise in einigen wenigen medizinischen Sammlungen oder Museen.«
Milan und Maria standen da und wußten nicht, was sie sagen sollten.
»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«
»In der Art nicht. Er muß tatsächlich ein kleines Vermögen gekostet haben, aber Nyahs Kunde ist schließlich auch Manager aus der Chefetage eines Ölkonzerns. Ich habe schon andere, moderne gesehen.«
»Und was macht man damit?«
»Man steckt sie sich in den Körper… und bittet die Frau, die Kurbel zu drehen. Und dann bekommt man da drin einen Schlag.«
»Könnte der Mann das nicht auch allein machen?«
»Beim Sex kann man alles auch allein machen. Aber mir ist es lieber, die Leute machen solche Dinge weiterhin zu zweit, sonst kann ich meinen Nachtclub dichtmachen, und du kannst als Lebensmittelverkäuferin arbeiten gehen. Wo wir gerade von Arbeit sprechen: Dein spezieller Freier hat sich angesagt; lehne bitte jede andere Einladung ab.«
»Das werde ich. Auch seine. Ich bin nämlich da, um mich zu verabschieden. Ich gehe.«
Milan stutzte, begriff nicht:
»Der Maler?«
»Nein. Das >Copacabana<. Es gibt eine Grenze – und heute morgen habe ich diese Grenze erkannt, als ich unten am See auf die Blumenuhr geschaut habe.«
»Und wo liegt diese Grenze?«
»Beim Preis für eine Farm zu Hause in Brasilien. Ich weiß, ich könnte noch mehr verdienen, noch ein Jahr arbeiten, aber was für einen Unterschied macht das schon?
Der Unterschied ist: Ich würde ewig weiter in dieser Falle stecken, genau wie du, und das sind die Freier, die Direktoren, die Piloten, Headhunter, Manager von Plattenfirmen, Discobetreiber, die vielen Männer, die ich kennengelernt habe, denen ich meine Zeit verkauft habe, die sie mir nicht zurückverkaufen können. Wenn ich einen Tag länger bleibe, bleibe ich ein ganzes Jahr, und wenn ich noch ein Jahr bleibe, komme ich hier nie wieder heraus.«
Milan nickte verstohlen zum Zeichen, daß er begriffen hatte. Er konnte jetzt nichts sagen, denn wenn die anderen Mädchen von Marias Entscheidung erfuhren, ließen sie sich womöglich anstecken. Aber er war ein guter Mensch. Er gab ihr zwar nicht direkt seinen Segen, unternahm aber auch nichts, um sie umzustimmen.
Sie bestellte einen Drink – ein Glas Champagner –, sie hatte genug von den ewigen Fruchtcocktails und konnte trinken, was sie wollte, sie war schließlich nicht mehr im Dienst. Milan sagte, sie könne ihn jederzeit anrufen, wenn sie etwas brauche; sie sei immer willkommen. Und übrigens: Der Champagner gehe aufs Haus. Maria nahm die Einladung an: sie hatte dem Haus mehr als einen Drink eingebracht.
Aus Marias Tagebuch, nachdem sie wieder zu Hause war:
Ganz genau weiß ich es nicht mehr, aber kürzlich bin ich an einem Sonntag in die Kirche gegangen. Ich wollte zur Messe. Nach einer Weile bemerkte ich, daß ich in der falschen Kirche saß – es war eine protestantische Kirche.
Ich wollte gerade gehen, als der Pfarrer mit seiner Predigt begann, und weil ich nicht unhöflich sein und einfach davongehen wollte, blieb ich sitzen. Letztlich war es ein Segen, weil ich an diesem Tag Dinge zu hören bekam, die ich dringend nötig hatte.
Der Pfarrer sagte in etwa:
»Alle Sprachen der Welt kennen dieses Sprichwort: >Aus den Augen, aus dem Sinn.< Nichts ist weniger wahr: Je weiter etwas weg ist, desto größer ist die Sehnsucht, desto stärker die Gefühle, die wir zu unterdrücken und zu vergessen versuchen.
Leben wir im Exil, klammern wir uns mit jeder Faser unseres Gedächtnisses an unsere heimatlichen Wurzeln. Leben wir fern von unserer oder unserem Geliebten, erinnert uns jeder, der auf der Straße an uns vorbeigeht, an sie beziehungsweise ihn.
Viele Bücher der Bibel und auch heilige Texte anderer Religionen wurden im Exil geschrieben, als eine Form von Suche nach Gott, nach dem Glauben, der die Völker vorantreibt, als eine Art Wallfahrt der auf Erden umherirrenden Seelen. Unsere Vorfahren wußten ebensowenig wie wir, was die Gottheit von uns im Leben erwartet, und aus diesem Nichtwissen heraus werden die Bücher geschrieben, die Bilder gemalt, weil wir nicht vergessen wollen und sollen, wer wir sind.«
Am Ende des Gottesdienstes bin ich zum Pfarrer gegangen und habe mich bedankt. Ich habe ihm gesagt, ich sei Ausländerin und sei ihm dankbar, daß er mich daran erinnert habe, daß das, was wir nicht sehen, doch dem Herzen nah bleibt. Und weil ich mein Herz spüre, gehe ich heute.
Sie nahm die beiden Koffer und legte sie aufs Bett. Anfangs hatte sie sich ausgemalt, wie viele Geschenke sie hineinpacken würde, neue Kleider, Fotos von schneebedeckten Gipfeln und den Hauptstädten Europas, Erinnerungen an eine glückliche Zeit, in der sie im sichersten und großzügigsten Land der Welt gelebt hatte. Sie hatte tatsächlich ein paar neue Kleider und ein paar Fotos vom Schnee, der einmal in Genf gefallen war. Doch sonst war nichts so gewesen, wie sie es sich ausgemalt hatte.
Sie war mit dem Traum hierhergekommen, viel Geld zu verdienen, das Leben und sich selbst kennenzulernen, einen Ehemann zu finden; sie wollte eine Farm für ihre Eltern kaufen und die beiden später einmal nach Genf einladen, ihnen zeigen, wo sie gewohnt hatte. Und nun kehrte sie mit genau dem Geldbetrag zurück, den sie benötigte, um einen Teil ihres Traumes zu verwirklichen. Aber sie war nie wirklich in den Bergen gewesen, und vor allem war sie sich selbst fremd geblieben. Dennoch war sie froh, zumindest rechtzeitig gemerkt zu haben, wann der Moment da war, um aufzuhören.
Wenige Menschen auf der Welt können das.
Sie hatte nur vier Abenteuer erlebt – Tänzerin in einem Nachtclub sein, Französisch lernen, als Prostituierte arbeiten und einen Mann bedingungslos lieben. Es gab nicht viele Menschen, die in einem Jahr so viel erlebt hatten. Sie war glücklich – trotz aller Traurigkeit, und diese Traurigkeit hatte einen Namen, sie hieß weder Prostitution noch Schweiz, noch Geld, sondern Ralf Hart. Obwohl sie es sich nicht eingestand, hätte sie ihn gern geheiratet, ihn, der sie jetzt in einer Kirche erwartete, um sie in seine Welt mitzunehmen, damit sie seine Freunde, seine Malerei kennenlernte.
Sie überlegte, ob sie einfach nicht zur Verabredung gehen und sich bis zum Abflug morgen früh in einem Hotel am Flughafen einquartieren sollte. Für jede Minute, die sie an seiner Seite verlebt hatte, würde sie ein Jahr leiden müssen, für all das, was sie hätte sagen können und nicht sagen würde, für die Erinnerung an seine Hand, seine Stimme, seine Unterstützung, seine Geschichten.
Sie hob den Kofferdeckel, holte den kleinen Eisenbahnwaggon heraus, den Ralf ihr in der ersten Nacht in seinem Haus gegeben hatte. Sie betrachtete ihn eine Weile und warf ihn dann in den Müll. Dieser Zug verdiente es nicht, Brasilien kennenzulernen. Er hatte einem Kind, das ihn sich immer gewünscht hatte, keine Freude gebracht.
Nein, sie würde nicht in die Kirche gehen; denn sonst wü rde Ralf sie nach ihren Plänen für morgen fragen und sie, wenn sie ehrlich antwortete, daß sie wegging, bitten zu bleiben, ihr das Blaue vom Himmel versprechen, nur um sie nicht zu verlieren; er würde ihr seine Liebe erklären, obwohl er sie ihr doch schon die ganze Zeit gezeigt hatte.
Dabei hatten sie gelernt, sich frei und bedingungslos zu lieben – eine andere Art von Beziehung würde nicht gutgehen –, und vielleicht liebten sie sich gerade deshalb, weil sie einander nicht brauchten. Männer erschrecken immer, wenn Frauen ihnen signalisieren: >Ich will von dir abhängig sein.< Und Maria wollte die Erinnerung an einen verliebten Ralf Hart mitnehmen, der für sie durchs Feuer gegangen wäre.
Noch konnte sie es sich überlegen, ob sie zu dem Treffen gehen wollte oder nicht. Einstweilen mußte sie sich um ganz praktische Dinge kümmern. Es lag noch so viel herum, was sie nicht in den Koffern verstauen konnte. Sollte doch der Hausbesitzer entscheiden, was er mit ihren restlichen Habseligkeiten machen wollte, mit den Küchengeräten, den Bildern vom Flohmarkt, den Handtüchern und der Bettwäsche. Sie konnte unmöglich alles nach Brasilien mitnehmen, auch wenn ihre Eltern es nötiger brauchten als jeder Schweizer Bettler; sie würden sie an alle diese Abenteuer erinnern, in die sie sich gestürzt hatte.
Sie verließ die Wohnung, ging zur Bank und hob ihr gesamtes Erspartes ab. Der Direktor – ein Stammkunde von ihr – wollte sie umstimmen, ihr Konto würde weiterhin Zinsen abwerfen, die sie sich auch daheim in Brasilien ausbezahlen lassen konnte. Zudem könnte man sie ausrauben, und dann wäre der Lohn so vieler Monate Arbeit weg. Maria zögerte. Der Mann meinte es bestimmt gut mit ihr. Doch dann entschied sie, daß das Geld auf ihrem Konto sich nicht in Papier verwandeln sollte, sondern in eine Farm, ein Haus für ihre Eltern, etwas Vieh und noch viel mehr Arbeit.
Sie hob das Geld bis auf den letzten Rappen ab, steckte alles in ein eigens dafür gekauftes Täschchen, das sie sich unter der Kleidung um die Taille schnallte.
Dann ging sie ins Re isebüro, um ihr Ticket abzuholen. Sie betete, daß sie den Mut haben möge, ihr Vorhaben zu Ende zu führen: Ihre Maschine würde morgen in Paris zwischenlanden, wo sie umsteigen mußte. Das machte nichts – wichtig war, daß sie möglichst weit weg war, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Sie ging zur Mont-Blanc-Brücke, kaufte sich trotz des kalten Wetters ein Eis. Plötzlich sah sie Genf mit anderen Augen, nicht wie jemand, der dort wohnte, sondern als wäre sie eben erst angekommen und machte nun einen ersten Rundgang durch die Museen, historischen Gebäude und die Bars und Restaurants, die gerade in Mode waren. Merkwürdig, wie man solche Rundgänge immer aufschiebt, wenn man in einer Stadt lebt, bis man wegzieht und dann ist es zu spät.
Sie sagte sich, daß sie zufrieden sein sollte, weil sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie sagte sich, daß sie eigentlich auch traurig sein müßte, weil sie eine Stadt verließ, in der es ihr so gutgegangen war. Doch sie war weder zufrieden noch richtig traurig. Sie vergoß ein paar Tränen, und es beschlich sie wieder die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, obwohl sie doch intelligent war und alle Voraussetzungen erfüllte, um Erfolg zu haben.
Sie drückte sich die Daumen, daß sie es diesmal richtig machte.
Die Kirche war vollkommen leer, als sie eintrat, und sie konnte ungestört die schönen Glasfenster betrachten, durch die gleißendes, von den Stürmen der vergangenen Nacht gereinigtes Tageslicht hereinfiel. Vor ihr auf dem Altar stand ein nacktes Kreuz: kein Folterinstrument mit dem gekreuzigten Christus, sondern ein Symbol der Auferstehung. Dies war ein Kreuz, das seinen Schrecken verloren hatte. Unwillkürlich mußte sie an die Peitsche in der Gewitternacht denken und fragte sich entsetzt: >Mein Gott, wie komme ich bloß darauf?<
Sie war auch erleichtert, keine Bilder von Heiligen mit Wundmalen zu entdecken. Es war einfach ein Ort, an dem sich Menschen zusammenfanden, um gemeinsam ein Mysterium anzubeten.
Sie ging zum Tabernakel, in dem der Körper Jesu verwahrt wurde, an den sie noch glauben konnte, obwohl sie lange nicht an ihn gedacht hatte. Sie kniete nieder und gelobte Gott, der Heiligen Jungfrau, Jesus und allen Heiligen, daß sie es sich nicht anders überlegen und auf jeden Fall abreisen würde, was immer der heutige Tag bringen möge denn sie kannte die Fallstricke der Liebe zu gut und wußte, wie wankend sie den Willen einer Frau machen konnten.
Kurz darauf spürte sie, wie eine Hand ihre Schulter berührte, und neigte den Kopf zur Seite, bis sie die Hand an der Wange spürte.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte sie mit fester Stimme. »Sehr gut. Laß uns einen Kaffee trinken gehen.«
Hand in Hand gingen sie hinaus, wie ein Liebespaar, das sich nach langer Trennungszeit wiedersieht. Sie küßten sich ungeniert vor allen Leuten, die sie zum Teil empört anstarrten, lächelten über das Unbehagen, das sie hervorriefen, und die geheimen Wünsche, die sie mit ihrem ungehörigen Benehmen weckten. Sie wußten, daß sie genau das taten, was die andern selbst gern getan hätten. Allein das war skandalös.
Sie gingen in ein beliebiges Cafe, das an diesem Nachmittag nur deshalb anders war, weil sie beide dort waren und weil sie sich liebten. Sie redeten über Genf, die Schwierigkeiten der französischen Sprache, die Kirchenfenster, die Schädlichkeit des Rauchens – beide rauchten und hatten nicht die geringste Absicht, das Laster aufzugeben.
Sie bestand darauf, den Kaffee zu bezahlen, und er nahm die Einladung an. Sie gingen zur Vernissage, sie lernte seine Welt kennen, die Künstler, die Reichen, die reicher als reich, und die Millionäre, die arm wirkten; Leute, die sich für Dinge interessierten, von denen sie keine Ahnung hatte. Ralf sagte, er wolle abends ins >Copacabana< kommen, um sie zu treffen. Sie bat ihn, es nicht zu tun, da sie die Nacht frei habe und ihn gern zum Abendessen einladen würde.
Er nahm die Einladung an, sie verabredeten sich bei ihm zu Hause, um dann in einem netten Restaurant an dem kleinen Dorfplatz von Cologny zu Abend zu essen.
Dann fiel Maria ihre einzige Freundin ein, und sie beschloß, in die Bibliothek zu gehen, um sich von ihr zu verabschieden.
Sie blieb eine ganze Weile im Verkehr stecken, weil eine Kurdendemonstration die Innenstadt lahmlegte. Es machte ihr nichts aus, schließlich hatte sie jetzt alle Zeit der Welt.
Kurz vor Feierabend kam sie in der Bibliothek an. Die Bibliothekarin freute sich, sie zu sehen.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich immer gleich so persönlich werde. Ich habe keine Freundin, mit der ich diese intimen Dinge sonst besprechen könnte«, sagte sie.
Diese Frau hatte keine Freundin? Ausgerechnet sie, die so lange schon in Genf lebte, tagsüber so unterschiedliche Menschen traf, sollte niemanden haben, mit dem sie reden konnte? Da hatte sie ja endlich jemanden getroffen, dem es ging wie ihr – oder, besser gesagt, jemanden, dem es ging wie allen Menschen.
»Ich habe über das nachgedacht, was ich über die Klitoris gelesen habe…«
>Nein! Konnte es nicht etwas anderes sein?<
»Und darüber, daß ich selten einen Orgasmus gehabt habe, wenn ich mit meinem Mann schlief, obwohl ich es mit ihm immer sehr genoß. Finden Sie das normal?«
»Finden Sie normal, daß die Kurden jeden Tag demonstrieren? Daß verliebte Frauen vor ihrem Märchenprinzen fliehen? Daß Menschen von Farmen träumen, anstatt an Liebe zu denken? Daß Männer und Frauen ihre Zeit verkaufen, ohne sie wieder zurückkaufen zu können? Und doch ist es so. Wie ich das finde, interessiert niemand, denn es ist ja normal. Alles, was gegen die Natur ist, gegen unsere innersten Wünsche. All das ist in unseren Augen normal, obwohl es in Gottes Augen eine Verirrung ist. Wir suchen unsere Hölle, haben Jahrtausende gebraucht, um sie zu schaffen, und nach vielen Mühen können wir jetzt auf die allerschlechteste Art leben.«
Maria starrte die Bibliothekarin an. Zum ersten Mal traute sie sich, sie nach ihrem Vornamen zu fragen; bis jetzt hatten sie sich immer gegenseitig mit Madame angesprochen. Die Bibliothekarin hieß Heidi, war dreißig Jahre verheiratet gewesen, und diese Frau – Maria konnte es nicht fassen – hatte sich all diese Jahre kein einziges Mal gefragt, ob es normal war, während des Geschlechtsverkehrs mit ihrem Mann keinen Orgasmus zu haben.
»Ich weiß nicht, ob ich das alles hätte lesen sollen!« meinte die Bibliothekarin. »Vielleicht wäre es besser gewesen, das alles nicht zu wissen und weiterhin zu glauben, daß ein treuer Ehemann, eine Wohnung mit Seeblick und eine Anstellung beim Staat alles ist, wovon eine Frau träumen kann. Erst seit Sie hier aufgetaucht sind und seit ich die ersten Bücher über Sex gelesen habe, mache ich mir so viele Gedanken über mein Leben und darüber, was ich daraus gemacht habe. Geht es etwa allen so?«
»Und ob es allen so geht!« Maria fühlte sich plötzlich sehr welterfahren.
»Darf ich Ihnen noch etwas dazu sagen?«
Maria nickte.
Die Bibliothekarin fuhr fort: »Sie sind natürlich noch zu jung, um diese Dinge zu verstehen, aber gerade deshalb möchte ich etwas von mir erzählen, damit Sie nicht die gleichen Fehler machen wie ich. Wieso hat mein Mann nie auf die Klitoris geachtet? Er war der Meinung, daß der Orgasmus in der Vagina stattfindet, und ich habe mir Mühe, wirklich große Mühe gegeben, so erregt zu tun, wie er es von mir erwartete. Natürlich empfand ich Lust, aber eine ganz andere Lust. Nur wenn die Reibung am oberen Teil… Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja.«
»Und jetzt habe ich herausgefunden, wieso. Da steht es.« Sie zeigte auf ein Buch vor sich, dessen Titel Maria nicht sehen konnte. »Es gibt einen Nervenstrang, der von der Klitoris zum G-Punkt verläuft und äußerst wichtig ist. Doch die Männer glauben das nicht, sie meinen, Eindringen reiche aus. Wissen Sie, was der G-Punkt ist?«
»Wir haben neulich darüber gesprochen«, sagte Maria, diesmal in der Rolle der naiven Unschuld. »Gleich nach dem Eintreten, erster Stock, Fenster ganz hinten.«
»Genau, genau!« Die Augen der Bibliothekarin begannen zu leuchten. »Fragen Sie Ihre Freundinnen, die wenigsten werden davon gehört haben. Es ist absurd! Aber so wie die Klitoris die Entdeckung jenes Italieners war, ist der G-Punkt eine Errungenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts! Bald wird er die Schlagzeilen beherrschen, und niemand wird mehr sagen können, er wisse nichts davon! Sehen Sie, welch revolutionäre Zeiten wir gerade erleben?«
Maria schaute auf die Uhr, und die Bibliothekarin merkte, daß sie sich beeilen mußte, wenn sie diesem hübschen Mädchen vor ihr beibringen wollte, daß Frauen ein Recht auf Glück und sexuelle Erfüllung hatten und diese wissenschaftlichen Erkenntnisse an ihre Töchter weitergeben konnten.
»Doktor Freud war nicht dieser Meinung, weil er keine Frau war und seinen Orgasmus im Penis hatte. Deshalb glaubte er, wir müßten Lust in der Vagina empfinden. Wir müssen jedoch zu den Ursprüngen zurückkehren, zu dem, was uns immer schon Lust verschafft hat: zur Klitoris und zum G-Punkt! Wenigen Frauen gelingt es, eine befriedigende sexuelle Beziehung zu haben, und daher gebe ich Ihnen einen Rat: Kehren Sie die Stellung um. Legen Sie sich auf Ihren Liebsten, und bleiben Sie oben; Ihre Klitoris wird kräftiger gegen seinen Körper reiben, und Sie – nicht er werden stimuliert, wo Sie es brauchen. Besser gesagt, so stimuliert, wie Sie es verdienen!«
Maria tat so, als höre sie nur mit halbem Ohr hin, dabei nahm sie gebannt jedes Wort auf. Also ging es nicht nur ihr so! Sie hatte kein sexuelles Problem, es war alles nur eine Frage der Anatomie! Ihr fiel ein Stein vom Herzen, und sie wäre der Bibliothekarin vor Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen.
Die Bibliothekarin lächelte verschwörerisch.
»Sie wissen es nicht, aber wir haben auch eine Erektion! Die Klitoris erigiert.«
>Sie<, das mußten die Männer sein. Maria faßte sich ein Herz. Wenn die andere so vertrauliche Themen anschnitt, warum nicht auch sie?
»Hatten Sie schon einmal außerehelichen Sex?«
Die Bibliothekarin wirkte schockiert. Ihre Augen sprühten eine Art heiliges Feuer, sie errötete, ob vor Zorn oder Scham, konnte Maria nicht sagen. Sollte sie weiter von sich erzählen oder die Entrüstete spielen? Sie beschloß, das Thema zu wechseln.
»Kehren wir zu unserer Erektion zurück: Die Klitoris wird steif, wußten Sie das?«
»Schon als Kind.«
Die Bibliothekarin wirkte enttäuscht. Doch sie erzählte weiter. »Offenbar ist die Lust noch intensiver, wenn man die Klitoris mit dem Finger umkreist, ohne die Spitze zu berühren. Die Männer, die sich für den Körper einer Frau interessieren, berühren sofort die Spitze der Klitoris, ohne zu wissen, wie schmerzhaft das sein kann. Sie kennen das sicher. Außerdem ist ein offenes Gespräch mit dem Partner immer gut, heißt es im Buch, das ich gerade lese.«
»Haben Sie einmal offen mit Ihrem Mann darüber geredet?«
Wieder wich die Bibliothekarin der direkten Frage aus. Damals sei eben vieles anders gewesen. Außerdem sei sie jetzt mehr daran interessiert, ihr Wissen mit jemandem zu teilen.
Maria schaute auf die Uhr und sagte, sie sei eigentlich nur gekommen, um sich zu verabschieden. Die Bibliothekarin hörte ihr nicht zu.
»Wollen Sie dieses Buch über die Klitoris nicht mitnehmen?«
»Nein, danke.«
»Und sonst, wollen Sie nichts anderes ausleihen?«
»Nein. Ich fliege morgen in meine Heimat zurück und wollte Ihnen nur vorher dafür danken, daß Sie mich immer verständnisund respektvoll behandelt haben. Bis… irgendwann.«
Sie gaben einander die Hand und wünschten sich gegenseitig Glück.
Die Bibliothekarin wartete, bis das Mädchen gegangen war, dann verlor sie die Beherrschung. Warum bloß hatte sie die Gelegenheit nicht genutzt, um ihr ihr Geheimnis zu erzählen? Nun würde sie es bestimmt mit ins Grab nehmen. Warum hatte sie nicht geantwortet, als das Mädchen den Mut gehabt hatte, sie zu fragen, ob sie je ihren Mann betrogen habe?
>Tja, Pech gehabt.<
Sex war zwar nicht das Wichtigste auf der Welt, aber trotzdem. Sie blickte um sich; wie viele dieser Bücher hier erzählten von Menschen, die sich verliebten, aus den Augen verloren und wiederfanden. Von Seelen, die miteinander kommunizierten, von fernen Orten, Abenteuern, Leid, Sorgen. Doch kaum ein Autor forderte seine Leser auf: »Meine Herrschaften, Sie sollten den Frauenkörper besser verstehen lernen.« Warum wurde denn nirgendwo offen darüber geredet?
Vielleicht war niemand wirklich daran interessiert. Die Männer waren immer auf der Suche nach etwas Neuem, waren immer noch steinzeitliche Jäger, die dem Instinkt der Arterhaltung folgten. Und die Frauen? Aus eigener Erfahrung wußte Heidi, daß der Wunsch, mit dem Partner einen Orgasmus zu haben, nur die ersten Jahre anhielt; dann schlief man weniger oft miteinander, und keine Frau redete darüber, weil sie glaubte, daß es nur ihr so ging. Und sie log, tat so, als sei sie es leid, jede Nacht dem Drängen ihres Mannes nachzugeben.
Die Frauen konzentrierten sich dann vermehrt auf andere Dinge: Kinder, Küche, Zeitpläne, Haushalt, Rechnungen, die bezahlt werden mußten, Toleranz gegenüber den Eskapaden des Mannes, Urlaubsreisen, in denen sie sich mehr um die Kinder als um sich selbst kümmerten. Vielleicht gab es unter den Eheleuten Kameradschaft oder sogar Liebe, aber keinen Sex mehr.
Sie hätte offener mit der jungen Brasilianerin reden sollen, die ihr so naiv und unschuldig vorkam wie ihre eigene Tochter und noch weniger Ahnung hatte vom Leben. Eine Ausländerin, die fern ihrer Heimat lebte, sich in einem uninteressanten Job abmühte; die auf einen Mann wartete, der ihr Sicherheit geben, den sie heiraten, dem sie Orgasmen vortäuschen und mit dem sie Kinder haben konnte und dabei alles, Orgasmus, Klitoris und G-Punkt, vergessen konnte. Sie würde eine gute Ehefrau, eine gute Mutter sein, dafür Sorge tragen, daß es im Haus an nichts fehlte, manchmal heimlich masturbieren, dabei an einen wildfremden Mann denken, der ihr auf der Straße begegnet war und sie begehrlich angeschaut hatte. Und sie würde den Schein wahren warum bloß war der Schein so wichtig?
Er war der Grund, weswegen sie die Frage >Hatten Sie schon einmal außerehelichen Sex?< nicht beantwortet hatte. So etwas nimmt man mit ins Grab, dachte sie. Ihr Mann war der Mann ihres Lebens geblieben, obwohl Sex nur noch eine ferne Erinnerung war. Er war ein großartiger Partner, ehrlich, großzügig, immer gut gelaunt gewesen; er hatte hart gearbeitet, um die Familie zu ernähren, und hatte sich für deren Glück verantwortlich gefühlt. Der ideale Mann, von dem die Frauen träumen, und gerade deshalb fühlte sie sich mies, wenn sie daran dachte, daß sie einmal gewünscht hatte, mit einem anderen Mann zusammenzusein – und es auch getan hatte.
Sie erinnerte sich, wie sie ihm begegnet war. Es war auf dem Heimweg von Davos gewesen, einem Ort in den Bergen, als eine Lawine den Bahnverkehr für ein paar Stunden lahmlegte. Sie hatte zu Hause angerufen, damit ihre Familie sich keine Sorgen machte, dann war sie zum Bahnhofskiosk gegangen, hatte sich ein paar Zeitschriften gekauft, mit denen sie sich die lange Wartezeit zu verkürzen hoffte.
Da sah sie einen Mann mit einem Rucksack und einem Schlafsack. Er hatte graues Haar, sonnengebräunte Haut und war der einzige, der sich wegen der Verspätung keine Sorgen zu machen schien; ganz im Gegenteil, er lächelte, blickte sich suchend nach jemandem um, mit dem er reden könnte. Sie hatte eine der Zeitschriften aufgeschlagen, doch als sie einmal aufschaute, konnte sie die Augen nicht schnell genug abwenden, um zu verhindern, daß der Mann auf sie zukam.
Noch bevor sie ihn mit einer höflichen Ausrede wieder wegschicken konnte, begann er zu sprechen. Er sagte, er sei Schriftsteller. Er sei zu einer Podiumsdiskussion eingeladen gewesen, und nun würde er wegen der Lawine sein Flugzeug verpassen. Ob sie ihm helfen könne, ein Hotel zu suchen, wenn sie in Genf angekommen seien?
Sie schaute ihn an: Wie konnte jemand, der in einem ungemütlichen Bahnhof stundenlang auf eine Zugverbindung wartete und außerdem wußte, daß er sein Flugzeug verpaßte, so gut gelaunt sein?
Der Mann redete mit ihr, als wären sie alte Freunde. Er erzählte von seinen Reisen, von seiner Schriftstellerei und, zu ihrem Entsetzen, von den vielen Frauen, die er ge liebt hatte und denen er in seinem Leben begegnet war. Sie selbst nickte nur, während er unbeirrt weiterredete. Hin und wieder unterbrach er sich, bat sie, doch auch einmal von sich zu erzählen, doch sie antwortete nur: >Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, an mir ist nichts Besonderes.<
Plötzlich ertappte sie sich dabei, wie sie wünschte, der Zug möge niemals kommen. Das Gespräch war hochinteressant, sie erfuhr Dinge, über die sie bislang nur in Romanen gelesen hatte. Und da sie den Schriftsteller nie wiedersehen würde, faßte sie sich ein Herz und begann ihn über Themen auszufragen, die sie interessierten. Sie durchlebte damals in ihrer Ehe gerade eine schwierige Phase, ihr Ehemann wollte sie immer um sich haben, und sie wollte wissen, wie sie ihn glücklich machen könnte. Der Schriftsteller machte einige interessante Vorschläge, schien aber nicht gern über ihren Mann reden zu wollen.
»Sie sind eine sehr interessante Frau«, sagte er. Das hatte seit vielen Jahren niemand mehr zu ihr gesagt.
Sie wußte nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Er bemerkte ihre Verwirrung, wechselte das Thema und begann von Wüsten, Bergen, versunkenen Städten und verschleierten Frauen mit nacktem Bauch zu erzählen, von Kriegern, Piraten und weisen alten Männern.
Der Zug kam. Sie setzten sich nebeneinander, und plötzlich war sie nicht mehr die verheiratete Frau mit einer Villa am See, drei Kindern, die sie großziehen mußte, sondern eine Abenteuerin, die zum ersten Mal in Genf ankam. Sie schaute auf die Berge, den Fluß und fühlte sich glücklich neben einem Mann, der sie erobern wollte (alle Männer wollen nur das eine) und alles daransetzte, um sie zu beeindrucken. Sie dachte daran, wie viele Männer sie möglicherweise hatten erobern wollen und daß sie ihnen nie die geringste Chance gegeben hatte. Aber an diesem Morgen war die Welt wie verwandelt gewesen, und sie war ein junges, achtunddreißigjähriges Mädchen, das staunend zuließ, daß ein Mann sie verführte.
Da tauchte im vorzeitigen Herbst ihres Lebens, als sie nichts Neues mehr erwartete, dieser Mann auf einem Bahnsteig auf und trat, ohne anzuklopfen, in ihr Leben. Sie stiegen in Genf aus, und sie fand ein Hotel für ihn (ein einfaches, denn er wollte noch am Abend abreisen und keine weitere Nacht in der sündhaft teuren Schweiz verbringen). Er bat sie, mit ihm hinaufzugehen und nachzusehen, ob das Zimmer in Ordnung sei, und sie wußte, was gemeint war, ging aber trotzdem mit. Sie schlossen die Tür, küßten sich heftig und voller Begehren, er riß ihr die Kleider vom Leib, und – mein Gott! – er kannte den weiblichen Körper, weil er das Leiden und die Frustrationen vieler Frauen kannte.
Sie liebten sich den ganzen Nachmittag, und erst als es dunkel wurde, verflog der Zauber, und sie sprach den Satz aus, den sie am liebsten sofort wieder zurückge nommen hätte: »Ich muß nach Hause. Mein Mann wartet auf mich.«
Er zündete eine Zigarette an. Sie schwiegen minutenlang, und keiner von beiden sagte adieu. Heidi erhob sich und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinaus, denn sie wußte, jeder Satz würde der falsche sein. Sie würde den Schriftsteller niemals wiedersehen. Ihm hatte sie es zu verdanken, daß sie ein paar Stunden lang nicht mehr die treue Ehefrau, Hausfrau, liebevolle Mutter, vorbildliche Beamtin, beständige Freundin, sondern einfach nur Frau gewesen war. Ihr Mann, der sehr wohl merkte, daß etwas vorgefallen war, fand, sie sei plötzlich soviel fröhlicher oder auch trauriger, er könne es nicht beschreiben. Doch ein paar Tage später war alles wieder wie vorher.
>Schade, daß ich dem Mädchen das nicht erzählt habe<, sagte sie sich. >Doch sie hätte es sicher nicht verstanden, denn sie lebt noch in einer Welt, in der die Menschen einander treu sind und Liebesschwüre auf ewig gelten.<
Aus Marias Tagebuch:
Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er an diesem Abend die Tür aufmachte und mich mit meinen beiden Koffern dastehen sah.
»Keine Angst«, sagte ich sofort, »ich will nicht hier einziehen. Laß uns essen gehen.«
Er hat mir kommentarlos geholfen, das Gepäck hineinzutragen. Er hat weder >Hallo< noch >Wie schön, daß du da bist< gesagt. Er hat mich einfach gepackt, mich geküßt, angefangen, mich zu streicheln, meine Brüste, mein Geschlecht, am ganzen Körper, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet und als wüßte er, daß dies vielleicht die letzte Gelegenheit sei.
Er hat mir den Mantel ausgezogen, das Kleid, mich nackt ausgezogen, und dort in der Eingangshalle, in der kalten Zugluft, haben wir uns ohne irgendein Ritual oder Vorspiel zum ersten Mal richtig geliebt. Ich überlegte noch, ihm zu sagen, er solle aufhören, wir sollten es uns bequemer machen, wir hätten doch alle Zeit, um unsere Sinnlichkeit zu erforschen. Aber zugleich wollte ich ihn in mir haben, weil er der Mann war, den ich niemals besessen hatte und wohl nie besitzen würde und gerade deshalb mit all meiner Kraft lieben konnte. Zumindest eine Nacht wollte ich das haben, was ich nie zuvor gehabt hatte und wahrscheinlich nie wieder haben würde.
Er legte mich auf den Boden, drang in mich ein, noch bevor ich ganz naß war, aber der Schmerz störte mich nicht, im Gegenteil, mir gefiel es so, denn er sollte merken, daß ich sein war und er mich nicht vorher fragen mußte. Jetzt war nicht der Augenblick, ihm irgend etwas beizubringen oder ihm zu zeigen, daß ich sensibler, sinnlicher war als andere Frauen. Jetzt ging es nur darum, ja zu sagen, daß er willkommen war, daß ich darauf gewartet hatte und freudig akzeptierte, daß er alle zwischen uns abgemachten Regeln mißachtete. Jetzt sollten nur unsere Triebe uns leiten, der männliche und der weibliche. Wir hatten die konventionellste aller Stellungen eingenommen – ich unten und er oben –, und ich spielte ihm nichts vor, stöhnte nicht. Ich sah ihn nur an, um mich später an jede einzelne Sekunde erinnern zu können. Ich wollte sehen, wie sein Gesicht sich veränderte, ich wollte spüren, wie seine Hände mein Haar packten, sein Mund mich biß, mich küßte. Kein Vorspiel, keine Zärtlichkeiten, keine Raffinessen, nur er in mir und ich in seiner Seele.
Er beschleunigte den Rhythmus und verlangsamte ihn wieder, hielt zwischendurch inne, um mich anzusehen, aber er fragte nicht, ob es mir gefiel, weil er wußte, daß unsere Seelen in diesem Augenblick nur so miteinander kommunizieren konnten. Der Rhythmus wurde schneller, und ich wußte, daß die elf Minuten gleich zu Ende sein würden. Ich wünschte, sie würden nie aufhören, weil es so gut war – ach, mein Gott, so gut, sich hinzugeben und nicht zu besitzen! Irgendwann verschwamm alles vor meinen Augen, und ich spürte, daß wir in eine andere Dimension eintraten: Ich war die Große Mutter, das Universum, die geliebte Frau, die heilige Hure dieser alten Rituale, die er mir kürzlich bei einem Glas Wein am Kamin erklärt hatte. Ich fühlte, daß er kam, und seine Arme umfingen mich mit aller Kraft, seine Bewegungen wurden intensiver, und dann schrie er – er stöhnte nicht, biß sich nicht auf die Lippen, er schrie! Brüllte! Brüllte wie ein Tier! Mochten doch die Nachbarn die Polizei rufen, wenn es sie störte, mir war es egal. Und dann erfüllte mich eine ungeheure Freude: so war es von Anbeginn gewesen, als der erste Mann der ersten Frau begegnet war und sie sich das erste Mal geliebt hatten.
Sein Körper brach über meinem zusammen, und ich weiß nicht, wie lange wir so eng umschlungen dalagen. Ich streichelte sein Haar, so wie ich es nur in der Nacht getan hatte, in der wir uns im Hotel im Dunkeln eingeschlossen hatten. Ich spürte, wie sein Herzschlag sich ganz allmählich beruhigte. Und als seine Hände anfingen, zart meine Arme zu streicheln, bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut.
Er muß an irgend etwas Konkretes gedacht haben beispielsweise das Gewicht seines Körpers auf meinem –, denn er rollte zur Seite, hielt meine Hand, und wir lagen nebeneinander auf dem Rücken und starrten zur Decke, zum Kronleuchter empor.
»Hallo, guten Abend«, sagte ich zu ihm.
Er zog mich an sich, zog meinen Kopf an seine Brust, streichelte mich noch eine ganze Weile, dann sagte auch er: »Hallo, guten Abend.«
»Die Nachbarn müssen alles gehört haben«, meinte ich, weil »ich liebe dich« zu sagen mir in diesem Augenblick fehl am Platze zu sein schien, weil es offensichtlich war, daß wir uns liebten.
Und Ralf antwortete: »Es zieht«, obwohl er auch lieber »es war einfach wunderbar« gesagt hätte. »Laß uns in die Küche gehen.«
Wir erhoben uns, und ich sah, daß er nicht einmal die Hose ganz ausgezogen hatte. Er zog sie hoch. Ich schlüpfte nackt in meinen Mantel Wir gingen in die Küche, er kochte Kaffee, rauchte zwei Zigaretten, während ich nur eine rauchte. Als wir am Tisch saßen, bedankten wir uns stumm beieinander.
Schließlich faßte er sich ein Herz und fragte, was die Koffer zu bedeuten hätten.
»Ich fliege morgen mittag nach Brasilien zurück.«
Eine Frau begreift, wann ein Mann für sie wichtig ist. Ob die Männer so etwas auch begreifen? Oder mußte ich »ich liebe dich«, »ich würde gern bei dir bleiben«, »bitte mich, zu bleiben« sagen?
»Geh nicht!« Ja, er hatte begriffen.
»Ich gehe. Ich habe ein Gelübde abgelegt.«
Denn sonst hätte ich womöglich geglaubt, daß dies für immer war. Aber das war es nicht, es gehörte zum Traum eines Mädchens aus dem hintersten Winkel eines fernen Kontinents, das in die große Stadt geht (so groß nun auch wieder nicht) und nach vielen Hindernissen dem Mann begegnet, den es liebt. Aber dies hier war der Schlußstrich unter alle schwierigen Augenblicke, die ich durchgemacht hatte, das Happy-End. Wenn ich mich später an mein Leben in Europa zurückerinnern würde, stünde am Ende immer die Geschichte eines Mannes, der sich in mich verliebt hatte, der immer mein sein würde, da ich seine Seele besucht hatte.
Ach, Ralf, du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich glaube, wir verlieben uns immer in dem Augenblick, in dem wir dem Mann unserer Träume zum ersten Mal begegnen, obwohl der Verstand uns weismachen will, daß wir uns irren. Wir beginnen uns halbherzig dagegen zu wehren. Bis der Augenblick kommt, in dem wir unseren Gefühlen nachgeben, und genau das ist in jener Nacht passiert, als ich barfuß und schlotternd vor Kälte und Schmerz durch den Park gegangen bin und begriff, wie sehr du mich liebtest.
Ja, ich liebe dich so, wie ich noch nie einen Mann geliebt habe, und ebendeshalb gehe ich, denn wenn ich bleibe, würde der Traum Wirklichkeit werden, und ich würde dich besitzen wollen – all das, was aus Liebe allmählich Sklaverei macht. Es ist besser, es bleibt ein Traum. Wir müssen sehr vorsichtig mit dem sein, was wir aus einem Land mitnehmen – oder aus dem Leben.
»Du hattest keinen Orgasmus«, sagte er und versuchte so, das Thema zu wechseln, vorsichtig und zuvorkommend zu sein, keinen Druck auszuüben. Er hatte Angst, mich zu verlieren, und er glaubte, noch die ganze Nacht vor sich zu haben, um mich umzustimmen.
»Ich hatte keinen Orgasmus, aber ich habe es wahnsinnig genossen.«
»Aber es wäre besser gewesen, wenn du einen gehabt hättest.«
»Ich hätte einen vortäuschen können, um dich zufriedenzustellen, aber das hast du nicht verdient. Du bist ein Mann, Ralf Hart, in allem, was dieses Wort an Schönem, Intensivem beinhaltet. Du hast mich unterstützt, mir geholfen, hast zugelassen, daß ich dich unterstütze und dir helfe, ohne dies in irgendeiner Weise als Demütigung zu verstehen. Ja, ich hätte gern einen Orgasmus gehabt, hatte aber keinen. Doch ich fand den kalten Boden, deinen heißen Körper, die Heftigkeit, mit der du mit meiner Zustimmung in mich eingedrungen bist, wunderbar.
Heute habe ich die Bücher zurückgebracht, die ich noch ausgeliehen hatte, und die Bibliothekarin hat mich gefragt, ob ich mit meinem Partner über Sex spreche. Ich hätte am liebsten gefragt: Mit welchem Partner? Und über was für Sex? Aber sie hatte es nicht verdient, sie war immer sehr lieb zu mir gewesen. Tatsächlich hatte ich, seit ich in Genf angekommen bin, nur zwei Partner: einen, der das Schlimmste in mir geweckt hat, weil ich es zugelassen, ihn sogar darum gebeten habe. Der andere bist du, der mir das Gefühl zurückgab, in die Welt zu gehören. Ich würde dir gern beibringen, wo du meinen Körper berühren mußt, wie intensiv, wie lange, und ich weiß, daß du das nicht als Kritik, sondern als Anregung auffaßt, damit unsere Seelen besser miteinander kommunizieren. Die Kunst der Liebe ist wie deine Bilder: Sie verlangt von einem Paar Technik, Geduld und vor allem viel Praxis. Man muß wagemutig sein, über das hinausgehen, was gemeinhin unter >Liebe machen< verstanden wird.«
Schluß. Da war wieder die Lehrerin, und das wollte ich nicht sein, aber Ralf rettete die Situation, indem er eine Zigarette anzündete, die dritte in weniger als einer halben Stunde.
»Erstens wirst du heute die Nacht hier verbringen.« Das war keine Bitte, das war ein Befehl. »Zweitens werden wir uns wieder lieben, aber weniger gierig, mit mehr Begehren. Und drittens möchte ich gern, daß du die Männer besser verstehen lernst.«
Die Männer besser verstehen? Ich hatte jede Nacht mit ihnen verbracht, mit Weißen, Schwarzen, Asiaten, Juden, Moslems, Buddhisten. Wußte Ralf das nicht?
Ich fühlte mich leichter; wie gut, daß das Gespräch sich zu einer Debatte entwickelte, ich war drauf und dran gewesen, Gott um Vergebung zu bitten und mein Gelübde zu brechen.
Doch die Wirklichkeit hatte mich wieder und sorgte dafür, daß ich meinen Traum nicht antastete und dem Schicksal nicht in die Falle ging.
»Ja, die Männer besser verstehen«, wiederholte Ralf, und es klang leicht ironisch. »Du redest davon, deine weibliche Sexualität auszuleben, mir helfen zu wollen, deinen Körper zu entdecken, Geduld, Zeit zu haben. In Ordnung, aber ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, daß wir verschieden sind, zumindest was die Zeit betrifft? Warum beklagst du dich nicht bei Gott?
Als wir uns begegnet sind, habe ich dich gebeten, mir etwas über Sex beizubringen, weil mein Begehren erloschen war. Weißt du, warum? Weil jede sexuelle Beziehung nach ein paar Jahren in Langeweile oder Frustration endete, da ich begriffen hatte, daß es sehr schwierig war, den Frauen, die ich geliebt hatte, ebensoviel Lust zu verschaffen wie sie mir.«
Das mit den anderen »Frauen, die ich geliebt hatte« gefiel mir nicht, doch ich überspielte meine Gekränktheit, indem ich mir eine Zigarette anzündete.
»Ich hatte nicht den Mut, sie zu bitten: >Lehre mich, deinen Körper verstehen!< Aber als ich dich getroffen habe, sah ich dein Licht, verliebte ich mich sofort in dich, dachte, daß ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte, ehrlich mit mir selbst sein konnte – und zu der Frau, die ich an meiner Seite haben wollte.«
Meine Zigarette schmeckte großartig, und ich hätte ihn gern gebeten, mir ein bißchen Wein einzuschenken, wollte aber nicht vom Thema ablenken.
»Warum denken die Männer immer nur an Sex, anstatt das zu tun, was du mit mir getan hast, nämlich herauszufinden, wie ich mich fühle?«
»Wer sagt denn, daß wir immer nur an Sex denken? Ganz im Gegenteil: Wir bringen Jahre unseres Lebens damit zu, uns davon zu überzeugen, daß Sex für uns wichtig ist. Prostituierte oder Jungfrauen führen uns in die körperliche Liebe ein, wir erzählen unsere Abenteuer jedem, der sie hören will, und wenn wir älter sind, paradieren wir mit einer jungen Geliebten am Arm, um unseren Geschlechtsgenossen zu zeigen, daß wir genau dem Bild entsprechen, das Frauen von uns Männern haben.
Aber soll ich dir mal was sagen? Wir verstehen überhaupt nichts. Wir glauben, daß Sex und Ejakulation ein und dasselbe sind, was sie eben gerade nicht sind. Wir lernen nichts dazu, weil wir nicht den Mut haben, der Frau zu sagen: >Lehr mich, deinen Körper zu verstehen.< Wir lernen nichts dazu, weil die Frau auch nicht den Mut hat, zu sagen: >Lerne zu verstehen, wie ich bin.< Wir bleiben beim ursprünglichen Fortpflanzungstrieb stehen, und das war's dann. Weißt du, was wichtiger für einen Mann ist als Sex?«
Ich dachte, es sei vielleicht Geld oder Macht, sagte aber nichts.
»Sport. Und weißt du, warum? Weil ein Mann den Körper eines anderen Mannes versteht. Dort, beim Sport, sieht man den Dialog zwischen Körpern, die sich verstehen.«
»Du bist verrückt.«
»Mag sein. Aber hast du schon einmal überlegt, was die
Männer, mit denen du im Bett warst, fühlen?«
»Ja, das habe ich; sie waren alle unsicher. Sie hatten Angst.«
»Schlimmer noch als Angst. Sie waren verletzlich. Sie begriffen nicht recht, was sie taten. Sie wußten nur, daß die Gesellschaft, die Freunde, ihre Frauen es für wichtig hielten. >Sex, Sex, Sex, das ist das Salz des Lebens<, so heißt es überall, in der Werbung, in den Filmen, in den Büchern. Keiner weiß, wovon er redet. Nur daß der Trieb stärker ist als wir alle.«
Genug jetzt. Ich hatte versucht, Sexlektionen zu erteilen, um mich zu schützen, und er machte es genauso. Und so weise er sich dabei auch ausdrückte, um mich zu beeindrucken – so wie auch ich ihn immer beeindrucken wollte –, so dumm war es und unserer Beziehung unwürdig. Ich zog ihn an mich, denn unabhängig davon, was er mir alles noch sagen oder ich von mir denken mochte – so viel hatte ich immerhin begriffen: Am Anfang war alles Liebe und Hingabe gewesen. Aber dann war die Schlange zu Eva gekommen und hatte gesagt: »Was du gegeben hast, wirst du verlieren.« So war es mit mir gewesen ich wurde noch in der Schulzeit aus dem Paradies vertrieben, und seither habe ich stets versucht, der Schlange zu sagen, daß sie sich irrte, daß leben wichtiger sei, als etwas für sich zu behalten. Aber die Schlange hatte recht und ich unrecht.
Ich kniete nieder, zog ihn langsam aus und sah, daß sein Geschlecht ruhte, nicht reagierte. Ihn schien das nicht zu stören, und ich streichelte ihn zwischen den Beinen, kitzelte seine Füße. Sein Geschlecht begann langsam zu reagieren, und ich berührte es, dann nahm ich es in den Mund, und ohne Hast – damit er es nicht als >los, mach dich bereit zu handeln< mißverstand – küßte ich ihn zärtlich wie jemand, der nichts erwartet, und gerade deshalb gelang mir alles. Ich fühlte, daß er erregt wurde, und er begann meine Brustwarzen zu berühren, umkreiste sie wie in jener Nacht vollkommener Dunkelheit, weckte in mir den Wunsch, ihn wieder zwischen meinen Beinen oder in meinem Mund zu haben oder wie auch immer er mich besitzen wollte.
Er zog meinen Mantel nicht aus; beugte mich nach vorn auf den Tisch, bis mein Oberkörper darauf lag und meine Beine fest auf dem Boden standen. Er drang langsam in mich ein, diesmal ohne Hast, ohne Angst, mich zu verlieren – denn im Grund hatte er auch schon begriffen, daß dies ein Traum war und für immer ein Traum bleiben, niemals Wirklichkeit werden würde.
Als ich ihn in mir spürte und er meine Brüste, mein Geschlecht kundig liebkoste wie eine Frau, begriff ich, daß wir füreinander geschaffen waren, beide mit unserer weiblichen und männlichen Seite, daß die beiden Teile, die einander verloren hatten, sich wiedergefunden hatten.
Als er in mich eindrang und mich liebkoste, spürte ich, daß er nicht nur mit mir Liebe machte, sondern mit dem ganzen Universum. Wir hatten Zeit, Zärtlichkeit, und wir kannten einander. Ja, es war wunderbar gewesen, mit meinen Koffern zu erscheinen; auch dieser Augenblick, als er mich auf den Boden zog, ich erst gehen wollte, dann aber sein heftiges Eindringen genoß; aber es war auch gut, zu wissen, daß die Nacht nie aufhören würde und daß der Orgasmus hier am Küchentisch nicht das Ziel, sondern der Beginn unserer Begegnung war.
Sein Geschlecht in mir bewegte sich nicht, während seine Finger sich schnell bewegten, und ich hatte nacheinander, ein, zwei, drei Orgasmen. Ich wollte ihn wegstoßen, der Schmerz der Lust war so groß, daß er mich fast in die Knie zwang, aber ich hielt stand, nahm hin, daß es so war, daß ich noch einen Orgasmus würde ertragen können und noch einen und noch einen…
…und plötzlich explodierte eine Art Licht in mir. Ich war nicht mehr ich selbst, sondern ein Wesen, das allem, was ich kannte, unendlich überlegen war. Als seine Hand mich zum vierten Orgasmus führte, trat ich in einen Raum ein, in dem alles Frieden war, und bei meinem fünften Orgasmus trat ich aus mir heraus und gab mich ganz hin.
Ich war die Erde, die Berge, die Flüsse, die in die Seen flossen, die Seen, die zum Meer wurden. Er bewegte sich immer schneller, und der Schmerz vermischte sich mit Lust, und ich hätte sagen können »ich halte es nicht mehr aus«, aber das wäre nicht richtig gewesen, denn jetzt waren er und ich nur noch ein einziges Wesen.
Ich ließ ihn gewähren. Seine Fingernägel krallten sich in mein Gesäß, und als ich dort bäuchlings auf dem Küchentisch lag, dachte ich, es gibt keinen besseren Ort, um sich zu lieben. Die Tischbeine knirschten, sein Atem ging immer schneller, seine Fingernägel taten mir weh. Geschlecht schlug gegen Geschlecht, Fleisch gegen Fleisch, und zusammen trieben wir auf einen neuen Orgasmus zu, und keiner spielte dem anderen etwas vor.
»Komm«, sagte er.
Und ich wußte, daß der Augenblick da war, spürte, wie mein ganzer Körper erschlaffte, wie ich aufhörte, ich selbst zu sein ich hörte, sah und schmeckte nichts mehr, fühlte nur noch.
»Komm!«
Und ich kam mit ihm. Es waren keine elf Minuten, sondern eine Ewigkeit, in der wir beide aus unseren Körpern heraustraten und freudig und einträchtig durch die Gärten des Paradieses wandelten. Ich war Frau und Mann, und er war Mann und Frau. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, aber alles schien still und ins Gebet versunken zu sein, als hätten das Universum und das Leben aufgehört zu existieren und wären zu etwas Namenlosem, Zeitlosem, Heiligem geworden.
Doch dann kehrte ich ins Jetzt zurück, und ich hörte seine Schreie, und ich schrie mit ihm. Die Tischbeine scharrten, und keinen von uns kümmerte es, was der Rest der Welt denken mochte.
Unvermittelt zog er sich aus mir zurück. Ich lachte, und er drehte mich zu sich herum und lachte auch. Wir drückten uns aneinander, als wäre es für uns beide das erste Mal gewesen.
»Segne mich«, bat er.
Ich segnete ihn, ohne zu wissen, was ich da tat. Ich bat ihn, es mir nachzutun, und er tat es mit den Worten: »Gesegnet sei diese Frau, die ich so liebe.« Und dann umarmten wir uns wieder und blieben so stehen, fassungslos darüber, wie weit elf Minuten einen Mann und eine Frau bringen können.
Wir waren beide nicht müde. Wir gingen ins Wohnzimmer, er legte eine Platte auf, und er machte genau das, was ich mir gewünscht hatte: Er zündete den Kamin an und schenkte mir Wein ein. Dann schlug er ein Buch auf und las:
»Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine einsammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.«
Das klang wie ein Abschied. Aber es war der schönste Abschied, der mir in meinem Leben je beschert worden war. Ich umarmte ihn, er umarmte mich, wir legten uns auf den Teppich vor dem Kamin. Alles war so warm und vertraut, als wäre ich schon immer eine erfahrene, glückliche, erfüllte Frau gewesen.
»Wie konntest du dich in eine Prostituierte verlieben?«
»Anfangs verstand ich es nicht. Doch jetzt, nachdem ich darüber nachgedacht habe, glaube ich, daß ich mich, da ich wußte, daß dein Körper mir nie allein gehören würde, ganz darauf konzentrieren konnte, deine Seele zu erobern.«
»Und die Eifersucht?«
»Man kann zum Frühling nicht sagen, >hoffentlich kommst du bald und dauerst lange<. Man kann nur sagen: >Komm und segne mich mit deiner Hoffnung, und bleib so lange, wie du kannst.<«
Worte, die in den Wind geschrieben waren. Aber ich mußte sie hören, und er mußte sie sagen. Ich schlief ein und träumte… von einem Duft, der alles erfüllte.
Als Maria die Augen aufschlug, drangen die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousien. >Wir haben uns zweimal geliebt<, dachte sie und blickte auf den neben ihr schlafenden Mann. >Und dennoch ist es, als wären wir immer zusammengewesen und als kennte er mein ganzes Leben, meine Seele, meinen Körper, mein Licht, meinen Schmerz.<
Sie stand auf, ging in die Küche, kochte Kaffee. Da sah sie die beiden Koffer auf dem Flur, und ihr fiel alles wieder ein: das Gelübde, das Gebet in der Kirche, ihr Leben, der Traum, der unbedingt Wirklichkeit werden und seinen Zauber verlieren wollte, der vollkommene Mann, die Liebe, bei der Körper und Seele eins und Lust und Orgasmus zwei verschiedene Dinge sind.
Sie hätte bleiben können; sie hatte nichts zu verlieren, nur eine Illusion mehr. Dann dachte sie an den Bibelvers: Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit.
Doch danach kam noch ein Vers: Herzen hat seine Zeit, nicht mehr herzen hat seine Zeit. Sie trank den Kaffee, schloß die Küchentür, bestellte telefonisch ein Taxi. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, die sie so weit gebracht hatte, die die Quelle ihres >Lichts< war, die ihr gesagt hatte, wann sie weggehen mußte, damit die Erinnerung an diese Nacht bewahrt bliebe. Sie kleidete sich an. nahm ihre Koffer und trat vor die Haustür. Dabei wünschte sie sich sehnlichst, er möge aufwachen und sie bitten zu bleiben.
Aber er wachte nicht auf. Während sie draußen auf das Taxi wartete, kam eine Zigeunerin mit einem Armvoll Blumen vorbei.
»Möchten Sie eine Blume?«
Maria kaufte ihr eine ab; es war das Zeichen, daß der Herbst gekommen, der Sommer vorbei war. In Genf würden die Tische bald von den Bürgersteigen und die vielen Spaziergänger aus den sonnenbeschienenen Parks verschwinden. Nun denn. Sie ging schließlich freiwillig fort und durfte sich nicht beklagen.
Im Flughafen trank sie noch einen Kaffee, sie mußte die vier Stunden bis zum Abflug herumbringen. Sie hoffte inständig, Ralf würde jeden Augenblick hereinkommen, denn kurz vor dem Einschlafen hatte sie ihm noch gesagt, wann ihre Maschine nach Paris ging. Aber so war es nur in den Filmen: Im letzten Augenblick, wenn die Frau schon das Flugzeug besteigt, kommt der Mann verzweifelt angerannt, packt sie, küßt sie und holt sie unter den nachsichtigen Blicken des Flugpersonals wieder in seine Welt zurück. Dann wird das Wort >Ende< eingeblendet, und alle Zuschauer wissen, daß die beiden von nun an glücklich leben bis in alle Ewigkeit.
>Die Filme erzählen nie, was nachher geschieht<, tröstete sie sich. >Hochzeit, Küche, Kinder, immer unregelmäßigerer Sex; die Entdeckung des ersten Briefes einer Geliebten, Zeter und Mordio schreien, seine Versprechungen, es würde nicht wieder vorkommen; ein zweiter Brief von einer anderen Geliebten, wieder Zeter und Mordio und die Drohung, sich von ihm zu trennen; diesmal reagiert der Mann nicht so selbstsicher, sagt seiner Frau nur, daß er sie liebt. Der dritte Brief der dritten Geliebten und dann der Entschluß, sich stillschweigend damit abzufinden und darüber hinwegzusehen, aus Angst, er könnte auf die Idee kommen, zu sagen, er liebe sie nicht mehr, es stehe ihr frei, zu gehen.<
Ja, die Zeit danach wurde immer ausgespart. Die meisten Filme hörten immer auf, bevor Wirklichkeit und Alltag begannen. Doch darüber wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.
Sie las ein, zwei, drei Zeitschriften. Endlich, nachdem sie eine Ewigkeit im Wartebereich gesessen hatte, wurde ihr Flug aufgerufen, und sie ging zum Gate. Sie sah im Geiste wieder eine dieser Filmszenen, in der die Frau, als sie den Gurt schließt, eine Hand auf ihrer Schulter spürt und sich umblickt, und er steht lächelnd hinter ihr.
Aber nichts dergleichen geschah.
Sie schlief auf der kurzen Strecke zwischen Genf und Paris. Sie hatte sich noch nicht überlegt, was alles sie ihren Eltern erzählen konnte und was nicht, aber sie würden glücklich sein, ihre Tochter wieder in die Arme zu schließen, die ihnen eine Zukunft auf einer Farm und ein gesichertes Alter bot.
Sie erwachte vom Aufprall bei der Landung. Während das Flugzeug auf der langen Rollbahn zum Terminal fuhr, kam die Stewardeß zu ihr, um ihr zu sagen, daß die Maschine nach Brasilien von Terminal F abflog, sie aber in Terminal C ankommen würden. Maria brauche sich keine Sorgen zu machen, sie habe noch viel Zeit, und das Bodenpersonal sei ihr gerne behilflich.
Während die Maschine zum Ankunftsterminal rollte, überlegte Maria, ob es sich lohnen würde, einen Tag in Paris zwischenzuschalten, einfach um ein paar Fotos zu schießen und nachher zu Hause erzählen zu können, daß sie in Paris gewesen sei. Außerdem brauchte sie Zeit, um nachzudenken, um mit sich allein zu sein und die Erinnerung an die vergangene Nacht ganz tief in sich zu vergraben, damit sie sie jederzeit hervorholen konnte, wenn sie sich lebendig fühlen wollte. Ja, Paris war eine gute Idee. Sie fragte die Stewardeß, wann der nächste Flug nach Brasilien ging, falls sie beschließen sollte, nicht gleich weiterzufliegen.
Die Stewardeß wollte ihr Ticket sehen und meinte dann, leider würde ihr dieses keinen Stopover erlauben. Maria tröstete sich damit, daß es womöglich deprimierend gewesen wäre, eine so schöne Stadt allein zu entdecken. Sie schaffte es ja nur mit Müh und Not, ihren kühlen Kopf und ihre Willenskraft zu bewahren. Eine schöne Stadt, gekoppelt mit der Sehnsucht nach jemandem, das hatte ihr gerade noch gefehlt!
Sie stieg aus, ging durch die Gänge zum anderen Terminal. Ihr Gepäck war durchgecheckt, sie brauchte sich nicht darum zu kümmern. Die Türen gingen auf, die Passagiere traten hinaus, wurden erwartet, von Ehepartnern, Müttern, Kindern in die Arme geschlossen. Maria tat unbeteiligt und wurde sich gleichzeitig ihrer Einsamkeit doppelt bewußt; nur daß sie diesmal ein Geheimnis hatte, einen Traum, und darum nicht so bitter war und das Leben leichter nehmen konnte.
»Uns bleibt immer Paris.«
Das war kein Touristenführer. Das war kein Taxifahrer. Ihre Beine zitterten, als sie diese Stimme hörte.
»Uns bleibt immer Paris.«
»Das ist ein Satz aus einem Film, den ich sehr liebe. Möchtest du den Eiffelturm sehen?«
Das wollte sie gern. Sogar sehr gern. Ralf hatte einen Rosenstrauß im Arm, und seine Augen waren voller Licht.
»Wie hast du es geschafft, vor mir hier zu sein?« fragte sie, im Grunde nur, um etwas zu sagen, denn die Antwort interessierte sie überhaupt nic ht. Sie brauchte nur etwas Zeit, um durchzuatmen.
»Ich sah dich in einer Zeitschrift lesen. Ich hätte zu dir kommen können, aber ich bin romantisch, unheilbar romantisch, und fand es besser, die erste Maschine nach Paris zu nehmen, ein wenig auf dem Flughafen herumzuspazieren, drei Stunden zu warten, unzählige Male die Ankunftszeiten zu kontrollieren, Blumen für dich zu kaufen, Ricks Satz aus >Casablanca< vor mich hin zu sagen und mir dein überraschtes Gesicht vorzustellen. Und ich wollte sicher sein, daß es genau das ist, was du willst, daß du auf mich gewartet hast, daß alle Entschlossenheit und Willenskraft der Welt nicht verhindern können, daß die Liebe die Spielregeln von einem Augenblick auf den anderen umstößt. Es kostet doch nichts, romantisch zu sein wie in den Filmen, oder?«
Sie wußte nicht, ob es etwas kostete oder nicht, aber der Preis war ihr gleichgültig – auch wenn ihr klar war, daß sie diesen Mann erst vor kurzem kennengelernt hatte, sie sich erst vor wenigen Stunden das erste Mal geliebt hatten, er sie erst gestern seinen Freunden vorgestellt hatte. Sie wußte, daß er Stammkunde im >Copacabana< und daß er zweimal verheiratet gewesen war. Und das sprach nicht gerade für ihn. Sie hingegen hatte genug Geld, um eine Farm zu kaufen, war jung und besaß trotzdem eine große Erfahrung in Lebens-und Seelenfragen. Aber das Schicksal stellte sie erneut vor die Wahl. Und wieder einmal fand sie, daß sie das Risiko eingehen sollte.
Mochte geschehen, was wollte, nachdem das Wort >Ende< eingeblendet wurde. Sie küßte ihn. Nur eins stand für sie fest: Sollte eines Tages jemand beschließen, ihre Geschichte zu erzählen, dann müßte er sie mit den Worten beginnen, mit denen die Märchen anfangen:
Es war einmal…
Wie alle Menschen auf der Welt – und in diesem Fall fürchte ich mich keineswegs vor Verallgemeinerungen habe ich lange gebraucht, um die heilige Seite des Sex zu entdecken. Meine Jugend fiel in eine Zeit extremer sexueller Freizügigkeit, in der wir viel Wichtiges herausfanden aber auch Exzesse durchlebten. Auf sie folgte eine konservative, repressive Zeit, die, als Preis für die Übertreibungen, zum Teil traumatische Folgen hatte.