In diesem Jahrzehnt der Exzesse (gemeint sind die siebziger Jahre) schrieb der Schriftsteller Irving Wallace ein Buch über die amerikanische Zensur und benutzte dazu das juristische Geplänkel um die Publikation eines Texte: über Sex, die mit allen Mitteln verhindert werden soll: Die sieben Minuten.
Allerdings dient das verbotene Buch im Roman von Wallace nur als Vorwand, und sexue lle Aktivitäten werden nur selten dargestellt. Ich habe mir damals ausgemalt, was dieses verbotene Buch wohl erzählt hat; und mit dem Gedanken gespielt, es zu schreiben.
Letztlich habe ich mir den Gedanken aus dem Kopf geschlagen, unter anderem auch, weil Wallace in seinem Buc h den nicht existenten Roman ziemlich genau beschrieben hat. Übrig blieb der Titel (ich fand Wallace' Zeitangabe allerdings sehr konservativ und beschloß die von ihm angegebene Zeitspanne zu verlängern). Und geblieben ist auch, daß ich mir vornahm, einmal ernsthaft über Sexualität zu schreiben, was im übrigen viele Schriftsteller vor mir bereits getan hatten.
1997 mußte ich in Mantua einen Vortrag halten. Als ich anschließend ins Hotel kam, überreichte mir der Portier ein Manuskript, das für mich abgegeben worden war. Normalerweise lese ich solche Manuskripte nicht, aber dieses habe ich gelesen – die wahre Geschichte einer brasilianischen Prostituierten, die mit dem Gesetz in Konflikt kommt, ihre Ehen, ihre Abenteuer. Als ich 2000 auf der Durchreise in Zürich war, rief ich jene Prostituierte an (deren Deckname Sonia ist) und sagte ihr, daß mir ihr Text gefallen habe. Ich empfahl ihr, ihn an meinen brasilianischen Verlag zu schicken, der jedoch entschied, ihn nicht zu veröffentlichen. Sonia, die damals in Italien lebte, nahm den Zug und traf mich in Zürich. Sie lud mich und einen Freund und eine Reporterin des >Blick<, die mich gerade interviewt hatte, zu einem Besuch in der Langstraße ein, dem Rotlichtmilieu von Zürich. Ich wußte nicht, daß sie ihren Kolleginnen von unserem Kommen erzählt hatte, und zu meiner Überraschung endete das Ganze mit einer improvisierten Signierstunde, in der ich Ausgaben meiner Bücher in allen Sprachen der Welt vorgelegt bekam.
Damals war ich bereits entschlossen, über Sex zu schreiben, doch ich hatte weder einen Plot noch eine Hauptfigur. Ich dachte an etwas, was sehr viel mehr mit der konventionellen Suche nach dem heiligen Aspekt des Sex zu tun hatte. Doch dieser Besuch in der Langstraße lehrte mich etwas: Um über die heilige Seite des Sex schreiben zu können, mußte ich begreifen, warum Sex so herabgewürdigt worden war.
Im Gespräch mit einem Journalisten der Schweize r Zeitschrift >L'illustre< erzählte ich die Geschichte von der improvisierten Signierstunde in der Langstraße, und er veröffentlichte dazu eine große Reportage. Die Folge war, daß bei einer Lesung in Genf ebenfalls Prostituierte mit ihren Büchern erschienen. Auf eine wurde ich besonders aufmerksam – ich ging zusammen mit ihr und meiner Agentin und Freundin Monica Antunes einen Kaffee trinken. Daraus wurde ein Abendessen, dem mehrere Treffen in den nächsten Tagen folgten. Damals entstand der rote Faden von Elf Minuten.
Ich möchte Anna von Planta, meiner Schweizer Lektorin, danken, die mir einige wichtige Hinweise zur rechtlichen Situation der Prostituierten in ihrem Lande gegeben hat. Danken möchte ich auch folgenden Frauen in Zürich (Decknamen): Sonia, die ich das erste Mal in Mantua getroffen habe (wer weiß, vielleicht interessiert sich ja einmal jemand für ihr Buch!), Martha, Antenora, Isabella. Und in Genf (auch Decknamen): Amy, Lucia, Andrei, Vanessa, Patrick, Therese, Anna Christina.
Ich danke auch Antonella Zara, die mir erlaubte, Ausschnitte aus ihrem Buch Die Wissenschaft der Leidenschaft in Marias Tagebuch zu benutzen.
Schließlich möchte ich Maria (Deckname) danken, die heute in Lausanne lebt, verheiratet ist und zwei hübsche Töchter hat. Auf ihrer Geschichte, die sie Monica und mir erzählt hat, basiert dieses Buch.
Paulo Coelho, Winter/Frühling 2002
Am 29. Mai 2002 bin ich, wenige Stunden bevor ich den Schlußpunkt unter dieses Buch setzte, in die Grotte von Lourdes gegangen, um dort aus der Quelle ein paar Gallonen des wundertätigen Wassers abzufüllen. Ein etwa siebzigjähriger Mann sprach mich an. »Wußten Sie, daß Sie Paulo Coelho ähnlich sehen?« fragte er. Ich antwortete ihm, daß ich derselbe sei. Der Mann umarmte mich, stellte mir seine Ehefrau und seine Enkelin vor. Er erzählte mir, wie wichtig meine Bücher in seinem Leben gewesen seien, und schloß mit den Worten: »Sie bringen mich zum Träumen.« Diesen Satz hatte ich schon mehrfach gehört, und er hatte mich immer glücklich gemacht. In diesem Augenblick war ich jedoch sehr erschrocken – denn ich wußte, daß Elf Minuten ein schwieriges, sperriges, schockierendes Thema behandelte. Ich ging zur Quelle, füllte das Wasser ab und fragte ihn dann, wo er wohne (im Norden Frankreichs, nahe der belgischen Grenze), und notierte mir seinen Namen.
Dieses Buch ist Ihnen gewidmet, Maurice Gravelines. Ich bin Ihnen, Ihrer Frau, Ihrer Enkelin verpflichtet. Aber vor allem mir selbst verpflichtet, über das zu sprechen, was mich beschäftigt, nicht über das, was alle gern hören würden. Einige Bücher bringen uns zum Träumen, andere führen uns zur Realität, aber mit keinem Buch darf der Autor aufgeben, was ihm am wichtigsten ist: die Aufrichtigkeit, mit der er schreibt.