Ich bin enttäuscht«, sagte Istvan und gab sich redliche Mühe, eine dazu passende Leichenbittermiene zu machen. »Enttäuscht und sogar ein bisschen ärgerlich, Gaylen. Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen, aber nicht so bald und auch nicht unter solchen Umständen.«
Pia schluckte alles hinunter, was ihr dazu auf der Zunge lag. Das Gespräch hatte schon vor einer Weile begonnen, sich im Kreis zu drehen, und es gab nicht mehr viel, was einer von ihnen nicht bereits in der einen oder anderen Form – und meistens mehrmals – gesagt hatte. Die Soldaten hatten sie schnurstracks zurück in den Weißen Eber gebracht, und Istvans Nachrichtendienst schien hervorragend zu funktionieren, denn der Kommandant der Stadtwache hatte sie bereits erwartet, und er war alles andere als guter Laune gewesen. Während der zurückliegenden halben Stunde hatte er praktisch ununterbrochen geredet, und nur sehr wenig von dem, was er gesagt hatte, war angenehm gewesen. Eigentlich gar nichts.
»Aber das war bestimmt nicht ihre Schuld«, sagte Brack, auch nicht zum ersten Mal. »Sie wissen nichts von unseren Sitten und Gebräuchen. Wenn überhaupt, dann ist es Lasars Schuld! Der dumme Bengel hätte sie niemals auf den Gauklermarkt bringen dürfen! Ich werde ihn so windelweich prügeln, dass er sich nicht mehr an seinen eigenen Namen erinnert!«
»Lasar kann nichts dafür«, sagte Pia. »Es war ganz allein meine Schuld. Er hat versucht, uns zurückzuhalten, aber ich habe nicht auf ihn gehört.«
Istvan seufzte tief und sah noch ein bisschen trauriger aus – doch Pia entging auch nicht das tückische Funkeln, das er tief in seinen Augen zu verbergen suchte. »Es ehrt dich, dass du den Jungen schützen willst. Aber Brack hat recht. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass ihr dorthin geht. Das ist kein Ort für eine Frau.«
»Und was ist so schlimm daran?«, fragte Pia.
»Ihr hättet zu Schaden kommen können«, antwortete Istvan.
»Im Zelt einer Wahrsagerin?«, fragte Pia spöttisch und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Istvan sparte sich die Frage, woher sie das eigentlich wissen wollte, wenn das Zelt doch angeblich von Anfang an leer gewesen war, aber sie konnte sie deutlich auf seinem Gesicht lesen.
»Das ist kein Ort für eine Frau«, beharrte er. »Ihr hättet zu Schaden kommen können, und das wäre auf meine Männer zurückgefallen und damit auf mich. So mancher, der dorthin gegangen ist, wurde nie wieder gesehen.«
»Ich möchte trotzdem nicht, dass der Junge bestraft wird«, sagte sie noch einmal. »Er hat alles getan, uns daran zu hindern, diesen Teil des Marktes zu betreten.«
»Da liegen mir andere Informationen vor«, antwortete Istvan kühl. So dumm, nicht zu wissen, dass er damit praktisch zugab, seine Männer hatten Alica und sie beobachtet, konnte er eigentlich gar nicht sein, dachte Pia. Vielleicht war es ihm egal, und vielleicht nicht nur das, vielleichtwollte er, dass sie es wussten. Was sie nicht einmal überraschte. Weder Alica noch sie hatten nur eine Sekunde lang daran geglaubt, dass die beiden Soldaten ganz zufällig im Zelt der Wahrsagerin aufgetaucht waren.
»Dennoch will ich Gnade vor Recht ergehen lassen«, fuhr Istvan fort, »und deine Bitte erfüllen – dieses eine und einzige Mal.« Er maß Brack mit einem Blick, der ebenso befehlend wie gelangweilt zugleich wirkte. »Du wirst dem Jungen nichts tun.«
Brack hütete sich zu antworten, sondern nickte nur knapp und tat so, als wäre die Hitze des prasselnden Kaminfeuers der einzige Grund, aus dem er immer unbehaglicher auf seinem Schemel herumrutschte.
»Gut.« Istvan seufzte noch einmal und auf eine bewusst abschließende Art und erhob sich. »Dann verlasse ich mich darauf, dass wir uns das nächste Mal sehen, wenn du mir ein Bier oder eine Mahlzeit servierst.«
Pia sagte nichts dazu, machte aber eine rasche Geste, als er sich umwenden wollte. »Noch eine Frage, wenn es Euch nichts ausmacht.«
Istvans Miene machte sehr deutlich, dass es ihm etwas ausmachte, doch er nickte trotzdem und ließ sich noch einmal auf den Schemel sinken.
»Da ist etwas, was mich die ganze Zeit beschäftigt«, sagte sie. »Etwas, was Eure Soldaten gesagt haben.«
»Sie waren doch nicht etwa unverschämt zu dir?«
Außer dass der eine mir fast den Speer ins Auge gestochen hätte? Kaum. »Nein«, sagte sie. »Ihr Benehmen war tadellos. Aber der Mann hat von … Zauberei gesprochen. Und schwarzer Magie.«
Istvan sagte nichts dazu, doch etwas in seinem Blick änderte sich.
»So etwas wie Zauberei gibt es nicht wirklich, oder?«, fragte sie.
Der Stadtkommandant schwieg weiter, aber er sah jetzt regelrecht alarmiert aus, und auch Brack wirkte immer nervöser.
»Warum stellst du diese Frage?«, wollte Istvan schließlich wissen.
Pia hob die Schultern. »Vielleicht, um mir nicht noch mehr Ärger einzuhandeln? Es ist leicht, etwas Verbotenes zu tun, wenn man nicht weiß, was erlaubt ist.«
»Eine weise Erkenntnis«, sagte Istvan. »Schade nur, dass sie dir nicht ein bisschen früher gekommen ist. Aber um deine Frage zu beantworten: Dunkle Mächte und Anhänger der verbotenen Künste gibt es überall, auch hier. Wir sind stolz darauf, WeißWald bisher vor diesen üblen Mächten beschützt zu haben, und das soll auch so bleiben.«
Was war das?, dachte sie. Eine Drohung?
»Haltet euch fern von Orten, die ihr nicht kennt«, sagte Istvan ernst. »Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an Brack oder einen meiner Männer.« Er überlegte einen Moment, dann nickte er, als wäre er in Gedanken zu einem Entschluss gekommen, und machte eine Handbewegung zur Tür hin. »Ich werde zur Sicherheit zwei Männer draußen postieren, die alle deine Fragen beantworten und dich dorthin bringen, wohin du willst. Geh nicht allein aus dem Haus.«
Pia musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten. Außerdem hätte sie sich am liebsten selbst geohrfeigt. Also gut, sie hatte gefragt … mit dem Ergebnis, dass Istvan Alica und sie ganz beiläufig unter Hausarrest gestellt hatte. Und dem fast schon verzweifelten Ausdruck in Bracks Augen nach zu schließen, konnte sie vermutlich noch von Glück sagen, dass sie dieses Gespräch hier führten und nicht in Ketten liegend in irgendeinem dunklen und nassen Kellerverlies.
»Geh bitte mit deiner Freundin auf euer Zimmer«, fuhr Istvan fort. »Ich habe noch ein paar Dinge mit Brack zu besprechen.«
»Die mich nichts angehen?«
Für den Bruchteil eines Augenblicks blitzte Wut in Istvans Augen auf, aber er beherrschte sich und schüttelte nur knapp den Kopf. »Die dich vermutlich nicht interessieren.«
Pia stand ohne einen weiteren Kommentar auf, biss sich noch heftiger auf die Lippen und bedeutete Alica mit einem stummen Wink, ihr zu folgen. Sie wäre gerne stolz erhobenen Hauptes und vor allem langsam die Treppe hinaufgegangen, doch das eine wollte ihr so wenig gelingen wie das andere.
»Verrätst du mir, was da unten gerade los war?«, fragte Alica, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Pia überlegte einen Moment, Alicas Unkenntnis der Sprache auszunutzen und ihr eine Version der Geschichte zu erzählen, bei der sie selbst ein bisschen besser wegkam, entschied sich aber dann, bei der Wahrheit zu bleiben und nichts zu beschönigen. Entgegen ihrer Erwartung unterbrach Alica sie weder, noch explodierte sie, als sie zum Schluss gekommen war.
»Hausarrest?«, sagte sie nur. »Das hat er gesagt?«
»Nicht direkt«, antwortete Pia. »Aber es läuft darauf hinaus, oder?«
Statt etwas zu sagen, ging Alica zum Fenster und blickte einen Moment hinaus. »Tatsächlich«, murmelte sie dann. »Da unten stehen zwei von seinen Männern und beobachten das Haus.« Sie drehte sich herum und stützte sich lässig mit den Handballen auf dem Fensterbrett ab. »Aber eigentlich hat sich nicht viel geändert. Vorher haben sie uns heimlich beobachtet. Jetzt tun sie es ganz offen. Wo ist da der Unterschied?«
Pia war noch immer sprachlos, dass Alica die Gelegenheit nicht nutzte, ihr eine Standpauke zu halten – aber vielleicht hatte sie ja auch gespürt, dass sie das schon längst selbst getan hatte. Sie konnte nur mit den Achseln zucken.
»Es war trotzdem nicht besonders clever, ihn auch noch mit der Nase daraufzustoßen.« Die alte Alica war wieder da. »Warum hast du das getan?«
»Weil ich es wissen wollte«, antwortete Pia. »Du hast doch gehört, was Valoren gesagt hat.«
»Und du glaubst diesen Unsinn?«, fragte Alica. »All dieses Gerede von Magie und den Nebeln des Schicksals und – wie war das? Die Kraft deines Blutes?« Sie kniff misstrauisch ein Auge zusammen. »Jetzt mal ehrlich, Süße. Denkst du eigentlich selbst, dass du diese Prinzessin bist?«
»Dafür, dass ich knappe tausend Jahre alt bin, habe ich mich doch gut gehalten, oder?«, witzelte Pia lahm.
Alica blieb ernst. »Und wenn es so wäre?«
»Ich würde sagen, dann sitzen wir bis hierhin in der …«, sie legte die flache Hand unter das Kinn, »… im Schlamassel.«
»Du meinst wegen dem, was diese Valoren gesagt hat?« Alica lachte abfällig. »Ich weiß nicht, wer diese komische Tussi war, aber wir kennen sie nicht, und ihr Ruf scheint bestenfalls zweifelhaft zu sein. Eigentlich haben wir keinen Grund, ihr zu glauben.«
»Und keinen, es nicht zu tun.«
Alica seufzte. »Ich versuche ja nur zu begreifen, was hier los ist.«
»Willkommen im Klub.«
»Ich gebe es ja ungern zu«, fuhr Alica fort. »Aber in einem Punkt hatte sie recht. Ob du nun die richtige Gaylen bist oder nicht, ist ziemlich gleichgültig, solange genug andere glauben, du wärst es.«
»Dann sollten wir hoffen, dass ich die richtige Gaylen bin. Vielleicht entdecke ich ja doch noch meine Zauberkräfte und hole uns hier raus.« Nur dass es nicht so einfach sein würde. Sie glaubte nicht, dass Varloren das gemeint hatte, als sie von der Macht ihres Blutes gesprochen hatte. Manchmal hingegen glaubte sie etwas tief in sich zu spüren, etwas wie ein lautloses Wispern tief am Grund ihrer Seele, eine uralte Stimme, die noch ältere Geschichten zu erzählen versuchte, die Pia nie gehört hatte, aber trotzdem kannte.
»Das ist sehr witzig.« Alica klang nicht amüsiert. »Nur falls es dir entgangen sein sollte, Prinzessin: Wir sind noch nicht einmal zwei Tage hier, und wir haben schon jede Menge Ärger am Hals. Kein schlechter Durchschnitt. Wenn es so weitergeht, brauchen wir maximal eine Woche, um einen Krieg auszulösen.«
Das wiederum fand Pia nicht komisch, und sie sagte es auch.
Alica, die anscheinend gerade unter einem ganz besonders heftigen Anfall von Vernunft litt, seufzte: »Vielleicht … aber meine Nerven sind zurzeit nicht die besten, weißt du?«
»Meine auch nicht«, antwortete Pia mit einem müden Lächeln. »Ich versuche doch nur einen Weg hier herauszufinden. Was, wenn Varloren die Wahrheit gesagt hat?«
»Dass du die richtige Gaylen bist?«
Einen Moment lang starrte sie geradewegs durch Alica hindurch ins Leere und trat dann neben ihr ans Fenster.
Die Straße bot den gewohnten fast mittelalterlichen Anblick, nur dass die Leute hier alle eine Spur zu klein zu sein schienen und die Häuser …falsch, ohne dass sie den Finger auf diesen Unterschied legen konnte. Sie fragte sich, ob sie sich jemals an diesen Anblick gewöhnen würde, und erschrak dann vor ihrem eigenen Gedanken. Sie hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, lange genug hierzubleiben, um sich an irgendetwas zu gewöhnen.
Die Tür ging auf und Brack kam herein, ohne sich mit einer unnötigen Kleinigkeit wie Anklopfen aufzuhalten. »Istvan ist weg«, sagte er. »Er war ziemlich ärgerlich.«
»Das tut mir leid«, sagte Pia. »Wir wollten nicht, dass du Ärger bekommst.«
»Den bin ich gewohnt«, erwiderte Brack und machte eine wegwerfende Geste. »Er war sogar außergewöhnlich sanftmütig – für seine Verhältnisse. Du scheinst ihn beeindruckt zu haben.«
»Und es war wirklich ganz allein meine Schuld«, fuhr Pia fort. »Lasar konnte nichts dafür.«
Brack schüttelte seufzend den Kopf. »Man könnte fast meinen, du wärst tatsächlich die richtige Gaylen. Du machst dir mehr Sorgen um diesen dummen Bengel als um dich selbst, wie? Aber keine Angst, ich werde ihm nichts tun … auch wenn ich ihm eigentlich das Fell über die Ohren ziehen sollte. Wart ihr wenigstens erfolgreich?«
»Erfolgreich?«
»Ihr seid losgegangen, um ein Kleid zu kaufen«, erinnerte Brack. »Ich hoffe doch, ihr habt mein Geld gut angelegt.«
»Wir haben Stoff gekauft«, antwortete Pia. Sie erinnerte sich, dass Lasar das Bündel fallen gelassen hatte, und hoffte inständig für ihn, dass er geistesgegenwärtig genug gewesen war, es wieder aufzuheben.
»Stoff«, wiederholte Brack. »Und ihr könnt nähen, nehme ich an?« Wie es seine Art war, wartete er ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wie es der Zufall will, kenne ich eine gute Schneiderin, die mir noch den einen oder anderen Gefallen schuldet. Ich werde sie rufen lassen. Ich kann euch schließlich nicht in Lumpen herumlaufen lassen, wenn unsere Gäste kommen.«
»Nun, das ist etwas, worüber wir … sprechen müssen«, sagte Pia zögernd.
Brack legte den Kopf auf die Seite und sah plötzlich schon wieder ein bisschen misstrauisch aus, enthielt sich aber jeder Antwort. Alica blinzelte.
»Also gestern Abend«, fuhr Pia fort, »da … ähm … also, wir haben dir gerne geholfen, schon weil wir es dir schließlich auch irgendwie schuldig sind …«
»Wie wahr«, sagte Brack.
»Aber ich glaube trotzdem nicht, dass das auf Dauer der richtige Job für mich ist«, fuhr Pia fort.
»Dschobb?«
»Die richtige Arbeit«, erklärte Pia.
»Die richtige Arbeit«, wiederholte Brack. »Und was wäre die richtige Arbeit für dich, deiner Meinung nach?« Er gab ihr keine Gelegenheit zu antworten. »Ich verstehe dich, Gaylen. Und ich wollte, ich wüsste eine bessere Lösung … aber ich sage es gerne noch einmal: Niemand hier wird dich einstellen. Wenn du es allerdings vorziehst, Istvans Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen …« Er ließ den Satz unvollendet und hob die Schultern.
»Nein, natürlich nicht«, seufzte Pia.
»Warum warten wir nicht einfach ein paar Tage und reden dann noch einmal darüber?«, schlug Brack vor. »Wenn es dir dann immer noch nicht zusagt, denken wir gemeinsam über eine andere Lösung nach.«
Pia schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Alternative zum Weißen Eber waren wahrscheinlich Istvans gemütliche Fremdenzimmer. Und sie waren es ihm schuldig.
Schließlich nickte sie. »Ein fairer Vorschlag.«
»Was ist ein fairer Vorschlag?«, erkundigte sich Alica misstrauisch. Weder Brack noch Pia sahen sie auch nur an.
»Dann werde ich jetzt gehen und nach der Schneiderin schicken«, sagte Brack. Er ließ sogar noch eine Sekunde verstreichen, in der er ihr die Gelegenheit gab zu widersprechen, aber dann wandte er sich zum Gehen. Gerade als er die Hand nach der Tür ausstreckte, rief Pia ihn zurück.
»Noch eine Frage, Brack.«
Schlagartig machte sich wieder Misstrauen auf Bracks Zügen breit. »Ja?«
»Es hat nichts mit der Schneiderin zu tun oder heute Abend«, sagte sie hastig. »Ich wollte nur wissen, wann der nächste Vollmond ist.«
»Vollmond?«, wiederholte Brack. »Warum willst du das wissen?«
»Nur so«, erwiderte Pia. »Es hat … religiöse Gründe.«
»Religiöse Gründe.«
»Die Vollmondnacht ist für uns sehr wichtig«, erklärte Pia ernsthaft. »Wir müssen gewisse Riten vollziehen, um unseren religiösen Pflichten Genüge zu tun.«
Darauf sagte Brack gar nichts mehr, aber er maß sie mit einem Blick, der seine Gedanken ziemlich klarmachte. Der Ausdruck »religiöse Gründe« und sie passten irgendwie nicht zusammen. Dann runzelte er die Stirn. »In … achtzehn Tagen«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Neunzehn, wenn du den heutigen mitzählst.«
»Danke«, antwortete Pia.
Brack sah sie an und wartete ganz offensichtlich auf eine weitergehende Erklärung, aber Pia lächelte unerschütterlich weiter, und schließlich hob er nur noch einmal die Schultern und ging.
»Religiöse Gründe?«, wiederholte Alica, als sie allein waren. »Was sollte denn der Schwachsinn?«
»War das Erste, was mir einfiel«, sagte Pia. »Oder hätte ich ihm sagen sollen, dass unser Fluchthelfer drei Tage vor dem nächsten Vollmond eintrifft?«
Alica dachte einen Moment angestrengt nach und nickte schließlich. »Du meinst diesen Kuhhändler, von dem Valoren gesprochen hat … wie war noch mal sein Name? Terion?«
»So ähnlich«, sagte Pia.
»Aber du willst das doch nicht wirklich tun?«, fuhr Alica fort. »Ich meine: Du … Wir kennen diese Valoren doch gar nicht, und von ihrem sogenannten Vertrauensmann wissen wir noch viel weniger! Was ist, wenn der Kerl sich als halbseiden herausstellt? Am Ende ist er ein Sklavenhändler oder so was, der unschuldige junge Frauen verschleppt!«
»Na, dann kann dir ja gar nichts passieren«, antwortete Pia spöttisch.
Alica schenkte ihr zwar einen bösen Blick, blieb aber darüber hinaus vollkommen ernst. »Ich verstehe ja, dass du Brack und vor allem unserem Freund Istvan gegenüber so deine Zweifel hegst. Aber ist es klug, einer vollkommen Fremden unser Leben anzuvertrauen? Oder, um genauer zu sein, dem Bekannten einer vollkommen Fremden, von dem wir rein gar nichts wissen?«
»Nein«, gestand Pia. Aber das war nur das, was sie laut sagte. Was sie fühlte, war das genaue Gegenteil. Sie wusste einfach, sie konnte Valoren trauen, ohne dass es einen Grund dafür gab, aber auch, ohne dass es den geringsten Zweifel an diesem Wissen gegeben hätte.
»Hast du eine besser Idee?«, fragte sie. »Willst du vielleicht hier als Kellnerin arbeiten und auf das nächste Frühjahr warten?«
»Und warum nicht?«
»Und dann?«
»Dann?«
»Dann«, bestätigte Pia. »Verlassen wir dann die Stadt und chartern ein Schiff, das uns zurück zu einer Insel bringt, die es gar nicht gibt?«
»Natürlich nicht!«, fauchte Alica. »Aber vielleicht sollten wir erst einmal herausfinden, was hier wirklich los ist, bevor wir uns blind ins nächste Abenteuer stürzen … o ja, und du solltest dich ab und zu daran erinnern, dass ich die Einzige hier bin, die man nicht versteht.«
Pia sah sie nur verständnislos an, und Alica machte eine Kopfbewegung zur Tür, die Brack hinter sich offen gelassen hatte. Sie glaubte einen Schatten davonhuschen zu sehen und das gedämpfte Geräusch leichter Schritte zu hören.
»Lasar«, sagte Alica. »Ich fürchte, er hat alles gehört. Wenigstens das, was du gesagt hast.«
»Verdammt!« Pia investierte noch eine geschlagene Sekunde dafür, Alica angemessen zornig anzufunkeln, dann fuhr sie auf dem Absatz herum und raste hinter dem Jungen her.
Obwohl sie immer zwei Stufen auf einmal nahm und das letzte Viertel der Treppe mit einem einzigen Satz überwand, kam sie gerade noch rechtzeitig genug im Schankraum an, um zu sehen, wie die schmale Tür hinter der Theke zufiel und Brack ein verdutztes Gesicht machte – das noch viel verdutzter wurde, als sie auf ihn zu fegte und er gerade mal einen hastigen Schritt zur Seite machen konnte, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.
»Aber du weißt doch, dass du nicht …«
Der Rest des Satzes ging im Knall der Tür unter, als Pia auf den Hof hinausstürmte.
Diesmal kam sie immerhin rechtzeitig genug, um zu sehen, wie Lasar über die mannshohe Mauer auf die andere Seite des kleinen Innenhofes verschwand.
Pia schritt nur umso schneller aus, hob die Arme und überwand das Hindernis ohne die geringste Mühe und nicht nur eleganter, sondern auch deutlich schneller als Lasar vor ihr. Manchmal war es eben doch ganz praktisch, in Liliput gestrandet zu sein.
Sie gelangte in eine selbst für hiesige Verhältnisse schmale Gasse zwischen zwei Häusern, in der es dunkel war und erbärmlich stank. Der Wind fing sich zwischen den vereisten Mauern und schnitt so mühelos durch ihren Umhang, als wäre er gar nicht da. Von Lasar war selbst verständlich keine Spur zu sehen.
Pia überlegte eine Sekunde lang. Wenn sie sich nach links wandte, kam sie zurück zu dem, was sich hier Hauptstraße nannte. Dorthin würde sich Lasar wohl kaum gewandt haben – zumal die beiden Posten noch dort standen, die Istvan zu ihrer Sicherheit zurückgelassen hatte –, also wandte sie sich nach rechts, begann nach zwei Schritten zu rennen und erreichte nach einem Dutzend weiterer eine zweite Mauer, die die Gasse abschloss und die sie noch müheloser überwand als die erste.
Belohnt wurde sie mit dem Anblick eines vollkommen fassungslosen Lasars, der schwer atmend an einer Mauer lehnte und offensichtlich mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit, sie sozusagen mit einem großen Schritt über die Mauer hinwegtreten zu sehen, über die er selbst gerade so mühevoll geklettert war.
»Hi!«, sagte Pia.
Lasar klappte den Mund auf und brachte immerhin ein komisch klingendes Krächzen heraus.
»Entschuldige«, sagte Pia. »Da, wo ich herkomme, heißt das so viel wie hallo, guten Tag, wie geht’s … such dir irgend-was aus.«
Lasar starrte sie nur noch erschrockener an.
»Womit wir beim Thema wären«, fuhr Pia fort. »Da, wo ich herkomme.«
Lasars Augen wurden noch größer, und nun erschien eindeutig ein Ausdruck von Angst darin.
»Du hast gehört, was ich gerade zu Alica gesagt habe, nicht wahr?«, vermutete sie.
Die Angst in Lasars Augen explodierte regelrecht. »Ich habe nicht gelauscht, Erhabene!«, versicherte er.
»Sagen wir: nicht absichtlich«, sagte Pia. »Und hör mit diesem Erhabene-Unsinn auf.«
»Wie Ihr befehlt, Erhabene«, antwortete Lasar.
»Aber du hast gehört, was ich gesagt habe«, beharrte sie.
Lasar schwieg.
»Das über das Schiff und die Insel, von der wir kommen.«
Lasar schwieg weiter.
»Wirst du mich verraten?«, fragte Pia geradeheraus.
»Bestimmt nicht«, versicherte Lasar hastig. »An wen … ich meine, warum sollte ich denn …«
»Immerhin weißt du, dass wir Istvan nicht die Wahrheit gesagt haben«, fuhr Pia fort.
Lasar hob die Schultern, als wäre es nicht nur das Selbstverständlichste von der Welt, Istvan zu belügen, sondern nicht einmal der Rede wert. Dann lächelte er. »Er glaubt Euch sowieso nicht, Erhabene. Niemand hat je von dieser Insel gehört.«
»Die Welt ist groß.«
»Und woher kommt Ihr, Erhabene?«
Wenn ich das nur selbst genau wüsste, dachte Pia niedergeschlagen. Laut sagte sie: »Das ist nicht die Frage, Lasar. Ich weiß nicht einmal genau, wo wir sind. Oder wie wir von hier wegkommen.« Ohne viel Hoffnung fügte sie hinzu: »Du weißt es nicht zufällig?«
Lasar sah sie nur traurig an.
»Kann ich mich darauf verlassen, dass du niemandem verrätst, was du gerade gehört hast?«, fragte sie.
»Selbstverständlich, Erhabene. Ich würde nie etwas tun, was Euch schaden könnte.«
Nein, natürlich nicht, dachte Pia. Lasar war in dieser ganzen Stadt vermutlich der Letzte, der ihr schaden würde.
Und wahrscheinlich der einzige wirkliche Freund, den sie hatte. »Wenn wir schon einmal hier draußen sind und uns die Zehen abfrieren, dann könntest du mir auch ein bisschen was von der Stadt zeigen, oder?«, schlug sie vor. Sogar ihr selbst kam ihr Lächeln eher gezwungen vor, und Lasar wirkte nur noch verwirrter. »Die … Stadt zeigen?«
»Wir sind hier fremd«, erinnerte Pia. »Bis auf den Weißen Eber und den Marktplatz kennen wir eigentlich nichts.«
»Sehr viel mehr gibt es auch nicht zu …«, begann Lasar, druckste einen Moment herum und sah für einen zweiten einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihr an. »Istvan will nicht, dass Ihr das Haus verlasst«, sagte er schließlich.
»Ja, und was Istvan und die Stadtwache sagen, daran muss man sich ja schließlich halten, nicht wahr?«, sagte Pia spöttisch.
Irgendwie gelang es Lasar, noch einen weiteren Augenblick völlig verwirrt auszusehen – doch dann konnte auch er ein dünnes Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Was genau wollt Ihr sehen, Erhabene?«
»Alles?«, schlug Pia vor.
Für alles reichte es natürlich nicht, aber nachdem er seine Überraschung endlich überwunden und eingesehen hatte, dass sie es durchaus ernst meinte, gab er sich redliche Mühe, ihrem Wunsch zu entsprechen und eine improvisierte Sightseeingtour auf die Beine zu stellen. Gute zwei Stunden lang führte er sie kreuz und quer durch die verwinkelten Gassen WeißWalds, um ihr alles von Wichtigkeit zu zeigen: das Rathaus, die Straße der Händler, die Kaserne der Stadtwache und das Gefängnis, das kleine (und besonders übel riechende) Viertel, in dem sich die winzigen Werkstätten und Geschäfte der unterschiedlichsten Handwerker aneinanderdrängten, zwei oder drei der gut zwei Dutzend Tempel und Kirchen, in denen die Einwohner WeißWalds ebenso vielen unterschiedlichen Religionen huldigten, den winzigen Viehmarkt, jetzt verwaist, und hundert andere Dinge, von denen er annahm, dass sie sie interessierten. Pia schwirrte bald der Kopf von dem Gehörten, und sie hatte die Hälfte von dem, was er ihr zeigte, schon wieder vergessen, noch bevor sie sich auf den Rückweg machten. Es interessierte sie auch nicht wirklich.
Immerhin gewann sie einen allgemeinen Eindruck der Stadt, der sich mit ihren Erwartungen deckte und gleichzeitig doch vollkommen anders war. WeißWald war genau das, als was sie es auf den ersten Blick eingeschätzt hatte: eine mittelalterliche Stadt, die noch ungefähr eine Million Jahre von der Entdeckung der Dampfmaschine entfernt war, schmutzig, klein und finster und übel riechend. Der hervorstechende Charakterzug der Menschen hier schien Misstrauen zu sein; zumindest wenn sie die Blicke richtig deutete, mit denen sie unentwegt beäugt wurde. Und zugleich kam ihr alles hier mit jedem Moment bekannter vor, wie ein Ort, an dem sie zwar noch nie zuvor gewesen war, von dem sie aber schon so oft und so viel gehört hatte, dass es praktisch keinen Unterschied mehr machte.
Und vor allem fiel ihr eines auf: So klein und rückständig WeißWald sein mochte, war die Stadt doch vollkommen autark. Wenn auch zum Teil auf einem geradezu erschreckend primitiven Niveau, gab es hier doch alles, was die Bewohner der Stadt brauchten. Alles, vielleicht bis auf …
»Wovon lebt ihr?«, fragte sie. Sie befanden sich bereits auf dem Rückweg. Wenn sie ihrem Orientierungsinn noch vertrauen konnte, dann musste der Weiße Eber nach der nächsten oder übernächsten Abzweigung vor ihnen auftauchen, zusammen mit zwei vermutlich höchst verdutzt dreinblickenden Wachen. »Ich meine: Treibt ihr Landwirtschaft? Gibt es Bauernhöfe und Felder außerhalb der Stadtmauern?«
Lasar sah nachdenklich zu ihr hoch, mit einem Ausdruck, der ihr viel zu ernst für einen Jungen seines Alters schien. »Ihr wollt herausfinden, ob es außerhalb der Stadtmauern einen Ort gibt, an dem Ihr Euch verstecken könnt«, sagte er, schüttelte praktisch sofort den Kopf und schaltete seinen Gesichtsausdruck von unangemessen erwachsen auf noch unangemessener besorgt. »WeißWald ist die einzige Stadt im Umkreis vieler Tagesmärsche. Es gibt ein paar Gasthäuser, aber die werden von der Garde kontrolliert. Ihr würdet nicht weit kommen, wenn Ihr zu fliehen versuchtet. Und danach würde Istvan Euch bis zum Frühjahr in den Kerker werfen.«
Fliehen? Warum überraschte es sie eigentlich nicht, dass Lasar ausgerechnet dieses Wort benutzte? »Ich dachte, jeder könnte hier kommen und gehen, wie er will?«
»Hat Brack Euch das erzählt?«, fragte Lasar und beantwortete seine Frage auch diesmal gleich selbst, indem er heftig den Kopf schüttelte. »Innerhalb der Stadtmauern vielleicht, wenn man nicht gerade …«
»… aussieht wie ich«, führte Pia den Satz zu Ende, als Lasar nicht weitersprach, sondern nur die Unterlippe zwischen die Zähne zog und plötzlich sehr verlegen aussah. Er nickte. Pia spürte genau, dass er es eigentlich nicht bei diesem Nicken belassen wollte und da noch mehr war – sehr viel mehr –, aber sie spürte ebenso deutlich, dass er nicht antworten würde, wenn sie eine entsprechende Frage stellte. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie den armen Jungen quälte, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, sagte sie. »Woher kommen die Lebensmittel für all diese Leute hier? Um Ackerbau zu betreiben, ist es wahrscheinlich viel zu kalt.«
»Es gibt ein paar Höfe im Süden«, bestätigte Lasar. »Aber Ihr habt recht, Erhabene.«
»Du«, verbesserte ihn Pia.
»Du hast recht, Erhabene«, sagte Lasar gehorsam. »Die Sommer sind kurz hier, und die Ernten würden nicht ausreichen, um uns alle satt zu machen.«
»Wovon lebt ihr dann?«
»Wir treiben Handel«, erklärte Lasar unüberhörbar stolz. »WeißWalds Handwerker und Waffenschmiede sind berühmt für die Qualität ihrer Ware. Und unsere Soldaten sorgen überall im Land für Ruhe und Ordnung. Die anderen Städte und Dörfer zahlen dafür Tribut.«
Ja, das passt, dachte Pia. Ganz genauso hatte sie Istvan eingeschätzt.
»Dann ist die Stadtwache nicht nur eine Garde, die hier in WeißWald für Ordnung sorgt?«
»Wir haben eine Armee«, bestätigte Lasar. »Sie ist nicht groß, aber ihre Schlagkraft ist gefürchtet. Selbst die Orks aus dem Süden ergreifen die Flucht, wenn Istvans Truppen auftauchen.«
Pia starrte ihn an. »Orks?«, wiederholte sie.
»Orks«, bestätigte der Junge ernst. »Aber macht Euch keine Sorgen. Sie wagen sich nicht einmal in die Nähe der Stadt. Das letzte Mal, dass sie in diesem Teil des Landes gesehen wurden, muss über hundert Jahre her sein.«
»Orks?«, murmelte Pia noch einmal. Dann lächelte sie nervös. »Na ja, warum auch nicht?« Immerhin hatte sie eine leibhaftige Wahrsagerin gesehen, einen Elfenkrieger und menschenfressende Bäume … o ja, und den Pegasus nicht zu vergessen. Warum also nicht auch ein paarOrks?
Was immer das sein mochte.
Lasar wirkte nun vollends verstört, und Pia war ganz sicher nicht die Einzige, die ein deutliches Gefühl von Erleichterung verspürte, als sie um die nächste Abzweigung bogen und der Weiße Eber vor ihnen lag. Sie würde sich noch mal mit Lasar unterhalten müssen, über eine Menge Dinge und sehr ausführlich … aber nicht jetzt, sondern später; vielleicht wenn er aufgehört hatte, vor Ehrfurcht innerlich zur Salzsäule zu erstarren, sobald sie auch nur in seiner Nähe war. Bei der Ehrfurcht, die er ihr gegenüber empfand, dachte Pia, lag die Betonung wohl ganz eindeutig auf der zweiten Hälfte des Wortes … Aber was erwartete sie? Spätestens seit ihrem Gespräch mit Valoren war ihr klar geworden, dass sie für manche hier nicht einfach nur ein Unikum war, sondern fast so etwas wie eine Göttin. Und Lasar gehörte ganz eindeutig zu diesen manchen.
Ohne das fast.
Die beiden wachhabenden Soldaten vor dem Weißen Eber reagierten ganz genau so, wie sie es erwartet hatte: beide fuhren so heftig zusammen, als hätten sie einen elektrischen Schlag bekommen. Der Größere ließ vor Schreck beinahe seinen Speer fallen, und der andere starrte sie aus hervorquellenden Augen an, als hätte er ein Gespenst erblickt. Pia machte extra einen Umweg, um so nahe wie möglich an ihnen vorbeizugehen, und zauberte das verschmitzteste Lächeln auf ihr Gesicht, das sie zustande brachte.
»Keine Angst, Jungs«, sagte sie augenzwinkernd. »Ich verrate eurem Boss nicht, dass ich euch ausgetrickst habe.« Und schon gar nicht, wie.
Obwohl das nun wirklich kein Kunststück gewesen war.
»Das war jetzt … vielleicht nicht besonders klug, Er… Gaylen«, sagte Lasar – vorsichtshalber allerdings erst, nachdem sie wieder außer Hörweite der Männer waren.
»Warum?«, erkundigte sich Pia harmlos.
»Man sollte sich die Männer der Stadtwache nicht zum Feind machen.«
»Du meinst, noch mehr, als ich es schon getan habe?« Pia lachte leise. »Ich wüsste nicht, wie.«
Lasar kam nicht dazu, irgendetwas zu erwidern, denn in diesem Moment flog die Tür des Weißen Ebers auf. Eine ebenso kleinwüchsige wie wohlbeleibte Frau schoss wie eine lebende Kanonenkugel heraus und hätte Lasar und sie um ein Haar über den Haufen gerannt. Ihr Gesicht war rot vor Zorn, und als sie Pias angesichtig wurde, blitzte es in ihren Augen nur noch zorniger auf. Pia warf ihr einen verwirrten Blick hinterher, hob die Schultern und trat ein.
Gleich hinter der Tür wartete ein vollkommen aufgelöster Brack auf sie. Er rang verzweifelt mit den Händen, war aber so fassungslos, dass er kein einziges Wort herausbekam.
Es war auch nicht nötig.
»Alica?«, vermutete sie seufzend.
Brack nickte nur, und Pia ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und die Treppe hinauf.
Alica saß im Schneidersitz auf dem Bett, umgeben von einem Wust von Stoff, Spitzensäumen und kleineren Materialstückchen, Nadeln, Garnrollen und anderen Schneiderutensilien. Als Pia die Tür hinter sich zuschob, registrierte sie aus den Augenwinkeln eine Schere, die einen guten Zentimeter tief in dem harten Holz steckte. Sie fragte vorsichtshalber nicht, wie sie dorthin gekommen war.
»Was hast du mit der armen Frau gemacht?«, erkundigte sie sich stattdessen.
»Der Schneiderin?«, fragte Alica. »Jedenfalls nehme ich an, dass es die Schneiderin war, von der Brack gesprochen hat. Die Unterhaltung war ein bisschen einseitig, weißt du?«
Pia schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, streifte stattdessen Umhang und Kopftuch ab und bedachte die Schere in der Tür mit einem zweiten und noch nachdenklicheren Blick. Sie war nicht sicher, ob sie überhaupt wissen wollte, was genau sich hier abgespielt hatte.
»Wenn du schon da stehst, dann mach dich nützlich und gib mir das Ding«, sagte Alica. »Ich fürchte, ich muss hier die eine oder andere kleine Korrektur vornehmen.«
Pia zog die Schere mit einiger Mühe aus der Tür, reichte sie ihr und bedachte das Durcheinander auf dem Bett mit einem zweifelnden Stirnrunzeln. Es sah nicht nach etwas aus, das einmal ein Kleid werden sollte, sondern einfach nur nach …
»Ja. Dasselbe habe ich auch gedacht, als ich gesehen habe, was die Alte mit diesem Stoff vorhatte«, sagte Alica bekümmert. »So etwas …« Sie tat so, als müsse sie nach den richtigen Worten suchen, ohne sie zu finden. »Por Deus! Was tragen die Leute hier für Sachen? In so einem … Sack würde ich nicht einmal freiwillig zum Schafott gehen!«
»In welcher Kleidung würdest du denn freiwillig aufs Schafott steigen?«, erkundigte sich Pia.
Alica schnitt ihr eine Grimasse, und Pia ging an ihr vorbei und trat ans Fenster. Die beiden Männer standen immer noch auf der anderen Straßenseite, aber ihrem heftigen Gestikulieren nach zu schließen, hatten sie aufgehört zu dösen und waren in einen handfesten Streit verstrickt. Vermutlich warfen sie sich jetzt gegenseitig vor, nicht richtig aufgepasst zu haben, dachte Pia amüsiert, nur für den Fall, dass Istvan doch von ihrem kleinen Ausflug erfuhr und sie sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben mussten.
»Die Leute hier haben ein Problem«, fuhr Alica fort.
»Dich?«
Alica ignorierte das. »Entweder haben hier alle schon krankhafte Angst vor Sonnenbrand, oder sie ekeln sich vor dem Anblick nackter Haut. Du hättest das Kleid sehen sollen, das sie für mich zusammenschneidern wollte! Völlig beknackt! Bloß keinen Quadratmillimeter Haut zeigen!«
»Es ist kalt hier«, gab Pia zu bedenken. »Da ist warme Kleidung ganz angemessen.«
»Das hier hat nichts mit warmer Kleidung zu tun«, behauptete Alica. »Das ist … krank! Und du hättest sehen müssen, wie sie ausgeflippt ist, als ich nur ein paar Kleinigkeiten ändern wollte!«
Pia konnte sich ziemlich gut vorstellen, was Alica unter ein paar Kleinigkeiten verstand. »Wir sollten uns vielleicht den Sitten und Gebräuche hier anpassen«, sagte sie vorsichtig.
»Ich laufe bestimmt nicht in so was rum!«
»Vielleicht finden wir ja einen goldenen Mittelweg.«
»Keine Angst, Prinzesschen«, spöttelte Alica. »Ich nehme ein paar kleine Änderungen vor, aber du musst nicht im Tanga rumlaufen. Lass mich nur machen.«
»Weil du ja eine so begnadete Schneiderin bist«, vermutete Pia.
»Jeder ist eine bessere Schneiderin als diese alte Kuh«, sagte Alica überzeugt. »Keine Bange. Ich wollte ja nur die Andeutung eines Ausschnitts machen und den Saum vielleicht hoch genug, um die Knöchel zu sehen. Großer Gott, gegen die Typen hier ist der Papst ja der reinste Porno-Star!«
»Übertreib es nicht«, seufzte Pia.
»Bestimmt nicht! Aber du könntest mir ein bisschen zur Hand gehen. Wir haben nicht mehr allzu viel Zeit. Wenn ich Brack richtig verstanden habe, dann dauert es nicht mehr lange, bis die ersten Gäste kommen.«
»Ich werde nicht als Bedienung arbeiten«, erinnerte Pia.
»Bist du da sicher? Ich habe nachgedacht, weißt du? Bis zum nächsten Vollmond sind es noch fast drei Wochen. Ich halte es zwar für eine Schnapsidee, aber meinetwegen sprechen wir eben wenigstens mit diesem Kuhtreiber.«
Pia drehte sich vom Fenster weg und sah sie fragend an.
»He, ich sage nicht, dass es eine gute Idee ist!«, wiederholte Alica hastig. »Aber irgendetwas müssen wir tun, oder? Es sei denn, es gefällt dir an diesem beschaulichen Fleckchen so sehr, dass du dich häuslich einrichten und deinen Lebensabend hier verbringen willst.«
Darauf antwortete Pia gar nicht.
»Dacht ich’s mir doch«, sagte Alica. »Also gut, Durchlaucht. Wenn Ihr Eurer unwürdigen Sklavin vielleicht einige Sekunden Eurer kostbaren Zeit schenken würdet, dann …«
»Hör mit dem Quatsch auf«, sagte Pia, und Alica fuhr vollkommen ungerührt fort:
»… würde diese vielleicht den Vorschlag machen, dass wir es einfach schrittweise angehen.«
»Wie meinst du das?«
»Wir treffen uns mit diesem sogenannten Mittelsmann«, antwortete Alica. »In achtzehn Tagen, genauer gesagt fünfzehn, wenn Valoren nicht gelogen hat und Vollmond hier dasselbe bedeutet wie bei uns. So oder so müssen wir irgendwie eine Weile durchhalten, oder? Und bis es so weit ist, nutzen wir die Zeit und versuchen möglichst viel über das herauszufinden, was hier wirklich vor sich geht.«
»Was hier vor sich geht?«
Alica machte ein beleidigtes Gesicht. »He, ich bin vielleicht nicht so schlau wie eine Elfenprinzessin, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ganz blöd bin«, sagte sie. »Sogar mir ist aufgefallen, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Es sei denn, die Stadtverwaltung von Rio hätte ganz unbemerkt ein paar wirklich drastische Umbauarbeiten durchgeführt.«
»Entschuldige«, sagte Pia. »Ich wollte nicht …«
»Geschenkt«, unterbrach sie Alica. Dann grinste sie. »Aber wenn Ihr Euer schlechtes Gewissen beruhigen wollt, Majestät, dann seid doch so überaus großmütig und schwingt Euren wohlgeformten Hintern hierher und helft mir, aus diesem Müll hier etwas zusammenzubasteln, das wenigstens Ähnlichkeit mit einem Kleid hat.«
Pia seufzte zwar innerlich (schneidern? Sie?), setzte sich aber gehorsam neben Alica auf die Bettkante und griff zögernd nach den ausgebreiteten Stoffstreifen. Der Abfallstoff, den sie auf dem Markt erstanden hatten, war noch das ansehnlichste Stück. Alles andere – von dem sie vermutete, dass die Schneiderin es mitgebracht und in ihrem Zorn einfach nur vergessen hatte – eignete sich nach Pias Dafürhalten allerhöchstens, um Säcke daraus zu schneidern; wenn man es nicht besonders gut mit seinen Kartoffeln meinte. Und was das angefangene Kleid anging, das sie unordentlich zusammengeknüllt neben dem Bett auf dem Boden fand … nun, sie konnte Alicas Reaktion plötzlich ein bisschen besser verstehen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Alica aufmunternd. »Das sieht schlimmer aus, als es ist. Mit ein bisschen gutem Willen und Fantasie kriegen wir das schon hin. Ich trenne es auf und schneidere es aus dem anderen Stoff nach … natürlich nicht genauso, keine Panik.«
Pia sah sie noch misstrauischer an. Wenn Alica sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, dann war das im Allgemeinen schon Grund genug, sich zu sorgen …
»Ich dachte, du kannst nicht nähen«, sagte sie.
»Kann ich auch nicht«, antwortete Alica fröhlich. »Ich muss es nur nachmachen … na ja, und vielleicht das eine oder andere Detail ändern. Hier könnte zum Beispiel ein Ausschnitt hin – nur ein ganz kleiner, züchtiger, keine Panik – und wenn wir hier und hier und da etwas wegnehmen, dann bekommt dieser Leichensack vielleicht sogar so etwas Ähnliches wie eine Taille. So schwer kann das doch gar nicht sein.«
Das klang so erschreckend optimistisch, dass Pias Sorge neue Nahrung bekam, doch sie reagierte nur mit einem leicht verunglückten Lächeln und machte sich tapfer ans Werk.
Natürlich funktionierte es nicht. Sie gaben zwar ihr Bestes, aber wie sich zeigte, hatte Alica keineswegs übertrieben, als sie behauptete, nichts vom Schneidern zu verstehen. Etliche Meter zerschnittenen Stoffes und schiefer Nähte, ein halbes Dutzend abgebrochene Nadeln und mindestens genauso viele zerstochene Fingerkuppen später kam Brack zurück und erklärte, dass die ersten Gäste eingetroffen seien und ihre Hilfe unten hinter der Theke benötigt werde. Das kurze Gespräch vorhin über dieses Thema schien er vollkommen vergessen zu haben. Vielleicht ignorierte er ja prinzipiell Antworten, die er sich nicht selbst gab. Pia protestierte jedoch nicht. Einerseits ahnte sie, dass es sowieso sinnlos sein würde, und andererseits erschien ihr nach der zurückliegenden Stunde die Vorstellung gar nicht einmal mehr so schlimm, den Rest des Tages hinter der Theke zu verbringen.