Wie er es Istvan versprochen hatte, machte Brack an diesem Abend den Weißen Eber kurz nach Mitternacht dicht und komplimentierte die letzten Gäste hinaus. Das ging längst nicht bei allen ohne lautstarke Proteste und Widerstand ab und hätte in einem Fall beinahe zu Handgreiflichkeiten geführt, wären die beiden Soldaten nicht eingeschritten, von denen Pia nicht sicher war, ob sie durch den Lärm und die Aufregung angelockt von der anderen Straßenseite herübergekommen waren oder doch eher dem Befehl ihres Kommandanten gehorchten und sich überzeugten, dass Brack die vereinbarte Sperrstunde auch tatsächlich einhielt. Pia nutzte die Gelegenheit, sich rasch in ihr Zimmer zurückzuziehen, und als Brack kurz darauf an ihre Tür klopfte und um ein Gespräch bat, wimmelte sie ihn unter dem Vorwand ab, sich nicht wirklich wohlzufühlen und müde zu sein. Ganz leise meldete sich ihr schlechtes Gewissen – nachdem Hernandez gegangen war, hatte Brack mindestens ein Dutzend Mal versucht, ein unauffälliges Gespräch mit ihr zu beginnen, wohl um sich nach dem geheimnisvollen Fremden zu erkundigen, dessen Auftauchen sie so sichtlich verwirrte, aber sie war ihm (mit immer fadenscheiniger werdenden Ausreden) ausgewichen. Vielleicht sorgte er sich ja wirklich um sie. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, für die er nichts konnte, weil er eben so war, wie er war, und sie sich in einer Welt befanden, die nach anderen Regeln und Gesetzen als den ihnen bekannten funktionierte, hatte Brack sich Alica und ihr gegenüber bisher tadellos verhalten und war tatsächlich (mit Ausnahme von Lasar vielleicht, aber den konnte sie immer noch nicht richtig einschätzen) der einzige Mensch, den sie hier mit Fug und Recht als Freund bezeichnen konnte. Vermutlich log Hernandez. Ganz bestimmt log Hernandez. Zu Hause in Rio de Janeiro hätte sie sich überzeugt, ob er die Wahrheit gesagt hatte, hätte sie ihn nur nach der korrekten Uhrzeit gefragt. Wieso also gestattete sie ihm jetzt, Zweifel in ihr Herz zu säen?
Die Antwort auf diese Frage blieb Pia sich schuldig – aber es war ihm gelungen.
Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte? Was, wenn alles, was er erzählt hatte, stimmte und Bracks vermeintliche Freundlichkeit nur dem einzigen Zweck diente, Alica und sie in Sicherheit zu wiegen, bis die Soldaten aus der Hauptstadt kamen und sie abholten?
Mehr als eine Stunde wälzte sie sich unruhig auf dem kalten Bett hin und her und versuchte vergeblich, den winzigen Kern von Wahrheit zu finden, der irgendwo in diesem Durcheinander aus Lügen und Halbwahrheiten verborgen sein musste. Aus dem Erdgeschoss drangen gedämpfte Geräusche herauf, leise Stimmen, die sie als die von Brack und Lasar identifizierte, die unten aufräumten und zu dieser ungewohnt frühen Stunde vermutlich ebenso wenig an Schlaf denken konnten wie sie, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
Eine zweite Stunde verging, ohne dass es unten still geworden oder Alica zurückgekommen wäre, und irgendwann, obwohl sie es selbst nicht wollte und sich sogar mit verbissener Kraft dagegen zu wehren versuchte, schlief Pia ein und sank in einen unruhigen, von wirren Albträumen heimgesuchten Schlaf, aus dem sie immer wieder hochschreckte und sich vornahm, dieses Mal nicht einzuschlafen, sondern auf Alicas Rückkehr zu warten.
Natürlich funktionierte es nicht, und der nächste Morgen war der erste seit zwei Wochen, an dem sie wirklich verschlief. Wenn man bedachte, dass sie es normalerweise als persönlichen Angriff auffasste, deutlich vor Mittag aufstehen zu sollen, hatte sie sich erstaunlich schnell an den so radikal anderen Lebensrhythmus der Menschen hier gewöhnt; was sicher zu einem Gutteil an der ungewohnt schweren Arbeit im Gasthaus lag. Wenn der Weiße Eber irgendwann in den frühen Morgenstunden schloss, dann gingen Alica und sie sofort nach oben und schliefen wie Steine; aber mit einer einzigen Ausnahme war sie auch jeden Morgen mit oder zumindest kurz nach dem ersten Sonnenstrahl aufgewacht.
Heute nicht. Noch bevor sie die Augen aufschlug, spürte sie, dass der Tag schon gute zwei Stunden alt sein musste. Die Tür stand offen, und aus dem Erdgeschoss drangen schon wieder gedämpfte Stimmen sowie emsiges Klappern und Hantieren. Es roch nach Essen, und dort unten unterhielten sich eindeutig mehr als nur zwei oder drei Personen. Vielleicht hatte sich Brack ja entschlossen, den Weißen Eber zwar pünktlich um Mitternacht zuzumachen, dafür aber schon vormittags die ersten Gäste zu bewirten, um den entgangenen Verdienst zu kompensieren.
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Pia matt. Ihre Gedanken bewegten sich träge wie durch Nebel, und sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund und leichte Kopfschmerzen, als hätte sie gestern Abend zu viel getrunken – was sie nicht hatte. Irgendwo unter diesem Nebel war das nagende Gefühl, etwas vergessen zu haben, etwas ungemein Wichtiges, aber sie war viel zu benommen, um dieser Spur zu folgen, blinzelte den letzten Schlaf weg und bückte sich in derselben Bewegung, in der sie sich aus dem Bett rollte, nach dem warmen Umhang, den sie am vergangenen Abend abgestreift und achtlos fallen gelassen hatte. Manche schlechte Angewohnheiten, dachte sie mit müden Spott, nahm man offensichtlich sehr schnell an.
Und manche, fügte sie in Gedanken und ein ganz kleines bisschen alarmiert hinzu, als etwas klapperte und ein blitzender Schemen unter dem Berg verschwand, sollte man besser gar nicht erst annehmen. Mit einer so hastigen Bewegung, dass ihr für eine Sekunde schwindelig wurde, bückte sie sich noch einmal und versuchte die Pistole unter dem Bett hervorzuangeln.
Etwas biss scharf und sehr tief in ihre Finger. Pia stieß einen kleinen, eher überraschten Schrei aus, betrachtete eine Sekunde lang verständnislos ihre Fingerkuppen, die aus haarfeinen, aber sehr tiefen Schnitten bluteten, und ordnete dann mit einiger Anstrengung ihre Gedanken, während sie sich gleichzeitig in die Hocke sinken ließ und so vorsichtig unter das Bett spähte, als hätte sie Angst, dort ein zähnefletschendes Raubtier zu erblicken, das nur darauf wartete, sie anzuspringen.
Ihre Erinnerungen spielten ihr offensichtlich einen Streich. Sie hatte den Mantel gestern Abend nicht dort hingeworfen, weil sie ihn gar nicht angehabt hatte, als sie heraufgekommen war, und der blitzende Schemen war auch nicht ihre Pistole gewesen, die irgendwie unter ihrem Kopfkissen hervorgerutscht war. Unter dem Bett lag ein mehr als meterlanges Schwert mit einem goldenen Griff und einer beidseitig geschliffenen, durchsichtigen Klinge.
Pia starrte das Schwert eine geschlagene Sekunde lang verständnislos und ungefähr genauso begeistert an, als hätte sie tatsächlich das erwartete zähnefletschende und ausgesprochen hässliche Ungeheuer entdeckt, streckte dann – sehr behutsam – die Hand ein zweites Mal aus und schloss die noch immer blutenden Finger um den schweren Griff. Er sollte kalt sein, nicht nur weil in diesem Land einfach alles kalt war. Der Griff, dessen Farbe und Konsistenz ihr verrieten, dass er tatsächlich aus purem Gold bestand (oder zumindest damit überzogen war), fühlte sich jedoch ganz im Gegenteil warm und beinahe lebendig in ihrer Hand an, und noch etwas geschah, das Pia noch viel seltsamer vorkam, nachdem sie die Waffe behutsam unter dem Bett hervorgeholt und sich wieder aufgerichtet hatte: Das Schwert war länger als ihr ausgestreckter Arm, und die Klinge war durchsichtig wie sorgsam poliertes Glas, aber auch breiter als ihre Hand. Sie hätte ihr Gewicht spüren müssen, doch das war nicht der Fall. Irgendwie schon – Pia spürte, wie schwer das Schwert war und mit welch unwiderstehlicher Wucht es durch Schilde, Panzerplatten, Rüstungen und im Zweifelsfall auch Fleisch und Knochen schlagen konnte, aber zugleich war es auch so, als wöge es gar nichts, fast wie eine natürliche Verlängerung ihres Armes, die ihr eigenes Gewicht selbst trug.
Und da war noch mehr. Pias Gedanken bewegten sich immer noch träge, als wäre ein Teil von ihr gar nicht richtig wach, sondern nach wie vor in dem klebrigen Sumpf des Albtraums gefangen, aus dem sie hochgeschreckt war, aber ihre Erinnerungen kehrten nun doch allmählich zurück. Da war wieder dieses Flüstern, das sie gestern schon einmal gehört zu haben glaubte, eine lautlose, wispernde Stimme, die in diesem Schwert eingesperrt war und ihr Dinge und Geschichten zu erzählen versuchte, die sie nicht hören wollte.
Hastig legte sie das Schwert aufs Bett, trat einen halben Schritt zurück und bemerkte erst danach die Spur aus winzigen hellroten Tröpfchen, die sie auf der ohnehin nicht mehr sehr sauberen Bettwäsche hinterlassen hatte. Die dünnen Schnitte in ihren Fingerspitzen taten nicht mehr weh (seltsam: sie spürte sie nicht einmal mehr), aber sie bluteten immer noch heftig, und Pia sah sich rasch nach etwas um, womit sie sie verbinden konnte. In Wahrheit wahrscheinlich nach etwas, um ihre Gedanken wenigstens für einen kurzen Moment abzulenken.
Schließlich trat sie noch einmal ans Bett heran und betrachtete das Schwert mit einem sonderbaren Gefühl von … ja, was eigentlich? Verwirrung? Ehrfurcht? Abscheu? Neugier? Furcht? Von allem etwas, aber unter diesen Gefühlen war noch etwas anderes, das mit jedem Moment stärker zu werden schien. Ein Teil von ihr wollte dieses Schwert; mehr als irgendetwas anderes auf der Welt.
Sie wusste, dass sie es nicht anrühren durfte, nicht in diesem speziellen Augenblick. Dieses Schwert symbolisierte alles, was sie verachtete und wovor sie Angst hatte. Aber es offerierte ihr auch ein Geschenk, eine unvorstellbare Macht, der nichts auf dieser – oder irgendeiner – Welt widerstehen konnte. Mit der gleichen vollkommenen Sicherheit, mit der sie wusste, was dieses Schwert war und woher es kam, wusste sie auch um den furchtbaren Preis, den es von ihr verlangen würde, wenn sie sein vermeintliches Geschenk annahm. Doch das war ihr in diesem Moment gleich, denn was sie dafür bekam, war diesen Preis mehr als wert.
Nahezu ohne sich der Bewegung bewusst zu sein und ganz eindeutig ohne irgendetwas dagegen tun zu können, streckte sie die Hand aus und machte einen einzelnen Schritt auf das Bett zu, und sie hätte die Waffe berührt, wäre nicht in diesem Moment hinter ihr ein Poltern laut geworden und dann ein keuchender, erschrockener Atemzug. Der Zauber verging. Das unsichtbare Band, das sie an die Waffe hatte fesseln wollen, riss wie Spinnweben im Sturm, und Pia drehte sich herum und blinzelte einen Moment lang verständnislos in Lasars Gesicht.
Der Junge war unter der Tür erschienen und in einer fast grotesk anmutenden Haltung mitten in der Bewegung erstarrt, den linken Arm halb erhoben und die Hand nach dem Türrahmen ausgestreckt, wie um sich daran abzustützen, mit der anderen Hand in ihre Richtung deutend. Seine Augen waren groß und dunkel vor Furcht, und es verging noch einmal ein halber Atemzug, bis sie begriff, dass er gar nicht sie anstarrte, sondern das Bett hinter ihr. Genauer gesagt das Schwert, das darauf lag.
»Das … das ist …«, stammelte er.
Pia streckte nun doch rasch die Hand aus und warf die Bettdecke über die Klinge. »Ich weiß, was das ist«, sagte sie, schärfer und unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Und du solltest es auch wissen. Sie war fast sicher, dass Lasar gestern Nacht gesehen hatte, wie sie das Schwert an sich nahm; und sie war noch sicherer, dass er spätestens in dem Moment, in dem er es in ihr Zimmer gebracht hatte und das erste Mal damit allein gewesen war, gründlich nachgesehen hatte, welchen Schatz sie eigentlich in ihrem Mantel verbarg. Wieso tat er dann jetzt so erschrocken?
»Ich weiß, ich habe verschlafen«, fuhr sie fort. »Geh und sag Brack, dass ich gleich komme.«
Der Junge starrte weiter die Bettdecke an, unter der das Schwert verborgen lag. »Aber das ist …«, murmelte er noch einmal, dann riss er sich mit einer sichtlichen Anstrengung von dem Anblick los, drehte mit einem Ruck den Kopf und sah ihr nun direkt ins Gesicht. Die Angst in seinem Blick schien gewachsen zu sein.
»Aber das ist … Eiranns Zorn«, flüsterte er. »Ihr … Ihr habt es … mitgenommen!«
»Tja, sieht so aus«, antwortete Pia. »Ich hoffe, ich habe damit nicht schon wieder gegen irgendeine Regel oder die guten Sitten verstoßen. Aber du weißt ja: einmal Diebin, immer Diebin.«
Ihr scherzhafter Ton verfing nicht. Sie war nicht einmal sicher, ob der Junge die Worte überhaupt gehört hatte. Er starrte sie nur weiter an.
»Also gut, wenn es dich beruhigt, dann gehe ich nach dem Mittagessen los und bringe das Ding wieder zurück«, sagte sie. Das sollte ein Scherz sein, aber Lasar lachte nicht. Plötzlich war etwas in seinen Augen, das ihr Angst machte. Sie konnte selbst spüren, wie das Lächeln auf ihren Lippen gefror und zu etwas anderem wurde.
»Habe ich dein Wort, dass niemand davon erfährt?«, fragte sie.
»Ich werde es niemandem verraten, Erhabene«, versicherte Lasar hastig. Pia verzichtete darauf, ihn zu verbessern, was die ehrfüchtige Anrede anging, und ertappte sich sogar dabei, es in diesem Fall zu begrüßen.
»Dann lass uns gehen«, sagte sie, »bevor Brack noch der Schlag trifft.« Sie machte einen Schritt in Richtung der Tür, überlegte es sich dann noch einmal anders und ging zum Bett zurück, um das Schwert hastig in die Decke zu wickeln, und schob es anschließend darunter, wobei sie sorgsam darauf achtete, weder den Griff noch die sonderbare gläserne Klinge zu berühren; ein erbärmliches Versteck, aber das einzige, das ihr einfiel.
Eingedenk der Stimmen, die noch immer von unten heraufschallten, stopfte sie ihr Haar unordentlich unter das Kopftuch und war schon auf halbem Weg die Treppe hinunter, während sie es im Nacken zusammenknotete. Sie überzeugte sich nicht davon, dass Lasar ihr folgte, aber nach einem Augenblick konnte sie hören, wie er die Tür von außen schloss, dann das Geräusch seiner raschen Schritte. Stimmengewirr und Kneipenlärm nahmen zu, und sie hörte ein gedämpftes Lachen, das verdächtig nach Alica klang. Wieso war sie eigentlich in der vergangenen Nacht so spät nach Hause gekommen … falls sie überhaupt nach Hause gekommen war?
Pia versuchte sich zu erinnern, ob das Bett neben ihr benutzt ausgesehen hatte, konnte es aber nicht sagen. Einen Moment später war es auch nicht mehr nötig, denn sie entdeckte Alica auf ihrem Stammplatz neben dem Kamin, mit müdem Gesicht und verquollenen Augen, aber einen Krug Bier in den Händen und offensichtlich bester Laune. Brack saß bei ihr und machte ebenfalls einen unerwartet vergnügten Eindruck, und als Pia näher kam, drehte sich auch die dritte Gestalt am Tisch herum, und sie erstarrte unwillkürlich mitten im Schritt, als sie Istvan erkannte. Instinktiv blickte sie zur Tür hin, aber die beiden Soldaten, die sie dort zu sehen erwartete, waren nicht da. Offensichtlich war der Kommandant der Stadtwache ohne seine Bodyguards gekommen; zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte.
»Prinzessin Gaylen!« Alica winkte sie aufgeregt und trotz ihrer unübersehbaren Müdigkeit schon geradezu unverschämt gut gelaunt heran. »Setzt Euch doch einen Moment zu uns, Euer Merkwürden – wenn es Eure Zeit erlaubt, heißt das.«
Pia warf ihr den giftigsten Blick zu, den sie zustande brachte, aber sie war im Grunde nur verwirrt. Wieso war Istvan schon wieder hier, noch dazu zu dieser frühen Stunde?
Sie setzte sich.
Zugleich versuchte sie Alica mit Blicken zu bedeuten, dass sie ihr etwas Wichtiges mitzuteilen habe, was diese aber entweder nicht registrierte oder einfach zu übersehen beschloss. Ihre einzige Reaktion bestand darin, die Hand zu heben und mit den Fingern zu schnippen. So schnell, als hätte er hinter ihnen gestanden und nur darauf gewartet, tauchte Lasar auf und stellte einen Krug Bier auf den Tisch.
Pia versuchte noch einmal, Alica einen verschwörerischen Blick zuzuwerfen, und diesmal registrierte sie ihn und zog fragend die linke Augenbraue hoch. Dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Krug, wischte sich genießerisch den Schaum von den Lippen und deutete nacheinander auf Brack und Istvan.
»Wir haben gute Nachrichten, Durchlaucht«, sagte sie fröhlich. »Du kannst deinen Job behalten, wie es aussieht.«
Jetzt war es Pia, die Brack und den Stadtkommandanten gleichermaßen fragend wie überrascht ansah.
»Deine Sklavin und Malu sind sich einig geworden, wie es aussieht«, sagte Istvan. Er sah nicht so aus, als wäre er wirklich froh darüber, wirkte aber auch nicht allzu verstimmt. Wenn überhaupt, dann eher ein bisschen verwirrt.
»Aha«, sagte Pia und warf Alica einen verwirrten Blick zu. »Einig?«
»Na ja, so gut wie«, sagte Alica fröhlich. »Über die genauen Modalitäten müssen wir natürlich noch reden, aber ich denke, im Prinzip sind wir uns einig geworden. Bei den abschließenden Verhandlungen brauche ich vielleicht noch einmal Eure Fähigkeiten als Übersetzerin, Erhabene, aber das ist auch alles.«
»Einig«, wiederholte Pia. Eine Spur schärfer fügte sie hinzu: »Lass den Unsinn. Und was bedeutet einig? Du willst doch nicht etwa als …?«
»Sehe ich so aus?«, fragte Alica empört.
»Ja«, antwortete Pia ernst.
Alica warf ihr einen gespielt beleidigten Blich zu, und Pia fragte noch einmal: »Worüber seid ihr euch einig geworden? Du sprichst doch kein Wort ihrer Sprache.«
»Wie es aussieht«, mischte sich Istvan ein, der Pias Teil des Gesprächs verstanden hatte, »haben sie und Malu wohl Mittel und Wege gefunden, um sich zu verständigen.« Er maß Alica mit einem kurzen anzüglichen Blick. »Irgendwie.«
»Und das heißt, du … Ihr habt nichts mehr dagegen, dass ich weiter hier arbeite?«, erkundigte sie sich misstrauisch. Was hatte Alica bloß mit Malu gemacht?
»Vorerst«, antwortete Istvan. Eine Spur der alten Strenge kehrte in seinen Blick zurück, aber sie wirkte nicht echt, sondern eher pflichtschuldig. »Auch wenn ich noch nicht wirklich überzeugt bin. Ich bin für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung in der Stadt verantwortlich.« Er hob die Schultern. »Deine Sklavin hat mit Malu gesprochen und Malu mit mir. Wenn ihr mir also versprecht, dass es keinen Ärger mehr gibt und es auch hier im Weißen Eber zu keinen Zwischenfällen mehr kommt …« Er machte eine wiegende Kopfbewegung. »Vielleicht kann ich ja Gnade vor Recht ergehen lassen und Brack noch eine Chance gewähren – und dir.«
»Das heißt, es ist alles wieder beim Alten?«, vergewisserte sie sich.
»Vorerst«, wiederholte Istvan. »Natürlich zähle ich darauf, dass du dich anständig benimmst.«
Ich? Pia schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, was ihr umso schwerer fiel, als Istvans Blick über ihr Gesicht und dann über eine einzelne Haarsträhne tastete, die unter ihrem Kopftuch hervorgerutscht war. Sie schob sie hastig zurück, hielt Istvans Blick gerade lange genug stand, um ihn begreifen zu lassen, dass sie das auch noch beliebig länger tun könnte, und wandte sich dann ganz zu Alica um.
Hernandez ist hier, formten ihre Lippen.
Alica runzelte die Stirn.
»Und ich habe noch mehr gute Neuigkeiten«, fuhr Brack fort. »Malu und ich werden in Zukunft ähm … enger zusammenarbeiten. Nicht so, wie du denkst«, fügte er hastig hinzu, als Pia zuerst ihn, dann Alica und schließlich wieder ihn überrascht und vorwurfsvoll zugleich anblickte.
»Zusammenarbeiten?«, wiederholte sie.
»Malus Gäste sind hungrig und durstig«, sagte Brack. »Ihre Küche ist gut, aber nicht zu vergleichen mit meiner. Ihre Mädchen haben andere Talente, und gegen meine Kochkünste kommt ohnehin niemand an. Deine Freundin …«, er deutete auf Alica, »hatte die Idee, diese Aufgabe zu übernehmen.«
»Welche Aufgabe?« Pia wandte sich verwirrt an Alica. »Erzähl mir nicht, dass du jetzt als Köchin arbeiten willst!«
»Sehe ich so aus?« Alica schnaubte. »Ganz bestimmt nicht. Nein, nein, es ist viel einfacher. Wir gründen einen Catering-Service.«
»Aha«, sagte Pia.
»Wir kochen hier«, erklärte Alica. »Bracks Portionen sind ohnehin noch immer viel zu groß, da macht es also gar keinen Unterschied. Wir stellen einen Jungen ein, der die Bestellungen aufnimmt und das Essen bringt. Zwischendurch kann er Bier ausschenken und noch ein paar andere Kleinigkeiten erledigen. Malus Mädchen sind nicht ganz talentfrei, aber es sieht dort aus wie Kraut und Rüben. Auch das werden wir ändern.«
»So?«, murmelte Pia.
Sie war immer noch vollkommen verwirrt – und fragte sich allen Ernstes, ob Alica und diese beiden Witzbolde sie vielleicht auf den Arm nehmen wollten.
»Der Laden hat Potenzial«, fuhr Alica aufgekratzt fort. »Lass mich nur machen. Ich muss Malu noch ein wenig bearbeiten, aber …«
»Wo du ihre Sprache doch so gut sprichst«, sagte Pia.
»– warte einfach eine Weile, und du wirst den Elfenturm nicht wiedererkennen«, fuhr Alica völlig ungerührt fort. »Die Leute hier sind motiviert, aber sie haben keine Ahnung, wie man ein Geschäft richtig aufbaut.«
»Ich muss mit dir reden«, sagte Pia.
Alica blinzelte. »Tun wir das nicht gerade?«
»Allein«, antwortete Pia. Es war ihr gleich, ob Istvan und Brack sie verstanden und was sie davon hielten. Sie stand auf, ging mit ein paar schnellen Schritten zur Tür und wartete, dass Alica ihr nachkam. Die trank erst noch einen gewaltigen Schluck Bier, bevor sie es tat, und Pia machte sich in Gedanken eine Notiz über ein weiteres Thema, das sie mit Alica bereden musste. Sie trank in letzter Zeit entschieden zu viel. Bier war in WeißWald das alltägliche Getränk. Niemand hier trank Wasser, nicht einmal die Kinder – was auch an der mangelnden Qualität desselben lag; Pia hatte nur einen einzigen Schluck probiert und danach begriffen, warum hier jedermann zu jeder Gelegenheit Bier bevorzugte. Aber Alica übertrieb es. Niemand brauchte zwei Krüge Bier zum Frühstück, um seinen Durst zu stillen. Sie würden darüber reden müssen.
Doch nicht jetzt.
Alica kam mit schon fast provozierend langsamen Schritten näher. »Also, ich weiß selbst, dass es wie eine Schnapsidee klingt, aber wir müssen schließlich von irgendetwas leben, und …«
»Hernandez ist hier.«
»… du hast ja schließlich nicht –« Alica riss die Augen auf. »Was hast du gesagt?«
»Hernandez«, antwortete Pia. »Er war hier. Gestern Abend.«
»Du spinnst«, murmelte Alica.
»Ich habe mit ihm gesprochen«, bekräftigte Pia. »Er war hier. Zwölf Jahre älter und ein bisschen ruhiger geworden, aber er ist es.«
»Hernandez?«, fragte Alica noch einmal. »Du meinst, er …er ist uns gefolgt?«
Wenn man es genau nahm, dann war es eher umgekehrt gewesen, dachte Pia. Aber sie nickte nur.
»Dann müssen wir von hier verschwinden«, sagte Alica. »Wir müssen …«
»… vor allem einen kühlen Kopf bewahren«, unterbrach sie Pia. Sie sah nicht hin, aber sie konnte spüren, dass Istvan und Brack konzentriert in ihre Richtung starrten und die Ohren spitzten. Auch wenn sie Alicas Worte nicht verstanden, so konnte ihnen doch ihre plötzliche Aufregung nicht entgehen. So aufgekratzt und zufrieden sie bisher gewesen war, so erschrocken wirkte sie nun. Pia versuchte ihr mit Blicken zu signalisieren, sich zusammenzureißen, was natürlich vollkommen ergebnislos blieb.
»Was hat er gewollt?«, fragte Alica.
»Bis jetzt nichts«, antwortete Pia. »Er hat mir nur gesagt, dass er da ist.« Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber sie wusste auch, dass sie Alica überfordern würde, wenn sie jetzt die ganze Geschichte erzählte. Erst einmal musste sie sich selbst darüber klar werden, was sie von Hernandez’ Behauptungen zu halten hatte. Und was davon wahr war. »Ich weiß nicht, was er will.«
»Uns ein bisschen Angst machen«, vermutete Alica. »Und weißt du was? Bei mir ist es ihm schon gelungen.«
»Gibt es ein Problem?« Brack war aufgestanden und kam mit beunruhigtem Gesichtsausdruck näher. Istvan war sitzen geblieben und sah in ihre Richtung, weniger beunruhigt als Brack, aber sehr aufmerksam.
»Nein«, sagte Pia rasch. »Nur ein paar … Dinge, die wir klären müssen. Nichts, was euch betrifft.« Eine Bemerkung, mit der sie natürlich das genaue Gegenteil erreichte. Brack runzelte die Stirn, und Istvan wirkte plötzlich ganz eindeutig misstrauisch.
»Ich kann also weiter hier arbeiten«, fragte sie in verändertem, lauterem Ton. Ihre Absicht, auf ein anderes Thema zu lenken, war so durchsichtig, dass Brack einen Moment lang sichtlich überlegte, ob er überhaupt darauf antworten sollte.
»Vorerst.« Es war Istvan, der das sagte, nicht Brack. Er schob seinen Bierkrug zurück (an dem er im Gegensatz zu Alica und Brack noch nicht einmal genipppt hatte), stand auf und gesellte sich zu ihnen. »Wenn es keine weiteren Probleme gibt, natürlich.«
Pia war sich darüber im Klaren, dass die letzte Bemerkung nichts als eine weitere gezielte Provokation war, aber sie tat ihm nicht den Gefallen, darauf einzugehen, sondern nickte nur.
Istvan starrte sie weiter und beinahe noch misstrauischer an, dann wurden seine Augen schmal und er machte eine Kopfbewegung auf ihre rechte Hand. »Hast du dich verletzt?«
Pia musste erst auf ihre Hand hinabsehen, um überhaupt zu begreifen, wovon er sprach. Sie hatte irgendeinen Stofffetzen, der von Alicas und ihren vergeblichen Versuchen, sich als Schneiderinnen zu betätigen, übrig geblieben war, um ihre Finger gewickelt und es schlichtweg vergessen, was aber nicht bedeutete, dass man den improvisierten Verband übersehen konnte. Ganz im Gegenteil. Es sah ziemlich schlimm aus.
»Das ist nichts«, sagte sie und bekräftigte ihre Worte mit einer wegwerfenden Geste. Dann streifte sie den improvisierten Verband ab und hielt die Finger in die Höhe, damit er die winzigen, dünnen Schnitte auf ihren Fingerkuppen sehen konnte. Istvan begutachtete sie deutlich länger und aufmerksamer, als ihr recht war, gab sich aber dann offensichtlich mit ihrer Ausrede zufrieden und beließ es bei einem flüchtigen Schürzen der Lippen.
»Du solltest vorsichtig sein«, sagte er. »Immerhin bist du im Moment Bracks größter Schatz. Er wird es nicht gerne sehen, wenn er in Gefahr gerät.«
»Ich war nur ungeschickt«, antwortete sie, ohne auf diese neuerliche Provokation einzugehen. »Meine Mutter hatte früher ein Sprichwort, über das ich mich als Kind immer geärgert habe: Dummes Fleisch muss weg.« Sie verzog übertrieben gequält die Lippen. »Wie es aussieht, hatte sie recht damit.«
Istvan lachte nicht, sondern sah nur noch einmal auf ihre zerschnittene Fingerspitzen hinab und wandte sich schließlich mit einem Ruck zur Tür. Eisiger Wind und der Geruch nach frisch gefallenem Schnee wehten herein, als er sie öffnete, und Pia erhaschte einen kurzen Blick auf zwei frierende Gestalten in Helm und Harnisch, die auf der anderen Straßenseite standen und den Eingang beobachteten. Sie war nicht überrascht, die beiden Männer wiederzuerkennen. Es waren stets dieselben. Pia fragte sich, was die beiden armen Kerle eigentlich ausgefressen hatten, um von Istvan zu einer zweiwöchigen Dauerwache verdonnert zu werden, und vor allem, wie sie das Kunststück fertigbrachten, sie durchzuhalten. Vermutlich, dachte sie, schliefen sie abwechselnd und im Stehen.
»Es gibt noch ein paar andere Dinge, um die ich mich kümmern muss«, sagte Istvan im Hinausgehen. »Ich verlasse mich darauf, dass hier alles seine Richtigkeit hat.« Ohne ein weiteres Wort des Abschieds zog er die Tür hinter sich zu, und Pia drehte sich gerade noch rechtzeitig genug herum, um zu sehen, wie Brack der geschlossenen Tür die Zunge herausstreckte. Gegen ihren Willen musste sie lachen.
»Jetzt habe ich dich«, sagte sie. »Wenn du in Zukunft nicht tust, was ich von dir verlange, dann verrate ich dich an Istvan. Wahrscheinlich wird er dir die Zunge herausschneiden lassen.«
»Und sie höchstpersönlich von außen an die Tür nageln«, bestätigte Brack, grinste plötzlich so breit und selbstzufrieden wie ein Schuljunge und ließ sich dann ächzend in die Hocke sinken, um den blutigen Fetzen aufzuheben, den Pia einfach fallen gelassen hatte. Er betrachtete ihn einen Herzschlag lang stirnrunzelnd, warf ihr dann einen leicht vorwurfsvollen Blick zu und schlurfte zum Kamin, um ihn in die Flammen zu werfen. Vielleicht, dachte sie, war es hier doch nicht üblich, alles einfach fallen zu lassen, was man nicht mehr brauchte.
»Mich müsst ihr jetzt auch entschuldigen«, sagte er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, langsam und mit einer so mühsamen Bewegung, dass Pia sich zum ersten Mal fragte, wie alt Brack eigentlich war. »Ich habe noch eine Menge zu tun. Morgen beginnt der Rindermarkt, und wenn ich mich nicht spute, dann sind die besten Stücke schon weg, bevor ich auch nur da bin.«
»Ja, tu das, und …«, begann Pia, brach dann mitten im Satz ab und spürte selbst, dass es ihr nicht ganz gelang, sich ihr Erschrecken nicht anmerken zu lassen. »Was hast du gerade gesagt?«
»Dass ich noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen habe«, antwortete Brack leicht verwirrt. »Die Idee deiner Freundin mag ja einfach klingen, aber wahrscheinlich bleibt die meiste Arbeit wieder an mir hängen, und …«
»Das meine ich nicht«, unterbrach ihn Pia. »Der Markt.«
»Er öffnet morgen, bei Sonnenaufgang«, sagte Brack. »Aber die meisten Händler sind schon da oder treffen im Laufe des Tages ein. Ich kenne ein paar, mit denen ich heute Abend schon verhandeln kann.«
Morgen?, dachte Pia verwirrt. Aber Vollmond war doch erst in …
Dann wurde ihr ihr eigener Irrtum klar. Valoren hatte den Vollmond vermutlich nur erwähnt, weil er Teil der Zeitrechnung dieses Landes war. Der Rindermarkt, von dem sie gesprochen hatte, begann drei Tage vorher.
»Was beunruhigt dich so?«, fragte Brack, schon wieder in leicht misstrauischem, wenn auch sehr besorgtem Ton.
»Nichts«, sagte Pia. »Ich … war nur ein bisschen erschrocken, weil Alica vermutlich wieder jede freie Minute ausnutzen wird, um auf den Markt zu gehen und alles mögliche Grünzeug zu kaufen.«
»Weil ich was?«, fragte Alica.
Brack grinste flüchtig. Alica war tatsächlich nahezu jeden Tag mindestens einmal auf dem Markt gewesen, und es war nicht eine einzige Gelegenheit verstrichen, die sie nicht genutzt hätte, um mit einem Armvoll fremdartiger Blumen- und Gemüseblätter zurückzukommen; vorzugsweise solcher, die man trocknen und in möglichst kleine Fitzelchen zerschneiden konnte.
»Sie kann Lasar einfach sagen, was sie braucht«, antwortete er. »Der Nichtsnutz hat sowieso zu wenig zu tun.«
Lasar, der hinter der Theke stand, spießte Brack regelrecht mit Blicken auf, war aber auch klug genug, rasch den Kopf zu senken und beschäftigt zu tun, als Brack seinen Blick zu spüren schien und zu ihm hinsah.
»Was genau hast du damit gemeint?«, erkundigte sich Alica misstrauisch.
Pia antwortete nicht darauf, und Brack musste die Worte wohl trotz der Sprachbarriere zwischen ihnen verstanden haben, denn sein Grinsen wurde breiter und erlosch dann. Für einen kurzen, aber sonderbar unangenehmen Moment sah er noch einmal Pias rechte Hand an. Sie wollte es eigentlich nicht, folgte seinem Blick aber dann doch und stellte mit leichtem Erschrecken erst jetzt fest, dass sie nicht nur auf dem Bett und dem Fußboden oben, sondern auch auf dem weißen Stoff ihres Kleides eine Spur winziger braun eingetrockneter Blutströpfchen hinterlassen hatte.
»Wenn du irgendein Problem hast, Pia«, sagte Brack, wobei er ganz bewusst ihren richtigen Namen benutzte, um ein höheres Maß an Vertrauen zwischen ihnen zu schaffen, »dann würdest du es mir doch sagen, oder?«
Noch vor wenigen Stunden hätte Pia ganz impulsiv darauf genickt. Doch das war, bevor sie mit Hernandez gesprochen hatte. Jetzt zögerte sie gerade lange genug, um dieser Bewegung ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Eine Spur von Trauer mischte sich in Bracks Blick, aber er sagte nichts, sondern wandte sich nur mit einem Ruck ab und stapfte zur Theke, um Lasar mit einem Schwall der üblichen vollkommen aus der Luft gegriffenen Vorwürfe zu überhäufen.
Alica sah ihm irritiert nach, blickte dann genauso nachdenklich und ein bisschen alarmiert auf Pias Hand und setzte sichtlich dazu an, ihrerseits eine entsprechende Frage zu stellen, doch Pia kam ihr zuvor.
»Komm mit«, sagte sie. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer und blieb mit der Hand auf dem Türgriff stehen, bis Alica ihr gefolgt war. Sie schloss die Tür nicht ganz, sondern ließ sie einen Spaltbreit offen stehen, damit sich ein gewisser schmerbäuchiger Wirt nicht etwa hinter ihnen anschleichen und das Ohr dagegen pressen konnte, um zu lauschen, bedeutete Alica mit einer befehlenden Geste, ans Fenster zu treten und gleichzeitig still zu sein. Alica gehorchte, auch wenn ihr Gesichtsausdruck nun so ratlos und verstört wurde, dass sie Pia beinahe leid tat.
»Wo bist du die ganze Nacht gewesen?«, begann sie.
»Wie?«, murmelte Alica. Dann verdüsterte sich ihr Gesicht. »Moment mal, Schätzchen. Wir sind zwar vielleicht auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich dir …«
»… dass du mir irgendeine Rechenschaft schuldig bist, nein«, unterbrach sie Pia. »Aber es gibt da ein paar Dinge, die du nicht weißt. Wir können Malu nicht trauen.«
»Ach?«, machte Alica spöttisch.
»Und Brack auch nicht«, fügte Pia hinzu.
Alica legte den Kopf schräg. »Was soll das heißen?«
Pia zögerte noch einen ganz kurzen Moment, dann erzählte sie ihr mit knappen, dennoch sehr eindringlichen Worten, was Hernandez gestern gesagt hatte. Alica hörte mit wachsender Verblüffung zu und versuchte sie zwei- oder dreimal zu unterbrechen, doch Pia brachte sie jedes Mal mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen, bis sie mit ihrem Bericht zum Ende gekommen war.
Diesmal verging fast eine Minute, in der Alica sie einfach nur anstarrte, und Pia konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. »Und das glaubst du ihm?«, fragte sie schließlich.
Pia trat neben ihr ans Fenster und blickte ein paar Sekunden lang auf die Straße hinab, bevor sie antwortete. Die beiden Soldaten standen immer noch draußen in der Kälte, und auch ansonsten bot die Straße denselben Anblick wie an jedem Morgen: schmal, leicht heruntergekommen, wo kleine Menschen in sonderbaren Kleidern ihren Beschäftigungen nachgingen, herumstanden und redeten oder einfach mit raschen Schritten vorübereilten. Pias Blick blieb für einen Moment an einer Frau mittleren Alters hängen, die gleich drei kleine Kinder im Zaum zu halten versuchte, ohne dass sie auch nur die Spur einer Chance gehabt hätte, es tatsächlich zu schaffen. Zwei von ihnen rissen sich los, rannten im Zickzack über den hart gefrorenen Morast der Straße, prallten plötzlich zurück und wichen nahezu im rechten Winkel von ihrem bisherigen Kurs ab, als sie den beiden Soldaten nahe kamen. Keiner der beiden Männer rührte sich auch nur, aber Pia musste wieder an das denken, was Lasar ihr gestern Abend über die Stadtwache erzählt hatte. Davon hatte sie Alica nichts gesagt, schon deshalb, weil es ihr trotz allem immer noch schwerfiel, es zu glauben.
Hier wirkte alles so harmlos. Vielleicht zu harmlos, dachte sie. Vielleicht war das alles nichts anderes als eine gigantische Falle, in die sie nicht nur sehenden Auges hineingetappt waren, sondern wo sie sich auch noch häuslich eingerichtet hatten.
»Pia?«, fragte Alica.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Aber einiges von dem, was er gesagt hat, gibt durchaus Sinn.«
»Das würde es tun«, stimmte ihr Alica zu, »wenn es nicht ausgerechnet der Comandante gewesen wäre, von dem du das weißt.«
Als ob sie nicht auch schon darüber nachgedacht hätte!
»Ich bin nicht ganz sicher, ob er wirklich noch der Comandante ist«, sagte sie.
»Was soll das heißen?«
Pia hob in einer hilflos wirkenden Geste die Schultern. Ihr Blick folgte den Kindern, die ihren Schrecken überwunden zu haben schienen und weiter auf der Straße herumtollten und ihre Mutter damit langsam, aber sicher an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten. Ohne dass sie selbst es auch nur merkte, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Aber zugleich, tief darunter verborgen, spürte sie auch einen stärker werdenden Groll. Die Vorstellung, dass Hernandez die Wahrheit gesagt haben könnte, erfüllte sie mit einem Zorn, der sie selbst überraschte.
»Pia?«, fragte Alica wieder.
Pia riss ihren Blick mit einiger Anstrengung von der Straße los und drehte sich zu ihr herum.
»Ich will ja nicht penetrant erscheinen«, sagte Alica, »aber wenn man eine solche Geschichte erzählt wie du gerade, dann gebietet es eigentlich der Anstand, das Gespräch auch zu Ende zu führen.«
Im ersten Moment verstand Pia gar nicht, was sie meinte; dann wurde ihr klar, dass sie sehr lange dagestanden und auf die Straße hinabgeblickt hatte. »Entschuldige«, murmelte sie. »Wo waren wir?«
Alica zog eine Grimasse, beherrschte sich aber. »Der Comandante«, erwiderte sie. »Du warst der Meinung, er wäre es nicht mehr. Wie darf ich das verstehen? Ist ihm ein drittes Auge gewachsen?«
Pia blieb ernst. »Er ist … irgendwie anders«, sagte sie. »Wenn er die Wahrheit sagt und tatsächlich schon seit zwölf Jahren hier ist, dann hat er vielleicht Zeit gehabt, über das eine oder andere nachzudenken.«
»Ja, und wahrscheinlich ist er zu einem guten Menschen mutiert, neben dem selbst Gandhi wie ein Charakterschwein wirkt«, sagte Alica.
Pia lächelte flüchtig. Die Vorstellung, dass Hernandez plötzlich zu jemandem geworden sein sollte, dem sie trauen konnten, war in der Tat schlichtweg absurd. Aber eigentlich hatte er das ja auch nie behauptet.
»Wahrscheinlich hast du recht, und er verfolgt seine eigenen kleinen Pläne«, sagte sie. »Aber das bedeutet nicht, dass das, was er über Istvan und Brack erzählt hat, unbedingt gelogen sein muss, oder?« Alica wollte widersprechen, doch Pia fuhr mit leicht erhobener Stimme – und einem sichernden Blick in Richtung der Tür – fort: »Wenn alles so ist, wie er behauptet, dann hat Brack wahrscheinlich gar keine andere Wahl.«
»Brack ist …«, begann Alica, doch Pia unterbrach sie sofort.
»Was glaubst du, was Esteban an seiner Stelle tun würde?«
Das schien Alica einzuleuchten. Zwar gefiel es ihr nicht, wie ihr Gesichtsausdruck deutlich machte, aber sie widersprach auch nicht mehr, sondern ließ nur ein missmutiges »Hm« hören.
»Ich behaupte ja nicht, dass Brack ein Lump ist und wir ihm gar nichts mehr glauben können«, sagte Pia hastig. Sie wusste selbst nicht genau, warum, doch irgendetwas in ihr war wild entschlossen, Brack zu verteidigen. »Aber jetzt ergibt das alles hier ein bisschen mehr Sinn … oder findest du es nicht selbst komisch, dass wir hier praktisch Narrenfreiheit haben, obwohl die guten Leutchen hier spießiger sind, als wir uns vor zwei Wochen auch nur vorstellen konnten?«
»Narrenfreiheit?« Alica warf einen demonstrativen Blick auf die beiden frierenden Soldaten vor dem Haus und machte ein spöttisches Gesicht, aber Pia schüttelte noch entschiedener den Kopf.
»Vielleicht sind sie ja auch da, um auf uns aufzupassen«, sagte sie. »Immerhin sind wir sein … wie hat er es gerade ausgedrückt? Größter Schatz.«
»Das hat er gesagt?«
»Weißt du, ich glaube einfach nicht, dass diese Typen ganz zufällig aufgetaucht sind, kaum dass wir mit dieser Wahrsagerin gesprochen haben«, sinnierte Pia. »Vielleicht will ja jemand verhindern, dass wir mit den falschen Leuten sprechen.«
»Bei mir ist das kein Kunststück«, sagte Alica.
Pia blieb ernst. »Wir sollten heute Abend zum Viehmarkt gehen und mit diesem Ter Lion reden.«
»Prima Idee«, spöttelte Alica. »Weil wir einem Mann, von dem wir nichts als seinen Namen kennen, ja sooo viel mehr trauen können als allen anderen hier. Vielleicht sollten wir uns doch besser dem Comandante anvertrauen.« Sie seufzte leise, ging zum Bett und setzte sich auf die Kante. »Wenn du es darauf angelegt haben solltest, mich zu verwirren, dann ist es dir gelungen.«
»Und warum sollte es dir besser gehen als mir?«, fragte Pia. Sie sah weiter aus dem Fenster. Die Frau mit ihren Kindern war verschwunden, und das Bild war wieder so normal, wie es nur sein konnte; jedenfalls unter den gegebenen Umständen. Dennoch spürte sie, dass dort draußen noch mehr war. Irgendetwas … schien sie zu rufen. Es war nichts Neues. Dieses lautlose Wispern und Locken war schon immer da gewesen, nur hatte sie es bisher nicht gehört. Und die Stimme wurde lauter. Nicht mehr lange und sie würde die Worte verstehen.
»Ja, so etwas nenne ich eine echte Freundin«, sagte Alica. »Was würde ich nur ohne dich – he, was ist das denn?«
Ihre letzten Worte wurden von einem gedämpften Klappern begleitet, und Pia drehte sich gerade noch rechtzeitig genug herum, um zu sehen, wie Alica sich vorbeugte und zwischen ihren eigenen Knien hindurch unter das Bett spähte.
»He, du hast deine Decke unter dem Bett vergessen! Und ich dachte, ich wäre hier die Chaotin!«
»Lass sie einfach …«, begann Pia, aber es war bereits zu spät. Alica beugte sich noch weiter vor, angelte nach der zusammengerollten Decke und zog sie mit einem Ruck heraus. Etwas glitt gold blitzend unter dem Stoff hervor, züngelte wie ein zu Kristall erstarrter Blitz nach Pias Füßen und bohrte sich mit einem knirschenden Laut kaum zehn Zentimeter neben ihrem Knöchel in die Wand.
»Ups!«, sagte Alica erschrocken. Dann weiteten sich ihre Augen ein bisschen. »Was ist denn das?«
»Das wäre beinahe deine große Chance gewesen, mir zu beweisen, dass du wirklich meine Freundin bist«, antwortete Pia säuerlich. »Zweifellos würdest du mich für den Rest deines Lebens auf dem Rücken tragen, wenn ich nur noch einen Fuß hätte … oder gar keinen mehr.«
Alica sah sie verständnislos an und ging vorsichtshalber nicht näher auf diese Bemerkung ein. »Was ist das?«, fragte sie noch einmal.
»Das ist Eiranns Zorn, und rühr es nicht an!«
Die letzten Worte hatte sie in hörbar schärferem Ton hervorgestoßen, als Alica sich vorbeugte und die Hand nach dem Schwert ausstrecken wollte. Alica zog den Arm erschrocken zurück, allerdings nur ein kleines Stück, und ihre Verblüffung hielt ebenso nur einen halben Atemzug an und wurde dann zu Misstrauen.
»Was ist das?«, fragte sie zum dritten Mal. »Und woher kommt das Ding?«
»Eiranns Zorn«, wiederholte Pia. »Und du solltest es wirklich nicht anfassen. Es beißt, weißt du?« Sie zwang sich zu einem nervösen Lächeln und hob die Hand, damit Alica die Schnitte in ihren Fingerkuppen sehen konnte. »Siehst du?«
Alica fragte nicht, woher sie den Namen kannte, wofür Pia ihr im Stillen dankbar war. Sie hätte diese Frage nicht beantworten können. Lasar hatte den Namen vorhin zwar benutzt, aber sie hatte ihn schon vorher gekannt. Vielleicht schon, bevor sie überhaupt hierhergekommen war.
»Du bist also tatsächlich dort gewesen«, sagte Alica finster. »Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich zum Turm des Hochkönigs gehe.«
»Zum Turm, nicht in den Turm«, fauchte Alica. »Hast du vergessen, was diese Valoren gesagt hat? Du findest dort den Tod!«
»Ich dachte, du glaubst nicht an ihr Gefasel?«
Alica machte eine zornige Bewegung, wie um ihre Worte zur Seite zu wischen, und funkelte sie an. Pia rechnete ernsthaft damit, dass sie im nächsten Moment explodieren und irgendetwas wirklich Dummes tun würde, doch dann konnte sie regelrecht sehen, wie ihr brodelnder Zorn einer plötzlichen Resignation wich. Sie seufzte leise, schüttelte mehrmals hintereinander den Kopf und stand zwar mit einer müde wirkenden Bewegung auf, ließ sich aber auch unmittelbar auf die Knie sinken und spähte noch einmal unter das Bett, wie um sich davon zu überzeugen, dass dort nicht noch mehr unangenehme Überraschungen auf sie warteten.
»Ehrlich gesagt, hätte ich nicht geglaubt, dass du es schaffst.«
»Was?«
»In den Turm hineinzukommen« antwortete Alica. »Wie hast du das Tor aufgekriegt?«
Pia überlegte einen kurzen Moment, sich irgendeine fadenscheinige Erklärung einfallen zu lassen (egal ob Alica sie ihr glaubte oder nicht), und sagte dann: »Ich hatte Hilfe.«
»Hernandez?«, fragte Alica.
»Nein«, erwiderte Pia, ein bisschen erstaunt, wie Alica überhaupt auf diese abwegige Idee kam. »Lasar.«
Alica wirkte nicht einmal überrascht; jedenfalls nicht sehr, aber Pia konnte ihr ansehen, wie es hinter ihrer Stirn zu arbeiten begann und sie plötzlich gewisse Dinge in einem anderen Licht zu sehen schien. Schon dadurch, dass sie sich nur mühsam und unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen mit Bracks Küchenjungen unterhalten konnte, war Alicas Verhältnis zu Lasar nicht annähernd so vertraut wie das ihre. Sie mochte den Jungen schon aus Prinzip, weil Brack ihn so schlecht behandelte und er trotzdem stets freundlich und hilfsbereit war, aber im Grunde konnte sie nichts mit ihm anfangen. Irgendwann einmal hatte sie gesagt, dass er ihr zu klein sei – aber das traf schließlich auf so ziemlich jeden in dieser Stadt zu.
»Und?«, fragte Alica, nachdem sie eine Weile vergebens darauf gewartet hatte, dass Pia von sich aus weitersprach. »Wie sieht es dort drinnen aus?«
»Dunkel«, antwortete Pia. Alica wollte auffahren, aber sie fügte rasch und besänftigend hinzu: »Nein, das meine ich ernst. Man sieht nicht viel. Eine Menge leerer Räume voller Staub. Das ist alles.«
Alica machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, obwohl sie doch gerade so zornig darüber gewesen war, dass Pia den Turm überhaupt betreten hatte. »Und du hast gar nichts gefunden – bis auf das da?«, fuhr sie mit einer Kopfbewegung auf das Schwert fort.
»Nur ein paar alte Gespenster«, erwiderte Pia lächelnd. Sie bildete sich jedenfalls ein, in scherzhaftem Ton gesprochen zu haben, doch so ganz konnte das wohl nicht gelungen sein, denn Alica sah sie stirnrunzelnd und auf eine sehr unangenehme Art an, tat das Thema dann aber auch mit einem Schulterzucken wieder ab, ohne näher darauf einzugehen. Stattdessen deutete sie noch einmal auf Eiranns Zorn.
»Warum hast du es mitgenommen?«
Die Wahrheit war, dass sie weder darüber nachgedacht noch die Wahl gehabt hatte. Vielleicht war es sogar eher umgekehrt gewesen, und das Schwert hatte sie mitgenommen.
Sie verscheuchte diesen albernen Gedanken, zuckte nur mit den Schultern und ließ sich in die Hocke sinken, um das Schwert wieder aus der Wand zu ziehen. Jedenfalls versuchte sie es.
Die Waffe rührte sich nicht. Pia schloss die Hand noch einmal und fester um den Schwertgriff, zog mit aller Kraft und machte dann ein verblüfftes Gesicht, als rein gar nichts geschah.
»Treibst du heimlich Bodybuilding?«, fragte sie. Alica machte ein ratloses Gesicht und sah darüber hinaus ebenso verblüfft aus wie sie, als es ihr auch weiterhin nicht gelang, die Klinge auch nur um einen Millimeter zu bewegen.
Pia richtete sich wieder auf, trat einen Schritt zurück und besah sich die Waffe auf eine neue, aufmerksame Art. Ihre Worte waren natürlich nicht ernst gemeint gewesen. Alica hatte das Schwert ja nicht einmal berührt. Es war einfach durch den Schwung, mit dem sie an der Decke gezogen hatte, aus den Falten gerutscht und das kurze Stück über den Boden geschlittert. Trotzdem hatte es sich tief genug in die Wand gebohrt, dass Pia vermutlich ein gutes Stück der Klinge gesehen hätte, hätte sie sich die Mühe gemacht, das Fenster zu öffnen und an der Wand draußen hinabzublicken.
»Das ist gar nicht Eiranns Zorn, oder wie immer du es nennst«, witzelte Alica. »Das ist Excalibur. Du weißt doch: Wer das Schwert aus dem Nachbarn zieht, wird der König der Favelas.«
Pia verzog die Lippen zu einem freudlosen Grinsen, packte den Griff mit beiden Händen und zog und zerrte mit aller Kraft, ohne dass sich irgendetwas tat. Das Schwert saß so fest in der Wand, als wäre es einbetoniert.
»Lass mich mal«, sagte Alica.
Pia zerrte und wackelte trotzig noch einen weiteren Moment an dem wuchtigen Schwertgriff, gab dann mit einem zornigen Achselzucken auf und rutschte auf den Knien ein Stück zur Seite. Alica nahm ihre bisherige Position ein, schmiegte beide Hände um den wuchtigen goldenen Griff und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Pia konnte sehen, wie sich ihre Muskeln unter dem dünnen Stoff des Kleides spannten, dann zog sie mit aller Kraft – und fiel mit einem halblauten, überraschten Keuchen nach hinten, als die Klinge vollkommen widerstandslos aus der Wand herausglitt. Pia konnte gerade noch das Gesicht zur Seite drehen, um nicht getroffen zu werden, und Alica fiel schwer auf den Rücken und hielt Eiranns Zorn dabei mit ausgestreckten Armen gerade in die Höhe.
Pia starrte die Schwertklinge aus weit aufgerissenen Augen an. Die Waffe … sang. Ein ganz feiner, hoher Ton, der an das Geräusch erinnerte, mit dem eine Fingerkuppe über den Rand eines dünnen Glases strich, und die ohnehin kaum sichtbaren Ränder der gläsernen Klinge schienen für einen Moment zu verschwimmen, als wäre diese Waffe scharf genug, das Gewebe der Wirklichkeit zu zerschneiden.
Sie schüttelte den verrückten Gedanken ab, griff rasch zu und half Alica dabei, wieder auf die Füße zu kommen, wobei sie ganz ohne ihr eigenes Zutun sehr sorgsam darauf achtete, der gläsernen Klinge nicht zu nahe zu kommen.
»Danke«, murmelte Alica benommen. Eine geschlagene Sekunde lang starrte sie das Schwert in ihren Händen an, dann – deutlich länger und ziemlich verwirrt – Pia, und schließlich zog sie überrascht die Augenbrauen hoch, als ihr Blick über die Wand tastete, aus der sie die Waffe herausgezogen hatte. Die Klinge hatte einen fast armlangen Schnitt darin hinterlassen, so dünn und präzise wie mit einem Skalpell durch Seidenpapier gezogen.
»Entweder sind in Bracks Bier mehr Anabolika als Wasser oder du lässt nach, Pia«, witzelte sie lahm.
Pia ging weder darauf noch auf den unmöglichen Anblick der Wand ein, sondern nahm ihr das Schwert aus der Hand, wobei sie auch jetzt sorgsam darauf achtete, nur den schweren Griff zu berühren. Etwas … flüsterte tief in ihrer Seele. Die Stimme war wieder da, aber diesmal war sie leiser und … anders, ohne dass Pia diesen Unterschied in Worte fassen konnte.
Alica sah ihr stirnrunzelnd zu, und für einen ganz kurzen Moment war Pia beinahe sicher, dass sie sich widersetzen wollte. Etwas wie Unwillen, vielleicht sogar Zorn huschte über ihr Gesicht, und ihre Hände leisteten für den Bruchteil einer Sekunde trotzigen Widerstand, dann ließ sie mit einer schon fast schuldbewussten Bewegung los und trat rasch zwei, drei Schritte zurück.
Pia legte das Schwert auf das Bett und wartete darauf, dass das Flüstern in ihren Gedanken aufhörte. Es verklang, aber nur langsam, widerwillig wie ein zorniges Raubtier, das sich um seine Beute betrogen sieht und verärgert knurrend in seine Höhle zurückkriecht.
»Das ist … unglaublich«, murmelte Alica. »Und das Ding hat da einfach so rumgelegen?«
Einfach so traf es nicht ganz, aber Pia reagierte trotzdem nur mit einem knappen Nicken. Als Alica an ihr vorbeigehen und die Hand nach dem Schwert ausstrecken wollte, hätte sie sie um ein Haar wieder zurückgerissen, doch dann beließ sie es bei einem mahnenden Blick und zeigte Alica noch einmal ihre zerschnittenen Fingerkuppen. »Sei vorsichtig. Das Ding ist wirklich scharf.«
Alica nickte zwar, streckte den Arm trotzdem weiter aus und berührte den schweren goldenen Griff zaghaft mit den Fingerspitzen. »Es ist wunderschön«, flüsterte sie. »Was mag es wohl wert sein?«
Seltsam … Pia hatte das sichere Gefühl, dass sie eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. Etwas, das ihr vermutlich nicht gefallen hätte.
»Hier oder bei uns?«, fragte sie.
Alica maß sie mit einem sonderbaren Blick und schloss die Hand fester um den Schwertgriff. Täuschte Pia sich, oder hörte sie schon wieder jenes seltsame gläserne Singen, wie einen Laut, der eigentlich weit jenseits der Grenzen des Hörbaren lag, aber ein wisperndes Echo in die Wirklichkeit herüberschickte?
Was sie sich nicht einbildete, das war der mehr als handlange Schnitt, der plötzlich in der strohgefüllte Matratze klaffte. Dabei war sie vollkommen sicher, dass Alica das Schwert nicht bewegt hatte.
»Oh!«, sagte Alica erschrocken, ließ den Schwertgriff los, als wäre er plötzlich glühend heiß geworden, und prallte ein kleines Stückchen zurück. »Du hast recht. Das Ding ist wirklich höllisch scharf.« Was sie allerdings nicht daran hinderte, sich sofort wieder vorzubeugen und die armlange Klinge mit eindeutig bewundernden Blicken zu mustern. Sie streckte auch wieder die Hand danach aus. Allerdings hütete sie sich, ihre Finger in die Nähe der Schneide kommen zu lassen.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelte sie. »Was ist das? Glas?«
Pia musterte den armlangen Riss in der Wand mit einem schrägen Blick. »Kaum.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Alica überlegte einen Moment, trat dann vom Bett zurück und kam nach kaum einer Sekunde mit einem von Bracks schlampig aus Gusseisen gefertigten Löffeln zurück. Pia war nicht einmal überrascht, als sie ihn behutsam an der Schneide entlangführte und er in zwei Teile zerfiel. Alica riss die Augen auf und ächzte.
»Unglaublich!«, keuchte sie. »Das … das muss Diamant oder so was sein!«
Pia nahm den abgeschnittenen Teil des Löffels mit spitzen Fingern vom Bett und betrachtete ihn nachdenklich. Diamant? Die Schnittkante war so glatt, als wäre sie mit einem Laser oder irgendeiner Science-Fiction-Waffe geschnitten worden, und als sie vorsichtig mit den Fingerspitzen darüberfuhr, fühlte sie, wie kalt sie war. Es tat regelrecht weh.
»Kannst du dir vorstellen, was dieses Ding bei uns wert wäre?«, fragte Alica.
Sie antwortete nicht darauf, musste aber an einen anderen, vermeintlich gläsernen Dolch denken, der Jesus so schwer verletzt hatte. Plötzlich machte ihr dieses Schwert Angst.
»Und kannst du dir vorstellen, was wir hier damit anfangen könnten?«, fuhr Alica fort, als Pia ihr nicht den Gefallen tat zu antworten. Entschlossen nahm sie das Schwert mit beiden Händen auf und bewegte es hin und her. Das helle Singen erklang wieder, und die Klinge schien sich in einem lautlosen Gewitter aus Lichtblitzen und flimmernden Reflexen aufzulösen.
»Sei vorsichtig damit«, mahnte Pia.
»Mit diesem Schwert könnten wir Istvan samt seiner gesamten Garde aus der Stadt jagen«, behauptete Alica. »Und dieses Heer, das angeblich im Anmarsch ist, gleich mit dazu.«
»Ja, wenn einer von uns damit umgehen könnte«, antwortete Pia unbehaglich.
Alica bewegte die Waffe weiter hin und her, und sie tat es zunächst genau auf die unbeholfene Art, die man bei einem Menschen erwartete, der noch nie ein Schwert in der Hand gehalten hatte. Trotzdem war da zugleich etwas ungemein Elegantes an dieser Bewegung, eine selbstverständliche Leichtigkeit, die Pia zutiefst erschreckte, und das umso mehr, als sie sich daran erinnerte, wie vertraut und selbstverständlich sich das Schwert gestern Abend in ihrer Hand angefühlt hatte.
»Och, das lerne ich schon«, sagte Alica leichthin. »So schwer kann das doch gar nicht sein.«
Und wie es aussah, hatte sie es bereits gelernt, dachte Pia verwirrt. Alica fuchtelte weiter mit der Waffe herum; ihre Bewegungen schienen mit jeder Sekunde fließender und schneller zu werden. Eiranns Zorn sang wie eine gläserne Harfe, bewegte sich vor und zurück, beschrieb komplizierte Kreise, Achten und noch viel kompliziertere Muster. Pia kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Woher kannst du das?«, murmelte sie ungläubig.
»Keine Ahnung«, antwortete Alica und lachte leise. »Hab ich doch gesagt. So schwer ist es nicht.« Das Schwert drehte sich immer schneller in ihren Händen, spießte spielerisch in Pias Richtung, ohne sie wirklich zu berühren, und zeichnete immer kunstvollere Muster in die Luft.
Etwas knackte, und Alica starrte verdutzt auf das Bett, das mit einem Mal ein wenig schräg stand. Die Schwertklinge hatte eines seiner Beine gekappt.
»Ups«, murmelte sie.
»Habe ich schon erwähnt, dass es sehr scharf ist?«, fragte Pia.
Alica schenkte ihr einen bösen Blick und setzte dazu an, eine giftige Antwort zu geben, doch in diesem Moment wurden auf der Treppe polternde Schritte laut, und sie konnte das Schwert gerade noch hinter dem Rücken verbergen, bevor die Tür auch schon aufgestoßen wurde und Brack hereinstürmte, dicht gefolgt von Lasar.
»Ist etwas passiert?«, fragte er aufgeregt. »Ich habe Lärm gehört und …« Seine Augen wurden groß, als er das schräg stehende Bett bemerkte. »Bei Kronn! Was habt ihr jetzt wieder angestellt?«
»Nichts«, antwortete Pia, und machte sich in Gedanken eine Notiz, ihm das wieder übel zu nehmen, sobald sie Zeit dafür hatte. »Außer, dass ich versucht habe mich hinzusetzen. Ich muss entweder kräftig zugenommen haben, ohne es zu bemerken, oder deine Möbel sind genauso alt und baufällig wie alles andere hier.«
Brack schürzte beleidigt die Lippen, sparte sich aber jeden Kommentar und ging zum Bett, um das abgebrochene Bein aufzuheben. Aus der Verwirrung in seinem Blick wurde ungläubiges Staunen, als er die völlig glatte Schnittfläche sah.
»Und du hast dich nur … hingesetzt?«, fragte er zweifelnd.
»Nein«, antwortete Pia. »Alica und ich üben heimlich Schwertkampf, nur für den Fall, dass ungebetene Gäste hier auftauchen sollten … oder jemand zu viele dumme Fragen stellt.«
Alica wurde ein bisschen bleich und versuchte unauffällig in eine Ecke zurückzuweichen, damit Brack das Schwert hinter ihrem Rücken nicht sah, und Brack sah jetzt deutlich verärgert aus. Am interessantesten aber war Lasars Reaktion: Auch er starrte den abgeschnittenen Bettpfosten in Bracks Händen an, doch er wirkte kein bisschen erstaunt. So, wie er am Morgen auf den Anblick des Schwertes reagiert hatte, hätte Pia Entsetzen in seinem Blick erwartet oder auch Zorn, aber was sie sah, das war das genaue Gegenteil. Seine Augen leuchteten in wildem Triumph.
»Ja, das war wirklich sehr komisch«, sagte Brack. »Und was habt ihr nun wirklich getan? Ich hoffe, nicht gestritten. Alica hat es nur gut gemeint, da bin ich ganz sicher.«
Es dauerte einen Moment, bis Pia seinem komplizierten Gedankengang überhaupt folgen konnte, und dann hätte sie fast laut aufgelacht. Anscheinend war Brack der Meinung, Alica und sie wären sich wegen ihrer eigenmächtigen Entscheidung in die Haare geraten.
»Du hast recht, wir hatten … eine kleine Meinungsverschiedenheit«, antwortete sie bewusst zögernd. »Aber so schlimm war es nicht. Deine Möbel sind wirklich nicht mehr die stabilsten.«
Brack dachte sich sichtlich seinen Teil dazu, aber er schürzte nur noch einmal die Lippen, warf den Pfosten mit einer ärgerlichen Bewegung auf das Bett und raunzte Lasar an: »Das kannst du gleich reparieren, aber mach es gefälligst anständig. Nicht dass ich hinterher wieder mehr Arbeit habe als zuvor!«
»Ja, das kann er«, sagte Pia rasch. »Aber nicht jetzt. Später. Alica will noch einmal auf den Markt, und ich muss sie begleiten, um für sie zu übersetzen.«
»Was will ich?«, fragte Alica verstört.
»Wozu?«, erkundigte sich auch Brack.
»Sie muss noch das eine oder andere besorgen, um Malus Geschäft auszustatten«, improvisierte Pia. »Und wir würden uns gerne vorher noch umziehen, also wäre es nett, wenn du uns alleine lässt. Oder möchtest du zuschauen?«