Erstes Buch Der Spieler

Die letzte Grenze

In dieser Nacht noch sollten die Trolle kommen, so hieß es. Der Schwertmeister der Elfenkönigin beugte sich tief über die Mähne seines Hengstes und trieb ihn unbarmherzig voran. Es waren noch viele Meilen zur Burg.

Nichts hatte die Trolle in ihrem grausamen Wüten aufhalten können, seit sie nach Albenmark zurückgekehrt waren. Drei blutige Siege hatten diese grobschlächtigen Ungeheuer errungen, und Branbart, ihr König, hatte geschworen, Emerelle, die Herrscherin Albenmarks, zu erschlagen und aus ihrem Schädel eine Metschale für seine Festtafel fertigen zu lassen.

Verzweifelt hing der Elf seinen Gedanken nach. Alle hatten Emerelle verlassen. Und die Königin hatte gewusst, dass es so kommen würde. Die Herrschaft der Elfen würde in dieser Nacht enden. Doch wenigstens er würde an ihrer Seite sein! Dort, wo immer schon sein Platz gewesen war, wenn es galt, mit dem Schwerte für Albenmark einzutreten. Hoffentlich kam er nicht zu spät!

Ollowain blickte auf. Der Weg senkte sich in ein weites Tal und folgte dem silbern gesprenkelten Band eines Baches. Düstere Kopfweiden säumten das Ufer; wie große Perlen schimmerten die weißen Knospen auf den pfeilgeraden, jungen Ästen im Mondlicht.

Der Mond stand wie ein riesiger Schild aus gehämmertem Silber am Himmel. Sein Licht verlieh der lauen Nacht einen unheimlichen Zauber. Eine leichte Brise strich über den Hang und trieb dem Elfenritter Blütenblätter ins Gesicht. Er blinzelte und trieb den Hengst weiter an, seinem Ziel entgegen. Inmitten des weiten Tals erhob sich die Burg der Königin. Ihre schlanken Türme schienen fast bis zum Mond hinaufzureichen, in dessen Schein die weißen Mauern silbern leuchteten. Der dunkle Fels, auf dem die Burg sich erhob, verschwamm mit dem samtigen Blau der Nacht, sodass es schien, als schwebe die Festung in der Finsternis. Jahrhunderte hatte das Volk der Elfen an dieser Burg gebaut. Trotz ihrer Türme und Mauern hatte niemand geglaubt, dass sie jemals angegriffen würde, und sie war auch nicht errichtet worden, um einem Feind die Herrschaft über das Herzland abzutrotzen. Sie sollte ein Sinnbild der Vollkommenheit sein.

Obwohl Ollowain die Burg schon hunderte Male gesehen hatte, berührte ihr Anblick ihn stets aufs Neue. Es war ein Gefühl, wie es sonst nur Musik in ihm erwecken konnte, das traurige Lied einer Flöte vielleicht oder melancholisches Harfenspiel. Ein Schmerz, der sich nicht in Worte fassen ließ, süß und durchdringend.

Kein Horn kündete von seiner Ankunft, und die Öllampen, die gewöhnlich den Weg hinauf zum Burgtor in goldenes Licht tauchten, waren verloschen. Der hohle Hufklang unter dem Torbogen war der einzige Willkommensgruß, der den Schwertmeister empfing, als er in die Burg einritt.

Die Wachen waren verschwunden. Ihre Speere lehnten entlang der Mauer, so als seien die Krieger eben erst gegangen. Auf einem Sims stand ein Falrach-Tisch. Die Partie war vor dem Ende abgebrochen worden. Doch ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, dass Schwarz auf verlorenem Posten stand. Die Königin war eingekreist in ihrer Burg, ihre Krieger standen auf dem ganzen Spielfeld verstreut.

Ollowain trieb den Hengst über den weiten Hof und dann den Marmoraufgang hinauf. Der Schwertmeister glaubte förmlich spüren zu können, wie sich das Unheil über der Burg zusammenzog. Er preschte einen Säulengang entlang. Die schweren, eisenbeschlagenen Hufe seines Schlachtrosses ließen Steinchen aus den kostbaren Bodenmosaiken splittern. Er musste Emerelle finden. Sie hatte die Burg nicht verlassen, da war er sich ganz sicher.

Das schwere Bronzetor am Ende des Ganges, das sich sonst stets wie von Geisterhand geöffnet hatte, blieb verschlossen. Es war so groß, dass nicht einmal ein Riese sein Haupt hätte neigen müssen, wollte er in die Halle dahinter treten. Fein ziselierte Bilder zeigten, wie die Alben den Letztgeborenen, den Elfen, ihre Welt anvertrauten, bevor sie für immer verschwanden. Es war eine Mahnung an alle, die den Weg zum Thronsaal beschritten. Jeder sollte sehen, wem es bestimmt war, in Albenmark zu herrschen. Doch die Trolle würden sich einen Dreck darum scheren.

Ollowain sprang aus dem Sattel. Ein Stoß genügte, um einen der Torflügel aufschwingen zu lassen. Er schlug gegen die Wand, und dumpfes Dröhnen wie ein Gongschlag schallte durch die verlassene Burg.

Der Hengst des Schwertmeisters wieherte ängstlich. Mit tänzelnden Schritten wich er vor der Schwelle der Halle zurück.

Geisterhaftes Licht erfüllte den Bannersaal. Es ließ die fernen Wände vor dem Auge des Betrachters verschwimmen und gab ihm das Gefühl, auf einem offenen Platz und nicht in einer Halle zu stehen.

Von den Emporen, die in kühnem Schwung aus dem Licht hervorragten, hingen prächtige Seidenbanner mit den Wappen der Fürsten Albenmarks: die Nixe Alvemers, der silberne Stern Carandamons, die scharlachfarbene Rose auf schwarzem Grund, die Alathaia von Langollion zu ihrem Feldzeichen erwählt hatte, und all die anderen stolzen Wappen jener, die heute nicht hier waren, um an Emerelles Seite zu stehen.

Mit fliegendem Schritt durchmaß Ollowain den Bannersaal und stieß das nächste Bronzetor auf. Die Halle, die vor ihm lag, wurde von einem großen Brunnen beherrscht. Zwischen Wasserfontänen fochten marmorne Krieger verzweifelt gegen einen Sonnendrachen von Ischemon. Eine der Kriegerinnen in dem Gefecht war Emerelle; damals war sie noch nicht Königin gewesen. Die Kampfszene zeigte den Augenblick, in dem sich Falrach opferte, um den tödlichen Hieb abzufangen, der Emerelle zu zerschmettern drohte.

Wie stets überlief Ollowain ein Schaudern, wenn er den Brunnen betrachtete. So lebensecht waren die Steinbilder, dass man erwartete, der Kampf werde jeden Augenblick mit lautem Getöse fortgeführt. Wo waren die Helden von einst geblieben?, fragte er sich bitter. Waren sie alle ins Mondlicht gegangen?

Er hatte fast das Tor zum Thronsaal erreicht, als sich das Licht in der weiten Halle wandelte. Es wurde blasser, und dann schien ein Zittern durch die Wände zu laufen. Einen Herzschlag lang wurden die Mauern der Halle sichtbar. Das helle Plätschern des Brunnens setzte aus.

Der Schwertmeister stieß das letzte Tor auf. Der Thronsaal war ein großer, kreisrunder Raum, dessen Wände hinter Kaskaden silbern schimmernden Wassers verborgen blieben. Anstelle einer Decke spannte sich der sternklare Nachthimmel über Ollowain. Gegenüber dem hohen Tor führten sieben Stufen hinauf zum Thron von Albenmark. Dort, neben dem schlichten Holzstuhl, dessen Intarsien aus Marmor und Onyx zwei untrennbar ineinander verflochtene Schlangen zeigten, stand Emerelle, die Königin der Elfen. Sie war klein und von zierlicher Gestalt, doch strahlte sie eine Kraft aus, vor der einst selbst Drachen zurückgeschreckt waren. Sie hielt sich gerade, ohne steif zu wirken; das Kinn trotzig vorgereckt, war ihr Blick auf die Mitte des Thronsaals gerichtet. Mit einer knappen Geste bedeutete sie dem Schwertmeister, zum Thron zu kommen.

Der Boden des Saals war mit einem weitläufigen Mosaik ausgelegt. Das Schmuckmotiv des Throns aufgreifend, zeigte es sieben Schlangen, die sich einander umschlingend bekämpften. Neben Marmor und Onyx hatten hier auch meerdunkle Jade, heller Türkis, purpurroter Porphyr, sonnengelber Bernstein und grausilberner Granit Verwendung gefunden. Obwohl in den Jahrhunderten, die der Palast bestand, ganze Heerscharen von Gästen und Höflingen über das Mosaik geschritten waren, hatten die Steine nichts von ihrem Glanz verloren. Ja, sie schienen auf geradezu magische Weise von innen heraus zu leuchten und ließen die Schlangen lebendig erscheinen.

Helles Vogelzwitschern ließ Ollowain aufblicken. Zwei Nachtigallen stießen einander umkreisend in den weiten Kreis des Saals hinab und ließen sich auf dem Rand der Silberschüssel nieder, die auf einer niedrigen Säule neben dem Thron stand. Ausgelassen begannen sie im flachen Wasser zu spielen.

Ein Lächeln umspielte die schmalen Lippen der Königin. Sie strich sich eine Strähne ihres sanft gewellten, dunkelblonden Haars aus der Stirn und sah Ollowain an. Ihre hellbraunen Augen wirkten traurig. »Ganz gleich, was in dieser Nacht geschehen wird, auch morgen werden die Nachtigallen noch singen. Vielleicht ist unser Volk zu selbstverliebt, zu alt geworden. Vielleicht ist nun unsere Stunde gekommen, und wir müssen gehen, so wie vor uns die Alben und die Drachen gegangen sind. Doch was immer auch geschieht, nicht einmal die Trolle können die Schönheit Albenmarks zerstören. Auch morgen werden die Nachtigallen noch singen.«

Eine leichte Brise spielte mit dem Haar der Königin und ließ den Stoff ihres schulterfreien Kleides leise rascheln. Der zartblaue, mit Silberfäden durchwirkte Stoff betonte die edle Blässe Emerelles. Ihre milchweiße Haut schien von feinem, silbrigem Licht umspielt zu sein, wie die Mauern ihrer Burg. Sie hatte etwas Ätherisches, Unwirkliches.

Allein der dünne Lederriemen um ihren Hals erschien wie ein eigentümlicher Stilbruch. Er wirkte zu plump. An ihm hing ein schlichter Stein mit einem einfachen Ritzmuster. Jetzt war dieses Schmuckstück in Emerelles Dekollete verborgen. Der Schwertmeister hatte den Stein nur wenige Male zu sehen bekommen. So schlicht er wirkte, war er doch der größte Schatz seines Volkes. Die Alben hatten jedem ihrer Völker einen solchen Stein geschenkt, bevor sie die Welt verließen. Die Albensteine waren ein Quell unvorstellbarer Macht, wenn man sie recht zu nutzen wusste. Es waren Kriege um diese Steine geführt worden.

Etwas bewegte sich unter Ollowains Füßen und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Gleichzeitig erklang ein leises, schleifendes Geräusch, so als werde Stein auf Stein gerieben. Die Schlangen im Mosaik begannen sich zu bewegen. Ein flacher, purpurner Kopf erhob sich unmittelbar vor ihm. Aus dem schmalen Maul schnellte eine feuchte Zunge. Geschlitzte Pupillen musterten ihn kalt. Der Schwertmeister trat einen Schritt zurück und strauchelte fast. Alle Leiber waren in Bewegung geraten.

Nun schnellte der schwarze Schlangenkopf empor. Die steinernen Kiefer klappten auf, und die Kreatur stieß ein durchdringendes Zischen aus. Um sie herum verging das Licht.

Das Rauschen der Wasserwände erstarb. Die beiden Schlangenhäupter richteten sich immer höher auf und neigten sich zueinander. Dunkelheit, schimmernd wie ein schwarzer Spiegel, wuchs zwischen ihnen empor.

Ollowain vermochte den Blick nicht von dem Spektakel zu wenden. Schon oft war er Zeuge gewesen, wie Kundige die Pforten zu den Albenpfaden geöffnet hatten. Doch diesmal war es anders. Bedrohlicher. Der Schwertmeister gehörte zu den wenigen Elfen, denen sich die Kraft der Magie verschloss. Dennoch spürte er die dunkle Macht, die diesem Zauber innewohnte.

Die weiße Schlange aus dem Mosaik wand sich wie in Qualen, während die Übrigen sich nur kurz erhoben hatten, um nun wie erstarrt dazuliegen.

Der Purpurkopf sah auf Ollowain hinab. Die schmalen Schlitze der Pupillen weiteten sich, und plötzlich erblickte der Schwertmeister einen stahlblauen Winterhimmel. Auf einer vereisten Ebene hatte sich ein gewaltiges Heer versammelt. Tausende Trollkrieger schlugen mit Keulen auf ihre großen Schilde und schrieen dem Himmel ihre Schlachtrufe entgegen. Auf langen Stangen trugen sie Banner aus Elfenhaut vor sich her. Wie ein Vogel im Sturzflug fiel Ollowain einem dunklen Tor entgegen. Es hatte sich dicht neben einem schwarzen Obelisken geöffnet, der über die Eisebene aufragte. Dort war das Eis rot von Blut. Ein altes, gebeugtes Trollweib stützte sich schwer auf einen Knochenstab. Ollowain hatte sie während der Schlacht um Phylangan unter den Angreifern gesehen. Ihren Namen kannte man selbst im Elfenvolk: Skanga, der Quell allen Übels! Sie war es, die ihr Volk aus der Verbannung zurück nach Albenmark gebracht hatte. Nicht der König, sondern dieses alte, gebrechliche Weib war die Kraft, die ihr Volk lenkte und die Heere der Trolle über die leuchtenden Albenpfade führte.

Als spüre die Alte seine Gedanken, hob sie unvermittelt den Kopf und blickte Ollowain aus blinden, weißen Augen an.

»Komm zurück!«, befahl ihm eine vertraute Stimme. Etwas berührte ihn am Arm. Der Zauberbann war gebrochen. Benommen schüttelte der Schwertmeister den Kopf. Seine Glieder waren steif vor Kälte; Raureif bedeckte seinen Leinenpanzer, so als sei er tatsächlich in der fernen Snaiwamark gewesen.

»Komm.« Emerelle nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus dem Schlangenkreis, die Stufen zum Thron hinauf.

Die Köpfe der beiden Schlangen berührten nun einander. Hoch aufgerichtet bildeten ihre Leiber einen weiten Torbogen, angefüllt mit spiegelnder Dunkelheit. Aus der Finsternis tönte ein Laut wie Trommelschlag. Nein, es war das Lärmen der Keulen, die auf Schilde schlugen. Das Trollheer war auf dem Marsch.

Wie gebannt starrte Ollowain in die Dunkelheit. Ein golden leuchtender Pfad führte durch das Nichts, den Raum zwischen den Welten. Die Snaiwamark lag mehr als zweitausend Meilen vom Herzland entfernt, doch für all diejenigen, die den Mut aufbrachten, die Albenpfade zu beschreiten, schrumpfte diese Wegstrecke auf ein paar hundert Schritt.

Ollowain blickte zu seiner Königin. Emerelle galt als die mächtigste Zauberin Albenmarks. Sie stand hier, um zu kämpfen. Selbst in dieser verzweifelten Lage schien ihr Mut sie nicht verlassen zu haben. Wie kein anderer verkörperte sie in diesem Augenblick die beiden Eigenschaften, die sein Volk vor allen anderen Kindern Albenmarks auszeichneten: Stolz und Schönheit.

Die anderen Fürsten hielten Emerelle für kalt und unnahbar. Ollowain wünschte sich, dass sie die Königin nun sehen könnten. In ihren Augen brannten Trotz und Leidenschaft, und ein Funke dieses Feuers sprang auf ihn über. Ihre Sache mochte aussichtslos erscheinen, doch noch war die letzte Schlacht nicht geschlagen!

Er zog das Schwert und trat die Stufen zum Mosaik hinab, wobei er es vermied, zu den Schlangenhäuptern emporzublicken. Mehr als zwei Trolle konnten nicht nebeneinander durch das Schlangenportal schreiten, so groß und unförmig wie sie waren. Dort an der Schwelle vermochte ein einzelner Krieger ein ganzes Trollheer eine Weile lang aufzuhalten. Ollowain wusste, dass er diesen Kampf dennoch nicht gewinnen konnte. Die Spanne seines Lebens hing nun an seinem Geschick, den wütenden Keulenhieben auszuweichen. Und dabei war auch er ein Gefangener der Schwelle, denn er durfte nicht einen Herzschlag lang vor den anstürmenden Trollen zurückweichen. Gab er die Schwelle preis, so würde sich die Flut der Feinde in den Thronsaal ergießen, und alles war verloren.

Ollowain lächelte. Der Tod hatte keinen Schrecken für ihn. Im Gegenteil: Diesen letzten großen Kampf zu fechten, war die Bestimmung seiner Seele. Danach würde der Zyklus aus Tod und Wiedergeburt durchbrochen sein. Er würde ins Mondlicht gehen, um wieder mit Lyndwyn vereint zu sein. Er fühlte sich leicht. Es gab keine Zukunft mehr, die ihn bedrücken konnte.

»Du solltest fliehen, Herrin, du hast die Macht dazu. Den Trollen ist es nicht bestimmt, in Albenmark zu herrschen. Das ist undenkbar! An einem anderen Tag wirst du siegen.«

»Tritt zur Seite.« Emerelle sprach leise, in ihrer Stimme lag keine Schärfe.

Ollowain gehorchte ihr widerstrebend. Besorgt blickte er ins Dunkel des Tors. Etwas bewegte sich nahe dem goldenen Pfad und beobachtete sie. War da ein Geräusch? Einen Herzschlag lang glaubte er in weiter Ferne das Lärmen der Keulen zu hören, doch nun war wieder Stille.

»Spürst du die Erschütterung der Albenpfade? Sie kommen. Es ist wie damals in Vahan Calyd.« Die Königin trat in den Schlangenkreis und kniete an der Schwelle des Tors nieder. Bedächtig streifte sie den dünnen Lederriemen mit dem schlichten Schmuckstein über den Kopf, dann umschloss sie den Stein mit der Faust. So verharrte sie, tief in Gedanken versunken.

Besorgt blickte Ollowain zum Tor. Es blieben nur noch wenige Augenblicke, bis die Trolle erscheinen würden. Emerelle konnte dort nicht bleiben.

»Herrin ...« Sanft berührte er sie an der Schulter.

Die Königin blickte zu ihm auf. Ihre sonst so warmen braunen Augen erschienen ihm jetzt wie düstere Abgründe. Ollowain kannte Emerelle seit Jahrhunderten, doch nie zuvor hatte er sie so hasserfüllt gesehen. Selbst als sie einst auf der Shalyn Fallah, der weißen Brücke, die Ermordung der gefangenen Trollfürsten befohlen hatte, hatte sie diese Entscheidung in kalter Ruhe getroffen. Nun aber spiegelte sich blanker Hass in ihrem Blick.

»Skanga verlässt sich darauf, dass wir wieder fliehen werden. Doch sie hat die letzte Grenze erreicht. Von hier aus gibt es keinen Rückzug mehr, und ich werde nicht länger dulden, dass die Trolle alles zerstören, was schön ist in unserer Welt. Sollen ihre Seelen in der Finsternis verloren sein!«

Sie nahm den Albenstein und zog knirschend einen Strich über einen der Schlangenleiber des Mosaiks. Dann stieß sie ein einzelnes Wort hervor. Ollowain kannte die Sprache nicht, derer sich die Königin bediente, doch das war nicht notwendig, um zu verstehen. Es war ein Wort wie ein Messerstich.

Der Weg in die Finsternis

Der Wind schnitt ihr ins Gesicht und biss in ihre alten Knochen. Ihre Armgelenke knirschten, als Skanga den Fleischklumpen hochhielt, der vor wenigen Augenblicken noch ein schlagendes Elfenherz gewesen war. Das Heer, das sich rings um den niedrigen Eishügel versammelt hatte, sollte sehen, dass ihr Zauber mit Blut gewirkt war.

Die Trollschamanin selbst war blind. Das war der Preis, den Skanga vor langer Zeit dafür gezahlt hatte, in die tieferen Mysterien der Magie eingeweiht zu werden. Doch auch wenn ihre Augen nur noch knochenbleicher Gallert waren, nahm sie deutlich wahr, was um sie herum geschah. Sie spürte das warme Elfenblut ihre Arme hinabrinnen und genoss den eisigen Wind auf ihrer Haut. Sie wusste, dass das Blut in der Kälte dampfte. Die Opferung war geglückt, sie hatte ihren Zweck erfüllt. Obwohl tausende Krieger um sie herum versammelt standen, war kein Laut außer den Geräuschen des Windes zu hören. Er zerrte an den neuen Bannern aus Elfenhaut und ließ die aus Knochen geschnitzten Amulette leise klappern, die viele der Kämpfer mit Lederschnüren an ihre Waffen geknüpft hatten.

Skanga blickte auf den toten Elfen zu ihren Füßen. An jenem fernen Tag, an dem sie ihr Augenlicht ihrer Gabe geopfert hatte, hatte sie befürchtet, für immer in ein Meer aus Finsternis zu tauchen. Ihre Meisterin hatte ihr nicht gesagt, was geschehen würde; Furcht und Ungewissheit hatten zu dem Opfer dazugehört. Sie hatte es ihr nicht leicht gemacht, jenen Weg zu beschreiten, den sie nun schon so viele Jahrhunderte ging. Sie hatte sie gequält, um ihre Seele zu festigen, so hatte sie behauptet. Längst war sich Skanga sicher, dass sie es vor allem zu ihrem Vergnügen getan hatte. Matha Naht war von Finsternis durchdrungen gewesen. Schwarz wie ihre Rinde war auch ihre Magie. Die törichten Elfen hielten die uralten beseelten Bäume für weise, friedliche Geschöpfe. Keine Ahnung hatten sie!

Skanga wurde Zeuge, wie die Aura des toten Elfen zu ihren Füßen langsam verging. Statt Gestalten aus Fleisch und Blut sah sie ätherische Geschöpfe aus buntem Licht. Die Farben und die Helligkeit des Lichtes verrieten ihr mehr über ihr Gegenüber, als sie es jemals mit gesunden Augen hätte erkennen können.

Den Elfen zu opfern wäre nicht nötig gewesen, um das magische Tor im Albenstern zu öffnen. Skanga hatte es für die Krieger getan. Sie glaubten, ein Zauber sei nur dann wirklich machtvoll, wenn er mit einem Blutopfer verbunden war. Im Grunde war das auch nicht falsch, doch bei einem Stern, in dem sich sieben Albenpfade kreuzten, war es leicht, die goldenen Wege durch das Nichts zu betreten. Jedenfalls wenn man den Schlüssel zu ihnen besaß.

»Fürchtet mich, ihr Schatten!«, rief Skanga mit heiserer Stimme und streckte ihren schweren Stab der aufgehenden Sonne entgegen. »Öffnet mir das Tor, und dann weicht zurück in den Abgrund, damit mein flammender Zorn euch nicht verbrenne! Wagt es nicht, nach meinen Kindern zu greifen! Euch sei das Blut des Elflings geschenkt. Trinkt es und verschlingt seine Seele! Dies ist mein Wegezoll an euch. Nun gehorcht mir!«

Die alte Schamanin blickte hinab zu den Kraftlinien, die sich schlangengleich zu ihren Füßen wanden. Ein Gedanke genügte, um sich ihrer Macht zu bedienen. Die Linien bäumten sich auf und bildeten einen Torbogen, hinter dem das Nichts wartete, jener Raum zwischen den Welten, durch den die Alben einst ihre goldenen Pfade gezogen hatten. Wer diese Wege betrat, der vermochte mit wenigen Schritten hunderte Meilen zu überwinden. Doch der Weg, den sie an diesem Tag gehen würden, war lang. Sie mussten viele Sterne überschreiten. Skanga wusste, dass etliche Krieger verloren gehen würden. So war es jedes Mal, wenn diese Narren in das goldene Netz traten. Dabei waren sie alle gewarnt. Sie wussten, was jenseits der Pfade lauerte. Viele von ihnen hatten Met getrunken, um die Angst zu betäuben. Ein Marsch durch das Nichts erforderte mehr Mut als eine Schlacht.

Branbart, ihr König, zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte aus. Skanga spürte seine Unruhe, obwohl er nichts sagte. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen. Er war es gewesen, der darauf gedrängt hatte, über die goldenen Albenpfade direkt ins Herzland vorzustoßen und der Herrschaft der Elfen ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Nach der Schlacht um Phylangan waren die Elfen zu sehr geschwächt, um nennenswerten Widerstand leisten zu können. Weniger als eine Stunde noch, und Branbart gedachte auf Emerelles Thron zu sitzen.

Skanga war nicht ganz so zuversichtlich. Alles kam ihr zu leicht vor. Die alte Schamanin konnte sich nicht vorstellen, dass Emerelle so schnell aufgab. Sie sollte auf der Hut sein. Die Elfen kämpften voller Heimtücke. Vielleicht war es eine Falle. Es mochte ...

Skanga spürte, dass sie beobachtet wurde. Etwas jenseits des goldenen Pfades spähte hinüber. Die Schamanin flüsterte ein Wort der Macht. Verschwommen erkannte sie einen Elfenkrieger jenseits des Tors. Seine Aura war kraftvoll, sie bestand aus hellem, weißgoldenem Licht. Er war entschlossen zu kämpfen. Skanga lächelte. Dieser Narr! Eine Schamanin hielt man nicht mit dem Schwert auf. Ein Gedanke von ihr, und schon formte sich eine Hand aus Schatten. Sie streckte sie über den Abgrund hinweg. Wenn sie das Herz des Elfen umklammerte, würde es aufhören zu schlagen. Er würde einfach ...

Skanga zuckte zurück. Da war noch jemand! Eine machtvolle Präsenz hatte sich an die Seite des Kriegers gestellt und schirmte ihn mit einem goldenen Schild ab.

Die Schamanin zog die Schattenhand zurück. Emerelle! Die Königin erwartete sie. Skanga zögerte. Würde die Elfenkönigin kämpfen, wenn es keine Aussicht auf einen Sieg gab? Hundert junge Trollkrieger würde sie dem Opferdolch überlassen, wenn sie dafür in Emerelles Gedanken sehen könnte, dachte Skanga.

»Wann geht es los?«, fragte Branbart ungehalten. »Worauf warten wir noch?«

Die Schamanin nickte in Richtung des leuchtenden Pfades, der durch das Nichts schnitt. »Emerelle erwartet uns am Ende des Weges. Sie wird kämpfen.«

Branbart spuckte auf das Eis. »Kann sie gewinnen?«

»Nur ein einziger Krieger ist an ihrer Seite. Der Elfling, der die Verteidiger von Phylangan befehligt hat.«

Der König lachte. »Den haben wir schon einmal besiegt. Der wird uns auch diesmal nicht aufhalten.« Er winkte den Kriegern seiner Leibwache. »Vorwärts! Ihr habt die Ehre, das erste Blut zu vergießen. Und schlagt nicht nach den Köpfen der Elflinge. Ihr wisst ja, die brauchen wir noch.«

Skanga betrachtete die jungen Krieger, die mit Feuereifer durch das dunkle Tor stürmten. Vielleicht war sie zu alt? Zweifel zu haben war eine Schwäche. Sie lächelte zynisch. Eine Schwäche, die einen davor bewahrte, blindlings ins Verderben zu rennen. Von diesen Kriegern würde wohl kaum einer an der Siegestafel des Königs sitzen. Branbarts Art, Schlachten zu gewinnen, war ebenso einfach wie verschwenderisch. Er ertränkte seine Feinde in Strömen von Blut. Trollblut! Auf seinem Weg von Sieg zu Sieg würde er noch sein ganzes Volk auslöschen ...

Aber dies war die letzte Schlacht, berichtigte sich Skanga in Gedanken. Sie konnten nicht verlieren. Welche Möglichkeiten blieben Emerelle, gegen die Flut von Trollkriegern anzukämpfen? Der Albenstein des Elfenvolkes verlieh ihr schreckliche Macht. Sie würde ein paar Hundert ins Verderben stürzen. Vielleicht brachte sie sie durch ein Trugbild vom goldenen Pfad ab und ließ sie ins Nichts stürzen?

Skangas knotige Hand schloss sich um den Stein, den sie verborgen zwischen unzähligen Amuletten trug. Sie würde ihr Volk vor der Elfenkönigin schützen. Auch sie hatte Macht, dachte sie trotzig. Sie war es gewesen, die das Volk der Trolle aus der Verbannung nach Albenmark zurückgeführt hatte.

In den zwei Monden, die seit der Schlacht um Phylangan vergangen waren, hatten sie die Snaiwamark, ihre alte Heimat, vollständig in Besitz genommen und ihr Heer neu aufgestellt. Es waren vor allem die jungen Krieger, die den Krieg weiter fortsetzen wollten, um sich einen Namen zu machen. Und auch Branbart, ihr König, dachte nicht daran, Frieden zu suchen. Sein Hass gegen Emerelle war maßlos. Einst hatte die Elfenkönigin ihn und alle anderen Trollfürsten von der Shalyn Falah, der weißen Brücke an der Grenze zum Herzland, in den Tod gestürzt. Fünfmal war Branbart seitdem wiedergeboren worden und König gewesen. Es war sein Fluch, dass er die Vergangenheit nicht vergessen konnte. Jahrhunderte hatte er sich nach Rache an Emerelle gesehnt. Jetzt wollte er keine Stunde mehr warten! Die Gefahr, noch einmal durch das Nichts zu gehen, hatte keinen Schrecken für ihn, so sehr hasste er die Elfenkönigin.

Skanga wäre es lieber gewesen, wenn das Trollheer einfach nach Süden gezogen wäre. Zwar mochte es Jahre dauern, bis sie auf diesem Wege ins Herzland vorstießen, aber wer sollte sie letztlich aufhalten? Ihr Volk war stark, und die übrigen Völker der Albenkinder waren zu zerstritten, um ihnen auf Dauer Widerstand leisten zu können. Ja, vielleicht würden sie sogar Verbündete finden?

Die Zeit der Elfen war vorbei; ihre drei schweren Niederlagen hatten das deutlich gezeigt. Sie waren das jüngste der Völker Albenmarks, und sie herrschten, seit die Alben, die großen Träumer und Schöpfer aller Welten, ihre Kinder verlassen hatten. Das war schon immer ungerecht gewesen, und es konnte gewiss nicht der Wille der Alben gewesen sein! In welcher Familie herrschte der Jüngste der Erben? Die Elfen hielten sich als Letztgeborene für die vollkommensten Geschöpfe. Doch nun hatte die Dämmerung ihres Zeitalters begonnen! Das Licht der Elfen verblasste. Und wenn sie sich nicht unterwarfen, dann würden sie vernichtet werden.

Skanga blickte durch das Tor ins Dunkel. In warmem Gold erstrahlte der Weg, der vor ihnen lag. Sie sah ihn anders als die Scharen der Krieger, die ihm noch folgen würden. Ihr magisches Auge erkannte seine wahre Beschaffenheit. Er war wie ein dickes Seil aus hunderten Fasern gedreht. Nur die Alben verstanden es, Magie zu solch wunderbaren Zaubern zu weben.

Die Begeisterung, mit der die jungen Krieger ihren Angriff führten, hatte etwas Ansteckendes. Sie konnten heute siegen! Warum noch Jahre warten?

Skanga stieß den Stab steil in die Luft. »Vorwärts, meine Kinder, wie es euer König befiehlt! Schneller! Ich führe euch ins Herz der Verderbnis. Zur Königsburg Emerelles!«

An der Seite Branbarts reihte sie sich in die Schar der Angreifer ein.

Der Schritt durchs Tor erforderte den meisten Mut. Man verließ festen Boden, um auf einen Pfad zu treten, der aus nichts anderem als Licht bestand. Hunderte Male hatte Skanga es schon getan, und doch war es immer wieder aufs Neue ein Kampf, sich dem Zauber der Alben anzuvertrauen. Die Schamanin wusste besser als alle anderen, was es bedeutete, ins Nichts zu gehen, in jene Dunkelheit, die jenseits des dünnen Gespinstes aus Magie lag.

Misstrauisch musterte die Schamanin das weitmaschige Netz aus blauen und grünen Kraftlinien, das sich schützend über den goldenen Pfad wölbte. Blau, diese Farbe der Magie, war Skanga immer verschlossen geblieben. Sie speiste sich aus der Weite des Himmels und der Kraft der Sturmwinde. Für sie war es stets so gewesen, als versuche sie einen Lufthauch zu greifen, wenn sie die Magie des Himmels in ihre Zauber hatte einbinden wollen. Sie spürte die Kraft, und doch war es ihr unmöglich, sie zu binden.

Skanga spähte ins Dunkel jenseits der Pfade. Draußen, in der unermesslichen Finsternis, lauerten die Yingiz. Ein rätselhaftes Volk, das von den Alben einst ins Nichts zwischen den Welten vertrieben worden war. Die Schamanin spürte, dass sie dort waren, doch sie konnte sie kaum sehen. Die Yingiz waren von Furcht einflößender Art. Sie hatten keine Aura.

Alles, was lebte, war von einer pulsierenden Aura aus vielfarbigem Licht umgeben. Die Auren zu sehen, war das Erste gewesen, was Skanga gelernt hatte, nachdem sie ihr Augenlicht verloren hatte. Erst viel später vermochte sie Schatten zu fühlen, wenn vor ihr ein Felsblock oder etwas anderes Unbelebtes aufragte.

Skanga blickte erneut auf das Netz aus blauen und grünen Fäden. Es war zu weitmaschig, fand sie. Und doch hielt es die Yingiz fern. Bald würden sie in Scharen den goldenen Pfad umlagern. Wenn etwas Lebendiges in das Nichts eindrang, dann wurden sie von dessen Aura angezogen wie Nachtfalter von der Flamme einer Öllampe.

Die Yingiz vermochten die Zauber der Alben nicht zu durchdringen, aber wehe denen, die den goldenen Pfad verließen. Die Schattengestalten waren Seelenfresser. Wer hier in der Finsternis zwischen den Welten starb, der würde niemals wiedergeboren werden.

Die Schamanin war ein gutes Stück auf dem Weg gegangen, als sie etwas an der Schulter streifte. Branbart, ihr König, ging dicht hinter ihr. Sie spürte die Wärme der Fackel, die er in der Linken hielt. Ihr Licht konnte die Dunkelheit jenseits der Schutzzauber gewiss nicht erhellen.

Skanga roch Branbarts Angst. Ein säuerlicher Geruch, der sich mit dem Duft nach Met, ungegerbtem Leder und Rauch mischte.

»Dauert es noch lange?«, fragte der König heiser.

»Ja!«, entgegnete sie ungehalten. Tagelang hatte sie versucht, ihm diesen Angriff auszureden. Jetzt war es zu spät, um noch umzukehren. Wenn Branbart seine Krieger nun zurückschickte, dann würde er all sein Ansehen als König verlieren. Niederlagen oder allzu blutige Siege vergaßen Trolle schnell. Feigheit nicht.

Skanga überquerte einen Albenstern, an dem sich vier goldene Pfade kreuzten. Wie ein kunstvoller Knoten waren sie miteinander verwoben.

Sodann deutete sie auf die blasse, rote Flamme, die neben einem Pfad brannte, der nach links führte. Einen ganzen Tag lang hatte sie damit verbracht, den Weg durch das goldene Netz zu markieren. Trotzdem würden gewiss etliche Krieger verloren gehen. Angst machte blind. Aber das spielte keine Rolle. Siege wurden mit Blut erkauft.

Sie waren Tausende, und sie gingen alle hintereinander. Vermutlich waren immer noch nicht alle Krieger durch das Tor auf der Eisebene der Snaiwamark geschritten. Die Letzten würden den Pfad wohl erst betreten, wenn die Schlacht gegen Emerelle schon entschieden war.

»Was ist dort draußen?«, flüsterte Branbart. Der König drängte sich so dicht an sie, dass er ihr mit der Fackel den Nacken versengte. »Ich spüre da etwas. Es ...«

»Erinnerst du dich an das Heerlager bei der Wolfsgrube, am Tag bevor die Eissegler uns angegriffen haben? Dort hat uns ein Geisterwolf besucht, eine üble Kreatur mit einem blutroten Auge. Erinnerst du dich an seine Bosheit und seinen Hass?«

»Ja.« Der König zog die Nase hoch und wollte ausspucken. Unschlüssig blickte er hinab auf den goldenen Pfad, der nicht Erde und nicht Fels war und sie dennoch trug. Dann überlegte er es sich anders und schluckte den Rotz hinunter.

»Stell dir vor, all diese Bosheit sei ein Kieselstein am Meeresufer. Ein Stein, wie sie dort ohne Zahl liegen. Das, was dich hier jenseits des Weges erwartet, ist der Berg, von dem dieser Stein stammt. Denk an das Schlimmste, das dir je widerfahren ist, und sei gewiss, die Schrecken des Nichts werden es bei weitem übertreffen.«

Skanga blickte nach vorn und betrachtete die rote Flamme der Wegmarkierung. War es ein Fehler gewesen, diese Lichter zu setzen? Störte ihre Magie vielleicht den Zauber der Alben? Kam ihr der Schutzzauber so weitmaschig vor, weil sie unwissentlich etwas zerstört hatte?

Sie versuchte, den Zweifel von sich zu schieben. Es war das Wesen der Yingiz, Ängste zu schüren. Kamen diese Gedanken von ihnen? War sie nicht mehr Herrin dessen, was sich in ihrem Kopf abspielte? War das schon geschehen, als sie die Lichter gesetzt hatte? Waren die Yingiz schon dort die Meister ihrer Gedanken gewesen und hatten sie dazu missbraucht, Tausende in die Falle zu locken?

Skanga atmete tief aus. Sie dachte an den hellen Sommertag zurück, an dem Matha Naht ihr das Augenlicht genommen hatte. An die Schmerzen ... So vertrieb sie die Zweifel. Zumindest für ein paar Herzschläge.

Die Schamanin beschleunigte ihre Schritte. Ab und an sah sie Schatten jenseits des Netzwerks aus schützender Magie. Ihr Atem ging keuchend. Sie hatte das Gefühl, als stapele ein unsichtbarer Folterknecht Steine auf ihre Brust. Mit jedem Schritt wuchs die Last, wurde es qualvoller einzuatmen.

Alles Unsinn! Sie umklammerte den Albenstein fester. Das waren die Spiele der Yingiz! Sie blickte auf, doch ihr Feind war unsichtbar. Sie konnte ... Die Schamanin stutzte. War der schützende Bogen aus Magie flacher geworden?

Ein gellender Schrei schreckte sie aus ihren Gedanken. Kurz, abgehackt. Jemand war ins Nichts gezerrt worden.

»Irgendein Trottel, der vom Weg abgewichen ist!«, rief Branbart. Seine Stimme war schrill, sie verriet seine Angst. »Beeilen wir uns!«

»Nein!« Skanga wusste, dass Eile ein falsches Zeichen war. Sie zwang sich zur Ruhe und spähte ins Dunkel. Nichts. Die Schamanin schlug ein Schutzzeichen. Die Krieger um sie herum waren still. Nur aus der Ferne erklang das Schlagen von Waffen auf Schilde.

»Niemand rennt hier! Ihr seid Jäger! Ihr wisst, dass fliehende Beute den Jäger aufmerksam werden lässt. Sie ist viel leichter zu stellen als ein Tier, das sich ruhig verhält. Hier sind wir die Beute. Behaltet kaltes Blut. Niemand rennt! Ihr geht langsam. Jedes Mal, wenn ich meinen Stab hebe, macht ihr einen Schritt und schlagt dabei mit euren Waffen auf die Schilde. Der Feind im Dunkel weidet sich an unserer Angst. Begegnet ihm mit Gelassenheit! Und stört die Stille. Lasst uns den Rhythmus unseres Marschtritts in die Stille tragen. Wir bestimmen, wann wir gehen und wann wir laufen.« Skanga hob ihren Stab, machte einen Schritt vorwärts und senkte den Stab wieder.

Vereinzelt erklangen Keulenschläge auf Schilden.

»Benehmt euch nicht wie scheue Rehkitzchen!«, brüllte Branbart und hob seinen Schild. »Tut, was Skanga sagt! Und sagt den Männern weiter hinten, was sie befohlen hat.«

Wieder hob und senkte die Schamanin ihren Stab. Das Donnern der Schilde wurde lauter. Sie musste Ordnung in das Heer bringen. So würden sie die Gefahr meistern. Skanga zwang sich, ruhig weiterzugehen. Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie viele weite Reisen unternommen. In all den Jahrhunderten ihres Lebens war ihr dabei nur ein einziges Geschöpf begegnet, das hier im Nichts keine Angst empfand: ein Dschinn. Er hatte ziemlich viel krausen Unsinn geredet. Vielleicht war er ja auch verrückt gewesen ... Er hatte ihr gezeigt, wie er die Pfade verließ und durch das Dunkel gehen konnte, ohne sich schützen zu müssen. Und ihm war tatsächlich nichts geschehen! Warum die Yingiz ihn verschonten, hatte Skanga nie begriffen. Vielleicht war er zu fremdartig. Womöglich verschmähten die Yingiz auch Wesen, die nicht aus Fleisch und Blut waren.

Erneut erklang ein gellender Schrei, der abrupt abbrach. Trolle verschmähten die Seelenfresser jedenfalls nicht.

»Schneller!«, drängte Branbart.

Skanga ignorierte ihren König und ging gemessenen Schrittes weiter. Sie hob und senkte ihren Stab, und das Echo dröhnender Schilde folgte ihr. War der Weg schmaler geworden?

Nein, nein ... Ihr magisches Auge spielte ihr einen Streich! Das konnte nicht sein! Sie zwang sich, ruhig zu atmen, und presste den Albenstein auf ihr Herz. Er verstärkte ihre Magie und verlieh ihr eine Macht, die fast an jene sagenumwobenen Kräfte ihrer Schöpfer heranreichte. Es hieß, wer drei Albensteine besaß, der könne alles vollbringen. Doch jedem der Albenvölker war nur ein Stein geschenkt worden, und sie wurden eifersüchtig gehütet.

Die Schamanin dachte an Emerelle. Sie besaß den Stein, der den Elfen geschenkt worden war. Sollte Branbart nur aus dem Schädel der Königin trinken. Sie würde Emerelles Albenstein an sich nehmen! Wenn sie ihn erst besaß, würde sie ihr Volk künftig vor allen Gefahren schützen können.

Wieder erreichten sie einen Albenstern; diesmal kreuzten sich sieben Pfade. Skanga verharrte. Waren sie schon bei dem Stern angelangt, über den Atta Aikhjarto wachte? Die Schamanin musterte eingehend das verschlungene Knotenmuster der Kraftlinien. Nein, es war noch ein gutes Stück Wegs bis zum Tor in Emerelles Thronsaal.

Da war ein Geräusch ... Ein fernes Jaulen? Es war in ihrem Kopf ... Die Yingiz! Es hieß, dass die Yingiz an Macht gewannen, wenn man zu lange im Nichts verweilte. Sie fanden einen Weg, jene zu verlocken, die schwach waren. Wie um Skangas Gedanken zu bestätigen, erklang erneut ein Schrei.

Die Schamanin strauchelte. Sie hatte sich den Fuß vertreten. Stechender Schmerz peinigte ihren rechten Knöchel. Den Fuß vertreten? Das konnte doch nicht ...

Weitere Schreie gellten durch die Finsternis. Da sie stehen geblieben war, erstarb das Krachen der Schilde. Der stechende Geruch der Angst hing in der Luft.

Skanga blickte auf ihre Füße. Sie versanken langsam im goldenen Pfad, so wie man auf einem regenweichen Lehmweg einsank.

Immer neue Schreie tönten vom Anfang der Marschkolonne.

Was ging dort vor sich? Skanga hob den Stab. Es musste vorwärts gehen! Schließlich war es nicht mehr weit bis zum Thronsaal der verfluchten Königin. Sie durften sich jetzt nicht aufhalten lassen. Der aufgeweichte Weg, die Todesschreie, das waren die Boten des letzten Widerstands!

Skanga blickte wieder auf ihre Füße. Der Arm, mit dem sie den Stab hob, verharrte inmitten der Bewegung. Der Pfad! Wie ein dickes Seil, das sich Strang für Strang auflöste, zerfaserte er.

»Zurück! Lauft!«, schrie die Schamanin und packte Branbart beim Arm.

Die Krieger vor ihnen kehrten um und drängten auf dem schmaler werdenden Weg zurück. Dutzende Kämpfer stürzten in die Finsternis und waren sofort von wirbelnden schwarzen Schlieren umgeben. Wie lange, dünne Würmer wurde das Lebenslicht aus ihren Leibern gezerrt.

Skanga versetzte dem Krieger, der ihr entgegenkam, mit ihrem Stab einen Schlag ins Gesicht. Vergebens! Sie wurde zur Seite gestoßen. Die Finsternis griff nach ihr. Dann brauste es in ihren Ohren. Sie fiel in den endlosen Abgrund. Gestalt gewordene Dunkelheit griff nach ihr.

Stille

Ein tausendfacher Schrei erklang, erschreckend nah und zugleich nicht mehr von dieser Welt. Ollowain hatte auf unzähligen Schlachtfeldern gestanden. In seinem Leben, das nach Jahrhunderten zählte, hatte er unzählige Male dem Tod gelauscht. Wimmernd, röchelnd, trotzig fluchend waren die Sterbenden um ihn herum ihrem Ende begegnet. Manche riefen nach ihrer Mutter oder ihrer Geliebten, andere starben würdelos kreischend. All dies war dem Schwertmeister wohl vertraut, aber Todesschreie wie diese hatte er nie zuvor vernommen.

Eine Geste von Emerelle ließ das dunkle Tor vergehen und schnitt die Stimmen der Trolle ab. Die steinernen Schlangen flüchteten zurück an ihren Platz im Mosaik. Das leise flüsternde Wasser an den Wänden des Thronsaals verstummte. Es war jetzt totenstill in der großen, verlassenen Burg.

Ollowain zitterte, als er das Schwert zurück in die Scheide schob. Es war kälter geworden. Mondlicht wob seinen Zauber im weiten Thronsaal.

Nur ein Wort der Königin hatte genügt, den Elfen Frieden zu bringen. Alles war gut, redete sich Ollowain ein. Und doch spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Etwas Fremdes, Ungreifbares war um ihn herum. Es vermochte sich vor ihm zu verbergen, aber er wusste, es war hier. Ganz nahe! Feuchtigkeit hing schwer in der Luft und mit ihr der Duft von Lindenblüten. Ollowain hatte dicht vor dem dunklen Tor gestanden. Nichts hätte unbemerkt an ihm vorbeigelangen können. Und dennoch war etwas hier ...

Obwohl er der berühmteste Schwertkämpfer Albenmarks war, fühlte er sich hilflos wie ein Kind. Ausgeliefert dem Unnennbaren. Er kniete neben seiner Königin nieder. Die Lippen schmal, den Blick in sich gekehrt, verharrte sie kniend. Mit beiden Händen hielt Emerelle den Albenstein umklammert, wie ein Frierender in einer Winternacht einen Becher mit warmem Wein.

Zärtlich umfingen seine Hände ihre kalten Finger. »Was ist geschehen, Herrin?« Emerelle schwieg. Sie sah zu den bunten Steinen des Mosaiks hinab, als verberge sich in dem Bild ein Geheimnis, das nur sie allein zu deuten mochte. So schien es Ollowain, bis er begriff, dass die Königin in Wahrheit seinen Blick mied.

Lange knieten sie einander gegenüber. Langsam kehrte die Wärme in Emerelles Finger zurück. Kein Laut störte die Stille.

Der Drachenstern stand schon tief im Westen, als die Königin sich erhob. Schweigend folgte Ollowain ihr die Stufen zum Thron hinauf. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frage zu wiederholen. Sie würde ihm antworten, wann es ihr gefiel. Vielleicht auch nie ... So viele Geheimnisse trug sie in ihrem Herzen. Es hieß, Emerelle sei die Älteste ihres Volkes, und sie habe bereits gelebt, bevor die Alben ins Mondlicht gegangen waren. Selbst für eine Elfe war die Spanne ihres Lebens schier unermesslich. Sie war alt wie die Berge, und doch hatte sie nie ihren jugendlichen Liebreiz verloren. Jetzt aber wirkte sie müde. Leicht vorgebeugt stand sie vor der flachen Silberschüssel neben dem Thron. Manchmal verharrte sie so ganze Tage. Nur Ollowain, Meister Alvias und Obilee durften den Thronsaal betreten, wenn die Herrin Albenmarks versuchte, der Zukunft ihre Geheimnisse zu entreißen. Im spiegelnden Wasser der Schüssel erblickte Emerelle, was in kommenden Jahrhunderten geschehen mochte, und sie hielt stumme Zwiesprache mit dem Schicksal, um über den Weg der Völker Albenmarks zu entscheiden.

Im Wasser der Schüssel lagen reglos die beiden Nachtigallen. Ihr Gefieder war zerzaust. Die kleinen Schnäbel standen offen; sie waren gestorben, während sie gesungen hatten. Eine Laune des Lichts ließ das Wasser einen Augenblick lang schwarz erscheinen, als treibe ein Schatten unter der spiegelnden Oberfläche.

»Wir beide wären jetzt tot, wenn ich es nicht getan hätte«, sagte Emerelle leise. »Aus den Türmen der Burg würden himmelhohe Flammen schlagen, aber diese Nachtigallen säßen im Geäst der beiden Linden unten im Tal, dort, wo die Quelle entspringt, die sich in den See ergießt. Sie hatten begonnen, sich dort ein Nest zu bauen ...« Emerelle standen Tränen in den Augen. Nie zuvor hatte Ollowain die Königin weinen gesehen.

»Was hast du getan, Herrin?«

»Ich habe einen Teil der Schöpfung der Alben zerstört. Einen der goldenen Pfade, die durch das Dunkel führen. Jenen Pfad, den die Trolle gewählt hatten, um hierher zu gelangen. Alle, die ihn betreten haben, sind ins Nichts gestürzt. Ich ...« Sie rang einen Augenblick lang um Worte. »Es war Zorn, der meine Tat bestimmte. Ich habe einen Weg beschritten, auf den ich nicht vorbereitet war und von dem ich nicht weiß, wohin er führen wird.«

»Aber du sagtest, wir wären sonst tot«, wandte Ollowain ein. Er mochte nicht glauben, was er hörte. Solange er Emerelle kannte, hatte er immer darauf vertraut, dass sie wusste, was die Zukunft brachte, und dass all ihr Tun in diesem Wissen begründet war. Vor allem, wenn er ihr Handeln nicht verstand, hatte er sich mit diesem Glauben gegen seine Zweifel gewappnet.

»Was sonst wäre wohl mit uns geschehen, wenn die Trolle den Thronsaal gestürmt hätten? Hättest du dich ergeben? Niemals. Und auf welche Weise ich an Branbarts Siegesfest teilnehmen sollte, ist dir auch bekannt. Man muss nicht immer Magie wirken, um die Zukunft zu kennen.«

Vorsichtig hob Emerelle die beiden toten Vögel aus dem Wasser und bettete sie in ihre Handflächen. »Unsere Zukunft ist wie ein Baum, Ollowain. Mit jedem Herzschlag treibt er tausende junge Äste, die sich schon beim nächsten Herzschlag wieder zerteilen und zu einer mächtigen, unübersichtlichen Baumkrone werden. Mir war bewusst, dass Skanga Angst davor hatte, noch einmal die Albenpfade zu beschreiten. Zweimal schon haben die Trolle gesiegt, weil sie das Werk der Alben missbrauchten. Sie wusste, dass ich hier im Thronsaal stehen würde, um auf sie zu warten. Bei allen möglichen Zukünften, die ich gesehen habe, hat sie es nur ein einziges Mal gewagt, das Tor zu öffnen. Ihr war klar, dass ich die Macht habe, einen Albenpfad zu zerstören. Sie hat sich gefürchtet. Deshalb wählte sie die Macht des Blutes und der Finsternis, um ihren Zauber zu wirken. Dies sind die Spielarten der Magie, die mir am wenigsten vertraut sind.« Emerelle zitterte vor Zorn, während sie sprach. »Ich habe bis zuletzt nicht wahrhaben wollen, dass sie sich noch einmal in das goldene Netz wagen würde. Sie hat darauf vertraut, dass ich mich fürchten würde, das Werk der Alben zu einem Teil zu zerstören. Dies ist ein Zweig der Zukunft, den ich nicht erforscht habe, denn er führt in die Dunkelheit. Er ...« Wieder versagte ihr die Stimme.

Ollowain spürte ihre Angst. Was war an Stelle der Trolle in ihre Welt getreten? Welchen Schrecken hatte sie in ihrem Zorn beschworen?

Die Königin wandte sich von der spiegelnden Silberschale ab. Erstes Morgenlicht vertrieb die Schatten im Thronsaal. Vorsichtig legte Emerelle die beiden toten Vögel auf die Lehne ihres Throns. »Hunderte Zukünfte habe ich erforscht. Tausende sind mir verborgen geblieben. Auf fast jedem Weg, dem ich folgte, sah ich, wie die Trolle ein gewaltiges Heer aufstellten. Ich sah weite Ebenen in Flammen und brennende Städte. Wer sich diesem Heer in den Weg stellte, der wurde vernichtet. Unaufhaltsam kam es nach Süden, zum Herzland. Das war es, was sie wollten. Sie wollten Albenmark das Herz herausreißen.«

Ollowain spähte in die verblassenden Schatten. Etwas verbarg sich dort. Warum sprach Emerelle nicht davon? Würden ihre Worte dem fremden Wesen weitere Macht verleihen? Er erinnerte sich an dunkle Legenden über ein ungenanntes Böses. Ihm einen Namen zu geben, machte es stärker. Es hieß, die Alben hätten es vertrieben. Aber man sprach immer noch nicht darüber. Emerelle wusste, was sie tat, redete sich der Schwertmeister ein. Trotz allem, was in dieser Nacht geschehen war. Wenn sie nicht darüber reden wollte, was die Nachtigallen getötet hatte, war es klüger, diese Frage unausgesprochen zu lassen. »Und wenn wir uns den Trollen mit aller Kraft entgegenwerfen würden?« Vor wenigen Stunden noch hatten die Trolle sein ganzes Denken beherrscht. Nun fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder spähte er ins Zwielicht, das langsam den Strahlen der Morgensonne wich.

»Wenn wir die Völker Albenmarks vereinen, um unter einer Fahne zu kämpfen, können wir dann nicht doch über die Trolle siegen? In dieser Nacht haben wir Zeit gewonnen, uns auf den Krieg vorzubereiten, der trotz allem kommen wird.« War da ein Schatten hinter dem Thron? Nicht hinsehen! Seine Augen spielten ihm gewiss einen Streich! Das war nur der Schatten der hohen Lehne. Nichts sonst! »Hat all unser Streben keinen Einfluss auf unsere Zukunft?«

»Ganz im Gegenteil. Jeder Schritt, den wir tun, verändert etwas. Und doch ... Manchmal scheint es so, als seien bestimmte Ereignisse unabwendbar.« Sie senkte den Blick, denn sie wollte nicht, dass er in ihren Augen lesen konnte, als sie weitersprach.

»Wir werden verlieren, was wir lieben. Das ist der Preis. So war es schon immer.«

Einen langen Augenblick schwiegen sie beide. Dann sah sie auf und lächelte plötzlich. »Heute Nacht haben wir den Weg in eine neue, unbekannte Zukunft beschritten. Sie ist dunkel ... Aber wenn man die Hoffnung nicht aufgibt, dann ist alles möglich!« Ihr Lächeln war so plötzlich verflogen, wie es gekommen war. Es war ein seltener Gast in ihrem Antlitz, und doch hatte es schon unzählige Barden aus allen Völkern der Albenkinder zu Liedern über sie ermutigt. Wenn Emerelle lächelte, dann lag ihr die Welt zu Füßen. In diesen seltenen Augenblicken entfaltete sich ihre ganze Schönheit. Nichts, das Ollowain je gesehen hatte, war so vollkommen. Außer Lyndwyns Augen

... dachte er traurig. Zuletzt hatte er nur noch in ihre Augen gesehen. Sonst hätte er nicht ertragen können, was die Trolle ihr angetan hatten. Er wusste, sie wartete auf ihn.

»Weißt du um meinen Tod, Herrin?«

»Ich weiß um viele deiner möglichen Lebenswege«, entgegnete die Königin ausweichend.

»Und mein Tod?«, beharrte er.

»Willst du das wirklich wissen? Deine Frage ist nicht weise. Dein Tod hängt von dem Weg ab, den du wählst. Ich habe dich oft sterben gesehen.«

»Und wie kann ich mich schützen?«, setzte er nach und meinte doch das Gegenteil.

Sie lächelte traurig. »Gar nicht, Schwertmeister. Zu leben ist auf jeden Fall tödlich. Meide das Feuer, Ollowain. Du wirst in den Flammen sterben, so war es schon immer.«

Endlich gelang es ihm, ihren Blick einzufangen. »Du kennst den Weg meiner Seele? Meine vergangenen Leben? Wer war ich?«

»Sich nicht zu erinnern, ist ein Geschenk, Ollowain. Rühre nicht an dieser Gunst, die dir das Schicksal gewährt. Jede Wiedergeburt hat deine Seele geläutert. Du bist ohne Fehl. Vollkommen. Ich ...« Sie schüttelte sanft den Kopf. »Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Warum Wunden, die verheilt sind, wieder aufreißen? Vertraue mir. Zu vergessen ist ein Geschenk. Nur so wird man wirklich in ein neues Leben geboren, wenn man wiederkehrt. Jenen, die geblieben sind, steht es nicht zu, selbstsüchtig an dieser Gnade zu rühren, mein Schwertmeister.« Sie schenkte ihm ein schmerzliches Lächeln. »Nun lass mich bitte allein. Es ist meine Pflicht, von neuem mit der Suche nach unserer Zukunft zu beginnen. Wir ...« Sie hielt inne und senkte den Blick.

»Ja?«

»Ich habe dir nie dafür gedankt, wie du mich aus dem brennenden Vahan Calyd gerettet hast. Du warst mein Schwert und mein Schild, als ich mich nicht zu schützen vermochte. Männer wie du sind selten, Ollowain. Danke, dass du an meiner Seite stehst. Du bist das Licht in meinen dunkelsten Stunden.«

Ihre Worte machten ihn verlegen. Er verbeugte sich knapp und zog sich zurück. Doch noch bevor er die hohe Flügeltür zum Thronsaal erreichte, schlichen sich Zweifel in seine Gedanken. Seit seiner Kindheit hatte er sich kaum mehr Gedanken darüber gemacht, wer er einst gewesen sein mochte. Hatte die Königin all dies nur gesagt, um ihn davon abzulenken, was sie getan hatte?

Am Tor blickte er zurück. Der Thronsaal war nun lichtdurchflutet. Emerelle stand ganz in sich gekehrt vor der Silberschale. Den Schatten haftete nichts Bedrohliches mehr an. Nur die beiden toten Nachtigallen auf der Armlehne des Throns erinnerten daran, dass etwas nach Albenmark gekommen war, das selbst die Königin fürchtete.

Der Fluch

Skanga riss den Stab hoch über den Kopf. Kälte griff nach ihren Gliedern. Das Ende war nahe. Wie ein Wollfaden wand sich zitternd das Licht aus ihrer Brust. Branbart starrte sie mit schreckensweiten Augen an. Ihm entwich das Lebenslicht durch seine großen Nasenlöcher.

Die Trollschamanin drehte den Stab langsam. Ihre zitternden Lippen formten die Worte, die sie einst von Matha Naht gelernt hatte. Dünn wie eine Eierschale umschloss sie ein Kokon aus stählernem Licht.

Skanga zerrte Branbart dicht an sich heran. Der König krümmte sich wimmernd wie ein Neugeborenes. Seine Hände krallten sich schmerzhaft in ihre Schultern. Metschwerer Atem schlug der Schamanin ins Gesicht.

Noch immer stürzten sie. Das Geschrei war erstorben. Tränen rannen über Skangas Gesicht. Die Seelen tausender junger Krieger waren vergangen. Die Schamanin spürte den Jubel der Yingiz. Ein solches Festessen hatte es noch nie gegeben. Ein ganzes Heer war dahin. Binnen Augenblicken.

»Ich verfluche dich, Emerelle!«, stieß sie stockend hervor.

»Mögen die Kinder in deinem Leib von Würmern gefressen werden, wenn du jemals empfangen solltest. Mögen die Werke deines Volkes Asche werden. Mögen deine Freunde dich verraten und deine Feinde ohne Zahl sein. Mögest du alles verlieren, was deinem Herzen Freude schenkt, und mögest du ewig leben, damit deine Qualen niemals enden!«

»Schick uns, Skanga«, flüsterte ein Chor von Stimmen in ihrem Kopf. »Du hast uns schon einmal gerufen. Wir erfüllen dir deine Wünsche gern. Bring uns ins Herzland, und wir lehren Emerelle das Fürchten

Skanga versuchte sich gegen die Stimmen zu verschließen. Sie hielt Branbart eng umklammert. Ja, sie gab sich sogar ihrer Angst hin. Sie war sich bewusst, dass ihr Sturz nur ein Trug war, wie fast alles in der Welt der Schatten. Dennoch fürchtete sie jeden Augenblick, auf felsigem Grund zerschmettert zu werden. Branbart stieß kurze, schrille Schreie aus. Wahn spiegelte sich in seinen Augen.

»Ich kann euch keinen Leib geben«, schrie die Schamanin. »Es ist nicht wie in Vahan Calyd. Ich kann euch hier nicht helfen.«

»Öffne uns ein Tor ins Herzland, Skanga. Das ist alles, was wir wollen. Wir brauchen keinen Leib. Furcht allein kann töten, Schamanin. Und wir sind die Meister der Furcht

»Eure Lügen täuschen mich nicht. Furcht allein wird nicht genügen, um Emerelle zu bezwingen. Ich lasse euch nicht nach Albenmark, wenn ich nicht über euch gebieten kann. Haltet ihr mich für so dumm? Welchen Nutzen hätte ich davon? Eines Tages würdet ihr in die Snaiwamark vordringen, um dort mein Volk zu quälen. Ich verhandle nicht mit euch zu euren Bedingungen.«

Lachen hallte in ihrem Kopf wider. Laut, gehässig, schmerzend. Skanga ließ den Stab sinken und presste sich die Hände auf die pochenden Schläfen. »Wir verhandeln nicht, Skanga. Wir machen dir einen großmütigen Vorschlag. Du bist in unserer Hand. Wir schenken dir dein Leben, wenn du uns ein Tor ins Herzland öffnest. Und wir schenken dir die Gewissheit, dass Emerelle leiden wird. Ist es nicht dein größter Wunsch, die Königin der Elfen zu zerbrechen? Öffne uns das Tor, und dein Wunsch wird sich erfüllen

Schatten perlten von der dünnen Haut des Zaubers, mit dem sich Skanga umgab. Sie war in Sicherheit! Die Yingiz konnten nicht bis zu ihr vordringen! Die Sinne der Schamanin tasteten sich in die Dunkelheit. Sie musste einen der goldenen Albenpfade finden. Dann wären sie und Branbart gerettet.

»Glaubst du wirklich, du könntest dich vor uns schützen?« Gelächter erklang. »Skanga, bist du dir sicher, dass deine Zauber so machtvoll wie die der Alben sind? Wollen wir es herausfinden?« Sie durfte nicht auf die Stimmen hören. Zu reden, das war alles, was sie konnten. Ihr Zauber schützte sie beide vor ihnen ...

Branbart seufzte. Das gelbe Licht eines Lächelns floss durch seine Aura. »Ja, das werde ich tun«, sagte er. »Ja.« Seine Hände schlossen sich um Skangas Kehle.

»Du Narr! Du bringst uns beide um!«

Der König lächelte noch immer. »Sie lassen mich gehen. Und sie vertreiben die Stimmen in meinem Kopf.« Seine Hände drückten fester zu. »Die Schreie ... Sie hören nicht auf, die Schreie meiner Krieger.«

Skanga bäumte sich auf. Ihre langen Nägel krallten sich in die Handgelenke des Königs, doch gegen seine Kraft vermochte sie nichts auszurichten. Ihre Lungen brannten, als habe man flüssiges Feuer hineingegossen. Vergeblich japste sie nach Luft.

»Wenn ich sterbe, vergeht mein Zauber«, stieß sie hervor. »Du tötest uns beide.« Noch immer war das Gelb des Lächelns im Lichtkörper des Königs zu sehen. Doch seine Aura verblasste langsam. Etwas Dunkles breitete sich in ihm aus. Die Farben vergingen. Plötzlich war sein Kopf verschwunden. »Sie haben es versprochen«, sagte er mit fremder, kehliger Stimme.

Skanga griff ihm ins Gemächt und drückte mit aller Kraft zu.

Branbarts Griff um ihre Kehle wurde nur fester. Die Schamanin spürte, wie sich knirschend einer ihrer Nackenwirbel bewegte. Sie musste an erstickenden, schwarzen Schlamm denken. Panik griff nach ihrer Seele. Es war wie damals in der Schreckensnacht ...

Plötzlich stieß Branbart einen spitzen Schrei aus. Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Bist du verrückt, alte Vettel?« Mit der Rechten rieb er sich den Schritt. Sein Lichtkörper hatte wieder einen Kopf, und er erstrahlte im pulsierenden Rot von Wut und Schmerz. Der König zog die Nase hoch und spie aus.

Skanga spürte, wie sein Auswurf auf ihrem linken Fuß landete. Der magische Kokon, den sie erschaffen hatte, war zu eng, um sich aus dem Weg zu gehen. Die Schamanin tastete nach ihrem Stab. Misstrauisch beobachtete sie Branbart.

»Er ist so schwach«, erklang es in ihrem Kopf. Diesmal sprach nur eine Stimme. »Warum herrschst du nicht über dein Volk, Skanga? Du wärst viel besser geeignet. Ach ... Glaubst du immer noch, dein lächerlicher Zauber könnte dich schützen? Wir müssen dich nicht berühren, um dich zu töten, Alte

»Ich kann mich aus eigener Kraft schützen«, zischte Skanga. Jedes Wort brannte ihr in ihrer geschundenen Kehle.

»Bist du sicher? Vielleicht haben wir von ihm gelassen, damit er dich jetzt noch nicht umbringt. Zumindest ich glaube, dass man mit dir reden kann, auch wenn nicht alle meine Brüder und Schwestern meiner Meinung sind. Du bist klug. Du wirst einsehen, in welch aussichtsloser Lage du bist. Entweder tötest du Branbart, dann wird seine Seele von uns getrunken werden, und euer König wird niemals mehr wiedergeboren. Oder du tust es nicht, dann sterbt ihr beide. Du wirst dich nur vor ihm schützen können, wenn du ihn umbringst. Er ist deine größte Schwäche, Skanga. Ich sagte ja schon, dass nicht alle meine Brüder und Schwestern so nachgiebig sind wie ich. Manche haben dir nicht verziehen, dass du zwei von uns ins Verderben gezwungen hast. Sie werden Branbart dazu bringen, dass er dich tötet. Dann vergeht dein Zauber, und ihr beide werdet unsre Opfer. Ich gestehe, selbst ich werde schwach, wenn ich an deine starke Seele denke. Sie ist voller Düsternis. Wir unterscheiden uns weniger, als du glaubst, Skanga. Der dunkle Samen von Matha Naht ist in dir aufgegangen. Und er ist stark

Alles Lüge, dachte Skanga. Sie durfte sich diesen Einflüsterungen nicht hingeben. Sie würde Branbart hier herausbringen. Wenigstens ihn.

»Du enttäuschst mich. Du weißt doch, dass ich Recht habe.« Das gelbe Licht des Lächelns durchdrang Branbarts Aura. Die anderen Stimmen flüsterten wieder auf den König ein.

»Meine Brüder und Schwestern haben beschlossen, dass du noch nicht sterben sollst. Aber frohlocke nicht. Das ist keine gute Nachricht. Sie sind überzeugt, dass sie dich dazu bringen können, uns einen Weg nach Albenmark zu öffnen. Du bist sehr mächtig, Skanga, und trägst einen Albenstein bei dir. Du kannst das Werk der Alten vernichten, wie ein Kind mit Leichtigkeit ein Spinnennetz zerreißt. Glaubst du, die Alben und alles, was sie erschaffen haben, seien vollkommen gewesen? Selbstsüchtig waren sie. Schlimmer noch als ihre Letztgeborenen, die Elfen. Und von unerträglicher Überheblichkeit! Sie ... Oh! O nein. Es tut mir leid

»Was?« Skanga verfluchte sich im selben Augenblick, in dem das Wort über ihre Lippen kam. Sie durfte sich nicht auf die Einflüsterungen dieses Yingiz einlassen! Ganz gleich, was er sagte, er meinte es nicht gut mit ihr.

»Meine Brüder und Schwestern versuchen deinen König davon zu überzeugen, dass er dich packen soll, um dir einen Daumen aus dem Gelenk zu drehen. Und dann soll er ihn auch noch abreißen. Was glaubst du, ist Branbart stark genug, einen Daumen abzureißen? Es tut mir leid. Ich versichere dir, Skanga, wir sind nicht alle so, auch wenn wir Seelenfresser sind und einen üblen Ruf haben

Skangas Stab wirbelte herum. Krachend traf er Branbarts Schläfe. Der König sackte in sich zusammen.

»Ausgezeichnet! Ich bin beeindruckt. Wirklich, Skanga. Gedanke und Handeln sind eins. Das trifft man selten bei Weibsbildern

Die Stimme in ihrem Kopf lachte.

»Nun ja, um ehrlich zu sein, bei Männern auch. Die meisten überlegen zumindest kurz, bevor sie zur Tat schreiten. Du bist etwas Besonderes.« Verzweifelt suchte Skanga nach einem Albenpfad. Das Nichts war von hunderten dieser Wege durchzogen. Es musste doch einen in der Nähe geben! »Es tut mir leid, dich zu enttäuschen, meine Liebe. Dieser Ort hier ist größer, als du dir vorstellen kannst. Denk doch einmal nach. Er umschließt mehrere Welten. Es können Tage vergehen, bevor du einen Albenpfad findest. Willst du Branbart bis dahin jedes Mal niederschlagen, wenn er das Bewusstsein wiedererlangt? Ich werde mich nicht in deine Entscheidungen einmischen ... Aber hast du keine Sorge, dass du auch noch das letzte bisschen Verstand aus seinem unförmigen Schädel herausprügeln könntest? Was wäre damit gewonnen? Er ist doch schon jetzt als König, vorsichtig gesagt, ein Problem

Skanga verstärkte ihre Anstrengungen, einen Albenpfad zu finden. Mit all ihren Sinnen griff sie hinaus in die Dunkelheit. Wenn der Yingiz sich so sehr bemühte, ihr jede Hoffnung zu nehmen, dann war die Rettung vielleicht schon ganz nah.

»Also wirklich, Skanga. Glaubst du, ich bin so leicht zu durchschauen? Du beleidigst mich. Ich meine es wirklich gut mit dir. Ich bin nicht wie meine Brüder und Schwestern. Leider sind die meisten von ihnen ganz von ihren Trieben beherrscht. Sie weiden sich an deinem Leib. Und sie gieren nach deiner Seele. Im Augenblick streiten sie gerade darüber, ob sie Branbart nicht doch besser befehlen sollen, dich zu würgen. Einigen haben deine besonderen Ängste gefallen. Du weißt ja selbst am besten, woran es dich erinnert, wenn du gewürgt wirst. Deine Meisterin, Matha Naht, war schon ein übles Kraut. Also, ich habe mich nie mit Bäumen eingelassen. Ihre Seelen ... Gut, die sind wirklich außerordentlich schmackhaft. Aber mit ihnen reden... Ich sehe in deinen Gedanken, was für eine Lehrerin sie war. Ich hätte sie auch umgebracht. Bist du übrigens sicher, dass sie wirklich tot ist? Wie heißt es noch gleich? Bäume und Minotauren haben dreizehn Leben. Du warst nie wieder dort. Der Blitzschlag und das Feuer, war das wirklich genug? Hast du sie bis in den letzten Wurzelstrunk vernichtet?«

Beim Gedanken an Matha Nahts Wurzeln überlief die Schamanin ein kaltes Schaudern. Nicht daran denken! Das wollte dieser verfluchte Yingiz doch nur. Sie konnte fühlen, wie er in ihren Erinnerungen schwelgte. Er durchlebte ihr Leben. Suchte nach den Augenblicken des Glücks und den einsamen Stunden, in denen sie am Abgrund gestanden hatte.

»Komm, gib uns Branbart, und wir lassen dich ziehen.« Trotzig sperrte sich Skanga gegen die Einflüsterungen. Sie hatte vor langer Zeit der Seele des Königs die Treue geschworen! In ihrem Leben hatte sie oft ihre Macht missbraucht.

Sie hatte Schamaninnen ermordet, die vielleicht eines Tages mächtiger geworden wären als sie. Sie hatte ihre Magie genutzt, um stattliche Krieger zu blenden und auf ihr Lager zu zerren. Sie hatte aus Launen heraus Leben und Tod gewährt. Das Einzige, an dem sie immer unverbrüchlich festgehalten hatte, war ihre Treue zur Seele des Königs. Ihn nun zu verraten, würde sie zerstören. Die flüsternde Stimme wusste das.

»Du hast also beschlossen, mit ihm zusammen unterzugehen? Ist das edel oder dumm? Du bist mir doch fremder, als ich dachte, Skanga. Sieh nur! Er blinzelt schon. Er wird nicht zögern, sich gegen dich zu wenden. Siehst du den Hass in seinen Augen?«

Die Schamanin griff nach ihrem Stab. Branbart war schneller. Offenbar war er schon länger wieder zu sich gekommen und hatte sie durch halb zugekniffene Lider beobachtet.

»Hör nicht auf die Stimmen. Ganz gleich, was sie sagen, sie haben nur dein Verderben im Sinn!«, zischte sie.

Mühelos drehte der König ihr den schweren Stab aus der Hand. Dann richtete er sich auf.

Von Weisen und von der Leidenschaft

Müde blinzelnd blickte Ollowain von der hohen Terrasse auf den Garten hinab. Die Königin hatte ihn wecken lassen und hierher gebeten. Es war eine warme Nacht. Der Frühling hatte in den drei Tagen, die seit den Ereignissen im Thronsaal vergangen waren, an Kraft gewonnen.

Vor ihm reckten zwei Maulbeerbäume ihre dunklen Äste dem Mond entgegen und schienen einander in der vergänglichen Pracht ihres Frühlingsschmucks übertreffen zu wollen.

Ollowain stützte sich auf das steinerne Geländer und schloss die Augen. Er jagte dem Traum nach, aus dem man ihn gerissen hatte. Lyndwyn war bei ihm gewesen. Sie waren auf einem Weg gegangen, dessen Kies unter einem Teppich aus weißen Kirschblütenblättern verborgen blieb. Sie hatten sich bei den Händen gehalten, und Lyndwyn hatte ihn mit ihren Sticheleien zum Lachen gebracht.

In der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte es niemals einen solchen Spaziergang gegeben. Aber sie war oft in seinen Träumen bei ihm, um ihm zu schenken, was ihnen das Leben verwehrt hatte. Er klammerte sich an diese Träume. Er wollte nicht daraus aufwachen.

»Was habt ihr im Thronsaal getan?«, ertönte eine schnarrende Stimme.

Unwillig öffnete Ollowain die Augen. Neben ihm stand eine kleine, fuchsköpfige Gestalt in einem mohnblütenfarbenen Kleid. Sie reichte ihm kaum bis über die Knie. Aus schwarzen, funkelnden Augen blickte sie wütend zu ihm auf. Eine Lutin.

»Bitte lass mich allein, ich bin in Trauer«, sagte er leise. »Und ich bin wütend«, entgegnete sie bissig.

»Es gibt nur einen Weg für dich, mich wieder loszuwerden. Beantworte meine Frage!« Der Schwertmeister seufzte. Die Lutin galten als das launischste unter den Koboldvölkern. Er hatte nie begriffen, warum Emerelle einigen von ihnen gestattete, sich ihrem Hofstaat anzuschließen. Mit ihnen gab es nichts als Ärger. Dass dieser Quälgeist hier erschienen war, war sicherlich mehr als nur ein unglücklicher Zufall. Die Königin musste dieses Treffen arrangiert haben. Aber was bezweckte sie damit?

»Die Trolle haben ein Tor im Albenstern des Thronsaals geöffnet. Emerelle hat sie vertrieben. Das ist geschehen«, erklärte Ollowain knapp.

»Sei einmal still und lausche!« Die Lutin stützte die Hände in die Hüften und sah ihn an, als wolle sie ihn zum Duell fordern.

»Was hörst du?«

»Das ist jetzt wirklich ...«

»Was hörst du?«, beharrte sie.

»Den Wind in den Bäumen.«

»Und sonst?«

Ollowain zuckte mit den Achseln. Er ahnte, worauf sie hinauswollte, aber er mochte nicht über die Stille sprechen.

»Nichts.«

Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete sie zum Park hinab. »Dort müssten Grillen ihr Frühlingslied singen. Fledermäuse sollten um die Türme der Burg jagen und Glühwürmchen in den Ästen der Obstbäume tanzen. Aber dort ist nichts. Ich habe hunderte von toten Grillen im Gras gefunden. Die kleinen Vögel sind geflohen. Gestern Nacht war ich bei einer Auenfee. Ich war dabei, als sie ihr Kind tot geboren hat. Die ganze Nacht habe ich auf sie eingeredet. Als ich heute Morgen kurz hinausgegangen bin, ist sie zum See hinabgeflogen und hat sich ertränkt.«

Die Stimme der Lutin überschlug sich vor Wut. »Du wirst mir sagen, welchen Preis Emerelle gezahlt hat, um die Trolle zu vertreiben, Schwertmeister. Was hat sie ins Herzland gelassen?«

Sie hob drohend einen Zeigefinger. »Und versuch es nicht noch einmal mit Ausflüchten, sonst verwandele ich dich in eine Made und zerquetsche dich unter meinem Fuß!«

»Ich ...«, begann Ollowain.

»Es ist wohl eher an mir zu antworten.« Emerelle trat aus den Schatten der Terrasse.

Ollowain hatte sie nicht kommen hören, und auch die Lutin wirkte überrascht, die Herrin Albenmarks so plötzlich vor sich stehen zu sehen. Allerdings machte das kleine Koboldweib keinerlei Anstalten, sich um die gebührende Höflichkeit zu bemühen. »Umso besser, du kannst mir sicher aufschlussreicher Bericht geben als dieser stumpfsinnige Schwertfuchtler. Was hast du getan, Emerelle?«

Ollowain beugte sich hinab, um die Lutin zu packen und fortzubringen. Niemand sprach ungestraft derart respektlos mit der Königin! Der Menschentölpel Mandred hatte es einst nicht besser gewusst, aber Ganda war sich darüber im Klaren, dass es eine Beleidigung war, wenn sie die Herrin Albenmarks ansprach, als rede sie mit ihresgleichen und nicht mit einer Königin.

»Wage es nicht, Schwertzappler!« Die Lutin schnippte mit den Fingern, und ein zierlicher, in Spiralen gedrehter Eschenstab erschien in ihrer Rechten.

»Lass es gut ein, Ollowain. Ganda hat das Recht, mir ihre Fragen zu stellen. Wenigstens sie. Du hast versucht, die Schatten zu vertreiben, nicht wahr?«

Das kleine Koboldweib ließ den Zauberstab sinken. »Ja. Die ganze Nacht habe ich an Mondblütes Lager gekämpft. Sie hat sich das Kind so sehr gewünscht. Du musst wissen, ein Eichelhäher hat ihren Liebsten in den letzten Wintertagen geschnappt. Sie wollte ...« Der Lutin standen Tränen in den Augen. »Ich beherrsche viele Bannzauber, aber diese Kreatur konnte ich nicht vertreiben. Es war, als wollte ich einen Schatten mit Händen greifen. Die ganze Nacht war es da. Mondblüte hat sich zu Tode geängstigt. Sie behauptete, der Schatten spreche zu ihr. Ich habe nichts gehört. Aber sie hat sich das bestimmt nicht eingebildet. Ich glaube, es war ihre Angst, die das Kind getötet hat. Und kalt war es. So kalt, als sei der Winter zurückgekehrt. Was hast du getan, Emerelle? Warum mussten Mondblüte und ihr Kind sterben? Warum schweigen die Vögel in den Ästen und die Grillen im hohen Gras? Wen hast du gerufen, um das Herzland gegen die Trolle zu schützen?«

Emerelle atmete schwer aus. »Weisheit sollte die Herrin all meiner Taten sein. Nicht Zorn und auch nicht Liebe. Deshalb erscheine ich vielen bei Hofe so kaltherzig, ja sogar ungerecht. Gerechtigkeit kann Schwäche sein, Ganda. Das war eine der bittersten Lektionen, die ich als Königin lernen musste. Es ist ungerecht, was Mondblüte widerfahren ist, und ich wünschte von ganzem Herzen, ich könnte es ungeschehen machen. Ich habe bis zuletzt nicht glauben wollen, dass die Trolle noch einmal die Albenpfade für ihren Kriegszug missbrauchen würden. In meinem Zorn und meiner Verzweiflung habe ich mich dazu hinreißen lassen, den Pfad zu zerstören. Nur so konnte ich das Herzland noch retten.«

»Du hast es nicht gerettet«, entgegnete Ganda zornig. »Mir wäre es lieber, die Trolle wären hier. Mit denen wüsste ich umzugehen.« Sie strich sich über die kleine Blesse auf ihrer Fuchsstirn. »Du hast einen Zauber der Alben vernichtet«, sagte die Koboldin sehr leise. »Ihre Pfade sind die Sehnen, die die Welten miteinander verbinden.«

»Es gibt hunderte Albenfade«, wandte Ollowain ein.

»In deinem nichtsnutzigen Leib gibt es auch hunderte Sehnen. Eine einzige zu durchtrennen kann bedeuten, dass du deinen Daumen nicht mehr krümmen kannst. Und wie willst du dann deine Waffe noch halten? Alles, was du dir in deinem langen Leben erarbeitet hast, kann mit einem einzigen kleinen Schnitt vernichtet werden. So unbedeutend ist es, eine Sehne zu durchtrennen.« Ganda blickte zu Emerelle. »Es sind Yingiz hierher gekommen, nicht wahr? Die Seelenfresser aus dem Nichts.«

»Sie können hier keine Gestalt annehmen«, wandte die Königin ein. »Sie können nur versuchen, uns zu ängstigen. Und sie bringen Kälte.«

»Und wenn jemand dumm genug ist, ihnen zu einem Leib zu verhelfen? Was dann? Du musst sie wieder vertreiben, Emerelle. Sofort!«

»Sie entziehen sich meiner Magie. Ich vermag ebenso wenig gegen sie auszurichten wie du gestern Nacht. Selbst die Alben konnten sie nicht gänzlich vernichten. Deshalb haben sie ihre Schatten in die Dunkelheit verbannt.«

»Dann musst auch du sie wieder vertreiben!«, beharrte Ganda leidenschaftlich.

Emerelle breitete hilflos die Arme aus. »Ich habe es versucht. Glaub mir! Mit all meiner Kraft, doch es ist mir nicht gelungen. Sie sind zu fremd. Deshalb habe ich dich hierher gebeten, Ganda. Ich brauche deine Hilfe.«

Ollowain traute seinen Ohren kaum. Er hatte ja geahnt, dass es kein Zufall war, Ganda mitten in der Nacht auf der Palastterrasse anzutreffen. Aber was hatte er mit diesem zänkischen Koboldweib zu schaffen? Und was erhoffte sich Emerelle von ihr?

Ganda hatten Emerelles Worte die Sprache verschlagen. Misstrauisch blickte sie zur Königin auf.

»Es gibt einen Ort, an dem man Antwort auf alle Fragen finden kann, so heißt es zumindest. Als ich noch nicht Königin war, war ich selbst mehrmals dort, und ich wurde nie enttäuscht. Die Bibliothek von Iskendria. Wenn man irgendwo erfahren kann, was zu tun ist, um die Schatten wieder ins Nichts zurückzutreiben, dann dort.«

Ganda schüttelte entschied den Kopf. »Das ist nichts für mich. Nein! Ich bin nicht weise. Ich habe nicht die Geduld, mir den Hintern auf harten Stühlen platt zu sitzen und mich mit Büchern herumzuschlagen, die so verdreht geschrieben sind, dass man jeden Satz dreimal lesen muss, um zu begreifen, was gemeint ist. Schick einen deiner Berater. Es gibt doch genug Gelehrte, deren Lebensinhalt darin besteht, Dinge aufzuschreiben, die nur ihresgleichen verstehen. Ich bin für das Praktische. Für geistreiches Geschwafel hatte ich schon immer nur Verachtung übrig. Lass mich in Blut und Dreck als Heilerin auf einem Schlachtfeld dienen, und ich werde dich nicht enttäuschen. Aber in Iskendria bin ich fehl am Platz. Mich leitet mein Gefühl. Und es hat mich selten getäuscht. Aus Dingen, die einem nur der Verstand diktiert, entspringt allzu oft Übles.« Sie deutete in Ollowains Richtung. »Schick ihn. Ihr Elfen seid doch alle gut darin, schöne Worte zu machen. Er wird keine Mühe haben, sich mit dem Geschwafel von Weisen herumzuschlagen. Ich werde hier nach einem Weg suchen, die Schatten zu bekämpfen. Und sei es, dass ich allen, die noch geblieben sind, rate zu fliehen!«

So waren sie, die Lutins, dachte Ollowain bei sich. Launisch, widerborstig und niemals bereit, Verantwortung zu tragen. Wie verzweifelt musste Emerelle sein, dass sie dieses Koboldweib um Hilfe bat! »Ich werde gerne gehen, wenn du mich schickst, Herrin. Und ich werde nach besten Kräften versuchen, dir zu dienen.«

Die Augen der Königin lächelten. »Ich weiß, Ollowain. Doch ohne Hilfe kannst du nicht einmal den ersten Schritt auf dem Weg nach Iskendria tun. Du vermagst das goldene Netz nicht zu betreten. Und ohne dich beleidigen zu wollen ... Auch du bist kein Weiser. Du bist ein guter Feldherr und vielleicht der beste Schwertkämpfer Albenmarks. Aber sei es drum. Ich habe dich hierher bestellt, weil ich dich in der Tat darum bitten wollte, Ganda nach Iskendria zu begleiten. Und ich nehme dein Angebot dankbar an.«

»Was soll ein Schwertkämpfer in einer Bibliothek?«, fragte die Lutin misstrauisch.

»Meine Weisen halten es zurzeit für klug, sich nicht in meiner Nähe aufzuhalten. Immerhin hat der König der Trolle geschworen, meinen Kopf in eine Trinkschale zu verwandeln. Sie waren die Ersten, die geflohen sind, als dies bekannt wurde.« Emerelle lächelte zynisch. »Klugheit und Treue gehen leider oft nicht gut zusammen. Aber dass ich dich frage, hat einen ganz anderen Grund. Niemand ist zu mir gekommen, um über Mondblütes Tod zu klagen. Und den Weisen wäre vermutlich auch nicht aufgefallen, dass die Grillen schweigen. Ich brauche jemanden, für den die Suche nach Antworten eine Herzensangelegenheit ist und nicht eine Sache kühlen Verstandes. Jemanden, der nicht der Meinung ist, die Auenfeen seien so zahlreich wie die Blüten am Teich, und dem es nicht egal ist, ob es eine mehr oder weniger gibt.«

Gandas spitze Zunge zuckte unruhig aus ihrer Fuchsschnauze. »Du weißt, warum ich nicht geflohen bin, als es hieß, die Trolle kommen, Emerelle?«

»Weil es dir egal ist, ob ich im Herzland herrsche oder ein Trollkönig.«

Ganda blickte skeptisch zu Ollowain. Sie nickte knapp. »So ist es, Emerelle.«

Der Schwertmeister hatte Mühe, an sich zu halten. »Du gestattest, dass ich diese Verräterin aus der Burg geleite, Herrin?«

Die Elfenkönigin schüttelte knapp den Kopf. »Aufrichtigkeit ist eine seltene Tugend, Ollowain. Gerade an Königshöfen.« Sie wandte sich an die Lutin. »Niemand ist so bewandert darin, verborgene Wege zu beschreiten, wie das Volk der Lutin.«

Der Schwertmeister wusste das nur zu gut. Die Lutin waren Betrüger und Diebe. Manche waren sogar Mörder. Wer sich mit ihnen einließ, der hatte Zwielichtiges im Sinne. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Emerelle die Koboldin hierher bestellt hatte.

»Mein Volk hatte niemals eine Wahl, Emerelle«, sagte Ganda hitzig. »Wir bewegen uns im Verborgenen, weil wir als Einzige kein eigenes Land bekamen, als die Alben ihre Kinder erschufen. Und daran, dass wir ohne Land sind, hat sich in den Jahrtausenden, die seither vergangen sind, nie etwas geändert. Selbst als ganze Völker vertrieben wurden, hat nie jemand daran gedacht, uns Lutin eine Heimat zu schenken. Es waren stets die Elfen, die sich das Land nahmen.«

Wie konnte dieses impertinente kleine Weibsbild es wagen, der Königin solche Vorhaltungen zu machen! Ollowain zwang sich, ruhig zu bleiben. Er war der Schwertmeister, und dies war der Königshof. Auch wenn sie drei hier allein waren, war es ein Ort voller Würde und Schönheit, und es war ein Gebot, sich angemessen zu verhalten!

»Du giltst in deinem Volk als eine Pfadfinderin. Du führst die anderen oft an, wenn sie einen Ort schnell verlassen müssen. Das Netz der Albenpfade ist dir wohl vertraut, und soweit ich weiß, ist dir noch niemals ein Fehler beim Öffnen der Tore unterlaufen.«

»Ich weiß nicht, wer dir das erzählt hat, Emerelle, aber du solltest nicht alles glauben. Hast du nicht eine Zauberschüssel, in der du die Wahrheit sehen kannst? Benutze lieber sie, als auf Hörensagen zu vertrauen.«

»Du meinst die Silberschale, die du vor drei Nächten so lange betrachtet hast, als du dich allein im Thronsaal wähntest?«

Emerelle lächelte flüchtig.

Ollowain sah sie verwundert an. Das Lächeln wirkte fremd in ihrem Antlitz, und doch vermeinte er einen Augenblick lang etwas Altvertrautes in den Zügen der Königin zu sehen. Sie wirkte jugendlicher und weniger Ehrfurcht gebietend. Und verletzlich ...

Ganda kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. »Ich hatte überlegt, dass man die Zauberschüssel in Sicherheit bringen sollte, bevor die Trolle kommen.«

Ollowain spannte sich. Verdammte Diebin! Jetzt würde Emerelle ihm befehlen, sie hinauszuwerfen.

»Natürlich«, sagte die Königin schmunzelnd. »In jedem anderen Fall hätte ich dich schließlich hart bestrafen müssen.«

Dann wurde sie schlagartig wieder ernst. »Ich weiß sehr gut, dass es dir und deinem Volk gleichgültig ist, ob ich hier herrsche oder Branbart. Vielleicht wünschst du dir sogar heimlich, dass die Trolle kommen, weil du uns Elfen gedemütigt sehen willst. Den meisten Lutin wäre es doch sicher eine große Genugtuung zu erleben, wie aus uns Elfen landlose Flüchtlinge werden ... wie die Herren von einst das Schicksal deines Volkes teilen. Doch es geht um viel mehr als die Rachsucht der Trolle. Du weißt, dass die Yingiz ihren Weg hierher gefunden haben, und sie werden sich nicht damit begnügen, nur Beobachter zu sein. Ich weiß nicht, wie sie hierher gelangen konnten. Vielleicht hatten die Trolle einen Pakt mit ihnen geschlossen. Vielleicht sind die Yingiz auch nur durch einen unglücklichen Zufall hierher gelangt. Wie dem auch sei: Ich weiß nicht, wie man sie bekämpft. Ich bin mir nur in einem sicher, nämlich dass sie das Land in einem Ausmaß zerstören werden, wie es selbst die Trolle nicht könnten. Deshalb bitte ich dich, mit Ollowain nach Iskendria zu gehen. Allein die Alben verfügten über das Wissen, wie man die Yingiz vertreibt. Sie müssen uns einen Hinweis darauf hinterlassen haben, was zu tun ist, wenn die Yingiz zurückkehren! Und ich wüsste nicht, wo man suchen sollte, wenn nicht in Iskendria.« Emerelle blickte zu den Schatten, die die Maulbeerbäume im Mondlicht warfen. »Sie sind hier, Ganda. Spürst du sie?«

Ollowain sah sich um. Er fühlte sich beobachtet. Unruhig spähte er in die Schatten. Aber dort war nichts, was er mit dem Schwert hätte bekämpfen können.

»Wenn ihr die Albenpfade nehmt, begebt ihr euch in das Reich der Yingiz«, fuhr Emerelle fort. »Sie werden versuchen, euch aufzuhalten. Ihr Lutin seid berühmt für eure Verschlagenheit und für eure Gabe, Dinge zu finden, von denen ihre Besitzer manchmal noch gar nicht wissen, dass sie sie verloren haben. Niemand wäre besser geeignet für diese Suche als du. Und bedenke: Du gehst nicht für mich nach Iskendria, Ganda, und auch nicht für mein Volk. Du gehst für Mondblüte und all die anderen Auenfeen. Du gehst, um die Schönheit des Herzlands zu bewahren, die Lieder der Nachtigallen und das Zirpen der Grillen. Horche in dein Herz hinein und höre auf seinen Rat. Ich erwarte, dich in einer Stunde am Albenstern im Thronsaal wieder zu sehen — oder niemals mehr.«

Erneut zuckte die kleine Fuchszunge nervös aus Gandas Schnauze. Unvermittelt drehte sie sich um und lief ohne ein Wort davon.

Als Ganda die Terrasse verlassen hatte, wandte auch Emerelle sich zum Gehen.

»Herrin?«

Die Königin wirkte ungehalten, doch sie hielt inne.

»Warum betraust du gerade eine Lutin mit einer so wichtigen Aufgabe? Hat Hofmeister Alvias dir nicht von den Rotmützen erzählt, den Kobolden, die unverblümt fordern, die Elfenfürsten von ihren Thronen zu vertreiben? Ihr Anführer soll ein Lutin sein. Sie lassen in Werkstuben Flugblätter verteilen. Ich selbst habe solche Schmierblätter gesehen. Sie wenden sich angeblich gegen Völlerei, Trunksucht und dergleichen, aber in Wahrheit sind sie nichts anderes als ein Aufruf zur Rebellion. Wie kannst du unter diesen Umständen einer Lutin vertrauen, Herrin?«

»Weil es nicht um meine Königskrone geht. Sie wird nicht für mich gehen, sondern für jene, die ihr wirklich etwas bedeuten. Und du wirst auf sie Acht geben. Schütze sie vor Feinden und vor sich selbst.«

Ollowain seufzte. »Wie du befiehlst. Aber ich glaube nicht, dass Ganda in den Thronsaal kommen wird.«

»Würdest du eine Auenfee auf der Wiese am See vermissen?«, hielt die Königin dagegen.

»Nein«, gestand der Schwertmeister.

»Deshalb ist es wichtig, dass ihr beide geht. Und nun gib mich frei, Ollowain. Ich habe noch eine Frage an die Silberschüssel, bevor ihr euch auf den Weg macht.« Mit diesen Worten eilte Emerelle davon.

So war sie, dachte er bitter. Sie wusste zu viel über die möglichen Zukünfte, und es kam ihr nicht in den Sinn, diese Bürde mit anderen zu teilen. Dass sie ihn im Thronsaal ins Vertrauen gezogen hatte, war ein Augenblick der Schwäche gewesen. Doch nun war sie wieder wie stets zuvor. All ihr Trachten war darauf ausgerichtet, um die Zukunft Albenmarks zu kämpfen. Was mochte so schrecklich sein, dass sie die Gegenwart darüber vergaß? Hatte sie sie vergessen? Nein! Dann hätte sie nicht um den Tod Mondblütes gewusst.

Ollowain gab es auf, die Gedankengänge der Königin verstehen zu wollen. Sie war zu alt und zu weise. Er musste sie nicht verstehen, denn er wusste, dass sie mit all ihrer Kraft Albenmark schützen würde. Und darin würde er ihr dienen. Auch wenn sie nicht darauf antwortete, wozu man einen Schwertmeister in einer Bibliothek brauchte.

Wider die Spiel- und Trunksucht

Streitschrift des ehrwürdigen Elija Glops, Begründer der Liga zur Wahrung der inneren Größe Albenmarks

Kapitel 9: Vom Fluch des Falrach-Tischs


»(...) Eine Zeitverschwendung von wahrhaft elfischen Ausmaßen, so nenne ich das Falrach-Spiel, das ehrlich arbeitenden Gnomen und Kobolden, deren Leben nicht nach Jahrhunderten zählt, keine Zerstreuung, sondern nur Ärgernis schenkt. Was ist das für ein Spiel, dessen Regeln, Ausdeutungen der Regeln, Berichte berühmter Partien und Streitschriften über strittige Züge ganze Bibliotheken füllen? Haben die Alben uns erschaffen, um zu spielen? Ist es nicht unsere Aufgabe, die Welt zu formen, die sie uns hinterlassen haben? Hätten nicht sie uns das Falrach-Spiel geschenkt, wenn sie gewollt hätten, dass wir rauchend, trinkend und disputierend unsere Zeit am Spieltisch vertun? Welcher Nutzen erwächst daraus? Ja, ich kenne Falrach, den Helden der Drachenkriege, den größten Feldherrn Albenmarks, den selbstlosen Ritter Emerelles. Man nennt ihn auch den Retter Albenmarks, einen edlen Krieger, der alle Tugenden der Ritterschaft in sich vereint. Doch was hat Spielsucht denn mit einer ritterlichen Tugend gemein? So hell sein Stern auch strahlen mag, Ruhm und Größe tragen stets schon den Keim des Verfalls in sich, wenn sie nicht mit Genügsamkeit und Bescheidenheit gepaart sind.

Falrach rodete keine Wälder, er rang keinem steinigen Boden ein fruchtbares Feld ab. Seine Mußestunden verbrachte er damit, ein unnütz kompliziertes Spiel zu erschaffen. Allein der Tisch, auf dem die Spieler ihre Partien austragen, verschlingt hunderte von Arbeitsstunden, ja, ich kenne einen Elfenbeinschnitzer meines Volkes, der sein ganzes Leben damit verbrachte, um nichts weiter als die Spielfiguren der weißen Seite für den Spieltisch Shahondins zu fertigen, des Elfenfürsten von Arkadien. Darf dies der Sinn eines Lebens sein? Da lobe ich mir die Trolle, die, wenn sie spielen, sich mit ein paar Knochenwürfeln begnügen.

Falrach glaubte, jede Partie des nach ihm benannten Spiels sei eine Studie des Krieges — eine Lehre, dass selbst der schärfste Verstand nicht alle Unwägbarkeiten des Schicksals vorherzusehen vermag, die einen Krieg ebenso beeinflussen wie die Klingentänze auf den Schlachtfeldern. Und doch ist es genau das, wozu sich jeder Falrach-Spieler versteigt, wenn er Stunden um Stunden brütend auf den Spieltisch starrt. Er glaubt, sein Verstand könne dem Schicksal, verkörpert durch die Launen des Würfelglücks, mit überlegener Planung den Sieg abtrotzen.

Ich traf Elfenfürsten, für die ist das Leben ein Falrach-Spiel. Wir, ihre Untertanen, sind nichts als Spielfiguren, die man nach Belieben auf dem Brett hin und her rückt oder sogar opfert, wenn man sich einen Vorteil dadurch verschafft. Und ich traf Trolle, deren höchstes Glück eine blutige Bärenhatz ist. Sie stinken, und sie reden in groben Worten, doch wenn sie sich abends an ihrer Tafel niederlassen, dann findet sich dort ein Mahl, das die Ernte ihres blutigen Tagwerks ist. Und was findet der Falrach-Spieler auf seiner Tafel? Die üppigen Früchte der Arbeit anderer!

Wenn ich schon einem Herrn dienen muss, so ist mir derjenige näher, der in einer Höhle ein einfaches Mahl einnimmt, als ein anderer, für den das Leben ein Spiel ist und der nicht mehr weiß, was es heißt, von seiner Hände Arbeit zu leben. Der in einem Palast haust, den ihm meine Brüder mit blutig geschundenen Händen erbaut haben, und der von unseresgleichen erwartet, dass wir sein Nachtgeschirr putzen. Denkt nach, ihr Diener! Das Leben ist kein Falrach-Spiel. Wehrt euch dagegen, Figuren auf dem Spielbrett der Elfenfürsten zu sein! Wir sind zu schwach, um unser Joch aus eigener Kraft abzuschütteln. Deshalb müssen wir uns für eine Seite entscheiden. Ich habe meine Wahl getroffen. Hört meinen Schlachtruf! Friede den Höhlen, Krieg den Palästen!

Aus der Sammlung Verbotener Schriften

zusammengestellt von Alvias dem Hofmeister

Bd. 7, Quellentext 8, A

Der Fremde

Ulric saß auf einem Baumstumpf und sah den Kriegern dabei zu, wie sie neue Hütten errichteten. Obwohl es wieder zu schneien begonnen hatte, arbeiteten die meisten Männer mit nacktem Oberkörper. Sie wuchteten Fichtenstämme übereinander, die von dicken Holzpfosten gestützt wurden. An den beiden Enden jedes Stammes waren tiefe Kerben ins Holz geschlagen; dort ließ man die Rundhölzer der Querwände einrasten. So wuchs schnell ein nach Fichtenharz duftendes Karree in die Höhe, das bald schon einer weiteren Gruppe Flüchtlinge Zuflucht vor dem nicht enden wollenden Winter gewähren würde.

Obwohl schon viele Wochen verstrichen waren, seit Ulrics Vater Alfadas die Trolle vertrieben hatte, fanden immer noch täglich neue Flüchtlinge den Weg nach Sunnenberg, jenem Dorf, das wohl verborgen im ersten Tal des Rentiersteigs lag.

Ein schriller Pfiff ließ Ulric aufblicken. Die Arbeiten an einem der Häuser waren fast vollendet. Wie die Rippen eines ausgeweideten Rentiers ragten die Dachsparren in den schneeverhangenen Himmel. Jetzt fehlte nur noch das Dach aus verflochtenen Tannenzweigen. Das taugte zwar nur bis zur Schneeschmelze, aber über das Frühjahr oder gar den Sommer redete im Augenblick ohnehin niemand. Alle Kräfte wurden eingesetzt, um von einem Tag zum nächsten zu kommen.

Ulric stand auf und ging auf die halbfertige Hütte zu. Jetzt konnte auch er etwas tun. Solange die Krieger mit den schweren Stämmen hantiert hatten, wäre er nur im Weg gewesen. Nun galt es, die breiten Spalten zwischen den unbehauenen Stämmen mit Lehm und Moos abzudichten. Eine Arbeit für die Kinder.

Schon kam eine johlende Schar angelaufen. Ulric kannte einige der Kinder: Ottar und die dunkelhaarige Asdis; beide hatten ihre Eltern während der Kämpfe um Sunnenberg verloren. Den dicken Guthorm, den die Hungerwochen so dürr wie alle anderen Kinder gemacht hatten, und den schlaksigen Eirik.

Der hagere Junge war mehr als ein Jahr älter und zwei Köpfe größer als Ulric. In Firnstayn hatte er sich oft einen Spaß daraus gemacht, die blinde Halgard zu ärgern. Er hatte sie zum Straucheln gebracht, sie gehänselt oder ihr allen möglichen Unsinn darüber erzählt, was angeblich um sie herum geschah. Dutzende Male hatten sich Ulric und Eirik geprügelt. Und meistens hatte Eirik gewonnen. Jetzt war er der Anführer der Kinderschar, die zur Hütte gelaufen kam.

Aus den Augenwinkeln sah Ulric, wie Ottar vor ihm zurückwich, als er sich ebenfalls der Hütte näherte. Auch Guthorm betrachtete ihn misstrauisch. Das Lachen war verstummt.

Eirik stellte sich ihm breitbeinig in den Weg. Lautstark sog er Luft durch die Nase. »Es stinkt, findet ihr nicht auch? Riecht wie toter Fisch hier.«

Ottar begann so sehr zu zittern, dass ihm das Moos aus den Händen fiel. Seine Schwester Asdis stellte sich schützend vor ihn.

»Dann mach deinen Hosenstall zu, Eirik. Der Gestank ist wirklich nicht auszuhalten.«

Ulric versuchte ein Lachen, doch es klang hohl.

Der schlaksige Junge hob drohend die Fäuste. »Geh zurück in den Fjord, Wiedergänger! Hau ab, oder ich schleif dich an den Haaren zum Wasser hinab!«

»Ich bin hier, um zu arbeiten — wie alle anderen auch.«

»Du bist aber nicht wie alle anderen«, zischte Asdis. »Luth hat deinen Faden zerschnitten. Du gehörst nicht; mehr zu den Lebenden. Geh zu deiner toten Freundin und lass uns in Ruhe!«

Ulric schluckte, er rang mit den Tränen. »Ich bin nicht ...« Er sah zu Guthorm, doch der abgemagerte Junge wich seinem Blick aus. Ulric hatte schon seit einer Weile bemerkt, dass ihm niemand direkt in die Augen sehen wollte. Er hatte nicht verstanden, warum das so war. Bisher hatte er sich eingeredet, dass die anderen eifersüchtig auf ihn waren. Seit er in der Höhle am Fjord den Troll getötet hatte, galt er als Krieger, auch wenn er noch ein Junge war. Ulric kannte alle Heldengeschichten über die toten Könige und ihre besten Krieger. Noch nie hatte ein Junge mit sieben Jahren einen Troll getötet. Er hatte jetzt das Recht, mit den Kriegern an der Festtafel zu sitzen, und er durfte Met trinken, wenn er wollte. Dabei wurde ihm ganz schwindelig und übel davon.

Doch auch die Krieger mieden ihn. Seine Anwesenheit beschämte sie. Es gab nur wenige Männer, die gegen einen Troll gekämpft hatten und noch lebten.

Ulric presste trotzig die Lippen zusammen. Dann ging er an Eirik vorbei. »Ich werde jetzt meine Arbeit tun.« Er bückte sich nach dem Lehmhaufen und griff mit beiden Händen in den eisigen Schlamm.

Eirik packte ihn bei den Haaren und riss ihn nach hinten. »Ich habe dich gewarnt«, schrie er. »Jetzt bring ich dich hinab zum Fjord, wo du hingehörst. Und ich steck dich in einen Sack mit Steinen. Diesmal wirst du nicht wiederkommen!«

Ulric fiel rücklings in den Schnee. Er lag kaum am Boden, da trat Eirik ihn auch schon in die Seite. Die anderen Kinder sahen einfach zu. Niemand versuchte ihm zu helfen, nicht einmal Guthorm, der früher einmal sein Freund gewesen war. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Ulric daran, was sein Vater und Ollowain ihm über Ritterlichkeit im Kampf erzählt hatten. Wer sich an diesen Ehrenkodex hielt, ging unter!

Eirik verpasste ihm einen weiteren Tritt. Ulric nahm dem Treffer etwas von seiner Wucht, indem er sich zur Seite rollte. Stöhnend kam er auf alle viere. Seine Hände krallten sich tief in den Schnee.

»Geh zurück auf den Grund des Fjords, Wiedergänger. Wir wollen dich hier nicht!« Ulric schnellte vor und rammte Eirik den Kopf in den Bauch. Ineinander verknäult stürzten beide zu Boden. Ulric stieß seinem Peiniger ein Knie zwischen die Beine und drosch mit beiden Fäusten auf dessen Gesicht ein. Der Junge versuchte verzweifelt, ihn wieder loszuwerden. Dunkles Blut quoll aus seiner Nase.

Ein leise schleifendes Geräusch ließ Ulric innehalten. Eirik hatte ihm den Elfendolch aus dem Gürtel gezogen. Die Klinge glänzte matt im grauen Winterlicht. Eirik richtete die Spitze der Waffe auf Ulrics Kehle. »Mich wirst du nie wieder schlagen, Wiedergänger.«

Ulric schluckte. »Stimmt. Ich prügele mich eigentlich nicht mit Schwächeren.«

»Du hast nur gewonnen, weil du gar nichts mehr fühlst!«, keifte Eirik aufgebracht. »Dich könnte ein Pferd treten, und du würdest es nicht fühlen. Tote fühlen gar nichts mehr! Deshalb hast du gewonnen. Nach den Tritten hättest du erledigt sein müssen.«

»Meine kleine Schwester Kadlin konnte kräftiger zutreten als du, Memme.«

Ulric beugte sich zurück, um etwas mehr Abstand zwischen den Dolch und seine Kehle zu bekommen.

»Dann schick ich dich jetzt auf den Weg zu ihr, du ...« Eine kräftige Hand griff nach Eiriks Arm und verdrehte ihn, bis der Junge mit einem Schmerzensschrei den Dolch fallen ließ.

»Das genügt, Jüngelchen. Nimm deine Kameraden und mach, dass du mir aus den Augen kommst, nichtsnutziger Mistkerl!«

Eirik rappelte sich auf und warf Ulric einen mörderischen Blick zu. Steifbeinig und betont langsam ging er davon. Die anderen Kinder scharten sich um ihn. Asdis hatte Ottar einen Arm um die bebenden Schultern gelegt. Der kleine Junge schluchzte.

Es hatte wieder angefangen zu schneien. Große weiße Flocken tanzten vom Himmel hinab. Binnen Augenblicken waren die Kinder außer Sicht.

»Deine Waffe.« Sein Retter hielt Ulric den Dolch mit dem Griff voran hin. Es war ein großer, blonder Krieger. Einer der Männer, die mit seinem Vater in Albenmark gekämpft hatten. Auf seiner rechten Wange prangte ein halbmondförmiges Mal. Ein Brandzeichen. Diebe wurden so markiert.

»Du bist Mag, nicht wahr?«

Der Krieger nickte knapp. »Du solltest vielleicht nicht mit dem Dolch am Gürtel im Lager herumlaufen. Du könntest jetzt...« Er stockte. »Das hätte böse ausgehen können.«

Er also auch, dachte Ulric. Auch Mag zählte ihn zu den 64 Toten! »Ich bin ein Krieger! Ich habe das Recht, eine Waffe zu tragen«, entgegnete er trotzig.

Sein Retter schmunzelte. Feine Lachfältchen erschienen um seine Augen. »Verzeih mir, Ulric Alfadasson, Prinz des Fjordlands. Einen Augenblick lang hatte ich vergessen, wer vor mir steht. Irgendwie siehst du aus wie ein ganz gewöhnlicher Lausbub mit einer blutigen Nase.«

Ulric tastete nach seiner Nase. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie etwas abbekommen hatte. Misstrauisch musterte er Mag. War er tatsächlich freundlich, oder verspottete er ihn gerade? Manchmal war das verdammt schwer zu unterscheiden, wenn die Großen mit ihm sprachen. Sie sagten etwas und meinten in Wirklichkeit etwas ganz anderes.

»Reib dir die Nase mit Schnee ein, dann wird sie nicht mehr bluten«, sagte der Krieger freundlich.

Ulric klaubte eine Hand voll Schnee auf. Jetzt, wo er sich um die Nase kümmerte, schmerzte sie so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Aber er war ein Krieger! Er würde jetzt nicht anfangen zu flennen.

»Kommst du mit mir in die Festhalle? Die Männer haben mit der Arbeit aufgehört, weil der Schnee zu dicht fällt. Ein Sturm kommt. Dieser verfluchte Winter scheint niemals mehr zu Ende gehen zu wollen.« Er grinste verschwörerisch. »Ich bin sicher, es gibt dort warmen Met für uns.«

Bei dem Gedanken an den Met wurde Ulric ganz übel. Anfangs war er ganz begeistert davon gewesen, dass er mit den Kriegern zusammen trinken konnte. Aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Dass man irgendwann auf dem binsenbestreuten Boden lag oder sinnlos herumlallte, war normal. So war es bei jedem Trinkgelage, das richtige Männer abhielten. Aber ihm wurde schon nach einem halben Horn Met ganz schwindelig. Und die Krieger um ihn herum bekamen Zwillinge. Manchmal sogar Drillinge! Keiner der anderen Männer schien dieses Problem zu haben. Außerdem musste er sich viel zu schnell übergeben, um Spaß am Trinken zu haben.

Inzwischen genügte schon der Geruch von Met, und ihm wurde ganz schlecht. Wo immer sich die Gelegenheit bot, drückte er sich vor den Versammlungen in der Festhalle. »Festhalle« war ohnehin ein viel zu großspuriges Wort für die windschiefe Scheune, in der sein Vater zum König gekrönt worden war. Ulric wünschte, er wäre wieder daheim in Firnstayn. Wenn doch nur alles wieder so sein könnte wie im letzten Herbst, als der Elf Ollowain gekommen war. Er würde Fechtstunden beim Schwertmeister der Elfenkönigin bekommen. Vater hätte Zeit für ihn. Mutter würde kochen und ihm hin und wieder das Haar zerzausen. Ulric schluckte. Früher hatte er es gehasst, wenn sie ihm das Haar zerwühlte und ihn an sich drückte. Er war viel zu groß, um so behandelt zu werden. Aber jetzt würde er alles dafür geben, wenn sie in diesem Augenblick bei ihm wäre. Ja, es wäre ihm nicht einmal peinlich, wenn sie ihm das Haar kraulte, während Mag neben ihm stand.

»Ulric?«

Der Krieger wartete immer noch auf eine Antwort von ihm.

»Ich ...« Nein, er hatte keine Lust, in die Halle zu gehen. Aber ihm fiel keine gute Ausrede ein.

»Ich könnte es einrichten, dass in deinem Methorn warme Milch mit Honig ist. Niemand würde bemerken, was du trinkst.«

Ulric sah den gebrandmarkten Krieger erschrocken an. Er wusste es also! Ob die anderen Männer wohl auch bemerkt hatten, dass er das Trinken nicht vertrug? Sicher lachten sie hinter seinem Rücken über ihn! Mag grinste nicht. Er sah ihn geradeheraus an. Wollte er ihm wirklich helfen? War er ein Freund? Oder war das wieder diese undurchsichtige Art der Großen, ihn zu verspotten? Ulric wusste einfach nicht, was er von dem Kerl halten sollte. Und er war sich ganz sicher, dass er nicht in die Festhalle wollte! Wenn doch nur ... Was hatte sein Vater noch immer gesagt, wenn er seine Ruhe haben wollte?

»Geh nur schon vor. Ich brauch ein wenig Zeit, allein mit meinen alten Wunden.« Ulric hatte nie ganz verstanden, wie sein Vater das gemeint hatte. Seine alten Wunden waren alle gut verheilt. Aber Mutter hatte ihn dann stets in Ruhe gelassen, wenn er das sagte.

Mag sah ihn verblüfft an. Er machte den Mund auf und schien etwas sagen zu wollen, dann schüttelte er nur den Kopf. »Bleib nicht zu lange draußen. Es zieht übles Wetter auf.« Der Krieger stapfte durch den hohen Schnee davon.

Ulric war überrascht, wie gut das geklappt hatte. Er würde den Spruch seines Vaters in Zukunft öfter nutzen.

Der Junge ging zurück zu dem Baumstumpf, von dem aus er den Arbeitern zugesehen hatte. Er wischte den frischen Schnee zur Seite und setzte sich. Ganz in Gedanken versunken, tastete er nach dem Elfendolch. Hätte Eirik ihn wirklich damit niedergestochen? Wer glaubte diesen Unsinn vom Wiedergänger wohl noch? Oder war es die Wahrheit? Hatten er und Halgard den Schicksalsweber erzürnt? Hatten sie seine Fäden durcheinander gebracht, und lag nun sein Fluch auf ihnen?

Bevor sie nach Albenmark zurückgekehrt war, hatte Emerelle mit ihm gesprochen. Es war die Elfenkönigin gewesen, die ihm und Halgard das Leben wiedergegeben hatte, nachdem sie beide unter das Eis geraten waren. Wenn er Emerelles Worten glaubte, dann waren sie nicht wirklich tot gewesen. Sie hatte ihm erklärt, dass im kalten Wasser der Lebensfunke weniger schnell verging, ebenso wie Fleisch nicht so schnell verdarb, wenn man es in einer Höhle mit Eis lagerte. Sie hatte geschworen, dass sie niemals jemanden von den Toten zurückholen würde, keinen Elfen und auch keinen Menschen.

Ulric hatte das Gefühl gehabt, dass allein der Gedanke daran die Königin mit tiefer Furcht erfüllte. Wer die Toten zurückholte, der war verflucht! Jedenfalls galt das hier im Fjordland. Wer sich gegen die Ordnung der Götter stellte, der forderte ihren Zorn heraus. Sie würden einem solchen Frevler alles nehmen, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Er wäre lieber tot als ein Wiedergänger, dachte Ulric. Aber Emerelle hatte ihn gewiss nicht belogen! Sie war die Königin der Elfen. Sie musste wissen, was es hieß, die Götter herauszufordern. Eirik war der Lügner!

Wenn doch nur Gundar hier wäre! Der alte Luthpriester aus Firnstayn war sein Freund gewesen. Gundar war gestorben, weil er ihn in den Bergen nicht allein gelassen hatte. Ihn zu tragen hatte die Kräfte des Priesters aufgezehrt.

Ulric schluchzte leise. Er brachte allen Unglück. Er hätte Gundar nicht folgen dürfen, dann würde der Priester vielleicht noch leben. Und wenn er in Honnigsvald nicht vom Schlitten seiner Mutter gesprungen wäre, dann wäre gewiss alles ganz anders gekommen. Mutter hatte alle, die ihr folgen wollten, hinaus aufs Eis geführt. Aber sie hatten Halgard verloren. Halgard war blind, und im Durcheinander der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt hatte sie nicht rechtzeitig zu den Schlitten zurückgefunden. Ulric hatte sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können! Deshalb hatte er sich davongestohlen. Er war sich ganz sicher gewesen, es rechtzeitig zurückzuschaffen. Er hatte den letzten der Schlitten sogar fast noch berühren können. Seit diesem Tag in Honnigsvald hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen.

Ulric kämpfte mit den Tränen. Sein Vater sagte, dass Asla nur in die Berge gegangen sei, um sich zu verstecken. Auch Sunnenberg war zuletzt von den Trollen erobert worden. Aber die Mehrheit der Frauen und Kinder hatte es geschafft, über den Rentiersteig in die Hochtäler zu flüchten. Noch immer waren Suchtrupps in den Bergen unterwegs. Trotz all der Wochen, die seit der Flucht vergangen waren. Ulric wusste, was die Verzagten hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Dass niemand dort oben überleben konnte, wenn er keinen Unterschlupf und einen Vorrat an Holz und Lebensmitteln hatte. Man hatte viele Leichen in den Tälern gefunden. Die Flüchtlinge waren lieber erfroren, als den Trollen in die Hände zu fallen.

Der Junge blickte zu dem steilen Pfad, der unweit der neuen Hütten den Hang hinaufführte. Es war der Weg, den die Rentiere nahmen, wenn sie zu Beginn des Winters die kalten Hochtäler verließen. Das Schneetreiben verwischte die Sicht.

Dort würde Mutter kommen, da war sich Ulric ganz sicher. Und sie würde Kadlin mitbringen. Er war oft wütend auf seine kleine Schwester gewesen, weil seine Eltern nur noch sie beachtet hatten. Aber jetzt wäre ihm sogar Kadlin willkommen. Er dachte daran, wie sie sich manchmal an ihn gedrückt hatte. Mit ihren kleinen Armen seine Beine umarmt hatte, dann den Kopf in den Nacken gelegt und ihn stumm angehimmelt hatte ... Ulric biss sich auf die Lippen und kämpfte mit den Tränen. Sie waren nicht tot! Sie würden den Rentierpfad wieder hinabkommen. Vielleicht sogar heute noch.

Ulric saß ganz still. Er beobachtete, wie der Schnee einen weißen Schleier über seinen Umhang wob. Erst war er nur ein zartes, löchriges Netzwerk, dann wurde er langsam zu einem zweiten, weißen Mantel.

Die Kälte kroch dem Jungen langsam in die Glieder. Sie kam vom Nacken und fraß sich den Rücken hinab. Ulric schloss die Augen. Noch würde er nicht gehen! Er wollte Wache halten am Rentiersteig, gerade jetzt, wo alle anderen in ihre warmen Hütten flohen. Niemand wäre da, wenn Mutter und Kadlin jetzt kämen. In Honnigsvald war er verloren gegangen ... Aber jetzt würde er alles wieder gut machen. Er wäre da, wenn sie käme.

Fröstelnd zog er den Umhang enger um die Schultern. So ein bisschen Schnee würde ihn nicht von seinem Posten vertreiben. Angestrengt blickte er ins Schneegestöber. Keine fünfzig Schritt weit konnte er sehen. Es war unheimlich still. Selbst der Wind schwieg. Die dicke Schneedecke erstickte jedes Geräusch.

Den tanzenden Schneeflocken zuzusehen, machte müde. Das weiße Flimmern ließ die Augenlider schwerer und schwerer werden. Ulric gestattete sich, die Augen für ein paar Herzschläge lang zu schließen. Die Kälte machte ihm jetzt nichts mehr aus. Er fühlte sich ganz behaglich in seinem schneebedeckten Umhang. Er wusste, dass man draußen im Schnee nicht schlafen durfte. Aber Dösen war erlaubt. Nur einen kurzen Augenblick lang. Nur ... Ein seltsamer Geruch stach ihm in die Nase. Es stank wie nach faulen Eiern. Ob jemand in der Nähe seinen Nachttopf geleert hatte? Der Unrat würde bald unter dem Schnee verschwinden, und dann wäre es auch mit dem Gestank vorbei.

»Ist dir nicht kalt?«

Erschrocken fuhr der Junge auf. Nicht weit entfernt ragte ein blauer Schemen im tanzenden Weiß auf. Ulric blinzelte. Nein, kein Schemen. Ein Mann in einem blauen Umhang. Ulric fluchte stumm. Er musste eingenickt sein. Sonst hätte er die knirschenden Schritte im Schnee gehört.

Die Gestalt kam näher. Unmittelbar vor Ulric kniete sie nieder, sodass sie einander in die Augen sehen konnten. Es war ein großer Mann mit sonnengebräuntem Antlitz. Der Schnee hatte ihm Eiskrusten in die schwarzen Locken gewoben. Sein Gesicht war gut rasiert. Nicht die kleinste Bartstoppel zeigte sich auf seinen Wangen oder um den Mund.

Ulric hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Doch das mochte nichts heißen. Obwohl die Kämpfe seit Wochen beendet waren, kamen immer noch täglich neue Flüchtlinge nach Sunnenberg. Allerdings sah der Mann wirklich seltsam aus. Nur wenige Fjordländer hatten schwarzes Haar und eine dunkle Haut. Und Ulric kannte niemanden außer seinem Vater, der sich solche Mühe damit gab, sich zu rasieren.

»Du bist nicht gerade gesprächig?« Der Fremde sagte das mit einem gewinnenden Lächeln. Jetzt erst bemerkte Ulric den seltsamen Klang, der die Worte des Mannes begleitete. Ein melodischer Singsang, der ihn ein wenig an jene traurigen Heldenlieder erinnerte, die von den Skalden angestimmt wurden, wenn die meisten Gäste der Festhalle schon vom Met niedergestreckt in den Binsen lagen.

»Wer bist du?«

Der Mann verneigte sich knapp. »Verzeih, wie unhöflich von mir, mich dir nicht vorzustellen, Ulric Alfadasson. Man nennt mich Bruder Jules oder auch Jules den Wanderer.«

»Du kennst meinen Namen?« Ulric richtete sich auf. Die Schneekruste auf seinem Mantel zersprang. Der Fremde hatte etwas Unheimliches, auch wenn er die ganze Zeit über freundlich lächelte. Er war recht groß. Wie ein Krieger sah er eigentlich nicht aus. Aber unter dem weiten blauen Umhang mochte er sehr wohl Waffen verborgen tragen. Sein Gesicht war kantig, mit einem ausgeprägten Kinn. Der Mann wirkte sehr selbstsicher. Wie jemand, der nichts und niemanden fürchtete.

»Ich habe deinen Dolch gesehen, Ulric«, entgegnete Jules.

»Und natürlich kenne ich die Geschichten, die man überall über den Sohn des Königs erzählt. Wie viele Jungen mag es in Sunnenberg wohl geben, die einen Elfendolch am Gürtel tragen? Es war nicht schwer zu erraten, wen ich vor mir habe.«

Ulric nickte langsam. »Ich bin wohl leicht zu erkennen.« Die Worte des Fremden hatten ihn keineswegs beruhigt. Ulric war klar, dass es Männer gab, die für einen solchen Dolch töten würden. Keine Fjordländer! Aber Fremde ... Ollowains Geschenk war eines Königs würdig.

»Woher kommst du, Jules?«, fragte er vorsichtig.

»Aus Aniscans. Das liegt weit im Süden, noch hinter dem Meer.« Er seufzte. »Dort dauern die Winter nicht so lange und sind auch nicht so eisig. Ich bin für diese Kälte nicht geschaffen. Wie hältst du es nur aus, so lange still auf einem Baumstumpf zu sitzen? Ich wäre sicher schon festgefroren.«

So leicht ließ er sich nicht übertölpeln, dachte Ulric. Ein paar nette Worte, ein Lächeln .... Veleif Silberhand, der Skalde, der Vater auf den Kriegszug nach Albenmark begleitet hatte, hatte Ulric ein paar von seinen Tricks verraten, wie man die Gunst seiner Zuhörer gewann. Man gab sich offenherzig, scherzte und schmeichelte. Man war so wie dieser Jules. Sicher gab es auch Reisende, die immer so waren, ganz ohne Hintergedanken ... Aber vor Fremden musste man auf der Hut sein!

»Und warum bist du den ganzen weiten Weg hierher gekommen, wenn du den Winter nicht magst?«

»Weil ich ein Narr bin!« Jules lachte herzhaft. »Ich kannte die Winter hier im Norden nicht und habe mir in meiner ganzen Überheblichkeit gedacht, schlimmer als bei uns in den Bergen wird es schon nicht sein.« Er haucht sich auf die Hände, die rot vom Frost waren, und rieb sie dann. »Einige Leute, die mich nicht so gut kennen, halten mich für einen weisen Mann. Ich bin Priester in meiner Heimat. Ich verehre den einen Gott, Tjured.«

Er sah sich um und beugte sich dann ein wenig zu Ulric vor.

»Inzwischen habe ich ja gelernt, dass ich das mit dem einen Gott nicht so laut sagen sollte. Ihr Fjordländer seid da ja ein bisschen eigen ...« Ulric sah den Fremden zweifelnd an. Ob er ein Verrückter war? Jedes Kind wusste, dass es mehr als drei Dutzend Götter gab. Die Bastarde, die sie mit Menschen gezeugt hatten, gar nicht mitgezählt.

»Ja, so sehen sie mich alle an, wenn ich von dem einen Gott spreche«, sagte der Priester traurig. »Aber es ist nun mal die Wahrheit, und es ist meine Aufgabe, die Wahrheit in die Welt hinauszutragen und das hohe Lied des Tjured zu singen.«

Ulric runzelte die Stirn. Er hoffte, dass der seltsame Kauz nicht wirklich anfangen würde zu singen. »Wie kannst du dir denn so sicher sein, dass es nur einen Gott gibt?«

Jules lächelte glücklich. »Tjured schenkt mir diese Gewissheit.« Er senkte die Stimme. »Du musst wissen, er spricht zu mir. Nur sehr wenige sind auserwählt und können seine Stimme hören. Deshalb weiß ich, dass es nur einen Gott gibt. Ganz ehrlich, ich habe noch niemanden sonst getroffen, zu dem Gott spricht. Deshalb bin ich mir so sicher. Obwohl mich einige deiner Landsleute schon verprügeln wollten, weil sie die Wahrheit nicht hören mochten.« Kein Wunder, dachte Ulric. Aber irgendwie tat der Fremde ihm auch leid. Schließlich wusste Ulric selbst nur zu gut, was es hieß, nicht dazuzugehören und verprügelt zu werden.

»Spricht einer deiner Götter zu dir?«, fragte Jules.

Der Junge schüttelte bedächtig den Kopf. Er dachte an Gundar, den dicken Luthpriester, der erst vor wenigen Wochen gestorben war. Seinetwegen! Er hätte ihm nicht hinterherlaufen dürfen. Ob Gundar wohl mit Luth gesprochen hatte? »Unsere Götter geben uns Zeichen. Manchmal kommen sie auch, um uns zu helfen oder ihren Schabernack mit uns zu treiben.«

»Du bist also tatsächlich schon einem Gott begegnet?«

»Nein.« Ulric schüttelte unwillig den Kopf. Er mochte es nicht, wenn man ihm die Worte im Mund verdrehte.

»Aber du kennst jemanden, der schon einmal einen Gott getroffen hat. Jemanden, dem du vertraust. Wo du dir ganz sicher bist, dass er keinen Unsinn redet.«

»Ja!« Ulric dachte an Luths Geschenk, das rostige Kettenhemd, das er mit Gundar gefunden hatte. »Der Luthpriester aus unserem Dorf. Zu ihm hat der Schicksalsweber gesprochen. Er hat ihm einen Wahrtraum geschickt. Er ist ihm als Spinne erschienen und hat ihm verraten, dass bei der Spinne unter dem Regenbogen ein Geschenk für ihn liegt.«

Jules schüttelte unwillig den Kopf. »Träume? Nein, das zählt nicht. Und überhaupt, was ist das für eine Geschichte? Sieht dieser Gott ... Luth, ja? Sieht der etwa aus wie eine Spinne?«

»Nein. Aber Spinnen sind seine heiligen Tiere.«

»Warum? Warum sollte ein Gott ausgerechnet so eine grässliche Kreatur wie eine Spinne zu einem heiligen Tier machen? Das ist doch Unsinn.«

»Überhaupt nicht ...«

»Dann sagt mir, was an einer Spinne heilig ist.«

»Also, Luth webt die Schicksalsfäden der Menschen. So wie Spinnen Fäden weben und ... Wenn jemand stirbt, dann hat Luth den Schicksalsfaden durchtrennt. Und dann geht man zu ihm in die goldene Halle ... Manchmal kommt man auch zurück.« Ulric dachte an die Nacht, als Gundar ihm als Geist erschienen war. Er hatte sie alle gerettet. Ihn, seine Freundin Halgard, die verwundete Elfe Yilvina und Blut, den Hund seiner kleinen Schwester Kadlin. »Aber das passiert sehr selten. Außer, man war ein böser Mensch. Wen die Götter nicht in ihren Goldenen Hallen haben wollen, der wird zum Wiedergänger. Deshalb muss man ihn mit dem Gesicht nach unten ins Grab legen, damit er in die falsche Richtung gräbt, wenn er zu uns Lebenden zurückkommen will. Und man treibt ihnen einen Pflock aus Eschenholz durch das Herz. Denn in der Esche liegt die Kraft der Götter. Es ist ihr Lieblingsbaum. Neben den Eichen natürlich ...«

»Natürlich.« Jules seufzte. »Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich alles verstanden habe, was du gerade erzählt hast. Ich will dich nicht beleidigen. Aber die Sache mit diesem Luth ... das scheint mir alles sehr unausgegoren zu sein. Er webt also Fäden wie eine Spinne. Und manchmal durchtrennt er einen der Fäden, und dann stirbt ein Mensch. Aber wenn man die Fäden in einem Spinnennetz durchtrennt, dann kann sich dort keine Fliege mehr verfangen. Werden diese Fäden durchtrennt, dann schenkt man unzähligen Fliegen das Leben. Das passt doch nicht zusammen. Glaubst du, ein Gott hätte sich ein so unpassendes Beispiel ausgesucht? So etwas denken sich Menschen aus. Die Gedanken Tjureds sind immer klar und einfach und leicht zu verstehen. Daran erkennt man den einzigen Gott. Er braucht keine Träume, die man deuten muss. Er spricht zu mir. Ganz unmissverständlich. Was hätte er auch davon, wenn ich seine Worte nicht verstehe? Diese Sache mit den Träumen und den komplizierten Omen ... Also, ich glaube, all diese Dinge haben sich nur die Priester von Göttern ausgedacht, die es gar nicht gibt. Sie brauchen so etwas für den Fall, dass etwas schief läuft. Denn dann war es nicht der Gott, der sich geirrt hat, sondern ein Priester, der die Zeichen des Gottes falsch ausgelegt hat. Warum sollte Gott wollen, dass wir seine Botschaften nicht verstehen, wenn er sich schon die Mühe macht, mit uns zu sprechen? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Ulrics Herz schlug jetzt schneller. Darüber hatte er sich auch schon einmal mit Gundar unterhalten, und er war so stolz, eine gute Antwort zu haben, dass seine Zunge über die vielen Worte stolperte, als es aus ihm heraussprudelte und er deshalb vor Aufregung stotterte. »Das ist so. Für die Götter sind wir wie Kinder. Wie ganz kleine Kinder. Sie wissen viel mehr über die Welt und das Leben als wir. Und sie gebrauchen manchmal Worte, die wir nicht in all ihren Bedeutungen begreifen. Meistens sind ihre Zeichen deutlich. Aber mitunter, wenn sie sehr in Gedanken sind, dann vergessen sie, dass sie zu Kindern reden. Dann kommen uns ihre Zeichen und Omen sehr sonderbar vor. Dann verstehen wir sie nicht, weil sie sich so sehr von uns unterscheiden.«

Jules nickte ernsthaft. »Also machen eure Götter Fehler.«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Was sollte das denn jetzt schon wieder? »Jeder macht Fehler.«

»Nein, Ulric. Es gehört zum Wesen der Menschen, Fehler zu machen. Tjured macht niemals einen Fehler, weil er ein Gott ist. Ich zweifle ja nicht einmal daran, dass es hier mächtige Geschöpfe geben mag, die ihr einfach Götter nennt. Aber sie sind es nicht. Sie sind grausam und spielen mit den Menschen, weil sie ihnen weit überlegen sind Tjured ist niemals grausam. Sein Herz ist voller Güte.«

So ein dahergelaufener Schwätzer!, dachte Ulric wütend. Was wusste er schon! »Luth ist auch ein gütiger. Gott.« Kaum waren die Worte heraus, da bereute sie der Junge schon. Es war dumm, den Fremden zu ärgern. Und er hatte ihn offensichtlich verärgert, auch wenn er es zu verbergen suchte. Etwas mit seinen Augen war geschehen. Ganz kurz nur. Sie schienen wie Abgründe, und Ulric fühlte sich wie ein Käfer unter dem Blick eines Riesen.

»Meine Worte werden dich vielleicht schmerzen, aber du hast es verdient, die Wahrheit zu sehen. Du hast einen wachen Verstand, Ulric. Ich werde ihn mit der Wahrheit erleuchten. Doch sei gewarnt, du wirst die Welt nie wieder so wie die anderen deines Volkes sehen. Dein Gott Luth ist ein schrecklicher Tyrann. Ein Wesen, nicht Mensch und nicht Himmlischer. Es gibt viele von seiner Art, und die Menschen haben viele Namen für sie. Man nennt sie flüsternd Dämonen oder Nachtmahre. Selbst die Elfen kennen diese Kreaturen und haben Angst vor ihnen. Dort heißen sie Yingiz. Sie können nicht in unsere Welt gelangen. Aber manchmal sind sie in unseren Träumen, oder sie schicken uns Botschaften. Dabei sinnen sie immer auf unser Verderben. Du glaubst, deine Götter holen ihre Helden in Goldene Hallen, die in der großen Dunkelheit liegen? Du irrst dich. Dort, wo du nach deinem Tod hingehen wirst, gibt es nur Dunkelheit. Allein Tjured kann uns erretten, denn er ist das Licht. Deine falschen Götter hingegen machen dich schon in deinem Leben zu ihren Sklaven. Sieh dir doch an, was Luth tut. Er webt deinen Schicksalsfaden. Er bestimmt jeden deiner Schritte im Voraus. Nicht einen Herzschlag lang in deinem ganzen Leben bist du frei. Was immer du tust, er hat es bestimmt. Ein Sklave ist frei im Vergleich zu dir. Kein menschlicher Herr kann ihn so gängeln, wie Luth seine Kinder gängelt, wenn er seinen Schicksalsfaden um ihr Sklavenhalsband legt und sie durch ihr jämmerliches Leben zerrt. Tjured hingegen schenkt uns die Freiheit. Er nutzt seine Macht als Gott so maßvoll, dass Zweifler leicht behaupten können, es gebe ihn nicht, denn sein Wirken hinterlässt kaum eine sichtbare Spur außer dem Glücksgefühl, das aus wahrer Freiheit erwächst. Ich entscheide in jedem Augenblick, wohin ich mein Leben lenke, aber ich trage auch die schwere Bürde zu wissen, dass ich ganz allein für meine Taten verantwortlich bin. Und sollte ich ein Schurke sein und klug genug, um meiner Strafe im Leben zu entgehen, so werde ich am Ende meiner Tage vor meinem Richter stehen, jenem stummen Beobachter, der um all meine Taten weiß. Und war mein Leben voller Licht, dann wird er mich im Licht aufgehen lassen. Haben meine Taten aber Dunkelheit in das Leben anderer gebracht, dann wird er mich verstoßen, und ich gelange in die Finsternis, wo die Yingiz, die Dämonen, die falschen Götter herrschen. Was hat mir Luth hingegen zu bieten? Eine Entschuldigung für jede meiner Taten, denn sie waren ja alle von ihm vorherbestimmt. Das ist ein Glaube für Schwächlinge, aber nicht für tapfere Männer. Du wirst das mit den Jahren verstehen. Du wirst die Lügen durchschauen, denn du bist klug. Es gibt nur einen Gott. Und wer klar denken kann, der wird dies schnell erkennen.«

»Also ...« Ulric zuckte verzweifelt mit den Schultern. Was der Fremde sagte, klang ja vernünftig. Jules war gut darin, schöne Worte zu machen. Doch das war das tägliche Brot von Priestern. Was er behauptete, konnte nicht die Wahrheit sein. Es durfte sie nicht sein! Er musste Luth verteidigen. Aber er wusste nicht, wie. Er stand vor Jules‘ Geschwätz wie ein Krieger vor einem mächtigen Schutzwall, in dem er keine Lücke entdecken konnte. Und während ihn von der hohen Mauerkrone die Feinde verspotteten, blieb ihm nichts, als hilflos sein Schwert zu heben. So gut er als Krieger auch sein mochte, in diesem Kampf konnte er unmöglich siegen. »Du hast Unrecht. Etwas ist falsch an den Dingen, die du sagst. Das fühle ich. Aber ich kann das nicht in Worte fassen wie ein Priester. Ich ... Ich wünschte, Gundar wäre hier. Er würde dir die richtigen Antworten geben können.«

»Du hast diesen Gundar sehr gemocht, nicht wahr?« Ulric war überrascht, dass Jules nicht aufbrauste. Stattdessen nickte der Tjuredpriester verständig.

»Alle mochten ihn«, bekräftigte der Junge. »Mein Vater hat immer gesagt, es sei im Dorf viel friedlicher geworden, nachdem Gundar zu uns gekommen sei. Dabei hat er gar nicht so viel getan. Er hat den Leuten zugehört, wenn sie kamen ...«

Ulric lächelte. Ganz deutlich hatte er den dicken alten Mann jetzt wieder vor Augen. Er vermisste ihn. Wenn Gundar noch hier wäre, dann gäbe es den Streit mit Eirik gewiss nicht. »Er hat eigentlich immer etwas gegessen, wenn man bei ihm war. Und auch wenn er zu Besuch kam ... Er sagte immer, wer den Mund voll hat, der kann die, die reden sollten, nicht vor der Zeit unterbrechen.«

Jules lachte leise. Es klang nicht spöttisch, sondern kam von Herzen. »Er ist also ein weiser Mann, dein Freund Gundar. Wenn er davon überzeugt ist, dass es einen Gott wie Luth gibt, dann sollte man das wohl nicht einfach abtun. Er wird wissen, woran er glaubt.«

Endlich begriff der Fremde, dass er es war, der sich hier irrte, dachte Ulric erleichtert. Jules schien nett zu sein. Auch wenn er Schwierigkeiten hatte, die Wahrheit über die Götter zu erkennen. Vielleicht war dieser Tjured ja eifersüchtig auf die anderen Götter und erzählte Jules deshalb, dass er der einzige Gott sei. Was für ein jämmerlicher Wicht dieser Tjured sein musste!

»Bringst du mich zu diesem Gundar? Ich würde gern einmal mit ihm reden.« Ulric schluckte. Wieder wurde er von Schuldgefühlen gepackt. »Gundar ist tot.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Er starb, als das Wolfspferd in unser Langhaus kam. Er hat uns alle gerettet.« Sie standen sich eine Weile schweigend gegenüber. Ulric hing seinen Gedanken nach. Er war froh, dass Jules jetzt nicht noch mehr Unsinn über seinen verrückten Gott erzählte.

»In meiner Heimat ehren wir die Toten, indem wir von ihnen sprechen. Magst du mir etwas über deinen Freund Gundar erzählen? Vielleicht, wie er gestorben ist?«

»Das Wolfspferd hat ihn getötet. Auch wenn die Elfe sagte, es hätte an seinem Herzen gelegen ...« Er zögerte. Bisher hatte er mit niemandem darüber gesprochen. »Eigentlich war ich schuld daran, dass er sterben musste.«

Jules sah ihn ernst an. »Das hört sich etwas verwirrend an. Wie hat die Geschichte denn begonnen?«

»Mit meinem Onkel.« Ulric erinnerte sich, wie sie Ole aus den Wäldern geholt hatten. Er war grausam verstümmelt gewesen. Seine Wunden hatten gestunken. Trotzdem hatte Mutter ihn zu sich ins Langhaus genommen. Die meiste Zeit hatte Onkel Ole dann in Fieberträumen gelegen. »Mein Onkel hat Hunde gezüchtet. Er hat sie geschlagen, damit sie böse wurden. Sie sollten Hofhunde werden und jeden Fremden anfallen. Ich glaube, das ist der Grund, warum das Wolfspferd kam. Es war sicher ein Wiedergänger von einem der Hunde, die Onkel Ole zu Tode geprügelt hat. Bestimmt hat er sich nicht die Mühe gemacht, die toten Hunde richtig zu begraben. Mit der Schnauze nach unten und einem Eschenpflock im Herzen ... Jedenfalls gab es dann die Toten. Das war im Herbst, bevor der erste Schnee kam, aber schon nach dem Apfelfest. Die Toten waren sehr seltsam. Niemand im Dorf hatte so etwas je gesehen. Sie waren verschrumpelt und ganz leicht. So wie tote Vögel, die man im Sommerwind getrocknet hat. Mein verletzter Onkel sprach immer von einem Wolfspferd. Schließlich hat Gundar entdeckt, dass Onkel Ole Luth bestohlen hatte. Auf dem Passweg in die Berge stehen die Eisenmänner. Sie schützen die Reisenden und halten die Trolle fern. Jedenfalls war das früher immer so. Jeder Reisende schlägt ein kleines Stück Eisen in die Wächter, wenn er an ihnen vorbeikommt. Das sind Geschenke für Luth, der dafür besser über unsere Lebensfaden wacht. Ole hatte bei den Eisenmännern Eisen gestohlen. Er hat die Stücke in eine Peitschenschnur eingeflochten. Danach wurde es mit dem Wolfspferd noch schlimmer. Niemand wagte sich mehr hinaus. Meine Freundin, Halgard, wurde fast getötet. Als Gundar entdeckte, was Ole getan hatte, ging er in die Berge hinauf. Und ich ... ich bin ihm heimlich nachgelaufen. Ich wollte ihm helfen, damit Halgard wieder gesund wird und das schreckliche Wolfspferd endlich vertrieben wird. Am Wehrberghof habe ich Gundar eingeholt. Das Wolfspferd war schon dort gewesen. Es hatte alle getötet. Sogar die Kinder. Als wir dort übernachteten, hat Luth Gundar einen Traum geschickt. Er hat ihm verraten, dass bei der Spinne unter dem Regenbogen ein Geschenk für uns liege. Am nächsten Tag haben wir die Spinne gefunden. Sie war in einen Felsen geritzt. Und auf dem Felsen war ein tanzender Lichtfleck, der wie ein Regenbogen aussah. Dort haben wir ein Loch gegraben und schließlich ein kostbares Kettenhemd gefunden. Da wusste, Gundar, dass der Schicksalsweber ihn auserwählt hatte, gegen das Wolfspferd zu kämpfen. Gundar hatte große Angst, denn er war kein Krieger. Auch machte es ihm Mühe, das Kettenhemd zu tragen. Er war schon ein alter Mann. Auf dem Rückweg geschah dann das Unglück. Ich ... Es war meine Schuld.«

Ulric schluckte. Die Erinnerung quälte ihn. »Ich habe nicht aufgepasst. Es hatte geschneit, und ich habe mir an einem Hang den Fuß vertreten. Ich konnte nicht mehr laufen. Und Gundar wollte mich nicht zurücklassen. Er hatte Sorge, dass ich im Schnee erfrieren würde. Außerdem hatte er auch Angst, dass mich das Wolfspferd holen könnte. Da hat er mich getragen. Den ganzen weiten Weg bis zum Langhaus meines Vaters. Und da war das Wolfspferd. Es war gekommen, um die Elfenkönigin Emerelle und alle anderen zu töten.«

»Die Elfenkönigin?« Jules hob die Brauen und sah ihn zweifelnd an. »Die Elfenkönigin war bei euch zu Gast?«

»Ja.« Ulric merkte genau, dass ihm der Fremde jetzt gar nichts mehr glaubte. »Ich darf darüber eigentlich nicht reden. Emerelle war schwer verwundet, und ihr Schwertmeister Ollowain hatte sie zu uns gebracht. Sie hat bei uns viele Tage und Nächte geschlafen. Aber das ist ein Geheimnis. Ich darf darüber eigentlich nicht reden.«

Jules führte den Zeigefinger an die Lippen. »Deine Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben. Nun erzähl weiter von dem Wolfspferd. Es hatte euch erwartet.«

Plötzlich hatte Ulric das Gefühl, dass der Fremde ihm doch glaubte. Eigenartig. Also, an seiner Stelle hätte er es bestimmt nicht geglaubt, wenn ihm ein kleiner Junge erzählt hätte, dass die Elfenkönigin im Haus seiner Eltern Zuflucht gefunden habe. Vielleicht war Jules ja auch nur höflich und tat so, als zweifle er nicht an seinen Worten?

»Das Wolfspferd?«

»Ja.« Ulric fuhr sich aufgeregt über die Lippen. »Als wir in das Langhaus kamen, war es schon da. Es war wirklich fast so groß wie ein Pferd. Und es hatte eine lange Schnauze mit großen Zähnen. Das Seltsamste aber war, dass es manchmal ganz fest war und dann wieder aussah wie dünner Rauch. Und es war ziemlich kalt. Kälte umgab das Wolfspferd, so wie Hitze um ein großes Feuer wabert. Ich habe mich dem Ungeheuer gestellt, mit meinem Elfendolch. Ich wollte Gundar beschützen. Er war so erschöpft. Aber das Wolfspferd ist einfach durch mich hindurchgegangen.« Ulric erschauderte bei der Erinnerung daran. »Das war so, als wehe ein eisiger Wind in mir. Es war schrecklich. Gundar hat ihm etwas zugerufen. Er hat es angelockt. Und dann war es auch schon über ihm. Es hat etwas aus seiner Brust reißen wollen. Ein goldenes Licht. Aber dann war es selbst umgeben von blauem Licht und wand sich in Qualen. Und plötzlich war es verschwunden. Ich glaube, es war Luths Geschenk, das es getötet hat. Es ist nie mehr wiedergekommen. Aber Gundar ist gestorben.« Der Junge spürte, wie ihm heiße Tränen über die Wangen liefen. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Elfe Yilvina hatte später gesagt, der Priester sei an Erschöpfung gestorben und dass sein Herz sehr schwach gewesen sei, Es hätte jederzeit passieren können, hatte sie behauptet. Aber Ulric wusste es besser. Gundar war gestorben, weil es seine Kräfte überstiegen hatte, das schwere Kettenhemd und ihn zu tragen. Er hätte besser aufpassen müssen, als er den Hang hinabgestiegen war. Sein umgeknickter Fuß, der war der wirkliche Grund für Gundars Tod gewesen!

Jules legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn an sich. Es tat gut, in den Arm genommen zu werden. Eigentlich war er schon zu groß für so etwas, aber diesmal war es Ulric nicht peinlich, wie ein Kind getröstet zu werden. Er spürte die Wärme des Fremden. Jules hatte ihm seinen Umhang um die Schultern gelegt. Und Ulric spürte noch etwas. Der Priester trug ein langes Messer, das durch den Umhang vor Blicken verborgen blieb. Es drückte Ulric leicht gegen die Rippen.

Jules strich ihm mit der Hand durchs Haar. »Es ist gut, dass du mit mir gesprochen hast. Traurigkeit ist wie ein Gift. Mit der Zeit macht es uns genauso krank wie ein Sonnenpilz oder verdorbener Fisch. Worte und Tränen spülen das Gift der Traurigkeit aus unserer Seele. Du wirst sehen, du wirst dich besser fühlen, nun, da du über Gundars Tod geredet hast.«

So standen sie eine ganze Weile, bis Ulric das Gefühl bekam, dass Jules unruhig wurde. Er machte sich los. Der Fremde lächelte entschuldigend. »Da ist eine Frage, die mich quält. Weißt du noch, was Gundar zu dem Wolfspferd gesagt hat?«

Ulric versuchte sich zu erinnern. Es war ein fremdes Wort gewesen. »Valemin ist dein Name. Oder so ähnlich.«

»Kannst du dich nicht genauer erinnern?«

»Vielleicht sagte er auch Valhentin. Oder nein, es war etwas wie Wahlhemin.«

»Könnte er Vahelmin gesagt haben?«, hakte der Priester nach.

»Das ist ein Elfenname.«

»Ja, das könnte es auch gewesen sein. Ich bin mir einfach nicht mehr ganz sicher.« Ulric stutzte. »Aber das ergibt doch keinen Sinn. Diese Kreatur war ganz bestimmt kein Elf! Wieso sollte sie dann einen Elfennamen tragen?«

»Die Elfen tun viel Sonderbares, Junge. In meiner Heimat hält man sie für böse Geister aus einer anderen Welt. Ob das nun stimmt oder nicht, eins ist gewiss: Wir Menschen werden niemals begreifen, was die Elfen wollen. Sie sind zu verschieden von uns.«

Ulric gefiel dieses Gerede nicht. Emerelle hatte ihm und Halgard das Leben gerettet, und Ollowain war sein Freund. Nein, böse Geister waren sie gewiss nicht.

»Was ist eigentlich aus dem Kettenhemd geworden, das Gundar getragen hat? Wurde es mit ihm begraben?«

»Nein. Es ist doch ein Geschenk Luths. Wir verwahren es beim Schrein des Schicksalswebers.«

»Darf ich es einmal sehen?« Jules wirkte angespannt. So nett der fremde Priester auch war, irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

»Du hast doch gesagt, dass du nicht an Luth glaubst. Ich glaube, du solltest dann nicht seinen Schrein betreten. Das könnte den Schicksalsweber ärgern.«

Der Priester seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn du meinst. Ich hatte damit gerechnet, dass du das sagen würdest. Wahrscheinlich gibt es dort gar nichts zu sehen. Vielleicht gibt es das Kettenhemd auch gar nicht.«

»Willst du mich etwa einen Lügner nennen? Glaubst du, ich hätte mir die Geschichte ausgedacht?«

Jules hob beschwichtigend die Hände. »Ich glaube, dass du großes Leid erlitten hast, Junge. So etwas verwirrt einen manchmal.«

»Ich bin nicht verwirrt«, begehrte Ulric auf. »Was ich erzählt habe, ist wahr!« »Und warum schreckst du dann davor zurück, es mir zu beweisen? Was, glaubst du, wiegt in den Augen deines Gottes schwerer? Dass du einen Ungläubigen in seinen Schrein einlässt und damit gegen ein Verbot verstößt oder dass du es unterlässt, einem Ungläubigen zu beweisen, dass es deinen Gott wirklich gibt?«

Ulric nagte nervös an seiner Unterlippe. Der Schrein lag etwas abseits am Waldrand. Keiner würde es merken, wenn er Jules bei diesem Schneegestöber dorthin führte. Der Sturm hatte gewiss alle in ihre Hütten getrieben. Eigentlich machte der Priester ja einen freundlichen Eindruck. Er würde gewiss nicht versuchen, etwas zu stehlen. Zweifelnd musterte er den Fremden.

»Du musst mir etwas versprechen. Beim Schrein darfst du nicht schlecht über Luth reden. Das würde großes Unglück bringen. Und den Namen deines Gottes sagst du dort besser auch nicht.«

Der Priester wirkte beleidigt. Er zog seinen schweren, blauen Umhang zusammen, sodass sein Dolch wieder wohl verborgen war. »Sehe ich vielleicht wie ein dahergelaufener Strauchdieb aus? Du kannst mir vertrauen.«

Ulric blickte dem Fremden geradewegs in dessen klare, blaue Augen. Nein, Jules würde ihn nicht belügen. Er konnte ihm trauen.

Gemeinsam stapften sie durch den tiefen Schnee. Inzwischen war es dunkel geworden. Jules hielt sich dicht an seiner Seite.

Ganz wie Ulric vermutet hatte, begegneten sie niemandem auf ihrem Weg. Der Schnee fiel noch immer in dichten Flocken. Er erstickte die Geräusche aus den schlichten Hütten und dämpfte das leise Knarzen ihrer Schritte.

Der Schrein Luths war nicht mehr als eine Hütte. Die Tür war mit einem einfachen Holzriegel versperrt. Als Ulric ihn zurückzog, beschlichen ihn noch einmal Zweifel. Er wusste nichts über den Fremden. Wenn er doch ein Dieb war? Doch jetzt war es zu spät. Mit einem stummen Gebet wandte sich der Junge an den Schicksalsweber, dann zog er den Sperrriegel zurück.

Zwei kleine Flammen erhellten das Innere des Schreins. Sie glommen auf groben Dochten, die in Tiegeln mit Fischtran steckten. Es roch stickig. Das Kettenhemd, in dem Gundar gestorben war, hing von einem kleinen Gerüst. An die Wände waren hunderte Stoffstreifen genagelt. Sie trugen mit Holzkohle geschriebene Runen. Es waren die Namen von Männern, Frauen und Kindern, die während der Kämpfe verschollen waren. Ihre Verwandten baten Luth mit diesem Opfer, ihre Liebsten nicht zu vergessen und wieder mit ihnen zusammenzuführen.

Jules zögerte einen Augenblick, über die Schwelle in den Schrein zu treten. Die Hütte war nicht sehr groß, vielleicht drei mal vier Schritt, aber sie strahlte eine stille Feierlichkeit aus. Hoffentlich begriff der fremde Priester jetzt endlich, dass er sich geirrt hatte und es noch andere Götter neben seinem Tjured gab. Richtige Götter und keine Dämonen!

Der Priester kniete vor dem Kettenhemd nieder. Vorsichtig berührte er die rostigen Eisenringe. In seinen Bewegungen lag mehr als nur Ehrfurcht. Es schien, als habe er Angst vor dem Geschenk Luths. Ulric beobachtete dies mit einiger Genugtuung. Es war ihm eine Entschädigung für all die schlimmen Dinge, die Jules über den Schicksalsweber behauptet hatte.

Lange kniete der Priester vor dem kostbaren Kleinod. Als er sich endlich erhob, wirkte er zufrieden. »Dies ist ganz sicher das Kettenhemd, das Gundar trug, als ihn das Wolfspferd angriff?«

»Ganz sicher!«, bestätigte Ulric feierlich. »Es ist das Geschenk des Schicksalswebers.« Jules nickte in Gedanken versunken.

»Erstaunlich«, murmelte er leise. »Es sind doch stets die einfachen Lösungen, die sich als die besten erweisen.« Der Junge sah ihn verständnislos an. Er begriff nicht, was diese Worte bedeuten mochten, und er wagte auch nicht nachzufragen. Der Priester wirkte seltsam unnahbar. Ob er in diesem Augenblick wohl stumme Zwiesprache mit seinem Gott hielt? Ulric fröstelte es. Gut, dass sie im Luthschrein waren! Hier hatten fremde Götter gewiss keine Macht.

Plötzlich zog Jules seinen Dolch. Zu verdattert, um irgendetwas zu sagen oder fortzulaufen, starrte Ulric auf die lange, funkelnde Klinge. Der Priester kam auf ihn zu. In blitzendem Bogen schnellte die Waffe vor und grub sich mit einem dumpfen Geräusch tief in die Holzwand.

»Man bringt Luth Geschenke aus Eisen, wenn man sich bei ihm bedanken will, das habe ich doch richtig verstanden?« Das Lächeln war in Jules‘ Gesicht zurückgekehrt.

»Ja«, sagte Ulric heiser. Der Schreck steckte ihm noch in den Gliedern. Hatte der Fremde vorgehabt, ihn zu erschrecken? Oder hatte er einfach nicht darüber nachgedacht, was er tat?

»Wo wir gerade von Geschenken reden, Ulric ...« Jules streifte seinen Umhang zurück und öffnete eine große Ledertasche, die er an einem Riemen über der Schulter trug. »Über dem Gespräch mit dir habe ich ganz vergessen, dass ich auch für dich ein Geschenk mitgebracht habe. Es ist nichts Besonderes. Ich bin kein reicher Mann. Ich habe das hier während meiner Wanderschaft gemacht.« Er zog drei hölzerne Puppen hervor. Einen Krieger mit Schwert, eine Prinzessin mit Haaren aus rotem Nussholz und einen rußgeschwärzten Hund.

Ulric gaffte die handgroßen Puppen mit weit aufgerissenen Augen an. Es waren die schönsten, die er jemals gesehen hatte. Ihre Arme und Beine hatten bewegliche Gelenke! Aber vor allem anderen waren es nicht irgendwelche Figuren. Der Fremde hatte ihn, Halgard und Blut als Puppen gefertigt. Ulric wusste jetzt schon, dass Halgard ganz verrückt danach sein würde.

»Ich bin leider kein großer Künstler«, entschuldigte sich der Priester. »Die Gesichter sind etwas grob geraten.« Er hielt dem Jungen die Puppen hin.

Wie ein Hund nach einem blutigen Fleischklumpen, schnappte Ulric danach und ließ sie sofort fallen. Etwas hatte ihn in die Hand gestochen. Ein dünner Blutfaden rann über seine Handfläche.

»Oh, bei Tjured, verzeih mir!« Der Priester bückte sich und hob die Puppen wieder auf. Sie hatten den Sturz unbeschadet überstanden. »Das Schwert! Ich habe es aus einem Nagel gemacht und wohl zu sehr geschliffen. Dass es so spitz geworden ist, war mir gar nicht bewusst. Lass mich bitte deine Hand sehen.«

»Ach, das ist nichts«, winkte Ulric ab.

»Bitte! Aus so einer kleinen Wunde kann Übles erwachsen, wenn man sie nicht säubert. Ich will dich doch beschenken und nicht umbringen.«

Unwillig streckte der Junge Jules die Hand entgegen. Es war überflüssig, so viel Aufhebens darum zu machen. Aber sollte der Priester nur seinen Willen haben. Ulric schämte sich auch dafür, so gierig nach dem Spielzeug gegriffen zu haben. Das war sonst gar nicht seine Art.

Jules holte ein weißes Tüchlein aus der Tasche und tupfte damit die Wunde ab. Es war nur ein feiner Schnitt inmitten seiner Handfläche. Ein Kratzer, nichts von Bedeutung. Doch der Priester runzelte die Stirn. Er schob das Tüchlein wieder in seine Tasche zurück. »Du darfst an dieser Wunde nicht herumspielen. Reiß dir nicht die Kruste ab, wenn der Schnitt verheilt. Am besten wäre es, wenn du mir gestattest, dir einen strammen Verband anzulegen. Du solltest die Hand schonen.«

»Wegen der Kleinigkeit?« Ulric lachte und zog die Hand zurück. »Ich weiß ja nicht, wie es mit den Kindern in deiner Heimat ist, aber ich bin nicht so eine Memme. Das ist doch gar nichts!«

»Tu meine Worte nicht einfach ab. Streck die Hand noch einmal vor. Ich muss dir etwas zeigen.« Ulric gehorchte, auch wenn er das Verhalten des Priesters äußerst merkwürdig fand.

»Siehst du die feinen Linien in deiner Hand? Jede von ihnen hat eine Bedeutung. Dies hier ist deine Lebenslinie. Der Kratzer hat sie zerteilt. Wenn eine Narbe zurückbleiben würde, dann wäre das schlimm.« Er fuhr vorsichtig mit dem Finger über die Linien der Handfläche. »Lass mich bitte auch deine andere Hand sehen. Halt sie nebeneinander. Ja, so ist es gut.«

»Und, was steht dort?«, fragte Ulric neugierig.

Der Priester blickte auf, und feiner Spott funkelte in seinen Augen. »Glaubst du nun, dass du mich dabei erwischt hast, dass ich Unsinn erzähle?«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte der Junge ehrlich überrascht.

»Nun, eben habe ich dir noch erzählt, dass unser Leben nicht vorherbestimmt ist, und nun lese ich in den Linien deiner Hand, was dir die Zukunft wohl bringen mag. Aber das ist nicht so, wie es scheint. Stell dir eine Kiste vor, in der alle möglichen Dinge aufbewahrt werden. Ein Schwert, ein Webrahmen und eine Spindel, vielleicht auch eine Harfe. Die Kiste ist noch verschlossen, doch jemand hat sich die Mühe gemacht, Runen in das Holz zu ritzen. Sie verraten, was alles in der Kiste verwahrt ist. So ist es mit den Handlinien. Sie erzählen mir davon, was dein Leben bringen mag. Und ich kann an deinen Händen auch erkennen, was du schon getan hast.«

Er deutete auf die Schwielen an Ulrics rechter Hand. »Hier erkenne ich, dass du fleißig mit einer Waffe geübt hast. Vermutlich mit einem Holzschwert. Hättest du mit einer Hacke auf dem Feld gearbeitet oder einem Handwerker geholfen, dann hättest du an beiden Händen Schwielen. Aber kommen wir auf die Truhe zurück. Es liegt bei dir, sie zu öffnen. Je nachdem, was du herausholst, wird dein Leben einen anderen Weg nehmen. Und diese Entscheidung liegt allein bei dir.«

»Du solltest nicht so in Luths Schrein reden«, sagte Ulric ernst. Langsam überkam ihn der Verdacht, dass der Priester sich vorgenommen hatte, ihm seinen Glauben zu stehlen. Doch so weit würde er es nicht kommen lassen. Er war schließlich nicht dumm! Ob auch die Holzpuppen zu diesem Plan gehörten? Misstrauisch musterte er sie. Auf dem hellen Holz der Kriegerpuppe prangten zwei helle Blutflecken. Auch das kleine, schimmernde Schwert des Kriegers war blutverschmiert. Hatte Luth ihm ein Omen geschickt? Ulric war sich sicher, dass er ein Krieger werden würde. Er betrachtete seine Hände. Er sang auch ganz gern ... Aber Spindel und Webrahmen? Das war Weiberkram! Er sollte Jules‘ Worte schnell vergessen. Seine Hände waren keine Kiste! Und sein Lebensweg war längst von Luth bestimmt. Der Gedanke daran beruhigte ihn. So gesehen war es ganz egal, was Jules erzählte. Die Worte des Priesters würden seine Zukunft nicht verändern. Sie war schon längst festgelegt.

Vorsichtig hob Ulric die Puppen auf. Neugierig drehte er sie in den Händen. Ganz gleich, was Jules sagte: Sie waren wunderschön. Daran gab es keinen Zweifel. Im Rücken der Kriegerfigur entdeckte er einen feinen Spalt, so als sei das Holz dort gerissen.

»Hab ich sie kaputtgemacht?«

»Nein«, beruhigte ihn der Priester. »Dort gibt es eine Klappe. Wenn du am linken Arm drehst, öffnet sie sich. Dort ist noch ein Geschenk für dich. Auch in Halgards Puppe verbirgt sich noch ein Geschenk. Öffne die Geheimfächer aber noch nicht jetzt.«

»Warum?«

»Wenn du findest, was ich dort verborgen habe, wirst du mir eine dringende Frage stellen wollen. Es ist aber wichtig, dass du die Antwort ohne mich findest.« Jules erhob sich und zog seinen Umhang vor der Brust zusammen. »Am besten wartest du bis morgen früh, damit du dir meine kleine Überraschung bei Tageslicht genau ansehen kannst. Du und Halgard, ihr solltet gemeinsam die Puppen öffnen.«

Ulric drehte seine Puppe hin und her. Dann klemmte er den Daumennagel in den Spalt im Rücken, doch das Geheimfach öffnete sich nicht. »Vielleicht komme ich dich ja morgen früh fragen?«

»Dann werde ich nicht mehr hier sein.«

»Du kannst doch nicht in der Nacht durch den Schneesturm gehen! Du würdest dich verlaufen. Und die Kälte wird dich umbringen.«

Jules strich ihm durch das Haar. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, auch wenn ich nur ein seltsamer Fremder bin. Ich muss in dieser Nacht noch ein weites Stück Weg zurücklegen. Ich kann es mir nicht erlauben, jetzt zu ruhen.« Er lächelte. »Und sei ehrlich, mein kleiner Freund. Du wirst doch erleichtert sein, wenn du dir meine schlauen Reden nicht länger anhören musst.«

Ulric wollte protestieren, doch Jules legte einen Finger an seine Lippen und gebot ihm zu schweigen. »Sag nichts. Ich weiß, was in dir vorgeht. Du hast einen rebellischen, wachen Verstand, so wie ich. Ich wünsche dir Glück, mein Junge. Und ganz gleich, für welchen Lebensweg du dich entscheiden wirst, du wirst ein bedeutender Mann werden, dessen Namen auch in hundert Jahren noch jedes Kind im Fjordland kennen wird. Davon bin ich überzeugt.«

Eine unsterbliche Seele

Skanga war zu Tode erschöpft. Ängstlich beobachtete sie Branbarts Aura. Der Trollkönig kauerte zu ihren Füßen; er wimmerte leise vor sich hin wie ein geprügelter Welpe. Das kalte Blau der Angst und das helle Rot kaum gezügelter Wut mischten sich zu einem purpurnen Licht, das pulsierend seinen Körper umfloss.

Mit fahriger Geste strich sich die alte Schamanin über die Stirn. Pochender Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr magisches Auge, das wohl verborgen hinter dem Stirnknochen saß, brannte wie weiße Glut und ließ sie den anderen, dumpfen Schmerz ihrer gebrochenen Rippen vergessen.

»Gib auf, altes Weib«, wisperte die Stimme in ihrem Kopf. »Ich verspreche dir ein rasches Ende all deiner Qualen. Deine Zeit ist um, Skanga

»Schweig!«, fauchte sie, ließ ihren Knochenstab fallen und umklammerte mit beiden Händen die Schläfen. Es war eine Geste, die all ihre Hilflosigkeit offenbarte. Einer anderen Stimme mochte man sich verschließen, wenn man die Hände nur fest genug auf die Ohren presste. Doch dieser Flüsterer war in ihrem Kopf. Gegen den Yingiz konnte sie sich nicht wehren.

»Es wird mir eine Freude sein, dein Lebenslicht zu trinken. Meine Brüder gieren nach der Kraft deines Königs. Er hätte noch viele Jahre zu leben gehabt, wenn du ihn nicht hierher gebracht hättest, Weib. Aber ich will dich. Ganz langsam werde ich dir das Leben rauben. Ich werde mich weiden an deinem Entsetzen und es genießen, wie du dich sinnlos gegen das Unvermeidbare aufbäumst. Du wirst bis ganz zum Schluss kämpfen, nicht wahr?« Ein Hauch von Bewunderung schwang in der Stimme des Yingiz mit. Skanga spürte deutlich den Schattenleib, der jenseits des magischen Kokons im Dunkel lauerte. »Du kannst nicht aufgeben, nicht wahr? Wie hast du es ertragen, dass Emerelle dein Volk besiegt und vertrieben hat? Die Wut über deine Niederlage hat dich gewiss fast wahnsinnig gemacht

»Es war nicht meine Niederlage. Wir ...« Skanga bemühte sich, ihren plötzlichen Zorn im Zaum zu halten. Er wollte sie wütend machen, warum auch immer. »Wir sind wieder gekommen, und seither sind es die Elfen, die flüchten. Wir waren besiegt, aber nicht vernichtet. Mein Volk ...« Skanga brach ab. Branbarts Aura hatte ihre Farbe verändert. Das Blau war gänzlich verschwunden und flammendem Rot gewichen. Der König sprang auf. Etwas war in seiner Hand. Das pulsierende Licht der Aura ließ nur undeutlich erkennen, was er hielt.

Skanga bückte sich nach ihrem Stab. Branbart trat ihr vors Knie. Sie taumelte zur Seite. Das Lichtgeflecht des magischen Kokons flackerte einen Herzschlag lang. Der Zauber! Sie biss die verbliebenen Zähne zusammen, sodass sich die Stümpfe ins weiche Fleisch ihrer Kiefer gruben. Wenn der schützende Zauber verging, wären sie tot. Sie hatte sich von diesem dreimal verfluchten Yingiz hereinlegen lassen! Wie bei einem jungen Weibchen, dem zum ersten Mal der Duft eines brünstigen Kriegers in die Nase stieg, hatte die Schattengestalt mit heuchlerischen Worten ihre Sinne verwirrt. Nie war es dem Yingiz darum gegangen, wie sie sich gefühlt hatte, als ihr Volk vertrieben worden war. Er hatte sie nur ablenken wollen, damit sie nicht bemerkte, wie ein anderer Flüsterer Branbarts Zorn immer mehr aufstachelte und dem König seine Angst nahm.

»Du tust mir Unrecht!«, spottete die Stimme in ihrem Kopf. »Ich hege aufrechtes Interesse an dir und deinen Gefühlen, Schamanin. Ich werde dich kennen lernen, durch und durch, sobald ich dein Lebenslicht in mich aufgenommen habe. Nicht mehr lange, Weib, und du gehörst mir

Branbart zerrte sie zu Boden und rammte ihr ein Knie in den Leib. Skanga spürte, wie sich die gebrochenen Rippen verschoben. Sie keuchte vor Schmerz.

»Du bringst uns beide um, Branbart! «, stieß sie hechelnd hervor. »Begreif das doch!«

»Du hast mich dazu verführt, meine Krieger hierher zu bringen, alte Vettel. Es ist deine Schuld, dass mein Heer verloren ist. Dafür wirst du büßen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Viel zu lange habe ich deinen geflüsterten Lügen gelauscht!« Seine Rechte hob sich.

Skanga sah den langen Mammutbeindolch als einen Schatten, der sich undeutlich gegen das pulsierende Licht der Aura des Königs abhob. Mit der Linken tastete die Schamanin nach dem Albenstein, während sie die Rechte hob, um den tödlichen Stoß abzuwehren. Es gab nur noch einen Weg ...

»Ja, du hast Recht. Bring ihn um! Er ist ein Narr. Du wärst deinem Volk eine viel bessere Herrscherin als dieser verrückte König«, flüsterte der Yingiz in ihren Gedanken. »Fass dir endlich ein Herz. Du weißt doch schon lange, dass Branbart der Fluch deines Volkes ist. Bring ihn um! Du kannst es!«

Das Blau der Angst leuchtete in der Aura des Trollkönigs. Hatte auch er die letzten Worte gehört? Sprach dieser verfluchte Yingiz gleichzeitig zu Branbart?

Skanga schloss die blinden Augen. Ihre Hand umklammerte den Arm des Königs, doch reichte ihre Kraft bei weitem nicht aus, um ihn niederzuringen. Unerbittlich senkte sich der Mammutbeindolch ihrer Kehle entgegen.

Leise murmelte die Schamanin die verbotenen Worte der Macht. Ihr wurde kalt. Die Macht des Albensteins fegte die Stimmen der Yingiz aus Branbarts Bewusstsein. Nun war sie die Stimme in seinem Verstand.

»Hör auf, mein Gebieter! Sie sind der Feind! Nicht ich! Sie sinnen einzig auf unsere Vernichtung.« Sie konnte die blinde Wut des Königs spüren. Er verschloss sich vor ihr. Der verdammte Trottel glaubte den Yingiz.

Ihr Armgelenk knackte. Nur Augenblicke noch, und der Dolch würde ihre Kehle treffen. Sie konzentrierte sich auf den Arm des Königs. Branbart ließ ihr keine andere Wahl. Einen Herzschlag lang spürte Skanga jugendliche Kraft.

»Tu es!«, rief die Stimme in ihrem Kopf. »Er ist der Fluch deines Volkes! Töte ihn endlich.« Sie zögerte. Wenn Branbart im Nichts starb, würde er niemals wiedergeboren werden. Sie könnte einen neuen König unter den Trollen erwählen. Oder sie könnte selbst nach der Macht greifen ... Es gab so vieles, das die Krieger in ihrer tumben Art verdarben. Niemand würde sich ihr in den Weg stellen, wenn sie die Herrschaft an sich riss.

Skanga bog den Arm des Königs zurück. Sie beherrschte seine Muskeln und Sehnen, als gehörten sie zu ihrem eigenen Leib. Branbart musste hilflos miterleben, was sie ihm antat. Die Spitze des Dolchs zeigte nun auf seine Brust.

»Nimm das Schicksal deines Volkes in die Hand!«, forderte der Yingiz feierlich. »Sei mutig! Bekenne dich zu deinen geheimen Wünschen

Sengender Schmerz ließ Skanga und Branbart zugleich aufschreien. Deutlich spürte die Schamanin, wie die Klinge über Knochen schrammte und Knorpel zerteilte. Hastig zog sie sich aus den Gedanken des Königs zurück.

Fassungslos starrte sie auf den Herrscher, der sich neben ihr zusammenkrümmte. Fast hätte sie dem Yingiz nachgegeben! Im allerletzten Augenblick erst hatte sie den Stoß vom Herzen weggeführt. Das Messer ragte seitlich aus Branbarts Brust. Die Klinge hatte sein linkes Schultergelenk durchbohrt.

»Du hast mich zum Krüppel gemacht«, jammerte der König.

»Verdammte Vettel. Ich hasse dich!«

»War das klug?«, meldete sich die ungeliebte Stimme in ihrem Verstand. »Damit hast du die Entscheidung nur hinausgeschoben. Gesteh dir deine Niederlage ein, Skanga

»Du kennst dich mit Niederlagen aus, nicht wahr? So wie uns die Elfen vertrieben haben, ist dein Volk von den Alben davongejagt worden. Nur, dass ihr niemals die Kraft gefunden habt zurückzukehren. Wie kannst du glauben, ich würde mich dir unterwerfen, Yingiz? Ich finde einen Weg! Ich bin es, die sich nach jeder Niederlage wieder erhoben hat und die jeder Rückschlag stärker werden ließ. Du wirst mich nicht besiegen! Mich nicht und auch Branbart nicht!«

Sie erhielt keine Antwort. Etwas hatte sich verändert.

Sie spürte eine pulsierende Macht, irgendwo dort draußen, jenseits des schützenden Kokons. Sehen konnte sie nichts. Ihr magisches Auge war wie geblendet. In dichten Trauben umgaben die Yingiz jetzt den Kokon. Ihre Schatten waren wie Schleier. Vielstimmig erklang ihr Flüstern. Skanga spürte, dass sie sich bemühten, etwas vor ihr zu verbergen. Das Pulsieren ... Ganz in der Nähe musste ein Albenpfad sein!

Die Schamanin führte den Albenstein an ihre welken Lippen und küsste ihn. »Hört ihr mich, ihr Alben?« Sie flüsterte, doch die Yingiz hatten dennoch jedes ihrer Worte verstanden. Vielstimmiges Geschrei erhob sich, schrill und schmerzend. Skanga hatte das Gefühl, als sei ihr Kopf voller sich windender, glühender Würmer.

»Bitte erhört mich, ihr Alben, wo immer ihr auch sein mögt!«

Warmes Blut troff von ihrer Nase und benetzte ihre Lippen.

»Führt mich aus der Finsternis! Erinnert euch, ich bin eines eurer Kinder! Rettet meine Seele! Und wenn ihr nicht mich rettet, so schützt zumindest meinen König!«

Skanga spürte, wie die Yingiz miteinander verschmolzen. Sie bündelten ihre Kraft und unterwarfen all ihre Bosheit einem einzigen Willen.

Skanga hatte das Gefühl, dass eisige Klammern sich um ihre Brust schlossen. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich müde. Selbst das Blut schien langsamer in ihren Adern zu fließen.

»Ruf nicht nach den Alben in unserem Reich!« Es war die Stimme, die schon die ganze Zeit über in ihrem Kopf geklungen hatte. Jetzt mühte sie sich nicht mehr um falsche Freundlichkeit. »Hier haben sie keine Macht. Deine Stunde ist gekommen, Schamanin! Wir sind es müde, mit dir zu spielen. Glaubst du, dein lächerlicher Zauber könnte uns aufhalten? Es bedurfte der Macht der Alben, um die goldenen Pfade zu schützen. Wir können dich nicht berühren. Jedenfalls noch nicht ... Und doch sind wir tief in dir. Wir sind dir näher, als sich Wesen aus Fleisch und Blut jemals kommen können. Sie reiben nur Haut an Haut. Doch wir sind tief in dir, nahe an deiner Seele. So tief, wie du in Branbart gesteckt hast. Du hast seine Kraft gespürt, seine Jugend und seinen Schmerz, als du ihm den Dolch ins Fleisch getrieben hast. Spürst du eigentlich dein Herz? Nein, Skanga, ich bin kein Dichter und Worteschmied. Ich meine es so, wie ich es sage, ganz ohne poetischen Hintersinn. Spürst du dein Herz, altes Weib?«

Skanga wusste, dass sie sich nicht darauf einlassen durfte. Sie musste sich den Yingiz widersetzen, oder sie würden die Herren ihrer Gedanken werden! Kam sie ihnen nur einen Schritt entgegen, dann würde sie ihre willenlose Dienerin werden, so wie Branbart ihr Sklave geworden war. Und dennoch mochte sie sich dem Gift ihrer Worte nicht zu verschließen. Ihr Herz .... Sie spürte seine müden, schweren Schläge. Es war erschöpft. Es sehnte sich danach zu ruhen.

Kalte Angst übermannte Skanga. Waren das noch ihre Gedanken? Ihr Herz war nicht müde! Ihr Blut fühlte sich zäh an, wie kaltes Bratenfett. Es verharrte in ihren Adern, denn ... Skanga keuchte auf. Denn ihr Herz schlug nicht mehr! Das gaukelten sie ihr nur vor, das konnte nicht sein! Diese Macht konnten sie doch nicht haben! Ihr Kokon schützte sie. Es durfte nicht...

Der Schamanin wurde schwindelig. Mit beiden Händen umklammerte sie den Albenstein. »Bitte helft mir!«, flüsterte sie, um jedes Wort ringend. Ihre Lippen waren jetzt wie Stein, schwer und taub. Sie wollten keine Silbe mehr preisgeben.

Das war nicht sie! Erinnere dich daran, wer du bist!, ermahnte sie sich. Sie war schon oft besiegt worden, aber sie hatte dennoch nie aufgegeben. Ihr Herz würde auch nicht einfach aufgeben, ihr den Dienst verweigern ... Das war Trug! Das konnte nicht sein! Wenn sie starb, dann auf einem Schlachtfeld, durchbohrt von Lanzen und Schwertern ihrer Feinde, der verfluchten Elfen, die ganz Albenmark ihre Art zu leben aufzwangen. Sie waren wie ein dichtes Dornengestrüpp, und alle anderen Albenkinder hatten sich in diesem Dickicht verfangen. Die Dornen bestimmten, wie weit man sich bewegen konnte, und wer gegen die engen Grenzen aufbegehrte, der spürte sie in seinem Fleisch. In Albenmark konnte man nicht einmal mehr frei atmen! Skanga war zutiefst überzeugt, dass es ihr Schicksal war, Emerelles Tyrannei zu brechen. Sie hatte es schon gewusst, bevor die Trolle in die Verbannung getrieben worden waren. Und in all den ungezählten Jahren, die seitdem verstrichen waren, hatte sie ihr Ziel niemals aufgegeben. Sie würde nicht gestatten, dass ihr Herz jetzt aussetzte. Das war nicht sie!

Die Schamanin reckte sich, dass ihre Gelenke krachten. Sie konnte wieder frei atmen! War auch das eine Falle, oder hatte sie den Bann der Yingiz gebrochen? Der Kokon, der sie vor den bösen Geistern aus der großen Leere schützte, hatte sich ausgedehnt. Er war weit wie eine der himmelhohen Hallen, die das Elfenvolk der Normirga in die Berge der Snaiwamark geschlagen hatte. Klares, blaues Licht umgab sie. Und nicht weit vor ihr leuchtete ein goldener Pfad.

Skanga griff sich an die Brust. Sie spürte ihr Herz schlagen. War all dies nur der letzte Traum einer Sterbenden? Ganz gleich, sie würde ihren Weg gehen. Nicht darüber nachdenken... Zweifel, sie waren das Gift der Yingiz. Selbst wenn all dies nur Trug war, dann würde sie bis zuletzt ihr Ziel verfolgen.

Skanga half dem wimmernden König auf. Als er sich bewegte, begann seine Wunde wieder zu bluten. Noch immer steckte ihm der Dolch in der Schulter. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie ein geprügelter Hund kam er ihr vor.

Skanga spürte die Kraft der Magie, als sie den goldenen Pfad erreichten. Das war keine Illusion! Sie waren den Yingiz entkommen. Mit jedem Schritt, den sie tat, spürte sie ihre Kräfte zurückkehren. Sie waren gerettet.

Bald schon erreichten sie einen Albenstern. Ein Wort genügte, und ihr öffnete sich ein Tor. Noch ein Schritt .... Wolkenloser Himmel spannte sich über Skanga. Sie stand in einem Steinkreis auf einem Hügel mit sanft ansteigenden Flanken. Deutlich zeigte sich das Land ihrem magischen Auge. Sie spürte die Kraft des Steinkreises und den Frieden, den dieser Ort atmete. Hier war lange kein Blut mehr vergossen worden. Sanft streichelten die Strahlen einer gnädigen Frühlingssonne ihre Haut. In weiter Ferne verschmolzen Grasland und Himmel zu einer unscharfen Linie. Dazwischen erstreckten sich flache, lang gezogene Hügel. Und gleich Inseln erhoben sich kleine Waldstücke aus dem Grasland, umspielt von einer Aura aus weißem Licht. Dazwischen, wie Gemmen, die verschiedenfarbigen Auren der Tiere. Größer hätte der Gegensatz zur beklemmenden Finsternis des Nichts nicht sein können! Skanga wusste nicht, wo sie waren. Der klare Himmel gehörte zu Albenmark und nicht in die Welt der Menschen, da war sie sich sicher. Doch die Landschaft war ihr fremd. Hier war sie nie zuvor gewesen.

Branbart zog die Nase hoch und sammelte den Rotz mit einem gurgelnden Geräusch in seinem Mund. Er spuckte aus.

Skanga drehte sich zu ihm um. Das Tor zu den Albenpfaden hatte sich schon wieder geschlossen. Nur der Steinkreis verriet, dass sich Kundigen an diesem Ort das wunderbare Wegenetz der Alten öffnen mochte.

Branbart stand gebeugt. Die Rechte umklammerte den Dolch in seiner Schulter. Er hielt den Kopf abgewandt und wich ihrem toten Blick aus. Der König stank nach dem kalten Schweiß unterdrückter Schmerzen und nach Blut.

»Ich habe mich wohl wie ein Narr benommen«, stieß er knurrend hervor.

»Du bist ein großer Krieger, Branbart. Aber gegen die Schatten bist du so hilflos wie ein Welpe, der einem hungrigen Bären begegnet.« Jetzt endlich sah er zu ihr auf. Skanga erkannte an seiner Aura, dass ihm der Vergleich mit dem Welpen nicht gefallen hatte, auch wenn er sich Mühe gab, seine Wut im Zaum zu halten.

»Du musst jetzt ruhen«, sagte sie sanft. »Ich kann dir einen leichten Schlaf schenken.« Skanga streckte die Hand vor, um ihn an der Stirn zu berühren. Ein Wort würde genügen, um ihn einschlafen zu lassen. Doch der König zuckte vor ihr zurück.

»Du musst mich nicht fürchten. Alles, was geschah, habe ich allein getan, um dich zu schützen. Das weißt du doch.«

»Ja.« Branbart hatte ein wenig zu lang mit seiner Antwort gewartet, um noch glaubwürdig zu klingen.

»Du hast eine große Seele, mein König. Es ist dir bestimmt, über dein Volk zu herrschen, so wie es mir bestimmt ist, dich zu beschützen. Ich habe dir immer treu gedient, das weißt du.«

Das Rot von Branbarts Aura wurde blasser und ging in ein schlammfarbenes Braun über, die Farbe des Zweifels. Geräuschvoll zog der geschundene Krieger die Nase hoch und spie einen Klumpen Rotz aus. Bei einem unsinnigen Duell, geboren aus einem Wortgeplänkel bei einem Saufgelage, hatte der König einen schweren Schlag gegen die Stirn erhalten. Direkt an der Nasenwurzel waren die Knochen zersplittert. Die Schamanin hatte trotz all ihrer Kraft viele Wochen gebraucht, um die Verletzung zu heilen. Branbart war stark, er hatte das Fieber überstanden und die Schmerzen. Doch durch die Verletzung troff seine Nase. Ein nicht enden wollender Strom aus zähem Schleim vergällte ihm das Leben. Alle paar Augenblicke musste er die Nase hochziehen und ausspucken. Und nachts wurde er immer wieder hustend wach, voller Panik, der Schleim könne ihn ersticken. Branbart hatte all das überlebt, doch der Schleim hatte seinen Stolz erstickt. Ständig glaubte er, dass man hinter seinem Rücken über ihn spottete. Längst umgab er sich nur noch mit Kriegern, die ihm nach dem Mund redeten. Aber er war trotz allem ein tapferer Krieger geblieben. Während der Schlachten der Trollkriege hatte man ihn stets in der vordersten Reihe kämpfen sehen. Skanga befürchtete, dass die Yingiz ihm nun auch noch die Tapferkeit genommen hatten.

Branbart brauchte sie mehr denn je. »Wir werden in die Snaiwamark zurückkehren und ein neues Heer aufstellen«, sagte die Schamanin voller Zuversicht.

»Weißt du denn, wo wir hier sind?«

»Natürlich!«, log Skanga. »Im Windland, ein wenig südlich der Königshügel. Zehn Tagesmärsche ... Vielleicht auch elf, dann sind wir wieder in der Heimat.«

Der König blickte über das weite Land. »Albenmark ist mir so fremd«, sagte er leise. »Der Himmel scheint hier weiter zu sein als in der Welt der Menschen. Es ist richtig, dass wir die Elfen für den Verrat an unseren Ahnen büßen ließen. Seit so vielen Generationen träumte unser Volk davon, hierher zurückzukehren, in jene Heimat, die uns die Alben geschenkt haben.« Er spuckte aus. »Aber sie ist nicht wie in den Geschichten, die sie uns erzählt haben. Ich wünschte, ich wäre so frei wie Herzog Orgrim und könnte einfach in die Welt der Menschen zurückkehren. Ich will nicht an meuchelnde Schatten im Nichts, an heimtückische Magier und die Schurkereien der Tyrannin Emerelle denken müssen. Ich will wieder frei sein. Ich wünschte, ich wäre kein König.«

So hatte Skanga ihn noch nie erlebt. Auch kannte sie es nicht von ihm, dass seine Stimmungen so sehr schwankten. »Du solltest ein gutes Stück Fleisch essen, dann wird es dir wieder besser gehen«, riet die Schamanin.

Branbart lachte. »Das würde ich gern. Aber ich habe nichts bei mir. Ich war davon ausgegangen, dass nach den Kämpfen in Emerelles Palast genug frisches Fleisch herumliegen würde.« Er ließ sich im Gras nieder und fingerte an dem Dolch in seiner Schulter herum. »Ich war nicht mehr ich selbst. Dort im Nichts

... Ich dachte, ich würde verrückt. Es tut mir leid. Es war nicht wirklich meine Hand, die den Dolch gegen dich führte. Ich weiß, dass mir niemand treuer dient als du, Skanga.«

»Es ist gut, dass wir unseren Frieden miteinander machen«, entgegnete Skanga erleichtert. Sie trat an die Seite ihres Königs und legte ihm die gichtgekrümmte Linke auf die Schulter. »Was immer auch geschah, unser Volk wird sich bis ans Ende aller Tage an dich erinnern, Branbart, denn du warst der Herrscher, der uns zurück nach Albenmark gebracht hat.« Ihre Amulette aus Knochen, Federn und Muscheln raschelten leise, als sie suchte, was sie wohl verborgen in einem Beutel aus Minotaurenhaut trug.

»Wir werden viele Kinder haben, Skanga«, sagte der König, und neue Kraft lag in seiner Stimme.

»Was?« Die Schamanin hielt in ihrer Suche inne und sah ihn verstört an.

»Unser Volk muss fruchtbarer werden.« Er blickte zu ihr auf; offenbar hatte er etwas anderes gemeint. »Du musst unsere Weibchen segnen, damit sie uns mehr Welpen gebären. Wir werden die Elfen in den Schößen unserer Weiber besiegen. Wenn die Elfen einen Krieger verlieren, dann brauchen sie hundert Jahre oder mehr, um ihn zu ersetzen. Wir werden viel schneller Nachwuchs haben. Du hattest Recht, Skanga, wie immer. Lassen wir uns Zeit. Wir werden Emerelle und ihre verfluchte Brut besiegen. Das ist unser Schicksal. Wir werden den Thron im Herzland besteigen.«

»So wird es kommen, mein König. Und ich werde immer an deiner Seite sein.« Ihre Linke krallte sich in seine Schulter, während die Rechte den Griff des Opfermessers umschloss. Branbart blickte jetzt wieder auf das weite Land hinaus. Er bemerkte nicht, wie sie das Obsidianmesser aus dem Beutel zog. Sie hatte die schwarze Klinge einst selbst geschlagen, zu Zeiten, als sie noch sehen konnte. In Jahrhunderten hatte die gewellte Steinschneide nichts von ihrer Schärfe verloren. Ein Schnitt ...

Branbart stieß ein gurgelndes Geräusch aus.

Skanga trat rasch einen Schritt zurück, damit der König sie nicht im letzten Augenblick noch packen konnte. Das Opfermesser hatte tief in seine Kehle geschnitten. Er bäumte sich mit all seiner Lebenskraft gegen den Tod auf. Seine Aura flammte strahlend hell auf, Licht umstrahlte ihn in allen Farben des Regenbogens. Dann wurde es blasser.

Branbart war mit einem Traum gestorben. Er hatte wieder ein Ziel vor Augen gehabt. In diesem Augenblick war er glücklich gewesen. Doch Skanga kannte ihn zu gut. Das Glück hätte nicht lange gehalten.

Das Leben des Königs war vergangen, auch wenn noch immer ein blasser Lichtglanz um seinen hingestreckten Leib spielte. Skanga kniete neben ihm nieder. Sie drückte ihm die Augen zu, und ihre Hände fuhren ein letztes Mal über seine vernarbte Stirn. »Ich liebe deine Seele, Branbart. Um ihretwillen habe ich es getan, bevor sie Schaden nehmen konnte.«

Mehr als eine Stunde kniete sie neben dem toten König und dachte an den langen Weg, den sie gemeinsam zurückgelegt hatten. Dann durchsuchte sie Branbart und nahm alles an sich, was den Rang des Toten auf diesem einsamen Hügel hätte verraten können. Den schön geschnitzten Knochenring, den sie ihm am Tag seiner Krönung geschenkt hatte, seine mächtige Kriegskeule, die Jadeschnalle seines Gürtels, die einen gewundenen Drachen zeigte. Sie wickelte all diese Schätze in den Lendenschurz des Königs. Sie würde sie vergraben oder in einem See versenken. Was dann noch von Branbart blieb, würde vergehen. Ein Gürtel, ein paar Federamulette, das war alles. Drei Tage, und die Raben würden den Leichnam völlig unkenntlich gemacht haben. Und in längstens vier Wochen blieben vom gefürchtetsten Krieger Albenmarks nur noch bleiche Knochen.

Als die Schamanin ihre Arbeit beendet hatte, sah sie sich um. Langsam wanderte ihr Blick über das weite Land. Sie suchte die Auren rings herum, schätzte sie und grunzte schließlich zufrieden. Hunderte Augen hatten ihre Tat beobachtet, doch sie blickten ohne Verstand. Eine große Sippe Murmeltiere, eine Herde Wisente, ein Hase, ein Fuchs, ein Reh, ein Marder und ein Falke hoch am Himmel, das waren die einzigen Zeugen.

Die kleine, fuchsköpfige Gestalt am nahen Waldesrand bemerkte Skanga nicht, denn die Lutin hatten es wie kein anderes Volk gelernt, im Verbogenen zu bleiben.

Brief eines Unbekannten

»Also heute wollte ich den Hasenzauber üben, weil Meister Gromjan mir das befohlen hat, und es ist immer besser zu tun, was Meister Gromjan sagt, sonst kommt er wieder mit seinem Rohrstock. Deshalb saß ich im Wald am Grünaugensee, dort, wo man die besonders großen Forellen fängt und wo Liza mir eine Ohrfeige gegeben hatte, als ich ihr hatte zeigen wollen, dass Küssen auch Zauberei ist. Gromjan hatte mir dreimal gesagt, dass ich auf die Adler Acht geben muss, wenn der Zauber denn klappt, was er mir nicht zutraute, weil er mich für einen erbärmlichen Stümper hält, aber ich habe es geschafft, und ich habe auf die Adler geachtet, denn wenn Meister Gromjan etwas dreimal sagt, dann ist es immer sehr wichtig. Dass einem als Hasen dauernd die Ohren vor die Augen klappen, hatte Meister Gromjan nicht gesagt, und überhaupt habe ich keinen einzigen Adler am Himmel gesehen, wenn mir nicht gerade die Ohren vor den Augen hingen. Weil ich aber auf Meister Gromjan höre, wenn er etwas dreimal sagt, habe ich mich brav ins Dickicht am Waldrand gekauert und gelangweilt, außer als der Fuchs vorbeikam, der mich natürlich sofort erkannt hat, weil ja jeder Fuchs einen Lutin erkennt, wenn er einem begegnet. Wir haben gerade darüber gestritten, ob Murmeltiere roh oder gebraten besser schmecken, wobei ich glaube, dass der Fuchs nur deshalb so energisch für rohe Murmeltiere war, weil er mit seinen Pfoten keinen Feuerstein halten kann, da waren plötzlich die beiden Riesen auf dem Hügel. Der Fuchs meinte ja, es seien Minotauren, aber er wollte nur mit seinem Wissen angeben, und überhaupt hatten die beiden keine Hörner am Kopf und waren zehnmal so groß wie ein großer Kobold, und deshalb können es nur Riesen sein. So plötzlich, wie sie da auf dem Hügel standen, konnten die Riesen nur durch ein Tor von den Albenpfaden gekommen sein, und das, obwohl Meister Gromjan sagt, Riesen können gar nicht zaubern. Aber ich darf ja gar nichts von den Albenpfaden wissen, weil ich noch manchmal nachts im Schlaf zaubere, wenn ich unruhig träume, und schlimme Dinge geschehen können, wenn man ein Tor aus Versehen öffnet; ich weiß aber trotzdem davon, weil mein großer Bruder es mir verraten hat, denn er reist sehr oft auf den Pfaden aus Licht. (...) wenn meine Sippe streitet, dann schreien sie sich immer an, und am Ende sitzen wir alle beisammen, und uns hängt die Zunge aus dem Hals, weil wir so geschrieen haben. Aber die Riesen sind anders, man hatte gar nicht gemerkt, dass sie Streit haben, als die alte Riesin hinging und dem anderen Riesen den Hals durchgeschnitten hat.

(...) Und dann hat sie all seine Sachen in ein Lederbündel gepackt und sich ganz lange umgesehen. Ich konnte riechen, wie der Fuchs sein Wasser nicht halten konnte, so finster hat sie zu uns zum Waldrand geschaut, und ich war froh, dass ich keine Hosen anhatte, so konnte ich einfach in den Busch pinkeln, und als mir dann die Ohren vor die Augen geklappt sind, da war mir das auch recht. Dann ist sie gegangen, die schlimme Riesin mit den weißen Augen, und das Bündel mit den Sachen hat sie in den Grünaugensee geworfen, und sie hat auch schöne Lichter an den Himmel gezaubert. ( ...) Dann sind wir also zum See hinab, und ich habe mit den Bibern geredet, während mein Freund, der Fuchs, am Ufer auf und ab gelaufen ist, weil ihm vom langen Herumstehen in den Büschen die Pfoten ganz unruhig geworden waren. Die Biber fanden es einen guten Vorschlag, den blutigen Ledersack aus dem See verschwinden zu lassen, und haben sich nach Kräften ins Zeug gelegt, um ihn ans Ufer zu schaffen, obwohl der Sack so schwer war, dass sogar eine Hornschildechse unter seinem Gewicht gestöhnt hätte — und denen kann man ja sogar kleine Häuser aufladen, ohne dass sie sich beschweren und bockig werden. Mit dem Sack hatte ich dann natürlich ein Problem, weil ich ja nicht so stark wie eine Hornschildechse bin, deshalb habe ich mich verwandelt und meine eigentliche Gestalt angenommen und mich daran gefreut, dass mir nun nicht mehr dauernd meine langen Ohren vor die Augen klappten. Als dann jeder sehen konnte, wer ich bin, da habe ich zwei Hirsche gefunden, die mir tragen helfen wollten; eigentlich wollten sie ja nicht, aber als ich von Meister Gromjan und dir erzählt habe, da wollten sie ja doch, denn es ist klüger, mit so berühmten Lutin keinen Ärger anzufangen. Ein richtiger Schatz war ja nicht in dem Sack, aber die Gürtelschnalle war hübsch, denn sie ist aus einem Stein, wie ich ihn noch nie gesehen habe, und zeigt einen großen, schuppigen Wurm, der sich wild windet und böse dreinschaut. Meister Gromjan habe ich meine Geschichte dreimal erzählen müssen, da wusste ich, dass sie sehr wichtig ist, und habe beschlossen, dir davon zu schreiben, damit du auch Bescheid weißt, denn du sagst ja immer, du müsstest über die wichtigen Angelegenheiten der Sippe immer in Kenntnis gesetzt werden. Gromjan ist im Dunkeln noch mal los, weil er etwas mit dem Kopf des Riesen machen wollte, wo ich nicht dabei sein durfte, obwohl ich ihm sagte, dass ich das nicht gerecht finde, und als ich geschimpft habe, hat er mir den Rohrstock gezeigt, da bin ich weggelaufen und hab mir die Birkenstreifen gesucht, denn ich weiß, wenn du ihm sagen wirst, du hättest es auch nicht gerecht gefunden, dass er mich nicht mitgenommen hat, dann wird er es sich beim nächsten Mal dreimal überlegen, ob er mich mit dem Rohrstock davonjagt. (...)« [1]

Aus: Truhe XVII, Akte 5, Dokument 32 B

Sammlung der Prozessakten im Fall des

Fürstenhauses von Arkadien gegen

den Mörder und Hochverräter Elija Glops

Unter Menschen

Ollowain wedelte verzweifelt mit einem parfümierten Tuch, doch nichts vermochte den durchdringenden Gestank des Hafens zu überdecken. Neidisch betrachtete er Ganda. Der Lutin schien der üble Geruch nichts auszumachen. Sie hatte für die Reise in die Welt der Menschen die Gestalt eines kleinen Mädchens angenommen und stand jetzt neben dem Kapitän, der die plumpe Galeere durch das überfüllte Hafenbecken steuerte. In ihrem perlenbestickten Kleid mit dem feinen Schleier, der ihr Gesicht kaum verhüllte, und mit den großen dunklen Augen sah die Lutin sehr unschuldig aus. Sie hatte die Herzen der Besatzung im Sturm erobert. Alle liebten das kleine Mädchen. Sie hatten ja keine Ahnung, wen sie da an Bord gelassen hatten!

Ganda redete kichernd auf den Kapitän ein. Ollowain wünschte, er wüsste, was die beiden beredeten. Der Schwertmeister verstand die Sprache der Menschen in dieser Weltgegend nicht. Sie war ein grobes Gestammel, kaum besser als das Grunzen der Trolle. Er hatte lange gebraucht, um sich die Sprache der Fjordländer anzueignen. Doch diesmal gab er sich nicht die geringste Mühe, etwas zu lernen. Sie würden nie wieder hierher kommen. Es war überflüssig, sich die Zunge mit solchem Kauderwelsch zu verbiegen. Wenn nur Ganda nicht so viel schwatzen würde! Am Ende verplapperte sie sich noch.

Der Elf strich über den Griff seines Schwertes. Selbst wenn die ganze Schiffbesatzung über sie herfallen sollte, würde er vermutlich keine ernsthaften Schwierigkeiten haben zu siegen. Doch es würde hunderte von Augenzeugen geben, und es war äußerst fragwürdig, ob sie aus dem Hafen entkommen könnten, selbst wenn er sich dazu überwinden würde, ins stinkende Wasser zu springen.

Ollowain suchte keinen Ärger, aber dieser Lutin traute er jeden Verrat zu. Wenn Ganda nur endlich aufhören würde, mit jedem dahergelaufenen Menschen zu reden. Das würde auf kurz oder lang zu Schwierigkeiten führen! Sie tat das, um ihn zu provozieren, Ollowain wusste das genau. Er sollte sich seinen Zorn nicht anmerken lassen, dann würde sie es vielleicht aufgeben.

Eine Weile betrachtete er die unerfreulichen Dinge, die in der Bugwelle vor der Galeere trieben. Fäkalien, Gemüsereste, Fischabfälle. Ein Stück entfernt trieb etwas Weißes auf einer dicken Planke. Es bewegte sich noch. Der Elf zuckte zusammen, als er erkannte, was er da sah: eine Katze, deren Hinterleib in helles Tuch gewickelt war, sodass er aussah wie ein Fischschwanz. Die Vorderläufe des Tieres waren auf die Planke genagelt. Und die Katze lebte noch! So etwas konnten sich nur Menschen ausdenken.

Ollowain dachte daran, das Tier mit einem Messerwurf von seinen Qualen zu erlösen. Vermutlich war die Katze eine Opfergabe an einen der obskuren Menschengötter. Leise fluchend erinnerte er sich, dass sie um keinen Preis auffallen durften. Ein oder zwei Stunden noch, dann wären sie in der Bibliothek. Die Reise war fast geschafft! Er musste sich zusammenreißen.

Der Blick des Schwertmeisters wanderte unstet hin und her. Es gab nichts, das es wert war, länger betrachtet zu werden. Zugegeben, für Menschenverhältnisse war der Hafen von Iskendria ungewöhnlich groß. Selbst in Albenmark gab es nur wenige Häfen, die größer waren. Aber nichts schien hier fertig zu sein. Und wenn ein Werk vollendet war, dann verloren die Menschen offensichtlich das Interesse daran und überließen es dem Verfall. Wenn man sich allein schon die hohe Mauer ansah, die den Hafen von der eigentlichen Stadt abriegelte ... Breite Schmutzstreifen zogen sich über den hellen Stein, und in den Fugen wucherte Unkraut, ja, an manchen Stellen klammerten sich sogar junge Bäume in das Gestein. Die Wurzeln würden das Mauerwerk schwächen, und all der Schmutz beleidigte das Auge, aber das schien niemanden hier zu stören.

Ganz deutlich sah er die funkelnden Helme von Wachen, die auf dem Wehrgang patrouillierten. Männer genug waren also vorhanden, um die Festungsanlagen in besserem Zustand zu halten.

Ollowain ertappte sich dabei, wie er die Schusswinkel der Bastionen abschätzte, die sich drohend über dem Hafen erhoben, und wie er in Gedanken einen Angriff auf Iskendria plante. Nach dem Gemetzel um Phylangan hatte er sich geschworen, nie wieder ein Kommando zu führen. Aber alte Gewohnheiten warf man nicht einfach ab wie einen staubbedeckten Umhang.

Erstaunlich, wie viele Schiffe im Hafen lagen. Es waren fast alles Galeeren, und sie hatten haarsträubende Baufehler. Was immer man von den Menschen halten mochte, eine Tugend besaßen sie zweifellos: Sie waren mutig bis zur Unvernunft. Sich in diesen besseren Eimern hinaus auf die hohe See zu wagen, erforderte schon einigen Schneid. Deshalb war der Schwertmeister auch entsetzt gewesen, als Ganda und Emerelle beschlossen hatten, das letzte Stück des Weges nach Iskendria an Bord eines Schiffes zurückzulegen. Allein die Tatsache, dass Ganda wirklich nach Ablauf einer Stunde mit einem Lederbeutel voller Reisegepäck im Thronsaal erschienen war, hatte Ollowains Weltbild einen derben Stoß versetzt. Er hätte jeden Eid darauf geschworen, die Lutin nach der Begegnung auf der Terrasse niemals wieder zu sehen.

Aber sie war nicht nur zurückgekehrt, sie hatte sogar einen Reiseplan gemacht. Ganda war der Meinung, dass die Yingiz, die nach Albenmark gelangt waren, keinen Weg zurück in die Dunkelheit des Nichts kannten. Sie waren in der Finsternis eingesperrt, und die wenigen, die entkommen waren, waren nun ausgesperrt. Aus eigener Kraft konnten sie die Schutzzauber der Alben angeblich nicht durchdringen. Infolgedessen war es gleichgültig, ob sie bei ihrem Gespräch auf der Terrasse belauscht worden waren. Die Yingiz konnten ihr Wissen nicht weitergeben.

Ollowain hielt das alles für hoch spekulativ. Seiner Ansicht nach gab es zu wenig Gewissheit, aber Emerelle war überzeugt gewesen.

Die Lutin war der Meinung, dass man sich Iskendria auf den Albenpfaden nicht direkt nähern sollte, denn auf dem Weg durch das Nichts wurden sie mit Gewissheit beobachtet. Man musste nicht sehr klug sein, um darauf zu kommen, welches Ziel Reisende verfolgen mochten, die aus Emerelles Thronsaal durch das Netz der Albenpfade nach Iskendria gingen. Deshalb wollte Ganda ihre Spur verwischen. Ihr Vorschlag war es gewesen, zunächst an einen Ort in der Menschenwelt zu reisen, von dort ein kurzes Stück Wegs durch die Welt der Menschen zu nehmen und dann durch einen Albenstern in Iskendria in die Bibliothek zu gelangen. Emerelle hatte zugestimmt. Niemand hatte Ollowain gesagt, dass sie auf einer verdammten Insel herauskommen würden. Dort hatten sie keine andere Wahl gehabt, als sich diesem Bretterhaufen anzuvertrauen, den die Menschen in ihrer Vermessenheit ein Schiff nannten. Dass die Galeere auf hoher See nicht gekentert war, war seiner Meinung nach einfach nur Glück. Die Spanten waren in zu weiten Abständen gesetzt, und der Rumpf war viel zu bauchig. Bei einem Sturm bestand Gefahr, dass das Schiff einfach auseinander brach, und wenn sich die Galeere einmal quer in schwere Dünung legte, dann würde sie schneller kentern, als man über Bord springen konnte.

Jämmerliches Maunzen riss Ollowain aus seinen Gedanken. Auf eine Planke genagelt trieb noch eine Katze vorbei. Dieses Barbarenpack! Nicht weit entfernt lag ein großes Floß. Priester in schneeweißen Wickelröcken sangen ein feierlich monotones Lied und wiegten dabei ihre nackten Oberkörper. Sie alle hatten sich die Schädel kahl geschoren. Selbst ihre Augenbrauen waren abrasiert. Die Augen waren mit einer dicken blauen Paste umrandet, was die Männer bedrohlich wirken ließ.

Rings um das Floß lagen dutzende kleiner Boote, in denen sich ärmlich gekleidete Gestalten drängten. Fischer, vermutete Ollowain. Gebannt verfolgten sie das seltsame Schauspiel. Blaugraue Weihrauchschwaden zogen über das schmutzige Hafenwasser und erstickten den erbärmlichen Gestank. Ein Mann in einem Leopardenfell streute neuen Weihrauch in die goldenen Feuerschalen auf dem Floß. Dann brachte man ihm eine weiße Katze. Das Tier schien benommen. Es leistete keinen Widerstand, als man ihm ein weißes Tuch eng um die Hinterbeine wickelte. Ein dickes Brett wurde herbeigetragen, in dessen Oberfläche Bildzeichen geschnitzt waren.

Jemand reichte dem Mann im Leopardenfell einen silbernen Hammer.

Der Schwertmeister wandte den Blick ab, doch seine Ohren vermochte er nicht zu verschließen.

»Du solltest nicht so herumstehen, als hättest du einen Speerschaft verschluckt, geschätzter Schwertfuchtler. Und du solltest die Menschen nicht nach deinem Maß messen, Ollowain.«

Ganda war von achtern zu ihm herübergeschlendert. Sie war so klein, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um über die Reling zu blicken. Mit einer vagen Geste deutete sie in Richtung des Floßes. »Die Priester der Bessa gelten noch als sehr friedlich. Balbar hingegen, der Stadtgott von Iskendria, muss eine blutdürstige Monstrosität sein. Der Kapitän wagte es selbst als Fremder kaum, den Namen dieses Ungeheuers in den Mund zu nehmen.«

Die Lutin zuckte mit den Schultern. »Auf der anderen Seite gibt es in keiner anderen Stadt so viele wunderbare Kunstwerke wie in Iskendria. Die Tempel und Paläste suchen ihresgleichen. Man hat hier sogar eine Bibliothek, in der 500 000 Schriftrollen lagern. Klingt wie ein fernes Echo, nicht wahr?«

»Vielleicht ahnen sie, was unter ihrer Stadt verborgen liegt?«

Ganda lächelte ihn an. »Du spielst das nicht, oder? Du hast wirklich keine Ahnung ... 'Unter der Stadt' ist gut. Da wirst du nur Rattenlöcher finden. Die Bibliothek von Iskendria liegt in der Zerbrochenen Welt. Sie treibt auf einem riesigen Felsklotz durch das Nichts. Die einzigen sicheren Albenpfade dorthin beginnen hier in der Hafenstadt. Daher hat sie ihren Namen.«

Sie leckte sich mit ihrer kleinen rosa Zunge die Nasenspitze.

»Vielleicht ist es auch anders herum. Vielleicht haben die Albenkinder der Stadt hier ihren Namen gegeben. Iskendria ... Das klingt irgendwie zu hübsch für ein Menschenwort, findest du nicht auch?« Ollowain stand nicht der Sinn nach Belehrungen. »Ich finde, du solltest aufpassen, was du mit deiner Zunge tust. Du hast keinen Fuchskopf mehr. Ich glaube nicht, dass Menschen sich die Nasen lecken.«

Die Lutin legte den Kopf schief und sah ihn aufmerksam an.

»Was ist eigentlich los mit dir, Elf? Musst du immer an etwas herumnörgeln? Muss man ein Elf sein, um vollkommen zu sein?«

»Ich mache mir nur Gedanken darüber, dass wir nicht auffallen.« Er zupfte an dem Turban, den er trug. »Mir kocht in der Hitze das Hirn, aber ich verberge meine Ohren.« Seine Hand strich über sein weites, fast bodenlanges Gewand. »Ich habe ein Kleid angezogen, weil die Männer hier das tun.«

Er sah sich missmutig um. »Obwohl ich hier an Bord niemand anderen entdecken kann, der sich so weibisch kleidet wie ich. Wie du schon bemerkt haben wirst, schwitze ich. Das erwartet man nicht bei Elfen, nicht wahr? Leider bin ich in dieser Hinsicht etwas anders veranlagt als die anderen meines Volkes. Mir klebt dieses läppische Kleid am Leib. Und als sei das alles nicht genug, stinkt es in diesem Hafen so erbärmlich, dass man wohl auf der Stelle ohnmächtig würde, wenn man einmal tief durchatmete. Trotzdem bemühe ich mich, mich so zu verhalten, als sei all dies normal für mich. Wir wollen schließlich nicht auffallen. Und was machst du? Du leckst dir mit der Zunge die Nase. Verdammt noch mal, ist dir eigentlich egal, ob unsere Mission Erfolg hat? Kannst du dir nicht wenigstens ein klein bisschen Mühe geben? Oder ist das zu viel verlangt von einer Lutin?«

»Wenn du dir solche Sorgen machst, dass du weibisch wirken könntest, dann solltest du aufhören, dieses parfümierte Tüchlein zu schwenken.« Ganda grinste spöttisch. »Und was dein Kleid angeht ... Das ist eine ganz übliche Kleidung für einen Krieger aus der Wüste. Ob du es glaubst oder nicht, Emerelle und ich haben uns etwas dabei gedacht, als wir diese Verkleidung für dich ausgesucht haben. Die Wüstenkrieger gelten als eigenbrötlerisch, wortkarg und aufbrausend. Und sie haben einen üblen Ruf als Schwertfuchtler ...« Ihr Grinsen hatte nun etwas Herausforderndes. »Lichtet sich nun der Schleier um unsere rätselhafte Entscheidung, oder muss ich es noch genauer erklären?«

Ollowain knüllte das Tuch zusammen und ließ es ins Hafenbecken fallen. Er hätte sie erwürgen können ... Das alles hätte sie ihm auch früher sagen können. Und diese Art, von der Königin zu sprechen ...

Das alles hier würde nur ein paar Tage dauern, ermahnte sich der Schwertmeister in Gedanken. Er musste sich zusammenreißen, er zählte nichts. Es ging allein darum, den Auftrag der Königin zu erledigen. Sie würden in der Bibliothek nach dem Wissen der Alben forschen und zurückkehren. So schwer konnte das ja nicht sein. Die Bibliothekare würden ja wohl wissen, was in ihren Büchern stand!

»Mache ich noch weitere Fehler?«, fragte Ollowain betont gleichmütig.

»In Bezug auf deine Kleidung oder eher allgemein?«

»In Bezug auf unsere Mission. Alles Weitere geht dich nichts an.«

»Glaubst du etwa, ich würde darüber hinaus etwas mit dir zu tun haben wollen?«

Bleib ruhig, ermahnte er sich erneut. »Schön, dass wir uns wenigstens in einem Punkt einig sind. Also, mache ich, was meine Verkleidung angeht, einen weiteren Fehler?«

Ganda leckte sich herausfordernd mit der Zunge über die Nasenspitze. »Nein. Die Verkleidung sitzt. Und was viel wichtiger ist, der Mann darin erfüllt genau die Erwartungen, die man hier an einen Wüstenkrieger hat. Steif, stolz und stumm. Alles vollkommen.«

Ollowain wandte sich ab und beobachtete, wie die Galeere an einem langen, steinernen Kai anlegte. Die Ruder wurden eingezogen. Das schwere Schiff rieb sich knirschend an dicken Taurollen, die verhindern sollten, dass der Rumpf Schaden nahm. Eine Laufplanke wurde an Bord geschoben. Auf dem Kai drängten sich Händler, die dem Kapitän etwas zuriefen und offenbar gleich an Ort und Stelle mit dem Ankauf der Ladung beginnen wollten.

»Erwartet man von uns, dass wir uns in irgendeiner Form verabschieden?«, fragte Ollowain, ohne zu Ganda hinabzublicken.

»Das habe ich eben schon erledigt. Wir können gehen, Vater.«

Der Schwertmeister griff nach ihrer Hand und eilte den steilen Laufsteg hinauf. Ganda konnte kaum mit ihm Schritt halten und beklagte sich lauthals. Wie hatte sie ihn genannt? Steif, stolz und stumm. Solche Väter gaben nicht viel um die Klagen ihrer Töchter.

Das Gedränge bremste den Schwertmeister schon nach wenigen Schritten. Der Hafen war schlecht geplant. Hier trieben sich viel mehr Menschen herum, als seine Erbauer erwartet hatten. Sie schoben sich an ihnen vorbei und knufften sie mit den Ellenbogen, um Platz zu bekommen. Der Gestank der ungewaschenen Leiber raubte Ollowain den Atem. Längst wünschte er, er hätte sein parfümiertes Tuch nicht ins Hafenbecken geworfen. Rasch legte er die Linke auf seine Geldbörse. Sicher trieben sich hier auch Diebe herum. Der Ort war wie geschaffen für sie.

Eine Kolonne halb nackter Männer kreuzte ihren Weg, die auf breiten Schultern Säcke trugen. Sie hatten hölzerne Beißringe zwischen den Zähnen, um vor Anstrengung nicht so fest die Zähne aufeinander zu beißen, dass sie brachen.

Traniger Gestank wehte von einer Braterei herüber, wo kleine Fleischfetzen auf Holzspießen schmorten. Ein Schreihals pries die Schönheit eines schneeweißen Wasserbüffels an. In Käfigen auf einer niedrigen Tribüne konnte man noch weitere Tiere sehen. Einen Affen, mehrere Tauben, sogar eine weiße Schlange gab es dort, außerdem reichlich Hunde und Katzen.

»Der Kerl hat aber tüchtig mit Kreidestaub nachgeholfen«, rief Ganda belustigt. »Vielleicht sollte ich mir so ein Opfertier kaufen und einen der Stadtgötter darum bitten, dass du mir nicht den Arm ausreißt, wenn du es das nächste Mal wieder eilig hast.«

»Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er kleine blasshäutige Mädchen kauft?«, entgegnete Ollowain entnervt.

Ganda sah ihn eindringlich an. Dann entwand sie ihre Hand seinem Griff. Warum war sie plötzlich so empfindlich? Wer so austeilte wie sie, der sollte auch etwas einstecken können. Er hielt sich dicht bei ihr, damit sie im Gedränge nicht verloren ging. Sie wechselten kein Wort mehr miteinander.

Der Schwertmeister führte sie in Richtung des Hafentors, ein enges Nadelöhr, durch das alle Besucher und Waren in die Stadt gelangten. Plötzlich bemerkte er einen Trupp Soldaten. Vor ihnen teilte sich das Geschiebe. Die Krieger trugen kurze Panzerhemden aus silbernen Schuppen und Röcke aus dicken Leinenstreifen. Ihre großen, runden Schilde waren weiß und zeigten in Blau das Wappen eines springenden Delfins. Auf den wuchtigen Bronzehelmen wippten weiße Rosshaarkämme. Eine eindrucksvolle Truppe für die Verhältnisse der Menschen, dachte Ollowain. Sie hatten ihre Schwerter links seltsam hoch über der Hüfte gegürtet und trugen Speere mit schlanken Stichblättern.

Der Elf versuchte im Gedränge zu verschwinden und ihnen aus dem Weg zu kommen, doch in seinem langen weißen Kleid und mit dem zierlichen Mädchen an seiner Seite, war er eine zu auffällige Gestalt. Der Kommandant der Soldaten winkte ihm zu.

»Er weiß, dass du ihn gesehen hast. Bleib stehen, wenn du noch einen Rest von Verstand zwischen deinen langen Ohren hast.«

Auch ohne ihre Warnung wusste Ollowain, dass es zu spät war. Wenn sie jetzt versuchten, den Wachen zu entkommen, würden sie sich nur verdächtig machen. Also blieb er stehen und lächelte den Wachoffizier freundlich an.

Der hochgewachsene Kommandant richtete eine Frage an ihn. Sein Tonfall war höflich, aber bestimmt. Ollowain verstand kein Wort. Nervös blickte er zu der Lutin.

Ganda lächelte und begann mit einem grässlichen Akzent auf den Krieger einzureden. Dazu gestikulierte sie mit den Armen und schnitt seltsame Grimassen.

Ollowain beobachtete den Anführer des Wachtrupps verstohlen aus den Augenwinkeln. Der Mann runzelte die Stirn, als missfalle ihm, was er hörte. Dann bedachte der Hauptmann ihn mit einem eigenartigen Blick. Der Menschenkrieger war gut rasiert und duftete leicht nach Rosenwasser. Ollowain vermied es, ihm offen ins Gesicht zu blicken.

Ganda redete noch immer auf den Offizier ein. Ihre Worte schienen den Mann mehr und mehr aufzuwühlen. Was, zum Henker, erzählte sie nur? Und warum sah ihn der Kerl jetzt so mitleidig an?

Die Lutin deutete hinüber zum Hafentor. »Wir müssen einen Wegezoll entrichten, wenn wir die Stadt betreten wollen. Zwei kleine Kupfermünzen sind genug.«

Ollowain kramte in seiner Börse und gab dem Offizier das Geld. Immer noch vermied er es, ihm offen ins Antlitz zu blicken. Plötzlich packte ihn der Krieger bei den Schultern und drückte ihn an sich. Dabei sagte er etwas voller Inbrunst, was einige der Speerträger dazu veranlasste, stumm zu nicken. Dann überreichte er Ollowain ein kleines Kupfertäfelchen, in das ein springender Delfin geprägt war.

Verwundert blickte Ollowain dem Offizier nach. Der hatte indessen schon einen anderen Reisenden aus der Menschenmenge gepickt.

»Was hast du ihnen gesagt?« Er flüsterte, obwohl ihn außer Ganda hier ohnehin niemand verstehen könnte.

»Das willst du gar nicht wissen.« Die Lutin lächelte kokett, so wie nur Kinder hätten lächeln sollen.

»Gestattete, dass ich meine Entscheidungen selbst treffe. Wenn ich deinen Rat brauche, werde ich dich darum bitten. Bis dahin tust du, was ich sage. Was war mit diesem Hauptmann los? Was sollte dieser Abschied?«

Ganda lachte leise. »Ein herzensguter Mann, nicht wahr? Wenn er etwas kleiner wäre, könnte er mir durchaus gefallen.«

»Ganda ...«

»Ja, ja.« Sie winkte ab und lachte noch immer. »Er meinte, eigentlich dürfe er dich bei deinen finsteren Absichten nicht in die Stadt lassen, aber er sei überzeugt, dass dein Zorn gerecht sei, und er wünschte dir, dass du den Tag erleben wirst, an dem Balbar dir die Gnade gewährt, deine Feinde mit ihren eigenen Eingeweiden zu erwürgen. Freundlich, nicht wahr? Ich sagte ja: ein herzensguter Mann.«

»Was für Feinde?« Sie hatten inzwischen die Menschentraube erreicht, die sich vor dem engen Hafentor drängte. Der Lärm dort war ohrenbetäubend. Ohne Disziplin drängten und schoben die Leute und schrieen mit sich überschlagenden Stimmen durcheinander. Nur an einer Seitenpforte ging es etwas zügiger voran. Ganda ging an der langen Schlange Wartender vorbei zu diesem kleineren Tor.

Ollowain fiel auf, dass jene, die dort passierten, gepflegter aussahen als die Scharen von Schauerleuten, Eselstreibern, Ruderern, Huren und Sklaven, die am Haupttor um Einlass kämpften. Schon das Tor war prächtiger gestaltet. Es öffnete sich zwischen zwei schlanken Türmen, die mit blau-weiß emaillierten Kacheln geschmückt waren. Die Kacheln fügten sich zum Bild springender Delfine. Unter dem Torbogen, zwischen den Wachen, stand ein Priester mit kahl rasiertem Schädel. Er hielt einen Bund hellblauer Blumen in der einen Hand und eine flache Wasserschale in der anderen. Jedes Mal, wenn jemand das Tor passierte, tauchte er die Blumen ins Wasser und besprengte den neuen Gast der Stadt. Welch ein seltsamer Brauch! Erst als Ollowain bemerkte, dass die meisten Neuankömmlinge dem Priester daraufhin eine Münze in Schale warfen, ging ihm der tiefere Sinn dieser Übung auf. Der Mann war ein Bettler seines Gottes. Wie erbärmlich die Religion der Menschen doch war. Was waren das für Götter, die ihre Diener zu Bettlern machten? Was war an ihnen anbetungswürdig, wenn sie nicht einmal ihre ergebensten Diener versorgen konnten?

»Du musst den Wachen das Kupfertäfelchen zeigen. Das ist unser Passierschein«, raunte Ganda.

Ollowain war an der Reihe, doch statt das Tor zu durchschreiten, war er stehen geblieben und starrte den Priester an.

Der Wachmann stellte eine Frage.

»Nun mach schon«, drängte Ganda.

Ollowain drückte dem Krieger das Kupfertäfelchen in die Hand. Sie wurden durchgewunken und pflichtgemäß mit Wasser besprengt. Auf eine Spende für den Gott des Glatzkopfs verzichtete er, was ihm einen bösen Blick des Priesters einbrachte.

Hinter dem Tor erstreckte sich eine breite, ordentlich gepflasterte Straße bis tief ins Herz der Stadt. Der Schwertmeister war überrascht zu sehen, wie groß Iskendria war. Die hohe Hafenmauer hatte das Häusermeer vor seinen Blicken verborgen. Nach Norden hin stieg ein flacher Hügel an. Dort standen prächtige Paläste und Tempelanlagen. »Ich hoffe, die Königin hat dir gesagt, wohin wir gehen sollen.«

»Du wirst mir wohl vertrauen müssen.« Ihr unverschämtes Grinsen unterstrich das Paradoxon, solche Worte aus dem Mund einer Lutin zu vernehmen. Sie deutete zu den Hügeln.

»Wir müssen dorthin. Emerelle hat mir den Weg beschrieben. Da gibt es ein großes Handelskontor. Eine Elfe, die sich als Menschenweib verkleidet, leitet es. Sie heißt Sem-la. In ihrem Haus, verborgen in einem Kellergewölbe, liegt der Albenstern, der uns in die Bibliothek führen wird.«

Ollowain ergab sich in sein Schicksal; er war der kleinlichen Streitereien müde. »Geh voraus und zeig mir den Weg. Und dann erzähl mir endlich die Geschichte, die du dem Hauptmann der Wachen aufgetischt hast.«

Ganda räusperte sich. »Wissen macht einen nicht immer glücklicher. Das ist doch völlig belanglos.«

»Nicht für mich.«

»Dann schwöre mir, dass du nicht zornig wirst. Ich wollte dich davor bewahren.«

»Rede endlich!«

»Du musst erst schwören.«

Was dachte diese Lutin sich eigentlich? Dass er in wilder Raserei mit dem Schwert über sie herfallen würde? »Ich schwöre, dass ich nicht zornig werde und dich nicht schlagen werde oder dir irgendein anderes Leid zufüge. Und jetzt rede.«

Gandas Augen blitzten verschlagen. »Gut. Du giltst als der Ehrenhafteste unter den elfischen Schwertfuchtlern. Ich stelle mich also unter den Schutz deines Eides. Es ist übrigens dieselbe Geschichte, die ich dem Kapitän der Galeere über dich aufgetischt habe.«

Von Märchen, Gottesbräuten und einer Verbannten

Der Elf hielt sich so steif, als habe man ihm das Schwert in den Allerwertesten geschoben. Welch ein überheblicher Bastard! Aber seinem Eid konnte man gewiss trauen.

Ganda überlegte kurz, ob sie ihre Geschichte noch weiter ausschmücken sollte, verwarf den Gedanken daran aber wieder. Auf die Vorgeschichte ging sie nicht weiter ein. Wenn er darum wüsste, würde er sich weniger ärgern, und er war irgendwie süß, wenn er mit seinem Zorn rang.

»Ich habe den Seeleuten erzählt, dass wir zum Volk der Söhne Zeynels gehören«, begann Ganda im verhaltenen Tonfall der blinden Märchenerzähler von Tanthalia. »Das ist ein bedeutender Nomadenstamm, der tief im Süden über die großen Handelswege durch die Wüste wacht und dort alle Oasen beherrscht. Du bist Arban ben Chalasch, der Verbannte. Hübscher Name, nicht wahr?«

Sie blickte zu ihm auf. Jedes Mal musste man den Kopf in den Nacken legen, wenn man mit einem Elfen sprach. Nie kamen sie auf die Idee, dass es für die Lutin vielleicht angenehmer wäre, wenn man sich zum Reden setzte. Ollowain hob eine Braue.

»Ja, ja. Ich erzähl schon weiter. Also, ich habe erklärt, dass du mein Vater bist und dass du der beste Schwertkämpfer unseres Fürsten Karim warst. Wann immer es Zwistigkeiten zwischen den Sippen gab, die Worte nicht mehr beizulegen vermochten, hat er dich geschickt. Und du bist niemals besiegt worden. So mehrten sich von Jahr zu Jahr dein Ruhm und der Reichtum unseres Fürsten. Leider wuchs die Zahl eurer Neider noch schneller. Und da kein Schwert dich zu besiegen vermochte, mussten Worte das Werk vollbringen, für das Stahl zu schwach war. Zunächst versuchte man dich mit den Reizen schöner Sklavinnen zu locken, doch du warst meiner Mutter in so inniger Liebe zugetan, dass auch dieser Versuch, dir zu schaden, keine Früchte trug. Da deine Feinde keine Schwäche bei dir finden konnten, versuchten sie es nun umso verzweifelter bei unserem Fürsten. Und so edel und gerecht Karim auch war, fanden sie tatsächlich einen Punkt, in dem die Taten unseres Fürsten nicht von kühlem Verstand, sondern von heißem Herzen gelenkt wurden. Du musst wissen, edler Vater, unser Fürst war bei all seinen Vorzügen kein sehr ansehnlicher Mann. Ihm gereichte zum Vorteil, dass die Männer unseres Volkes ein bodenlanges Gewand tragen und sich verschleiern, um sich vor dem brennenden Blick der Sonne und dem erstickenden Staub in der Luft zu schützen. Seit einer Krankheit in Kindertagen waren Leib und Antlitz des Fürsten Karim von hässlichen roten Narben entstellt. Desto mehr erfüllte es ihn mit Stolz, dass er die wunderbare Arsinoe zum Weib hatte gewinnen können, von deren gazellenhafter Schönheit man selbst in den Palästen Iskendrias sprach. Hier nun setzten eure Feinde zum tödlichen Stoß an. Sie bestachen die Berater des Fürsten und sponnen ein Netz feiner Lügen um dich und die schöne Arsinoe. Mal hieß es, dein Blick habe einen Herzschlag zu lange auf ihrem wunderbaren Antlitz verweilt, dann tuschelte man, du habest über den Fürsten gespottet, weil er noch immer kein Kind gezeugt habe. Ja, manche munkelten sogar, du seiest ein so treuer Diener, dass du im Geheimen darüber nachdächtest, den Fürsten und seine Gemahlin vom Makel der Kinderlosigkeit zu befreien. So wie Wind und Wüstensand mit der Zeit selbst den härtesten Fels nach ihrem Willen formen, so blieben auch die giftigen Worte auf Dauer nicht ohne Wirkung. So sehr Fürst Karim dir auch vertraute, langsam begann die Saat des Zweifels in seinem Herzen zu keimen. Er schickte dich auf lange Reisen, damit du und Arsinoe nicht am selben Ort weilten. Immer herrischer wurde er in seinen Forderungen gegen seine Nachbarn, immer dünner der Schild seiner Ehre, und immer häufiger fand er einen Grund, dich zu schicken, um seine Händel auszufechten. Manch wackerer Krieger musste sterben, weil Karim fürchtete, dich in seiner — und somit auch Arsinoes — Nähe zu wissen. Wohl niemals wird man erfahren, was dir letztlich zum Verhängnis wurde, ob es der Wille eines übellaunigen Gottes war, ein tragischer Zufall oder ein letzter geschickter Streich deiner Feinde. Es geschah an einem heißen Frühlingsmorgen, dass Arsinoe aufbrach, um in ihrem Oasengarten Einsamkeit und köstliche Kühle zu suchen. Du sahst sie von fern und grüßtest sie. Doch wagtest du dich nicht in ihre Nähe, denn auch du hattest schon von den dunklen Gerüchten gehört, die sich um dich und die schöne Fürstin rankten, und wolltest diesen Geschichten keine neue Nahrung geben. Zumal Arsinoe ohne ihre Dienerinnen gekommen war und es auch sonst niemanden im Garten gab, der hätte bezeugen können, dass dies nicht der Ort eines heimlichen Stelldicheins war. Du wolltest dich gerade entfernen, als Arsinoe einen überraschten Schrei ausstieß. Dann stöhnte sie und sank zu Boden, wie von einem unsichtbaren Dolch gefällt. Alle Vorsicht außer Acht lassend, liefst zu deiner Herrin, und als du sie erreichtest, sahst du noch gerade eben einen Todeskussskorpion im Rosendickicht verschwinden. Das Gift dieser tückischen Bestie lässt sengenden Schmerz durch alle Adern rinnen, doch seine heimtückischste Wirkung ist, dass es dem Herzen den Mut zu schlagen nimmt. Arsinoe lag hingestreckt vor dir am Ufer eines kleinen Teiches, umgeben von weißen Lilien. Sie hörte schon nicht mehr, wie du sie beim Namen riefst. Und so tatest du, was jeder Aufrechte getan hätte. Du beugtest dich zu ihr hinab, um selbstlos um ihr Leben zu kämpfen. Ein weiserer Mann hätte vielleicht um Hilfe gerufen und eher an seinen Ruf gedacht, doch Weisheit und stolze Ehrenhaftigkeit gehen oftmals nicht Hand in Hand. Als man dich fand, hattest du noch immer nicht aufgegeben, um deine Fürstin zu ringen, und du warst dir sicher, dass ihr Herz wieder zu schlagen begonnen hatte, schwach und unregelmäßig wie der Flügelschlag eines Vogels, der zum ersten Mal seine Fittiche ausstreckt. Doch man zerrte dich von ihr fort. Von Ferne muss es ausgesehen haben, als beugtest du dich wie ein ungestümer Liebender über sie. Arsinoes Kleider waren unschicklich verrutscht, die Brust über ihrem Herzen nahezu entblößt. Trotz all deiner Bitten und Drohungen brachte man dich fort von ihr. Und Arsinoe starb, noch bevor die Sonne den Mittagsstand erreichte. Karims falsche Ratgeber flüsterten ihm ein, sie sei vor Scham an gebrochenem Herzen gestorben. Und er glaubte ihnen. Wind und Wüstensand hatten ihr Werk vollendet. Von dem Mann, der er einst war, war nichts mehr geblieben. Er ließ mich und meine Mutter holen. Und während man Mutter langsam mit einem breiten Seidenschal erdrosselte, musste sie zusehen, wie er dich mit einem glühenden Eisen deiner Männlichkeit beraubte. Auch ließ er deine Zunge kürzen, weil er deine vermeintlichen Lügen nicht länger hören wollte. Er entschied, dass seit Jahren kein wahres Wort von deiner Zunge geformt worden sei, und wünschte, dass in den Tagen, die dir noch blieben, kein deutliches Wort mehr über deine Lippen kommen solle. Und dann befahl er dem Folterknecht, dass er dir eine Narbe für jede einzelne Narbe zufügen sollte, die seinen Fürstenleib zeichnete. Und er ließ seine Gewänder fallen und entblößte seinen geschunden Körper, damit der Folterer sah, wie er seine Arbeit zu verrichten hatte. Selbst in den Augen jenes harten Mannes war für einen Augenblick lang Entsetzen zu sehen. Damit begann ein Martyrium, das viele Tage dauern sollte. Der Folterknecht verwendete seltene Salze, Affenhaar und Rosendornen, um zu verhindern, dass sich deine Wunden schlossen. In manche Wunden legte er sogar schwarzen Onyx, wie ein Goldschmied edle Steine in seine Schmuckstücke einfasst. So sah es aus, als starrten dunkle Augen aus deinem geschundenen Fleisch. Sieben Tage währte diese Marter schon, als dein Peiniger den Fehler machte, dich für einen gebrochenen Mann zu halten. Dafür zahlte er mit dem Leben, ebenso wie Fürst Karim, der den Befehl gegeben hatte, Mutter zu töten und mich zur Sklavin in seinem Palast zu machen, die man nachts zu den Ziegen sperrte, um sie zu demütigen. Auch zwei der falschen Berater des Fürsten erlebten das nächste Morgengrauen nicht. Doch dann mussten wir fliehen, denn deine Wunden hatten dich zu sehr geschwächt, und alle Krieger der Oase waren in hellem Aufruhr und versuchten, dich zu stellen. Männer, die jahrelang deine Freunde waren und die du in den Geheimnissen der alten Schwertmeister unterwiesen hattest, fielen vor deiner Klinge. So flohen wir in die Wüste. Vierzig Tage und vierzig Nächte blieben wir dort, und ich versorgte deine Wunden und lernte, die verstümmelten Worte zu verstehen, die über deine Lippen kamen. Die verräterischen Freunde des Fürsten waren klug genug, vor deinem Zorn zu fliehen. Trotz all der Krieger, die man zu ihrem Schutz aufbot, mochte keiner im Land der Söhne Zeynels bleiben. Unser Volk aber erklärte dich zum Verfemten, und man begann dich zu jagen, so wie du deinerseits ohne Gnade den falschen Ratgebern des Fürsten Karim nachstelltest. Und dies ist der Grund deiner Reise nach Iskendria. Du bist hier, um einem dieser Männer den Kuss deines Schwertes zu schenken.«

Erwartungsvoll blickte Ganda zu Ollowain auf. Jedes Mal, wenn sie die Geschichte erzählte, wurde sie besser. Sie schmückte sie aus, gab weitere Einzelheiten hinzu. Doch was hielt der Elf davon?

Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. Glomm in seinen Augen kurz der Funke herzhaften Lachens? Wenn dieser Mistkerl etwas offenherziger wäre und nicht all seine Gefühle hinter seiner Arroganz versteckte, dann wäre es leichter, mit ihm auszukommen!

Aber so waren sie, die Elfen. Vor allem jene aus dem eisigen Norden, die zum Volk der Normirga gehörten. Äußerlich waren sie Eisklötze, doch in ihrem Innersten glomm ein gefährliches Feuer.

»Soeben habe ich beschlossen, auf jeden Fall anwesend zu sein, wenn du unserer Herrin Emerelle vom Ausgang unserer Reise berichtest. Du bist wahrhaft eine begnadete Lügnerin, Ganda. Geschichten zu erfinden, scheint dir große Freude zu bereiten. Vielleicht ähnelst du den Beratern deines Fürsten Karim. Bist du wie der Sand und der Wind, die so lange an der Wahrheit nagen, bis niemand mehr ihr wahres Gesicht zu erkennen vermag?«

»Für dich werde ich immer nur sein, was du in meinem Volk siehst, Ollowain. Zumindest, was die Lutin angeht, hast du vor der Wahrheit schon lange die Augen verschlossen. Ich bin es leid, dich eines Besseren zu belehren oder dich wenigstens dazu zu bringen, in mir zuerst Ganda zu sehen, die immerhin das Vertrauen Emerelles genießt, und dann erst eine Lutin.« Und ich habe soeben beschlossen, dass du niemals erfahren wirst, was es mit dieser Geschichte wirklich auf sich hat, dachte Ganda. Sollte er ihr doch den Buckel runterrutschen! Verdammter Elf! Niemals würde er ihr glauben, dass sie ihm in der ersten Nacht auf der Galeere das Leben gerettet hatte. Wenn Ollowain wüsste, wofür man ihn gehalten hatte ... Sei‘s drum. Ihr Märchen um den tragischen Arban ben Chalasch war nützlich gewesen. Es war schon erstaunlich, dass Männer Geschichten um Verrat, Gemetzel und Blutrache viel lieber hörten als romantische Liebesgeschichten, die ein glückliches Ende nahmen. Eine Prise Liebe durfte schon dabei sein und auch ein Hauch Erotik, obwohl sie solche Erzählungen aus dem Munde eines jungen Mädchens gewiss nur verlegen gemacht hätten. Ganda lächelte still in sich hinein. Wie leicht es doch war, sie an der Nase herumzuführen. Selbst Ollowain war so berechenbar, wenn man ihn erst einmal ein bisschen kannte.

Mit weiten Schritten eilte sie voraus. Sie waren mehr als eine Meile gegangen, während sie ihre Geschichte erzählt hatte. Es dämmerte bereits. Doch im gleichen Maße, wie die Tageshitze wich und ein frischer Abendwind vom Meer her Einzug in Iskendria hielt, füllten sich die Straßen mit Menschen. Einige wollten offensichtlich noch letzte Einkäufe erledigen, andere vielleicht nur einen Spaziergang machen, bevor sie sich zur Ruhe legten.

Hohe Säulen säumten nun die Straße. Jede dritte trug in fünf Schritt Höhe einen Sims, auf dem eine überlebensgroße Statue aufgestellt war. Gewandet in grellbunt bemalte Gewänder, blickten sie würdevoll auf das Gewimmel zu ihren Füßen hinab. Auch die abendlichen Passanten teilten die Vorliebe für schreiende Farben. Es gab Männer, die rote Hosen mit goldgelbem Blütenmuster trugen, Kaufleute, die sich wie Fürsten in goldgesäumten Purpur hüllten und trotz der Hitze scheckige Pelzmützchen aufhatten. Frauen in Gewändern, so durchsichtig wie Gandas Schleier, kamen in Sänften die Straße entlang; jeder Schaulustige konnte die bunten Bilder und Muster begaffen, die sie sich auf die Haut hatten malen lassen. Manche bestäubten ihre Wangen mit Goldpulver und klebten sich winzige Edelsteine auf die Augenlider, eine Idee, an der Ganda Gefallen fand. Sie wünschte mehr Zeit zu haben, um diese aufregende Stadt zu erkunden. Und sie musste sich eingestehen, dass sie den Menschen Unrecht getan hatte. Nur selten war sie bei ihren Reisen über die Albenpfade in die Menschenwelt gekommen, und alle Orte, die sie bisher gesehen hatte, hatten in ihr nicht das Bedürfnis erweckt, sich länger dort aufzuhalten. Doch Iskendria war anders. Schon die Art, wie der Galeerenkapitän von der Stadt gesprochen hatte, hatte Ganda neugierig gemacht. Mal nannte er Iskendria eine offene Pestbeule, die jeder mit Verstand meiden musste, dann wieder sprach er von der Perle, dem kostbarsten Kleinod aller Meeresküsten. Er war der Stadt in inniger Hassliebe verfallen. Nirgendwo sonst, so sagte er, lagen Schönheit und Schrecken so dicht beisammen. Ausschweifend erzählte er von der Schönheit der Bauwerke und der Statuen, vom ehrgeizigen Streit der Dichter und Steinmetzen, das vollkommenste Kunstwerk zu erschaffen, von verrückten Fürsten, die stets nur ihre eigenen Geschwister heirateten, um das Blut der Familie rein zu erhalten. Von Kaufleuten, die in wenigen Jahren märchenhafte Schätze zusammentrugen und Feste feierten, die Königen würdig waren, so wie etwa die geheimnisvolle Sem-la, die eine ganze Flotte von Handelsschiffen ihr Eigen nannte, die in Geschäften stets eine glückliche Hand bewies und doch keinen Mann zu finden vermochte, mit dem sie länger als eine Nacht das Lager teilen wollte. Und er hatte von Balbar erzählt und der grausamen Priesterschaft des Gottes, die in Iskendria regierte.

Ollowain räusperte sich. Sie waren jetzt fast eine Meile schweigend nebeneinander hergegangen. »Als Märchen war deine Geschichte ja ganz hübsch. Nur wäre es mir lieber, wenn ich nicht als entmannter und verstümmelter Held die Hauptrolle darin spielen würde.«

War das ein Friedensangebot? Ganda war selbst überrascht, wie sehr es sie erleichterte, diese kindische Fehde mit dem Elfen womöglich beilegen zu können. Andererseits war sie zu stolz, um sofort auf Ollowains Angebot einzugehen.

»Was für eine Sorte Held bist du denn?«, fragte sie eine Spur schnippischer, als es eigentlich ihre Absicht war.

Ollowain ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Zu viel Zeit! Ihr Blick wurde angelockt von den Wundern der Stadt, sie lauschte den Rufen der Händler und atmete die tausend unbekannten Düfte, die Iskendria verströmte. Dann sah sie die zertretenen Blütenblätter auf den breiten Marmorplatten der Straße. Es waren frische Blüten. Und sie erinnerte sich an die schrecklichste Geschichte, die der Galeerenkapitän erzählt hatte. An die Hochzeit des Gottes Balbar, die in diesen unruhigen Zeiten jeden Tag auf dem prächtigen Tempelplatz gefeiert wurde.

»Ich glaube, ich bin ein trauriger Held«, sagte Ollowain endlich, doch für solche Eingeständnisse blieb jetzt keine Zeit. Was immer der Elf von sich halten mochte, in ihren Augen war er ein Mann, der auf der Kippe stand. Etwas hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Ganda wusste nicht viel über den Krieg, den der Schwertmeister in der Snaiwamark und in der Welt der Menschen geführt hatte. Doch selbst das Wenige, das sie gehört hatte, reichte ihr, um sich sicher zu sein, dass der Elfenheld in seinem Innersten zutiefst verletzt war, auch wenn er äußerlich unversehrt wirkte. Wie sonst war zu erklären, dass ihn der Anblick der Katzen im Hafenbecken so sehr erschüttert hatte? Ganda hatte ihr Gespräch mit dem Kapitän abgebrochen, um auf Ollowain aufzupassen. Sie war überzeugt, dass er kurz davor gestanden hatte, das Floß der Priester zu entern. Und das alles wegen ein paar Katzen! Was würde er erst tun, wenn er sah, was vor dem Tempel des Balbar geschah? Sich in einem Aufbäumen unnützen Heldenmutes von der Menschenmasse dort in Stücke reißen lassen? Gewiss, er war der berühmteste Schwertkämpfer Albenmarks, aber nicht einmal er würde es überleben, wenn er allein den Zorn einer ganzen Stadt herausforderte. Und vielleicht wollte er das gar nicht? Vielleicht suchte er ja einen heldenhaften Tod? Sie blickte zu ihm auf. Er sah sie an, vielleicht schon die ganze Zeit. Offenbar wartete er immer noch auf eine Antwort von ihr. Seine Augen wirkten müde und traurig. Es gab Gerüchte, in der Schlacht von Phylangan sei seine Geliebte umgekommen. Doch niemand wusste etwas Genaues. Sah so ein Krieger aus, der nach einem guten Anlass suchte, sein Leben fortzuwerfen? Das wird nicht hier in Iskendria geschehen, dachte sie wütend. Nicht, solange ich für dich verantwortlich bin!

Jetzt hörte sie dumpfen Trommelschlag und den hellen Klang der Zimbeln. Ein Lied von düsterer Feierlichkeit erklang. Das Marktgeschrei und unablässige Murmeln der Stimmen rings herum verstummte. Immer mehr Menschen drängten an ihnen vorbei, um das Schauspiel nicht zu verpassen, das sich auf dem großen Tempelplatz anbahnte.

»Wir müssen jetzt hier entlang«, sagte Ganda entschieden und deutete auf eine enge Gasse, die von der Prozessionsstraße abzweigte.

»Sagtest du nicht, das Haus, zu dem wir müssen, läge nahe bei dem Platz dort oben auf dem Hügel?«, wandte Ollowain ein.

»Siehst du das Gedränge, Elf? Willst du dich an tausenden schwitzenden Menschenleibern vorbeischieben? Dort scheint irgendein Fest im Gange zu sein. Wir suchen uns einen Weg um den Platz herum. So gelangen wir auch zum Ziel, ersparen uns aber die Unannehmlichkeiten.« Der Schwertmeister erhob keine weiteren Einwände und folgte ihr in das Labyrinth der Gassen. Ganda mühte sich, dem Platz fern zu bleiben, ohne völlig die Richtung zu verlieren. Die Häuser hier waren vier oder fünf Stockwerke hoch. Fleckige Sonnensegel waren über die Gassen gespannt. Anfangs hingen noch bunte Glaslaternen an den Hauswänden, die ein warmes Licht spendeten. Hier gab es auch noch Läden. Perlenhändler, die ihre Ware auf langen Schnüren aus Hundesehnen feilboten, oder Wasserverkäufer mit bauchigen Krügen auf dem Rücken und breiten Gürteln, in denen schlichte Tonbecher steckten, aus denen ihre Kunden trinken konnten. Ein Mann hatte an einem langen Stecken erschlagene Ratten aufgespießt, die er als Leckereien für Hauskatzen pries. Schenken, deren Theken in Mauerdurchbrüchen zur Gasse hin ausgerichtet waren, verhießen Bier, Wein und andere, exotischere Genüsse.

Die Häuser waren weiß verputzt. Der Regen und die Zeit hatten breite Schmutzbahnen auf die Fassaden gemalt. Hüfthoch waren die Wände mit rotbrauner Farbe getüncht, auf der der Dreck der Gosse weniger auffiel. Hölzerne Balkone streckten sich kühn über ihren Häuptern, und Holztreppen hangelten sich in scharfen Kehren an der Fassade hinauf zu den oberen Stockwerken. Allenthalben waren Leinen über die Gasse gespannt, auf denen Wäsche oder frisch gefärbte Tuchbahnen hingen.

Immer tiefer führte Ganda sie in das Labyrinth. Immer erbärmlicher wurden die Geschäfte, an denen sie vorüberkamen. Auf den Holztreppen saßen nun Weiber und Knaben, die sich lasziv räkelten und ihre Leiber zur Wollust anboten. Russzeichnungen an den Häuserwänden zeigten plumpe Figuren mit überbordender Männlichkeit. Werbesprüche priesen die Reize der Liebesdienerinnen.

So rühmte sich eine Asmandea, die Grotte zwischen ihren schneeweißen Schenkeln sei ein Ort, von dem selbst Fürsten träumten.

Die Gassen wurden enger und enger. Es stank nach gebratenem Fisch, zu lange getragenen Kleidern und eiliger Liebe, deren Höhepunkt vom Sand in einem Stundenglas diktiert wurde. Aufdringliche Weiber boten sich Ollowain an, strichen ihm über Schultern und Gesicht oder griffen ihm sogar ins Gemächt. Mit gurrenden Stimmen verhießen sie dem schönen Fremden unvergessliche Stunden, und sie fluchten wie die Kesselflicker, wenn er weiterging, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

Mit der Zeit wurde sich Ganda der begehrlichen Blicke bewusst, die sich auf das Schwert des Elfen richteten. Die juwelenbesetzte Waffe war ein kleines Vermögen wert. Und auch sie starrte man an.

Schließlich landeten sie in einer Gasse, die schon nach einem kurzen Wegstück von den Trümmern eines eingestürzten Hauses versperrt wurde.

Ollowain lachte. »Hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt die Führung übernehme? Du magst dich auf den Albenpfaden auskennen, aber hier hast du dich rettungslos verlaufen, nicht wahr?«

Aus den Augenwinkeln sah Ganda, wie sich die Müßiggänger von den Holztreppen über der Gasse ins Dunkel der Häuser zurückzogen. Der Elf ließ seine Hand auf den Griff seiner Waffe sinken.

Ein Balken knirschte in dem Trümmerhaufen vor ihnen. Steine rollten polternd auf den Weg. Jemand drückte sich in einen Hauseingang. Hinter ihnen erklang ein volltönender Bass. »Du hast den Weg verfehlt, Fremder, aber Ptolemos hat dich vorübergehen sehen, und deine Ware hat ihm gefallen.«

Hinter ihnen stand ein Mann, dessen massiger Leib fast die ganze Gasse ausfüllte. Er wischte sich mit einem weißen Schweißtuch über die Stirn und schob es sich dann in den Ausschnitt seiner gelben Tunika. Von seinem Gürtel hingen ein schwerer Geldbeutel und ein eisenbeschlagener Knüppel. Dicke Adern rankten sich um seine erstaunlich muskulösen Beine.

Ollowain sah Ganda fragend an. Sie übersetzte ihm die Worte des Dicken. »Wir sind nicht interessiert«, sagte der Elf höflich.

»Nein, nein, nein.« Der Kerl schüttelte so heftig den Kopf, dass sein üppiges Doppelkinn hin und her schwabbelte. »Diese Antwort kann ich meinem Herrn nicht bringen. Ich sehe schon, du möchtest den Preis in die Höhe treiben.« Er nestelte an der Geldbörse herum und zählte dann drei goldene Münzen in seine fleischige Hand. »So viel ist uns deine Tochter wert. Und feilsche nicht mit mir! Mein Herr, Ptolemos, ist ein Suchender, er gehört zur höchsten Kaste der Balbarpriester. Du siehst, ich bin also im Auftrag des Gottes unterwegs, und mit Balbar feilscht man nicht, es sei denn, man möchte ihn und seine Diener erzürnen.« Mit diesen Worten drückte sich der Dicke gegen die Häuserwand und ließ zwei Gestalten vorbei, in deren Händen lange gebogene Messer blitzten.

»Was also ist dir lieber, Fremder? Gold oder Stahl? Eine andere Wahl bleibt dir nicht, denn der Gott hat entschieden, Gefallen an deiner Tochter zu haben. Du weißt ja, er verzehrt sich geradezu nach jungen Bräuten.«

Ganda dachte wieder an die Geschichten, die der Kapitän über den Stadtgott erzählt hatte. Jeden Tag ein junges Mädchen, das war der Preis, den Iskendria willig für seine Macht und seinen Wohlstand gab.

Ollowain verstand nur die Gesten der ausgestreckten Hand und der gezückten Dolche. Die Worte verstand er nicht. »Sag dem Dicken, dass es nicht in meinem Sinne ist, jemanden zu verletzen, und dass ich geneigt bin, ihn gehen zu lassen. Im Übrigen weiß ich um die drei anderen, die sich noch im Schatten verbergen.«

Ganda entschied sich, sich bei der Übersetzung ein paar Freiheiten herauszunehmen. »Mein Vater, der Scharfrichter und beste Schwertkämpfer der Söhne Zeynels, ist geneigt, dich am Leben zu lassen, wenn du deine fünf Halsabschneider einsammelst und dich schneller verpisst, als ich ausspucken kann. Ansonsten wird er ihnen den Hals umdrehen, ihnen die Eier abreißen und sie dir in dein großes Maul stopfen, damit du daran erstickst.«

Der Dicke sah sie mit weiten Augen an.

Ollowain löste die Fibel seines Umhangs und ließ ihn zu Boden fallen. Eine Geste voller Anmut, doch in ihrer stillen Gelassenheit zugleich bedrohlicher als die gezückten Dolche. Der Mantel würde ihn nun nicht im Kampf behindern. Auch den Schleier nahm er ab, sodass man sein schönes, ebenmäßiges Gesicht sehen konnte.

Der Wortführer der Meuchler hob seine Rechte und schnippte mit den Fingern. Etwas Dunkles stürzte aus den Schatten der Ruine. Zwei schwarz vermummte Gestalten versuchten den Elfen zu packen und zu Boden zu reißen. Doch obwohl sie Ganda so schnell wie Raubkatzen erschienen, wich Ollowain ihnen mühelos aus. Mit der Grazie eines Tänzers wirbelte er herum, ergriff den einen beim Arm und brach ihm mit einer knappen Drehung das Handgelenk, sodass der Dolch den gefühllosen Fingern des Meuchlers entglitt. Er stieß den schreienden Mann von sich, wirbelte erneut herum und versetzte einem anderen Angreifer einen Tritt gegen die Brust.

Ganda wich ein wenig zurück, ohne den Blick abzuwenden. Ein Fausthieb des Elfen traf einen der Männer gegen den Hals, und der Kerl brach röchelnd in die Knie. Wie beiläufig wich Ollowain einem Dolchstoß aus, der ihn nur um Haaresbreite verfehlte, und umarmte den Messerstecher, der aus dem Gleichgewicht geriet, fast wie ein Liebender sein Mädchen. Zärtlich strichen seine schlanken Finger den Hals des Mörders hinauf und verharrten kurz hinter dessen Ohr. Ganda sah, wie sich die Sehnen auf Ollowains Handrücken kurz spannten, dann sank der Mensch zu Boden.

Der Krieger, den der Tritt gegen die Brust getroffen hatte, kam stöhnend wieder auf die Beine. Er tauschte einen ängstlichen Blick mit dem Letzten seiner Gefährten. Beide wichen in Richtung der Ruine zurück.

Ollowains Bewegungen erinnerten Ganda an das Schweben eines langen Seidenbanners, umspielt von einer sanften Brise. Binnen eines Lidschlags war er zwischen den beiden. Ein Ellbogenstoß traf einen der Menschen seitlich am Kopf, den zweiten schickte ein Tritt ins Kniegelenk zu Boden. Wimmernd hielt er sein Bein, offensichtlich nicht mehr in der Lage aufzustehen.

Etwas Eisiges legte sich auf Gandas Kehle. Vor Angst und Überraschung brachte die Lutin keinen Ton hervor. Stumm verfluchte sie sich dafür, dass sie sich von dem Kampf derart hatte in Bann schlagen lassen und auf nichts anderes mehr Acht gegeben hatte. Eine schwere Hand packte sie bei der Schulter und zog sie ein Stück zurück.

Der Dicke hatte ihr einen Dolch an den Hals gesetzt. »Du bist ein Girat, nicht wahr?« Seine Stimme überschlug sich, so hastig sprach er. »Einer der Wüstengeister. Das hättest du sagen sollen. Nicht diesen Unsinn mit dem Scharfrichter. Ich hätte niemals Hand an die Tochter eines Girat gelegt.«

»Dann nimm deine Klinge von meiner Kehle, du ...« Der Druck des kalten Stahls verstärkte sich, und Ganda verstummte. So ein verdammtes Pech. Sie hätte den Dicken nicht aus den Augen lassen sollen! Sie war selber schuld, wenn sie jetzt in der Patsche saßen. Fünf Feinde lagen kampfunfähig am Boden, ohne dass Ollowain auch nur sein Schwert gezogen hätte. Und sie vermasselte alles, indem sie diesem miesen Kinderhändler geradezu in die Arme lief.

»Glaubst du, du würdest es überleben, wenn du meiner Tochter etwas antust?« Ollowain sprach ganz ruhig. Ja, er lächelte sogar, aber dieses Lächeln hatte nichts Beruhigendes. Natürlich verstand der Mensch ihn nicht. Ganda spürte, wie die Hand des Dicken nass vor Schweiß wurde. Die Lutin überlegte verzweifelt, wie sie aus eigener Kraft entkommen könnte. Sie beherrschte tausende Zauber. Sie könnte dem Dreckschwein Wespen in Mund und Nase zaubern, doch wenn er auch nur zuckte, würde für sie dieser Ausflug nach Iskendria mit durchschnittener Kehle enden. Und jeder verdammte Zauberspruch, der ihr einfiel, ließ ihm mehr als genug Zeit zum Zucken, es sei denn ...

»Du schnallst jetzt dein Schwert ab, Girat, und legst dann die Hände in den Nacken. Wir finden einen Weg, wie wir alle lebend diese verdammte Gasse verlassen können. Du bekommst die Kleine ...«

Ganda flüsterte drei Worte der Macht, und die Stimme des Kinderhändlers erstarb. Vorsichtig schob die Lutin die Klinge von ihrer Kehle fort.

Ollowain hob skeptisch eine Braue. Wie schafften es diese Elfen nur, so unglaublich überheblich zu wirken? Wahrscheinlich verbrachten sie Jahre ihres unendlichen Lebens vor Spiegeln, um ihre Gestik und Mimik zu vervollkommnen. »Was ist mit ihm?«

»Wie du siehst, kann ich mir durchaus alleine helfen«, entgegnete sie spitz. »Er hält sich im Augenblick für ein Marmorstandbild. Daran sollte sich bis zum Morgengrauen nichts ändern. Ich schlage vor, wir gehen.«

»Wozu braucht man solch einen Zauber?«

»Um ein Messer an der Kehle loszuwerden, natürlich«, antwortete Ganda ironisch. »Manchmal ist er auch ganz nützlich für einen erfreulichen Geschäftsabschluss.«

Ollowain schüttelte den Kopf und bückte sich nach seinem Umhang und dem Schleier. »Ist das eine nette Umschreibung für Diebstahl?«

»Es ist üble Verleumdung, uns Lutin dauernd zu unterstellen, wir seien ein Volk von Dieben«, entgegnete sie entrüstet. Natürlich war es in aller Regel so, dass der Wert der Waren, die sie zurückließen, wenn der Marmorzauber zum Einsatz kam, in keinem Verhältnis zum Wert der Waren stand, die sie mitnahmen, aber Diebe waren sie nicht! Diebe ließen gar nichts zurück! Nicht einmal ein symbolisches Goldstück.

Plötzlich warf sich Ollowain auf sie. Der Elf riss sie zu Boden. Sein Gewicht presste ihr die Luft aus den Lungen. Sie hörte ihre Rippen krachen. Etwas Warmes rieselte über ihre Hand. Blut!

Als Ollowain wieder aufstand, sah sie, wie der Mann mit dem zerschmetterten Knie verzweifelt versuchte, kriechend zwischen die Ruinen zu entkommen. Der Schwertmeister würdigte ihn keines Blickes. Ein großer, blutiger Fleck breitete sich unter seinem rechten Arm auf dem schneeweißen Gewand aus. Neben ihnen lag ein sichelförmiger Dolch im Staub.

»War der für mich bestimmt?«, stammelte Ganda erschrocken. Warum hatte der Kerl das getan? Der Kampf war doch entschieden.

»Hätte er dem etwas steifen, korpulenten Herrn dort vorne gegolten, hätte ich mich dem Dolch sicher nicht in den Weg geworfen.« Ollowain tastete vorsichtig über sein blutiges Gewand.

Ganda konnte noch immer nicht glauben, was geschehen war.

»Du hast dich zwischen mich und das Messer gestellt? Du kannst mich doch nicht einmal leiden. Du hättest tot sein können. Du hättest ...«

»Hättest, hättest, hättest.« Ollowain winkte ab, als sei nichts weiter geschehen. »Die Klinge hat eine meiner Rippen gestreift. Sie ist nicht tief eingedrungen. Ich bin nicht in Gefahr, verstehst du? Solche oberflächlichen Schnittwunden bluten stark und sehen sehr dramatisch aus, aber im Grunde sind sie nicht der Rede wert. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann verzichte auf weitere Umwege und bring mich zum Hause Sem-las. Ich hätte gern ein wenig sauberes Leinen, um einen strammen Verband anzulegen.« Er knüllte seinen Schleier zusammen und presste ihn fest gegen die Wunde.

»Aber du hast mir das Leben gerettet! Du ...« Der Schwertmeister legte einen Finger an die Lippen und gebot ihr zu schweigen. »Ich habe getan, was Emerelle mir aufgetragen hat –

dich beschützen. Nicht mehr und nicht weniger.« Ganda nickte, aber die Sache war damit längst nicht für sie erledigt. Sie kannte niemand anderen, dem es eingefallen wäre, mit seinem Leib ein Messer aufzuhalten, das für sie bestimmt war. Sie wurde aus diesem verfluchten Elfen nicht schlau. Ja, sie ärgerte sich sogar gehörig darüber, wie er seine Heldentat kleinredete. Da traf sie einmal in ihrem Leben jemanden, der sich benahm wie ein Ritter aus den Liedern der Barden, selbstlos und edel, und dann machte er die Sache kaputt, indem er gleich darauf so tat, als sei es eine Kleinigkeit. Ihr Leben war keine Kleinigkeit! Jedenfalls nicht für sie.

Wütend stapfte sie voran und versuchte sich zu orientieren. Dann hörte sie wieder den düsteren Gesang. Er wies ihr den Weg zum Tempelplatz. Sollte Ollowain doch sehen, was dort vor sich ging! Verstockter Mistkerl!

Mehr und mehr Menschen kamen ihnen entgegen. Der Gesang jenseits der verwinkelten Häuserschluchten wurde leiser und verstummte. Dafür nahm der Lärm in den Gassen zu. Unflätige Lieder dröhnten aus den Tavernen, ein kleiner Junge pries lautstark die Kunststücke seines dressierten Affen.

Die Stadt wirkte plötzlich lebendiger, dachte Ganda. Das war Unsinn, das wusste sie. Und dennoch hatte sich etwas verändert. Die Menschen rings herum wirkten wie erlöst. Ihr Lachen klang heller .... Vielleicht lag es ja auch an ihr? Daran, dass sie wusste, dass der Schrecken für heute vorüber war? Auf einmal zeigte sich Iskendria von seiner besten Seite. Bis morgen erneut ein Priesterzug die prächtige Prozessionsstraße entlangschritt, um Balbar eine Braut zu bringen.

Es dauerte nicht lange, und sie erreichten eine Gasse, an deren Ende der weite Platz gelegen war, der vom hohen Giebel des Balbartempels überragt wurde.

»Du wolltest nicht, dass ich dorthin gehe, nicht wahr?«, fragte Ollowain.

»Richtig«, entgegnete Ganda knapp.

»Und warum?«

»Sie verbrennen dort zu Ehren ihres Gottes kleine Mädchen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, nennen sie das Mädchen Gottesbraut! Dieses widerliche Schauspiel soll eine Hochzeit sein. Ich wollte nicht, dass du das siehst. So wie du dich mit den Katzen im Hafen angestellt hast, fürchtete ich, du könntest durchdrehen. Diese Sorge hatte ich sicher nicht zu Unrecht, oder?«

Ollowain blieb ihr eine Antwort schuldig. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er dachte, als sie auf den weiten Platz traten. In dessen Mitte erhob sich eine mehr als zehn Schritt hohe Statue. Sie zeigte einen Mann auf einem Thron, der einen langen, eckig gestutzten Bart trug. Die Arme der Figur waren seltsam angewinkelt und ruhten auf seinem Schoß. Das Götterbild hielt seine offenen Handflächen dem Himmel entgegen. Eine Gruppe Priester machte sich dort zu schaffen; sie waren über eine hölzerne, mit Blumenkränzen geschmückte Rampe hinauf zu den offenen Händen gelangt.

Der Kopf des Götzenbildes war leicht in den Nacken gelegt und der Mund weit aufgerissen, als wolle es etwas dem Himmel entgegenschreien. Dunkler, von rotem Feuerschein umspielter Rauch quoll aus der Öffnung.

Die Priester hoben etwas Längliches, in weiße Tücher Geschlagenes auf und schoben es in den Schlund des Götzenbildes. Was immer sie dort den Flammen übergaben, hatte etwa dieselbe Größe wie sie, dachte Ganda schaudernd.

»Das tun sie jeden Tag?«, fragte Ollowain mit belegter Stimme.

»Ja. Und wenn sie glauben, ihr Gott zürne ihnen, dann feiern sie sogar mehrere dieser Hochzeiten am Tag. Iskendria ist kein sicherer Ort für junge hübsche Mädchen.« Der Elf sah sie eindringlich an. Was dachte er jetzt? Fragte er sich, warum sie ausgerechnet die Gestalt eines kleinen Mädchens angenommen hatte? Sie hatte ja keine Ahnung gehabt ...

»Bring uns fort von hier, Ganda. Ich will keine Stunde länger als notwendig in dieser Stadt verbringen.«

Die Lutin sah sich nach der Säule mit dem springenden Delfin um. Auch wenn der weite Platz Balbar geweiht war, so gab es hier doch auch Statuen anderer Götter. Der Delfin war der Gatte der Meeresgöttin Bessa, ein freundliches Geschöpf. Er half den Steuerleuten, die rechte Fahrtroute durch gefährliche Gewässer zu finden, und viele Geschichten rankten sich darum, wie er Schiffbrüchige rettete. Die Männer auf der Galeere hatten oft von dem Delfingott erzählt.

Endlich entdeckte Ganda das Bildnis des Delfins: Es erhob sich auf ihrer Seite des Platzes. Sie war froh, dass sie nicht an der Balbarstatue vorübergehen mussten. Die erste weite Straße, die hinter dem Bildnis des Delfins vom Platz abzweigte, führte zum Hause Sem-las; so hatte Emerelle es ihr beschrieben.

»Mein Scherz am Hafen tut mir leid«, sagte Ollowain unvermittelt.

Ganda blickte zu ihrem rätselhaften Reisegefährten auf. Aus diesen Elfen wurde man einfach nicht schlau. »Wovon redest du?«

»Von dem Händler für Opfertiere am Hafen. Du wusstest dort schon, dass sie ihren Göttern nicht nur weiße Katzen und Stiere opfern, nicht wahr? Ich hatte keine Ahnung, dass sie auch hellhäutige Mädchen ... Ich ... Es tut mir leid.« Der Schwertmeister hielt den Schleier noch immer auf die Wunde gepresst; der zarte Stoff war voll gesogen mit Blut. Seine Züge waren angespannt. Er litt, aber nicht an der Verletzung. Er wich ihrem Blick aus.

Ein Elf, der sich vor einer Lutin schämte! Von so etwas hatte sie noch nie gehört. Eigentlich hätte er es verdient, sich noch eine Weile mit diesem Gefühl zu plagen, aber aus ihr unbegreiflichen Gründen tat Ollowain ihr leid. Ihr, die noch vor ein paar Tagen ruhig zugesehen hätte, wenn die Trolle Emerelles Burg gestürmt und jeden Elfen geschlachtet hätten, den sie zu packen bekamen.

»Ich weiß es seit dem ersten Tag der Schiffsreise. Der Kapitän und seine Männer ... Sie wollten dich bei Nacht überwältigen und ins Meer werfen. Sie dachten, dass du nach Iskendria reist, um mich dort an die Balbarpriester zu verkaufen. So etwas kommt wohl nicht selten vor. Deshalb habe ich die wilde Geschichte über dich erfunden.«

Sie sah, wie sich die Wangenmuskeln des Elfen spannten. »Du hast es also tatsächlich zu meinem Schutz getan.«

»Wenn du in Betracht ziehen könntest, dass wir Lutin nicht jedes Mal lügen, wenn wir den Mund aufmachen, dann würden wir beide vielleicht besser miteinander auskommen.«

»Wie es scheint, schulde ich dir also noch eine Entschuldigung.« Sein Ton war etwas frostiger geworden. »Es tut mir leid, wenn ich dich ungerecht behandelt habe.« Es war unverkennbar, dass es ihn Mühe kostete, die Worte über die Lippen zu bringen. Sein Gesicht spiegelte keine Reue. Es war ein reines Lippenbekenntnis.

Ganda war froh, endlich das Haus mit der breiten Marmortreppe zu sehen, von dem Emerelle ihr berichtet hatte. »Wir sind angekommen.« Sie deutete die Stufen hinauf. Sem-las Palast wirkte, verglichen mit den anderen Häusern, von außen erstaunlich unscheinbar. Die der Straße zugewandte Front hatte fast keine Fenster. Sie war schmucklos, sah man einmal von einem großen Wandbild ab, das Schiffe mit geblähten Segeln zeigte, umgeben von allerlei Meeresgetier.

Ganda hasste es, Treppen zu steigen. Nie dachten die Baumeister an die kurzen Beine von Kobolden, wenn sie den Abstand der Treppenstufen bemaßen. Gut, in der Welt der Menschen war dies mangels Kobolden ein verzeihlicher Fehler. In Albenmark war es allerdings nicht besser, und dort waren die Steinmetzen und Baumeister obendrein meist Kobolde. Aber so waren die Elfen in ihrer Überheblichkeit. Sie verschwendeten keinen Gedanken an ihre Diener, die öfter als jeder andere Palastbewohner die Treppen hinauf- und hinabeilten.

Die Stufen führten hinauf zu einem schweren, zweiflügeligen Tor. Das schwarze Holz war mit Intarsien aus Perlmutt und Elfenbein geschmückt, die sich zu Bildern von Delfinen und Schiffen fügten. Vor dem Tor stand eine große dunkelhäutige Gestalt: ein Diener mit nacktem geöltem Oberkörper, um dessen Arme sich goldene Schlangenreife wanden.

»Sag deiner Herrin, dass ihre Königin ihr eine eilige Nachricht schickt.« Ganda sprach in der Sprache Iskendrias und betonte jedes einzelne Wort überdeutlich.

Der Wächter musterte sie beide eindringlich. Ollowains Wunde veranlasste ihn zu einem Stirnrunzeln. Endlich nickte er und öffnete das Tor. Er führte sie in die Eingangshalle, wo ein silberner Springbrunnen willkommene Kühle spendete. Der Duft von Zimt und Sandelholz schwang in der Luft, während die kleinen Flammen der Öllämpchen das dunkle Zwielicht der Halle kaum zu vertreiben vermochten.

Wortlos deutete ihr Führer auf eine steinerne Bank an der Wand. Dann verschwand er mit eiligen Schritten.

Ganda sah sich mit großen Augen um. »Ich glaube, es könnte mir gefallen, eine geheime Gesandte Emerelles in der Welt der Menschen zu sein.«

Ollowain überraschte sie, indem er antwortete. »Wenn ich mich recht erinnere, hat sie Sem-la — oder besser gesagt, Valynwyn — bestraft. Hier zu sein ist keine Gunst. Sie ist eine Verbannte.«

Die Lutin betrachtete die kostbaren Mosaiken auf dem Boden. Wenn man Elf war, konnte man sich offensichtlich alles erlauben. Hier zu leben, war keine Strafe! Sie dachte daran, wie ihr eigenes Volk rastlos mit den Hornechsen wanderte. Nie wussten sie, wo sie im nächsten Mond leben würden. Die einzige Gewissheit, die sie hatten, war die, dass man sie, ganz gleich, wohin sie auch gingen, niemals willkommen heißen würde. Wer die Lutin zu sich rief, der hatte meist dunkle Geschäfte im Sinn und legte größten Wert darauf, nicht mit ihnen gesehen zu werden. Deshalb durften sie, auch wenn sie ihre Aufträge zu größter Zufriedenheit erledigten, niemals mit Dankbarkeit rechnen.

Leise Schritte unterbrachen Gandas bittere Gedanken. Sie blickte auf. Die Hausherrin kam barfuß. Sie war eine hochgewachsene, schöne Frau. Ganz offensichtlich hatte der überraschende Besuch ihre Pläne für den Abend durcheinander gebracht. Sem-la trug eine wuchtige Perücke aus gefärbtem Pferdehaar. Ihr Gesicht war so stark geschminkt, dass es fast wie eine Maske wirkte. Die Augen hatte die Elfe mit Ruß umrandet, sie waren erschreckend dunkel. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise hatte Sem-la es geschafft, das Weiß ihrer Augen türkis zu färben. Ihr Blick war unheimlich. Weder die kunstvoll gelegten Locken ihrer Perücke noch der perlenbestickte Seidenmantel, der ihre Nacktheit nur unvollkommen verbarg, vermochten von diesen Augen abzulenken. Ein sinnlicher, fremdartiger Duft ging von der Perücke aus, und Ganda roch, dass sich Sem-la auch zwischen ihren Schenkeln parfümiert hatte. Man musste schon wissen, dass die Herrin des Hauses eine Elfe war, um sie noch als solche zu erkennen.

»Ollowain, was für eine Überraschung, dich zu sehen. Bei Bessa, du bist ja verletzt, du ...« Sem-la lächelte verlegen. »Entschuldigt, so lange treibe ich schon diese Maskerade, dass ich mir ganz wie die Menschen angewöhnt habe, bei jeder Gelegenheit den Namen eines ihrer Götzen anzurufen.«

»Alles, was ich brauche, ist ein sauberer Verband.«

»Nein, das werde ich nicht zulassen! Ich persönlich werde mich um deine Wunde kümmern. Ich bin bewandert in der Heilkunst, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Ich habe nicht vergessen, warum man dich verbannt hat«, entgegnete der Elf kühl.

Ganda beobachtete die beiden neugierig. Ob Ollowain dieser aufgedonnerten Elfenschlampe wohl einmal etwas bedeutet hatte? Wie Sem-la wohl ausgesehen hatte, bevor sie Jahrzehnte oder vielleicht sogar Jahrhunderte damit verbracht hatte, sich als Menschenweib zu verkleiden? Vielleicht war die Verbannung hierher doch eine härtere Strafe, als sie anfangs angenommen hatte?

»Ich bestehe darauf, dass ihr euch von eurer Reise erholt.«

»Wir müssen deine Gastfreundschaft leider zurückweisen«, erwiderte Ollowain in einer Entschiedenheit, die fast schon unhöflich war. »Unser Auftrag in der Bibliothek duldet keinerlei Aufschub.« Sollten seine kühlen Worte Sem-la verletzt haben, ließ sie sich zumindest nichts anmerken. »Sei nicht töricht, Ollowain. Du weißt, ich bin eine gute Heilerin, und es würde nicht lange dauern. Weise mich nicht zurück.«

Der Schwertmeister zögerte noch einen Augenblick, doch schließlich nickte er zustimmend.

Ganda nahm zur Kenntnis, dass Sem-la sie nicht einmal eines Blickes würdigte. Die Lutin war es gewohnt, von adeligen Elfen wie Luft behandelt zu werden. Schweigend beobachtete sie, wie der Torwächter auf Geheiß seiner Herrin eine Schale mit Wasser und ein Kästchen brachte, in dem mehrere Furcht einflößend aussehende Messer und anderes chirurgisches Besteck lagen.

Geschickt zerschnitt die Elfe Ollowains Gewand und tupfte die Wunde sauber. Ganda sah, dass der Schnitt tiefer war, als der Schwertmeister behauptet hatte. Er musste viel Blut verloren haben. Warum hatte sich dieser Dummkopf so aufgespielt? Wut und Mitleid hielten sich in ihren Gefühlen die Waage. Er hatte keinen Augenblick gezögert, sein Leben für sie einzusetzen. An die Verachtung oder bestenfalls Überheblichkeit, mit der die meisten Albenkinder ihr Volk behandelten, hatte sie sich längst gewöhnt. Deshalb erschreckte sie seine Tat. Er hätte sterben können! Kein Elf opferte sein Leben für eine Lutin, es sei denn, er war versessen darauf, dem Tod zu begegnen. War das Ollowains Geheimnis? Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm.

Sem-la legte die linke Hand auf die Wunde des Schwertmeisters, die Herzhand. Ganda wusste, wie man den Heilzauber wirkte, auch wenn sie ihn nie erlernt hatte. Man musste selbstlos sein, um eine Heilerin werden zu können. Zu heilen hieß, die Schmerzen des Verletzten zu teilen, während man ein magisches Band zu ihm knüpfte.

Die Lippen der Hausherrin bebten. Sie stöhnte leise.

Sem-la wirkte nicht wie eine selbstlose Frau. Wie hatte sie diesen Zweig der Zauberei meistern können? Je mehr man die Elfen kannte, desto unbegreiflicher wurden sie, dachte Ganda.

Als Sem-la ihre Hand zurückzog, war die Wunde verschwunden. Kein Schorf, nicht einmal eine feine weiße Narbe verrieten, wo Ollowain verletzt worden war.

Der Elf streckte prüfend den Arm. »Ich danke dir, und ich bedauere, dir Schmerzen bereitet zu haben.«

»So selten kommt einer der unseren hierher und nimmt sich die Zeit, für ein paar Stunden zu verweilen, dass ich froh bin, wenn ich wenigstens die Schmerzen mit einem meines Volkes teilen kann, wenn sonst schon nichts geblieben ist, das man teilen könnte.«

Ollowain stand auf und zog den Umhang über den zerschnittenen Ärmel. »Wenn du so freundlich wärst, mich und meine Gefährtin zu dem Albenstern zu führen, der sich in deinem Haus verbirgt?«

»Wie du es wünschst.« Sollte Sem-la enttäuscht oder verärgert gewesen sein, so verstand sie es, ihre Gefühle zu verstecken. Sie klatschte zweimal laut in die Hände, und eine verborgene Tür nahe dem Silberbrunnen öffnete sich. Über zwei Treppen stiegen sie tief in einen Keller mit gewölbter Decke hinab. Der Boden hier war mit einem prächtigen Mosaik ausgelegt, das eine in schillerndem Rot aufgehende Sonne zeigte. Sieben Kraniche flogen in verschiedene Himmelsrichtungen davon. Ganda spürte die magische Kraft durch den Steinboden. In der Sonnenkugel am Boden trafen sich sieben Albenpfade zu einem großen Stern.

Sie kniete sich inmitten des Mosaiks nieder. Ihre Hände tasteten über den Boden. Sie nahm die lebendige Kraft des Netzes in sich auf. Vor ihren geschlossenen Augen tanzten vielfarbige Schlangen. Einen Augenblick nur dauerte es, dann fand Ganda den Weg, der fort aus der Welt der Menschen führte. In Gedanken ließ sie die Kraft des Pfades anschwellen, bis sich ein weites Tor aus goldenem Licht inmitten des Kellergewölbes erhob.

Stolz drehte sie sich zu den beiden Elfen um. Sie hatte sich während des Zaubers zu sehr konzentriert, um zu hören, was die beiden miteinander besprochen hatten.

»... werde sie dennoch bitten. Vielleicht wird sie ihr Urteil ja noch einmal überdenken.«

»Du kennst sie, Ollowain. Wie ich hörte, hat sie selbst ihre geliebte Freundin Noroelle verstoßen. Verbannt in die Einsamkeit der Zerbrochenen Welt. Welche Hoffnung sollte ich da haben? Ich stand der Königin nie sonderlich nahe.«

»Die Königin ist in der Weisheit ihres Ratschlusses unergründlich«, sagte Ollowain.

Leeres Elfengeschwätz, dachte Ganda. Mit diesem Spruch ließ sich alles entschuldigen. »Wir können gehen.«

Sem-la würdigte sie selbst jetzt keines Blickes. Sie umarmte Ollowain und trat zurück.

Seite an Seite mit dem Schwertmeister durchquerte Ganda das Tor. Ein einziger Schritt nur brachte sie in eine andere Welt. Die Lutin hatte Angst vor der Bibliothek, auch wenn sie das weder Ollowain noch Emerelle eingestanden hatte. Nach allem, was sie über diesen Ort wusste, war es ein riesiger Komplex von mit Büchern gefüllten Räumen, der ins Herz eines riesigen Felsbrockens geschlagen war. Und dieser Fels trieb durch das Nichts. Er war ein Splitter der Zerbrochenen Welt. Nirgends gab es in der Bibliothek ein Fenster. Gandas Hände waren feucht, als sie durch das Tor aus Licht trat. Stickige, abgestandene Luft schlug ihnen entgegen.

Vereinzelte Öllampen glommen im Dunkeln. Das Tor, das sich mit ihrer Ankunft geöffnet hatte, warf bernsteinfarbenes, warmes Licht in die große Halle. Hunderte Stehpulte waren um den Mosaikkreis angeordnet, in den sie der Pfad aus Licht geführt hatte. Er war schlichter als der, den sie erst vor einem Herzschlag im Hause Sem-las verlassen hatten. Ein einfaches geometrisches Muster fügte sich zu einem Kreis. Spiralen, unentwirrbar miteinander verwoben.

Langsam sank das Tor hinter ihnen in sich zusammen. Im gleichen Maße eroberte die Dunkelheit den weiten Raum zurück. Ganda war überrascht. Sie hatte etwas anderes erwartet. Etwas Eindrucksvolleres. Dies war also der Ort, an dem man Antwort auf alle Fragen fand, wenn man denn an der richtigen Stelle zu suchen wusste. Es war ein ziemlich angestaubter Ort.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Das Licht des Tores war nun vollständig verloschen. Ein gutes Stück entfernt wurde eines der wenigen Öllämpchen emporgehoben. Viel zu hoch emporgehoben! Die Lutin sah aus den Augenwinkeln, wie Ollowain die Hand auf den Schwertgriff legte. »Was immer geschieht, Ganda, du bleibst hinter mir.«

Ein neuer König

Eisiger Wind schnitt Skanga ins Gesicht, als sie den flachen Hügel erklomm. Es war der Ort, an dem das Unglück seinen Anfang genommen hatte: der Albenstern, durch den sie Branbart und sein Heer ins Herzland hatte führen wollen. Sie spürte das stete Pulsieren der Kraftlinien, die sich hier schnitten. Nur sechs waren noch geblieben.

Auf der Ebene sammelten sich die Krieger. Sie bildeten deutlich abgegrenzte Gruppen. Noch bevor ein halber Tag nach dem Verschwinden des Königs verstrichen war, hatten die Machtkämpfe unter den überlebenden Herzögen begonnen. Sie alle wussten, dass eine Seele, die im Nichts verloren ging, nicht mehr wiedergeboren werden würde. Damit wäre die Königslinie erloschen. Nun würde allein Stärke darüber entscheiden, wer künftig über die Trolle herrschte. Skanga hatte das kommen sehen, deshalb hatte sie sich mit ihrer Rückkehr so sehr beeilt. Trotz ihrer Angst vor den Yingiz war sie erneut in das Wegenetz getreten, um hierher zurückzukehren.

Tausende Krieger umringten den Hügel. Wie ein Meer aus Lichtern in der Finsternis wirkten ihre Auren. Die alte Schamanin hätte nicht zu hoffen gewagt, dass so viele überlebt hatten. Nicht einmal ein Viertel des Heeres war vom Nichts verschlungen worden. Ihr Volk hatte einen schweren Schlag erlitten, aber es war immer noch stark, jedenfalls wenn sie verhindern konnte, dass die Herzöge sich einen Krieg um den Thron lieferten.

Müde stützte Skanga sich auf ihren Stab. An ihrer Seite stand Birga, ihre Schülerin und einzige Eingeweihte. Ihr hätte sie ohnehin nichts vormachen können. Sie sah, was es mit dem Kugelzauber auf sich hatte, dem Trugbild das dicht neben ihr schwebte: Branbarts Seele war gerettet, daran bestand kein Zweifel. Doch es war besser, wenn die Krieger ihres Volkes glaubten, Zeugen geworden zu sein, wie diese Seele zum Himmel aufstieg. Nur so konnte Skanga sich sicher sein, dass es keine Gerüchte darüber geben würde, der König sei in Wahrheit im Nichts gestorben. Deshalb hatte sie den Kugelzauber erschaffen.

Die Schamanin war nicht stolz auf ihren Betrug. Sie tat es aus Notwendigkeit. Ihr Volk musste fest daran glauben, dass ihr König wiedergeboren würde. Was es sah, wog schwerer als alle Worte. Der Betrug geschah um des Friedens willen, sagte sich Skanga. Nur deshalb!

Die alte Schamanin war zu Tode erschöpft. Seit sie tags zuvor zurückgekehrt war, hatte sie nicht geschlafen, denn sie hatte den Zauber aufrechterhalten müssen. Eine Kugel, die schimmerte wie Glas und in deren Innerem ein unstetes weißes Licht flackerte.

Jetzt ließ sie die Kugel ein Stück weit über ihrem Kopf schweben. Es war nur ein Illusionszauber, aber keiner dort unten vor dem Hügel würde an ihren Worten zweifeln. Sie würden glauben, was sie ihnen sagte.

Skanga spürte tausende Blicke auf sich ruhen. Sie waren ihr schwer wie ein Mühlrad. »Krieger der Snaiwamark, euer König ist von euch gegangen. Er starb nicht durch den Stahl einer Elfenklinge. Es war Magie der schändlichsten Art, die ihn letztlich das Leben kostete. Elfenmagie, gewirkt von der Tyrannin Emerelle. Sie war es, die den Albenpfad vernichtete, auf dem unser Heer marschierte. Sie hat getan, was noch keines der Kinder der Alben zuvor gewagt hat: Sie hat sich an der Magie der Älteren vergangen. Sie hat ein Stück aus dem magischen Wegenetz gerissen, das die Alben uns zum Geschenk gemacht haben. Wir Albenkinder sollten diese Gaben hüten. Doch Emerelle wusste, dass sie uns nicht mehr besiegen konnte. So tat sie das Unverzeihliche, statt sich in ihr unabwendbares Schicksal zu fügen.«

Skanga streckte beide Hände der Lichtkugel entgegen, die über ihrem Haupt schwebte. »Bei deiner Seele, Branbart, schwöre ich Emerelle eine Fehde bis in den Tod. Ich werde nicht ruhen, bis ich sie von ihrem Thron vertrieben habe. Ich weiß nicht, wie ihr fühlt, aber mir schmerzt das Herz in der Brust, wenn ich bedenke, wie Branbart, der König, der uns die gestohlene Snaiwamark zurückerobert hat, durch einen schändlichen Zauber fallen musste. Hörst du mich, mein König?«

Sie ließ das Licht in der Kugel flackern. »Seht, ihr Trollkrieger! Branbart ist bei uns!« Skanga kniete nieder. Ihre alten Gelenke knackten, und sie hatte Sorge, dass sie trotz des Stabes vielleicht nicht ohne Hilfe wieder aufstehen könnte. »Bald gebe ich dich frei, mein Gebieter. Doch deine Kinder sollten dich noch ein letztes Mal sehen. Wisset, Krieger der Snaiwamark, drei Tage und drei Nächte kämpfte Branbart gegen die Schatten im Nichts, die heimtückischen Yingiz, die über uns herfielen, als der Albenzauber gebrochen ward. Selbst als längst jeder Krieger gefallen war, der mit uns in die heimtückische Falle geriet, mochte er nicht aufgeben. Doch die Zahl der Feinde war zu groß. Wo er einen überwand, standen sogleich zwei neue. Zuletzt bezwangen ihn die Seelenfresser, und sie zerstörten seinen Leib. Doch ich konnte retten, wonach sie sich am meisten verzehrten: die Seele des Kriegerhelden. So wird Branbart uns wiedergeboren werden.« Skanga beobachtete, wie mehr und mehr Krieger auf die Knie gingen. Sie kannte sie. Sie waren rau und in den Augen der meisten anderen Albenkinder blutdürstige Ungeheuer, aber sie verehrten tapfere Kämpfer. Selbst wenn es Feinde waren.

»Seine letzten Worte, als er todwund in meinen Armen lag, galten euch, Krieger der Snaiwamark. Verschenkt das Land eurer Ahnen, um das wir so bitter gekämpft haben, nicht an eure Feinde. Seid eins und wartet, bis euch ein neuer König geboren wird. Lasst alle Fehden ruhen! Euer König ist tot. Doch er wird wiederkehren, denn Branbarts Liebe zu euch reicht über das Grab.«

Irgendwo unten auf der Ebene schlug jemand eine Kriegskeule auf seinen Holzschild. Ein zweiter Krieger nahm den Rhythmus auf, dann ein Dutzend. Binnen weniger Herzschläge hallte die Eisebene wider vom Dröhnen der schweren Schilde. Sein Heer entrichtete Branbart einen letzten Gruß.

Vielleicht war Branbarts Seele jetzt ganz nahe. Irgendwo musste sie ja sein, dachte Skanga, und sie hoffte, dass ihr König diesen Abschied miterlebte. Aber auf diese Hoffnung allein hätte sie nicht bauen können. Sein Volk brauchte etwas Sichtbares.

Höher und höher stieg die magische Kugel, und dann ließ Skanga den Zauber in einem gleißenden Leuchten vergehen, das einen Lidschlag lang von Horizont zu Horizont reichte. Das Lärmen verstummte. Alle starrten in den eisigen Winterhimmel.

Die Schamanin spürte die Hitze des Albensteins durch ihr Flickengewand. Der Zauber hatte sie die letzten Kräfte gekostet. Bei jedem Atemzug spürte sie die gebrochenen Rippen, und das Handgelenk, das Branbart ihr verdreht hatte, brannte immer noch vor Schmerz. Mit zitternden Händen klammerte sie sich an ihren Stab. Birga war bei ihr, bevor sie etwas sagen konnte. Behutsam half ihr die junge Schamanin auf die Beine. Sie stützte Skanga, als ihre Meisterin den vereisten Hügel hinabstieg.

Skanga ärgerte sich darüber, so schwach zu sein. Sie musste schlafen. Ihre blinden Augen blickten zum weiten Himmel empor. »War es gut?«, fragte sie leise. Sie konnte nur die Farben der Magie sehen. Wie der Zauber für ein gewöhnliches Auge aussah, vermochte sie nicht einmal zu ahnen.

Wieder erklang das Schildschlagen auf der Ebene. »Du hast den Namen Branbarts so unsterblich wie seine Seele gemacht«, sagte Birga feierlich.

Skanga dachte an das Nichts. An die lockenden Stimmen der Yingiz und das tausendfache Sterben. Unsterblich waren sie nicht, die Seelen. Sie blickte zum Himmel hinauf. Vielleicht würde Branbart ihr verzeihen.

Skangas Kniegelenke schmerzten, als habe man glühende Kohlen hinter ihre Kniescheiben gelegt. Welch einen rührseligen Unfug sie gerade gedacht hatte! Sie hatte es nicht nötig, dass Branbart ihr verzieh. Wenn seine Seele wiedergeboren wurde, wäre alle Erinnerung an sein vergangenes Leben ausgelöscht. Sie konnte dann von neuem damit beginnen, den König zu formen, wie sie es schon so oft getan hatte.

Euterläuse und Bücherschlag

Ollowain schob die Lutin zur Seite. Deshalb also hatte Emerelle darauf bestanden, dass ein Schwertkämpfer mit in die Bibliothek kam! Ein riesiger gehörnter Schatten hatte sich schnaufend zwischen den Schreibpulten erhoben. Ein Minotaur! Ein Fleisch fressendes Ungeheuer, größer, stärker und vor allem unberechenbarer, als es selbst die Trolle waren.

Die Bestie machte einen Schritt voran. Die Bewegung wurde von einem merkwürdigen, hölzernen Klacken begleitet.

Ollowain blinzelte. Der Minotaur schien sich auf einen wuchtigen Kampfstab zu stützen.

»Liuvar!«, rief Ganda. Es war das elfische Wort für Frieden. Welch eine kindische Idee, solch eine Bestie mit der Bitte um Frieden aufhalten zu wollen!

Der Kentaur hob etwas, das um seinen Hals hing. Durchdringender Glockenklang ertönte.

»Ganz hervorragend, Ganda. Jetzt hast du ihn auch noch auf die Idee gebracht, Verstärkung zu rufen. Als ob ein Minotaur noch nicht genug Ärger wäre!« Vorsichtig näherte Ollowain sich der Bestie. Er hatte entschieden, dass es günstiger war, zwischen den Stehpulten zu kämpfen. Ihn würden sie weniger behindern als dieses Monstrum, das fast doppelt so groß war wie er.

»Es hieß immer, man müsse die Wächter der Bibliothek um Frieden bitten«, flüsterte die Lutin kleinlaut.

Der Minotaur schnupperte. »Habt ihr Würmer?«, fragte er schwerfällig.

Ollowain hielt inne. Es war ein Ritual, sich vor einem Zweikampf gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Trolle und andere Barbaren begannen gewöhnlich damit, unsägliche Dinge über die Mutter ihres Gegners und dessen Abstammung zu behaupten. Aber die Frage, ob man Würmer habe, war etwas ganz Neues. Der Schwertmeister überlegte kurz. Er sollte ähnlich primitiv und derb antworten. »Hast du Euterläuse?«

»Nein.« Der Minotaur sprach langsam, als wolle er jedes Wort erst wiederkäuen, bevor er es über die Lippen ließ. »Natürlich nicht. Ich bin ein Stier.«

Mit einem weiten Satz sprang Ollowain auf eines der Stehpulte. Der schmale Tisch war massiv und schwer; er bewegte sich nicht, als der Elf darauf landete. Der Schwertmeister beobachtete seinen Gegner misstrauisch. Entweder war der Minotaur sehr dämlich oder ein sehr selbstbewusster Kämpfer. Er blickte in Ollowains Richtung. Das war seine einzige Reaktion darauf, dass der Schwertmeister nun fast in Angriffsreichweite war.

Der Elf schätzte seine Aussichten, den Minotauren mit einem einzigen Hieb zu töten, als gut ein. Die Stehpulte gaben ihm im Kampf einen unerhörten Vorteil. Durch sie stand er hoch genug, um einen direkten Schwerthieb gegen die Kehle des Ungeheuers zu führen.

Aber etwas stimmte hier nicht. Dieser dämliche Stierkopf verhielt sich zu lässig. Er hob nicht einmal seinen Kampfstab ...

Eiliger Hufschlag donnerte in der Ferne. Noch mehr von diesen Hörnerträgern! Was, zum Henker, mochte die Minotauren veranlasst haben, die Bibliothek zu besetzen? Diese Raubeine waren etwa so bibliophil veranlagt wie Trolle oder Nixen. Sie hatten hier nichts verloren.

Der Schwertmeister spannte sich. Er musste angreifen, damit wenigstens der erste Gegner schon bezwungen war, bevor die Verstärkung eintraf. Er federte in den Beinen. Dann sprang er. Mit einem formvollendeten Salto erreichte er das Stehpult neben seinem Gegner. Sein Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen und verharrte weniger als einen Zoll breit vor der Kehle des Minotauren.

Dieser dämliche Ochsenschädel machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu verteidigen. Ollowain konnte ihn doch nicht einfach niedermetzeln! Genauso wenig, wie er die Halsabschneider in der Gasse hatte umbringen können. Sie waren übel verprügelt worden. Das genügte! Sie zu töten wäre nicht ritterlich gewesen; zu groß war das Gefälle zwischen ihnen. Es lag keine Ehre darin, einen Feind abzuschlachten, der nicht in der Lage war, sich angemessen zu verteidigen.

»Nicht!«, klang eine Stimme durch die Finsternis.

Der dröhnende Hufschlag war nun ganz nahe. Ein weißer Kentaur preschte heran, der eine helle Laterne bei sich trug.

»Nicht!«, schrie er noch einmal aus Leibeskräften. Ollowain ließ das Schwert sinken.

Die Hufe des Kentauren schlugen Funken, als er auf dem glatten Steinboden zum Halten kam. »Nicht, im Namen der Hüter des Wissens! Kleos ist harmlos. Er wird euch nichts tun.«

Der Schwertmeister hatte in seinem Leben schon einige Minotauren getroffen. Er hatte welche in Vahan Calyd im Weihrauchrausch während des Festes der Lichter beim Tanzen beobachtet, hatte Minotaurenräuber in den endlosen Weiten des Windlands bekämpft und sie in den großen Höhlen der Mondberge zechen sehen. Er kannte viele Gesichter der großen Stiermänner. Doch harmlosen Minotauren war er noch nie begegnet!

Das Licht der Laterne erlaubte es dem Schwertmeister, Kleos näher zu betrachten. Der Minotaur war nicht bewaffnet! Was Ollowain im Dunkel für einen Kampfstab gehalten hatte, war ein Krückstock, auf den sich der Stiermann stützte. Sein rechtes Bein war schwer verkrüppelt. Unnatürlich verdreht vermochte es seinen schweren Leib offensichtlich nicht mehr zu tragen. Und die Augen! Sie waren von einer hellen, warmen Farbe, die an goldenen Bernstein erinnerte. Eines war auf Ollowain gerichtet, während das andere zur Decke hin verdreht war.

»Was ist denn mit Kleos passiert?«

»Bücherschlag«, murmelte der Minotaur undeutlich.

»Bücherschlag? Was ist das?«

»Das ist die direkte Folge davon, dass die Fürsten Albenmarks unsere Bibliothek seit einigen Jahrhunderten in sträflichster Weise vernachlässigen.«

Der Schweif des Kentauren peitschte aufgeregt, während er sprach. Sein Pferdeleib hatte schneeweißes Fell; auch die Haut seines Oberkörpers war ungewöhnlich blass. Ein üppiger Vollbart reichte ihm bis weit auf die Brust hinab. Ein schmales Stirnband aus roter Seide bändigte das volle Haupthaar. Das Gesicht des Kentauren war von tiefen Falten durchzogen. Zwei strahlende Augen beherrschten das Greisenantlitz. Sie hatten die Farbe von frisch vergossenem Blut.

»Viele unserer Buchregale sind nicht direkt aus dem Fels geschlagen«, fuhr er in tadelndem Tonfall fort. »Das wäre die sicherste Art, Bücher zu verwahren, aber es fehlt uns an Steinmetzen. Also sind die meisten Regale aus Holz, das uns die Hure Valynwyn in ausreichendem Maße zukommen lässt. Sie hat uns auch Menschensklaven geschenkt, aber denen ist die Bibliothek nicht zuträglich. Sie werden schon nach kurzer Zeit wahnsinnig. Was wir hier bräuchten, wären ein paar hundert Kobolde, die uns die Regale in Ordnung bringen. Wir haben hier Holzwürmer. Schimmel zum Glück nicht, dafür ist die Luft zu trocken.« Er klopfte sich auf die Brust und hustete. »Obwohl trockene Luft den Lungen weit weniger zuträglich ist als unseren Büchern und Schriftrollen. Aber ich schweife ab. Man weiß nie, wie schlimm es mit den Holzwürmern ist. Manchmal sieht man in den Regalbrettern nur ein paar Löcher, aber in der Tiefe sind sie schon hoffnungslos zerfressen. Wenn es so weit ist, dann genügt manchmal eine geringfügige Erschütterung des Bodens, und ein Regal stürzt unter der Last seiner Bücher in sich zusammen. Eine Erschütterung wie von Kentauren- oder Minotaurenhufen. Ihr leichtfüßigen Elfen werdet nur sehr selten vom Bücherschlag getroffen.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, Kleos sähe so aus, weil ihm ein paar Bücher auf die Schultern geprasselt sind.«

»Ein paar Bücher«, polterte der Kentaur los. »Der Weise schweigt lieber, als über Dinge zu reden, von denen er keine Ahnung hat. Aber offensichtlich bin ich hier an einen Krieger und nicht an einen Weisen geraten.« Der Pferdemann bedachte das blanke Schwert, das Ollowain noch immer in der Hand hielt, mit einem missbilligenden Blick. »Wir haben Regale, die vierzig Schritt hoch sind und in denen so viel Holz steckt, dass man eine Galeere daraus bauen könnte. Kannst du dir vorstellen, wie du aussiehst, wenn dir eine Galeere auf die Schultern fällt? Ganz zu schweigen von den tausenden von Büchern. Das ist es, was wir einen Bücherschlag nennen, Krieger. Es ist wie eine Lawine. Wir haben fünf Tage gebraucht, um Kleos zu befreien. Er war so zwischen Büchern eingequetscht, dass er sich nicht bewegen konnte. Seine rechte Hüfte und sein rechtes Knie waren zerschmettert. Ganz zu schweigen von seinem Schädel. Und während er hilflos dalag, sind ihm wohl Holzwürmer in die Nase gekrochen. Er muss schrecklich gelitten haben.« Der Kentaur senkte die Stimme. »Seitdem ist er ein wenig seltsam.«

»Kleos‘ Ohren sind noch gut!« Der stierköpfige Hüne schnaubte. »Und Kleos zerstampft Würmer!« Seine Nüstern blähten sich erneut, und er schnupperte an Ollowain. »Du bist sicher, dass du keine Würmer an dir trägst? Manchmal verstecken sie sich auch in einem. In der Nase oder in den Ohren.«

Der Minotaur zerrte am Turban des Schwertmeisters und blickte ihm mit seinem gesunden Auge ins Ohr.

»Ganz sicher«, entgegnete Ollowain und schob sein Schwert zurück in die Scheide.

»Kleos war vor seinem Unfall der Hüter des Wissens in einem ganzen Abschnitt der Bibliothek. Es gibt wohl niemanden mehr in Albenmark, der sich in den Geheimnissen der Braukunst so gut auskennt wie Kleos einst. Aber der Bücherschlag hat ihn wie gesagt durcheinander gebracht. Seitdem wacht er hier am Tor.«

»Und Kleos wacht über die Würmer!« Der Minotaur stapfte witternd in Richtung des Mosaiks, bei dem sich der Albenstern befand.

»Er ist ein wenig schwierig«, flüsterte der Kentaur. »Er hat schon ganze Regale verwüstet, weil er glaubte, Bücherwürmer entdeckt zu haben. Und vor drei Monden hat er den südlichen Speisessaal verwüstet, weil es Nudeln gab, die er für Würmer gehalten hat. Hier, als Wächter beim Albenstern, kann er den wenigsten Schaden anrichten.«

»Kann ihm denn kein Heilkundiger helfen?«

Der Kentaur bedachte den Schwertmeister mit einem durchdringenden Blick. »Ich sagte dir doch schon, man hat uns in Albenmark vergessen. Uns fehlen nicht nur Steinmetzen und Zimmerleute, wir haben auch keinen Heilkundigen hier. Mit dieser Hure Valynwyn meiden wir soweit möglich jeglichen Umgang. Sie mag einmal eine bedeutende Heilerin gewesen sein, aber jetzt ...« Er peitschte wild mit dem Schweif. »Reden wir lieber nicht darüber.

Das regt mich nur zu sehr auf! Dass eine Elfe sich Menschen hingeben kann! Widerlich ... Unnatürlich!« Der Kentaur strich sich über den langen Bart. »Wir haben selten Besuch hier unten in letzter Zeit.«

»Vielleicht liegt das an eurem neuen Wächter. Mich hat er erschreckt.«

»Nein, nein. Kleos ist ganz friedlich.«

»Das steht ihm nicht gerade auf der Stirn geschrieben.«

»Du wirst schon sehen, Fremder ...« Der Kentaur wirkte plötzlich verlegen. »Wie unhöflich von mir«, murmelte er, ohne dass er die blutroten Augen abgewandt hätte. »Ich bin Chiron von Arkadien, seinerzeit Lehrer des Königs von Tanthalia.«

Der Schwertmeister deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Ollowain.«

»Der Ollowain? Der Schwertmeister Emerelles?« Chiron pfiff leise durch die Zähne. Dann musterte er sein Gegenüber vom Scheitel bis zur Sohle. »Ollowain also ... In der Bibliothek gibt es ein eigenes Regalbrett mit Büchern und Berichten über dich. Meister Gengalos wird sich freuen, einen so bedeutenden Gast willkommen zu heißen. Er ist der Hüter des Wissens in diesem Bereich der Bibliothek.«

Kleos schob geräuschvoll einige Tischpulte zur Seite. »Wo ist das Mädchen?«, rief er ärgerlich. »Sie wird doch keine Würmer verstecken!« Ganda trat hinter einem der Pulte hervor und hielt sich dicht an Ollowains Seite.

»Ich habe keine Würmer«, sagte sie freundlich. »Du musst dir meinetwegen keine Sorgen machen.« Ollowain wunderte sich darüber, dass sie nichts unternahm, um den hünenhaften Wächter zu verspotten. Offensichtlich hatte sie beschlossen, in der Bibliothek etwas diplomatischer als sonst vorzugehen, dachte der Elf erleichtert.

Ganda trug zwar noch das perlenbesetzte weiße Kleid, doch hatte sie wieder ihre eigentliche Gestalt angenommen. Ihr Fuchskopf kam Ollowain jetzt sehr befremdlich vor. Er hatte sich an das Gesicht des kleinen Mädchens gewöhnt.

»Das ist ja eine Lutin!«, rief Chiron zutiefst erschüttert. »Du hast eine Lutin hierher gebracht! Wie konntest du nur!«

»Das ist ja ein Kentaur«, äffte Ganda seinen Tonfall nach.

»Und im Übrigen war ich es, die Ollowain hierher gebracht hat. Nur um die Tatsachen klarzustellen.« Sie leckte sich mit ihrer kleinen rosa Zunge über die Nasenspitze und bedachte den Pferdemann mit einem spöttischen Blick. »Ich bin neugierig herauszufinden, wer von uns der Bibliothek hier größeren Schaden zufügt. Eine Lutin, der ein Elf auf die Finger schaut, damit sie keine Bücher klaut, oder ein Kentaur, der große Haufen in den Gängen hinterlässt, weil sein Volk zu dämlich ist, sich auf einem Donnerbalken niederzulassen.«

Bei der Vorstellung von einem Kentauren auf einem Donnerbalken musste Ollowain ein Grinsen unterdrücken. Er räusperte sich verlegen. »Sie meint es nicht, so. Sie ...«

»Doch, doch. Sie meint es genau so«, unterbrach ihn Chiron.

»Sie ist eine Lutin! Und ich hoffe, dass du genau das tun wirst, was sie sagt. Ihr auf die Finger schauen! Bücherdiebstahl ist das schlimmste aller Verbrechen. Diese Bibliothek ist das Gedächtnis unserer Welt. Was alle anderen längst vergessen haben, wir bewahren es. Wer hier etwas stiehlt, der mordet ein Stück der Erinnerung unserer Welt. Ja, solch ein Dieb ist sogar schlimmer als ein Mörder, auch wenn an seinen Händen kein Blut klebt. Ein Mörder löscht ein Leben aus, aber er kann nicht die Erinnerung an sein Opfer löschen. Ein Diebstahl hier vermag hingegen das letzte Wissen über längst vergangene Königreiche zu vernichten. Dann ist es, als hätte es sie niemals gegeben. Und wende jetzt nicht ein, ein Dieb würde seine Beute nicht vernichten. Wenn ein Buch verschwindet und wir nicht mehr wissen, wo es zu finden ist, dann betrachten wir es als vernichtet.«

Er warf der Lutin einen vernichtenden Blick zu. »Die Hüter des Wissens sind für ihren Langmut bekannt, doch wenn du ein Buch entwendest, dann kennen wir dafür nur eine Strafe, die Strafe für besonders gewissenlose und heimtückische Mörder: den Tod. Und du ...«

»Ja, ja, es reicht. Ich habe verstanden. Ich werde mich nicht an euren geliebten Schriften vergehen. Sehe ich vielleicht aus wie ein Bücherwurm?«

Ollowain warf dem Minotauren einen besorgten Blick zu. Solche Scherze sollte sich Ganda lieber verkneifen!

Der stierköpfige Hüne neigte den Kopf. Sein linkes Auge musterte sie aufmerksam, während das rechte weiterhin die Decke anstarrte.

Der Schwertmeister hielt den Atem an.

Kleos ließ die Augen rollen, dann verfiel er in ein bellendes Lachen, das die Pulte im weiten Saal erbeben ließ. »Nein, Mädchen. Du bist kein Bücherwurm. Wirklich nicht!« Der Minotaur hinkte ihr entgegen und tätschelte ihr mit der riesigen Pranke über den Fuchskopf. »Kein Wurm. Wirklich nicht!«

»Wenn ihr mit den Vertraulichkeiten fertig seid, würdet ihr dann in Erwägung ziehen, mir zu folgen?« Chiron hatte ein wenig Abstand von ihnen genommen, ließ Ganda aber nicht aus den Augen. »Ich muss euch nun zu Meister Gengalos bringen, einem der Hüter des Wissens. Er wird darüber entscheiden, welchen Dienst ihr der Bibliothek erweisen könnt.«

»Was für einen Dienst?«, wollte Ganda wissen. »Wir sind im Namen der Königin hier, um etwas in Erfahrung zu bringen. Du wirst doch wohl nicht unsere Mission behindern?«

»Darüber habe ich nicht zu befinden.« Er wandte sich um.

»Wenn ihr mir nun folgen würdet? Alle weiteren Fragen wird euch Meister Gengalos beantworten.«

Schweigend führte sie Chiron durch weite Hallen und Flure. Endlose Regale zogen an ihnen vorüber. Die schiere Anzahl der Bücher ließ Ollowain verzweifeln. Ohne Hilfe könnte man hier bis ans Ende seiner Tage suchen — selbst als Elf.« Auf dem ganzen Weg begegneten sie niemandem. Gab es hier denn keine anderen Besucher außer ihnen? Ollowain machte sich Sorgen wegen der Lutin. Hoffentlich war ihr klar, dass sie auf Hilfe angewiesen waren.

Die Bibliothek war ein Ort der Finsternis. Nur wenige Laternen beleuchteten die weiten Flure. Die Düsternis ließ die Hallen noch größer und abweisender erscheinen. Ab und zu waren Barinsteine in die Decken eingelassen, die warmes, honigfarbenes Licht verstrahlten. Doch sie waren viel zu selten. Mit der Zeit kam der Elf zu der Überzeugung, dass hier an allem Mangel herrschte außer an Büchern.

Sie mochten eine halbe Stunde oder länger gegangen sein, als Chiron sie in einen Saal mit bunt bemalter Decke führte. Es war der erste Ort, den sie betraten, an dem das Licht über die Schatten siegte. Eine lange Reihe von Lesepulten stand im Mittelgang zwischen wuchtigen Regalen. Dort saß eine einzelne, schlanke Gestalt in einer sandfarbenen Kutte. Sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und war ganz darin versunken, welke Blätter zu betrachten, die vor ihr auf dem Lesepult lagen.

Chiron gab ihnen ein Zeichen, stehen zu bleiben, und ging dann das letzte Stück zum Pult. Lange Zeit blickte er auf die vermummte Gestalt hinab, bis er sich schließlich leise räusperte.

»Meister Gengalos, verzeiht, wenn ich störe. Es sind Gäste eingetroffen. Sie sagen, Königin Emerelle habe sie geschickt. Einer von ihnen ist der berühmte Schwertmeister Ollowain.«

Die Gestalt am Pult hob das Haupt, doch ihr Gesicht blieb im Schatten der Kapuze verborgen. »So, so. Gesandte der Königin.« Seine Stimme klang warm und freundlich. »Und ich nehme an, sie haben es eilig.«

Chiron lächelte. »Ihr sagt es, Meister.«

»Ollowain, Schwertmeister von Albenmark, und auch Ihr, junge Lutin, tretet vor, damit ich über Eure Aufgaben entscheiden kann«, sagte der Kuttenträger feierlich.

Ollowain zog das Siegel der Königin aus seiner Börse und legte es vor dem Hüter des Wissens auf den Tisch. »Bei allem Respekt, Meister Gengalos, aber wir können uns nicht irgendwelchen aufwändigen Ritualen und Prüfungen unterwerfen. Wir sind im Auftrag der Königin hier, und unsere Mission gebietet uns größte Eile. Seht Emerelles Siegel als Beweis für die Wahrheit meiner Worte. Ich bitte Euch darum, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.«

Gengalos strich mit schlanken, weißen Fingern über eines der vor ihm liegenden Dokumente. Jetzt erst bemerkte Ollowain, dass alle Blätter auf dem Tisch mit Mustern aus zierlichen Buchstaben bedeckt waren. Die Schriftzeichen waren nicht in Reihen angeordnet. Sie schienen sich vielmehr an den Adern der Blätter auszurichten.

»Bevor ich auf deine Forderung antworte, sollst du wissen, dass ich kein nachtragender Mann bin, Ollowain. Du ahnst wahrscheinlich nicht, wie oft ich an den Fürstenhöfen Albenmarks war und eine ganz ähnliche Bitte vorgetragen habe wie du: die Bitte um Unterstützung. Diese Bibliothek droht zu zerfallen. Du hast Kleos ja gesehen. Einst war er ein Weiser, nun ist er nur noch ein Würmerjäger. Bücher brauchen Pflege, Ollowain. Und unsere Bibliothek wächst. Ständig kommen neue Schriften hinzu, ohne dass wir die Möglichkeit hätten, unsere Räumlichkeiten zu erweitern. Gewiss, man mag meinen, mehr als tausend Lesesäle — die Bücherlager und kleineren Leseräume gar nicht mitgerechnet — seien genug. Doch unser Wissen wächst mit jedem Tag. Wir sind wie ein Zierbaum, der in ein zu enges Gefäß gepflanzt wurde. Unsere Wurzeln bilden verschlungene Knoten. Wir werden an uns ersticken, wenn wir keine Hilfe erhalten, oder aber wir müssen damit beginnen, Wissen zu vernichten. Müssen Dinge für unwichtig erklären und sie fortwerfen.«

Er deutete auf das welke Blatt vor ihm. »Dies sind Gedichte von Blütenfeen, niedergeschrieben auf Eichenblättern. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich nun schon mit dieser Lyrik, und doch verzaubert sie mich jeden Tag aufs Neue. Schriftzeichen und Blattadern stehen in vieldeutiger Harmonie zueinander. Blütenfeen gelten als sprunghaft und geschwätzig, doch wem sich ihre Gedichte erschließen, der begreift, dass sie vielleicht die zartesten Seelen Albenmarks sind. So zart, dass sie schon unter einem Schatten vergehen.« Er hob den Kopf.

»Nicht wahr, Ganda?«

»Du liest in meinen Gedanken, Meister?« Die Lutin hörte sich überraschend kleinlaut an.

Die Erkenntnis, dass man vor Gengalos nichts verbergen konnte, beunruhigte Ollowain. Um möglichst wenig von sich preiszugeben, dachte er an die Schrittfolgen der ersten Lektion des Schattenkampfs, einer Schwertkampfübung, bei der man wie ein Tänzer in streng festgelegten Bewegungsabläufen gegen imaginäre Gegner antrat.

»Was sperrst du dich, Schwertmeister?« Gengalos klang enttäuscht. »Zu wissen ist meine Aufgabe. Das ist der Sinn dieser Bibliothek. Also nehme ich Wissen auf, wo immer ich es finde, und ich suche vor allem dort, wo man etwas vor mir verbergen will. Aber ich werde es dir nicht mit Gewalt entreißen. Ihr wollt meine Hilfe. Ihr seid hier, um den Schaden zu begrenzen, den eure Königin im Zorn angerichtet hat. Eigentlich sollte Emerelle hier stehen ...«

»Sie verteidigt Albenmark«, unterbrach ihn Ollowain kühl.

»Das Herzland ist in Gefahr.«

»Ja, in einer Gefahr, die Emerelle selbst heraufbeschworen hat. Glaubst du, sie war leichtfertig? Oder hat sie es getan, um ihre Herrschaft im Schatten einer neuen Bedrohung auch weiterhin zu rechtfertigen? Glaubst du, Albenmark wird vergehen, wenn Emerelle nicht mehr herrscht? Glaubst du, das Werk der Alben ist so schwach, dass es von einer einzigen Seele abhängt?«

»Was ich glaube oder nicht, tut nichts zur Sache. Ich habe eine Mission, und die werde ich erfüllen. Wirst du mir helfen, Meister Gengalos? Stehst du für oder wider die Königin? Bekenne dich!«

Der Hüter des Wissens erhob sich. Er war fast einen Kopf größer als Ollowain. »Das ist das Ärgernis mit euch Elfen. Ihr bringt wunderbare Künstler hervor, Dichter und Philosophen, Baumeister und Krieger, die ihresgleichen suchen. Nur in einer Sache seid ihr jämmerlich. Entweder ist man für euch, oder man ist gegen euch. Dazwischen gibt es nichts. Euch würde niemals einfallen, dass ihr Feinde habt, die euch im Grunde ihres Herzens lieben. Ein Teil eurer Größe liegt darin begründet, dass ihr euch gegen sie behaupten müsst. Vielleicht bin auch ich solch ein Feind, Ollowain? Hier gelten Emerelles Befehle und Wünsche nichts. Und komm mir nicht damit, dass Albenmark bedroht ist. Mir bedeutet es ebenso wenig wie Ganda, wer dort herrscht. Eine Welt zu retten ... das ist ein zu großes Ziel, um wahrhaftig zu sein. Unsere wirklichen Beweggründe sind in der Regel von viel geringerer Natur. Das schätze ich an deiner Begleiterin. Sie ist hier, um die Blütenfeen vor den Schatten zu retten, die Emerelle so leichtfertig in eure Welt gelassen hat. Sie kennt ihre Gedichte, und sie war ihren Seelen nahe. Auch wenn mein geschätzter Freund Chiron nicht viel von den Lutin im Allgemeinen hält, so heiße ich dich ausdrücklich willkommen in der Bibliothek, Ganda. Die Schriften über die Geheimnisse der Alben werden dir offen liegen. Doch sei gewarnt, sie können den Geist verwirren und sind nur selten eine Hilfe. Du aber, Ollowain, wirst für euch beide den Preis zahlen, den Iskendria von seinen Besuchern fordert. Du wirst dem Hüter der Albenschriften in allen Einzelheiten von den Kämpfen um die Snaiwamark berichten. Unser Wissen über diese Auseinandersetzung ist noch sehr lückenhaft, und wer könnte diese Lücken besser schließen als der Feldherr, der den Oberbefehl auf Seiten der Elfen führte.«

»Das kann ich nicht«, sagte der Schwertmeister.

»Warum? Weil du die Erinnerung an all das, was zu Lyndwyns Tod führte, tief in dir begraben möchtest?«

»Wenn du ohnehin in meinen Gedanken liest, warum sollte ich dir dann noch etwas berichten?«, begehrte Ollowain auf.

»Weil es dir Freude macht, mich zu quälen?«

»Nein, Elf. Weil es einen Unterschied macht, ob diese Geschichte in deinen oder meinen Worten niedergeschrieben wird. Du hast bis morgen Zeit, dich zu entscheiden, Ollowain. Chiron wird euch jetzt zu euren Unterkünften bringen, in denen ihr ein Nachtlager für die Dauer eures Aufenthalts in der Bibliothek findet. So ist es Brauch bei uns. Jeder Suchende soll zunächst eine Nacht mit sich und seinen Gedanken verbringen, bevor wir ihn zu den Büchern führen. Ihr seid nun entlassen.«

Der Schwertmeister ahnte, dass es sinnlos wäre, sich gegen die Befehle von Meister Gengalos aufzulehnen. Noch wusste er nicht, wie er sich entscheiden würde. Bisher hatte er allein Emerelle von den Ereignissen in Phylangan berichtet. Sonst hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Es war zu schmerzhaft.

Ganda schwieg, bis Chiron ihnen beiden ihre Räume zugewiesen hatte. Die Lutin war ungewöhnlich still. Erst als der Kentaur längst gegangen war und Ollowain auf seinem Bett ruhte, ohne Schlaf finden zu können, kam sie zu ihm.

»Ich glaube, wir werden betrogen«, flüsterte sie. »Ich gehe mich jetzt ein wenig umsehen. Ich habe das Gefühl, dass sie irgendwelche Bücher vor uns verbergen wollen und wir deshalb in diese Zimmer gebracht worden sind. Sie hätten uns doch gleich zu den Schriften bringen können. Du hast Gengalos deutlich genug gesagt, dass es eilig ist.«

Ollowain zuckte müde mit den Schultern. »Du hast doch gehört, was Gengalos meinte. Dass es Brauch sei, sich eine Nacht lang zu besinnen.«

»Ach, Schnickschnack! Es würde mich nicht wundern, wenn er diesen Brauch eben erst erfunden hätte! Sie haben etwas zu verbergen, deshalb haben sie uns erst einmal hierher geschafft. Hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt einen kleinen Spaziergang unternehme?«

»Würdest du dich denn daran halten, wenn ich es dir verbieten würde?«

Die Lutin lächelte verschmitzt. »Vielleicht. Du bist doch der Anführer.«

»Geh.«

Ein Saal aus Licht

Ganda war müde, und sie ärgerte sich über Chiron. Fünf Schritt voraus wackelte sein verdammter Pferdeschweif, und sie war sich sicher, dass ihm bewusst war, dass er gerade so schnell ging, dass sie laufen musste, um mit ihm und Ollowain Schritt zu halten.

Ohne sie oder den Schwertmeister auch nur eines Blickes zu würdigen, schwadronierte er über die Wunder der Bibliothek. Sie eilten an Wänden entlang, die mit Regalen bedeckt waren, welche sich zur Decke hin in der Finsternis verloren. Spiralförmige Leitern wanden sich an den Bücherwällen empor und führten auf schmale, hölzerne Galerien, wo Ganda noch mehr Leitern entdecken konnte, die immer weiter hinaufführten.

Sie fragte sich, welche Bücher wohl dort oben standen? Die besonders bedeutsamen, die man vor den Blicken Uneingeweihter verstecken wollte? Oder die besonders nichts sagenden, die man in die fernsten Winkel verbannte, weil sie es nicht wert waren, auch nur die Aufmerksamkeit eines flüchtigen Blickes im Vorübergehen zu erhalten?

Ganda war in der Nacht noch lange unterwegs gewesen, und obwohl sie mit solchen heimlichen Ausflügen bestens vertraut war, hatte sie sich beinahe verirrt. Die Bibliothek war ein Labyrinth. Sie hatte einer der unsichtbaren Kraftlinien folgen müssen, bis sie zum Albenstern fand, der sie hierher gebracht hatte. Erst von diesem bekannten Ort aus hatte sie es geschafft, wieder zurück zu ihrem Zimmer zu finden. Den Weg zum Albenstern würde sie in Zukunft ohne Mühe finden. Es war immer gut zu wissen, dass es einen Fluchtweg gab.

Als Ganda zu ihrem Zimmer zurückkehrte, hatte sie Licht durch den Türspalt von Ollowains Kammer fallen sehen. Offensichtlich hatte auch er keinen Schlaf finden können. War die Erinnerung an Phylangan so quälend? Oder war es etwas anderes, das ihm die Nachtruhe raubte? Am nächsten Morgen sah man ihm nicht an, dass er übernächtigt war. Das war das Übel mit den Elfen! Sie konnten tun und lassen, was sie wollten, nichts hinterließ eine Spur an ihnen. Wie aus Marmor gehauen waren ihre Gesichter. Ärgerlich! Sie selbst hatte blutunterlaufene Augen und fühlte sich wie eine Schlafwandlerin, als sie jetzt diesem überheblichen Kentauren hinterherlief.

»Zur Linken beginnen die Hallen der Menschen.« Chiron deutete auf rautenförmige Regale, die an ein Weinlager erinnerten, nur dass hier statt kostbarer Flaschen Stapel von Schriftrollen aufbewahrt wurden, die jede für sich in einer steifen, ledernen Schutzrolle steckten, an deren Verschluss ein Papierfetzen Auskunft über die Texte gab, die darin verwahrt lagen. »Wir unterhalten zwei Schreiber in der Bibliothek der Menschen«, fuhr der Kentaur in näselndem Tonfall fort. »Sie fertigen von allem Bedeutsamen, was die Menschen dort oben niederschreiben, eine Kopie für uns. Kunst findet man unter diesen Werken nicht, und ihre vermeintlichen Erkenntnisse bringen den Leser in Wahrheit weniger zum Erstaunen als vielmehr zum Schmunzeln. Sie haben kaum eine Ahnung von den Geheimnissen ihrer Welt, was sie aber nicht davon abhält, sich diese einander wortreich zu erklären.«

»Ob die Alben wohl Ähnliches über uns sagen würden?«, warf Ollowain ein.

»Die Alben haben mitgeholfen, diese Bibliothek zu errichten, Elf. Sie haben uns den Weg gewiesen, auf dem wir seither schreiten. Ich glaube nicht, dass man hier irgendetwas mit den jämmerlichen Bemühungen der Menschen vergleichen kann.«

»Sie haben mitgeholfen?« Ganda war einigermaßen überrascht. »Wie kann man sich das vorstellen? Haben sie Regale aus den Felswänden gemeißelt?«

Chiron blieb so abrupt stehen, dass die Lutin ihn fast angerempelt hätte. »Es ist schlimm genug, dass ich deine Anwesenheit hier dulden muss, Diebin. Wenn du nun glaubst, du könntest die ehrwürdigen Alben verspotten, dann werde ich dafür Sorge tragen, dass du schneller aus dieser Bibliothek hinausgeworfen wirst, als du es dir vorstellen kannst.«

»Gemach, gemach, Meister Chiron«, beeilte sich Ollowain zu sagen. »Verzeiht die etwas vorschnelle Zunge meiner Gefährtin. Ist nicht Großmut eine der edelsten Tugenden der Weisen? Seid nachsichtig mit Ganda. Und vergebt auch mir, wenn ich die Neugier der jungen Lutin teile. Was haben die Alben getan? Sind uns Schriften von ihnen erhalten geblieben?«

Der Kentaur stieß einen tiefen Seufzer aus, doch der Ärger mochte nicht aus seinem Antlitz weichen. Mit peitschendem Schweif wandte er sich um. »Die Alben haben angeregt, hier in den Trümmern der Zerbrochenen Welt einen Hort des Wissens zu errichten. Sie wählten diesen Ort für unsere Bibliothek, weil er weitab aller Schlachtfelder Albenmarks liegt, und banden ihn ein in ihr Netz der goldenen Pfade. Schriften haben die Alben uns nicht hinterlassen. Doch es gibt Schriften von den ersten Kindern, die sie erschufen. Von jenen, die den Gedanken der Alben noch nahe waren. Doch sind diese Texte so voller abgründiger Rätsel, dass sie sich dem Leser kaum zu erschließen vermögen. Ja, selbst die Bücher, in denen die Gedanken der Alben verwahrt sind, öffnen sich nicht jedem.« Er bedachte die Lutin über die Schulter hinweg mit einem boshaften Blick. »Es heißt sogar, dass diese Bücher jene strafen, die sie berühren, ohne dem höheren Wohl zu dienen.«

Märchen, dachte Ganda bei sich. Solche Geschichten zu verbreiten war billiger, als seine Schätze ausreichend gut bewachen zu lassen. Sie hatte einmal ein Mondsteincollier gestohlen, von dem es hieß, jeder Dieb, der es berühre, werde binnen drei Tagen sterben. Zugegeben, sie hatte nach dem Diebstahl einen unangenehmen Durchfall bekommen, doch das war wohl eher auf das allzu üppige Festmahl zurückzuführen, mit dem sie ihren Erfolg gefeiert hatte, als auf den Todesfluch.

»Hier sind wir nun.« Chiron war vor einer unscheinbaren Tür stehen geblieben. »Hinter dieser Pforte findet ihr die Schriften, die sich mit den Geheimnissen der Alben befassen. Und ihr werdet Meister Galawayn begegnen, dem Hüter des verborgenen Wissens.«

Der Kentaur bedachte Ganda mit einem vieldeutigen Lächeln.

»Wenn ihr die Freundlichkeit hättet, noch zu warten, bis ich mich entfernt habe, wäre ich euch sehr verbunden. Mir ist der Saal hinter jener Tür ein wenig unangenehm.«

»Wie meinst du das?«, fragte Ollowain.

»Ich habe erst vor ein paar Tagen einen anderen Gast hierher gebracht.« Er nahm sich die Zeit für einen abfälligen Blick in Gandas Richtung. »Irgendeinen Kobold, einen unbedeutenden Wicht, der Galawayn etwas berichten sollte. Doch nun entschuldigt mich. Ich ziehe mich zurück.«

»Wir danken dir dafür, dass du uns hierher geleitet hast, Chiron von Alkadien. Und dein Wunsch ist uns Befehl.« Chiron verbeugte sich so formvollendet, wie das einem Kentauren möglich war, und hatte es dann auffällig eilig, sich zu entfernen.

Vorsichtig tastete Ganda über das grobe Holz der Tür. Sie spürte die Aura starker Magie, doch schien der Zauber nicht gegen jene gerichtet zu sein, die den Saal jenseits der Pforte betreten wollten.

Ollowain griff nach dem schweren Türknauf. »Gibt es da etwas, wovor wir uns hüten sollten?«

»Eine unmittelbare Bedrohung kann ich nicht feststellen«, erwiderte Ganda ausweichend. »Der Ort hinter der Tür ist von Magie durchdrungen. Aber sie scheint ungefährlich zu sein.«

»Dann wagen wir es!« Der Schwertmeister öffnete das Tor. Schmerzend helles Licht stach in ihre Augen. Ganda riss den Arm hoch, um sich zu schützen, und taumelte zurück. Selbst Ollowain stöhnte leise.

Halb rechnete die Lutin mit einem Angriff oder zumindest mit einer Donnerstimme, die sich beschwerte, dass man ihre Ruhe störte. Stattdessen vernahm sie leises Flötenspiel. Mit tränenden Augen blinzelte sie in das helle Licht. Was sie sah, mochte Ganda nicht glauben. Kurz hinter der Tür versperrte eine Sanddüne die Sicht, über der sich ein klarer, wolkenloser Himmel spannte. Einen Herzschlag lang glaubte Ganda, ein Tor der Albenpfade habe sich geöffnet. Manchmal war es nur ein Schritt hin zu einem anderen Ort. Man konnte die Dunkelheit des Nichts, das man durchquerte, gar nicht sehen. Aber das hier war anders. Es gab keine Kraftlinien ...

Ollowain sah sie an, als erwarte er eine Erklärung von ihr, doch Ganda konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. Das helle Licht schmerzte nun weniger in den Augen. Sie hatte sich längst zu sehr an die Dunkelheit in der Bibliothek gewöhnt, sodass normales Tageslicht sie blendete.

Zögernd trat sie durch das Tor und erklomm die Düne. Der Schwertmeister hielt sich an ihrer Seite.

Auf dem Kamm der Düne angekommen, breitete sich zu ihren Füßen eine weite Wüstenlandschaft aus. Etwa zweihundert Schritt entfernt stand unter einer einsamen Akazie ein schwarzes Zelt.

Ollowain griff in den Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln. »Eine Illusion ist das nicht.« Ganda blickte zurück. Die Tür zur Bibliothek klaffte wie eine schwarze Wunde im Himmelspanorama hinter ihnen. »Der Sand mag echt sein, die Wüste ist es nicht. Was immer dieser Galawayn noch sein mag, er ist auf jeden Fall ein mächtiger Zauberer. Er muss einen großen Saal mit Sand gefüllt haben. Der Himmel und der Horizont sind Illusion.« Die Lutin schirmte ihre Augen gegen das helle Licht ab. »Aber wo hat er die Bücher, über die er wacht?«

Vor das Zelt war eine weiß gewandete Gestalt getreten und winkte ihnen zu.

»Er wird es wissen.« Mit weiten Schritten eilte Ollowain die Düne hinab.

Ganda folgte ihm zögerlich. In ihren Augen musste man schon ziemlich verrückt sein, wenn man freiwillig sein ganzes Leben in dieser düsteren, fensterlosen Bibliothek verbrachte. Aber das hier? War dieser Saal aus der Sehnsucht geboren, den tristen Bücherwänden zu entfliehen? Oder war der Hüter der Geheimnisse nur noch verrückter als die übrigen Bibliothekare?

Der Fremde legte die Rechte auf sein Herz und verneigte sich höflich vor Ollowain. Der Schwertmeister erwiderte den Gruß. Sie redeten miteinander.

Ollowain deutete zu ihr. Jetzt hat er mich wohl vorgestellt, dachte Ganda. Er ist immer sehr gewissenhaft in diesen Förmlichkeiten.

Der Hüter der Geheimnisse kam ihr entgegen. Er trug ein langes, weißes Gewand wie die Nomaden der Wüste. Er war ein Elf, wie Ollowain. Sein langes, silberweißes Haar trug er offen. Seine Haut hatte einen hellen Bronzeton. Ein gutes, offenes Gesicht, dachte Ganda bei sich.

Sein Lächeln wirkte echt. Die himmelblauen Augen strahlten sie an.

»Du bist die erste Lutin, der ich begegne.« Er lachte auf. »Entschuldige, wenn ich aufgeregt bin, dann bin ich manchmal etwas direkt.« Erneut legte er die Rechte auf sein Herz und verneigte sich nun auch vor ihr. »Willkommen in meinem Heim und meinem Gefängnis, Ganda aus dem Volk der Lutin. Ich freue mich, dich an diesem einsamen Ort begrüßen zu dürfen.«

Er deutete auf das schwarze Zelt, dessen Seitenwände hochgeschlagen waren. »Begleite mich und sei mein Gast.«

»Du bist Meister Galawayn?«, fragte sie misstrauisch. Außer von Angehörigen ihres eigenen Volkes war sie noch nie so freundlich empfangen worden.

Der Elf lachte. Es wirkte erfrischend und ansteckend. »Und schon wieder muss ich dich um Verzeihung bitten. Meine Umgangsformen haben wirklich sehr gelitten. Ja ... du stehst vor Galawayn, dem Hüter der Geheimnisse.«

Ein Schaudern lief Ganda über den Rücken. Sie spürte die Macht des Elfen. Er musste sehr alt sein. Sie suchte in seinem Gesicht nach den Spuren der Jahrhunderte. Doch wie bei Emerelle schienen sie an ihm vorübergegangen zu sein, ohne sichtbare Zeichen hinterlassen zu haben. Nur seine Augen ließen ahnen, wie viel er gesehen haben mochte. Gelassen hielt er ihren kritischen Blicken stand.

»Darf ich dir im Zelt etwas zu trinken anbieten, Ganda? In meinem Volk gehört es zum guten Ton, dass man Gäste zu einem gemeinsamen Mahl einlädt. Viel kann ich freilich nicht bieten, dazu sind die Möglichkeiten hier zu beschränkt.«

»Hast du das alles erschaffen?«

Galawayn lächelte. »Die Halle des Lichts ist wunderbar, nicht wahr?« Er beugte sich zu ihr hinab. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

Was für wunderbare Augen, dachte die Lutin. Sie nickte sacht.

»Ich halte es in dieser düsteren Bibliothek nur schwer aus. Manchmal verlasse ich meine Halle für Wochen nicht. Die übrigen Hüter des Wissens halten mich für sonderbar.« Wieder erklang sein ansteckendes Lachen. »Darin unterscheiden wir uns nicht. Ich halte sie auch für sonderbar. Man könnte die Bibliothek viel schöner gestalten, doch davon wollen sie nichts hören. Komm jetzt, Ollowain wartet auf uns.«

Tatsächlich hatte sich der Elf schon im Zelt niedergelassen. Er kam Ganda seltsam angespannt vor, als sie sich neben ihm auf ein perlenbesticktes Kissen setzte.

Galawayn schenkte ihnen Limonentee in schönen Kristallgläsern ein. Sein Zelt war mit schweren Teppichen ausgelegt. Es gab eine kleine, von Steinen eingefasste Feuergrube, in der Holzkohlestücke glommen. Auf einem Tisch, so niedrig, dass er selbst Ganda nur bis zu den Knien reichte, lag ein verschlossenes Buch. Die Lederhüllen von sieben Schriftrollen lagen ordentlich aufgereiht in einem Ständer. Ansonsten erinnerte nichts daran, dass auch der Saal des Lichts Teil der großen Bibliothek war. Ein Teil des Zeltes war mit durchscheinenden Schleiern abgetrennt. Ganda konnte dort die Umrisse eines großen, mit hellen Intarsien verzierten Tisches erkennen. An den schmalen Seiten standen zwei ledergepolsterte Lehnstühle, die in dem Zelt fehl am Platz wirkten.

Ihr Gastgeber setzte sein Glas ab. »Ich werde mich kurz zurückziehen und einige Zutaten für ein bescheidenes Mahl zusammenstellen. So habt ihr Gelegenheit, ein wenig zu plaudern, ohne meine langen Ohren fürchten zu müssen.« Mit diesen Worten entfernte er sich.

Ganda wartete, bis ihr Gastgeber hinter einer Düne verschwunden und außer Sichtweite war, bevor sie sich an Ollowain wandte. »Was ist mit dir los?«

»Er ist ein Freier von Valemas«, entgegnete der Schwertmeister düster. »Sie hassen Emerelle, denn die Königin hat sie ins Exil getrieben. Er wird Ärger machen.«

»Ich finde, bis jetzt verhält er sich sehr freundlich.«

»Das gebietet die Gastfreundschaft. Die Elfen von Valemas hatten diesbezüglich schon immer einen strengen Ehrenkodex, doch verlasse dich darauf, er wird uns innerhalb seiner Möglichkeiten den Aufenthalt in der Halle des Lichts so unangenehm wie möglich gestalten.«

Ganda mochte das nicht glauben. »Ich habe den Eindruck, dass er froh ist, Gäste zu haben.«

Ollowain lächelte dünn. »Warte nur ab, du wirst sehen, dass ich Recht habe. Da Emerelle uns schickt, wird er unsere Suche nach Kräften behindern. Lass uns nicht hier darüber reden. Ich bin mir sicher, dass er uns hier belauschen kann.« Nach diesen Worten verfiel der Elf in düsteres Schweigen.

Ganda ging zu dem niederen Tisch und betrachtete den prächtigen Folianten, der dort lag. Der schwere Ledereinband war von hunderten feiner Risse zerfurcht. Zwei breite Bronzebänder umgaben den Einband. Die Lutin suchte ein Schloss, doch gab es nichts, das darauf hinwies, wie dieses gefesselte Buch sich öffnen ließ. Feine Steinsplitter waren in die Bronzebänder eingearbeitet. Es waren keine Schmucksteine. Grau und mit rauen Kanten, erinnerten sie an Geröll. Dafür waren die Fassungen der Steine umso sorgsamer gearbeitet. Ein erfahrener Goldschmied hatte einst all seine Kunstfertigkeit aufgeboten, die Steine sicher im Metall zu verankern. Beim näheren Hinsehen erkannte Ganda, dass die Bronzebänder mit dünnen Spirallinien geschmückt waren. Zum Teil war das Muster unter Grünspan verborgen.

Ganda wagte es nicht, das Buch zu berühren. Eine Aura der Macht umgab es. Etwas Vergleichbares hatte die Lutin noch nie gespürt.

Neben dem Buch lag ein Paar altersdunkler Handschuhe auf dem Tisch, deren Innenseiten wohl erst vor kurzem durch helleres Leder zusätzlich verstärkt worden waren. Jedenfalls wies eine Walbeinnadel darauf hin, die Ganda neben dem Tisch im Teppich stecken sah. Auch ein kleines Garnknäuel lag dort.

Auf der anderen Seite des Tisches stand ein Gefäß, das mit einem Seidentuch verhüllt war. Neugierig lüpfte Ganda einen Zipfel des bunten Schals und fuhr erschrocken zurück. Zwei blutrote Augen blickten sie böse an.

Das Tuch glitt zu Boden und enthüllte einen Glaszylinder, der mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war. Darin schwamm eine weiße Schlange mit roten Augen.

Vorsichtig tippte Ganda gegen das Glas. Die Schlange reagierte nicht. Offenbar war sie tot.

»Eine Knochenviper. Es ist ein altes Erinnerungsstück an Valemas«, erklang plötzlich Galawayns Stimme hinter ihr. Der feine Sand hatte das Geräusch seiner Schritte geschluckt. Er trug ein großes, silbernes Tablett, auf dem allerlei rote Tonschalen mit den unterschiedlichsten Speisen standen. Unter den Arm hatte er drei Brotfladen geklemmt.

»Sie sieht noch ganz lebendig aus«, sagte Ganda beklommen.

»Keine Sorge. Sie ist seit Jahrhunderten in diesem Glas und etwa so lebendig wie ein Stein. Knochenvipern sind berühmt für ihr Gift. Es lähmt ihre Opfer. Alle Muskeln erschlaffen, die Lungen versagen den Dienst, und selbst das Herz hört auf zu schlagen. Man kommt nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen. Die Toten sehen aus, als seien sie einfach eingeschlafen. Das Gift hinterlässt keinerlei Spuren. Keine Rötung auf der Haut, nichts. Nur die beiden nadelfeinen Einstiche der Giftzähne. Und sie sind schwer zu entdecken, wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss.«

Ganda schüttelte sich. »Warum stellt man sich so etwas in sein Zelt? Findest du diese Viper etwa schön?«

»Derjenige, den du hier vor dir siehst, wäre wegen dieser Schlange vor langer Zeit beinahe gestorben. Das alte Valemas war berüchtigt für seine Intrigen. Die Viper erinnert daran, dass Leben und Tod davon abhängen können, wie man sich auf einem Stapel Kissen niederlässt. Durch einen glücklichen Zufall wurde sie zwischen den Kissen erstickt. Eine verrückte Geschichte, nicht wahr? Die Schlange erinnert daran, wie nah uns der Tod in jedem Augenblick ist. Doch genug von solchen Schauergeschichten. Komm, setz dich.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung des Kissenstapels neben der Feuerstelle.

Ganda leckte sich nervös mit der Zunge über die Schnauze.

Galawayn lächelte. »Du musst dir keine Sorgen machen. Im Saal des Lichts gibt es keine Schlangen, kleine Freundin. Jedenfalls keine lebendigen.« Er ging hinüber zu den Sitzplätzen, stellte das Silbertablett vor Ollowain ab und rückte die Schalen darauf noch einmal zurecht. »Leider ist das nichts Besonderes. Nur etwas Gemüse, ein paar Saucen, marinierte Taubenbrust und kalte Ziegenleber.« Ihr Gastgeber brach ein Stück von einem der Brotfladen ab und reichte es Ganda. Dasselbe tat er für Ollowain.

Die Lutin begann mit großem Appetit zu essen, Galawayn hingegen rührte die Speisen kaum an. Auch Ollowain hielt sich auffällig zurück. Die beiden Elfen maßen einander mit Blicken. Schließlich war es ihr Gastgeber, der das immer bedrückender werdende Schweigen brach.

»Meister Gengalos hat mich darüber unterrichtet, dass ihr euch für die Geheimnisse der Albenpfade interessiert. Ein weites Feld. Es gibt viele hundert Schriften darüber.«

Der Schwertmeister blickte zu dem kümmerlichen Häuflein an Schriftrollen. »Und wo verwahrst du die Bücher, die du hütest?«

Galawayn zwinkerte ihnen verschwörerisch zu. »Ich habe ein ganz eigenes Ablagesystem für die Schriften unter meiner Obhut. Doch davon später mehr. Sprechen wir lieber von der Schuld, die du gegen die Bibliothek abzutragen hast. Ich habe schon ein wenig vom Kampf um Phylangan gehört. Ist es richtig, dass es eine Reihe von rätselhaften Morden gab, die vor den eigentlichen Gefechten stattfanden? Und stimmt es, dass man den Mörder nie gefasst hat?«

»Es sind hunderte gestorben in diesen Wochen. Die meisten Mörder wurden für ihre Taten nie zu Verantwortung gezogen«, entgegnete der Schwertmeister gereizt, »auch ich nicht. Dabei habe ich von den Trollen, so wie es sich für einen wahrhaft üblen Mörder gehört, eine ganze Reihe netter Beinamen bekommen, etwa 'die tanzende Klinge' oder 'Fleischreißer'. Angeblich hatten sie sogar einen Kopfpreis auf mich ausgesetzt.«

Galawayn wirkte betroffen. Er hob abwehrend die Hände.

»Ich wollte dich nicht beleidigen. Und philosophisch betrachtet, hast du sicherlich Recht, doch gemeinhin macht man ja einen Unterschied zwischen Soldaten, die ihre Feinde töten, und einem Mörder, der scheinbar wahllos zuschlägt. Wurde er denn nun gefasst?«

»Nein! Wir haben uns bemüht. Aber es war die Schlacht, der Kampf ums schlichte Überleben, der unsere volle Aufmerksamkeit forderte. Über den Mörder wissen wir nur, dass er ein zutiefst von Magie durchdrungenes Wesen war. Offenbar konnte er durch Wände gehen ... Und er hatte Freude am Töten. Er scheint wahllos zugeschlagen zu haben.«

Ollowain hatte sein Teeglas abgestellt und die beiden Hände auf die Oberschenkel gelegt. Seine Augen waren geschlossen, so als versuche er sich die Bilder der vergangenen Schrecken in aller Deutlichkeit in Erinnerung zu rufen.

»Muss das denn sein?«, fragte Ganda. Es war nicht zu übersehen, wie sehr es den Schwertmeister aufwühlte, von den vergangenen Kämpfen zu erzählen.

Jetzt setzte auch Galawayn sein Teeglas ab. »Ich wünschte, man hätte eine andere Aufgabe für mich gewählt, aber es ist nun einmal meine Pflicht, von Ollowain eine möglichst genaue Beschreibung der Ereignisse einzufordern.« Nachdenklich strich er sich über das Kinn. »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dir den Bericht zu erleichtern. Du kennst doch gewiss das Falrach-Spiel. Es heißt, man könne jede Schlacht auf einem Falrach-Tisch nachstellen. Falrach selbst war ein Feldherr, und er hatte ausdrücklich im Sinn, mit diesem Spiel den taktischen Verstand künftiger Befehlshaber zu schärfen. Wenn wir also abstrakt die Schlacht auf dem Spieltisch nachstellen, wird es vielleicht weniger schmerzlich für dich sein, darüber zu erzählen.«

Ganda hielt das für ausgemachten Unsinn, aber Ollowain schien ernsthaft über den Vorschlag nachzudenken. Elfen! Welcher Kobold würde sie jemals verstehen. Die Lutin bediente sich ein weiteres Mal. Die Speisen, die ihr Gastgeber aufgetischt hatte, waren wirklich köstlich!

Galawayn bedachte sie mit einem gönnerhaften Lächeln, bevor er weitersprach. »Für heute würde es dann genügen, wenn du mir die Truppen auflistest, die auf beiden Seiten gekämpft haben, und in knappen Worten einige der herausragenden Ereignisse während der Belagerung zusammenfasst. Ich würde dann in der Nacht den Tisch vorbereiten.«

»Versuchen wir es«, sagte Ollowain mit wenig Begeisterung.

Ganda räusperte sich. »Nachdem mein Begleiter nun bereit ist, sich den Gesetzen der Bibliothek zu unterwerfen, bleibt noch eine drängende Frage zu klären.« Die Lutin machte eine weit ausholende Geste. »Du hast einen wunderschönen Ort inmitten düsterer Büchersäle erschaffen, Galawayn. Geradezu eine Oase. Aber wo sind die Bücher, über die du wachst? Ich bin hierher gekommen, um die Geheimnisse der Albenpfade zu studieren.« Sie deutete auf die wenigen Schriftrollen. »Ist das der ganze Bestand an Schriften, über die du wachst?«

»Natürlich nicht.« Ihr Gastgeber lächelte breit. »Ich sagte ja schon, es gibt ein besonderes System der Ablage für die Schriften, die meiner Obhut unterliegen. Es wurde ersonnen, um sie vor leichtfertigem Zugriff zu schützen. Sich in den Saal des Lichts zu schleichen, wird dem Neugierigen kaum weiterhelfen.« Galawayn erhob sich.

Die Lutin warf einen bedauernden Blick auf das köstliche Mahl, das der Hüter der Geheimnisse aufgetragen hatte. Von der Leber hatte sie bislang noch gar nicht gekostet. Dass Galawayn es jetzt plötzlich so eilig hatte, passte ihr gar nicht!

»Folgt mir.« Er lächelte hintersinng. »Machen wir uns auf die Suche nach längst verschüttetem Wissen. Möchtet ihr zunächst mit den Schriften über die Entstehung der Albenpfade beginnen, oder habt ihr andere Interessen?«

Sie kratzte sich nachdenklich unter der Schnauze. Durfte sie zulassen, dass er ihre Nachforschungen lenkte, indem er die Richtung vorgab? Vielleicht sollte sie zunächst einmal auf seinen Vorschlag eingehen. »Das erscheint mir sinnvoll.«

»Gut. Dann folgt mir, ich zeige euch das Geheimnis dieses Büchersaals.« Der Elf verließ das Zelt, sah sich nachdenklich um und führte sie dann über zwei niedrige Dünen hinweg. Wieder blickte er sich um. Ganda konnte keine besonderen Geländemerkmale erkennen, an denen sich Galawayn orientierte. Für sie sah jede der Dünen hier gleich aus.

Der Elf trat ein kleines Stück zurück und hielt sich dann nach links, wobei er leise seine Schritte zählte. Bei dreiundzwanzig kniete er nieder. Mit beiden Händen begann er im warmen Sand zu graben.

Fassungslos sah Ganda ihm zu. Sie traute ihren Augen kaum. Das durfte doch nicht wahr sein! »Sind die Bücher etwa im Sand vergraben?«

Ihr Gastgeber hielt inne und sah sie vorwurfsvoll an. »Natürlich nicht. Die Trockenheit würde sie zerstören. Lagert man Schriften in zu trockenen Räumen, so ist das ebenso schädlich für sie wie Feuchtigkeit. Die Seiten werden brüchig und fallen mit der Zeit auseinander. Ah. Das ist es ja!« Er schien einen rotbraunen Stein gefunden zu haben. »Kommt, helft mir!« Ganda und Ollowain tauschten einen Blick. Der Schwertmeister nickte kaum merklich. Dann knieten auch sie sich in den Sand und halfen ihrem Gastgeber beim Graben.

Wenig später zogen sie eine bauchige, rotbraune Urne aus dem Sand, deren Deckel mit Wachs versiegelt war. Galawayns Finger tasteten über zwei Zeilen fremdartiger Schriftzeichen, die in den kurzen Hals des Tongefäßes geritzt waren. »Von den Pfaden des Lichts und ihren Schöpfern«, murmelte er vor sich hin. »Das ist, was ich gesucht habe. In der Urne wirst du siebzehn Schriftrollen finden, die sich mit der Entstehung des Netzes der Albenpfade befassen.«

Ganda blickte über die Landschaft aus Sanddünen. Das war verrückt! »Gibt es viele solcher Verstecke?«

»Ich wache über siebzehntausenddreihundertacht Schriftrollen mit Texten über die Alben und die fünf Welten, die laut Ratschluss der Hüter des Wissens schwer zugänglich sein sollen.« Er machte eine weit ausholende Bewegung und deutete von Horizont zu Horizont. »Diese Schriften sind in zweitausendfünfundsiebzig Urnen vergraben. Dazu kommen noch einunddreißig Bücher, die in flachen Kisten aus gebranntem Ton begraben wurden. Wer immer hier nach Wissen sucht, der sollte sich meiner wohlwollenden Unterstützung erfreuen oder sehr viel Zeit mitbringen.« Er stemmte die Urne hoch. »Bringen wir den Schatz zurück ins Zelt und beginnen wir mit unserer Arbeit.«

Das goldene Netz

»... Von einem Netz zu sprechen, wenn man die Pfade der Alben mein, ist keine glückliche poetische Metapher. Wer dieses Bild nutzt, legt allenfalls Zeugnis von seiner eigenen Unwissenheit ab. Wenn man aber in seinem schlichten Geiste festgelegt ist auf diese grobe Vereinfachung der Wirklichkeit, so müsste man zumindest von drei Netzen sprechen. Albenmark und die Welt der Menschen sind von einem engmaschigen Netz von Albenpfaden umgeben. Das Netz der Zerbrochenen Welt ist jedoch zerrissen. Man vermag zwar von Albenmark und auch aus der Welt der Menschen zu den Bruchstücken zu gelangen, die im Nichts treiben, doch sind mir keine Pfade bekannt, welche die Trümmer dieser Welt noch miteinander verbänden.

Wer jemals die Pfade der Alben betrat, der weiß um die Schrecken, die im Dunkel lauern. Die Pfade selbst sind geschützt, aber wehe dem, der sie verlässt. Außer den Yingiz gibt es noch eine zweite unsichtbare Gefahr. Sie, begründet sich in der Beschaffenheit der magischen Wege, die denjenige, der sie betritt nicht nur mit wenigen Schritten zu fernsten Zielen zu bringen vermögen. Der Unvorsichtige, der sich die Zeit einer Reise ersparen will, findet sich leicht durch die Zeit davongetragen und muss feststellen, wenn er sein Ziel erreicht, dass während der vermeintlich kurzen Zeit, die er auf den Wegen der Alben schritt, dass in seiner Welt Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte vergangen sind. Davor zu schützen vermag sich nur der, der seine Zauber mit größter Sorgfalt wirkt und stets die großen Albensterne wählt, um seine Reise zu beginnen und zu beenden. (...)

Wie aber sieht es aus, das Wegesystem der Alben? An anderer Stelle schon wurde über das Bild des Netzes gesprochen. Stellt man sich alle Albenpfade die eine Welt umschließen, als großes Netz vor, so gibt es in diesem Netz viele Enden, die herabhängen. Es sind die Pfade, die Albenmark, die Menschenwelt und die Zerbrochene Welt miteinander verbinden. Doch fest verknüpft sind nur diejenigen Stränge, die zwischen den großen Albensternen liegen. Wechselt man an einem niederen Albenstern von einer Welt in die andere, so wagt man viel, denn unmöglich ist es zu sagen, wohin die Reise führen wird. Man stelle sich ein Netz vor, von dem lose Enden herabhängen, die sich in sanftem Wind bewegen. Niemand mag vorherzusagen, wo diese Enden ein tiefer liegendes Netz berühren werden. Und schlimmer noch, so unstet wie der Atem des Windes, so sind auch die Wege. Mal führen sie hierhin, mal dorthin. Niemand, wohl nicht einmal die Alben selbst, könnte sagen, wo eine reise von Welt zu Welt enden wird, die nicht von einem großen Albenstern zu einem anderen führt. Möglicherweise stürzt der unvorsichtige Wanderer sogar ins Nichts, wenn er den falschen Augenblick wählt. »

Zitiert nach:

Die Wege der Alben, von:

Meliander, Fürst von Arkadien

Das Falrach-Spiel

Ollowain betrachtete nachdenklich Galawayns Spieltisch. Der Hüter des Wissens hatte es tatsächlich geschafft, die Ausgangslage der Schlacht von Phylangan mit den Figuren darzustellen. Auf beiden Seiten waren die großen drei, die Königin, die Magierin und der Feldherr, die über Sieg oder Niederlage entschieden, noch im Spiel. Wer alle drei verlor oder nicht mehr einsetzen konnte, der war besiegt. Der Falrach-Tisch war rechteckig. Die quadratischen Spielfelder auf Galawayns Tisch waren aus eingelegtem Marmor und Onyx. Immer abwechselnd folgte Schwarz auf Weiß: zwanzig Steine je Querreihe, sechzehn Querreihen oder auch Schlachtfelder, wie man sie in diesem Spiel nannte, je Seite. Sechshundertvierzig Felder, auf denen zurzeit fast dreihundert Spielfiguren standen. Es gab einfache Krieger, Reiter oder Streitwagen, Helden, Katapulte und viele Sonderfiguren. Jede Figur hatte einen festen Zahlenwert, mit dem sie angriff und sich verteidigte. Zu diesem Wert wurde das Ergebnis eines Würfelwurfs hinzugezählt, wenn sie eine der Figuren auf den Feldern vor sich attackierte. War das Ergebnis höher als der Wert des Verteidigers, der ebenfalls würfelte und das Ergebnis zu seinem Verteidigungswert addierte, dann wurde der Verteidiger vom Feld genommen.

Galawayn hatte seine großen drei in der dritten Schlachtlinie stehen. Sie stellten König Branbart, die Schamanin Skanga und den Feldherrn Ogrim dar. Ollowain hingegen hatte nur seinen Feldherrn vorne im Spiel — jene Figur, die ihn verkörperte. Emerelle, die Königin, wartete in der letzten Linie, wie auch Lyndwyn, die Magierin. Beide hatten keinen aktiven Anteil am Kampf um die Festung.

Der größte Teil der Spielfiguren stand in dichten Reihen im mittleren Teil des Spieltischs. Ollowain hatte sehr viel weniger Figuren als sein Gegner, dafür hatten sie die besseren Spielwerte. Auf der linken Seite des Spieltischs gab es für jede der Querreihen eine Schublade. Insgesamt waren es zweiunddreißig. Jeder der Spieler legte in den sechzehn Schubladen, die zu seiner Spielhälfte gehörten, einen Spielstein ab, der für eine besondere Eigenschaft jedes Schlachtfelds stand. Diese Entscheidung musste vor Beginn der Partie getroffen werden und konnte dann nicht mehr geändert werden. Dadurch, dass die Spielsteine in kleinen Schubladen verborgen lagen, wusste der Gegenspieler nicht, welche Schlachten ihn erwarteten.

Ollowain zog den Spielstein Festung aus seiner Schublade und stellte ihn auf ein gesondertes Feld neben seinem ersten Schlachtfeld.

Der Hüter des Wissens nickte zufrieden. »Ja, so soll es sein.«

Er begann mit seinem Angriff, doch durch den hohen Bonus der Verteidiger geriet der erste Spielzug zur Katastrophe. Bei zwanzig Angriffen konnte er nur zwei gegnerische Spielsteine entfernen. Einer davon ging auf Kosten der Spielfigur, die sie für den geheimnisvollen Mörder entworfen hatten. Galawayn hatte Weiß als seine Spielfarbe gewählt, und die neue Figur war ein großer, weißer Hund. Es war ein mächtiger Spielstein, der als besondere Eigenschaft die Vergünstigungen, die sein Gegner durch das von ihm gewählte Schlachtfeld genoss, ignorieren durfte. Der Hund besiegte einen Spielstein, der einen Koboldarmbrustschützen darstellte.

Galawayn hatte als besonderes Ereignis vor seinem Spielzug das Ergebnis Albenpfad erwürfelt. Das erlaubte ihm, sechs Figuren seiner Seite vom Tisch zu nehmen und in seinem nächsten Spielzug hinter Ollowains Linien zu stellen.

Der Schwertmeister strich sich nachdenklich über das Kinn und betrachtete eindringlich den Spieltisch. Obwohl Würfelglück ein bedeutender Faktor des Spiels war, verlief bisher alles wie in der Belagerung, die keine drei Monde zurücklag.

Ollowain nahm drei Würfel, um sein besonderes Ereignis für den Eröffnungszug zu bestimmen. Zwölf! Seine Katapulte und Bogenschützen verschossen Brandgeschosse, die zusätzlichen Schaden unter seinem Gegner anrichteten. Dem Schwertmeister lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Auch dies spiegelte den Verlauf der Schlacht. Am Ende seines ersten Spielzugs hatte der Gegner dreizehn Spielsteine verloren. Die Schlachtreihe, die gegen seine Festung anrannte, war fast vernichtet.

Galawayn massierte sich mit beiden Händen die Schläfen. »Es war also Herzog Orgrim persönlich, der die Krieger anführte, die durch den Albenstein in deine Festung eingedrungen sind.«

Der Hüter des Wissens nahm die Figur seines Feldherrn vom Spieltisch und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern.

»Das ist sehr leichtfertig gewesen. Als Spieler würde ich so einen Zug nicht machen. Sicher, der Feldherr ist ein starker Spielstein. Wenn er jedoch verloren geht, ist das ein schwerer Rückschlag. Aber wir wollen ja die tatsächlichen Ereignisse nachstellen.« Er nahm drei Würfel und schaffte eine Zehn.

»Schlachtenglück!«, rief er triumphierend. »In dieser Runde darf ich also jeden Würfelwurf, der mir nicht passt, wiederholen.«

Ollowain trommelte nervös mit den Fingern auf den Spieltisch. Der Hüter des Wissens stellte den Feldherrn und fünf Kriegerfiguren auf das zweite Schlachtfeld hinter die Hauptverteidigungslinie. Es folgte ein Massaker. Dadurch, dass Angreifer in seinen Rücken gelangt waren, war der Verteidigungsbonus der Festung aufgehoben. Er verlor sechzehn Spielsteine.

In seinem Zug nahm Ollowain alle überlebenden Figuren vom ersten Schlachtfeld zurück. Er zog den Spielstein für das zweite Schlachtfeld aus der Schublade. Engpass! Der Gegner durfte ihn nur mit fünf Figuren angreifen, während er sich mit ebenso vielen Figuren verteidigen konnte. Solange er fünf Spielsteine auf diesem Schlachtfeld behielt, durfte der Gegner nicht tiefer in Ollowains Hälfte des Spieltischs ziehen.

Der Hüter des Wissens nahm seinen Notizblock und schrieb die Ereignisse des Spiels nieder. Und dann begann er zu fragen. Endlos war seine Gier nach Einzelheiten. Überdies interessierte er sich für Verpflegung und Moral der Verteidiger, erkundigte sich nach den Namen der Gefallenen und fragte immer wieder nach dem rätselhaften Mörder. Schließlich entlockte er Ollowain die Geschichte über den Geisterwolf von Firnstayn, eine Bestie, die wochenlang Angst und Schrecken in einem kleinen Dorf im nördlichen Fjordland verbreitet hatte, bis ein Priester sie tötete.

Als der Schwertmeister mit seiner Erzählung endete, legte Galawayn den Notizblock zur Seite. »Findest du nicht, dass die Morde des Geisterwolfs denen in Phylangan ähneln?«

Ollowain wandte den Blick nicht vom Spieltisch ab. Es war ein Irrtum gewesen zu glauben, dass ihm das Spiel seinen Bericht erleichtern würde. Im Gegenteil! Es war, als erlebe er alles nun zum zweiten Mal. Er war in Schweiß gebadet.

»Ollowain?«

Diese Stimme ...

»Ollowain! «

Unwillig blicke der Elf auf. Ganda hatte ihren Platz an dem Büchertisch jenseits des Gazevorhangs verlassen. Ihre zierlichen Finger strichen sanft über seine Rechte, mit der er die Tischkante umklammerte. Blut war unter seinen Fingernägeln hervorgetreten. Seine Hand war taub vor Schmerz.

»Du solltest mit diesem Spiel aufhören!«

»Davon verstehst du nichts«, antwortete er schroff.

»In der Tat«, sagte Ganda. »Vielleicht kann ich gerade deshalb besser beurteilen als du, dass dir dieses Spiel schadet. Du siehst zum Erbarmen aus! Ich verstehe das nicht. Es ist doch nur ein Spiel ... Man könnte meinen, du wärst vergiftet. Blass und fiebrig bist du. Und du wirst jetzt mit mir gehen! Für heute waren wir lang genug im Saal des Lichts!«

Ollowain atmete aus. Er löste die Hände vom Tisch und betrachtete seine blutigen Nagelränder. Ganda würde ihn nicht verstehen. Dieses Spiel ... Es war unheimlich. Vielleicht waren der Tisch und die Spielsteine verzaubert? Oder die Würfel? Als Galawayn gestern seinen Vorschlag gemacht hatte, hatte Ollowain gedacht, sie würden ein paar Figuren über den Tisch ziehen und sich über die Schlacht unterhalten. Dass sie wirklich spielen würden, hätte er nicht erwartet. Das machte keinen Sinn! Das launische Würfelglück hätte sie längst auf einen Pfad führen müssen, der nichts mehr mit den tatsächlichen Ereignissen gemein hatte. Aber das geschah nicht! Zug um Zug spielten sie die blutige Schlacht nach. Anfangs hatte Ollowain das nicht wahr haben wollen und es als Zufall abgetan. Aber längst war diese Theorie nicht mehr zu halten. Immer unheimlicher wurde es, wie das Spiel parallel zur Realität verlief. Irgendwann hatte sich ein absurder Gedanke in ihm festgesetzt. Wenn das Spiel die Wirklichkeit widerspiegelte, würde sich diese dann ändern, wenn er es schaffte, ihm einen Verlauf zu geben, der von den tatsächlichen Ereignissen abwich? Würde er tot neben dem Spieltisch niedersinken, wenn sein Feldherr verlor? Und würde Lyndwyn noch leben, wenn er es verhinderte, dass ihr Spielstein geschlagen wurde? Seit ihrem Tod war sein Leben nur noch Asche. Was also hatte er zu verlieren? Im schlimmsten Fall eine Hoffnung, die so aberwitzig war, dass er Ganda bestimmt nichts davon erzählen würde. Aber falls er sich nicht irrte ...

»Ollowain! Lass uns gehen!« drängte Ganda. »lhr habt mehr als zehn Stunden gespielt. Es genügt! Und mir tanzen die Buchstaben vor den Augen.«

»Ja, ja.« Noch immer blickte der Schwertmeister auf den Spieltisch. Er hatte die Figur der Magierin fast bis zu den Reihen der Verteidiger gebracht. Wenn sie nahe genug war, würde er aus der vordersten Schlachtreihe fliehen. Er wusste ja, was mit Phylangan geschehen würde. Keine Streitmacht, und sei sie noch so groß, konnte die Bergfestung vor ihrem Schicksal bewahren. Aber vielleicht konnte er Lyndwyn retten. Und wenn das gelang ... Er schloss die Augen und schüttelte bedächtig den Kopf. Ein kindischer Traum! Ein wunderschöner Traum ... Um sie zu retten, würde er alles tun! Er würde sogar zum Verräter an jenen Kämpfern werden, die bereit waren, ihr Leben für ihn zu opfern.

Mit einem tiefen Seufzer erhob sich der Elf. Das war nicht wirklich er! Nie zuvor hatte er wissentlich ehrlos gehandelt. Er war der Schwertmeister der Königin. Ein Vorbild! Und dennoch ... Er sah zurück zu dem Tisch. Wenn er den Stein des Feldherrn aus dem Engpass zog, nahm er den Verteidigern dort die stärkste Spielfigur. Der edle Fremde, der kämpfende Graf, der um Verborgenes Wissende und der Recke dunklen Rufs waren machtvolle Streiter im Falrach-Spiel, aber es war der Feldherr, der sie in den letzten Spielzügen zum unüberwindbaren Bollwerk im Engpass hatte werden lassen. In der wirklichen Schlacht war er der letzte Krieger gewesen, der noch in Phylangan gekämpft hatte. Als die Schlacht verloren gewesen war und er seine Gefährten zur Flucht ermutigt hatte, war er noch einmal zurückgekehrt, um Lyndwyn zu retten.

Ein bitterer Geschmack lag ihm im Mund. Er räusperte sich.

»Ja, lass uns gehen.« Ganda sah ihn sorgenvoll an. Der Schwertmeister versuchte zu lächeln. »Ich weiß, es ist nur ein Spiel. Wie es scheint, bin ich ein schlechter Verlierer.«

»Aber es ist doch noch gar nichts entschieden«, sagte Galawayn aufmunternd, und seine blauen Augen lächelten.

Ahnte er etwas?, fragte der Schwertmeister sich plötzlich.

»Wir beide wissen doch, wie diese Schlacht ausgehen wird. Alles ist entschieden.«

»Ich glaube, du nimmst dieses Spiel zu ernst, Ollowain. Jetzt tut es mir Leid, diesen Vorschlag überhaupt gemacht zu haben. Fast scheint es, als würdest du an dieser Falrach-Schlacht leiden. Deine Gefährtin hat vollkommen Recht. Es ist besser, die Partie jetzt zu beenden. Ich räume den Tisch ab, sobald ihr gegangen seid.«

»Nein! Wir machen nur eine Pause ...« So ging das nicht! Er würde sich jetzt nicht einfach wegschicken lassen. Alles, was ihm von Lyndwyn geblieben war, waren seine Träume. Und den schönsten aller Träume würde er sich nicht einfach so nehmen lassen! Ollowain packte Galawayn bei seinem Gewand.

»Morgen spielen wir weiter! Hörst du? Dann bringen wir es zu Ende.« Dem Schwertmeister entging der Blick nicht, den die Lutin und der Hüter des Wissens tauschten. Sie waren wohl der Meinung, er sei nicht mehr ganz bei sich. Dabei wusste er genau, was er tat!

»Ganz wie du es wünschst.« Galawayn hob beschwichtigend die Hände. »Wir bringen das Spiel zu Ende.« Wieder tauschte er einen Blick mit der Lutin. »Und dir suche ich die Schriftrollen heraus, nach denen du mich gefragt hast. Aber sei noch einmal gewarnt. Du wagst dich auf einen gefährlichen Pfad. Die Yingiz werden dich in deinen Träumen besuchen kommen, wenn du zu viel über sie weißt.«

Die Lutin lächelte selbstsicher. »Ich hatte nicht einmal als Kind Angst vor Albträumen.«

»Ich rede nicht von Albträumen«, entgegnete Galawayn nachdrücklich. »Dein Wissen wird sie anlocken. Es wird sein, als öffnetest du eine Tür in dir selbst. Lass von diesem Unternehmen ab! Ich bitte dich darum.«

Dunkles Wissen

Ganda schreckte abrupt aus dem Studium ihrer Texte auf. Der Gesang der Schwerter war verklungen. Galawayn und Ollowain kamen scherzend zum Zelt hinüber. Das Gesicht des Schwertmeisters war schweißnass. Er hatte das lange blonde Haar mit einem Lederriemen zurückgebunden. Ihr Gastgeber war ganz außer Atem.

Galawayn hatte Ollowain darum gebeten, ihm eine Schwertkampflektion zu erteilen, und dieser war freudig darauf eingegangen. Ganda und der Hüter des Wissens waren insgeheim übereingekommen, dass man den Schwertmeister vom Falrach-

Tisch fern halten sollte.

»Willst du nicht doch lieber andere Texte studieren?«, fragte Galawayn keuchend. »Was du da liest, schlägt einem nur aufs Gemüt.«

Der Hüter des Wissens hatte Recht. Gleich in der ersten Schriftrolle, die Ganda gelesen hatte, beschrieb ein Albenkind, das weder seinen Namen noch sein Volk preisgeben mochte, wie die Yingiz versucht hatten, sein Lebenslicht zu trinken. Wie es zu einer Begegnung mit den Schattenwesen gekommen war, verschwieg der Verfasser. Ganda nahm aufgrund der Handschrift an, dass es sich um einen männlichen Autor handelte. Einen sicheren Beweis hatte sie nicht. Die Lutin vermutete, dass der Urheber des Schriftstücks auf magische Weise versucht hatte, eine Verbindung zu den Yingiz herzustellen. Es gab Andeutungen, dass die Ältesten unter den beseelten Bäumen wussten, wie man die Bannzauber der Alben umging und die Schattenwesen rief.

Ganda konnte sich nicht vorstellen, wie man freiwillig einen Pakt mit den Yingiz schloss. Sie dachte an die Nacht mit Mondblüte und das totgeborene Kind. Die Yingiz waren zu Schatten geronnener Hass. Sie gehörten nicht nach Albenmark! Und Ganda würde alles dafür geben, sie von dort wieder zu vertreiben.

Der anonyme Autor schrieb auch von den Devanthar. Dieses andere Dämonenvolk, das von den Alben bekriegt worden war, vermochte die Körper seiner Opfer zu stehlen und deren Gestalt anzunehmen. Und wenn die Devanthar töteten, konnten sie sogar die Erinnerungen des Ermordeten rauben. Die Yingiz hingegen waren anders. Offenbar brauchten sie Hilfe, um das Nichts zu verlassen, und man musste ihnen einen Körper verschaffen, mit dem sie verschmelzen konnten. Die Geschöpfe, die so erstanden, waren geisterhafte Zerrbilder wirklichen Lebens. Und sie waren stets auf der Jagd. Doch nicht Fleisch oder Blut waren ihre Nahrung. Sie labten sich am Lebensfunken ihrer Opfer. An dem Unsterblichen, das die Alben jedem ihrer Kinder eingehaucht hatten, selbst jenen, die nicht wiedergeboren werden konnten. Um einen eigenen stofflichen Leib ausformen zu können, mussten die Yingiz zunächst genug von dieser Essenz des Lebens in sich aufnehmen ...

»Was haltet ihr davon, wenn wir alle gemeinsam ein gutes Mahl einnehmen?« Galawayn ließ sich neben Ganda an dem niedrigen Studiertisch nieder. Ollowain aber stand bereits wieder neben dem Falrach-Tisch. Die Arme vor der Brust gekreuzt, rieb er sich mit einer Hand das Kinn und betrachtete ganz in sich versunken das Spielfeld.

»Es geht wieder los mit ihm«, flüsterte der Hüter des Wissens.

»Obwohl er sich darauf eingelassen hat, mir eine Fechtlektion zu erteilen, hatte ich von Anfang an den Eindruck, dass er es gar nicht abwarten konnte, zum Ende zu kommen.« Galawayn zeigte ihr seine rechte Hand. Ein breiter, blauroter Striemen lief quer über den Handrücken. »Das war kein Unfall! Dafür ist Ollowain viel zu gut. Ich halte mich selbst nicht für einen völligen Dilettanten im Schwertkampf. Mein Volk ist berühmt für seine Meisterschaft im Klingentanz. In den letzten Jahrhunderten bin ich zwar ein wenig eingerostet, aber in meiner Jugend war ich ein sehr guter Fechter. Im Vergleich zu Ollowain bin ich jedoch ein Nichts. Ich hatte das Gefühl, dass er um jeden meiner Streiche wusste, noch bevor ich überhaupt zum Hieb ansetzen konnte. Anfangs blockte er mich nur ab, aber dann zog es ihn zurück zum Falrach-Tisch. Und er hat mich mit der breiten Seite seines Schwertes regelrecht verprügelt, damit ich unsere Übungsstunde vor der Zeit beende.«

Ganda hatte kein Mitleid mit ihm. Wenn alterslose Elfen von ihrer lang vergangenen Jugend sprachen, fand sie das geradezu obszön. All die Jahrhunderte, die Galawayn lebte, hatten nicht die kleinste Falte in sein Antlitz gekerbt. Trauer um die verlorene Jugend erschien ihr da als hohles Geschwätz.

»Gibt es eine Möglichkeit, das Spiel vor der Zeit zu beenden, so wie die Schwertkampfübung? Ich habe das Gefühl, wir werden Ollowain nicht vom Tisch wegbekommen, bevor die Partie entschieden ist. Mit der Aussicht auf ein paar Happen zu essen wirst du ihn jedenfalls kaum fortlocken können.«

Der Elf nickte tief in Gedanken. »Das Spiel vor der Zeit beenden, das wird sehr schwer. Es sei denn ...« Er sah die Lutin nachdenklich an. »Du bist keine Spielerin, nicht wahr?«

»Jedenfalls keine Falrach-Spielerin. Ich bin keine Elfe, ich habe nicht die Muße, meine Tage damit zu vergeuden. Meine Lebensspanne ist dafür zu knapp bemessen.«

Galawayn lächelte. »Werde ich eines Tages erfahren, mit welcher Art von Spielen du dich beschäftigst?«

»Wenn du es schaffst, mich eines Tages in die Stimmung dazu zu versetzen«, entgegnete sie vieldeutig.

Ihr Gegenüber lachte auf. »Du bist ein Weib nach meinem Geschmack, Ganda. Auch wenn es unhöflich ist, hoffe ich, dass du noch viele Tage brauchen wirst, um das zu finden, was du suchst. Einen Gast wie dich konnte ich bislang noch nicht willkommen heißen. Schlagfertig, mutig und stets zu einem kleinen Wortgeplänkel aufgelegt. Es ist eine Freude, dich um mich zu haben.«

Das war zu höflich, um aufrichtig zu sein, dachte Ganda und lächelte. Er war ein Elf und sie nur eine Lutin. So herzlich verkehrten ihre Völker nicht miteinander. Ganz gleich, wie überzeugend er wirkte, das konnte nicht seine ehrliche Meinung sein! Er wollte etwas von ihr, auch wenn sie noch nicht durchschaute, was es wohl sein mochte.

Galawayn erhob sich. »Ich denke, ich werde deinen Rat beherzigen und versuchen, das Spiel zu einem schnellen Ende zu bringen.« Das Lächeln war aus seinem Antlitz verschwunden.

»So wie Ollowain mich mit einem Hieb auf die Schwerthand kampfunfähig gemacht hat, so werde ich nun auf seine empfindlichste Stelle zielen.«

»Wie meinst du das?« Etwas an Galawayns Art beunruhigte sie. Sann er tatsächlich auf Rache? Wollte er gar den Schwertmeister der Königin dafür büßen lassen, dass Emerelle sein Volk vertrieben hatte?

Der Elf blieb ihr eine Antwort schuldig. Er schlug den dünnen Gazevorhang zurück und ging hinüber zum Spieltisch. Kurz besprach er mit Ollowain ein paar Regelfragen, und dann nahmen die beiden wieder ihre Plätze an den Schmalseiten des Spieltischs ein.

Ganda sah ihnen eine Weile zu. Wieder wirkte der Schwertmeister aufs Äußerste angespannt. Und ganz offensichtlich hatte Galawayn andere Vorstellungen von einem schnellen Spielende als sie. Seufzend wandte die Lutin sich wieder ihren Schriftrollen zu.

Der nächste Text, den Ganda studierte, war ein einziges Ärgernis. Ein anonymer Autor versteckte sein Unwissen hinter gestelzten Sätzen und leeren Phrasen. In einem Absatz hatte er sogar poetische Anflüge und schrieb von einem Schlüssel des aufrichtigen Herzens, der allein das Verborgene zu erschließen vermochte, jenes Wissen, das davor behütet sein musste, in die falschen Hände zu geraten und das der rotgraue Bastard gefangen hielt. So ging es weiter. Eine kryptische Botschaft folgte der nächsten. Ohne Sinn und Verstand!

Ungeduldig schob die Lutin die Schriftrolle zur Seite. Sie sah sich die Lederhülle an, aus der sie den Text gezogen hatte, doch auf dem Papierstreifen, der am Verschluss haftete, war auch kein Verfasser genannt. In Zukunft wollte sie sich Texte dieses Autors ersparen. Nun, wenn sein Name nicht aufzuspüren war, würden ihn eben seine krakelige Handschrift und sein krauser Stil verraten. Ganda schob die Schriftrolle zurück in die Lederhülle und sah sich nach der Urne um, in der dieser Unsinn begraben gewesen war. Doch abgesehen von dem Glas mit der schrecklichen Schlange konnte sie kein Gefäß entdecken. Die Urne mit den Texten, die sie gestern gelesen hatte, war verschwunden. Vermutlich lag sie schon wieder im Wüstensand verscharrt.

Ihr Blick verweilte auf dem niedrigen Ständer für Schriftrollen. Er war aus schwarzem Holz gefertigt. Und er war leer. Wie viele Schriftrollen hatten dort noch gleich gelegen, als sie vorgestern zum ersten Mal in das Zelt getreten waren? Acht? Sie wusste es nicht mehr. Vor ihr auf dem Tisch lagen sieben Schriftrollen. Waren es gar die Texte, die Galawayn hier im Zelt verwahrt hatte? Gab es deshalb keine Urne? Das würde bedeuten, dass auch er sich für die Yingiz interessierte! Welch ein seltsamer Zufall.

Missmutig blickte sie zum falschen Himmel empor. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie niemals auf den Gedanken kommen, dass sich hinter dem grenzenlosen Blau eine steinerne Gewölbedecke verbarg. Galawayn musste wahrlich mächtig sein, dass er solche Zauber wirken konnte. Auch was er mit dem Sand getan hatte, war ungewöhnlich. Gestern war ihr aufgefallen, dass die Spuren im Sand langsam verschwanden, ohne dass der leiseste Windhauch zu spüren war. Galawayn hatte ihr erklärt, dass sich die obersten Sandschichten sacht bewegten. So wurden die Spuren, die man hinterließ, in kurzer Zeit ausgelöscht. Er behauptete, diesen Zauber ersonnen zu haben, weil ihn das Spurengewirr im Sand störte. Verrückt, dieser Elf. Völlig verrückt! So wurde man wohl, wenn man Jahrhunderte nur mit Büchern verbrachte.

Ob er es wohl doch aufrichtig gemeint hatte mit seinem Kompliment? Sie sah zu den beiden Elfen hinüber, die stumm über dem Falrach-Tisch brüteten. Nur das gelegentliche Klackern eines Würfels störte die spannungsgeladene Stille. Das Duell der beiden ging weiter, auch wenn ihre Schwerter wieder in den Scheiden ruhten.

Galawayn war ein hübscher Mann. Natürlich viel zu groß. Aber hübsch ... Selbst unter den Elfen, denen nie ein hässliches Kind geboren wurde, stach seine Schönheit hervor. Und zugleich wirkte er unnahbar. Für einen Augenblick erlaubte es sich Ganda, in romantischen Gedanken zu schwärmen, doch dann rief sie sich wieder zur Ordnung. Es ist eine Freude, dich um mich zu haben. Das waren nichts als leicht dahingesagte Worte! Sie bedeuteten nichts!

Ganda öffnete die nächste Lederhülle. Auf dem Papyrusstreifen am Verschluss stand: VERWUNDETE SEELEN, AUSZUG AUS DEM VII. KAPITEL VON: DIE WEGE DER ALBEN, VERFASST VON: MELIANDER, FÜRST VON ARKADIEN

Der Text war so düster wie sein Titel. Meliander behauptete, dass die Seelen der Alben in den Kämpfen mit den Yingiz und den Devanthar so verletzt worden waren, dass sie schließlich die Welt, die sie erschaffen hatten, ihren Kindern überlassen mussten, um sich für immer an einen Ort zurückzuziehen, an dem sie nichts mehr an die Düsternis erinnerte, die sie zwar verbannen, aber nicht bezwingen konnten.

Schon wieder so geschraubte Formulierungen! Meinte Meliander mit der Düsternis nun den Zustand der Seelen der Alben oder doch eher die Yingiz? Ganda überflog den Text ein zweites Mal. Hatte sie etwas übersehen? Waren die Alben, obwohl sie gesiegt hatten, zugleich auch die Besiegten? Hatten sie verloren, worum gekämpft worden war?

Die Lutin leckte sich über die Schnauze. Nein, so stand das dort nicht. Das war ihre Deutung. Aus dem Text ging nicht hervor, dass die Alben und die Yingiz um Albenmark gekämpft hatten. Und wenn nicht einmal die Alben die Yingiz bezwingen konnten, wie wagte Emerelle dann zu hoffen, dass es ihr gelingen könnte, die Schatten zu vertreiben, die ins Herzland gekommen waren?

Ganda hatte vor ihrer Abreise allen Blütenfeen geraten, das Herzland zu verlassen. Hoffentlich hatten sie auf ihre Worte gehört. Sie mochten die Nähe der Königin. Die Lutin war überrascht gewesen, dass Emerelle um Mondblütes Tod gewusst hatte. Sie hätte darauf geschworen, dass die mächtige Herrscherin Albenmarks sich einen Dreck um solche vermeintlichen Kleinigkeiten scherte. Aber wenn sie gewusst hatte, was geschah, warum hatte Emereile dann nichts unternommen, um Mondblütes Kind zu retten? Bei all ihrer Zaubermacht hätte das doch ein Leichtes für die Königin sein müssen! Zumindest hätte sie die Blütenfee von ihren Selbstmordgedanken abbringen können. Und sei es, indem sie die Kleine mit einem Schlafzauber belegt hätte. Aber sie hatte in ihrer Burg gesessen und in diese verdammte Silberschüssel gestarrt. Dieses ganze Elfenpack blieb ihr ein Rätsel. Da bauten sie eine Burg, die in ihrer Schönheit ihresgleichen suchte, und fanden nicht einmal einen Namen für diesen Ort. Verrückt. So verrückt wie diese beiden Dickschädel, die an ihrem Spieltisch noch einmal die Schrecken einer Schlacht heraufbeschworen, die längst entschieden war. Wem sollte das nutzen!

Ganda streckte sich. Auf Dauer war es ziemlich ungemütlich, im Schneidersitz auf einem weichen Kissen zu hocken. Ihr Nacken war ganz steif geworden, und die Beine waren ihr eingeschlafen. Vorsichtig reckte sie die Glieder, durch die ein prickelnder Schmerz floss. Ihr linker Fuß stieß gegen etwas, das unter dem niedrigen Tisch verborgen lag.

Neugierig beugte sich Ganda hinab. Es war das Buch mit den Bronzebändern, das ihr schon zuvor aufgefallen war. Auch die Handschuhe waren noch da. Sie lagen zusammengeknüllt auf dem Teppich. Nadel und Faden hingegen waren verschwunden. Wie Galawayn dieses Buch wohl öffnete? Es gab kein Schloss an den Metallbändern und keine Scharniere. Sie lagen wie Fesseln um das Buch. Wozu der Elf wohl die Handschuhe brauchte? In den vergangenen Tagen hatte er sie nie angehabt. Jedenfalls nicht, wenn sie und Ollowain in der Nähe gewesen waren.

Sie nahm einen der Handschuhe auf. Er fühlte sich unangenehm an. Warm, als sei er gerade eben erst getragen worden. Doch das konnte nicht sein. Wie hätte er von ihr unbemerkt unter den Tisch gelangen sollen? Er musste dort schon mindestens so lange liegen, wie sie hier saß und über den Schriftrollen brütete.

Ganda strich das zerknüllte Leder glatt. Wozu brauchte man Handschuhe, um ein Buch zu lesen? Und noch dazu Handschuhe, an denen ein Zauber haftete? Was war zwischen den Buchdeckeln verborgen? Vielleicht durfte man die Pergamentseiten nicht berühren? Sie hatte einmal eine Geschichte über ein kleines Büchlein gehört, in dem sinnliche Märchen niedergeschrieben standen. Geschichten, die jeden, der sie las, in Erregung versetzten. Und das hatte nicht allein an den Texten gelegen. Die Seiten des Buches waren mit einem Aphrodisiakum bestrichen worden. Mit einem Zaubertrank, der körperliche Lust weckte. Dieses Liebesgift gelangte über die bloße Haut in den Leib. Je öfter die Hände eine der Seiten berührten, zum Beispiel, wenn man mit dem Finger Zeile für Zeile, die man las, verfolgte — oder zumindest, wenn man umblätterte -, desto mehr Gift nahm man auf, bis man zuletzt vor Lust ohnmächtig wurde. Ganda hatte einen Mond lang vergebens versucht, dieses Buch aufzutreiben. Wahrscheinlich war es nur der Fabulierfreude eines Märchenerzählers entsprungen. Vielleicht sollte sie Meister Gengalos danach fragen? Wenn es in der Bibliothek wirklich alle Texte gab, die jemals geschrieben worden waren, dann müsste sich doch auch dieses Büchlein hier finden lassen. Selbst wenn sie dessen Titel nicht kannte, konnte es ja nicht allzu schwer sein, ein so ausgefallenes Buch zu finden. Es wäre eine angenehme Abwechslung von diesen düsteren und verworrenen Texten über das Nichts und die Yingiz.

Ganda tippte vorsichtig mit dem Zeigefinger gegen die Schnittkanten der Pergamentseiten. Mit einem Aphrodisiakum war dieses Buch bestimmt nicht vergiftet worden. Gewiss brauchte Galawayn die Handschuhe, um sich zu schützen.

Gedankenverloren strich die Lutin über das helle Leder der Innenseite. Weich schmiegte es sich in ihre Hand. Sie spürte die schwache magische Kraft, die den Handschuhen innewohnte. Und etwas beunruhigte sie.

Sie brauchte eine Weile, bis sie sich über diese Unruhe im Klaren wurde. Es war der Handschuh! Es fühlte sich an, als berühre er sie, und nicht umgekehrt. In einer Mischung aus Neugier und Ekel musterte sie das Leder eindringlicher. Die Innenseite der Handschuhe war verstärkt. Die zweite Lederschicht, die Galawayn dort aufgenäht hatte, bestand aus einem einzigen, durchgehenden Stück. Es passte sich der Form des Handschuhs genau an, so wie ...

Ungläubig beugte Ganda sich vor. Sie sah die zarten Wirbel auf den Fingerspitzen. Schlagartig überwog der Ekel die Neugier! Sie ließ den Handschuh fallen. Das Leder auf der Innenseite war die Haut einer Hand. Und sie war immer noch lebendig! Daher rührte das Gefühl, der Handschuh habe sie berührt! Es war keine Einbildung! Er hatte es tatsächlich getan!

Ein wütender Schrei ließ Ganda auffahren.

»Das tust du nicht! Sie wird nicht noch einmal sterben, hörst du!« Den Worten folgte das leise Schaben einer Klinge, die aus ihrer Scheide glitt.

Ganda fuhr herum. Ollowain bedrohte ihren Gastgeber mit seinem Schwert! »Du wirst ihr kein Leid antun. Niemand wird das, solange ich lebe!«

Galawayn hob ganz langsam die Hände. »Es ist doch nur eine Spielfigur«, sagte er beschwörend. »Nur ein Stück Stein, dem ein Künstler eine Form verliehen hat.«

Ollowain streckte den Schwertarm. Die Klinge war weniger als einen Zoll vom Hals seines Gegenübers entfernt. Sie zitterte leicht. »Nenn sie nicht noch einmal ein Stück Stein. Sie lebt, solange die Zauberin nicht geschlagen wird.«

»Ollowain.« Ganda sprach den Namen ihres Gefährten leise und eindringlich. »Du kannst deine Zauberin retten. Bring sie fort von hier.«

Gehetzt blickte der Schwertmeister zu ihr hinüber. Sein Gesicht war fahl und glänzte vor Schweiß. Das lange blonde Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn. Er schien Fieber zu haben.

»Tritt zurück«, sagte Ganda beschwörend. »Du musst sie fortbringen und nicht kämpfen.« Ollowain sah wieder zu Galawayn. Schließlich nickte er. »Ja, ich muss sie fortbringen.«

Langsam trat er rückwärts aus dem Zelt. Dann wandte er sich um und begann zu laufen.

Galawayn atmete hörbar. »Er hätte mich getötet.«

»Was hast du ihm angetan?«, fragte die Lutin barsch. Sie schob den dünnen Schleier zur Seite und trat an den Spieltisch. Ganda musste auf Ollowains leeren Stuhl steigen, um das Spielfeld überblicken zu können. Der Schwertmeister schien seine Schlacht verloren zu haben.

Der Hüter des Wissens nahm eine Spielfigur vom Tisch, die in zwei Teile zerbrochen war. Ein großer, weißer Hund.

»Ich wollte seine Magierin schlagen«, erklärte Galawayn. »Mit dem Geisterhund. Da ist er plötzlich vom Wahn gepackt worden. Ich wollte das Spiel abkürzen, so wie du mir geraten hattest, Ganda. Ich habe gemerkt, dass er sich merkwürdig verhielt, wenn es um diesen Spielstein ging. Er hat seinen Feldherrn neben die Magierin gezogen, um sie zu schützen. Dabei wäre es klüger gewesen, ihn bei den Truppen zu lassen.«

»Wurde die Magierin, wurde Lyndwyn, durch einen Hund getötet?«

Der Hüter des Wissens schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht...«

»Was heißt das?«

»Er hat darüber nicht sprechen können, als ich ihn vorgestern befragte. Er hat etwas von einem verlorenen Gesicht gemurmelt. Sie scheint am Ende der Kämpfe umgekommen zu sein.«

Ganda blickte zu der breiten Spur im Sand. Sie führte die große Düne hinauf. Vom Zelt aus betrachtet, sah es aus, als ende sie im Himmel, der doch nichts als eine Illusion war.

»Ich werde ihm folgen«, sagte sie traurig.

Von Spielarten der Liebe

Seit Stunden irrte Ganda durch das Labyrinth der Bibliothek, ohne Ollowain finden zu können. Zunächst hatte sie ihn in seiner Kammer gesucht. Vergebens. Dann war sie in dem hell erleuchteten Kreuzgewölbe mit den sieben Springbrunnen gewesen, wo das Wasser eine leise, beruhigende Melodie spielte. Dorthin hatte sich der Elf am Abend zuvor zurückgezogen, um mit sich wieder in Einklang zu kommen. So hatte er zumindest gesagt. Doch auch dort steckte er diesmal nicht. Ziellos streifte die Lutin durch Lesesäle, durch lange, von Bücherregalen gesäumte Flure und kleine Kammern, in denen leicht angestaubte Ohrensessel dazu einluden, es sich mit Büchern gemütlich zu machen. Es war beklemmend, wie leer die Bibliothek war.

Schließlich gelangte sie zu einer Tür, durch die Stapel von Büchern in einen düsteren, runden Saal quollen. Die alten Folianten mit Goldschnitt und schweinsledernen Buchdeckeln lagen wild durcheinander. Manche der Bücher waren auseinander gebrochen; vergilbte Pergamentseiten hatten sich gleich einer Flut in die Schluchten des Büchergebirges ergossen. Flüchtig las Ganda einige der Titel auf den Buchdeckeln. Vom flüssigen Gold der Faunen, Die Seele des Weins, Hundert Gebote der Braukunst, Roter Kalpurner, Weinprobe in Arkadien.

Ein Geräusch ließ Ganda aufschrecken. Hoch über ihr flammte eine Lampe auf. Undeutlich erkannte sie zwei kleine Gestalten, die auf einer Galerie hoch über ihr vor einer Wand roter Buchrücken mit einer Öllampe hantierten.

Ganda formte die Hände zu einem Trichter, legte den Kopf in den Nacken und rief laut: »Habt ihr einen weiß gewandeten Elfen gesehen?«

Die Schattengestalten hielten in ihrer Arbeit inne. Eine beugte sich über das Geländer der Galerie. Das Licht der Lampe fiel seitlich auf sein Antlitz. Die spitzen Schweinsöhrchen, schmalen Augen und die dunkle, lederne Haut gehörten zu einem Kobold. Undeutlich murmelte er etwas.

»Ich kann dich nicht verstehen.« Der Kobold winkte mit den Armen und legte dann mit weit ausholender Geste einen Finger an die Lippen.

Blöder Kerl, dachte Ganda. Wen sollte sie hier mit ihren Rufen schon stören. Wütend sah sie sich nach der Wendeltreppe um, die hinauf zu den Galerien führte.

»Bleib, wo du bist!«, zischte es von oben herab. Behutsam, den Rücken dicht an die Regalwand gepresst, schlich der Kobold die Galeriewand entlang, während sein Gefährte aus einem Fässchen auf seinem Rücken weitere Öllampen auffüllte.

Vorsichtig und quälend langsam kam der Kobold die enge Wendeltreppe herab. Und obwohl er seine Schritte mit äußerster Bedachtsamkeit setzte, erzitterte die Treppe bei jeder Bewegung, und die schweren Regale, in denen sie mit langen Holzdübeln verankert war, knarrten drohend.

Endlich ließ der Kobold die letzte Stufe hinter sich. Oben auf der Galerie waren weitere Öllampen aufgeflammt, und warmes goldenes Licht trieb die Schatten zurück.

»Hast du das Hirn einer Maus in deinem verdammten Fuchsschädel, Lutin?«, zischte der Kobold wütend. Er war fast einen Kopf kleiner als Ganda. Seine geflickte, viel zu große Hose war mit einem ausgefransten Seil über der Hüfte zusammengebunden. Auf einem weißen Hemd voll dunkler Tintenflecke trug er eine ärmellose Weste, auf die mit schwarz angelaufenen Silberfäden merkwürdige Symbole gestickt waren. Das strähnige graue Haar hatte er mit einem roten Stirnband zurückgebunden, was ihm etwas Verwegenes gab. Tiefe Falten hatten sich in seine Mundwinkel gegraben, und dunkle Ringe lagen unter den blass-grauen Augen. Von den Fingern seiner linken Hand waren nur noch vernarbte Stümpfe geblieben.

Ganda beschloss, die Beleidigung zu übergehen. »Hast du vielleicht einen Elfen ....«

»Ja, ja, ja!«, grummelte ihr Gegenüber. »Sprich gefälligst leiser, Lutin. Verdammt, hast du denn keine Ahnung, wo du hier bist?«

»Pass auf, oder ich werde dich ...«

Der Kobold hielt ihr mit beiden Händen die Schnauze zu.

»Leise! Verdammt noch mal!« Staub rieselte von einem der Regalbretter. Hoch über ihnen knarrte es bedenklich.

Der Kobold auf der Galerie hielt inne und sah besorgt herab.

»Du bist neu hier, nicht wahr?«

Ganda nickte.

»Das hier ist der Rosenturm.« Er deutete mit seiner verstümmelten Hand in die Höhe. »Fünfzig Schritt hohe Regale, gefüllt mit dem Wissen einer ganzen Welt. Alles, was jemals über Rosen geschrieben wurde. Gedichte, naturwissenschaftliche Abhandlungen, Bildbände, Bücher voller gepresster Blütenblätter. Selbst die Regale hier sind aus verleimtem Rosenholz.« Der Kobold ließ Ganda los und legte einen Finger an seine Lippen.

»Halte deine Stimme im Zaum!« Er trat an eines der Regale.

»Komm her und sieh dir das an!«

Ganda gehorchte stumm.

Ihr Begleiter ließ seine verstümmelten Finger über ein staubiges Regal gleiten. Unter dem Staub sah man dutzende winziger Löcher im Holz.

»Die Regale sind zerfressen, und das Holz ist so brüchig wie ein alter Korallenstock. Hier kann jeden Augenblick alles zusammenbrechen. Ein Schrei oder ein schwerer Tritt auf den Boden, und es ist vorbei. Andererseits, wenn man vorsichtig ist, mag es auch noch ein weiteres Jahrhundert lang gut gehen.« Er zuckte resignierend mit den Schultern. »Vielleicht erinnert man sich ja in Albenmark an uns und schickt statt neuer Bücher und einer tollpatschigen Lutin mal ein paar hundert Handwerker.«

Ganda verkniff sich eine patzige Antwort. »Und warum kletterst du auf dem Regal herum, wenn es so gefährlich ist?«

Der Kobold hakte seine Daumen in die Weste ein und versuchte geringschätzig auf sie herabzublicken, obwohl sie ein gutes Stück größer war als er. »Weil dies die Bibliothek von Iskendria ist. Die Tatsache, dass wir langsam zerfallen, ist kein Grund, seinen Pflichten nicht mehr nachzukommen. Heute Abend versammeln sich die Hüter des Wissens im Kristallsaal, um Meister Gengalos zu feiern. Er hat sein fünfhundertstes Buch auswendig gelernt. Er ist ein einsames Licht des Wissens in dieser finsteren Zeit. Der Weg, den er zum Kristallsaal nimmt, soll eine Straße des Lichts sein. So gehört sich das bei feierlichen Anlässen. Deshalb beleuchten wir alle Säle und Gänge, durch die er schreiten wird. Ja, sogar die benachbarten Räume. Es soll so sein, wie es hier früher einmal war. Wenn du nun genug gehört hast, dann würde ich mich gern wieder meiner Arbeit widmen.« Mit dunklen Augen sah er sie eindringlich an. Plötzlich grinste er frech. »Du hast mich doch nicht nur gerufen, um dich wichtig zu machen. Wenn du mich suchst, findest du mich abends in der Kammer hinter der Buchbinderei nahe dem Traumsaal.« Er zwackte sie in die Wange.

»Man sollte in dieser Bibliothek niemals schreien.« Er blickte viel sagend das nächststehende Regal an. »Aber ich mag Weibchen, die etwas riskieren.«

Gandas Lippen bewegten sich stumm. Sie murmelte einen Zauber, der sie nach Sandelholz duften ließ. Die meisten Koboldmänner, denen sie in ihrem Leben begegnet war, waren ganz verrückt nach Sandelholzduft. »Eigentlich wollte ich von dir wissen, ob dir ein weiß gewandeter Elf über den Weg gelaufen ist.« Sie wagte einen koketten Augenaufschlag. »Wenn du mir helfen würdest, ihn zu finden, dann wäre das sehr ritterlich von dir. Und ich schätze ritterliche Männer.«

Der riesige Adamsapfel ihres Gegenübers ruckte auf und ab.

»Ach ja, der Elf. Vielleicht so ein Kerl mit langen, blonden Haaren, der etwas ... der etwas irre wirkt und mit sich selbst spricht.« »Das könnte passen.«

»Bist du sicher, dass du weißt, wo die Buchbinderei beim Traumsaal ist? Sonst fragst du nach Qualbam dem Dritten. Man kennt mich ganz gut, weil ...«

Ganda hob ärgerlich eine Braue und wurde sich im selben Augenblick bewusst, dass sie anfing, Ollowains Unarten zu übernehmen. »Ich bin mir sicher, dass Ehrenmänner nicht feilschen, wenn sie an der Gunst einer Dame interessiert sind.«

»Ist schon gut! Schon gut.« Der Kobold hob beschwichtigend die Hände. »Also, selber gesehen habe ich den Kerl nicht. Aber drüben im Jade-Saal, da hat Orinox von so einem ...« Er räusperte sich und wartete einen Augenblick, ob sie durch irgendeine Geste verriet, wie sie zu den Elfen stand.

»Und weiter«, drängte Ganda.

»Ja also, Orinox hat gesagt ... Es sind seine Worte, die ich jetzt wiederhole: Da kam so ein irrer Elf vorbei, hat mit sich selbst gesprochen und ist geradewegs in den Brauturm gelaufen. Das ist ein Bücherschacht wie dieser Raum hier. Oder besser gesagt, das war er einmal, denn die Regale sind zusammengebrochen und haben Kleos unter sich begraben. Du hast ihn vielleicht schon gesehen. Das ist der Minotaur, der immer ...«

Ganda unterbrach ihn mit einer knappen Geste. »Ist der Ort noch gefährlich?«

»Gefährlich? Du machst wohl Witze. Gefährlich ist gar kein Ausdruck! Ein Läusefurz reicht aus, um dort eine Lawine auszulösen. Da liegen tausende Bücher und hunderte zerbrochene Regalbretter durcheinander. Niemand, der seine Sinne beieinander hat, geht da hinein. Als sie Kleos dort herausgeholt haben, hat es noch drei weitere Bücherschläge gegeben, deshalb hat es so lange gedauert, ihn zu retten.«

»Und ihr habt den Elfen einfach so dort hineinlaufen lassen? Er ist ein Fremder hier. Er hat keine Ahnung!«

Qualbam zog mit dem Zeigefinger eins seiner Augenlider herab. »He, Schwester. Welcher Kobold stellt sich einem Elfen in den Weg? Besonders dann, wenn der mit einem gezückten Schwert herumrennt.«

»Wie lange ist das her?«

»Weiß nicht ...«, antwortete er gedehnt und bohrte nachdenklich in der Nase.

»Ich glaube, ich vergesse gerade, wo der Traumsaal ist.«

Qualbam zog den Finger aus der Nase und begutachtete seine Beute. »Du kommst sowieso nicht.«

»Du meinst also, ich sollte lieber diesen Orinox fragen gehen.«

Der Kobold wischte sich den Finger an der Hose ab. »Das ist schon eine ganze Weile her.« Er blickte zu der Tür, in der sich die Ausläufer der Bücherlawine stapelten. »Allerdings habe ich es dort drinnen ein paarmal ganz ordentlich rumpeln hören. Du solltest da lieber nicht ...« Das war alles, was Ganda wissen wollte. Entschlossen ging sie zur Tür. Sie würde Ollowain da herausholen, und wenn sie das geschafft hatte, dann würde dieser eingebildete Elf zu hören bekommen, was sie von seinem überheblichen Volk hielt! Sie würde ihm derart den Kopf waschen, dass er nicht mehr wusste, an welchem Ende er sein verdammtes Schwert anpackte ...

»Lass das, Weib! Mach dich nicht unglücklich!« Qualbam packte sie bei der Schulter und zog sie zurück. »Geh nicht durch diese Tür. Wenn du dich umbringen willst, dann schneid dir doch lieber gleich die Kehle durch.«

»Nimm deine Finger weg«, fauchte Ganda. »Du wirst mich von gar nichts abhalten.«

Qualbam hielt ihrem wütenden Blick stand. »Wenn du diesen Elfen schon suchen musst, dann nimm wenigstens denselben Weg wie er. Ich werde nicht versuchen zu begreifen, was in so einem Fuchskopf vor sich geht. Und ich werde dich auch nicht weiter aufhalten. Also komm schon.« Er wandte sich ab und verließ den hohen Bücherschacht.

Ganda war so beeindruckt, dass keine schnippische Bemerkung mehr den Weg über ihre Lippen fand. Qualbam überraschte sie. Ihm schien tatsächlich an ihr gelegen zu sein. Sie folgte ihm.

Der Beleuchter brachte sie durch einen von Bücherborden gesäumten Gang, der sich in weitem Bogen krümmte. Alle Bücher hier waren in dunkelgrünes Leder gebunden, und die Titel prunkten in prächtigen Goldbuchstaben auf den Rücken. Ein leichter Geruch von Gerbsäuren hing in der Luft.

»Neue Texte«, murmelte Qualbam, ohne sich auch nur nach ihr umzublicken.

Sie erreichten einen Saal mit bedrückend niedriger Decke. Feuerschalen atmeten feinen blauen Rauch. Der erfrischende Duft von Fichtennadeln schwebte mit den beiden, als sich der Rauch in sanften Wogen vor ihnen zurückzog.

Entlang der Regale waren jetzt Stapel von Büchern aufgeschichtet. Wie Mauerwerk kletterten sie die Wände empor. Hier und dort lehnten auch schwere Holzbalken. Sägemehl dämpfte Gandas Schritte.

Schließlich erreichten sie eine Tür, hinter der undurchdringliche Finsternis kauerte. »Dort musst du hinein«, flüsterte Qualbam.

»Das ist der ....«

»Leise!« Der Kobold hob in beschwörender Geste die Hände.

»Leise, bitte.« Misstrauisch musterte er die nächstgelegenen Buchregale. »Es heißt, dass sich hier einige besessene Bücher eingeschlichen haben. Sie kommen gern an Orte, an denen ein Unglück geschehen ist.«

»Besessene Bücher?« Solch einen Unsinn hatte Ganda noch nie gehört. Wahrscheinlich wollte Qualbam sich nur wichtig machen. Obwohl ... Sie schnupperte. In ihrer wahren Gestalt nahm sie Gerüche viel deutlicher wahr. Ihre feine schwarze Fuchsnase eröffnete ihr eine verborgene Welt, und ihr Geruchssinn verriet ihr ebenso viel über ihre Umgebung wie ihre Augen. Sie wusste, dass sie hier auf dem richtigen Weg war, denn Ollowain hatte eine feine Duftspur zurückgelassen. Sein Körpergeruch war zwar etwas ausgeprägter als bei anderen Elfen, aber immer noch zu schwach, um die Witterung aufnehmen zu können. Was ihn verriet, war der Geruch nach dem Waffenfett, mit dem er sein Schwert pflegte.

Ganda roch auch den Knochenleim, den die Buchbinder verwendet hatten, das Pergament und den Duft von Galläpfeln, die man zur Gewinnung von Tinte verwendete. Frisch bearbeitetes Holz, Staub und Bierhefe waren andere Duftmarken, die sie wahrnahm. Und der säuerliche Geruch der Angst. Nicht nur Qualbam roch danach. Dieser Duft war in die Lederdeckel der Bücher eingezogen. Hier in diesem niedrigen Saal hatten sich schon viele gefürchtet.

Die Lutin blickte zur Decke empor. Hinter einem dünnen Rauchschleier war sie mehr zu ahnen, als wirklich zu sehen. Kleos hätte hier tief gebeugt gehen müssen, so niedrig war der Büchersaal.

»Es gibt ziemlich gemeine Bücher«, flüsterte Qualbam. »Bücher, in die man Magie band, die sich dann irgendwann selbstständig machte. Viele davon haben wir Kobolde zu verantworten. Und ich rede jetzt nicht von so harmlosen Dingen wie dicken Chronikbänden, die sich einen Spaß daraus machen, dir auf den Kopf zu fallen, wenn du an ihrem Regal vorbeigehst. Oder Lexika, die in ihren Artikeln ein geschicktes Netz von Lügen verbreiten, das sich beständig dem Wissensstand ihrer Leser anpasst, bis diese nicht mehr zu erkennen vermögen, was Wahrheit und was Trug ist. Aber das ist Kinderkram ... Ich rede von Büchern, die mit ihren Bronzebeschlägen nach deinen Fingern schnappen, wenn du sie in die Hand nehmen willst, Bücher, die dich trinken und zu einer bunten Figur in einer Illustration machen, oder, schlimmer noch, Bücher, die eine Pforte ins Nichts sind, durch die du in den bodenlosen Abgrund stürzt, wo dunkle Seelenfresser auf dich warten.« Wieder sah er sich ängstlich um. »Und dann gibt es da noch die besessenen Bücher, die den Geist eines verwirrten Autors in sich tragen. Ihre Verfasser haben sie meist mit ihrem eigenen Blut geschrieben. Sie enthalten Geschichten, die keinen Anfang und kein Ende haben. Und wenn du in ihnen blätterst, dann stehlen sie dir deine Erinnerungen, in der Hoffnung, dass du zu der Romanfigur wirst, die der planlosen Erzählung einen Sinn verleiht. Manchmal tauschen sie sogar deine Erinnerung aus. Das ist besonders heimtückisch. Du erinnerst dich dann in tausend Einzelheiten an ein Leben, das du niemals geführt hast. Grobhäm Plog, ein Lutin, der lange Zeit in Talsin lebte, ist berüchtigt dafür, mehr als zwei Dutzend dieser besessenen Bücher erschaffen und an Leute verteilt zu haben, die er nicht leiden konnte. Die meisten dieser verfluchten Bücher sind jetzt hier und gut weggeschlossen, aber einige haben die Eigenschaft, dass sie einfach nicht an dem Platz bleiben wollen, an dem man sie ablegt. Nicht einmal schwere Eisenketten oder Bleitruhen halten sie gefangen.«

Ganda kannte Grobhäm aus hunderten Erzählungen und tausenden Flüchen. Er trug mit Schuld daran, dass die Lutin einen so schlechten Ruf hatten. Mochte er auch für alles Ungemach, das er erlitten hatte, Genugtuung erstritten haben, so hatte er zugleich seinem Volk eine ungleich größere Last aufgeladen. Sprachen die anderen Völker über Lutin, dann dachten sie an Grobhäm und ähnliche Griesgrame. Waren Lutin in der Nähe, dann schrieb man ihnen jedes Missgeschick zu, das geschah, von Fehlgeburten beim Vieh über Unfälle in Haus und Hof bis zu hin zu schlechtem Wetter.

Qualbam beäugte misstrauisch ein kleines, schwarzes Büchlein, das zuoberst auf einem Stapel lag. »Nimm hier nie ein Buch in die Hand, von dem du nicht sicher weißt, was darin stehen wird. Suche im Zweifel einen der Hüter des Wissens und frag ihn, ob du ein Buch gefahrlos lesen kannst. Sie erkennen die besessenen Bücher. Meistens ... Sie verändern ihre Gestalt. Die Bücher natürlich, nicht die Hüter des Wissens. Und sie wirken ganz harmlos.«

Ganda musste unwillkürlich an das Buch denken, das Galawayn in seinem Zelt verwahrte. Mochte das so ein verfluchtes Buch sein? War es eine Falle für sie? Hoffte der Elf darauf, dass sie es sich ansah? Ergab das einen Sinn? Galawayn hatte ihr nichts getan ... Und auch für Ollowain hatte er nur das Beste gewollt. Die Lutin starrte in die Dunkelheit jenseits der Türöffnung. Und hierher hatten seine Bemühungen sie nun geführt. War das ein unglücklicher Zufall? Oder war es von Anfang an Galawayns Absicht gewesen, Ollowain zu quälen? Wollte er sich dafür rächen, dass Emerelle sein Volk einst aus Albenmark vertrieben hatte? Und wessen Haut hatte der Hüter des Wissens auf seine Handschuhe gezogen? Jemandem, der so etwas tat, sollte man mit Vorsicht begegnen.

Qualbam kletterte behände an einem Regal empor und kam mit einer schönen, mit Nixen bemalten Öllampe zurück. »Die wirst du brauchen, Ganda«, flüsterte er. Dann malte er mit flinken Fingern ein Schutzzeichen gegen das Böse in die Luft. »Ich wünsche dir Glück, Lutin.« Plötzlich grinste er keck. »Und du weißt ja, du findest mich in der Kammer hinter der Buchbinderei beim Traumsaal. Ich warte dort auf dich.«

Ganda schenkte ihm ein mildes Lächeln und nahm die Lampe entgegen. Vielleicht würde sie ihn wirklich besuchen. »Mach dir keine Sorgen um mich. Du weißt ja, die Alben lieben die Tollkühnen und die Verrückten.«

»Ja, so sehr, dass sie sie besonders schnell zu sich holen.« Das Lächeln der Lutin veränderte sich. Nun war es verlegen. Sie war nicht gewohnt, dass man sich um sie Sorgen machte.

»Ich geh jetzt«, sagte Qualbam, dem die Situation offensichtlich unangenehm wurde. Mit flinken Schritten eilte er davon.

Ganda sah ihm nach, bis er in den blauen Rauchschleiern verschwunden war, die aus vereinzelten Feuerschalen aufstiegen. Sie räusperte sich. Das ist nur der verdammte Rauch, redete sie sich ein. Dann hob sie die Lampe und ging auf die finstere Türöffnung zu.

Ein dicker Balken stützte am Eingang einen riesigen Atlas über die Weinanbaugebiete Albenmarks. Ganda blickte in einen Tunnel aus Büchern. Hier und dort waren weitere Stützbalken errichtet, und manche Seitenwände waren mit Brettern verschalt. Der Boden war bedeckt mit Staub, zertretenen Würmern und zerrissenen Buchseiten. Eine Vielzahl erstickender Gerüche schlug Ganda entgegen. Da waren ein schwacher Duft von schalem Bier und der Essiggeruch von falsch gelagertem Wein. Das Harz aus frisch geschnittenem Holz, gepaart mit dem Odem alten Pergaments. Ein schwefliger Geruch, der wohl von den gegerbten Häuten der Bucheinbände herrührte und, kaum wahrnehmbar, der Duft von parfümiertem Waffenfett.

Vorsichtig tastete Ganda sich vorwärts. Sie hörte, wie es in der unsicheren Decke über ihr arbeitete. Knirschend rieben sich Bücher aneinander. Feiner Staub rieselte herab. Manchmal hatte der Bücherschlag tiefe Nischen geschaffen, wenn sich große Atlanten und Bildbände gegeneinander verkantet hatten. Auch gab es kleine Abzweige, so flach, dass man auf dem Bauch liegend hineinrobben müsste. Wahrscheinlich waren es Suchtunnel, die Kleos‘ Retter durch die Bücherwände getrieben hatten. Ganda war sich sicher, dass Ollowain nicht in einen dieser Seitengänge gekrochen war. Einen kriechenden Elfen konnte sie sich einfach nicht vorstellen.

Immer intensiver wurde der Geruch alter Bücher. Die kleine Flamme der Öllampe zitterte bei jeder ihrer Bewegungen. Die Lutin fühlte sich wie in einer Gruft. Einer Wissensgruft. So viel Mühe hatte es gekostet, all die Geheimnisse um Wein und Bier niederzuschreiben. Wer würde das jemals lesen? Und welcher der Autoren hatte sich wohl vorstellen können, dass sein Buch eines Tages Teil einer tödlichen Falle wäre?

Die Decke über Ganda erzitterte. Weit über sich hörte sie ein dumpfes Rumpeln in dem Büchergebirge. Der Stützbalken direkt vor ihr bog sich knirschend. Ein Schwall loser Blätter segelte wie Fledermäuse mit weit ausgebreiteten Schwingen durch den Büchertunnel. Mit klopfendem Herzen presste sich Ganda gegen die Bücherwand und wartete ab, bis das Rumoren über ihr verebbte. Sie hasste es, in engen, lichtlosen Räumen zu sein. Sie hasste diese Bibliothek, und sie begann, Ollowain zu hassen. Wie konnte man nur so hirnverbrannt sein, sich ausgerechnet an diesem Ort zu verkriechen! Wer hierher kam, der musste sich entschlossen haben, dem Tod ins Antlitz zu spucken. Sollte er mit diesem Unfug doch warten, bis sie zurück in Albenmark waren. Da gab es mehr als genug Gelegenheiten, sein Leben wegzuwerfen. Und sie würde nichts mit der Sache zu tun haben.

Die jüngsten Ereignisse hatten all ihre Vorurteile über Elfen bestätigt. Die besten von ihnen waren schlicht ignorant. Sie weilten mit ihren Gedanken in höheren Sphären, zu denen ein vernünftig denkender Kobold höchstens im Vollrausch vordringen konnte. Und die übleren von ihnen, solche wie Galawayn, waren durchdrungen von Bösartigkeit, die sich hinter ihrer glänzenden Fassade versteckte. Dieser Mistkerl hatte geahnt, was mit Ollowain geschehen würde, darauf würde sie ihren Fuchsschweif verwetten. Er hatte es genossen, den Schwertmeister zu quälen. Das Einzige, was Ganda wunderte, war, wie schnell Ollowain zerbrochen war. Und nun, da Galawayn mit ihm fertig war, kam sie an die Reihe. Ein Schaudern überlief sie. Oder hatte er schon mit ihr angefangen? Durchschaute er sie? Wusste er, dass sie Ollowain hierher folgen würde? Und gab es das geheimnisvolle Buch und die makaberen Handschuhe nur, weil der Elf auch mit ihr schon längst sein hinterhältiges Spiel trieb? Doch was wollte er? Wollte er sie beide nur vertreiben, um in seinem Saal des Lichts in Ruhe gelassen zu werden? Oder genügte ihm das nicht?

Ganda atmete ein paarmal tief durch. Sie musste sich beruhigen! Sie wusste, dass sie den Hang hatte, in Panik zu geraten, wenn sie sich in so engen Räumen wie diesem Tunnel aufhielt. Die Hand, in der sie die Öllampe hielt, zitterte. Sie zwang sich weiterzugehen.

Der Tunnel wand sich wie eine Schlange mit Magenkrämpfen. Ständig wechselte er die Richtung. Mal ging es auf, mal ab. Endlich erreichte sie sein Ende. Der enge Gang hörte einfach auf. In einem Nest aus zerknüllten Pergamentseiten war eine eingetrocknete, dunkle Lache. Blut. Hier mussten sie Kleos gefunden haben.

Ganda fluchte. Ollowain musste in eine der Spalten gekrochen sein, die vom Hauptgang abzweigten. »Verdammter Irrer. Du kannst mir mal den Schweif bürsten. Mistkerl!« Über ihr erklang ein dumpfes Grollen, als wolle der Bücherberg in ihre Flüche einstimmen.

Die Lutin hatte das Gefühl, als lege sich eine riesige Faust auf ihre Brust. Keuchend rang sie nach Luft. Sie musste gegen ihre Angst ankämpfen, dachte sie, doch ihre Beine waren anderer Meinung. Sie begannen zu laufen.

In blinder Hast stolperte sie durch den Tunnel. Sie stieß sich den Kopf an Büchern, die aus den papiernen Tunnelwänden hervorragten, strauchelte immer wieder und schlug schließlich der Länge nach hin. Die Öllampe entglitt ihren Händen. Blassgoldenes Öl schwappte aus der bauchigen Lampe. Die Flamme am Docht leckte gierig nach dem Öl.

Wie eine Maus, gebannt durch den Blick der Schlange, sah Ganda zu, wie das Unheil seinen Lauf nahm. Die Öllache fing Feuer. Knochenfarbenes Pergament zog sich knisternd zusammen, wurde gelb, dann braun und schließlich schwarz. Gierig leckte die Flamme nach weiteren Blättern. Ein feiner Schwefelduft stieg Ganda in die Nase. So roch es auch im Saal des Lichts. Galawayn hatte ihr erklärt, dass man manchen Tinten Schwefel beimischte.

Dunkel erinnerte sich die Lutin, dass sie dem Elfen bei einem ihrer Gespräche anvertraut hatte, dass sie Angst in der Enge habe und wie glücklich sie sei, im Saal des Lichts arbeiten zu können und nicht in einem der fensterlosen und beklemmenden Bibliothekssäle. Galawayn hatte geplant, dass sie hierher kam! Es war kein Zufall, dass Ollowain hierher geflüchtet war. Sicher hatte er dem Elfen irgendeine Unwahrheit über diesen verfluchten Bücherturm zugeflüstert.

Die Flamme vor ihr gewann an Kraft. Knisternd verschlang sie weitere Blätter.

Wütend ballte Ganda die Fäuste. So würde sie nicht sterben. Auf einem Scheiterhaufen aus Büchern über Bier und Wein verbrennen! Sie nahm das Öllämpchen auf und stellte es in eine Nische, wobei sie peinlich darauf achtete, dass die Flamme keinem der umgebenden Bücher zu nahe kam. Dann zerrte sie an einem Atlas, der weit aus der Bücherwand ragte und warf das mächtige, ledergebundene Buch auf die Flammen. Das Feuer verlosch unter dem erstickenden Gewicht von Des Albenhaupts Antlitz, Topographie eines mystischen Berges.

Ganda wartete und zählte stumm bis hundert. Dann hob sie den Atlanten wieder hoch. Außer einem Kranz tief orangefarbener Glut war nichts geblieben. Zögerlich trat sie nach dem sterbenden Feuer. Wenn ein einzelner Funke blieb, mochte das schon genügen, ein neues Feuer zu entfachen.

Beißender Rauch füllte den engen Tunnel. Und wieder packte sie die Angst. Sie stellte sich vor, wie ein gewaltiges Feuer die ganze Bibliothek verschlang, und das alles nur, weil sie einen Funken übersehen hatte. Wütend trampelte sie in der Asche der Pergamentseiten. Vielleicht sollte sie ihren Rock heben und in den großen Brandfleck pinkeln? Sie ahnte, dass sie selbst dann nicht sicher wäre, auch den letzten Funken wirklich erstickt zu haben.

Ganda schloss die Augen und kämpfte gegen ihre Ängste an. Als sie halbwegs gleichmäßig atmete, öffnete sie ihr Bewusstsein und suchte nach der Aura des Feuers. Es war etwas Lebendiges. Verzweifelt kämpfte es darum, fortbestehen zu können. Sie spürte einzelne Glutflecken verlöschen, aber sie fühlte auch, wie sich an anderen Stellen das Glimmen tiefer fraß.

Ganda flüsterte leise die Worte der Macht. Behutsam ließ sie die Silben über ihre Zunge streicheln. Vor langer Zeit hatte ihr Lehrer, Meister Gromjan, sie eindringlich davor gewarnt, ihre Gefühle in die Zauber einzubinden. Die Magie wurde zwar um vieles stärker, doch sie wurde so wild und unbeherrschbar, wie starke Gefühle es waren. Meistens hielt sich Ganda an diesen Rat. Doch jetzt war ihre Angst zu stark ... die Angst vor der bedrückenden Enge des Büchertunnels und vor dem, was geschehen mochte, wenn sie das Feuer nicht vollständig erstickte.

Es wurde schlagartig kälter. Die Luft knisterte. Wie alles, das lebte, brauchte auch Feuer Luft zum Atmen. Ganda dachte an die Faust, die auf ihre Brust drückte, das Gefühl, das sie am Ende des Tunnels fast übermannt hatte. Sie gab die Angst weiter, ließ sie aus sich herausfließen in den Zauber. Dann hielt sie den Atem an.

Ganda spürte, wie die letzten Funken verzweifelt um ihr Sein rangen. Die Ledereinbände der Bücher rings herum knirschten.

Die Lutin fühlte sich benommen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie einen letzten Funken. Er umkreiste sie. In immer schnelleren Wirbeln drehte er sich um sie. Dann verschlang ihn die Finsternis. Ganda verharrte. Sie suchte. Doch da war nichts mehr. Sie hatte das Feuer besiegt. Und auch ihre Angst war gewichen.

Sie atmete tief ein. Die Luft war eisig. Und ein leichter Duft von Waffenfett mischte sich unter die Ausdünstungen der uralten Bücher.

Ganda öffnete die Augen. Sie betrachtete den großen Brandfleck vor ihren Füßen. Peinlich! Rasch sammelte sie einige lose Blätter und breitete sie über das schwarze Schandmal. Die Angst war von ihr abgefallen. Und der Bücherberg über ihr ruhte.

Die Lutin ließ sich von dem Duft nach Waffenfett leiten. Sie würde nicht noch einmal dulden, dass Panik ihre Sinne blendete. Und sie fand einen schmalen Spalt zwischen schiefen Bücherstapeln. Es war ihr ein Rätsel, wie sich der Elf dort hindurchgezwängt hatte. Sorgsam darauf bedacht, keines der Bücher zu bewegen, zwängte sie sich durch den Spalt. Ollowain war kaum zwei Schritt entfernt.

Im Chaos der stürzenden Bücher war ein kleiner Hohlraum entstanden. Und wie Stalaktiten in einer Grotte hingen zerfetzte Pergamentstreifen von der Decke. Gandas Öllampe tauchte Ollowains Zuflucht in goldenes Licht. Sein Schwert lehnte an einem Bücherstapel. Er hielt etwas mit beiden Händen umklammert und presste es sich gegen die Brust. Über seinen Daumen erhob sich das Haupt der schwarzen Magierin aus dem Falrach-Spiel.

Der Schwertmeister blickte in Richtung des Spalts, durch den Ganda gekommen war, und doch wusste die Lutin, dass er sie nicht sah. Seine Augen waren leer. Tränen rannen ihm über die Wangen. Dabei war er vollkommen still. Kein Schluchzen kam über seine Lippen. Kein Seufzer hob seine Brust. Er weinte stumm, auf eine Art, wie Ganda nie zuvor in ihrem Leben jemanden hatte weinen sehen.

Sein Anblick schnürte ihr die Kehle zu. Selbst in seiner Trauer wirkte er noch vollkommen. Im Schneidersitz saß er kerzengerade zwischen den Büchern. Sein Haar war ein wenig durcheinander geraten, und seine Augen waren leicht gerötet. Das Antlitz des Elfen war bleich wie Winternebel, der aus einem schwarzen Pfuhl stieg. Es war alterslos schön. Wie aus Marmor geschnitten und ebenso unbewegt. Versteinert. Bis auf die Tränen.

Ganda wusste nicht, was sie sagen sollte. Welche Worte würden bis zu Ollowains Verstand vordringen, der sich so weit hinter die steinerne Maske zurückgezogen hatte? Sie ahnte, dass er wieder zu sich käme, wenn sie nach der schwarzen Magierin griff. Doch sie wagte es nicht. Sie hatte Angst vor dem, was er tun mochte, um die Spielfigur zu schützen.

Vorsichtig streckte Ganda die Hand nach Ollowains Schwert aus. Nichts.

Die Lutin nahm die Waffe an sich, ohne den Schwertmeister aus den Augen zu lassen. Keine Reaktion. Er ließ sich widerstandslos entwaffnen. Der weiße Ritter der Shalyn Falah, der berühmteste Krieger Albenmarks, hatte aufgehört zu kämpfen. Ganda warf das Schwert durch den Spalt hinaus in den Büchertunnel. Obwohl sie sich nun ein wenig sicherer fühlte, wagte sie immer noch nicht, nach der Falrach-Figur zu greifen.

»Wir sind im Auftrag der Königin hier, Ollowain. Erinnerst du dich? Du hast Emerelle Treue geschworen. Du darfst sie jetzt nicht im Stich lassen.«

Der Elf rührte sich nicht. Er war ein dämlicher, arroganter Mistkerl, und doch berührte es sie zutiefst, ihn so zu sehen. Sie hätte niemals gedacht, dass Elfen zu solch starken Gefühlen fähig waren. Sie wirkten immer so beherrscht. So überlegen. So in ihren Verstand und ihre meisterlichen Fähigkeiten verliebt.

»Erinnerst du dich an die Blütenfeen am großen Teich, nahe dem Elfenlicht?« Ganda hielt inne; sie musste daran denken, dass die Elfen dieser prächtigen Burg keinen Namen gegeben hatten. Wenn sie den Namen gebrauchte, den die Koboldvölker Emerelles verzauberter Burg gegeben hatten, dann würde Ollowain nicht wissen, wovon sie sprach. »Denk an das Schloss der Königin. Dort gibt es einen klaren See. An seinem Ufer leben die Blütenfeen. Etwas Dunkles ist in jener Nacht an diesen Ort gekommen, in der du und Emerelle die Trolle vertrieben habt. Etwas, das die Lebensfreude stiehlt und auf heimtückische Weise zu töten vermag. Es sind Schatten, die kein Schwert zu besiegen vermag, Ollowain. Deshalb sind wir hier. Wir sollen einen Weg finden, diese Schatten aus Albenmark zu vertreiben. Erinnere dich! Du bist der weiße Ritter! Der Schwertmeister. Der Gerechte. Allen Völkern Albenmarks ist dein Name wohl bekannt. Sie vertrauen auf dich. Sie hoffen auf deinen unbeugsamen Mut. Lass sie nicht im Stich, Ollowain.«

Nichts. Es war, als spräche sie zu einem Felsen. Wie konnte man nur so ausdauernd weinen? Und so still ... Das war unheimlich. Wann würden seine Tränen versiegen? Oder konnte man so lange weinen, bis man daran starb, wenn sich die Seele in einer Wüste verloren hatte?

Ganda blickte wieder zu der schwarzen Magierin. Vorsichtig streckte sie die Hand nach der Figur aus, bis ihre Finger sie fast berühren konnten. Die Lutin schluckte. Ihre innere Stimme warnte sie. Das war nicht mehr der Wächter der Shalyn Falah, der dort vor ihr saß. Der Unbeugsame und Unbescholtene. Niemand konnte wissen, was er in seinem Wahn tun würde.

Ganda beugte sich zurück. Sie leckte sich nervös die Schnauze. Sie musste sich mehr auf ihn einlassen, wenn sie zu ihm vordringen wollte. Ganda erinnerte sich an einen Namen, den er gestern genannt hatte.

»Sie hieß Lyndwyn, nicht wahr?«

Ollowains Lippen zitterten leicht.

»Erzähl mir von ihr. Sie muss eine sehr besondere Frau gewesen sein, wenn sie dich selbst jetzt noch so sehr in ihren Bann zu schlagen vermag.«

Der Elf nickte sanft. »Ja, die Worte sind gut gewählt.« Er sprach mit tonloser Stimme. »Sie hat mich tatsächlich in ihren Bann geschlagen. Sie war eine Zauberin. Ich dachte, es sei ihre Magie. Aber ich habe mich geirrt. Ich habe mich so sehr in ihr geirrt ...«

»Wie meinst du das?« Ollowains Blick wurde wieder starr. Ganda fluchte. Sie war dabei, ihn wieder zu verlieren. Sie musste ihn provozieren! »Hat sie dich betrogen? Erzähl es mir! Was hat die Schlampe dir angetan?«

Der Schwertmeister blinzelte. Dann sah er sie an, und sein Blick war wie Eis. »Wenn du noch einmal so von ihr sprichst, werde ich dich töten.«

Er sprach sehr leise. Seine Stimme klang noch immer hohl. Sie verriet kein Gefühl. Und doch hegte die Lutin nicht den geringsten Zweifel daran, dass er seine Drohung augenblicklich wahr machen würde, wenn ihr jetzt der geringste Fehler unterlief. Und er brauchte kein Schwert, um sie zu töten. »Entschuldige«, stammelte sie. »Ich habe mich geirrt. Erzähl mir, wie Lyndwyn war.«

Plötzlich spielte ein trauriges Lächeln um die Lippen des Elfen. Er nickte sanft. »Ja, es war leicht, sich in ihr zu irren. So ist es auch mir ergangen. Sie war die Enkeltochter Shahondins, des Fürsten von Arkadien, und ich dachte lange Zeit, sie sei sein Werkzeug. Er begehrte Emerelles Thron und ihren Albenstein. Und Lyndwyn hat ihn sich genommen, den Albenstein der Königin. Sie war undurchschaubar.« Seine Tränen versiegten. Er schluckte hart. »Bis zuletzt.«

Mit stockender Stimme erzählte Ollowain von der Magierin. Wie sie ihm einen Dolch in die Kehle gerammt und ihn so vor dem Erstickungstod gerettet hatte. Wie sie den Albenstein an sich gebracht und dessen Kraft genutzt hatte, um die schwer verwundete Emerelle in die Welt der Menschen zu schaffen. Ollowain berichtete von ihrer Reise nach Phylangan und davon, wie Lyndwyn ihn verführt hatte, nur um dann auf geheimnisvolle Weise wieder zu verschwinden. Erst als die Festung Phylangan dem Untergang nahe gewesen war, hatte er wieder zu Lyndwyn gefunden und entdeckt, dass die Magierin gemeinsam mit anderen Zauberern der Normirga für einen schrecklichen Preis das Feuer der Erde im Zaum gehalten hatten.

Ollowain stockte in seiner Erzählung. Er schloss die Augen und rang mit sich. Eine einzelne Träne rann über seine Wange.

»Mir ist prophezeit worden, dass ich mich vor dem Feuer hüten soll und einst in Flammen sterben werde. So ...« Er sah Ganda durchdringend an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, den Rest musst du nicht wissen. Aber seit ein paar Tagen frage ich mich, ob Lyndwyn um mein Schicksal wusste? Mich quält der Gedanke, dass sie um meinetwillen die tödliche Gefahr auf sich nahm. Unsere Schiffsreise hat mir viel Zeit zum Nachdenken gegeben. Zeit, die ich seit Lyndwyns Tod nicht hatte.« Er lächelte mutlos. »Vielleicht tat sie es auch allein, um Phylangan zu retten. Anfangs hatten wir alle geglaubt, dass die Trolle die Bergfestung niemals stürmen könnten ...«

Der Schwertmeister berichtete, wie er Lyndwyn gerettet hatte und mit ihr aus der sterbenden Bergfestung geflohen war. Dabei war er schwer verwundet worden und hatte das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich gekommen war, war er allein auf einem weiten Schneefeld gewesen. Nur die Spuren hatten verraten, was geschehen sein musste. Offenbar war Lyndwyn durch eine Patrouille der Trolle entdeckt worden. Und sie war den Feinden entgegengegangen, damit sie Ollowain, der in seinem weißen Umhang im Schnee fast unsichtbar gewesen war, nicht fanden. Für diesen Mut hatte sie mit dem Leben bezahlt. Stammelnd brachte der Schwertmeister hervor, was man der Magierin angetan und wie sie dem Tod getrotzt hatte, bis sie einander ein letztes Mal begegnet waren.

Ollowain hob die Falrach-Figur an seine Lippen und küsste sie sanft. »Zu viel Zeit nachzudenken ... Lach nicht Ganda, aber das Falrach-Spiel hat mich verrückt gemacht.«

»Das habe ich gesehen«, sagte sie ironisch.

»Du hast nicht alles gesehen. Es war unheimlich, wie genau das Spiel den Verlauf der Schlacht nachbildete. Dabei hätte dies bei all den unberechenbaren Würfelwürfen nicht möglich sein dürfen. Man kann ein Falrach-Spiel nicht steuern. Nicht auf diese Weise.« Er lachte schmerzhaft. »Irgendwann fing ich an zu glauben, dass ich die Vergangenheit ändern könnte, wenn ich es schaffte, dem Spiel eine neue Wendung zu geben. Und wenn die schwarze Magierin am Ende der Schlacht um Phylangan nicht geschlagen würde, dann würde Lyndwyn noch leben.«

Ganda versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert sie war. Er war wirklich verrückt geworden!

Ollowain schob sich die Falrach-Figur hinter den Gürtel. Plötzlich runzelte er die Stirn. »Wo ist mein Schwert?«

»Was hast du vor?«

»Ich habe Lyndwyn geschworen, die Königin zu retten. Das Spiel ist noch nicht zu Ende.« Ganda seufzte. Das durfte doch nicht wahr sein! Auf ihn konnte sie wohl nicht länger zählen.

»Du willst zurück zu Galawayn?«

»Auch zu ihm.« Mit katzenartiger Gewandtheit erhob sich der Elf und war an ihr vorbei, bevor sie auch nur protestieren konnte.

»Ganda?«

Die Lutin hätte nicht erwartet, dass er auf sie warten würde.

»Ja?«

»Hast du schon einmal einen Elfen über Schnee gehen sehen?«

»Was?«

»Weißt du, was das Besondere daran ist?«

Mit Verrückten und Elfen ist es wie mit kleinen Kindern, ermahnte sie sich stumm. Nur nicht die Geduld verlieren!

»Nein, keine Ahnung.«

»Sie hinterlassen keine Spur.« Mit diesen Worten griff er unter ihre Arme, nahm ihr das Öllämpchen ab und trug sie durch den Tunnel. Kein Pergamentblatt raschelte unter seinem Schritt, und der unruhige Bücherberg schwieg, als habe er die Eindringlinge vergessen.

In wenigen Augenblicken waren sie in dem Saal mit der niedrigen Decke, der Ganda nun nach dem Ausflug in die Büchergruft weit und freundlich erschien. Ollowain setzte sie behutsam zu Boden. Dann beugte er sich vor und küsste sie auf die Stirn.

Zu überrascht, um irgendetwas sagen zu können, starrte sie ihn einfach nur an.

»Danke, Ganda. Ich hatte mich verloren und musste wieder gefunden werden.« Sie räusperte sich verlegen. Sie war beileibe nicht auf den Mund gefallen, aber Ollowain machte sie einfach sprachlos. Ihr fielen keine Worte ein, die nicht unglaublich schwülstig oder dümmlich geklungen hätten.

»Wen suchst du?«, fragte sie schließlich.

»Jemanden, den Chiron kurz erwähnt hat und der mir vermutlich sagen kann, warum Galawayn so gut über die Ereignisse in Phylangan Bescheid weiß, dass man meinen könnte, er habe dort gekämpft.« Mit diesen Worten machte er sich davon.

Ganda fluchte. Jedes Mal, wenn sie kurz davor war, den Elfen zu mögen, leistete er sich so etwas! Wäre es denn so schwer gewesen, ihr zu sagen, nach wem er suchte?

Der goldene Käfig

»(...) Ich nannte die Pfade der Elfen ein Netz, doch sind sie zugleich auch ein Käfig, so unermesslich weit, dass, würdest du auf dem schnellsten aller Pferde ein ganzes Jahrhundert lang an ihm vorbeireiten, so wärst du noch immer nicht an deinem Ausgangspunkt angelangt. (...)

Ich weiß nicht, auf welcher Seite des Gitters ich stehe. Bin cih eingesperrt oder ausgesperrt? Ich weiß nur, ich bin geschützt, denn dazu haben die Alben den Käfig erschaffen. Seine Stangen sind die goldenen Pfade durch das Nichts. Sie halten die Yingiz fern — die Schatte, die von ihnen geblieben sind, das, was nicht einmal die Alben zu töten vermochten. Oder wollten sie es nicht? Wie gefangene Raubkatzen schnüren die Yingiz die Gitterstäbe entlang. Würde einer der Stäbe fehlen, so könnten sie zurück. Vielleicht würde es ein Jahrhundert dauern oder länger, bis eine solche Lücke bemerkt würde.

Sie gelten als gierig und selbstsüchtig. Sie sehnen sich nach dem Funken des Lebens. Würde ein Yingiz, der eine Lücke bemerkt, seine Brüder und Schwestern rufen? Die meisten täten es wohl nicht. Sie träten allein hinaus ins Licht, um zu jagen. Ein Yingiz aber wäre wie eine Ascheflocke auf einem goldenen Schild. Ein Makel, mehr nicht. Doch käme einer, der ungleich den vielen ist, Albenmark würde in einem Aschesturm vergehen. Deshalb hütet den Käfig, auch wenn ihr nicht wisst, auf welcher Seite des Käfigs ihr steht. Denn öffnet ihr ihn, so habt ihr das Stundenglas gewendet, das die Zeit zu unser aller Untergang abmisst. (...)

Zitiert nach:

Die Wege der Alben,

von: Meliander, Fürst von Arkadien

Nur eine Spur auf Pergament


Ollowain betrachtete den Kobold nun schon eine ganze Weile. Tief gebeugt saß der schmächtige Kerl über einer langen Liste, kaute an dem Ende seines Gänsekiels und knurrte gelegentlich. Vielleicht war es auch Magengrimmen, das für das Geräusch verantwortlich war. Obwohl Ollowain unmittelbar vor dem Pult des Kobolds stand, tat dieser so, als sehe er ihn gar nicht. Auch leises Räuspern ignorierte der Schreiber geflissentlich.

»Bist du Marwahn?«, fragte der Elf lauter, als es die Höflichkeit gebot.

Endlich blickte der Schreiber auf. Er hatte ein verkniffenes Gesicht. Wangen, die an leere Beutel erinnerten, hingen rechts und links neben seinem spitzen Kinn herab. Auf der zerfurchten Stirn prangte ein verschmierter Tintenfleck. Schütteres, fettig glänzendes Haar bedeckte mit langen Strähnen die beginnende Glatze. Der Schreiber verströmte den säuerlichen Geruch von zu lange getragenen Kleidern und billiger Tinte.

»Mein Name steht draußen neben der Tür«, murmelte der Kobold und beugte sich wieder über seine Liste. »Da steht Marwahn!«

»Habe ich etwas anderes gesagt?« Ollowain verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag. »Meister Reilif ist für die Neuankömmlinge und ihr leibliches Wohl verantwortlich ...«

»Das brauchst du mir nicht zu erklären«, schnauzte der Kobold ihn an. »Was willst du?«

»Eine Liste von allen Besuchern der Bibliothek in den letzten drei Monden. Reilif sagt, du führst eine solche Liste.« Marwahn rollte mit den Augen und stieß einen verzweifelten Schnaufer aus. »Geh zu Kleos. Der kann dir sagen, wer gekommen ist.«

»Ich kenne Kleos.« Ollowain verlor langsam die Geduld. »Ich kann aber gern zurück zu Reilif gehen, um ihm zu sagen, dass du die Zusammenarbeit mit einem Gesandten der Königin Emerelle verweigerst.«

»Emerelle hat hier gar nichts zu sagen! Willst du mir drohen, ja? Willst du das? Glaubst du, dass dir damit geholfen ist?« Der Schreiber ereiferte sich so sehr, dass ihm eine seiner fettigen Haarsträhnen in die Stirn rutschte. »Kannst du nicht sehen, dass ich bis über beide Ohren in Arbeit stecke? Ein wenig Geduld musst du schon mitbringen.«

Alles, was Ollowain gesehen hatte, war, dass Marwahn in der letzten halben Stunde zwei Namen auf seiner Liste ausgestrichen hatte. In der ganzen Zeit hatte sich niemand anders in die Kammer des Schreibers verirrt, und der Elf verstand nun auch, warum das so war.

»Sieh es doch einmal anders, hochverehrter Schreiberling. Wenn du mir hilfst, so verschwinde ich bald wieder, und du bist ungestört.«

Marwahn fuhr sich mit der Hand, mit der er den Federkiel hielt, über die Stirn und hinterließ dort einen zweiten Tintenklecks. Dann legte er betont langsam die Feder zur Seite, holte ein großes schwarzes Buch, schlug es auf, legte es vor Ollowain auf den Tisch und warf dabei einen abfälligen Blick auf dessen Schwert. »Hier! Brauchst du jemanden, der dir vorliest, Krieger?«

»Danke, ich komme zurecht«, entgegnete der Elf eisig. Kaum hatte er einen Blick in das Buch geworfen, da bereute er diese Worte schon. Die Schriftzeichen waren ihm durchaus vertraut, und auch die Namen, die fein säuberlich untereinander aufgelistet waren, konnte er durchaus lesen. Aber hinter jedem Namen stand ein Kauderwelsch aus Buchstaben und Zahlen, das für einen Uneingeweihten unmöglich zu durchschauen war.

Trotzdem war Ollowain entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Sein Name und der Name Gandas waren die letzten in der Liste. Auf der Seite standen noch vierzehn andere Namen. Der einzige davon, der Ollowain vertraut vorkam, war der Name, der unmittelbar vor seinem eingetragen stand. Das musste der Besucher sein, von dem Chiron gesprochen hatte. Labax. Ollowain erinnerte sich an einen Kobold aus Phylangan, der so geheißen hatte.

Der Finger des Elfen fuhr über die Zeile hinter dem Namen. Labax Ank. S-L, k.Magbg., Kob., Bed II, HW IX, Arb. Kl. XXV, BTT, Qb III

Der Name war verständlich. Und Kob. Bedeutete wahrscheinlich Kobold. Aber der Rest ... Ollowain blieb keine andere Wahl, als Marwahn zu fragen.

»Ich dachte, du kannst lesen«, entgegnete der Kobold, ohne aufzublicken. »Also bist du nicht nur ein Krieger, du bist auch noch ein Lügner. In letzter Zeit lassen sie wirklich jeden Dreck hier in die Bibliothek.«

»Dir ist klar, dass die meisten Krieger Mörder sind?«, fragte Ollowain sehr ruhig. Marwahn blickte auf. Ganz offensichtlich versuchte er einzuschätzen, ob er möglicherweise in Gefahr war. »Ich bin Schreiber in der Bibliothek von Iskendria. Ich bin unantastbar.«

»Wie sagtest du gleich? In letzter Zeit lassen sie jeden Dreck in die Bibliothek? Wie kommst du darauf, es könnte mich scheren, dass du unberührbar bist?«

Der Kobold war eine Spur blasser geworden. Er suchte noch immer nach Anzeichen in Ollowains Gesicht, die darauf hindeuteten, dass er scherzte.

Der Elfenkrieger hielt dem Blick des Kobolds stand. »Womit kann ich dir zu Diensten sein?«, fragte Marwahn schließlich ganz kleinlaut.

Der Schwertmeister zeigte auf die Zeile hinter Labax‘ Namen.

»Was bedeutet das?« Der Kobold drehte das Buch zu sich. »Ja, in der Tat, das ist nicht ganz leicht zu verstehen. Buchhalterhieroglyphen.« Er blickte auf, um ein Lächeln zu erhaschen, doch Ollowains Miene blieb wie versteinert.

»Also, übersetzt heißt das: Labax, Ankunft über Sem-La, keine Magiebegabung, Kobold, Bedeutsamkeit II, Hüter des Wissens IX, Arbeiter Klasse XXV, Brauturm, Qualbam III. Sem-La hat ihm das Tor im Albenstern geöffnet, da Labax in Sachen Magie augenscheinlich nicht begabt war. Er war kein sehr bedeutsamer Besucher. Die Zahl gibt an, wie viel neues Wissen ein Gast unserer Bibliothek zu bieten hat. Je höher die Zahl ausfällt, desto besser. Man kann sie etwa mit der Zahl der Stunden gleichsetzen, die man durch einen Hüter des Wissens befragt wird.« Ollowain versuchte zu erkennen, was in seiner Zeile stand. CX. Hundertzehn Stunden! Die waren hier alle verrückt!

»Hüter des Wissens IX gibt an, in wessen Zuständigkeitsbereich Labax fällt«, fuhr der Schreiber fort.

»Und IX steht für Galawayn.«

Marwahn blickte überrascht auf. »Richtig. Man hat Labax zu Galawayn geschickt. Das ist ungewöhnlich, denn der Elf beschäftigt sich nur mit ...« Der Kobold hustete nervös. Wahrscheinlich war er angewiesen, über Galawayns Aufgaben Stillschweigen zu bewahren. »Galawayn beschäftigt sich nur mit sehr besonderen Berichten. Labax muss in der Tat etwas sehr Interessantes gewusst haben. Sonst hätte man ihn niemals zu Galawayn geschickt. Aber sehr viel kann es nicht gewesen sein, was er zu erzählen hatte, denn zwei Stunden ist sehr wenig Zeit für ein Gespräch.«

»Was du nicht sagst.« Ollowain behielt den drohenden Tonfall bei, obwohl sein Zorn längst verraucht war.

»Arbeiter Klasse XXV ist die niedrigste Klasse von Arbeitern in der Bibliothek. Der Rang hängt davon ab, wie anspruchsvoll die Aufgaben sind, die man erfüllen kann. Die Hüter des Wissens haben alle den Rang I. Ein Schreiber wie ich hat Rang IX, was ziemlich bedeutsam ist. Du sagtest, du kennst Kleos?«

Marwahn blickte kurz auf. »Er hat Rang XXV.«

»Bekommt jeder Besucher der Bibliothek so einen Rang?« Ollowain war überrascht über das kaltschnäuzige System, mit dem die Besucher nach ihrer Nützlichkeit eingeordnet wurden.

»Nein. Eine Einstufung in eine Arbeiterklasse gibt es nur für Besucher, die bleiben wollen. Aber wie du siehst, war Labax kein großer Gewinn für uns. Entweder war er ziemlich dämlich oder aus irgendeinem anderen Grund nicht in der Lage, anspruchsvolle Aufgaben wahrzunehmen. Rang XX steht zum Beispiel für die Beleuchter der Bibliothek. Wer einen niedrigeren Rang hat, dem traut man nicht zu, dass er mit offenem Feuer hantieren kann, ohne eine Bedrohung für die Bibliothek darzustellen.«

Ollowain versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er hatte nur eine vage Idee von dem, was hier vor sich ging. Warum Galawayn so viel über die Kämpfe um Phylangan gewusst hatte, war nun geklärt. Aber warum hatte der Elf nicht über Labax reden wollen? Wäre es nicht nahe liegend gewesen, dass sie ein Gespräch zu dritt geführt hätten? Ollowain hatte ihn sogar nach dem letzten Besucher gefragt, doch der Hüter des Wissens hatte nur abfällig gelächelt und gesagt, es sei ein schwafeliger Kobold gewesen. Aber gänzlich unbedeutend konnte Labax nicht sein, sonst hätte man ihn schließlich nicht ausgerechnet zu Galawayn geschickt. Was hatte Labax wohl über Phylangan zu erzählen gehabt? Was machte ihn zu etwas Besonderem?

Ollowain erinnerte sich noch an den Kobold. Er hatte zu den Armbrustschützen gehört. Seine Kameraden waren durch den rätselhaften Mörder getötet worden, der die Elfenfestung heimgesucht hatte. Labax war der einzige Überlebende gewesen. Verzweifelt hatte er nach einer Antwort darauf gesucht, warum er dem Tod entging aber seine Gefährten sterben mussten. Vielleicht war das der Grund, dass Labax hierher gekommen war. Schließlich hieß es ja, dass man in der Bibliothek von Iskendria Antwort auf alle Fragen finden könne.

»Dieses Kürzel hier steht für Brauturm«, fuhr Marwahn beflissen fort. »Dort hat man ihn zur Arbeit eingesetzt. Im Brauturm hat es einen Bücherschlag gegeben, musst du wissen. Wahrscheinlich war es die Aufgabe von Labax, Bücher zu bergen. Ein anderer Kobold, Qualbam III., hat ihn in diese Arbeit eingewiesen. Qualbam ist nur ein Beleuchter. Und ein ziemliches Großmaul ist er. Erzählt jedem, der es nicht hören will, wie gut er bei den Weibern ankommt.«

»Weißt du, ob Labax die Bibliothek wieder verlassen hat?«

Der Schreiber kratzte sich am Kopf und brachte seine sorgsam gelegten Haarsträhnen noch mehr durcheinander. »Also ausgetragen habe ich ihn nicht. Leider kommen nicht alle, um sich abzumelden, wenn sie die Bibliothek wieder verlassen. Aber da Labax nicht magiebegabt ist, kann er das Tor im Albenstern nicht öffnen. Er kann also ohne Hilfe nicht fort von hier, und hätte er jemanden aus der Bibliothek um Hilfe gebeten, dann hätte ich davon erfahren. Solche Dinge erfahre ich immer«, erklärte Marwahn stolz. »Auf meine bescheidene Art bin ich auch ein Hüter des Wissens.«

»Also müsste ich Labax beim Brauturm finden.«

»Wenn er kein Faulpelz ist, der sich vor seiner Arbeit drückt, dann sollte er dort sein. Aber bei den XXV weiß man nie«, sagte der Schreiber abfällig. »Die sind einfach zu dämlich, um ihre Sache gut zu machen.«

Ollowain deutete auf die Namensliste. »Sind das wirklich alle Besucher der letzten Monde?«

»Das sind sogar alle Besucher des letzten halben Jahres. Wie du siehst, ist bei uns nicht sehr viel los.«

»Kann man auch unbemerkt in die Bibliothek gelangen?«

Der Schreiber wirkte entrüstet. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Hüter des Wissens würden das bemerken. Wenn jemand davonhuscht, da kann man nichts machen. Aber wenn wir Besuch bekommen, das merken wir schon.«

Ollowain verließ die Stube, ohne sich von Marwahn zu verabschieden. Die Erinnerung an etwas, das Ganda ihm erzählt hatte, hatte ihn zutiefst aufgewühlt. Von den Devanthar hieß es, dass sie die Gestalt ihrer Opfer annehmen konnten. Aber die Kunst der Gestaltwandlung galt als eine der verbotenen Spielarten der Magie — jene Art von Magie, die man am Hof der Fürstin Alathaia praktizierte. Ihr traute Ollowain durchaus zu, dass sie sich sehr für die mörderische Kreatur interessierte, die Phylangan heimgesucht hatte. Vielleicht hatte sie einen Zögling hierher geschickt?

Ein Magier, der ein Gestaltwandler war, würde gewiss zunächst einige Zeit mit seinen Opfern verbringen. Schließlich musste er mit ihrem Leben und ihren Eigenarten vertraut werden. Wahrscheinlich würde er seine Opfer danach töten, allein schon um zu verhindern, dass man ein und dieselbe Person zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten antreffen konnte. So würde es ihm auch leichter fallen, seine Spuren zu verwischen. Diejenigen, die er tötete, würde man nicht vermissen, weil er sie ja ersetzte. Sollte der Kobold Labax also in Wahrheit ein anderer sein, dann war jeder in Gefahr, mit dem er einige Zeit verbracht hatte. Dieser Beleuchter, Qualbam III., und auch Galawayn.

Der Schwertmeister hatte den Verdacht, dass er Labax nicht finden würde. Aber bevor er zu Galawayn ging, wollte er sich dessen ganz sicher sein.

Überraschender Besuch

Der Mond stand hoch am Himmel. Es wurde kühl in der Kammer des Herzogs. Die schweren hölzernen Läden standen halb offen. Keile verhinderten, dass sie im Wind hin und her schlugen.

Klein und blass war die Aura des Menschenmondes. Ihm fehlte die Kraft seines Zwillings in Albenmark. Alles war schwächer in der Welt der Menschen. Die Magie, das Licht und auch die Geschöpfe, die hier lebten. Manchmal stellte sich Skanga vor, die Alben hätten geübt, als sie diesen Ort erschufen. Aus den Fehlern hatten sie gelernt und dann Albenmark erschaffen.

Die alte Schamanin lehnte sich in dem hohen Holzsessel zurück, der an der Wand gegenüber dem riesigen Nachtlager stand. Sie musste schmunzeln. Orgrim genoss es wahrhaftig, bei den Weibern zu liegen. Es gab viel weniger Weibsbilder als Krieger. Und die Weiber wählten, in wessen Lager sie stiegen. Viele Krieger wurden alt und starben, ohne jemals den Zauber der Vereinigung erlebt zu haben. Ein Herzog freilich konnte unter allen Weibern wählen. Noch dazu, wenn er ein so berühmter Kämpfer wie Orgrim war.

In sein Lager zu kriechen war eine Ehre, der man mit Freude nachkam, denn er war auch noch jung und sah gut aus. Jedenfalls hatte man Skanga das erzählt ... Sie wusste nur mit Sicherheit zu sagen, dass er eine gute Aura hatte. Kraftvoll! Es war nicht lange her, da war Orgrim nur ein Rudelführer gewesen. Der Herzog hatte den Mangel gelebt, und nun schwelgte er im Überfluss.

Skanga kannte Orgrim gut. Sie wusste, dass er ein Genießer war. Viele Leben lang hatte sie ihn begleitet. Die Weiber hatten es Orgrim schon immer angetan.

Ihre Hände tasteten nach dem aufgeschlagenen Buch, das neben ihr auf dem Tisch lag. Der Botschaft der Tintenpfade nachzuspüren kostete die blinde Schamanin viel Kraft. Ohne die Zaubermacht des Albensteins hätte sie es nicht vermocht.

Orgrim hatte eingängige Worte gefunden. Worte, die selbst sie berührten, obwohl sie schon so alt war, dass es ihr schien, ihr Herz ruhe gleich einem Stein unter ihrem Busen. Unverletzlich. Kalt.

Leise rezitierte sie die ersten Verse.

Wie Wölfe waren wir, / vertrieben in die Fremde,

Geboren worden wie Welpen. / Unter fremdem Monde

Jagten wir, rastlose Rudel, / fern der Heimat,

Nah der Sehnsucht nach / früh Verlorenem.

Das hatte er schon früher getan, dachte Skanga. Es gab nur eine Hand voll Trolle, die lesen und schreiben konnten, und unter diesen wenigen war Orgrim der Einzige, der sich zum Dichter berufen fühlte. Das war auch schon so gewesen, als sich das Fleisch, in das sich seine Seele gekleidet hatte, noch Dolgrim nannte.

Sie konnte die Störung im Muster der Steinplatten auf dem Boden wahrnehmen. Doch dem, der nur mit Augen danach suchte, blieb sie wohl verborgen, die geheime Falltür, durch die dieses lästige Elflein gestiegen war, das dem Herzog die Seelenfehde angesagt hatte. Dolgrim hatte einst das Weib des Elfen Farodin in einer Schlacht erschlagen. Skanga grunzte. Ein Schlachtfeld war auch kein Ort für Weiber, es sei denn, es waren Zauberinnen oder Schamaninnen. Für die albernen Schildmaiden der Elfen hatte sie nichts als Verachtung übrig. Aber was wollte man von einem Volk erwarten, bei dem sich sogar die Königin einst für eine Kriegerin gehalten hatte!

Skanga spuckte ärgerlich aus. Bei den Gedanken an das Vergangene kam ihr die Galle hoch. »Fluch auf dich, Farodin. Möge dir dein Weib auf ewig genommen sein! Möge sich dir nie wieder ein Schoß öffnen, und möge dein Samen in dir verfaulen!« Eine Seelenfehde! Es hatte diesem heimtückischen Meuchler nicht genügt, Dolgrim zu töten. Nein, jedes Mal, wenn die Seele des Herzogs wiedergeboren wurde, begann die Jagd auf ein Neues. Immer wieder erschien dieser Elf. Er musste mit einer Glückshaut geboren worden sein. Er hatte es geschafft, den wiedergeborenen Dolgrim inmitten seiner Krieger zu töten. Das letzte Mal hatte er in diesem Zimmer gemordet. Den Herzog im Bett abgestochen. Mehr als dreißig Jahre war das her. Im Felsen und in den dicken Mauern der Nachtzinne gab es ein Netzwerk geheimer Gänge. Die Kobolde hatten es angelegt, während sie die Trollfestung erbaut hatten. Und sie hatten ihren Herren nichts davon erzählt. Irgendwie war es dem Elfen gelungen, in diese Gänge einzudringen. Und so hatte sein Messer wieder einmal zum Fleisch des wiedergeborenen Dolgrim gefunden. Wenn er wenigstens ein ehrliches Schwert für seine Morde nutzen würde! Das war eine ehrenhafte Waffe. Aber nein, es musste ein Messer sein. Als sei er ein Metzger. Skanga erinnerte sich noch gut daran, wie man den toten Herzog gefunden hatte. Seine Kehle war durchgeschnitten. Geschächtet, wie ein Stück Vieh.

Ein Geräusch ließ die alte Schamanin aufhorchen. Was für eine Ironie, wenn ausgerechnet jetzt der Elfenmörder käme. Sie fühlte sich noch immer schwach. Würde sie gegen ihn bestehen? Ihr Hals brannte. Sie kratzte sich mit ihren gichtkrummen Fingern über die faltige Haut. War das eine Ahnung? Das Elflein zielte mit seinen Dolchen gerne auf den Hals.

Angespannt lauschte Skanga. Nein, das Geräusch kam vom Gang vor der Kammer. Schwere Schritte näherten sich. Fahrig strich sie sich über ihr schäbiges, geflicktes Gewand und lächelte. Es war gleichgültig, wie sie aussah. Oder ... Ein kleiner Spaß? Warum nicht? Sie war nicht immer alt und hässlich gewesen. Ihre Augen waren einmal sehr schön gewesen. Unwiderstehlich. Deshalb hatte es Matha Naht, ihrer Lehrerin, besondere Freude bereitet, ihr Augenlicht auszulöschen.

Skanga umgab sich mit einem Duft von Moschus und Ambra. Ihre alte Haut spannte sich, der gebeugte Leib streckte sich. Es kostete viel Kraft, der Erinnerung Gestalt zu verleihen. Sie schummelte, gab ein wenig mehr Fleisch auf ihre Hüften, als dort jemals gewesen war, machte sich etwas größer und verlieh ihrer Haut ein tieferes Grau. Ihrer Stimme nahm sie die raue Härte des Alters und gab ihr einen rauchig sinnlichen Ton. Auch ersetzte sie die fehlenden Zähne.

Der Albenstein, den sie verborgen zwischen anderen Amuletten auf der Brust trug, wurde warm. So schnell so viel zu ändern zehrte an der Kraft, selbst wenn es nur Illusionen und keine wirklichen Veränderungen waren.

Die schwere Tür schrammte über den Boden, als sie aufgeschoben wurde. Skangas Sitz stand mit der hohen Lehne zur Tür. Sie lauschte. Etwas fiel zu Boden. Wohl ein Kleidungsstück. Orgrim seufzte, als strecke er seine Glieder. Dann ließ er sich auf sein Lager sinken und richtete sich mit einem Ruck wieder auf, sobald er sie entdeckte.

Einen Augenblick lang überstrahlte das helle Blau beherrschter Angst die anderen Farben seiner Aura. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Wer bist du, schönes ...« Er hielt inne und lachte leise. »Skanga! Welch eine Freude, dich zu sehen.«

Die Schamanin runzelte ärgerlich die Stirn. »Wie hast du mich erkannt?«

»Dein Kleid und die Amulette. Sie haben dich verraten. Hast du so einmal ausgesehen? Ist das ... echt?«

Die Alte schnippte mit den Fingern, und die Illusion verging. Ihr gebeugter Leib sackte wieder in sich zusammen. »Nur Blendwerk für lebendige Augen.« Sie stieß ein bellendes Lachen aus. »Mein Kleid, tja ... Ein junges Weib, das dem Herzog den Kopf verdrehen will, wäre natürlich nicht in solchen Lumpen vor ihn getreten. Es ist wohl schon zu lange her.« Sie schenkte ihm ihr zahnlückiges Lächeln. »Ich habe dir ein weit besseres Geschenk mitgebracht als einen hübschen Körper. Davon solltest du hier in der Nachtzinne wohl genügend finden. Was ich dir bringe, ist einmalig. Ich biete dir die Herrschaft über dein Volk.« Sie erzählte ihm vom Tod Branbarts, natürlich nicht die wahre Geschichte, sondern die, die nun alle glaubten. Wie sich zeigte, war die Nachricht noch nicht bis zur Nachtzinne vorgedrungen. Selbst die Schamaninnen und Schamanen ihres Volkes wagten es kaum noch, die Pfade des Lichts zu beschreiten, seit das schreckliche Unglück geschehen war. So waren die Trolle, die sich entschieden hatten, in der Welt der Menschen zu bleiben, abgeschnitten von Nachrichten aus Albenmark.

Das schmutzige Braun des Zweifels floss breit durch die vielfarbige Aura Orgrims. Wie kaum ein anderer seines Volkes verstand er es, sich zu beherrschen und seine Gefühle vor ihr zu verbergen, dachte Skanga verärgert.

»Du lädst mich ein, von Aas zu fressen, an dem ich mir den Magen verderben werde. Ich bin kein törichter Welpe, Skanga. Ich weiß, dass Branbart wieder König sein wird, sobald er wiedergeboren wird und alt genug ist, nach der Herrschaft zu greifen. Ich will nicht von der Macht kosten, nur um sie dann wieder aus den Händen zu geben. Was wäre mein Lohn dabei? Ein eifersüchtiger König, der sein Leben lang glauben wird, dass ich nach seinem Thron trachte! Danach steht mir nicht der Sinn. Die Nachtzinne ist mein Platz. Ich bin ihr Herzog. Hier bin ich gut aufgehoben.«

»Bist du denn blind?«, knurrte die Schamanin. »Du hättest die Gelegenheit, den Königswelpen nach deinen Vorstellungen zu formen. Er würde auf dem Thron sitzen, aber du würdest die Macht behalten.«

Orgrim winkte lachend ab. »Hältst du mich für so dumm? Du bist der Schatten hinter dem Thron, Skanga. Und das wirst du bleiben. Ich kenne dich.«

»Ich bin ein gebrechliches altes Weib, das ...«

Orgrim lachte noch lauter. »Du warst schon alt und gebrechlich, als die Berge noch jung waren. Mach mir nichts vor. Du überlebst jeden aus unserem Volk. Schon seit Jahrhunderten.« Sein Lachen brach ab. »Ich mag dich, Skanga, und ich fürchte dich zugleich. In deiner Nähe spürt man den Atem des Todes im Nacken. Da habe ich es hier besser getroffen.«

»Unser Volk braucht dich. Kein Anführer kann sich mit dir messen. Du kennst ja das Rudel großsprecherischer Trunkenbolde. Sie werden alles wieder verderben, was wir gewonnen haben.«

»Du meinst, es kann noch schlimmer kommen als der Marsch in das Nichts?« Jedes Wohlwollen war aus seiner Stimme gewichen. »Ich begreife nicht, warum du Branbart nachgegeben hast. War es Teil deiner Intrigen? Wolltest du, dass tausende tapferer Krieger sterben? Du hast doch nicht geglaubt, dass wir die Elfen noch ein drittes Mal auf diese Weise besiegen könnten! Branbart mag so dumm gewesen sein, aber du musst um die Gefahr gewusst haben.«

»Ich hatte keine Wahl«, antwortete Skanga ausweichend.

»Drauf gefurzt! Man hat immer die Wahl. Vor mir steht das gefürchteteste Weib unseres Volkes. Trolle, die selbst in den Flammen des Königssteins weitergekämpft haben, erzittern, wenn nur dein Name fällt. Aber beuge ich mich deinem Willen? Nein! Man hat immer die Wahl.«

Skanga betrachtete den Herzog mit einer Mischung aus Zorn und Respekt. Welch ein König er sein könnte! Aber nicht einmal um seinetwillen würde sie mit den alten Gesetzen brechen. Branbart hatte ein Recht auf den Thron, so lange er wiedergeboren wurde. Und er wurde langsam besser als Herrscher. Die Alben hatten ihm den Thron zugedacht, warum auch immer ... Sie würde nicht in den Plänen der Alten herumpfuschen. Das überließ sie Emerelle, der die Macht mit der Zeit offenbar jede Vernunft geraubt hatte.

»In dieser Kammer bist du gestorben«, wechselte die Schamanin das Thema. »Ich glaube, es war sogar dieses Lager. Ich erinnere mich. In deine Kehle war ein zweiter, klaffender Mund geschnitten.«

Eine breite Spur von Rot pulsierte jetzt in der Aura Orgrims.

»Ich kenne die Geschichte!«

»Ob dieser Elf schon gehört hat, dass es einen neuen Herzog auf der Nachtzinne gibt?«, fuhr Skanga ungerührt fort.

»Schläfst du eigentlich gut in diesem Bett?«

»So ruhig wie ein Welpe, der gerade gesäugt wurde.«

Die Schamanin wusste, dass er log. »Deshalb kommst du erst mitten in der Nacht zu deinem Lager.«

»Meine lüsternen Weiber haben mich nicht früher ziehen lassen.« »Ach so. Und ich dachte schon, du meidest diesen Ort, so gut es geht«, spottete Skanga. »Lüge nicht! Du kommst doch nur deshalb noch hierher, damit dich niemand einen Feigling nennen kann! Und jede Nacht zögerst du es länger hinaus. Erzähl mir nichts! Ich kann in dein Herz sehen, Herzog. Ich sehe Stolz und Angst in beständigem Ringen miteinander.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte er barsch. »Ich weiß, wie es in meinem Herzen aussieht. Ich brauche keine Belehrungen darüber.«

»Ich will nur dein Bestes, Orgrim. Auch wenn ich sehr enttäuscht darüber bin, dass du mir meine Bitte abschlägst.«

Skanga beugte sich in dem hohen Stuhl vor. Ihre Amulette stießen leise klackend gegeneinander. »Du weißt, dass dein Mörder weder durch die Tür noch durch ein Fenster gekommen ist?«

»Nein.«

»Es gibt eine verborgene Tür in dieser Kammer. Deine ganze Felsenburg ist durchzogen von einem Netz geheimer Gänge. Sie sind zu eng, als dass ein Troll sie jemals betreten könnte. Und das war auch die Absicht ihrer Erbauer. Die Kobolde haben dir ein fettes Kuckucksei in dein Felsennest gelegt. Vielleicht hättest du deine Sklaven etwas netter behandeln sollen, als sie diese Burg errichteten.«

»Worauf willst du hinaus?«

Skanga hob abwehrend die Hände. »Aber, aber. Ich bin doch nur in Sorge. Bedenke, hier ist alles für deine Ermordung vorbereitet. Nicht einmal in deinem Schlafgemach bist du sicher. Aber wenn du mit mir in die Snaiwamark kämest, könnte ich Tag und Nacht über dich wachen. Und du könntest auch mir helfen. Wir beide hätten etwas davon, wenn du meinen Vorschlag annimmst.«

Wieder beherrschte ein schlammfarbenes Braun die Aura des Fürsten, Ausdruck seines Zweifels. »Könnte es sein, dass du mir diesen verrückten Elfen auf den Hals gehetzt hast? Strafst du mich so, alte Vettel, wenn ich nicht gehorsam bin? Und hast du die Geschichte von der Seelenfehde am Ende nur erfunden, damit ich in Angst geboren werde, wenn ich wiederkehre, und mich dann leichter deinem Willen füge?«

Skanga kratzte sich nachdenklich am Ohr. »Ein guter Plan. Leider nicht meiner, aber ich werde ihn mir merken.« Sie erhob sich seufzend; ihre Glieder schmerzten vom langen Sitzen.

»Deine Gelegenheit ist verstrichen, Orgrim. Andere Herzöge werden nicht zögern, wenn ich ihnen den Thron anbiete, und sei es auch nur für ein paar Jahre.«

»Wie bist du überhaupt hier hereingelangt? Überall in den Gängen und an allen Toren stehen Wachen.«

Auch der Herzog hatte sich jetzt erhoben. Sie spürte, dass er nackt war. Er war wahrhaft stattlich. »Ja, ja«, entgegnete sie gehässig. »Ich hatte auch das Gefühl, dass du dich belagert fühlst. Wie leicht wird es wohl der Elf haben, wenn deine Krieger nicht einmal ein altes Weib aufhalten konnten?«

»Niemand hält ein Weib auf, das auf dem Weg in mein Schlafgemach ist.« Die Stimme des Herzogs klang spöttisch, doch Skanga spürte seine kalte Angst.

»Ich bin wie der Wind, Orgrim. Ich gehe, wohin ich will. Ich blende deine Wachen mit Leichtigkeit. Sie blicken in eine andere Richtung, wenn ich vorbeigehe, oder sie halten mich für einen Kameraden oder für einen Kobold, der ein großes Bündel Brennholz auf dem Rücken trägt. Es ist leicht, ihre Augen zu betrügen. Sie sind stets geneigt zu sehen, was sie sehen wollen. Dieser Elf hat deine früheren Inkarnationen inmitten eines Kriegslagers getötet oder hier auf deiner Burg. Er kennt keine Angst, wenn er auszieht, dich zu ermorden. Sein eigenes Leben scheint ihm egal zu sein. Deshalb ist er kaum aufzuhalten.«

»Danke für deine Warnung.«

Skanga betrachtete die Aura des Trollfürsten eindringlich. Das Rot des Zorns fehlte, sein Dank war wirklich aufrichtig.

Die Alte blieb stehen. Ihr Rücken schmerzte. Krumm lehnte sie an ihrem Stab. »Was hält dich nur hier, Orgrim? Auch wenn du nicht König sein kannst, du wärst der Erste unter den Herzögen der Snaiwamark. Die Krieger verehren dich. Warum bleibst du hier? Was hat dir die Welt der Menschen zu bieten?«

»Frieden.«

Zornig schüttelte Skanga den Kopf. »Du machst dir etwas vor. Du bist dazu geboren, Schlachten zu führen. Selbst die Elfen fürchten dich. Frieden, das war noch nie dein Leben. Du bist zum Krieg geboren. Und glaub mir, ich lebe lang genug, um zu wissen, dass niemand sich seiner Bestimmung entziehen kann.«

Jetzt lächelte der Fürst. Seine Ruhe war zum Aus-der-Haut-

Fahren. »Manchmal wird man auch im hohen Alter noch überrascht.«

Die Schamanin dachte an eine seltsame Geschichte, die ihre Ziehtochter Birga ihr erzählt hatte. »Du hast das Weib des Menschenfürsten gefunden und ihr das Leben gerettet, habe ich gehört. Jetzt ist er dir etwas schuldig, ja. Glaubst du, Menschen kennen Ehre?«

»Dieser eine vielleicht. Sein Weib kennt sie ganz gewiss. Ihre Tapferkeit hat selbst meine Krieger beeindruckt. Wir haben sie, ihr Kind und einen Knecht vor dem Erfrieren gerettet. Alfadas wird sich daran erinnern. Er weiß jetzt, dass ich Frieden will. Wir werden gute Nachbarn sein. Hin und wieder wird es ein paar Geplänkel geben, damit unsere jungen Krieger ihren Mut beweisen können. Einen kleinen Raubzug, einen Viehdiebstahl. Nichts Bedeutendes. Krieg werden wir nicht führen.«

»Du glaubst also, dass die Menschen über den Frieden genauso denken wie du.«

»Sie sind Krieger«, sagte er geradezu mit Respekt. »So verschieden unsere Körper auch sein mögen, unsere Herzen sind sich ähnlicher, als man glauben mag.«

Skanga lächelte trocken. »Und all das weißt du nach einem einzigen Kriegszug gegen sie? Du kennst ihre Herzen!« Die Schamanin spuckte aus. »Einen Dreck kennst du. Du wirst schon noch sehen, wie sie wirklich sind — wenn dich der verrückte Elf lange genug leben lässt. Ich werde nicht vergessen, dass du nicht zu deinem Volk gestanden hast, als ich mit einer Bitte zu dir gekommen bin. Fürchte den Tag, an dem du mich um etwas bitten musst, Orgrim. Denn mein Herz wird dann so hart und kalt sein, wie deines heute war.« Müde verließ sie das Zimmer. Jeder Schritt war eine Qual. Ein langer Gang führte zu einer Treppe. Immer wenn sie innehalten musste, um zu verschnaufen, lauschte sie. Nichts rührte sich. Als sie die Treppe erreichte, wusste Skanga, dass Orgrim nicht mehr kommen würde.

Der Preis verbotenen Wissens

Die Zeit klammerte sich widerspenstig an die Dunkelheit, so erschien es Ganda. Sie wartete schon seit mindestens einer Stunde, wahrscheinlicher sogar die halbe Nacht. Hinter ein Bücherregal geduckt, beobachtete sie die Tür zum Saal des Lichts. Galawayn musste dort herauskommen! Das Treffen der Hüter des Wissens hatte gewiss schon längst begonnen. Es war eine grobe Beleidigung, so viel zu spät zu kommen.

Vielleicht war er ja schon längst fort? Die Gelegenheit, sich allein in seinem Zelt umzusehen, käme gewiss so schnell nicht wieder. Wenn doch nur Ollowain hier wäre! Dieser nichtsnutzige Elf war schon wieder spurlos verschwunden. Doch diesmal würde sie ihn nicht suchen gehen! Ganz sicher nicht! Der Mistkerl würde sich am Ende noch einbilden, dass sie ohne ihn gar nichts wagte. Was hatten er und sein Schwert bei dieser Mission schon geholfen? Gut, einmal abgesehen von der Sache in dieser Gasse in Iskendria ...

Ganda fasste sich ein Herz. Galawayn würde ihr schon nichts tun. Sie würde einfach behaupten, sie habe keinen Schlaf gefunden und ... Nein, das war eine zu dämliche Lüge. Das würde er ihr niemals glauben. Falls er sie tatsächlich entdeckte, würde ihr schon etwas Besseres einfallen. Ihren Kopf aus der Schlinge zu reden, wenn es wirklich darauf ankam, gehörte zu ihren großen Stärken.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die schwere Tür zum Saal des Lichts. Hastig zog sie sie hinter sich zu. Sie wusste, das dunkle Rechteck vor dem falschen Himmel war im ganzen Saal zu sehen. An die Himmelswand gelehnt, verharrte sie. Nichts geschah. Also war Galawayn doch schon gegangen, bevor sie gekommen war. Vielleicht schlief er auch?

Jetzt nur nichts anmerken lassen! Sie musste sich ganz normal verhalten. Hoch erhobenen Hauptes erklomm sie die große Düne. Als sie den Kamm erreichte, konnte sie das Zelt sehen. Die Seitenwände waren hochgeklappt. Es war leer. Ganda fiel ein, dass sie gar nicht wusste, wo Galawayn seinen Schlafplatz hatte. Was immer der Hüter des Wissens jetzt auch trieb, im Zelt war er nicht.

Von der Höhe der Düne konnte man fast den gesamten Saal überblicken. Die Lutin nahm sich die Zeit, sich sorgfältig umzusehen. Wer immer hierher kam, würde als Erstes ihre Spur im Sand sehen. In einer halben Stunde oder vielleicht auch ein wenig schneller hätte der verzauberte Sand die Spur getilgt. Aber wenn Galawayn vorher zurückkehrte ...

Ganda streckte die Hand vor, sodass die Handfläche zur Decke wies. Leise flüsterte sie die geheimen Namen der Winde. Dann blies sie sacht über ihre Handfläche. Ein Luftzug löschte ihre Spur im weichen Sand.

Als sie das Zelt erreichte, verwischte sie ein weiteres Mal ihre Spuren. Ein törichter Verzweiflungsakt! In diesem Saal, der vorgaukelte, eine Wüste zu sein, gab es keine Verstecke, es sei denn, man vergrub etwas im Sand. Einen Gedanken lang quälte sie die Vorstellung, dass Galawayn wie ein Ameisenlöwe sei: Tief am Grund eines Sandtrichters lauerte er mit seinen tödlichen Beißzangen. Und wer einmal über den Rand des Trichters getreten war, für den gab es kein Entkommen mehr, der rutschte unaufhaltsam seinem Verderben entgegen.

Das sind kindische Ängste, schalt sie sich. Die Wahrheit ist, dass der Hüter des Wissens einen Abend lang nicht hier war und sie in Ruhe das geheimnisvolle Buch untersuchen konnte. Es lag auf dem niedrigen Tisch im Zelt. Daneben ruhten die Handschuhe.

Ganda leckte sich nervös die Schnauze. Wie für sie hingelegt, dachte sie. Wieder blickte sie sich um. Sie war allein! Was konnte schon geschehen? In ein Buch zu blicken, war doch ungefährlich.

Die widerlichen Handschuhe packte sie nicht mehr an. Wer wohl die Haut seiner Hände dafür gegeben haben mochte?, fragte sie sich erneut. Und warum tat man so etwas? Wofür brauchte man lebendige Handschuhe?

Vorsichtig klopfte sie mit dem Knöchel gegen das große Buch. Das dunkelbraune Leder des Einbands war erstaunlich weich. Fast schluckte es das Geräusch des Klopfens. Ein Schauder überlief die Lutin. Sie spürte die Macht des Buches, sie schien Ganda willkommen zu heißen.

Doch die Lutin blieb skeptisch. Sie legte den Kopf auf die Tischplatte und betrachtete das Buch eindringlich. An den Rändern der beiden Messingbänder, die den Folianten wie Fesseln umschlossen, hatten sich Staub und Grünspan gesammelt. Auch die feinen Spiralmuster der Messingbeschläge waren fast unter Grünspan verschwunden. Kein Schriftzug war in das Leder geprägt. Nichts gab einen Hinweis auf den Text, der sich zwischen den dicken Buchdeckeln verbarg. Es schien, als sei der Verfasser ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man wusste, worum es in diesem Buch ging.

Merkwürdig waren auch die grauen Bruchsteine, die in die Messingbänder eingelassen waren. Bei einigen der Steinsplitter entdeckte sie eingravierte Linien, doch keiner war größer als ihr Daumennagel. Ganda hatte das Gefühl, man könne diese Steine zusammenfügen, wenn man sie aus ihren Fassungen brach. Die Bruchkanten der Stellen, die fünf parallele Linien zeigten, passten zusammen. Wahrscheinlich war es mit dem Rest genauso.

Ganda griff nach dem Buch, um es umzudrehen und sich die Rückseite anzusehen. Ein kurzer, stechender Schmerz fuhr in ihre Handflächen. Ein Schmerz, wie man ihn spürt, wenn man sich den Ellenbogen unglücklich stößt.

Perlmuttenes Licht umspielte die grauen Steine. Mit einem metallischen Seufzer klappten die Bronzebänder auseinander, und das Buch schlug auf. Die Wege der Alben, von Meliander, Fürst von Arkadien, stand in schnörkeliger Handschrift auf der Titelseite. Rauschend blätterten die Seiten weiter. Flüchtig sah Ganda Bilder von Schattengestalten, die zwischen goldenen Stangen hervorquollen.

Die Lutin kniff die Augen zusammen. Ihr war plötzlich schwindelig. Erst als das Rauschen der Pergamentseiten endete, wagte sie es, wieder zu blinzeln. Sie blickte auf ein Bild, das eine weiße Brücke zeigte. Ein enthaupteter Krieger, ganz in Weiß und mit dem Schwert in der Hand, trat auf die Brücke. Er trug seinen Kopf unter dem Arm.

Der Himmel war voller Schatten, die durch einen Riss im Firmament quollen und sich streckten, um den Mond zu verschlingen. Auf der anderen Seite der Brücke erhob sich eine weiße Festung. Im Schatten des Tores standen zwei weitere Gestalten. Eine von ihnen schien Krallen statt Finger zu haben. Acht feine Silberstriche leuchteten im Dunkel, etwa dort, wo ihre Hände sein sollten. Der Zweite Schatten ließ nur erraten, dass es sich wohl um einen Elfen handelte. Besondere Eigenarten erschlossen sich auch bei aufmerksamer Betrachtung nicht. Der Tag, an dem das Herzland fällt, stand unter dem Bild. Und was Ganda auf der gegenüberliegenden Seite las, erfüllte sie mit kalter Angst. Dort war von einem lebenden Toten, der erst im Tod ein Leben fand, die Rede. Meliander, dem Autor, gefiel es wohl, sich so verworren auszudrücken. Ganda wollte gerade umblättern, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten sah. In den Himmel jenseits der großen Düne war ein rechteckiges Loch gestanzt. Die Tür zum Saal des Lichts stand offen ...

Klatschend schlug das Buch zu. Mit einem klagend schleifenden Laut schlossen sich die Bronzebänder. Ganda sprang auf. Sie rannte zur Rückseite des Zeltes und weiter in die falschen Dünen hinein. Wie lebendig griff der verzauberte Sand nach ihren Füßen, als sei er mit dem im Bunde, der gerade den Saal des Lichts betreten hatte,

Mit einem Sprung hechtete Ganda über den Kamm einer flachen Düne. Wenn sie sich tief duckte, war sie hier außer Sichtweite. Sie spürte den Sand unter ihrem Leib dahinfließen. Die Fährte, die vom Zelt zu ihrem Versteck führte, verschwand.

Ganda wagte es nicht, den Kopf zu heben. Jeden Augenblick rechnete sie damit, Galawayns Stimme zu hören. Sie hätte einfach sitzen bleiben sollen, dachte sie. Hätte sie sich eine der Schriftrollen aus dem hölzernen Ständer genommen, dann hätte sie so tun können, als sei sie zurückgekehrt, um weiter zu arbeiten. Aber der schwarze Spalt im falschen Himmel war dem Riss im Himmel des Bildes so ähnlich gewesen. Ohne dass es eine vernünftige Begründung dafür gab, war sie sich sicher, in tödlicher Gefahr zu sein.

Der Sand unter ihr glitt auseinander. Langsam bildete sich eine flache Kuhle in der Flanke der Düne. Ganda presste die Wange fest in den Sand. Am liebsten wäre sie ganz darin verschwunden, so wie die Urnen mit den geheimen Schriften, die Galawayn hier versteckte. Jeden Augenblick rechnete sie damit, dass ein Schatten auf sie fiel und sie die spöttische Stimme des Hüters der Geheimnisse hörte.

Etwas kratzte an ihrer Wange. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie schob den Kopf ein wenig zur Seite. Etwas Braunes ragte aus dem Sand. Es sah aus wie eine abgestorbene Wurzel.

Weiterer Sand rutschte fort, und Ganda reckte sich eine ausgedorrte Hand entgegen. Die Haut war schrumpelig und goldbraun, wo sie noch vorhanden war. In der Handfläche selbst gab es keine Haut mehr. Sie war fein säuberlich abgezogen worden.

Rückwärts kroch Ganda von der Hand fort, unfähig, den Blick abzuwenden. Eine weitere kleine Sandlawine legte ein Stück Unterarm frei. Die Hand winkte ihr zu. Der Gruß eines Toten, der schon bald nicht mehr allein in der Düne verborgen liegen würde!

Die Lutin sprang auf und begann zu laufen. In irgendeinem fernen Winkel ihres Verstandes begriff sie, dass wahrscheinlich nur der sich bewegende Sand für den vermeintlichen Gruß des Leichnams verantwortlich war. Doch diese Erkenntnis drang nicht bis zu ihren Beinen vor. Ohne sich darum zu scheren, ob sie gesehen wurde, lief sie in weitem Bogen um die große Düne herum und schlüpfte durch das klaffende Loch im Himmel.

Blindlings rannte sie in die labyrinthische Bibliothek, und als sie völlig außer Atem innehalten musste, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie steckte. Der Saal sah aus wie ein großer Lagerraum. Auf breiten Tischen langen hunderte von runden Tonscheiben, in die fremdartige Glyphen in Spiralen geritzt waren.

Ganda musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über die Tischplatten zu blicken. Nur drei Öllampen brannten. Nicht genug, um die Dunkelheit zu vertreiben. Waren da verstohlene Schritte? Die Lutin blickte zurück zur Tür. Nichts.

Sie ging in die Knie und spähte durch den Wald von Tischbeinen. Außer ihr war niemand hier. Und dennoch fühlte sie sich beobachtet. Mit hastigen Schritten eilte sie der Tür am anderen Ende des Gangs entgegen, flüchtete über eine Galerie, von der man auf einen weiten Büchersaal blicken konnte. Dieser Ort kam ihr vertraut vor. Hier war sie am Morgen, als sie nach Ollowain gesucht hatte, schon einmal gewesen. Auf dem Geländer der Galerie standen große Lampen, die ein blendend weißes Licht verstrahlten.

Ganda wusste, dass es von hier aus nicht mehr weit zu ihrer Kammer war. Erleichtert stieg sie eine Wendeltreppe hinab in den Büchersaal. Sie ging an den Regalen entlang, bis sie das Buch mit dem auffälligen gelben Rücken wieder fand. Es stand ganz auf der Ecke eines Regals, gerade in Augenhöhe für sie und es hatte einen Titel, den sie gewiss nicht vergessen würde: Die dreizehn großen Geheimnisse der Epilation. Der Haarwuchs an ihren Beinen gehörte zu den wahren Ärgernissen in ihren Leben. Ihm war nicht einmal mit Magie beizukommen. Heute Morgen hatte sie überlegt, das Buch mit auf ihr Zimmer zu nehmen. Jetzt streichelte sie nur flüchtig im Vorübergehen den Leineneinband. Wir werden uns wiedersehen, schwor sie sich lächelnd.

An so etwas Banales wie das Auszupfen von Haaren zu denken, dämmte ihre Angst ein. Sie würde jetzt einfach in ihr Zimmer gehen und sich dort einschließen. Dort konnte ihr nichts passieren. Das Zimmer hatte eine schwere Tür und direkt nebenan war Ollowains Kammer. Da wäre sie in Sicherheit!

Sie schritt ein wenig zuversichtlicher aus und war schon weit in den Büchersaal vorgedrungen, als sie noch einmal zurück zur Galerie blickte. Ein riesiger Schatten huschte über das Mosaik aus Buchrücken an der Rückwand der Galerie. Und als habe er ihren Blick gespürt, verschwand er augenblicklich.

Nicht laufen, dachte sie ängstlich. Wenn du läufst, denkst du nicht mehr klar. Und deine Schritte sind leicht zu hören!

Sie tastete nach dem Zauberstab, den sie mit zwei breiten Lederbändern an ihren linken Unterarm gebunden hatte, sodass er im Ärmel ihres Kleides verborgen blieb. »Ich bin klein, aber ich bin eine Lutin! Wer immer dort kommt, hält mich für leichte Beute. Aber das bin ich nicht!«

Hinter sich hörte sie die Stufen der Wendeltreppe knarren. Ganda beschleunigte ihre Schritte und bog am nächsten Regalende nach links in einen Quergang ab. Etwas geschah mit den Lichtern auf der Galerie. Ihre Farbe veränderte sich von weiß zu rosa und wurde mit jedem Herzschlag dunkler, bis sie schließlich blutrot glommen. Die großen Lampen strahlten nicht mehr gleichmäßig. Ihr Licht pulsierte, wurde stärker und dann wieder schwächer. So wurde der weite Saal zu einem Hort tanzender Schatten. Alles änderte sich in jedem Augenblick.

Das Herz schlug der Lutin bis zum Hals. Hatte ihr Verfolger ihre Gedanken gespürt? Wollte er ihr zeigen, dass auch er die Kunst der Magie beherrschte? Oder wollte er einfach nur, dass es dunkler wurde in dem Büchersaal?

Sie blieb kurz stehen und lauschte. Sie hoffte darauf, die Schritte ihres Verfolgers zu hören, um einschätzen zu können, wo er steckte. Aber es war still. Ganda bog erneut ab. Wenn man die Hauptgänge verließ, standen die Regale so dicht beieinander, dass man mit ausgestreckten Armen die Bücher auf beiden Seiten berühren konnte. Der ganze Saal war jetzt in bedrückende rote und schwarze Schatten gehüllt.

Die Lutin zog ihren Zauberstab aus dem Ärmel und murmelte die Worte des Verhüllens, während sie eine der Büchergassen entlangeilte. Sie würde mit den Schatten verschwimmen. Ihr rotes Kleid war ohnehin schon eine gute Tarnung bei dem Licht. Der Zauber würde sie vor jedem verbergen, der nicht direkt in ihre Richtung blickte. Für den flüchtigen Beobachter war sie nun nicht mehr als einer der unsteten Schatten, mit denen das flackernde rote Licht den Büchersaal erfüllte.

Ganda verlangsamte ihre Schritte. Sie versuchte, sich so lautlos wie ein Elf zu bewegen. Was wohl im Kopf ihres Verfolgers vorging? Er war ihr gegenüber im Vorteil. Er kannte sich hier aus. Wahrscheinlich ahnte er, dass sie auf dem Weg zu ihrer Kammer war. Für ihn wäre es ein Leichtes, ihr den Weg abzuschneiden. Sie konnte ihm nur dann sicher entkommen, wenn sie sich nicht an seine Erwartungen hielt.

Beim nächsten Quergang wechselte Ganda in eine andere Büchergasse, und dann lief sie wieder in Richtung der Galerie. Sie wechselte noch zweimal die Richtung, bis sie schließlich innehielt. Jetzt musste sie nur noch warten. Wenn sie weiter herumlief, würde sie am Ende noch das Geräusch ihrer Schritte verraten.

Die Lutin kauerte sich auf den Boden und umschlang mit den Armen ihre Knie. Ich bin nur ein Schatten, verborgen zwischen Schatten, wiederholte sie immer wieder in Gedanken, und er kann mich nicht finden. Das Hell und Dunkel der tiefroten Lichter wechselte im Rhythmus ihres Herzschlags. Oder hatte sich ihr ängstlich klopfendes Herz den Lichtern angepasst? Spielte Galawayn mit ihr, so wie er mit Ollowain am Falrach-

Tisch gespielt hatte? Wie konnte sie ihm entfliehen? Und was wollte er von ihr?

War da ein Geräusch? Ganda hielt den Atem an. Leise tappende Füße auf der anderen Seite des Regals! Ganda spähte durch den Spalt zwischen den oberen Buchkanten und dem nächsten Regalbrett. Sie konnte niemanden entdecken.

Du musst nur ganz still sitzen bleiben, ermahnte sie sich, Wenn er nur flüchtig in diesen Gang blickt, dann wird er dich nicht entdecken. Das Geräusch der Schritte war verklungen. War er stehen geblieben? Sie musste daran denken, wie sie Ollowain durch den Büchertunnel getragen hatte. Kein Pergamentblatt hatte sich unter seinen Füßen bewegt. Elfen konnten sich völlig lautlos bewegen, wenn sie es denn wollten. Sie hinterließen nicht einmal deutliche Spuren im Schnee. Demnach musste Galawayn gewollt haben, dass sie ihn hörte. Also wusste er, wo sie war!

Ihr Fell sträubte sich. Nein, nein, nein, so war es nicht! Keine Panik. Wie sollte er wissen, wo sie war? Sie schloss die Augen, um klarer denken zu können.

Halte deine Sinne beisammen! Lasse dich nicht erschrecken! Was kannst du ... Etwas berührte sanft ihre Schulter.

Mit einem Schreckensschrei sprang sie auf.

»Ruhig. Ich bin es, Ganda. Ich.« Zitternd drehte sich die Lutin um. Qualbam III. stand vor ihr. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich ...«

»Warst du oben auf der Galerie?«, herrschte sie ihn an. Der Beleuchter nickte.

»Seit wann folgst du mir?«

»Schon eine ganze Weile. Du läufst ziemlich schnell.«

»Warum hast du mich nicht gerufen? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

Der Kobold runzelte ärgerlich die Stirn. »Schon vergessen? Man macht keinen Lärm, wenn man hier herumrennt. Der Bücherschlag ... Außerdem verärgert man die Bücher. Sie mögen die Stille. Wusstest du übrigens, dass die meisten es gern haben, wenn man sie über den Buchrücken streichelt?«

Ganda rang noch immer um Fassung. »Warum bist du mir gefolgt? Was soll das?«

»Na ja. Also ...« Er senkte den Blick und musterte die haarigen Zehen. »Ich habe auf dich gewartet. Wir waren doch verabredet.«

»Gar nichts waren wir!«, grollte sie.

»Doch, doch. Ich hab dir doch genau gesagt, wo du mich finden kannst heute Abend. Ich habe mich extra in Schale geworfen für dich.« Er lächelte verlegen. »Ich wollte wohl einen guten Eindruck auf dich machen.«

Abgesehen von einem roten Halstuch, das sich Qualbam umgebunden hatte, bemerkte Ganda keine Veränderung an ihm.

»Als du nicht gekommen bist, habe ich mir gedacht, dass du dich vielleicht verlaufen hast. Du bist ja schließlich neu hier. Da gehört nicht viel dazu. Ich meine ... Also, ich will dich nicht beleidigen, weißt du? Ich hab mich hier anfangs dauernd verlaufen. Einmal war ich für drei Tage lang sogar ...«

»Was hast du mit den Lichtern gemacht?«

Qualbam wirkte gekränkt. »Mit den Lichtern? Sieht das vielleicht nach Koboldmagie aus?«

Ganda blickte zur Galerie hinauf. Ja, in ihren Augen sah das genau nach der Art von dämlichen Scherzen aus, für die die kleinen Völker in ganz Albenmark berüchtigt waren. »Wer tut so was? Das ... Es macht mir Angst.«

Ein wenig linkisch strich der Beleuchter ihr über den Arm.

»Das muss es nicht. Weißt du, manche werden hier mit der Zeit etwas seltsam. Sie tun Dinge, die man nicht verstehen kann.« Er kicherte. »Verrückte Dinge .... Das mit den Lichtern ist doch harmlos. Meine Kameraden und ich, wir nennen das den Bücherwahn. Ich schau nur sehr selten in irgendein Buch. Zu viel lesen, das verwirrt einen nur. Und dann noch die Bibliothek. Sie ist ja schon irgendwie bedrückend. Nie sieht man ein Stück echten Himmel. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich es vermisse, in strömendem Regen durch Pfützen zu laufen. Aber so etwas ist ja harmlos. Genau wie die Sache mit den Lichtern.«

Wieder kicherte er. »Vor einer Weile hatten wir hier einen Lamassu zu Besuch. Komische Viecher sind das. Haben den Leib von einem riesigen Stier, Adlerflügel, so groß wie Drachenschwingen, und einen bärtigen Kopf. Aufgeblasene Kerle sind das. Ich hab den, der hierher gekommen war, anfangs beobachtet. Artaxas hieß er. Der hat doch tatsächlich jeden Tag zwei Stunden damit verbracht, seinen Bart einzuölen und in Locken zu drehen. Ein aufgeblasener, eingebildeter Kerl war das. Ihm ist die Bibliothek nicht gut bekommen. Nach zwei Monden hier war er so weit, dass er versucht hat, Chiron zu bespringen.«

Qualbam prustete vor Lachen. »Er hat den Kentauren für eine Kuh gehalten und war davon nicht mehr abzubringen. Völlig durchgedreht war dieser fette Wichtigtuer. Die Hüter des Wissens mussten ihn schließlich hier hinauswerfen. Du siehst also, wenn hier jemand mit ein paar Lichtern spielt, dann ist das echt harmlos. Da ist nichts dabei. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

Aber es war jemand im Saal des Lichts. Die Tür war ja schließlich nicht von allein aufgegangen. Kurz überlegte sie, ob sie Quabalm von dem Buch und dem Eindringling erzählen sollte. Dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sich einem Kerl wie ihm anzuvertrauen, war sicherlich keine gute Idee. Es war zu offensichtlich, warum er sich um sie bemühte. Dennoch war sie im Augenblick froh, nicht allein in dem Büchersaal zu sein.

»Sag mal, wollen wir nicht irgendwohin gehen, wo es gemütlicher ist? Du hast schon Recht. Das mit dem Licht hier kann einem ganz schön auf die ... Ähm ... Es stört.«

»Und wo sollten wir deiner Meinung nach hingehen?«

»Also, die Gästezimmer sind wirklich klasse. Die Betten dort sind viel besser als die in unseren Quartieren. Wir müssen uns zu dritt einen Raum teilen, und unsere Betten sind übereinander gestapelt. Früher war das mal besser.

Da hatte angeblich jeder von uns Beleuchtern eine eigene Kammer. Aber seit die Hüter des Wissens nicht mehr wissen, wo sie die neuen Bücher noch unterbringen sollen, müssen wir hier alle etwas enger zusammenrücken. Ob wir wollen oder nicht.«

»Weißt du, was einen Ehrenmann ausmacht?« Ganda hatte mit einigem gerechnet, aber dass Qualbam so direkt werden würde, hätte sie nicht gedacht.

Der Kobold sah sie verwundert an. »Hat das was damit zu tun, wo wir hingehen werden?«

»Ja, einiges. Ein Ehrenmann mag dieselben Gedanken haben wie du, aber er würde sie nicht so direkt aussprechen. Das kommt bei Frauen besser an.«

Der Beleuchter kratzte sich an der Stirn. »Das hört sich für mich nach einem schüchternen Blödmann an, der noch nie zu

‚nem Sti ...« Er brach mitten im Wort ab und grinste sie breit an. Seine blauen Augen funkelten schelmisch. Offensichtlich hatte er großen Spaß daran, ihr auf pöbelhafte Weise den Hof zu machen. Er legte sich in gespielter Betroffenheit die Hand auf den Mund. »Hoppla, so was würden Ehrenmänner natürlich auch nicht sagen.«

Ganda antwortete mit einem eisigen Blick. Eigentlich sah Qualbam gar nicht mal schlecht aus. Wenn er nur ein wenig größer wäre ... Sie seufzte. Wenn Ollowain nur ein klein wenig von seiner Art hätte, könnte man sicher besser mit ihm auskommen. Als Ganda sich vorstellte, wie der Elf über schüchterne Blödmänner lästerte, die noch nie zu einem Stich gekommen waren, musste sie unwillkürlich grinsen.

»Na also, endlich taust du ein bisschen auf.« Qualbam strahlte über das ganze Gesicht. »Langsam hatte ich schon Angst, du wärst eine jungfräuliche Zicke.« Er hakte sich bei ihr ein und nutzte die Gelegenheit, ihr einen Klaps auf den Hintern zu geben. »He, hast du auch ‚nen Fuchsschwanz? Wahnsinn! Das ist ja abgefahren!«

»Das nennt man Rute.«

Qualbam lächelte lüstern. »Das nennst du eine Rute? Du wirst dich noch wundern.«

Ganda hob ihren Zauberstab. Jetzt reichte es. »Vielleicht hattest du ja Recht?«

»Na klar hab ich Recht. Warte mal ab, bis ich aus meiner Hose steige. Oder willst du sie gleich jetzt sehen? Macht eigentlich keinen Unterschied. Wir können in deinem Bett dann ja noch einmal ...«

»Ich dachte eher an deine Sorgen, dass ich eine jungfräuliche Zicke sein könnte.« Sie machte sich los und tippte ihm mit dem Zauberstab auf die Brust. »Glaubst du, die Hüter des Wissens würden eine fette schleimige Kröte als Beleuchter beschäftigen?«

»Heh, Mädchen. Spiel mit diesem Ding nicht so herum, das kann böse ...« Einen Herzschlag lang war Ganda versucht, ihn zu verzaubern. Nur für eine Nacht. »Was, meinst du, würde ein Ehrenmann in dieser Lage tun?«

»Der wäre wohl nicht in dieser Lage.« Qualbam schielte, weil er den Zauberstab vor seiner Nase nicht aus den Augen ließ.

»Und warum wäre er nicht in dieser Lage?«

»Weil er keine Rute in der Hose ...«

»Falsche Antwort.« Sie ließ die Spitze ihres Zauberstabs zum Kinn über den Hals auf die Brust und noch tiefer wandern. »Ich könnte natürlich auch nur einen Teil von dir verzaubern. Vielleicht würde das helfen, dir bessere Manieren beizubringen.«

»Ein Ehrenmann würde dich bis zur Tür deiner Kammer geleiten.« Ganda lächelte und ließ den Zauberstab sinken. Dann reichte sie ihm den Arm, damit er sich einhaken konnte. Qualbam machte eine Miene, als habe man ihn gezwungen, einen verdorbenen Hering zu essen. Er führte sie schweigend aus dem großen Büchersaal, und die Lutin war überrascht, wie nah ihre Kammer lag.

Vor der Tür angelangt, knickste sie artig. »Na also, mein Herr. War das so schwer?«

»Ich habe das Gefühl, als sei ich nicht mehr ich selbst«, sagte der Kobold in eigentümlichem Tonfall. Er verbeugte sich steif. Dann richtete er sich auf, und in seinen Augen funkelte der Schalk. »Meine Allerverehrteste, schieb dir deinen Zauberstab doch in den Allerwertesten, alte Jungfer.« Noch bevor sie etwas sagen konnte, nahm er die Beine in die Hand und war auf und davon.

Ganda schmunzelte. So ein übler Kerl war er eigentlich gar nicht. Sie öffnete die schwere Tür zu ihrer Kammer und legte dann von innen den hölzernen Sperrriegel vor. Nur für den Fall, dass es Qualbam für eine gute Idee hielt, sie später in der Nacht noch einmal zu besuchen.

Müde trat sie an den niedrigen Tisch und drehte den Docht ihrer Öllampe höher, bis der kleine Raum von goldenem Licht erfüllt war. Alle Möbel in ihrem Zimmer waren auf die Größe von Kobolden zugeschnitten. Die Gastzimmer Iskendrias waren großzügig eingerichtet. Die Möbel waren schön geschnitzt. Auf einem Ständer neben der Tür stand eine Schale mit frischem Wasser. Auf dem Tisch standen jeden Abend eine Platte mit frischem Obst und eine Kristallkaraffe mit Apfelwein.

Mit einem erschöpften Seufzer ließ sie sich gegen die Tür sinken. Sie sollte zu Ollowain gehen und mit ihm über Galawayn von Valemas reden. Oder die Leiche in der Sanddüne und über das, was sie in Melianders Buch gelesen hatte. Aber sie war wütend auf den Elfen. Und sie war enttäuscht von ihm. Wo hatte er den ganzen Tag gesteckt? Mit ihm an ihrer Seite hätte sie nicht fliehen müssen. Emerelle hatte ihn doch mitgeschickt, damit er sie beschützte! Und wo war er, wenn sie ihn brauchte?

Es war unvernünftig, nicht zu ihm zu gehen. Ganda trat an den Tisch und schenkte sich ein Glas Apfelwein ein. Der Elf hatte sie bestimmt kommen hören, falls er denn in seiner Kammer war. Warum schaute er nicht kurz herein, um zu fragen, wie es ihr ging? Sie kannte die Antwort: Einem Ehrenmann stand es nicht gut zu Gesicht, eine Dame mitten in der Nacht in ihrem Schlafgemach zu besuchen. Verdammte Ehrenmänner! Ganda leerte ihr Glas in einem Zug und füllte es erneut. Die Hüter des Wissens mussten unterrichtet werden, dass Galawayn ein Mörder war. War das der Bücherwahn, von dem Qualbam gesprochen hatte? Sie würde sicherlich wahnsinnig werden, wenn sie ihr ganzes Leben lang in diese Bibliothek eingeschlossen wäre. Schon jetzt nach so wenigen Tagen vermisste sie es schmerzlich, den Wind im Gesicht zu spüren und einen echten Himmel über sich zu sehen.

Ganda leerte das zweite Glas. Sie würde sich für einen Augenblick auf das Bett legen und die Glieder strecken. Das würde ihr gut tun. Es blieb noch genug Zeit, nach dem verdammten Elfen zu sehen, und wenn er nicht da war, dann würde sie ... Nein, dass würde sie nicht! Allein würde sie nicht mehr hinaus in die Bibliothek gehen. Sie würde ihre Tür verrammeln und warten, bis Ollowain kam, wo immer er auch stecken mochte.

Ganda legte den Zauberstab neben die Karaffe. Es war dumm gewesen, gleich zwei Gläser Apfelwein zu trinken. Sie war ein wenig beschwipst. Ob sie Qualbam wohl für immer vertrieben hatte? Oder würde er es morgen noch einmal versuchen?

Der Beleuchter hatte schon Recht. Das Bett war prächtig. Wunderbar weich und groß genug, um auch zu zweit noch reichlich Platz darin zu haben. Hübsche Augen hatte er. Je nach Licht schienen sie die Farbe zu wechseln. Heute Morgen waren sie noch hellgrau gewesen. Wie entschieden er versucht hatte, sie davon abzuhalten, in den Bücherschlag im Brauturm zu steigen! Er hatte sich wirklich Sorgen um sie gemacht.

»Quatsch, der wollte auch heute Morgen schon zu dir ins Bett, altes Mädchen«, murmelte sie. Ihre Stimme lallte ein wenig. Sie fühlte sich leicht. Verwundert blickte sie zur Karaffe. Der Apfelwein war stärker, als sie erwartet hätte. Gestern hatte er sie nicht so umgehauen ... Vielleicht hätte sie nicht zwei Gläser auf nüchternen Magen trinken sollen? Eine kleine Rast. Nur kurz hinlegen. Sie griff sich in den Nacken und öffnete die Haken ihres Kleides. Sich angezogen hinzulegen, war das Letzte ... Man kam dann erst gar nicht zur Ruhe. Sie würde zählen, dann schlief sie auch nicht ein. Bei tausend würde sie wieder aufstehen.

Ganda zog ihr Kleid hoch. Sie kam aus dem Gleichgewicht und kicherte. Was war das für ein Apfelwein? Der war ja stark wie Schnaps.

Etwas bewegte sich unter dem Bettlaken. Da war eine Beule. Sie fluchte. Mäuse! Verdammte Bibliothek. Hier war es auch nicht besser als anderswo. »Verzieh dich aus meinem Bett, oder ich mach dich fertig, du ...« Ganda biss sich auf die Lippen. Sie war ein wenig laut geworden. Verdammt! Hoffentlich war Ollowain nicht nebenan. Was würde er jetzt von ihr denken? Obendrein steckte sie noch in ihrem Kleid fest. Eins nach dem anderen. Erst die Maus. »Du verschwindest da. Sofort!«

Ganda beugte sich vor und griff nach einem Zipfel des Bettlakens. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie es zurück und geriet aus dem Gleichgewicht. Das Betttuch wirbelte durch die Luft. Klirrend fiel die Karaffe vom Tisch. Die Lutin taumelte gegen einen Stuhl und ging mit ihm zu Boden.

Benommen blinzelte Ganda zum Bett. Halb in das Betttuch und halb in ihr Kleid gewickelt, lag sie am Boden. Ein kleiner weißer Kopf mit roten Augen lugte über die Bettkante. Galawayns Knochenviper!

Die Schlange glitt auf das Laken hinab. Auf dem glatten Tuch kam sie nur langsam voran. Ganda hielt den Atem an. Durch den Stoff hindurch spürte sie, wie die Viper sich an ihrem Bein entlangschlängelte.

Nicht bewegen! Dann beißt sie vielleicht nicht zu! Eine Schlange beißt nichts, was sie für tot hält, sagte sich Ganda. Die bösartigen roten Augen hielten sie gefangen. Sie weiß, dass ich lebe!

»Ganda? Ist alles in Ordnung?« Es klopfte an ihrer Tür. Ollowain! Er rüttelte. Der Riegel! Die Schlange wand sich auf ihrem Schoß. Und Ganda starrte sie mit vorgestreckten Armen an, gefangen in ihrem Kleid. Welch eine miese Art zu sterben! Züngelnd hob sich ihr der Kopf entgegen.

»Ganda?« Wieder rüttelte es an der Tür. »Antworte!« Die Schlange wiegte sich vor und zurück.

Noch immer hielt Ganda den Atem an. Der Rausch war wie verflogen. Ihr gingen Galawayns Worte durch den Kopf. Wie war das? Das Schlangengift lähmte einen. Man konnte nicht einmal mehr schreien. Und es hinterließ keine Spuren. Man sah aus, als wäre man einfach eingeschlafen.

Warum tat er das? Warum musste sie sterben? Wegen des Buches? Wenigstens würden reichlich Spuren bleiben. Ollowain würde ihn fertig machen.

Eine silberne Klinge drang durch das Holz des Türrahmens und hebelte den Sperrriegel hoch. Im nächsten Augenblick flog die Tür auf. Die Schlange erstarrte.

Ollowain verharrte mitten in der Bewegung. »Du darfst dich nicht rühren«, flüsterte er.

Ganda stiegen Tränen in die Augen. Für diesen dämlichen Spruch hätte sie ihm am liebsten einen Knoten in die Zunge gehext. Ollowain zog seinen Dolch und hob den Arm.

Etwas zwickte Ganda in den Bauch. Sie wollte aufschreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Undeutlich sah Ganda die Knochenviper zur Seite segeln. Der Dolch des Elfen hatte sie aufgespießt und nagelte die Schlange gegen ein Tischbein.

Ganda wollte blinzeln. Ihr standen immer noch Tränen in den Augen. Aber ihre Lider waren wie versteinert. Sie sackte zur Seite. Etwas drückte ihr die Brust zusammen. Sie bekam keine Luft mehr.

Der Schwertmeister war plötzlich über ihr. Er hatte wieder seinen Dolch in der Hand. Sie spürte seine Finger auf ihrem Bauch. Eiskalt.

Seine Lippen bewegten sich, doch sie konnte nichts mehr hören. Er beugte sich hinab und küsste sie auf den Bauch.

Ganda hätte gern gelächelt. Ein Kuss von einem Elfen! Ihre Lungen brannten. Ihr wurde schwindelig. Dann spürte sie, wie ihr Herz aussetzte zu schlagen. Schade, dass sie niemandem mehr von diesem Kuss erzählen konnte.

Gute Freunde

Übellaunig klopfte Skanga den Schnee von ihrem Umhang. Von der Welt der Menschen zurück in die Snaiwamark hatte sie nur zehn Schritte gebraucht. Aber um vom Albenstern zu den Höhlen der Wolfsgrube zu gelangen, hatte sie mehr als einen halben Tag auf einem Schlitten gesessen. Die eisige Kälte war ihr tief in die Knochen gekrochen. Früher einmal hatte ihr der Winter nichts ausgemacht. Es hatte Zeiten gegeben, da war sie barfuß durch den Schnee gelaufen.

Birga, ihre Ziehtochter, kam ihr entgegen, um ihr den Umhang abzunehmen. Sie hielt eine vorgewärmte Wolldecke im Arm. Skanga spürte die Neugier im Blick der jungen Schamanin. Aber Birga war klug genug, ihr keine Fragen zu stellen. Sie war auch klug genug, noch nicht versucht zu haben, sie zu ermorden. Eines Tages würde das kommen. Skanga wusste das. Sie wäre nicht anders gewesen. »Du hast Besuch, meine Gebieterin.«

Die alte Schamanin winkte unwirsch ab. »Ich will niemanden sehen. Hast du ein Feuer entfacht?«

»Sicherlich.« Birga zögerte.

»Was?«

»Dein Gast beharrt darauf, es sei sehr dringend, dich zu sehen. Er wartet seit dem Mittag und lässt sich nicht fortschicken.«

»Wer ist es denn?«

»Ein Lutin. Seinen Namen will er nicht nennen.«

Skanga stöhnte. Das war das Letzte, was sie jetzt noch brauchte. »Geh, schneid ihm die Kehle durch und bring ihn mir dann. Ich hoffe, er ist mehr als nur Haut und Knochen.«

Birga lachte leise. »Wie du wünschst. Soll ich ihm seine Haut nicht abziehen, bevor ich ihn dir bringe?«

Skanga drehte sich um. An Birgas Aura war nicht abzulesen, ob sie sich einen Scherz erlaubt hatte. Ihre Ziehtochter trug eine Maske aus Haut, die ihr Antlitz auch vor Skangas magischem Blick verbarg. Die Maske war das Gesicht einer Geliebten Branbarts, die den König enttäuscht hatte. Es hieß, Birga sei unglaublich hässlich. Sie ließ nicht zu, dass Skanga ihr Gesicht mit den Fingern ertastete.

Die junge Schamanin hielt ihrem forschenden Blick stand.

»Soll ich ihm die Haut abziehen?«

»Nein. Das Fleisch schmeckt dann nach Angst und Schmerzen.« Ihre Ziehtochter nickte. Dann angelte sie etwas aus einem Lederbeutel an ihrem Gürtel. Ein Tüchlein aus grüner Wolle, das mit einer Lederschnur umwickelt war. »Er wollte, dass ich dir das gebe.«

»Was ist das?«

Birga zuckte mit den Schultern. »Er hat darauf bestanden, dass nur du es öffnen darfst.«

Die Schamanin zerschnitt die Lederschnur mit ihrem Opfermesser. In das Tuch war etwas eingeschlagen. Birga wandte sich ab, um nicht zu sehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war.

Skangas Finger ertasteten einen fein geschnitzten Knochenring, groß genug, um von einem Troll getragen zu werden. Die Schamanin schloss die Faust um das Kleinod. Sie kannte den Ring gut. Vor vielen Jahren hatte sie ihn Branbart zu seiner Krönung geschenkt. »Schick mir diesen Lutin. Ich habe mit ihm zu reden. Allein!«

Birga nickte und verschwand.

Irgendwo in der Ferne des Höhlenlabyrinths erklang helles Welpenlachen, begleitet von den hallenden Schlägen schwerer Steinhämmer auf Felsen. Es war harte Arbeit, aus der Wolfsgrube wieder eine gute Höhle zu machen. Die Elfen hatten das Herz des Berges in helle Lichter getaucht und sogar Bäume und Blumen hierher gebracht. Ganz abgesehen davon hatten sie dafür gesorgt, dass es in den meisten Höhlen angenehm warm war. Diese Elfenhöhlen waren nicht gut! Sie machten jeden weich, der darin lebte. Bald aber würde die Wolfsgrube wieder wie früher aussehen.

Die Schamanin zog den schweren Ledervorhang zur Seite, der ihre Höhlennische abschirmte. Auf dem Boden brannte ein behagliches Feuer. Die Luft war so von Rauch erfüllt, dass einem die Augen tränten, wenn man eintrat.

Mit einem Seufzer ließ sich Skanga auf einem Mammutfell nieder, das nahe beim Feuer lag. Sie legte ihren Umhang ab, warf noch ein Scheit ins Feuer und hielt dann die Hände über die Flammen. Langsam kroch Wärme in ihre alten Glieder.

Skanga kramte zwischen den Fellen einen Beutel aus ungegerbtem Leder hervor. Sie schüttelte ihn bedächtig und lauschte dem leisen Klacken der Knochen. Dann streute sie den Inhalt auf das Fell. Es waren Knochensplitter von Menschen, Elfen, Kobolden, Kentauren und anderen, exotischeren Geschöpfen. Lange blickte sie das Bild an. Jeder Knochen hatte seine eigene Aura, die ihn verriet, auch ohne dass sie seine Form ertasten musste. Ein Koboldzehenknöchelchen, das auf einem Drachenzahn lag, verhieß Ärger. Sie sollte ihren Besucher nicht unterschätzen. Aber es gab auch Gutes in dem Bild, das sich ihr bot. Ihr Volk würde sehr fruchtbar sein. Schon jetzt trugen mehr Weiber einen Trollwelpen unter ihrem Herzen als je zuvor. Die Aussichten waren gut, dass Branbart bald wiedergeboren wurde.

Der Vorhang ihrer Höhlennische wurde zur Seite gezogen.

»Unser Gast trägt einen langen, grauen Wintermantel und unförmige Stiefelchen«, sagte Birga. Sie war manchmal etwas übereifrig und bemühte sich oft unaufgefordert zu beschreiben, was um sie herum geschah. Sie ahnte wohl nicht, wie viel Skanga in Wahrheit noch sehen konnte.

»Der Lutin trägt eine spitze rote Mütze mit pelzgefütterten Seitenklappen. Auf seiner Schnauze trägt er ein merkwürdiges Gestell mit zwei stahlgefassten Glasscheibchen.«

Skanga hatte von diesem Zauberding, das die Weisen der Kobolde ersonnen hatten, schon gehört. Seine Magie nahm den Augen ihre Müdigkeit und ließ sie wieder so scharf sehen wie in Jugendtagen.

»Jetzt nimmt er das Gestell ab und reibt es mit einem Tuch«, sagte Birga.

Skanga spürte den Blick ihres Gastes. Seine Aura zeigte kein Anzeichen von Angst. Er war verdammt selbstsicher. Einem Kobold wie ihm war sie noch nie zuvor begegnet. Sie hatte das Gefühl, dass er sie herausfordernd anlächelte.

»Er knöpft jetzt seinen Mantel auf.« Birga begann sie zu stören. Dummes Weibsbild, ärgerte sich Skanga. Dachte Birga etwa, sie sei auch taub? Natürlich hörte sie, wie der Lutin seinen Mantel öffnete!

»Schön, dass du Zeit für mich gefunden hast, mächtige Skanga.« Er hatte eine angenehme Stimme für einen Kobold. Die Schamanin bedeutete ihm mit einer Geste, neben ihr am Feuer Platz zu nehmen. »Du kannst uns jetzt allein lassen, Birga. Ich komme zurecht.« Ihr Gast sollte sie ruhig für hilfloser halten, als sie war. Skanga lauschte darauf, wie sich die Schritte ihrer Ziehtochter entfernten.

»Du hast also beschlossen, mich zu erpressen, Füchslein«, eröffnete die Schamanin das Gespräch. »Dabei sagt man den Lutin doch nach, sie seien sehr klug.«

Ihr Besucher hob abwehrend die Hände. »Ich bitte dich, Mächtige. Niemals würde es mir einfallen, unfreundlich zu dir zu sein. Im Gegenteil, ich empfinde tiefsten Respekt für dich und dein Volk. Ich finde, die Lutin und die Trolle sind sich sehr ähnlich.«

Skanga verschlug es die Sprache. Der Kerl war verrückt! Wie konnten sich diese kleinen, schmächtigen Fuchsköpfchen mit einem Volk von Kriegern vergleichen, das den schier übermächtigen Elfen gerade eine ganze Reihe von Niederlagen beigebracht hatte? Nein, dieser Vergleich war zu abwegig, um seinen Ärger daran zu verschwenden.

Skanga drehte den Knochenring zwischen den Fingern. »Wie soll ich das hier verstehen, Fuchsschnauze?«

Der Lutin schüttelte sacht den Kopf. »Nicht Fuchsschnauze, Mächtige. Verzeih, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Elija Glops vom Volk der Lutin. Erster Vorsitzender der Liga zur Wahrung der inneren Größe Albenmarks und Erster Geheimer Rat des Kommandostabs der Rotmützen.«

Skanga sah ihn eindringlich an. Es ärgerte sie, dass dieser Wicht immer noch keine Anzeichen von Angst zeigte. »Du führst mehr Titel als der König meines Volkes«, sagte sie abfällig.

Elija zwinkerte freundlich. »Tja, manchmal müssen Titel Heere ersetzen.«

Wollte sich der Kerl über sie lustig machen? Sie hielt den Knochenring hoch. »Was willst du?«

»Einen Handel. Du weißt ja sicherlich, die Lutin sind als ein Volk von Händlern und Dieben verschrien, und auch ich kann nicht ganz aus meiner Haut. Ich hatte mir gedacht, es wäre sehr nett, wenn alle Koboldsklaven freigelassen würden, die euch Trollen dienen. Sollte es irgendwelche einfältigen Tröpfe geben, die euch freiwillig zu Diensten sind, dürfen sie selbstverständlich bleiben. Aber jeder, der dies eisige Land verlassen will, um anderswo sein Glück zu machen, der sollte mir folgen dürfen.«

Skanga verschränkte die steifen Finger ineinander und ließ die Gelenke knacken. Die trockenen Laute, die an brechende Äste erinnerten, waren neben dem Knistern des Feuers das einzige Geräusch in der Höhle. Der verfluchte Lutin starrte sie unverwandt an. Sie empfand seinen Blick fast wie eine Berührung. Ihm musste doch wohl klar sein, was er da verlangte.

»Ich glaube, ich werde meine Ziehtochter bitten, dir aus deiner Haut zu helfen, Fuchsschnauze. Aber ich werde mich hüten, von deinem Hirn zu essen, das von einem eigentümlichen Wahn befallen zu sein scheint.«

»Da, wo ich herkomme, gibt es auch noch eine Gürtelschnalle aus Jade, die einen sich windenden Drachen zeigt. Und eine mächtige Kriegskeule, die sicherlich die meisten Veteranen deines Volkes wiedererkennen würden. Außerdem haben wir noch einen riesigen Trollschädel, den wir gekocht haben, bis das letzte Fleisch von ihm abgefallen ist. Dem wulstigen Stirnknochen kann man deutlich ansehen, dass er einmal einen schweren Keulenhieb abbekommen hat. Wenn mir etwas geschieht, kann ich nicht mehr verhindern, dass diese Besitztümer des Königs den Herzögen deines Volkes vorgelegt werden. Dabei glauben sie doch, Branbart sei ins Nichts gestürzt.«

Skanga ließ ihre Fingergelenke ein weiteres Mal knacken. Sie zweifelte nicht daran, dass der Kobold sich wirklich abgesichert hatte. Das erklärte sein tolldreistes Auftreten. »Ich kann das nicht verlangen. Die Herzöge würden nicht auf mich hören.«

Elija winkte ab. »Also bitte, Allermächtigste. Wenn es jemanden gibt, den alle Trolle gleichermaßen respektieren und fürchten, dann bist du es.«

»Mein Volk hat schon immer Koboldsklaven gehabt. Niemand wird einsehen, warum man plötzlich auf sie verzichten sollte. Wir brauchen sie.«

»Ihr werdet euch schnell daran gewöhnen, ohne uns auszukommen. Hatte ich schon erwähnt, dass es einen Zeugen für deinen Mord am König gibt?«

Skanga schloss die Augen und dachte an Branbarts Tod. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass sie niemand beobachtet hatte. Wie hatte sie einen Kobold übersehen können? Wenn diese Fuchsschnauze verbreiten ließ, wie Branbart wirklich gestorben war, und dass sie ihr ganzes Volk belogen und betrogen hatte, dann wären ihre Tage gezählt. Und nach ihrem Tod würden die Herzöge beginnen, sich untereinander zu bekämpfen. Betrüger würden irgendwelche Welpen zu wiedergeborenen Königen erklären. Und solange Orgrim sich nicht einmischte, würde sich ihr Volk selbst zerfleischen.

»Nur damit wir uns nicht missverstehen«, beendete Elija ihr Schweigen. »Mir ist nicht an einem Bürgerkrieg unter euch Trollen gelegen. Ich würde es zutiefst bedauern, wenn es dazu käme. Und ich habe auch keine moralischen Einwände gegen einen Königsmord. Im Gegenteil, meiner Meinung nach erfordert die Dialektik der Gerechtigkeit hin und wieder ein königliches Opfer.«

»Was?« Skanga vermochte dem wirren Geschwafel des Lutin nicht zu folgen.

»Ich meine, Branbart starb doch sicherlich für das Wohl des Volkes.« Genauso war es gewesen. Doch in der Art, wie diese miese, kleine Fuchsschnauze das sagte, klang es irgendwie niederträchtig. Nie zuvor hatte sich Skanga derart in die Enge getrieben gefühlt. Sie wusste keinen Ausweg. Es bedurfte nur eines Wortes der Macht, und sie könnte diesem jämmerlichen Wicht den Schädel platzen lassen. Aber er hatte die Besitztümer des Königs zu genau beschrieben. Er machte ihr nichts vor, das spürte die Schamanin. Wenn sie Elija tötete, dann würden dessen Gefährten ihr Volk in einen mörderischen Bruderkrieg stürzen. Doch seine Forderung, alle Koboldsklaven ziehen zu lassen, war unmöglich zu erfüllen.

»Du sagtest doch, du willst mich nicht erpressen. Habe ich da etwas falsch verstanden?«

»Ganz und gar nicht!« In der Stimme des Kobolds schwang mehr als nur ein Anflug überheblichen Humors. »Ich freue mich, dass wir nun von gleich zu gleich weiterverhandeln werden. So wie es sich für einen vernünftigen Handel gehört, habe ich dir natürlich ein Angebot zu machen, und es wäre mir lieb, wenn uns die leidige Geschichte um Branbarts Tod künftig nicht mehr im Wege stünde. Was ich dir zu bieten habe, ist nicht weniger als Emerelles Kopf und als Dreingabe auch noch die Häupter aller anderen Elfenfürsten.« Er sagte das mit solcher Überzeugung, als warteten seine Henker schon hinter den Thronen der Elfen.

Skanga stierte nachdenklich auf ihren Schoß. Sie wusste einfach nicht, was sie von diesem Lutin halten sollte. War er vollkommen irre? Sie fand eine Laus auf ihrem Flickenkleid und schnippte sie ins Feuer. »Bring mir Emerelles Kopf, und du bekommst alle Kobolde. Ich lasse dir sogar die holen, die in die Menschenwelt verschleppt wurden.«

»Nein, nein.« Der Lutin sprang auf und lief wütend gestikulierend auf und ab. »So einfach geht das nicht! Willst du mich beleidigen? Hast du eine Ahnung, was für Strapazen ich auf mich genommen habe, um hierher zu kommen? Meine Pfadfinderin ist gerade nicht verfügbar, und ich musste mich zweitklassigem Ersatz anvertrauen, als ich die Pfade des Lichts beschritten habe. Verhöhne mich nicht! Ich bin nicht irgendein Wald- und Wiesenkobold!«

»Du hast mir doch die Köpfe der Elfen angeboten.«

Elija fuhr wütend herum. »Zweifelst du etwa an meinen Worten? Ich sage dir, den Elfenfürsten sitzen schon die Messer an den Kehlen, auch wenn sie davon keine Ahnung haben. Aber uns fehlt die Kraft, ihnen die Köpfe abzuschneiden. Die Kraft der Trolle! Als Verbündete werden wir unbesiegbar sein. Wenn die Elfen erst einmal vertrieben sind, werden wir einen Rat aus Trollkriegern und Kobolden gründen, um gemeinsam über Albenmark zu herrschen. Alle Völker werden dann gleich sein. Und Fürsten wird es keine mehr geben. Wir werden ein goldenes Zeitalter ...«

»Erklär mir doch bitte noch einmal die Sache mit den Messern an den Kehlen der Elfenfürsten«, unterbrach ihn Skanga.

Der Lutin wirkte einen Augenblick lang verwirrt. Zu sehr hatte er sich in den Träumen zukünftiger Herrschaft verfangen. Er atmete ein paarmal tief ein. Dann begann er erneut zu reden. In allen Einzelheiten schilderte er seinen Plan.

Als er endete, war Skanga begeistert. Elija hatte nicht zu viel versprochen. Den Elfen saßen tatsächlich die Messer an den Kehlen, und sie hatten in ihrer Überheblichkeit nicht die geringste Ahnung von dem Verhängnis, das über ihnen schwebte.

Erwachen

Ollowain strich sanft über das Stirnfell der Lutin. Es war struppig und ohne Glanz. Ihm fiel es schwer, in den Zügen der füchsköpfigen Koboldin zu lesen. War sie außer Gefahr? Seit zwei Tagen hatte ihr Herz nicht mehr ausgesetzt zu schlagen, doch noch immer wagte er nicht, seine Rechte von ihrer Brust zu nehmen.

Er wachte über den schwachen Schlag ihres Herzens, der flatternd und unregelmäßig zu fühlen war. Noch immer erschien es ihm so, als sei ihr müdes Herz jeden Augenblick bereit, stillzustehen. Selbst wenn es wieder zu Kräften kam, fürchtete Ollowain den Augenblick, in dem Ganda die Lider aufschlug. Niemand wusste zu sagen, welchen Schaden ihr Verstand genommen hatte. Anfangs hatte auch ihr Atem ausgesetzt. Sie war dem Tod so nahe gewesen!

Der Schwertmeister machte sich schwere Vorwürfe. Sie war zu ihm gekommen und hatte ihn in seinem Wahn wachgerüttelt. Und wie hatte er es ihr gedankt? Er hatte sie im Stich gelassen. Hatte nicht darauf gehört, was sie von ihm wollte. Dabei schien sie die Wahrheit entdeckt zu haben. Anders war nicht zu erklären, was geschehen war. Ihr verborgener Feind hatte der Lutin eine perfide Falle gestellt. Ollowain hatte gehört, dass Ganda in Begleitung zu ihrer Kammer gekommen war. Eigentlich hatte er sich noch einmal bei ihr bedanken wollen, aber dann hatte er entschieden zu warten und die Lutin nicht zu stören. Ihr Begleiter schien Ganda so sehr bedrängt zu haben, dass sie den Riegel vor ihre Tür gelegt hatte. Auch das war Teil des bösartigen Plans gewesen. Dem Apfelwein in ihrer Karaffe war starker Branntwein beigemischt worden. Die Lutin hatte sich betrunken in ihr Bett legen sollen. Zu benommen, um zu bemerken, dass dort der Tod auf sie lauerte. Und falls sie doch noch dazu gekommen wäre, um Hilfe zu rufen, hatte die versperrte Tür garantieren sollen, dass jede Rettung zu spät kam.

»Vergrabe dich nicht in Selbstvorwürfen, Ollowain!« Die Stimme ließ den Schwertmeister auffahren, obwohl ihr warmer Klang ihm in den letzten Tagen wohl vertraut geworden war. In der Tür zu Gandas Kammer stand eine Gestalt in langer schwarzer Kutte, das Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen. Als Ollowain ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war Meister Reilif ihm wie ein lebendes Abbild des Todes vorgekommen. Und ausgerechnet diese düstere Gestalt war es, die sich wie kein anderer unter den Hütern des Wissens auf die Leiden des Leibes und der Seele verstand. Seine magischen Kräfte waren nur schwach, er konnte keine Wunder vollbringen. Doch sein Wissen suchte seinesgleichen. Es gab tausende Bücher und Schriftrollen über Heilkunst, Anatomie, Gifte und Krankheiten in der Bibliothek. Hunderte davon kannte er auswendig. Er war der Überzeugung, dass der Alkohol, der Ganda zum Verhängnis hatte werden sollen, sie letztlich gerettet hatte, weil sich das Gift in ihrem Körper nicht so schnell ausgebreitet hatte, wie es eigentlich hätte geschehen müssen.

Ollowain war hingegen der Meinung, es habe daran gelegen, dass die Knochenviper eigentlich schon lange tot gewesen war und ihr Gift deshalb an Kraft verloren hatte. Mit finsterer Magie war ihr Leben eingehaucht worden, um ein anderes Leben zu vernichten.

»Du hast jetzt seit fünf Tagen und fünf Nächten nicht geschlafen, Ollowain. Was glaubst du, wie lange du noch durchhalten kannst? Ganda ist außer Gefahr. Erlaube mir, dich bei deiner Wacht an ihrem Lager abzulösen.« Reilif sprach mit leiser, freundlicher Stimme, die in scharfem Gegensatz zu seinem unheimlichen Äußeren stand. Doch Ollowain traute ihm nicht. Nie war Reilifs Gesicht ganz zu sehen. Außer Kinn und Mund blieb alles im Schatten seiner Kapuze verborgen.

Der Schwertmeister hatte inzwischen eine Vorstellung von ihrem Feind. Es musste ein Magier sein, der die verderbten Zauber der Gestaltwandlung beherrschte. Eine Spielart der Magie, die fast überall in Albenmark mit Abscheu betrachtet wurde und mit Acht und Bann belegt war. Gandas Worte über die Devanthar hatten ihn auf diese Spur gebracht, und es gab eine Reihe von Hinweisen, die seinen Verdacht stützten. Deshalb konnte er ihr Lager nicht verlassen. Ihr Feind vermochte jede denkbare Gestalt anzunehmen. Wer wusste schon, ob der Hüter des Wissens wirklich Meister Reilif war? »Ich komme zurecht«, antwortete der Elf müde. »Ich danke dir für dein Angebot.«

Reilif seufzte. »Ich hoffe, dir ist klar, wie töricht du dich verhältst. Ich weiß um deine Furcht. Irgendwann wirst du jedoch wieder jemandem vertrauen müssen, Ollowain. Was du tust, ist edel, aber unvernünftig. Ebenso wie es edel und unvernünftig war, die Wunde des Schlangenbisses aufzuschneiden und zu versuchen, das Gift herauszusaugen. Damit hast du dich nur beinahe selbst umgebracht.«

»Mir geht es gut«, beharrte der Schwertmeister mit tonloser Stimme.

»Ja, weil du Glück hattest. Gifte bringen einen Elfen nicht so schnell um wie eine Lutin.«

»Bitte, Meister, ich will darüber jetzt nicht reden.« Ollowain fühlte sich viel zu erschöpft, um einem Streitgespräch gewachsen sein. Alles, was er wollte, war, allein gelassen zu werden.

Statt zu gehen, trat der Hüter des Wissens an Gandas Lager. Er setzte ein Hörrohr auf ihre Brust und lauschte den Schlägen ihres Herzens. Dann strich er über ihr Fell und zuletzt über die kleine schwarze Fuchsnase.

»Es geht ihr immer noch nicht gut. Wir sollten über einen Aderlass nachdenken. Damit leiten wir weiteres Gift aus ihrem Körper und geben ihrem erschöpften Leib Gelegenheit, die Harmonie der Säfte wieder herzustellen.«

Gandas Augenlider flatterten. »Niemand ... wird mir Blut abzapfen«, murmelte sie benommen. »Ich ... habe Durst.«

Unendlich erleichtert erhob sich Ollowain. Auf dem Tisch stand jetzt eine Karaffe mit Wasser. Der Elf füllte ein Glas. Er musste Ganda stützen, denn die Lutin war zu schwach, um sich aus eigener Kraft zum Trinken aufzurichten. Die Anstrengung ließ sie tief seufzen. Reilif verneigte sich sehr förmlich vor der Lutin. »Du gestattest, dass ich mich vorstelle, Ganda aus dem Volke der Lutin. Mein Name ist Reilif. Es tut mir sehr leid, was vorgefallen ist.«

Ganda, die sich offenbar erst jetzt bewusst wurde, dass sie völlig nackt war, zog ihre Decke hoch.

»Ich möchte mich im Namen aller Hüter des Wissens bei dir entschuldigen, Ganda. Nie zuvor hat jemand aus unseren Reihen versucht, einem Besucher der Bibliothek ein Leid zuzufügen. Mir ist unbegreiflich, was in Meister Galawayn gefahren ist.«

»Es war seine Schlange, nicht wahr?« Reilif nickte mit verkniffenem Mund. »Ja, das Glas, in dem er die Schlange verwahrt hatte, war leer. Ich hätte niemals gedacht, dass er sich mit diesen Spielarten der Magie befasst.« Er hob in verzweifelter Geste die Hände. »Galawayn hat uns auf so vielfältige Weise überrascht ... Ich erkenne in seinen Taten nicht mehr den Mann, der er einst war. Er hat sich aufgeführt, als gehöre er zu den ruchlosen Novizen Alathaias.« Der Hüter des Wissens ließ den Kopf sinken. »Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen.«

»Wo ist Galawayn jetzt?« Gandas Stimme klang schon ein wenig fester.

»Wir lassen ihn überall suchen. Die Albensterne der Bibliothek sind besetzt, und Bewaffnete durchsuchen systematisch alle Säle. Er kann nicht von hier entkommen«, versicherte Reilif.

»Ich muss in den Saal des Lichts!«, verkündete Ganda und richtete sich in ihrem Bett auf. »Wenn ihr bitte so freundlich wäret, mir mein Kleid zu reichen.«

»Das ist jetzt genug. Du bist zu schwach. Du musst erst zu Kräften kommen«, entschied Ollowain. Es war nicht zu fassen! Kaum hatte sie sich genug erholt, um zu reden, schon hatte sie nur Unsinn im Kopf.

»Du könntest mich tragen, Ollowain. Oder willst du mich schon wieder im Stich lassen?«

Der Elf atmete tief ein. Er setzte zu einer zornigen Antwort an, beherrschte sich dann aber doch. Das mussten die Nachwirkungen des Giftes sein. Sie war nicht ganz bei Sinnen. Er sollte Nachsicht mit ihr haben.

Die Lutin schwang die Beine über die Bettkante und verlor das Gleichgewicht. Sie sackte einfach nach vorne weg. Ollowain fing sie auf. »Da siehst du es. Bitte höre dieses eine Mal auf mich.« Ganda sah ihn flehend an. Sie hatte immer noch Angst.

»Wir müssen hier fort«, flüsterte sie. »Wir sind noch immer in Gefahr. Aber bevor wir gehen können, muss ich noch einmal in den Saal des Lichts zurück. Bitte.«

»Wir sind aus dem Spiel«

Obwohl die Gesichter noch teilweise sandverkrustet waren, konnte es keinen Zweifel an der Identität der Leichen geben. In der Düne waren Galawayn und Qualbam III. verscharrt worden. Gandas leerer Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

Einen Augenblick lang fürchtete sie, sie müsse sich erbrechen.

»War etwas verändert bei Qualbam, als er dir begegnete?«, fragte der Schwertmeister leise. Die beiden standen etwas abseits von Meister Reilif, unter dessen Aufsicht drei Kobolde die Leichen ausgegraben hatten.

»Seine Augen.« Der Mund der Lutin war staubtrocken. »Gestern Abend hatte er strahlend blaue Augen. Am Morgen waren sie noch grau gewesen.«

»Das ist alles? Hat er sich nicht irgendwie anders verhalten? Wie ist er gegangen? Gab es eine auffällige Geste? Irgendetwas, das sich sonst noch deutlich unterschied?«

Die Lutin schüttelte den Kopf. Sie starrte in das leblose Gesicht des Kobolds. Er war gestorben, weil sie ihn kannte. Der Mörder hatte gewusst, dass sie Qualbam nicht misstrauen würde, wenn sie ihm begegnete.

Meister Reilif kniete neben den beiden Toten und untersuchte sie.

Verstohlen musterte Ganda die Augen der Kobolde und stellte erleichtert fest, dass sie nicht blau waren. Nur beim Hüter des Wissens konnte man nicht sicher sein. Seine Augen blieben im Schatten der Kapuze verborgen. In seiner schwarzen Kutte sah er aus wie ein lebendig gewordener Schatten. Wie das, was sie bekämpfen sollten. Ein Yingiz.

In aller Ruhe tastete Reilif die beiden Toten ab. Seine blassen, schlanken Finger glitten wie Spinnenbeine über die ausgedorrten Leiber. Dann drückte er dem Kobold auf den Brustkorb, woraufhin Qualbam eine zähe, bräunliche Flüssigkeit aus dem Mundwinkel troff.

»Der Beleuchter ist noch nicht sehr lange tot«, erklärte Reilif und richtete sich auf. »Ich denke, er starb erst vor wenigen Tagen. Was ihn umbrachte, ist schwer zu sagen. Ich konnte keine äußerlichen Verletzungen feststellen. Der Sand hat seinen Leib noch nicht sehr stark ausgetrocknet.« Der Hüter des Wissens deutete nun auf Galawayn. Die Gestalt des Elfen war zusammengekrümmt. Seine Gewänder waren voll von getrocknetem Blut. »Ihn tötete ein Dolchstoß in die Kehle. Dann hat ihm sein Mörder unbegreiflicherweise die Haut von den Händen abgezogen. Der Sand hat Galawayns Leib stark ausgetrocknet. Dennoch habe ich das Gefühl, dass auch er noch nicht länger als einige Tage tot ist.«

»Warum?«, fragte Ollowain.

»Vor zehn Tagen war die letzte Versammlung der Hüter des Wissens. Galawayn saß mir gegenüber. Ich hätte bemerkt, wenn jemand anderes versucht hätte, seine Rolle zu spielen. Offenbar ist der Mörder genau aus diesem Grund gestern der Versammlung fern geblieben. Galawayn fehlte. Unentschuldigt«, fügte er noch hinzu, als verschlimmere diese Tatsache das Verbrechen noch.

»Ich fand nicht, dass er sich sehr auffällig benommen hat«, sagte Ollowain.

Ganda traute ihren Ohren nicht! Dieser Mistkerl, der Galawayns Gestalt angenommen hatte, hatte den Schwertmeister in tiefste Verzweiflung gestürzt, und Ollowain fand das nicht auffällig? Elfen!

»Du kanntest ihn doch gar nicht«, sagte Reilif überraschend scharf. »Wie willst du beurteilen, ob er sich verändert hat?«

»Ich sagte, dass er sich nicht auffällig benahm«, entgegnete Ollowain mit aufreizender Ruhe und kniete neben dem toten Elfen nieder. »Was ist mit seinen Händen geschehen?«

Während der Schwertmeister und Reilif den Leichnam näher betrachteten, zog Ganda sich zurück. Sie war noch sehr schwach auf den Beinen und fühlte sich ein wenig schwindelig. Doch während die Kobolde an der Düne gegraben hatten, hatte sie darauf bestanden, von Ollowain abgesetzt zu werden. Es war ihr plötzlich peinlich gewesen, wie ein Kind getragen zu werden.

Die Hitze im Saal des Lichts machte ihr zu schaffen. Mit unsicheren Schritten zog sie sich zum Zelt zurück. Seit sie erwacht war, war sie mit Ollowain keinen Augenblick allein gewesen. Meister Reilif wich nicht von ihrer Seite. Und dass man seine Augen nicht sehen konnte, machte ihr Angst.

Ganda betrachtete das große Buch mit den Messingbändern, das noch immer auf dem niedrigen Lesetisch lag. Es schien nicht von der Stelle bewegt worden zu sein, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. »Es geht um dich, nicht wahr?«, sagte sie, als könne das verzauberte Buch ihre Worte verstehen. »Du öffnest dich nicht für den Mörder. Deshalb hat er Galawayn die Haut von den Händen abgezogen. Er wollte dich mit den Handschuhen, die sich wie die Hände des Elfen anfühlten, überlisten.«

Die Handschuhe lagen noch immer auf dem Tisch. Angewidert wandte Ganda den Blick ab. Hinter dem durchsichtigen Schleier stand der Falrach-Tisch. Es kam ihr so vor, als stünden auf dem Spielbrett jetzt weniger Figuren. Was mochte der Mörder in den letzten fünf Tagen wohl getan haben? Die Lutin war sich sicher, dass er nicht geflohen war. Sie sah hinüber zu der flachen Düne, die zu Galawayns Grabhügel geworden war. Ollowain und Reilif sprachen noch immer miteinander. Wenn sie nur Reilifs Augen hätte sehen können! Offenbar vermochte der Mörder die Gestalt seiner Opfer anzunehmen. Nur seine Augen schien er nicht verändern zu können.

Gandas Blick schweifte durch das Zelt. Gab es irgendeinen Hinweis? Hatte der Mörder etwas mitgebracht, das auf sein wahres Gesicht hinwies? Hatte jemand, der seine Gestalt verändern konnte, überhaupt noch ein wahres Gesicht? Oder verlor er sich mit der Zeit in all den Körpern, die er gestohlen hatte?

Die Lutin blickte unter den niedrigen Tisch, wo am Tag ihrer Ankunft das Garn und die Walbeinnadel versteckt gewesen waren. Natürlich war dort nichts.

Ihr ging auf, dass das verzauberte Buch vom ersten Tag an im Weg gelegen hatte. Eigentlich hätte sie es zur Seite schieben müssen, um vernünftig an dem Tisch zu arbeiten. Nur ihre Scheu vor der magischen Aura des Folianten hatte sie davon abgehalten. Darauf musste der Mörder gewartet haben. Durch den Schleier hatte er sie die ganze Zeit, während er mit Ollowain gespielt hatte, beobachten können. Er hatte darauf gewartet, dass sich das Buch unter ihrer Berührung öffnete.

Ganda dachte an die wenigen Zeilen, die sie in dem Folianten gelesen hatte. Er durfte nicht in die falschen Hände geraten! Hier in der Bibliothek von Iskendria war er nicht mehr sicher. Ganz gleich, was die eingebildeten Hüter des Wissens für Gesetze hatten: Das Buch musste fort von hier! Aber es war zu groß, um es zu verstecken.

Warum hatte der Mörder es noch nicht fortgeschafft? Er hatte doch fünf Tage Zeit gehabt. Konnte er es vielleicht nicht einmal anfassen? War der Zauber dieses Buches stark genug, um sich zu schützen? Die Vorstellung ließ Ganda zufrieden schmunzeln. Sie malte sich aus, wie den Mistkerl ein Blitzschlag getroffen hatte, als er seine blutigen Finger nach dem Objekt seiner Begierde ausgestreckt hatte. Aber das war sicher übertrieben. Wahrscheinlich war es dem Mörder einfach nur unangenehm, das Buch zu berühren, und es öffnete sich eben nicht unter seiner Hand.

Dennoch konnte der kostbare Foliant nicht hier bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mörder einen arglosen Besucher der Bibliothek fand, der für ihn Melianders Buch aufschlagen konnte.

Ganda bemerkte eine Lederhülle auf dem Holzständer für Schriftrollen, an die sie sich nicht erinnern konnte. Auf dem ledernen Zylinder waren seitlich drei schwarze Siegel angebracht, von denen schmale Pergamentstreifen mit merkwürdigen Runenzeichen hingen. Neugierig nahm die Lutin den Behälter an sich und öffnete ihn. Eine Schriftrolle aus seltsam grauem Pergament glitt hinaus. Es fühlte sich unangenehm zwischen den Fingern an, und Ganda hatte das Gefühl, dass es nicht aus einer Tierhaut gefertigt war. Der Text war in schnörkellosen, kleinen Buchstaben geschrieben. Die letzten Zeilen wurden immer kleiner, und die Buchstaben drängten sich dichter und dichter, als habe der Verfasser unbedingt all sein Wissen auf dieses einzelne Blatt Pergament bringen wollen. Ganda überflog die ersten Zeilen.

»Willst du das Grauen unter deine Feinde tragen und ihren Mut dahinschmelzen lassen wie Schnee im Sommerlicht, dann erschaffe die Shi-Handau. Keine Waffe Albenmarks vermag sie zu töten. Allein die Träger eines Albensteins haben die magische Macht, sie zu bannen. Doch sei gewarnt! Dies ist ein Zauber, der große Macht und eisernen Willen erfordert, sonst werden die Geschöpfe, die du rufst, sich gegen dich wenden. Wähle unter deinen Gefährten einen Mann von unverbrüchlicher Treue aus, der aber dennoch entbehrlich ist. Und suche einen zweiten, der zu dumm ist, um wirklich nützlich zu sein. Dann ...« Es folgten genaue Anweisungen zu Bannkreisen und Zauberformeln. Es ging um Blutmagie. Mit ungläubigem Entsetzen las Ganda, wie ein geisterhafter Hund erschaffen wurde, in dem sich ein Yingiz und der Gefährte von unverbrüchlicher Treue miteinander verbanden. Das war die Gestalt, nach der Galawayn so eindringlich gefragt hatte. Das geisterhafte Geschöpf, das Angst in die Reihen der Verteidiger von Phylangan getragen hatte! War es dem Mörder um dieses Wissen gegangen? Und hatte er die Schriftrolle zurückgelassen, um Ganda zu zeigen, dass er zuletzt triumphiert hatte?

Die Lutin wollte nicht glauben, dass es nicht um Melianders Buch gegangen war. Hastig schob sie die Schriftrolle in ihre Lederhülle und legte sie zurück auf den Stapel. Dann drehte sie sich zu dem niedrigen Tisch um.

Warum war dieses verfluchte Buch nur so riesig und schwer! Ganz gleich, welche Strafe drohte, sie würde es stehlen, wenn es nur die geringste Aussicht gäbe, es unbemerkt aus der Bibliothek zu schaffen.

Mit den Fingerspitzen strich sie über das weiche Leder. Nicht einmal Ollowain könnte das Buch unter seinen Gewändern verstecken, ohne dass es auffiele.

Hellblaues Licht troff von den grauen Steinen. Erschrocken zog Ganda die Hand zurück. Was hatte sie getan? Hastig stellte sie sich so, dass sie mit ihrem Leib das Buch vor den Blicken ihrer Begleiter abschirmte, falls einer der beiden in ihre Richtung schauen sollte.

»Hör auf damit!«, flüsterte sie beschwörend. »Ich lass dich ja hier liegen. Ich werde dich nie wieder anfassen. Nur hör auf!«

Das blaue Licht hatte eine eigentümliche Wirkung auf den Folianten. Er wurde durchscheinend. Deutlich konnte die Lutin jetzt die Tischplatte durch das Buch hindurch sehen.

»Sofort aufhören! Lass das ... Bitte!« Sie wollte nach dem Buch greifen, doch ihre Finger glitten durch es hindurch. »Verflucht!«

Ganda blickte über die Schulter.

Im selben Augenblick sah Ollowain von den beiden Toten auf.

»Ist irgendwas?«, rief der Elf.

»Alles in Ordnung!«, rief Ganda. »Alles bestens. Mir geht es gut!« Jetzt sah auch Reilif zu ihr hinüber. Klar, bei dieser Antwort wäre sie auch stutzig geworden.

»Bitte, Buch! Hör auf mit dem Unsinn!«, flüsterte sie. »Ich werde nie mehr auch nur daran denken, dich zu stehlen. Aber bitte, bitte werde wieder ein normales Buch!«

Inmitten des durchscheinenden Schemens erschien ein dünnes Lederriemchen, an dem eine einzelne, schillernde Feder hing. Die Zeichnung der Feder erinnerte an den Einband von Melianders Buch, sie wies mattgraue Flecken auf, die den Steinchen ähnelten. Ein bläuliches Licht umspielte die Feder und verschwand dann in den kleinen grauen Flecken.

Zögerlich streckte Ganda die Hand aus. Sie griff durch den Schemen des Buchs und konnte die Feder berühren. Sie war real, kein Trugbild. Die Lutin leckte sich nervös über die Schnauze. Wollte das Buch, dass sie es von hier fortbrachte? Wie sonst sollte dieses Zeichen zu verstehen sein? Sie dachte an die Worte des weißen Kentauren. Daran, welche Strafe auf den Diebstahl eines Buches aus der Bibliothek stand. Vielleicht würden die Hüter des Wissens ihnen das Buch freiwillig mitgeben? Zögernd betrachtete sie die Feder.

Nein, die Hüter des Wissens waren Gefangene ihrer Vorschriften und Rituale. Sie würden niemals gestatten, dass ein Buch die Bibliothek verließ. Entschlossen nahm sie die Feder und band sie mit dem Lederriemchen um ihren Hals, als sei sie nur ein harmloser Talisman. Die Zukunft Albenmarks stand auf dem Spiel! Sie konnte nicht anders handeln, auch wenn dies bedeutete, dass die Hüter des Wissens ihren Kopf fordern würden.

Ollowain und der Hüter des Wissens kamen jetzt zu ihr hinüber. Ganda fluchte. Reilif durfte auf keinen Fall merken, was geschehen war. Das Buch auf dem Tisch sah nun nicht länger durchscheinend aus. Die Lutin tastete danach, doch ihre Finger glitten widerstandslos durch den Buchdeckel. Eine Illusion! Sie musste den Hüter des Wissens von diesem verdammten Buch ablenken. Eilig trat sie aus dem Zelt.

»Geht es dir wieder besser, Ganda?«, fragte Reilif höflich.

»Mir ist ein wenig schwindelig«, log die Lutin glatt. »Ich brauche wohl etwas Ruhe.«

»Kannst du mir kurz die Schriften zeigen, die Galawayn dir vorgelegt hat?«

Ganda stöhnte. »Mir geht es wirklich nicht gut.«

Ollowain sah sie besorgt an.

»Es dauert nur einen Augenblick.« Reilif duckte sich unter einer der hochgeschlagenen Zeltwände hindurch und trat ein. Er ging geradewegs auf den Tisch zu.

Ganda setzte ihm nach. »Da ist eine Schriftrolle, die neu hinzugekommen ist, seit ich das letzte Mal hier war. Sie sieht so aus, als sei sie etwas Besonderes.« Sie nahm die Rolle mit den schwarzen Siegeln und reichte sie Reilif.

Die Lippen des Buchhüters wurden zu einer schmalen, blutleeren Linie. Er schob sich die Schriftrolle in den Ärmel und untersuchte die Ablage mit den übrigen Texten. »Sind dir noch weitere Rollen wie diese aufgefallen?«, fragte er nach einer ganzen Weile. »Lederhüllen mit schwarzen oder goldenen Siegeln?«

»Nein«, antwortete Ganda und drängte sich zwischen Reilif und den Tisch, auf dem das falsche Buch lag. »Stimmt etwas nicht?« Wenn sie nur sein Gesicht besser sehen könnte!

»Diese Schriftrolle hat hier nichts verloren. Sie fällt ... Sie fiel nicht in die Verantwortung Galawayns, und es ist mir unbegreiflich, wie sie hierher gelangen konnte. Sie sollte unter Verschluss sein!«

Ollowain war zum Falrach-Tisch gegangen. Tief gebeugt stand er über der Platte und starrte auf die Figuren.

»Ihr solltet euch wohl Gedanken über die Verwahrung von gefährlichen Texten machen«, meinte Ganda. »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich Emerelle von den Zuständen hier in der Bibliothek berichten werde. Geheime Dokumente werden gestohlen, und es herrscht Mord und Totschlag. Vielleicht sollte man die Bücher, die zu kostbar sind, um sie hier zu lassen, anderswo lagern.«

Reilifs Mundwinkel zuckten. »Wir hatten nicht damit gerechnet ... Was geschehen ist, ist so ungeheuerlich. Ich ... Ich werde die Hüter des Wissens zusammenrufen. Wir werden aus unseren Fehlern lernen, Lutin.«

Ganda machte es keinen Spaß, ausgerechnet denjenigen in die Enge zu treiben, der sich außer Ollowain um ihre Genesung gesorgt hatte. Aber sie musste Reilif von dem falschen Buch fortbringen. Je weiter, desto besser. »Eure Fehler hätten mich beinahe das Leben gekostet. Du wirst doch wohl nicht von mir erwarten, dass ich darüber schweige, wenn ich vor der Königin stehe.«

»Die Bibliothek befindet sich in der Zerbrochenen Welt und unterliegt damit nicht der Autorität der Königin«, wandte der Hüter des Wissens steif ein.

»Entschuldigst du damit eure Fehler?«

Reilifs Mundwinkel zuckten jetzt stärker. »Nein, das tue ich nicht«, sagte er niedergeschlagen. »Es tut mir aufrichtig leid, welches Ungemach dir widerfahren ist. Wenn ich könnte, würde ich ...«

»Findest du die Bezeichnung 'Ungemach' nicht ein wenig untertrieben? Dass ich noch lebe, ist ein glücklicher Zufall. Eine Giftschlange in seinem Bett zu finden, das überschreitet bei weitem das, was ich unter Ungemach verstehe.«

»Gewiss.«

»Was für ein Text ist das?«, herrschte Ganda ihn an.

»Es geht um die finstersten Spielarten der Magie. Ich weiß nicht, was genau hier steht, und freiwillig würde ich es niemals lesen. Schriften, die drei schwarze Siegel tragen, sind durch und durch verderbt. Es geht um Dinge, die einem den Seelenfrieden nehmen, wenn man sie weiß. Sie werden an einem geheimen Ort verwahrt, den nur wir Hüter des Wissens kennen. Diese Schrift sollte umgehend dahin zurückgebracht werden.«

Ganda hätte niemals damit gerechnet, eine so ehrliche Antwort zu bekommen. Sie hatte Reilif wohl mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sich bisher hatte anmerken lassen. Und er hatte mehr gesagt, als sie wissen wollte. »Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du die Schriftrolle dahin bringst, wo sie hingehört. Wenn es nach mir ginge, würden solche Texte verbrannt werden.«

»Es genügt jetzt, Ganda«, mischte sich Ollowain ein. »Meister Reilif hat sich entschuldigt. Hör endlich auf mit deinen Beschimpfungen! Es ändert ohnehin nichts mehr.«

Der Hüter des Wissens verneigte sich knapp. »Ihr entschuldigt mich bitte.« In aller Eile zog er sich zurück.

Ganda lehnte sich erschöpft an den Tisch. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie mussten hier fort. So schnell wie möglich. Müde schloss sie die Augen. Jeder hier in der Bibliothek konnte der Mörder sein. Es war unmöglich abzuschätzen, wie seine wahre Gestalt aussah. Obendrein konnte er sich ja jedes beliebigen Leibes bemächtigen.

»Hast du mir etwas zu sagen?«

Ollowain stand plötzlich vor ihr. Sie musste einen Aussetzer gehabt haben. »Was meinst du?« Er deutete auf ihre linke Hand, die halb in dem falschen Buch versunken war, dem Spiegelbild ohne Substanz.

Ganda seufzte. Wenn sie versuchte, Ollowain zu erklären, was geschehen war, würde ihnen beiden am Ende seine Ehre im Weg stehen. »Das ist jetzt nicht von Belang«, antwortete sie entschieden.

Der Elf hob eine Braue, stellte aber keine weiteren Fragen. Stattdessen bat er sie, sich den Falrach-Tisch anzusehen.

Ganda gab nach. Doch sie taumelte vor Erschöpfung. Die Spielfiguren tanzten ihr vor den Augen. Falrach bedeutete ihr nichts. Sie konnte nicht erkennen, was der Elf ihr zeigen wollte.

»Das Spielbrett zeigt diesen Augenblick«, sagte er mit seltsam distanzierter Stimme.

Wenn er jetzt bloß nicht wieder durchdreht, dachte sie verzweifelt. Ich brauche dich, verdammt. Kann ich mich denn niemals auf dich verlassen?

»Die schwarze Königin steht allein. Das ist Emerelle. Ihre Magierin ist aus dem Spiel geschlagen, und ihre Helden stehen weit auf dem Brett verteilt. Eine ganz ähnliche Aufstellung habe ich vor ein paar Tagen auf einem Spielbrett in Emerelles Burg gesehen. Ich glaube, es war eine Warnung. Das Brett stand so, dass ich es auf jeden Fall sehen musste. Hier allerdings ist Emerelle nicht direkt von Feinden umringt. Die Figuren der weißen Seite stehen jedoch in guter Ordnung tief in ihrer Hälfte des Spielfelds. Und ich hatte gehofft, das Heer der Trolle sei vernichtet.«

»Vielleicht ist es das auch.« Ganda war dieser Mystizismus um das Falrach-Spiel zu viel. »Wer sagt, dass die weißen Figuren für die Trolle stehen? Das ist nur ein Spiel. Nicht die Wirklichkeit!«

»Glaubst du?«

So zynisch hatte sie ihn noch nie erlebt.

Ollowain deutete auf zwei umgestürzte schwarze Spielfiguren, die isoliert auf dem Spielfeld lagen. »Der Feldherr und die Diebin, Ganda. Das sind wir. Wir sind aus dem Spiel.«

Die Lutin fasste sich an die Schläfen. Das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. »Ich falle fast in Ohnmacht vor Erschöpfung, und du kommst mir mit so etwas. Vielleicht ist jemand gegen den Spieltisch gestoßen. Es kann Zufall sein, dass ein paar Figuren umgestürzt sind.«

»Es sind nur diese beiden Figuren umgestürzt.«

»Und wo ist unser Mörder? Für den müsste es dann doch wohl auch eine Spielfigur geben.«

»Du denkst zu kurz. Unser Mörder ist keine Figur. Es ist der Spieler der weißen Seite. Deshalb hat er alle Gesichter und zugleich keines.«

Ganda sträubten sich die Nackenhaare. Wenn man bereit war, sich auf Ollowains Wahnvorstellungen einzulassen, waren sie in sich schlüssig. Aber sie war nicht nur eine Spielfigur auf einem Brett! »Wieso sind wir noch nicht vom Spieltisch, wenn wir geschlagen sind? So spielt man das doch, oder? Geschlagene Figuren werden vom Brett genommen.«

»Nein, nicht immer. Es gibt drei Ereignisse, bei denen Spielfiguren neutralisiert werden, aber nicht aus dem Spiel kommen. Man legt sie dann einfach nieder. Danach hängt alles davon ab, wer den nächsten Spielzug hat. Ein solches Ereignis ist eine Zäsur im Falrach-Spiel. Beide Seiten würfeln. Wer das höhere Ergebnis erzielt, beginnt den nächsten Zug, ganz gleich, wer nach dem eigentlichen Ablauf des Spiels an der Reihe wäre. Die Zukunft hängt in diesem Augenblick von einem Würfelwurf ab.«

Die Lutin lachte trotzig. »Dann habe ich eine gute Nachricht für dich. Ich bin sehr gut darin, beim Würfeln zu betrügen.«

Ollowain lächelte schief. »Wer hätte gedacht, dass ich mein Leben einmal in die Hände einer Falschspielerin legen würde.«

Warum hatte sie nie einen Kobold getroffen, der sie so angelächelt hatte?, dachte sie traurig. Ein wenig schelmisch, dabei offenherzig und warm. Voller Vertrauen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war sie dem Lächeln Elijas verfallen gewesen. Kein anderer Lutin strahlte solche Zuversicht und ein solches Selbstbewusstsein aus wie er.

Elija hatte eine Vision. Er wollte die Welt verändern. Und er war unerschütterlich davon überzeugt, dass er es schaffen würde. War man ihm nahe, war es so leicht, seinen Traum mit ihm zu teilen. Seine Kraft und sein Enthusiasmus waren ansteckend. Mit ihm zu leben, war ein einziges Abenteuer.

Ganda hatte sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass Elija einzig seinen Traum liebte. Alle Weggefährten waren austauschbar. Was zählte, war allein das Ziel. Als sie das endlich verstanden hatte, war Elijas Lächeln entzaubert gewesen.

Mit Ollowain würde es genauso sein, wenn sie ihn nur lange genug kannte, dachte sie wütend. Ihr war schwindelig.

»Geht es dir gut?«, fragte der Elf.

»Sehe ich vielleicht so aus?«, brachte sie noch hervor, dann gaben ihre Beine unter ihr nach.

Irgendwie schaffte er es, sie aufzufangen, bevor sie zu Boden fiel. Er trug sie in den Armen wie ein Kind. Sie bettete ihr Haupt an seine Schulter. Lange hatte sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt. Sie war nicht wirklich bei Bewusstsein, aber sie schlief auch nicht. Die Zeit, in der er sie trug, war wie ein Wachtraum.

Er wollte sie in ihre Kammer bringen und ins Bett legen. Dunkel erinnerte sie sich, dass sie protestierte. Und er musste ihr wohl gehorcht haben, denn er hielt sie immer weiter im Arm. Ganda konnte sich diese bleierne Müdigkeit nicht richtig erklären. War es tatsächlich das Gift? Sie hatte doch schon so lange geschlafen!

Die Lutin spürte, dass Ollowain sie trug. Aber seine Schritte hörte sie nicht. Es war, als schwebten sie beide. Ihre Lider waren zu schwer, um ihnen viele Blicke abzutrotzen. Nur hin und wieder blinzelte Ganda verschlafen. Dann sah sie spärlich beleuchtete Bücherwände vorübergleiten.

Der Elf erzählte etwas. Er flüsterte. Seine Stimme schlich sich in ihr Ohr. Dort fühlte sie auch seinen warmen Atem, während er sprach. Doch irgendwo zwischen dem Ohr und ihrem Verstand ging ein Teil vom Sinn seiner Worte verloren. Es ging um einen Kobold mit Namen Labax. Er hatte in Phylangan gekämpft und im Schlaf die Begegnung mit dem rätselhaften Ungeheuer überlebt, das durch Felsen ging, während alle seine Kameraden gemeuchelt wurden.

Ganda wollte Ollowain sagen, dass sie wusste, was für ein Geschöpf dort in der Elfenfestung umgegangen war. Doch ihre Zunge lag wie ein gestrandeter Wal hinter ihren Lippen. Unendlich schwer. Tot.

Sie musste kurz eingenickt sein. Noch ganz benommen sah sie sich um. Sie war in dem Saal mit den vielen Lesepulten. Ganda fühlte die pulsierende Macht der Albenpfade. Der Albenstern, durch den sie eingetreten waren, lag nur ein paar Schritt entfernt.

Ollowain kniete vor ihr. »Bist du stark genug, um uns von hier fortzubringen?« Die Lutin setzte sich auf und massierte sich mit den Händen die Schläfen. »Zaubern und einer Hornschildechse in den Hintern treten kann ich immer, egal wie ich aussehe.« Ihr war übel. Sie fühlte sich, als habe sie eine ganze Nacht durchgezecht. Ein großer Becher Milch mit zwei hineingerührten Eiern wäre jetzt gut.

Nur zwei Öllampen brannten in der weiten, runden Halle. Beide standen ein gutes Stück entfernt. Im schwachen Licht sahen die Pulte wie große, rechteckige Schilde aus. Sie waren umringt von einer Legion von Schattenkriegern. Ganda schmunzelte. Das war albern!

Ein dumpfes Klatschen erklang. Ollowain fuhr herum. Das Geräusch war aus dem weiten Gang gekommen, der von hier aus tiefer in die Bibliothek führte. Es hatte sich angehört, als sei ein Buch aus einem Regal gefallen.

Ganda musste an Qualbam III. Und seine verrückten Geschichten über Bücher denken. Es war ungerecht, dass der Kobold tot war. Gestorben, weil er sie gekannt hatte. Gestorben, weil sie ihm vertraut hatte.

Ollowain hatte den Gang erreicht. Aufmerksam sah er sich um.

Die Lutin griff nach der Kante des nächstgelegen Stehpults und zog sich hoch. Sie war noch immer ganz wackelig auf den Beinen. Wann würde das endlich aufhören? Und wann würde sie diese fürchterlichen Kopfschmerzen los ... Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung. Ganda verlor das Gleichgewicht. Etwas hatte sie berührt. Sie taumelte zur Seite und stürzte. Ein riesiger Schatten ragte über ihr auf. Kleos! Er war mit einem langen Stab bewaffnet, an dessen Enden aufgerichtete Sensenblätter angebracht waren. »Du hast mich erschreckt ... Du ...« Sie wollte sich aufstützen und wieder aufstehen, doch sengender Schmerz schoss durch ihren linken Arm.

Der Minotaur bückte sich und hob etwas auf. Es schien winzig in seinen riesigen Pranken. »Halt den rechten Arm hoch, dann schenke ich dir dein Leben.«

Sie war so durcheinander, dass sie schon gehorchen wollte, als sie erkannte, was der ehemalige Hüter des Wissens aufgehoben hatte. Es war eine Hand.

Ganda wurde es übel. Sie sah auf ihren linken Arm. Das Zwielicht bewahrte sie davor, allzu deutlich zu erkennen, was geschehen war. Der Arm endete in einem Stumpf. Es war ihre Hand, die Kleos aufgehoben hatte.

Obwohl Ganda deutlich den Stumpf sah, weigerte sie sich, das Offensichtliche anzuerkennen. Ihre Hand ... Wieso ...

»Den Arm!«, forderte Kleos barsch. »Du ...« Der Minotaur wirbelte herum. Metallisches Kreischen drang in Gandas Ohren. Funken stoben, wo Stahl auf Stahl schlug.

Beängstigend schnell wirbelte der Klingenstab. Ollowain duckte sich weg. Ein Hieb, der ihm gegolten hatte, spaltete die schwere Platte eines Lesepults. In tödlichem Tanz umkreisten der Minotaur und der Elf einander.

Dieser Kleos brauchte keine Krücke mehr. Ganda bezweifelte, dass der alte Kleos jemals mit solchem Geschick gekämpft hatte. Auch wenn sie es in der Dunkelheit nicht sehen konnte, war sie sich sicher, dass dieser Minotaur blaue Augen hatte. Es war so gekommen, wie Ollowain es vorhergesagt hatte. Ihr Feind diktierte ihnen ihre Züge. Sie waren aus dem Spiel. Der Mörder hatte gewusst, dass sie hierher kommen würden.

Ganda bemerkte erst jetzt, dass sie in einer dunklen Pfütze saß. Ihr Armstumpf schmerzte nur wenig. Es war seltsam. Sie konnte ihn ohne Abscheu betrachten. Irgendwie erschien es ihr so, als sei das nicht wirklich ihr Arm. Ihr Arm endete in einer Hand! Dieses verstümmelte Ding gehörte nicht zu ihr!

Unbeholfen riss sie einen Streifen vom Saum ihres Kleides. Sie musste die Blutung stillen.

Polternd stürzte ein schweres Stehpult zu Boden. Der Minotaur versetzte dem Pult einen Tritt; schlitternd glitt es über den glatten Boden. Statt auszuweichen, sprang Ollowain auf das Stehpult, hielt mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht und war mit einem Satz auf einem der anderen Pulte.

Kleos stieß seinen Klingenstab ins Leere, schwang ihn in weitem Kreis zurück und wehrte gerade eben noch einen Rückhandschlag ab, der auf seinen Nacken gezielt hatte. Schnell wie Trommelschlag ertönte der Klang des Stahls.

Ganda war ganz benommen. Zu lange hatte sie sich darin verloren, den beiden zuzusehen. Sie musste diesen Arm versorgen, auch wenn sie den Stumpf nicht als einen Teil von sich akzeptierte. Sie hatte schöne Hände gehabt ...

Mit einiger Mühe schaffte es die Lutin, den Stoffstreifen um den Stumpf zu wickeln. Sie musste ein Ende mit den Zähnen festhalten, um den Verband straff zu ziehen.

Sofort war der Stoff blutdurchtränkt. Jetzt meldete sich der Schmerz. Selbst die leichteste Berührung der Wunde war wie ein Stich mit einem glühenden Messer. Die Lutin begann zu zittern. Ihre Zähne klapperten. Es war viel kälter geworden.

Aus den Augenwinkeln sah Ganda, wie der Minotaur versuchte, den Elfen mit einem ungestümen Angriff in die Enge zu treiben. Schlag folgte auf Schlag, schneller als das Auge zu folgen vermochte. Plötzlich stieß der Kopf des Minotauren herab. Ollowain wich den tödlich spitzen Hörnen aus, aber Kleos‘

Stirn rammte gegen seine Schulter. Der Schwertmeister taumelte. Ein Schlag nach seinen Beinen zwang den Elfen zu einem hastigen Sprung, der ihn noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Minotaur stieß einen wilden Triumphschrei aus und setzte nach. Doch wo jeder andere gestrauchelt wäre, fand Ollowain das Gleichgewicht wieder. Sein Schwert beschrieb einen silbernen Bogen. Ein dumpfes Knacken war zu hören. Dann fiel eines der Hörner des Minotauren zu Boden. Ollowain hatte es dicht am Kopf abgetrennt.

Kleos wich ein wenig zurück. Ein Wort der Macht ließ auf einen Schlag alle Öllampen im Lesesaal aufflammen. Jetzt erst sah Ganda den dünnen Schnitt auf der Brust des Stiermanns. Es war keine tiefe Wunde, aber als Ganda die Verletzung sah, war sie überzeugt, dass Ollowain siegen würde. Zugleich sah sie all das Blut auf dem Boden um sie herum.

»Glaubst du, du siegst?«, fragte der Minotaur und wehrte einen Stoß ab, der auf seine Hüfte gezielt hatte. »Der Kampflärm wird weit zu hören sein. Gewiss ist schon jetzt ein Trupp mit Armbrüsten bewaffneter Kobolde auf dem Weg hierher. Was glaubst du, auf wen sie schießen werden? Auf Kleos, den sie seit Jahren kennen, oder auf dich und die Lutin?«

Ein ganzer Hagel von Schlägen ging auf den Stiermann nieder. »Mach weiter, Ollowain«, rief er. »Während wir kämpfen, verblutet deine Gefährtin.«

Der Schwertmeister blickte zu ihr hinüber. Sofort griff der Minotaur an. Mit einem heimtückischen Hieb zielte er auf Ollowains Beine. Der Elf wich aus, doch jetzt blickte er schon wieder zu ihr hinüber.

»Mir geht es gut.« Ganda hatte rufen wollen, doch ihrer Stimme fehlte es an Kraft. Sie zitterte erbärmlich.

»Öffne das Tor!«, rief Ollowain und duckte sich.

Ganda schleppte sich zum Albenstern. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und wollte aufrecht gehen, doch stattdessen taumelte sie vor Schwäche. Dicke Blutstropfen troffen aus ihrem Verband und hinterließen eine dunkle Spur auf dem weißen Marmorboden des Lesesaals. Das helle Licht schmerzte Ganda in den Augen. Sie sah Ollowain wieder zu sich hinüberblicken. Warum ließ sich dieser verdammte Elf so sehr ablenken? Das würde ihn noch den Kopf kosten.

Ganda griff nach der Magie der Albenpfade. Wieder schlug Stahl auf Stahl. Es fiel der Lutin schwer, sich auf ihren Zauber zu konzentrieren. Immer wieder blickte sie besorgt zu Ollowain. Der Elf war in der Defensive. Schritt um Schritt trieb Kleos ihn in Richtung des Albensterns.

»Um den Preis von Gandas rechter Hand lass ich euch beide ziehen.« Der Lutin entglitten die Kraftströme der Albenpfade. Unwillkürlich griff sie nach der schillernden Feder an ihrem Hals. Sie war noch da. Obwohl sie direkt auf ihrer nackten Haut lag, spürte Ganda nicht den Zauber, der das Buch umgab. Das war ungewöhnlich. Und es würde sie retten. Auch Kleos würde den Tarnzauber nicht durchschauen können. Der Mörder musste beobachtet haben, wie sich Melianders Buch unter ihrer Berührung geöffnet hatte. Offensichtlich glaubte er, das Buch täuschen zu können, wenn er ihre Hände mitbrachte. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie ihre abgeschlagene Hand.

Reiß dich zusammen, Mädchen, ermahnte sie sich. Es liegt jetzt an dir.

Wieder griff sie nach den Kraftlinien der Albenpfade. Sie tanzten wie sich windende Schlangen. Ganda hatte das Gefühl, dass ihr jemand half. Obwohl sie zitterte und ein pochender Schmerz in ihrem Schädel klopfte, fiel es ihr so leicht wie nie zuvor, den Lichtbogen zu öffnen. Doch irgendetwas war anders als sonst.

»Senkt eure Waffen!«, befahl eine hohe Stimme. Ein recht korpulenter Kobold eilte durch den Mittelgang zwischen den Pulten auf sie zu. Er trug ein rotes Barett, von dem zwei zerzauste Federn hingen. Ein halbes Dutzend kleiner, hagerer Gestalten mühte sich hinter ihm ab, auf die Stehpulte zu steigen. Sie waren mit Armbrüsten bewaffnet, die sie an breiten Lederriemen auf den Rücken geschnallt trugen. Mit ihren schmächtigen Leibern und den tintenbefleckten Fingern wirkten sie so gar nicht wie Krieger. Man sah ihnen an, dass sie Schreiber, Beleuchter und Küchenhilfen waren. Aber in ihren Mienen spiegelte sich grimmige Entschlossenheit. Der Erste schnallte seine Armbrust ab, stellte einen Fuß in den eisernen Bügel der Waffe und begann sie mit Hilfe zweier seitlich angebrachter Kurbeln zu spannen.

»Aufhören!«, rief der Anführer der Koboldschar mit sich überschlagender Stimme. »Im Namen der Hüter des Wissens gebiete ich euch Einhalt!«

Ollowain hatte Ganda jetzt fast erreicht. Nur ein paar Schritte trennten ihn noch von dem schimmernden Lichtbogen. Ganda hätte von den Kraftlinien ablassen können, aber etwas erschien ihr merkwürdig. Unter den vertrauten, machtvollen Zaubern spürte sie wohl verborgen etwas Fremdes.

Das Iskendria der Menschen war nur ein paar Schritte entfernt. Doch dorthin zu fliehen wäre töricht. Die Wächter der Bibliothek würden ihnen leicht folgen können. Ganda wusste, dass sie und Ollowain sich tiefer in das goldene Netz wagen mussten, um einen anderen Weg zu finden. Im Gespinst der sich kreuzenden Albenpfade gab es tausend Möglichkeiten, seinen Weg zu finden. Emerelle war dagegen gewesen, auf einem direkten Weg hierher in die Bibliothek zu kommen, um ihre Mission vor den Yingiz, die draußen in der Dunkelheit des Nichts lauerten, geheim zu halten. Doch nun gab es keinen Anlass mehr zu solchen Winkelzügen. Sie konnten ohne den Umweg über die Welt der Menschen nach Albenmark zurückkehren.

»Erschießt zuerst die Lutin!«, befahl Kleos.

Der Anführer der Kobolde blinzelte nervös. »Ihr hört auf mein Kommando«, sagte er. »Kleos ist ...«

»Ein Hüter des Wissens!«, unterbrach ihn der Minotaur zornig. »Wie ihr seht, bin ich von den Verletzungen, die ich mir beim Bücherschlag zugezogen habe, wieder genesen. Die Lutin hat eine kostbare Schriftrolle aus der Halle des Lichts gestohlen. Ihr kennt die Gesetze der Bibliothek. Bücher und Schriften, die einmal hierher gelangt sind, verlassen Iskendria nie wieder. Dies ist ehernes Gesetz. Wer dagegen verstößt, ist des Todes.«

Ollowain begann zu laufen.

»Alles hört auf mein Kommando!«, rief Kleos.

»Er ist ein Lügner und Mörder!« Ohne auf Ganda zu achten, legten die Kobolde Bolzen in ihre Armbrüste. Ihr Anführer machte keine Anstalten mehr, Kleos den Befehl streitig zu machen.

»Weg hier!« Ollowain hob Ganda hoch. Dabei gab er sich Mühe, den Armbrustschützen, so gut es ging, die Sicht auf sie zu versperren. Die Lutin konnte gerade noch über die Schulter des Elfen blicken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie etwas falsch machten.

Etwas stimmte nicht.

»Legt an!«, kommandierte Kleos, und die Kobolde hoben ihre Armbrüste an die Schultern.

»Ausrichten!«

Ganda hatte den Eindruck, dass Kleos gar nicht wollte, dass sie erschossen wurden. Er wollte etwas anderes. Er hätte doch schon längst befehlen können zu schießen. Warum tat er das nicht? Sie sah, wie einer der Kobolde unter dem Gewicht seiner Waffe zu zittern begann. Man zielte nicht so lange mit einer Armbrust. Dazu waren diese Waffen zu schwer!

Ollowain trat durch das Tor.

Ganda spürte einen Sog. Er war kaum wahrnehmbar. Eine fremde Kraft. Der Pfad aus der Bibliothek hinaus war manipuliert. Wohl verborgen zwischen der Magie der Alben gab es einen neuen Zauber.

Der Schwertmeister schien nichts zu bemerken.

Das Tor hinter ihnen begann sich zu schließen. Viel schneller als üblich! Deutlich sah Ganda nun Kleos blaue Augen. Sie hatte es gewusst! Der Minotaur lächelte.

Jetzt, wo sie mit allen Sinnen darauf achtete, spürte sie den fremden Zauber deutlich. Sie waren in seiner Gewalt, so lange sie den Pfad nicht verließen. Das war es, was ihr Feind gewollt hatte!

Gandas Mund war jetzt staubtrocken. Sie zitterte immer heftiger. Es war tödlich kalt! Sie musste an das Falrach-Brett denken. Der Schwertmeister hatte Recht behalten. Sie waren aus dem Spiel. Ihr Feind hatte den Wurf um den nächsten Zug gewonnen.

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