Zweites Buch Die Rebellen

Bruder Jules

Bruder Guido fügte der Miniatur einen letzten Pinselstrich hinzu und vertiefte den Schatten im Faltenwurf des Gewandes. Zufrieden betrachtete er das Bild des heiligen Guillaume. Es zeigte den Märtyrer unmittelbar vor seinem Tod, als er von den Elfen an die Eiche gebunden wurde.

»Deine Elfen sehen wirklich zum Fürchten aus.« Eine leichte Hand legte sich auf seine Schulter. »Wenn man deine Bilder betrachtet, könnte man meinen, du seiest Augenzeuge gewesen an jenem schrecklichen Tag. Sie erscheinen wie ein Abbild der Wahrheit. Das ist eine große Gabe.«

Guido spielte nachdenklich mit seinem Knebelbart. »Ich weiß nicht, Bruder Abt. Die spitzen Ohren, die ihnen wie Hörner durch das lange Haar lugen, die bleichen Gesichter, die an Tote erinnern, und die großen dunklen Augen ... Das ist ja gut und schön. Aber jeder malt sie so. Ich möchte ihnen noch etwas Dämonisches geben. Ich dachte daran, sie noch etwas dünner zu machen und ihre Glieder ein wenig länger darzustellen, als man das von uns Menschen kennt. Sie sollten noch fremder wirken. Vielleicht kann man ihrer Blässe auch mehr Tiefe geben, wenn man mehr dünne Schichten Farbe aufträgt.«

»Ach, Guido, du bist der beste Miniaturenmaler in unserer Schreibstube, aber du machst dich der Sünde der Eitelkeit schuldig, ganz zu schweigen von den Sünden, um die du nicht wissen kannst. Im Übrigen brauchst du dreimal so lange wie jeder andere Schreiber hier, um eine Miniatur zu vollenden.«

»Aber meine Bilder sind auch schöner als die aller anderen«, begehrte Guido auf.

»Das meinte ich«, sagte der Abt. »Eitelkeit ist dein Laster. Einem Ordensbruder, der sich und sein Leben Tjured geschenkt hat, steht Bescheidenheit besser zu Gesicht. Jeder hier weiß, dass du bei weitem der beste Maler in der Schreibstube bist. Allein dir wird die Ehre zuteil, die Schriften für das Königshaus zu illustrieren. Genügt dir die stille Freude daran nicht?«

Der Ordensbruder seufzte. »Natürlich hast du Recht. Aber jeder hört es gerne, dass er gute Arbeit geleistet hat. Wie oft stehe ich bis tief in die Nacht bei Kerzenschein an meinem Schreibpult! Wie oft arbeite ich immer noch an meinen Miniaturen, wenn alle anderen Brüder und Schwestern sich längst in ihre Kammern zurückgezogen haben! Und was ist mein Lohn? Mein Bett ist nicht weicher, meine Kutte nicht aus feinerer Wolle. Ich esse dieselben Speisen wie alle Brüder und Schwestern, obwohl ich ihnen in meinem Fleiß ungleich bin. Verdiene ich dann nicht wenigstens ein Lob? Ist das zu viel verlangt, Bruder Abt?«

Während er sprach, wusch Guido die dunkelblaue Farbe aus dem dünnen Pinsel, mit dem er am liebsten malte. Dann befeuchtete er Daumen und Zeigefinger mit der Zunge und formte die Marderhaare sorgfältig wieder zu einer feinen Spitze.

»Komm zu mir, Guido«, sagte der Abt und ging zum Südfenster hinüber. Lucien war ein alter glatzköpfiger Mann, über den sich die Brüder und Schwestern des Refugiums die abenteuerlichsten Geschichten erzählten. Trotz seiner Jahre hielt sich der Abt kerzengerade, und sein Rücken war breit und kräftig wie bei einem Schmied. Lucien führte ihr kleines Refugium mit großer Strenge. Kein Vergehen blieb ungesühnt, und er wusste genau, wem er mit welcher Strafe am meisten zusetzte. Doch zugleich war das Herz des Abtes voller Güte. Wer sich ihm anvertraute, der wusste bei ihm seine Sorgen und Ängste wohl verwahrt.

Bevor er auf den Mons Gabino gekommen war, hatte Guido in einem anderen, größeren Refugium gedient. Nur ungern erinnerte er sich daran zurück. Eitles Intrigenspiel hatte das Zusammenleben der Brüder und Schwestern dort vergiftet, Missgunst und Neid hatten den Tag beherrscht. Hier war das anders. Sie waren wie eine große Familie. Alles hatte seine Ordnung, und der Miniaturenmaler wusste, dass dies ihrem Abt zu verdanken war.

Wer Lucien zum ersten Mal begegnete, der musste sich zwingen, nicht angewidert den Blick abzuwenden. Eine grässliche Narbe lief dem Abt quer durch das Gesicht, sie reichte vom Kinn bis zur linken Augenbraue hinauf. Sein linkes Auge war nur noch eine leere Höhle, die sich immer wieder entzündete. Doch am schlimmsten waren die Lippen anzusehen. Wulstig und so dick wie zwei Würste, waren sie gewiss nie ein schöner Anblick gewesen. Doch der Schwerthieb, der den Abt einst getroffen hatte, hatte ihm auch die Lippen gespalten, und sie waren so ungleich verheilt, dass es aussah, als sei eine Hälfte des Mundes einen Finger breit nach oben verrutscht. Auch konnte er durch diese Verstümmlung seinen Mund nicht mehr richtig schließen, und so sah er aus wie ein Raubtier, das drohend die Zähne bleckte.

Guido steckte den Marderhaarpinsel sorgfältig in den angeschlagenen Tonbecher zu den anderen Pinseln. Wahrscheinlich war es auch eitel, wenn man seinen Arbeitsplatz in Ordnung hielt, dachte er ärgerlich. Er ahnte, was für eine Art Predigt ihn erwartete, und hatte es nicht eilig damit, an die Seite des Abtes zu treten. Er rückte die flache Schale zurecht, in der er sein Blau angerührt hatte, dann prüfte er, ob das kleine Kristallgläschen, in dem er den zerstoßenen Aquamarin verwahrte, auch gut verschlossen war. Zu den Geheimnissen seiner Miniaturen gehörte, dass er nur die besten Materialien verwendete und jede Farbe selbst anmischte.

»Guido!«

Der Ordensbruder seufzte, trat an das Fenster und betete stumm um Geduld, um die immer gleiche Litanei über sich ergehen zu lassen.

Die Schreibstube lag im obersten Stockwerk des Turms, der sich an das Hauptgebäude des Refugiums anlehnte. Nur der schmucklose Tempelturm war höher. An jeder Seite der Schreibstube gab es drei große Fenster. So herrschte zu jeder Tageszeit gutes Licht, wenn der Himmel sich denn erbarmte und die Sonne nicht hinter grauen Wolkenschleiern verborgen war. Es war ein guter Ort zum Arbeiten, vielleicht die schönste Kammer im ganzen Refugium. Guido war sich darüber im Klaren, wie viele seiner Ordensbrüder ihn darum beneideten, dass er hier sein Tagwerk verrichtete.

Der Miniaturenmaler stützte sich auf das Sims des Fensters auf. Der honigfarbene Stein war warm vom Licht der Abendsonne. Die Stunde der Dämmerung war angebrochen. In der Ferne erhoben sich in den tieferen Tälern schon die Schatten der Nacht, während sich der Himmel im Westen noch mit zartem, blassblauem Licht schmückte. Ihr Refugium lag auf einer Felsnase, die weit aus dem steilen Südhang des Mons Gabino ragte. Es war nicht sehr groß. Gerade einmal einunddreißig Ordensbrüder fanden hier ihr Auskommen. In vielen Jahren mühsamer Arbeit hatten sie Terrassen in den Fels geschlagen, und die Erde, in denen ihre weit über das Königreich Angnos hinaus berühmten Rebstöcke wurzelten, war Korb für Korb von Maultieren hier hinaufgeschafft worden. Gottesblut nannten die Heiden ehrfürchtig den Wein, der von den goldenen Hängen des Mons Gabino stammte. Und Guido wusste, dass sich sein Abt durchaus auch der Sünde der Eitelkeit schuldig machte, wenn es um den Wein ging.

Lucien deutete mit einer weit ausholenden Bewegung den Hang hinab. Auf den Treppen, die aus dem Fels geschlagen waren, konnte man blau gewandete Ordensbrüder mit breitkrempigen Strohhüten sehen, die dem Refugium entgegeneilten.

»Sieh dir unsere Weggefährten auf dem Pfad zu Tjured an.«

Lucien war in den pathetischen Ton verfallen, den er bei seinen Predigten so gerne anschlug. Guido war oft sehr ergriffen, wenn er dem Abt bei ihren morgendlichen Zusammenkünften im Rundtempel lauschte. Doch es war etwas ganz anderes, wenn man so einer Predigt allein zuhören musste und dabei noch derjenige war, um den sich alles drehte.

»Sieh unsere Brüder, wie sie zu uns streben, gebeugt von einem Tag voller Mühsal in Staub und Hitze. Hast du einmal ihre Hände betrachtet, Guido? Zerschunden sind sie von der harten Arbeit am Weinberg. Und wenn ihre Hände bluten, dann legen sie einen feuchten Lappen darum und machen weiter. Und welches Lob erhalten sie? Und welchen Lohn? Ein Teller mit einem einfachen Mahl und ein Becher mit verdünntem Wein, das ist ihr Gewinn nach einem solchen Tag. Und klagen sie deshalb? Nein! Sie sind zufrieden mit dem Leben, wie Tjured es ihnen geschenkt hat.«

Guido dachte daran, wie oft er schon mit hinaus auf den Weinberg gegangen war, wenn jede Hand benötigt wurde. Stets rief man ihn oder Bruder Martin, wenn es eine Arbeit zu erledigen gab, die besondere Kraft erforderte. Er dachte auch an die vielen Nachstunden, die er im Kerzenlicht an seinem Stehpult verbrachte, wenn die anderen unten im Speisesaal saßen und sich von Lucien aus dem Leben der Heiligen vorlesen ließen.

»Ich sehe dir an, wie du dich vor meinen Worten verschließt, Bruder.« Der Abt lächelte, und ein Netzwerk tiefer Falten umgab sein grünes Auge. »Nur weil du die blaue Kutte der Tjuredpriester trägst, bist du kein besserer Mensch. Und auch nicht, weil du Miniaturen malen kannst, die so wunderschön sind, dass einem das Herz aufgeht, wenn man sie betrachtet, oder die einem Schauder der Furcht über den Rücken jagen, wenn es Bildnisse der grausamen Elfen sind. Was dir fehlt, ist die Gelegenheit, Zwiesprache mit Gott zu führen. So wirst du auch wieder zur Ehrfurcht vor den einfachen Dingen des Lebens finden, und du wirst ...« Lucien hielt inne und spähte aus dem Fenster. Auf dem Weg vom Pinienwald kam eine hochgewachsene Gestalt, die von einigen Ordensbrüdern umringt wurde. Andere schwenkten ihre Strohhüte ausgelassen zum Gruß, als sie den Fremden sahen.

Lucien murrte unwillig, kniff die Lider zusammen, spähte angestrengt in Richtung der Menschentraube, die sich um den Wanderer gebildet hatte, und murrte wieder. »Mein Auge ist so trüb wie unser Fischteich, wenn ihn im Herbst der Frost geküsst hat. Was geht da vor sich? Ist er es?«

Der Fremde war noch zu weit entfernt, um sein Gesicht erkennen zu können. Er trug die blaue Kutte der Ordensbrüder. Seine Kapuze hatte er zurückgeschlagen, und man sah deutlich sein rabenschwarzes Haar. »Ja, ich glaube, es ist Bruder Jules.«

Der Abt blickte zum Himmel hinauf. »Ich danke dir für diese Prüfung, Tjured.« Er seufzte. »Mach die Läden dicht und komm runter. Wir werden heute früher speisen.«

Lucien war ein seltsamer Mann, dachte Guido. Jeder im Refugium freute sich, wenn Jules zu Gast war. Die Brüder und Schwestern hingen gebannt an seinen Lippen, wenn er von den langen Wanderungen erzählte und von den vielfältigen Wundern Gottes. Nur Lucien wurde nie von dieser Begeisterung ergriffen. Vielleicht war er eifersüchtig auf Jules. Vielleicht hatte er auch Angst, der Wanderer könne etwas über seine Vergangenheit erzählen. Es gab viele Gerüchte über Lucien. Es hieß, er sei in seiner Jugend ein Krieger gewesen.

Guido lauschte, bis die schweren Schritte des Abtes auf der Stiege verklungen waren. Dann begann er leise vor sich hin zu pfeifen. Und es war nicht etwa ein frommes Lied, sondern eine beschwingte Weise über ein Mädchen, das stets alles bei sich trug, was es brauchte, um seinen Geschäften nachzugehen.

Der Miniaturenmaler prüfte gut gelaunt, ob die Tintenfässer wohl verschlossen waren, und schnippte dann ein Stück Taubenkot von einem Fenstersims. Gedankenverloren betrachtete er die Berge, und die Erkenntnis der Größe Gottes ließ ihm die Brust eng werden. Voller Inbrunst schenkte er Tjured ein Gebet. Weil die Welt so ein wundervoller Ort war. Weil Gott ihn von Lucien erlöst hatte, dessen einziger Fehler wohl war, dass er sich gern predigen hörte. Und weil Gott ihnen Bruder Jules geschickt hatte. Kein anderer Ordensbruder war so berühmt wie Jules der Wanderer. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Dort, wo er Gast war, kehrte Freude ein. Er war ein lebender Heiliger und keiner dieser sauertöpfischen Prediger, die einem den kleinsten Spaß im Leben missgönnten. Nein, er war gänzlich anders. Er machte deftige Scherze, zechte gerne, war zugleich ein Quell niemals versiegender Weisheit und ein Mysterium. Vor zwei Jahren war er einmal hier gewesen und hatte sich für drei Wochen im Allerheiligsten des Refugiums eingeschlossen. Ohne Speisen, ja selbst ohne etwas zu trinken, hatte er diese Zeit verbracht. Und als er von seiner Zwiesprache mit Gott zurückkehrte, da wirkte er frisch und ausgeruht, so als habe es ihm die langen Wochen über an nichts gefehlt. Bruder Tomasin, der versucht hatte, es Bruder Jules in seiner Frömmigkeit gleichzutun, war am vierten Tag ohne Wasser zusammengebrochen. Er war krank geworden und wäre vielleicht sogar an dem bösen Fieber gestorben, das ihn befallen hatte, hätte Jules ihn nicht geheilt, als er aus seiner Klausur im Allerheiligsten zurückkehrte.

Guidos Blick wanderte durch die Schreibstube. Alle Tische waren aufgeräumt. Man fühlte sich geborgen in einer Welt, in der Ordnung herrschte. Er sah zu den fernen Berggipfeln. Selbst so spät im Frühjahr waren die weißen Kappen nicht gewichen. Manchmal, an stürmischen Tagen, sah man den Schnee wie einen Schleier um die Wipfel schweben.

Die näher gelegenen Klippen und Steilhänge strahlten im Abendlicht in einem warmen Rotgold. Wie Nester klammerten sich die Weinterrassen an die Hänge. Der Mons Gabino lag weit entfernt von den Intrigen des Königshofs. Wer hierher wollte, der musste vier Tage lang durch karges Bergland wandern. Ihr Refugium war der Welt entrückt. Es war ein fast vollkommener Ort, um mit sich, seinen Gedanken und der Kunst des Miniaturenmalens in Harmonie zu leben. Der einzige Makel an ihrer wunderbaren Gemeinschaft bestand darin, dass ihnen noch keine Kinder geboren worden waren. Obwohl auch zehn Ordensschwestern zu ihrer Gemeinschaft gehörten, blieb ihnen der Kindersegen verwehrt.

Guido entzündete eine Öllampe und zog die schweren Holzläden vor die Fenster. Dann stieg er langsam die steile Stiege hinab. Die Kammer unter der Schreibstube war völlig dunkel. Hier lagerten die Schriften des Refugiums. Es war eine wundervolle Sammlung. Mehr als dreihundert Bücher! Die größte Bibliothek des Königreichs, wahrscheinlich sogar der Welt!, dachte der Ordensbruder stolz. Ein Schatz, kostbarer als eine Kammer voll Gold. Welch ein Gottesgeschenk war die Schrift! Sie erlaubte, noch nach Jahrhunderten von der Weisheit der Ahnen zu zehren. Und sie trennte Lüge und Wahrheit. Wie viele verschiedene Geschichten gab es schon jetzt über den Tod des heiligen Guillaume?

Bruder Jules, der einzige zuverlässige Augenzeuge des grausamen Mordes, hatte ihnen von dem Verbrechen der Elfen und dem tapferen Heldenmut Guillaumes berichtet. Doch welchen Unsinn erzählte man sich im Volk! Dort hieß es, Tjured habe drei Engel auf feurigen Schlachtrössern gesandt, um den Leib des Heiligen zu holen. Andere behaupteten, die Krieger des Königs hätten sich in den Straßen der Stadt eine regelrechte Schlacht mit den Elfen geliefert, bei der sogar eine Gruppe heidnischer Barbaren aus dem Fjordland mit gefochten hätte. Welch ein Unsinn! Dabei war es nicht einmal ein Menschenleben her, dass Guillaume ermordet worden war. Und da es inmitten der blühenden Stadt Aniscans geschehen war, hatte es hunderte Zeugen gegeben. Dennoch war es nur dem Glücksfall zu verdanken, dass Bruder Jules, der damals noch ein Kind gewesen war, die Bluttat miterlebt hatte. So gab es tatsächlich jemanden, dessen Bericht man trauen konnte.

Guido strich sanft über ein dickes, in rotes Schweinsleder gebundenes Buch, das in einem Regal dicht bei der Stiege stand. Es war die Lebensgeschichte des heiligen Guillaume. Guido hatte sie niedergeschrieben, um die Wahrheit bis in die fernste Zukunft zu tragen. Fast ein Jahr hatte er sich Zeit genommen, um den Text mit wundervollen Miniaturen zu illustrieren.

Der Ordenspriester seufzte. Auf kein anderes Werk in seinem Leben war er so stolz. Er war der Sohn eines Baumeisters und hatte das Handwerk seines Vaters erlernt. Zu seinen frühesten Erinnerungen gehörte, wie er mit seinem Vater hoch auf dem Baugerüst eines Tempelturms stand und über das Häusermeer einer Stadt hinwegblickte. Er hatte mitgeholfen, ein Dutzend Häuser Tjureds aus schwarzem Basalt zu errichten, an dem die Jahrhunderte vorübergehen konnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Drei Tempeltürme hatte er selbst als Baumeister entworfen. Doch selbst wenn diese mächtigen Bauwerke längst zu Staub zerfallen waren, würde jedes Kind Gottes noch die wahre Lebensgeschichte des heiligen Guillaume kennen. Dieses Buch war geschaffen, um seine Geschichte bis ans Ende der Zeit zu tragen, dachte Guido stolz. Und würde er selbst in diesem Augenblick vom Tod dahingerafft, so könnte er zufrieden gehen, denn sein Werk im Dienste Gottes war verrichtet.

Guido atmete tief ein und genoss den Geruch von Staub und Leder. Den Duft der Bücherstube. Dann stieg er hinab und ging durch den gemauerten Trockenraum für Schinken und Würste, bis er die Pforte erreichte, die zum großen Speisesaal des Refugiums führte.

Er traf im selben Augenblick ein, in dem Bruder Jules, umringt von einer Schar von Ordensbrüdern und -schwestern, durch das hohe Tor am anderen Ende des Saals kam. Freudige Stimmen und Gelächter hallten von den dicken Mauern wider. Bruder Jules hatte diesen späten Frühlingstag in einen Feiertag verwandelt.

Selbst Bruder Jacques, der sich im Winter bei einem unglücklichen Sturz beide Füße gebrochen hatte und seitdem an Krücken gehen musste, stemmte sich von seinem Sitz hoch und humpelte Jules entgegen. Die vielen Monde des Sitzens hatten Jacques zu einem dicken, mürrischen Mann gemacht, dessen gallige Bemerkungen alle im Refugium fürchten gelernt hatten. Doch davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Sogar auf seinem Gesicht zeigte sich ein Lächeln.

Jules schloss Bruder Jacques in die Arme. Und dann hob er ihn hoch, als sei er ein Kind. Jules war ein stattlicher Mann, doch alle im Speisesaal hielten den Atem an, denn um Jacques zu tragen, musste man wahrlich stark wie ein Ochse sein. Behutsam setzte der Wanderer Jacques in dessen Stuhl. Dann kniete er vor ihm nieder, und seine Hände strichen über die verdrehten, geschundenen Füße, die Jacques den Dienst aufgekündigt hatten.

Jules stöhnte. Tränen rannen ihm über die Wangen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und es schien, als erleide er in diesem Augenblick die Qualen des Martyriums des heiligen Guillaume.

Guido eilte durch den Saal, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Es war totenstill geworden. Der Miniaturenmaler kannte etliche der Geschichten, die man sich über den Wanderer erzählte, doch bislang hatte er sie als das Geschwätz übereifriger Ordensbrüder und -schwestern abgetan, die Jules am liebsten schon zu Lebzeiten zu einem Heiligen gemacht hätten.

Ein trockenes Knacken war zu hören, ein Laut, bei dem man bis ins Innerste erschauderte. Jacques stöhnte. Seine Hände krallten sich in das Holz seines Sitzes. Staunend sah Guido, wie der Wanderer dessen linken Fuß richtete. Dann legten sich seine großen, von der Sonne gebräunten Hände um den rechten Fuß. Wieder erklang das schreckliche Knacken. Jacques stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus. Auch der Wanderer zitterte. Sein Antlitz war von Schweiß bedeckt. »Bitte erhebe dich, Bruder«, sagte er mit schwacher Stimme.

Jacques weinte. Unsicher stemmte er sich auf seinen Krücken hoch. Als er mit dem rechten Fuß auftrat, spiegelte sich fassungsloses Staunen in seinen Zügen.

»Gib mir die Krücken«, sagte Jules mit warmer Stimme. »Ich weiß, du wirst sie in deinem Leben nie wieder brauchen.« Er sagte das mit der Bestimmtheit eines wahren Heiligen, der um die Pläne Gottes wusste. Eines Auserwählten unter den Lebenden.

Einem Augenblick stummen Staunens folgte unbeschreiblicher Jubel. Guido drängte sich nach vorne. Auch er wollte Jules berühren, wollte dem lebenden Heiligen seine Bewunderung zeigen.

»Lasst uns beten und Tjured für dies Wunder danken!«, tönte die Stimme des Abtes. Lucien hatte die Arme gehoben und versuchte, dem Tumult Einhalt zu gebieten. Doch er musste die Brüder und Schwestern noch dreimal zur Ruhe ermahnen, bis es endlich stiller wurde.

»Ich bin kein junger Mann mehr, Jules«, sagte der Abt feierlich. »Ich habe vieles in meinem Leben gesehen. Manche hier wissen um die Taten meiner Jugend. Taten, auf die ich heute nur noch mit Scham zurückblicken kann, denn ich war einer aus der Schar der Stierköpfe des Königs Cabezan. Und ich habe meine Hände in das Blut Unschuldiger getaucht ...«

Seine Schultern bebten. Lucien rang mit den Tränen. »Ich war Zeuge eines Wunders und habe mich versündigt. Und ich danke Gott, dass ich noch einmal Zeuge seines Wirkens werden durfte.«

Einen Herzschlag lang tauschten Jules und der Abt einen Blick, den Guido nicht zu deuten wusste. Es schien ihm, als warne der Wanderer den Abt stumm, weiter zu sprechen.

»Ich danke euch für euer Lob und eure Freude, die mein Herz erwärmt«, sagte Jules sodann. »Doch vergesst nicht, ich bin nur das Gefäß, in das Gott seine Kraft fließen lässt. Lobt ihn und beschämt mich nicht. An diesem Tag seid ihr Auserwählte unter den Kindern Gottes. Euch ist es bestimmt, zu Zeugen seiner Kraft zu werden. Doch nun lasst uns gemeinsam das Brot brechen und uns an den Gaben Gottes laben. Wie leicht vergisst man im Überfluss, dass Speise und Trank ein Geschenk sind, das Tjured uns jeden Tag gewährt. Feiern wir Gott mit einem Mahl zu seinen Ehren.«

Es war der Abt selbst, der Jules zur Tafel geleitete und darauf bestand, dass dieser seinen Platz einnahm. Lucien ließ sich darauf zur Rechten des Wanderers nieder und reichte ihm das frische, dampfende Brot, das eilig aus der Küche gebracht wurde. Es herrschte eine fröhliche Stimmung an der Festtafel.

Der sonst so griesgrämige Jacques stand auf und sang aus voller Brust ein Lied zu Ehren Gottes. Jacques hatte eine schöne, tiefe Stimme, und Guido war zu Tränen gerührt, seinen Ordensbruder so glücklich zu sehen. Das Einzige, was ihn während des Mahls betrübte, war der Anblick Mariottes. Seit sie vor zwei Jahren ins Refugium gekommen war, war er ihr verfallen. Nie hatte er eine Frau von solcher Schönheit gesehen. Ihr Haar war golden wie die Lichtbahnen, die an einem schönen Sommertag durch das Laubdach eines dichten Waldes fielen. Ihre Lippen waren rot wie Walderdbeeren, voll und sinnlich, und so verführte ihn ihr Anblick während des gemeinsamen Essens zu den verrücktesten Tagträumen. Oft schon hatte er den Becher beneidet, dem es vergönnt war, von diesen Lippen berührt zu werden. Manchmal, wenn sie das Geschirr abspülten, stand er dicht neben Mariotte und atmete ihren Duft. Sie roch wie die Pinienwälder, die sie durchstreifte, wenn sie nach Kräutern und Pilzen für die Vorratskammern des Refugiums suchte.

Letzten Winter hatte der Abt entdeckt, dass Guido sich erlaubt hatte, auf einer seiner Miniaturen der Mutter des heiligen Guillaume Mariottes Antlitz zu geben. Zur Strafe für diese Sünde hatte Guido in der Eiseskälte drei Tage barfuß gehen müssen. Doch Mariottes Bild hatte er nicht übermalen müssen...

Teigtaschen, gefüllt mit weißem Käse, gebratener Paprika, Zwiebeln und Lammfleisch wurden aufgetragen. Doch Guido hatte keinen Blick für diese Köstlichkeiten. Er betrachtete Mariotte und wünschte sich, dass sie ihn nur ein einziges Mal so ansehen würde, wie sie Bruder Jules ansah.

Jules schien ihre Bewunderung gar nicht zu bemerken. Die Augen aller waren auf ihn gerichtet und er scherzte mit seinen Nachbarn bei Tisch.

Dann stand er auf. Schlagartig wurde es still im Speisesaal.

»Liebe Schwestern, liebe Brüder. Ich danke euch von ganzem Herzen für dieses freundliche Willkommen. Mein Herz quillt über vor Freude, und ich muss euch sagen: Ich bewundere die Arbeit, die ihr im Refugium vollbracht habt, das zu einer Oase inmitten der Wüstenei der Berge erblüht ist. Und doch ist es bei all unseren Mühen Tjured, der letztlich über unser Schicksal entscheidet. Euch scheint er zu lieben, so reich, wie ihr beschenkt wurdet, und ich möchte euch bitten, mit mir gemeinsam zur Mitternacht eine Messe im Allerheiligsten auszurichten. Lasst uns unsere Freude dem Himmel entgegenrufen, meine Schwestern und Brüder. Lasst uns Gott zeigen, dass auch wir ihn lieben. Feiern wir ihm zu Ehren!«

Der Vorschlag sorgte für einige Aufregung, und selbst Lucien gab seine Zurückhaltung auf, als beratschlagt wurde, wie man Gott danken sollte.

Die Mitternachtsmesse

Verdrossen blickte Guido durch die offene Tür zum Nachthimmel auf. Der Mond war gerade hinter den Wolken hervorgekommen und tauchte das Refugium in silbernes Licht. Deutlich zeichnete sich der Schattenriss des Tempelturms gegen den hellen Himmel ab. Wieder verschwand eine kleine Gruppe seiner Ordensbrüder durch das hohe Portal, verschluckt von dem finsteren Turm.

Guido biss die Zähne zusammen, so stark war sein Wunsch zu fluchen. Es war nicht mehr lange bis Mitternacht. Missmutig beobachtete er den dünnen Faden aus Sand, der durch das Stundenglas rann. Bald würde die feierliche Messe beginnen. Wahrscheinlich waren jetzt schon alle unten im Allerheiligsten. Nur er saß hier und wartete, weil der Abt entschieden hatte, ihn für seine Eitelkeit büßen zu lassen. Es war ungerecht, bestraft zu werden, weil man seine Arbeit mit Hingabe verrichtete! Dann würde er in Zukunft eben genauso dahinstümpern wie die anderen Miniaturenmaler, dachte er zornig und wusste zugleich, dass ihn der Abt dann bestrafen würde, weil er nicht all sein Können in den Dienst des Refugiums stellte.

In jeder anderen Nacht hätte er den Tordienst einfach abgesessen. Ja, er hätte sich wahrscheinlich am Glanz der Sterne erfreut und die Stille genossen. Es gab schlimmere Strafen als eine durchwachte Nacht. Doch heute war das anders. Im Refugium herrschte eine Aufregung wie in einem Bienenstock vor dem Flug der jungen Königin. Alle bemühten sich nach Kräften, die Dankesmesse zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Ganze Bündel von Kerzen waren zum Allerheiligsten hinabgetragen worden, um die Höhle taghell zu erleuchten. Eben noch hatten die Ordensschwestern im Kräutergarten gesungen und ihre Lieder für die Messe eingeübt. Mariotte war die Vorsängerin des kleinen Frauenchors. Ihre Stimme war so schön, dass einem ganz weh ums Herz wurde, wenn man ihr lauschte. Doch die Sängerinnen waren gegangen, und Guido hätte sich nicht einsamer fühlen können, wäre er der einzige Mensch in diesem schroffen Bergland gewesen.

Irgendwo, jenseits der hohen Mauer aus Bruchstein, die das Gelände des Refugiums umfasste, war der Ruf eines Steinkauzes zu hören. Leise flüsterte der Wind in den Dachtraufen.

In der engen Kammer des Torwächters hatte sich die Wärme des Frühlingstages gehalten. Obwohl es nachts immer noch empfindlich kalt wurde, war es hier angenehm. Hin und wieder spähte Guido durch das schmale, vergitterte Fenster, das auf den steilen Pfad blickte, der hinauf zur Pforte des Refugiums führte. Natürlich war niemand zu sehen. Nur wenige Wanderer kamen in diesen Teil der Berge. Dass ein Gast zu so später Stunde an die Pforte des Refugiums kam und um Einlass bat, war mehr als unwahrscheinlich. Guido lebte nun schon seit fünf Jahren hier auf dem Mons Gabino, und er konnte sich nicht erinnern, dass in dieser langen Zeit jemals mitternächtlicher Besuch gekommen wäre.

Ein Schatten löste sich vom Hauptgebäude und eilte mit weiten Schritten dem Pförtnerhaus entgegen. Das Mondlicht ließ die Glatze des Abtes aufleuchten und schmeichelte dessen entstellten Zügen.

Guido schnaubte ärgerlich. Damit war zu rechnen gewesen, dass die hässliche Krähe noch einmal vorbeisah und kontrollierte, ob er hier seiner Pflicht nachkam.

»Ich wache an der Pforte, wie du es befahlst!«, rief er dem Abt entgegen und gab sich auf spöttische Weise wie ein Krieger, der zur Nachtwache eingeteilt war.

Lucien gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. »Das ist jetzt nicht die Zeit für Scherze, Guido. Der Besuch von Jules hat mir die Augen für meine Sünden geöffnet. Vergiss all deine Arbeiten, denn von morgen an wirst du noch einmal an der Vita des heiligen Guillaume schreiben. All die Jahre, die ich zu Tjured gefunden habe, schweige ich nun schon. Doch es wäre falsch, die Wahrheit allein auf den Erinnerungen eines Kindes zu gründen. So sehr ich Bruder Jules auch schätze, der gewiss Großes für die Kirche tut, kann ich nicht länger dulden, dass seine Geschichte um den Tod des heiligen Guillaume als einzig wahrhaftiger Bericht gilt.«

Der Abt fuhr sich mit dem Finger über die grässliche Narbe.

»Ich kenne die meisten Geschichten, die ihr über mich erzählt. Die Wahrheit ist viel schrecklicher als alles, was ihr euch ausdenken könnt. Diese Wunde hat mir ein Fjordländer mit einem Bart rot wie Flammen zugefügt, und es ist ein Wunder Gottes, dass ich diesen Axthieb überlebt habe. Noch heute sehe ich diesen Kerl in meinen Albträumen. Und so sehr es mich beschämt, muss ich gestehen, dass es dieser Heide war, der an jenem Tag für Tjured stritt und nicht ich.«

Das plötzliche Geständnis des Abtes verwunderte Guido. Und was gab es an der Geschichte von Bruder Jules falsch zu verstehen? »Was geschah an dem Tag, an dem Guillaume starb?«

Lucien blickte sich gehetzt um, als befürchte er, belauscht zu werden. »Ich gehörte zu Cabezans Stierköpfen, die nach Aniscans kamen, Guido. Wir sollten Guillaume holen, weil Gott unseren König mit einer grässlichen Krankheit gestraft hatte. Vergiss alles, was du über diesen Tag zu wissen glaubst. Ich war Zeuge der Ereignisse. Es waren nicht die Elfen, die den Heiligen töteten.« Der Abt stockte. »Ich gehöre zu den Mördern. Jede Nacht büße ich in meinen Träumen für die Bluttat. Morgen werde ich dir alles erzählen. Wir müssen die Kirche von der Lüge reinigen. Guillaume ist unser bedeutendster Heiliger. Wir müssen die Legenden um seinen Tod von Lügen reinwaschen, sonst werden schreckliche Dinge geschehen, Guido. Nichts, das auf Lügen begründet ist, kann zu etwas Gutem erwachsen. Jedes Mal, wenn ich bete, habe ich Angst, dass mich ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel erschlagen wird, weil ich die Lüge dulde. Ich bin als ein Sünder zu Tjured gekommen, und all die Jahre habe ich es nicht gewagt, meinen Ordensbrüdern zu widersprechen, wenn es um den heiligen Guillaume ging. Was hätte ich auch sagen sollen? Ihr irrt euch, Brüder! Ich weiß es besser, denn ich gehörte zu jenen, die den Heiligen ermordeten! Ich kann verstehen, wenn Jules sich als Kind eine andere Geschichte zurechtgelegt hat. Die Wahrheit ist zu schrecklich! Und jedes Mal, wenn ich Jules begegne, fürchte ich, dass er mich wieder erkennen könnte. Ich werde mich ihm heute nach der Messe offenbaren. Und morgen wirst du für mich niederschreiben, was wirklich in Aniscans geschehen ist.«

»Warum hast du mich ausgesucht, um mir all dies zu sagen?«, fragte Guido stockend. Der Gedanke an die Ausmaße der Lüge, der die Kirche folgte, hatte ihn fast sprachlos gemacht.

»Weil du einen wachen Verstand hast. Weil du mit mir streitest, wenn du glaubst, dass ich im Unrecht bin. Und weil du so wunderbare Handschriften anfertigst. Die Wahrheit soll auf feinstes Pergament geschrieben stehen, und zwar in einer Schrift ohne Schnörkel und Fehl. Ich will, dass wir ein Buch erschaffen, so wunderbar und makellos, als hätten es die Engel geschrieben. Dann wird niemand an den Worten zweifeln. Denn glaube mir, die Lüge ist schon so mächtig geworden, dass es schwer werden wird, sie zu töten. Bete, Guido. Reinige deine Seele, so wie ich es nun in der Messe tun werde.«

Er ergriff Guidos Rechte mit beiden Händen, drückte sie fest und schenkte ihm sein unheimliches Lächeln, das vor so langen Jahren für immer aus der Form geraten war. »Morgen werden wir zu Rebellen der Wahrheit werden, Guido. Unsere Seelen werden durch ein reinigendes Feuer gehen und all das Fett abschwitzen, das sie in der Trägheit des falschen Glaubens angesetzt haben. Die Gläubigen müssen erfahren, dass die Elfen Lichtgestalten sind und keine Geschöpfe der Finsternis. Keine Dämonen wie auf den Bildern, die du erschaffen hast.«

Der Miniaturenmaler erwiderte den Händedruck. »Meine Feder wird dein Schwert sein, Bruder Abt.« Guido fühlte sich ein wenig benommen. Die Wirklichkeit hatte sich schneller verändert, als sein Verstand es zu fassen vermochte. Eben noch waren die Elfen die Inkarnation des Bösen, und nun nannte Lucien sie Lichtgestalten.

Der Abt schenkte ihm sein beschädigtes Lächeln. »Ich zähle auf dich, Bruder Guido.« Mit diesen Worten eilte er davon.

Guido atmete tief aus und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es war totenstill. Die Nacht schien den Atem anzuhalten. Eine neue Zeit würde anbrechen. Der Miniaturenmaler versuchte sich vorzustellen, wie sehr sich die Welt verändern würde, wenn sie die neue Wahrheit hinaus unter die Schar der Gläubigen trugen. Guido sah sich im Geiste schon als flammender Prediger auf großen Marktplätzen, als ein einziger galliger Gedanke ihm alle Illusion nahm. Woher wollte er eigentlich wissen, dass Lucien die Wahrheit sagte? Gut, der Abt hatte sich oft ein wenig merkwürdig verhalten, und seine Geschichte schien dies zu erklären. Aber war es wirklich die Wahrheit? Warum sollte Jules lügen? Nur weil er damals, als Guillaume zum Märtyrer wurde, noch ein Kind gewesen war und die Ereignisse, deren Zeuge er war, nicht richtig begriffen hatte?

Guido blickte zum weiten Himmel empor und fühlte sich verloren. Er hatte das Gefühl, dass er jeden Augenblick hinauf in die Dunkelheit gezogen werden könnte, um sich in deren Weiten auf immer zu verlieren. Seine Seele war wie ein Schiff, das in schwerer See den Kurs verloren hatte.

Er spürte sein Herz wie rasend schlagen. Seine Zweifel würden es noch zerspringen lassen. Wo würde er ein Leuchtfeuer finden, das ihn zurück auf den rechten Weg führte?

Zweifelnd blickte er zu dem hohen Tempelturm, der sich wie eine Festung des Glaubens gegen den unendlichen Himmel abhob. Dort in der verborgenen Höhle, tief im Felsen, waren nun all seine Brüder und Schwestern versammelt. Könnte er doch nur bei ihnen sein!

Guido trat an das vergitterte Fenster und blickte den steilen Pfad hinab, der zum Refugium führte. Im fahlen Mondlicht hatte der Weg die Farbe eines alten Knochens. Er lag verlassen. In dieser Nacht würde gewiss kein Wanderer mehr kommen ... Durfte er es wagen, seinen Posten am Tor zu verlassen? An der Treppe, die hinab ins Allerheiligste führte, gab es einen Felsdurchbruch. Von dort aus konnte man in die weite Höhle blicken, ohne von unten gesehen zu werden. So konnte er seinen Schwestern und Brüdern nahe sein und blieb ihnen zugleich fern. Und wenn die Messe beendet war, konnte er schnell zurück auf seinen Posten hasten. Wer würde in dieser Nacht schon an das Tor kommen? Niemand!

Guido zog den Sperrriegel der Pforte zurück. Leise knarrend öffnete sich die Tür. Der Ordensbruder trat auf den Weg hinaus und spähte in die Nacht. Da war niemand. Keiner hatte verstanden, warum es dem Abt so wichtig gewesen war, das Refugium mit einer hohen Mauer zu umgeben. Auf diesem einsamen Berg hatte ihre Gemeinschaft niemanden zu fürchten. Manchmal hatte Guido sich gefragt, ob es die Mauer gab, um sie einzusperren. Doch natürlich war auch das Unsinn. Bei Tage konnte jeder kommen und gehen, wie er wollte.

Mariotte hatte ihm einmal gesagt, die Mauer sei nur errichtet worden, damit die Kinder auf dem Gelände des Refugiums blieben und nicht auf den gefährlichen Felsgraten spielten. Nur gab es keine Kinder. Alles war bereit für sie. Sechs der Ordensschwestern hatten sich Partner erwählt. Aber ihr Leib blieb unfruchtbar. Es war wie ein Fluch.

Guido stellte sich vor, wie es wohl wäre, bei Mariotte zu liegen. Ihn fröstelte. Sein Blick wanderte über die weite Berglandschaft, und wieder sah er hinauf zum unendlichen Himmel. Er war bloß ein Staubkorn. Bedeutungslos.

Er brauchte die Gemeinschaft! Nur sie konnte ihn retten. Der Zweifel und die Weite dieser Nacht würden ihn sonst noch töten. Wenn er Mariotte beim Singen lauschte, dann wäre das Balsam für seine wunde Seele. Sie war sein Leuchtfeuer!

Er lehnte die Pforte nur an. Sollte sich doch noch ein Wanderer hierher verirren, dann wäre er zumindest nicht ausgesperrt. Ein letztes Mal blickte Guido durch das vergitterte Fenster. Es würde schon alles gut gehen!

Verstohlen schlich er zum Tempelturm. Die weiten Flügeltore des Turms waren unverschlossen. Kälte umfing ihn wie ein Mantel, als er eintrat. Schlanke Marmorsäulen strebten der Decke entgegen. Der ganze Tempel bestand nur aus einem einzigen, weiten Raum. Der Boden zeigte einen riesigen Stern mit vierzehn Zacken, der sich bis zu den Wänden hin erstreckte. Die Wände waren weiß getüncht und schmucklos. Nur die beiden Fensterreihen, die weit oben bei den Galerien die dicke Mauer des Turms durchbrachen, bildeten eine Ausnahme. Die bunten Bleiglasfenster zeigten die berühmtesten Märtyrer der Tjuredkirche. Den heiligen Romuald, dessen zerschmetterte Glieder Heiden auf ein Rad geflochten hatten, oder die heilige Claudine, die man in Aniscans mit dem Kopf nach unten an einen Brückenpfeiler gefesselt und ertränkt hatte. So viele hatten ihr Leben für ihren Glauben gegeben.

Guido schritt über das Herz des großen Sterns hinweg und eilte zu der Treppe, die verborgen hinter einer der Säulen lag. Einst hatte es hier nur einen klaffenden Spalt im Felsen gegeben, der hinab zur Höhle führte. Lächelnd erinnerte sich Guido an seine ersten Tage im Kloster. Er war nicht als Schreiber oder Miniaturenmaler hierher gekommen. Man hatte ihn geschickt, weil er ein guter Baumeister war. Er hatte mitgeholfen, die Treppe hinab ins Allerheiligste zu bauen, und er hatte der Höhle, in der Heiden über ungezählte Jahrhunderte ihre Götzen verehrt hatten, ein neues Gesicht gegeben. Die obszönen Bilder von nackten Weibern mit riesigen Brüsten hatte er unter schneeweißem Putz verschwinden lassen. Auf dem Opferstein stand nun ein kleiner Schrein aus Gold und Bleiglas, in dem drei Zehen des heiligen Guillaume verwahrt wurden. Ein Vermögen an Weihrauch hatte die bösen Geister der Heiden vertrieben und den alten Kultplatz zu einem Ort lichten Glaubens gemacht. Guido war stolz auf sein Werk, auch wenn er jetzt wie ein Dieb die Treppe hinabschlich.

Er erreichte den Felsdurchbruch und spähte in die Höhle. Er war überrascht, wie wenig Kerzen aufgestellt waren. Sie reichten kaum aus, um die Dunkelheit zu vertreiben. Verärgert sah Guido, dass man einen weiten, roten Kreis auf den Boden gemalt hatte. Auf die kostbaren Platten aus honigfarbenem Sandstein!

Neben dem kleinen Schrein mit den Zehen Guillaumes waren schwarze Kerzen aufgestellt worden. Dunkle Bußfäden zogen von ihren Flammen der Decke entgegen. Guido war erschüttert. Man würde die Decke neu tünchen müssen, wenn diese Kerzen lange brannten. Jetzt entdeckte er noch einen zweiten Kreis, der mit weißer Kreide gezogen worden war. Alle Ordensbrüder und -schwestern standen dort. Nur Tomasin fehlte. Er hielt sich neben Jules.

Guido suchte unter den Gesichtern nach dem Antlitz von Lucien. Als er ihn entdeckte, war er überrascht. Der Abt lächelte verzückt.

Jules sang etwas in einer fremden Sprache. Guido hatte keine Ahnung, worum es ging, doch die Melodie stimmte ihn melancholisch, und eine bange Ahnung ergriff ihn, dass dieses Lied nicht für Menschen geschrieben worden war.

Die Flammen der Kerzen erzitterten, als habe ein plötzlicher Windstoß nach ihnen gegriffen. Mitten aus dem Höhlenboden wuchs ein Bogen aus goldenem Licht. Nie zuvor hatte Guido etwas so Schönes gesehen. Doch das Licht fasste eine Fläche aus Finsternis ein. Es war, als habe Bruder Jules ein Tor zu dem finsteren Abgrund jenseits der Sterne geöffnet.

Die Stimme des Wanderers veränderte sich. Tief und kehlig klang sie nun. Und sie formte keine Worte mehr. Sie erinnerte an das Knurren eines Hundes, der mit gebleckten Fängen und zitternder Rute bereit stand, jemandem an die Kehle zu gehen.

Seine Ordensbrüder und -schwestern drängten sich nun dicht um Lucien. Alle starrten sie zu Jules und Tomasin. Tomasin, der einst versucht hatte, es dem Wanderer in frommem Fasten gleichzutun, stand leicht vorgebeugt. Jules legte ihm beruhigend die Rechte auf den Rücken. Das Gesicht des Ordensbruders war schmerzverzerrt. Er riss den Mund weit auf und würgte, bis ein Faden aus klebrigem, zähem Licht von seinen Lippen troff.

Der dicke Jacques versuchte zu fliehen. Doch eine unsichtbare Wand hielt ihn wie alle anderen gefangen. Seine Fäuste trommelten gegen das Hindernis, bis ihm Blut unter den Nägeln hervorquoll. Er presste sich mit aller Kraft seines massigen Leibes gegen den Zauberwall, doch es war unmöglich zu entkommen.

Lucien streckte die Arme weit aus, als wolle er alle seine Brüder und Schwestern an sich drücken. Jetzt hämmerten auch andere gegen die unsichtbare Gefängnismauer. Doch die meisten standen einfach nur da und starrten. Der Lichtfaden, den Tomasin erbrach, wand sich wie ein Wurm und kroch der Finsternis unter dem goldenen Lichtbogen entgegen.

»Lass meine Kinder gehen!«, rief Lucien verzweifelt. »Was immer du tun musst, nimm mich!« Der Wanderer schien den Abt nicht zu hören. Oder er wollte es nicht. Noch immer knurrte er, während mit Tomasin eine unheimliche Veränderung vor sich ging. Seine Haut begann zu schrumpeln, als altere er mit jedem Herzschlag um ein ganzes Jahr.

Inmitten der Gefangenen erhob sich eine kristallklare Stimme. Mariotte! Sie sang von Tjured, dem Licht, vor dem alle Schatten vergehen mussten. Und die Verzweifelten hoben ihre Häupter. Luciens volltönender Bass schloss sich dem Lied an. Eine dritte Stimme fiel ein.

Guido konnte die Macht des Liedes spüren, das sich gegen die finstere Magie des Wanderers stellte. Der Miniaturenmaler wollte hinab, doch seine Füße verweigerten ihm den Dienst. Sie standen still, als seien sie auf der steinernen Stufe festgenagelt. Selbst seine Zunge gehorchte nicht mehr seinem Willen. Er wollte mit seinen Brüdern und Schwestern singen. Er wollte wenigstens seine Stimme mit den anderen vereinen, wenn er schon nicht bei ihnen sein konnte. Doch auch dieser Trost blieb ihm verwehrt.

Der Wurm aus Licht erreichte das Dunkel. Tomasin hatte seine Augen so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Wie unheimliche Lichter erstrahlten sie in einem Gesicht, aus dem alles Fett geschmolzen war. Jetzt spannte sich seine Haut straff über den Schädelknochen. Sein Kopf erinnerte Guido an die Köpfe längst verstorbener Priester, die er in den steinernen Grüften und den Tempeltürmen der großen Städte gesehen hatte. Doch Tomasin lebte noch. Er versuchte mit verzweifelter Anstrengung seine Arme zu heben. Die Finger griffen nach dem Lichts das aus seinem Leib troff. Sie versuchten vergeblich, es festzuhalten.

Ein hechelnder Laut drang aus der Finsternis jenseits der Pforte aus Licht. Der Schatten wurde lebendig und gebar eine Kreatur, die sich gebückt und lauernd aus der Dunkelheit schob. Schwarz wie eine mondlose Winternacht war sie. Und sie folgte dem Licht, das der Wanderer Tomasin entrissen hatte. Gierig verschlang das Geschöpf der Finsternis den leuchtenden Wurm.

Tomasin hatte es aufgegeben, um sein Lebenslicht zu kämpfen. Seine Kutte war ihm halb von der knochigen Schulter gerutscht. Der stattliche Mann, der Guido noch beim Abendmahl gegenübergesessen hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen.

Eine zweite Kreatur schob sich aus der Finsternis. Eine dritte und vierte folgten ihr in kurzem Abstand. Sie stritten um den Lichtwurm und verschlangen ihn binnen Augenblicken. Zuletzt weinte Tomasin blutige Tränen. Jules löste seinen Bann und ließ den sterbenden Priester zu Boden sinken.

Als die Schattengestalten ihr grausiges Mahl beendet hatten, begannen sie um den großen Kreis zu schleichen, in dem die übrigen Priester gefangen waren. Wo sie versuchten, den Bann zu durchbrechen, griff weißes Licht nach ihren Schattenleibern, und sie zuckten ängstlich zurück.

Jules mieden sie. Guido konnte nicht erkennen, ob sich der Wanderer mit einem Zauber umgeben hatte oder ob etwas an ihm war, das die Kreaturen der Finsternis fürchteten.

Trotzig sangen die Brüder und Schwestern von der Allmacht Tjureds. Guido konnte sehen, dass Mariotte, wie vielen anderen auch, Tränen in den Augen standen. Verzweifelt versuchte er, sich von der Stelle zu rühren. Obwohl er noch immer wie angewurzelt stand, gehorchte ihm zumindest wieder seine Zunge. Er bettelte und fluchte! Er bot Tjured seine Seele zum Tausch gegen das Leben von Mariotte an. Er forderte von Gott, den falschen Ordensbruder in himmlischem Feuer zu verbrennen.

Jules schien mit den Kreaturen zu sprechen. Welchen Pakt schmiedete der Verräter mit der Finsternis? Der Gesang übertönte seine Worte. Nur die Bewegung seiner Lippen verriet, dass er sprach. Und dann deutete er auf den Kreis. Jules zeigte auf Lucien und dann auf Mariotte und zwei andere Ordensbrüder.

Mit einem Ruck, der ihn fast straucheln ließ, kam Guido frei. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hinab. Er konnte jetzt nichts mehr sehen. Schreie mischten sich unter den Gesang. Was geschah dort unten?

Guido schlug hart mit der Schulter gegen den Felsen, als er sich auf der Treppe vertrat. Er stürzte. Die Treppenstufen schlugen ihn grün und blau. Schützend umklammerte er seinen Kopf, als ein letzter, harter Schlag ihm die Luft aus den Lungen trieb.

Benommen blinzelnd sah er sich um. Er war in der Höhle. Zwei Schritt waren es noch bis zum Bannkreis. Die Schatten waren in den weiten Bannkreis eingedrungen. Noch immer sangen die meisten seiner Brüder und Schwestern, die Häupter in verzweifeltem Stolz erhoben. Die meisten von ihnen hatten die Augen geschlossen, um nicht zu sehen, was geschah, wie die Schatten durch die Leiber ihrer Freunde drangen und ihnen das Lebenslicht entrissen.

Guido wollte zu ihnen, doch vor ihm auf dem Boden war ein dünner, roter Strich, wie mit Blut gezogen, und es war unmöglich, ihn zu überschreiten. Ungläubig glitten seine Hände über die unsichtbare Mauer, die glatt und kalt wie Glas war.

Mariotte hatte ihn entdeckt. Ihre warmen, braunen Augen blickten voller Hoffnung, als sehe sie in ihm ihre Rettung. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Der Bann, der sie gefangen hatte, schien gebrochen. Vielleicht, weil die Schatten eingedrungen waren.

Nur wenige Ordensbrüder lebten noch. Die meisten lagen zusammengekrümmt am Boden, entstellt wie Tomasin, das Fleisch von den Knochen gebrannt, ohne dass ihre Haut die kleinste Wunde zeigte.

Mariotte ging wie in Trance. Sie hielt die Arme vorgestreckt. Ein Schatten wirbelte um ihre nackten Füße.

Noch immer sang die Ordensschwester. Der Chor war leiser geworden. Nur Mariotte, Lucien und die beiden anderen Brüder, auf die Jules gedeutet hatte, lebten noch.

Mariotte presste ihre Rechte gegen die unsichtbare Barriere, hinter der Guido ausgesperrt stand. Sie war so nah und doch unerreichbar. Er versuchte ihre Hand zu berühren. Durch den Zauberbann hindurch konnte er ihre Wärme spüren, auch wenn er ihre Hand nicht zu berühren vermochte.

Wie schwarze Nebelschlieren stieg der Schatten an Mariotte empor. Doch sie achtete nicht darauf. Sie hatte aufgehört zu singen. Ihr Blick war fest auf Guido gerichtet, und dann lächelte sie inmitten all des Schreckens. »Ich weiß um deine Liebe.«

Ihre Worte verbrannten ihm die Seele. Verzweifelt hieb er mit den Fäusten auf die Barriere ein. Er trat gegen den Schutzwall und rammte den Kopf gegen die Mauer, bis ihm Blut aus der Nase quoll.

»Ich werde dich retten«, schrie er. »Ich hole dich dort heraus. Ich ....«

»Ich liebe dich auch«, sagte sie leise. Ihre Lippen berührten die Wand. Die schwarzen Schlieren hatten ihr Haupt erreicht. Sie atmete sie ein!

»Nicht, Liebste! Du darfst nicht ...«

Der warme Glanz erlosch in Mariottes Augen. Sie waren noch immer auf Guido gerichtet. Doch jetzt war es etwas anderes, das ihn ansah. Kalt, taxierend, gierig.

»Ich verfluche dich, Gott!«, schrie Guido. »Wo bist du in der Stunde, in der deine Kinder dich brauchen, Tjured? Was haben wir dir getan, dass du ein so schreckliches Strafgericht mit uns hältst?«

Mariottes Lippen wölbten sich vor, als wolle sie ihn küssen. Doch unter dem weichen Fleisch waren jetzt Fänge wie von einem Wolf zu sehen. Ein hechelnder Laut begleitete die obszöne Geste und ein Knacken, das einem das Blut gefrieren ließ. Guido konnte sehen, wie sich die Fänge weiter aus dem Kiefer schoben. Unter ihrer Haut wand sich etwas, als säßen fingerdicke Würmer in ihrem Fleisch. Ihr Leib sackte nach vorne. Immer schneller veränderte sie sich. Arme und Beine wurden dünner und länger. Ihr Rücken wölbte sich. Die blaue Kutte zerriss.

Lucien und die beiden anderen Brüder machten eine ähnliche Verwandlung durch. Schließlich hatten sie alle die Gestalt riesiger Hunde angenommen. Groß wie Pferde waren sie, doch hagerer. Kurzes weißes Fell bedeckte die ausgezehrten Leiber. Jules Geschöpfe umspielte ein blauweißes Licht. Man konnte durch sie hindurchsehen, manchmal zumindest. Denn hin und wieder schienen sie auch aus Fleisch und Blut zu sein.

Geifer troff von ihren langen Schnauzen, in denen mörderische Reißzähne blitzten. Ihren gierig funkelnden Augen war anzusehen, dass ihr Hunger nach dem Lebenslicht der Sterblichen noch lange nicht gestillt war.

»Warum?«, flüsterte Guido, der immer noch nicht fassen konnte, was geschehen war.

Der Wanderer sah ihn freundlich an. »Weil sie nun nützlichere Diener für mich sind. Es ist an der Zeit, Furcht und Schrecken in die Welt der Elfen zu tragen. Ihr seid die Geißeln Tjureds. Hätte ich euch als blau gewandete Priester geschickt, die Elfen hätten euch verlacht. Doch so werden sie die Furcht kennen lernen. Ihre Schwerter und Pfeile können euch nichts mehr anhaben.«

»Was hier geschehen ist, kann nicht Tjureds Wille sein!« Guido vermochte dem Wanderer nicht länger ins Gesicht zu blicken. Was für ein Geschöpf der Finsternis hatte sich in die Reihen der Priester geschlichen? Wie hatte das geschehen können? Und wie konnte Gott solchen Frevel dulden?

»Du kennst also den Willen Gottes, Guido?« sagte Jules herausfordernd.

»Zumindest weiß ich, was nicht sein Wille sein kann.«

»Wusstest du, dass Lucien falsches Zeugnis über den Tod des heiligen Guillaume ablegte? Er behauptete, dabei gewesen zu sein, als Guillaume starb. Und mit seinen Lügen verdrehte er die Wahrheit in ihr Gegenteil.« Guido schwindelte es. Er sollte getäuscht werden!

»Immer wieder, wenn ich dieses Refugium besuchte, habe ich mit dem Abt über dessen Wahn gesprochen. Doch Lucien war verstockt. Er bestand darauf, Lügen über den Tod unseres bedeutendsten Heiligen zu verbreiten. Ja, er behauptete sogar, er habe teilgehabt am Tod von Guillaume. Und die Elfen seien gekommen, um Guillaume zu retten.« Jules lachte. »Verrückt! Alles was geschah, hat er ins genaue Gegenteil verkehrt!«

Guido vermochte den Blick nicht von all den Toten zu wenden. Manche hatten sich bei den Händen gehalten oder aneinander geklammert, als sie gestorben waren. »Das kann nicht Gottes Wille sein«, sagte er noch einmal. »Tjured ist voll der Gnade!«

»Das ist er«, bestätigte Jules. Er stieg über Tomasins Leiche hinweg und packte Guido bei den Armen. »Deshalb hat er mich dreimal geschickt, um mit Lucien zu reden und auf ihn einzuwirken. Selbst heute habe ich es noch einmal versucht.« Er schob Guido eine Hand unter das Kinn und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. So schöne, blaue Augen. »Was wäre, wenn ich das Schwert Gottes bin, Bruder Guido? Was wäre, wenn Tjured mich geschickt hätte, den letzten Überlebenden der Mörder des heiligen Guillaumes zu strafen, weil dieser beschlossen hatte, sich seiner Bluttat zu brüsten?«

»Dann hättest du neunundzwanzig Unschuldige getötete!«

Guido machte sich los und trat einen Schritt zurück. »Warum musste Mariotte sterben, wenn du Lucien strafen wolltest? Und warum Jacques und Tomasin und all die anderen?«

»Weil Gott in seiner unergründlichen Weisheit beschlossen hat, dass das Gift von Luciens Lügen schon zu lange auf sie eingewirkt hat, sodass er sie ihres Leibes berauben musste, um ihre Seelen retten zu können. Ich bin das Richtschwert, Guido. Doch das Todesurteil hat Lucien gesprochen, als er anfing, sie zu verblenden.« Die blauen Augen blickten ihn unerbittlich an.

»Bist auch du ein Verblendeter, Guido?«

Der Bruder wusste nicht, was er noch glauben sollte. Er zitterte am ganzen Leib. Auch wenn Jules die Wahrheit sagte, so war die Strafe zu hart. Das war nicht das Urteil des Gottes, an den er glauben wollte.

»Nun?«

Einer der geisterhaften Hunde stieß ein heiseres Bellen aus. Seine Hinterläufe knickten zur Seite. Die Pfoten strampelten hilflos, während er sich mit den Vorderläufen noch vorwärts zu schleppen versuchte.

Jules wandte seinen eisigen Blick ab.

Jetzt brach ein zweiter Geisterhund zusammen. Seine Brust wölbte sich wie der Blasbalg eines Schmiedes. Die Rippen brachen durch das bleiche Fleisch, und etwas Schwarzes quoll aus dem Hundeleib.

Der Wanderer trat zu den verbliebenen beiden Hunden. Einer von ihnen hatte Mariottes Augen. Guido hätte jeden Eid geschworen, dass es jetzt wieder Mariotte war, die ihn ansah, so traurig waren diese Augen. Zuckend erbrach der Geisterhund einen Schatten, der sich windend in die Finsternis der Lichtpforte zurückkroch. Alle vier Hunde verendeten. Stille herrschte im Allerheiligsten.

Rastlos ging Jules von einem Kadaver zum nächsten. Dabei achtete er nicht darauf, ob er auf die Leichen der Ordensbrüder trat. »Ihre Seelen waren zu schwach«, sagte er und blickte zu Guido, als müsse dieser verstehen, wovon er sprach. »Sie konnten die Yingiz nicht halten. Es war vergebens.«

»Was war vergebens?«

»Der Tod deiner Brüder und Schwestern«, entgegnete Jules kühl. »Ihr Sterben hat nicht seinen göttlichen Zweck erfüllt.«

Blinde Wut packte Guido. Was sollte das heißen? Das Gott sich irren konnte? Dass dieses Massaker ein Irrtum war? Mit einem Wutschrei warf er sich auf Jules. Seine Fäuste schlugen auf das Gesicht des Ordensbruders ein. Unter seinen Hieben platzte Jules Lippe auf. Mit einem lauten Knacken brach sein Nasenbein. Blut rann ihm über Lippen und Kinn.

Ein Wort ließ Guido versteinern. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn gefangen und hob ihn hoch, sodass gerade noch seine Zehenspitzen den Boden berührten.

Jules strich sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Lippen waren augenblicklich verheilt und die Nase wieder gerichtet. Nur das Blut blieb zurück. »Du wünschst dir, bei ihnen zu sein, nicht wahr?« Er machte eine abfällige Geste in Richtung der Toten.

»Diesen Wunsch werde ich dir nicht erfüllen.« Der Wanderer spuckte Blut und Schleim auf seine Handfläche. Er flüsterte ein Wort, das die Kerzenflammen erzittern ließ. Sein Auswurf verwandelte sich in bleiches Gewürm. Dann blies er über seine Hand, und die Würmer verschwanden.

Guido fühlte einen leichten Schmerz tief hinter seiner Stirn.

»Ich schenke dir dein Leben, Miniaturenmaler, und eine Aufgabe. Du glaubst, ich bin eine Gefahr für meine Kirche? Finde einen Weg, mich aufzuhalten! Doch wenn du von dem sprichst, was heute geschah, dann werden die Würmer in deinem Kopf von deinem Verstand fressen, und du wirst so unerträgliche Schmerzen erleiden, dass du augenblicklich mit Schaum vor dem Mund zu Boden stürzt. Und hebst du eine Hand, um niederzuschreiben, was hier geschah, wird dich nämliches Schicksal ereilen.«

»Was heißt das, deine Kirche?«

»Du begreifst immer noch nicht?« Seine Stimme klang jetzt warm und mitfühlend. Er war wieder ganz zu jenem Jules geworden, den alle Brüder und Schwestern des Refugiums geliebt hatten. »Weißt du, Guillaume war mein Sohn. Und die Elfen hatten seinen Tod beschlossen. Die Geschichte, die dir Luden erzählt hat, stimmt. Es waren nicht die Elfen, die Guillaume in Aniscans ermordeten. Doch ihre Königin hatte seinen Tod befohlen. Und wären ihnen nicht die verblendeten Soldaten König Cabezans zuvorgekommen, sie hätten ihren Befehl ausgeführt. Du kennst sie nicht, die Elfen. In ihren Herzen herrscht eine Kälte, die selbst mich schaudern macht. Sie sind viel schrecklicher, als du sie auf deinen Bildern zeigen kannst. Sie zu vernichten und mit ihnen die ganze Albenbrut, das ist der Sinn meines Lebens. Und meine Kirche wird dabei meine schärfste Waffe sein. Du weißt, ich bin in allen Refugien und Tempeltürmen ein gern gesehener Gast, Guido. Und du ahnst, ich bin kein Mensch. Ich messe mein Leben in Jahrhunderten, und ich werde die Tjuredkirche formen. Vor fünfzig Jahren waren die Elfen für deine Ordensbrüder ohne Bedeutung. Heute hasst ihr sie, weil sie den heiligen Guillaume ermordeten. Sieben meiner Kinder tragen heute das Blau deines Ordens, und sie werden bedeutende Kirchenfürsten werden. Ihr werdet so sein, wie ich euch brauche. Und keiner ahnt es außer dir. Flüchte dich in den Tod, und niemand wird mich aufhalten. Oder lebe und finde einen Weg, der die Würmer in deinem Kopf nicht weckt.«

Er stieß Luciens Leichnam zur Seite. »Letzten Endes habe ich ihnen einen Gefallen getan. Ihr träumt doch alle davon, Märtyrer und Heilige zu werden. Ich denke, ich werde sie in das Licht der Tempelfenster erheben. Die dreißig Märtyrer vom Mons Gabino. Das klingt nicht schlecht, oder? Meine Kirche wird ihre Namen bis ans Ende aller Tage tragen.« Er sah sich um und strich sich über das Kinn. »Man sieht, dass sie die Opfer finsterer Magie wurden. Dies ist wohl eindeutig die Tat ruchloser Elfen.«

»Das werde ich nicht zulassen!«, begehrte Guido auf. »Ich werde allen erzählen ...« Brennender Schmerz ließ ihn aufstöhnen.

»Hatte ich dir gesagt, dass die Würmer in deinem Kopf tatsächlich jedes Mal, wenn du sie weckst, ein klein wenig von deinem Hirn fressen? Sie werden dich zu einem sabbernden Idioten machen, zu dumm, sein Wasser zu halten, wenn du sie allzu oft weckst.«

»Warum tötest du mich nicht einfach?«

»Eine gute Frage. Eigentlich ist es leichtfertig, dich ziehen zu lassen. Vielleicht lebst du, weil sich einunddreißig Märtyrer nicht so gut anhört wie dreißig Märtyrer. Das ist eingängiger. Vielleicht lebst du auch, weil ich ein Spieler bin und ein allzu leichter Sieg keinen Reiz für mich hat.« Jules löste seinen Zauberbann, sodass Guido nun kraftlos zu Boden sank. Noch immer quälte ihn pochender Schmerz. Er presste sich die Hände fest auf die Schläfen und betete.

Als die Qual endlich nachließ und er wieder aufsah, war er allein mit den Toten.

»Er ist nicht tot«

Die Spitze des Schwertes berührte sie leicht an der Kehle. Obilee wich einen Schritt zurück und ließ ihre eigene Waffe sinken.

»Ich lerne es niemals.« Sie hätte das hölzerne Übungsschwert am liebsten gegen die Wand geworfen, doch sie versuchte ihre Gefühle in sich zu verschließen. Rasch blickte sie zur hohen Decke des Fechtsaals, damit die Königin nicht in ihren Augen lesen konnte. Sie beide waren allein in dem riesigen Saal.

Weiches Morgenlicht fiel durch die Fenster und umschmeichelte die Waffen an der gegenüberliegenden Wand. So dicht hingen sie, dass der Marmor der Wand fast völlig hinter dem Stahl verschwand. Es war ein regelrechtes Arsenal, groß genug, um ein kleines Heer auszurüsten. Die Trophäen aus Jahrhunderten der Kriege.

Ganz am Ende dieser Galerie blutiger Erinnerungen schwebte ein Kobold in einem Weidenkorb. Obilee hatte mit dem kleinen Kerl schon ein paarmal gesprochen, konnte sich aber nicht an dessen Namen erinnern. Vielleicht hatte er ihn auch nicht genannt. Kobolde waren, was ihre Namen anging, mitunter recht eigen. Er kannte die Geschichte jeder der Klingen, seien es nun die geflammten Klingen der Elfen aus Langollion, die großen Doppeläxte der Minotauren oder die Stockdegen Arkadiens. Dabei kämpfte er seine ganz eigene Schlacht gegen Staub und Rost. Es war seine Lebensaufgabe, die Waffen blank zu halten, und er lebte in einer winzigen Kammer gleich hinter der Wand. Die verborgene Pforte zu seinem Heim lag hinter einem vom Kampf gezeichneten Drachenschild. Er gehörte zum Fechtsaal wie die Waffen, und er war glücklich, wenn er jemanden fand, dem er von seinen Siegen über den Schmutz, Grünspan und heimtückischen Flugrost erzählen konnte.

»Nimm dir diesen Treffer nicht zu Herzen, Obilee. In einem Kampf mit scharfen Waffen wäre das ein sehr ungeschickter Treffer gewesen.« Die Königin sah sie herausfordernd an. »Du weißt, warum?«

»Weil ein Schnitt durch die Kehle an dieser Stelle die große Ader durchtrennt, durch die das Blut vom Herzen zum Kopf fließt. Das Blut würde aus der klaffenden Wunde spritzen, und es bestünde die Gefahr, dass man Blutspritzer in die Augen bekommt. In einer Schlacht könnte ein Sieg, den ich damit bezahle, kurz geblendet zu sein, meinen Tod bedeuten.«

Emerelle nickte wohlwollend. »Sehr gut. Wenn du einen Angriff gegen den Hals deines Gegners führst, sollte es deshalb ein Stich sein und kein Schnitt. Solche Wunden bluten weniger stark. Ideal ist der Stich direkt unter das Kinn, der durch die Mundhöhle hinauf ins Gehirn führt. Er tötet augenblicklich, ist allerdings nur gut gegen größere Gegner zu führen wie etwa Trolle.«

Obilee überlief ein Schauder. Die kühle Art, in der Emerelle vom Ende eines Lebens sprach, machte ihr zu schaffen. Manchmal hatte sie die Befürchtung, dass die Königin den geheimen Plan verfolgte, sie zu ihrer Schwertmeisterin zu machen. So viele Jahre war Ollowain nun schon verschwunden. Emerelle konnte nicht mehr lange zögern. Die Raubzüge der Trolle wurden immer dreister. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie einen regelrechten Kriegszug ins Windland unternehmen würden, und dann brauchte sie einen Heerführer.

»Du siehst niedergeschlagen aus«, bemerkte Emerelle.

»Nimmst du dir den Ausgang dieses kleinen Geplänkels so sehr zu Herzen, oder ist es etwas anderes, was dich bedrückt?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich zur Kriegerin berufen bin. Ich bewege mich so ungeschickt ... Und ich weiß nicht, ob ich jemanden töten kann.«

»Vielleicht sind es gerade diese Zweifel, die ich an dir schätze. Eine ritterliche Elfenkriegerin nimmt niemals leichtfertig ein Leben. Wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, dann wird es kein Geschöpf in Albenmark geben, das du nicht zu töten vermagst. Aber deine eigentliche Aufgabe besteht darin, Leben zu schützen. Du wirst für jene eintreten, die sich nicht mit der Waffe verteidigen können. Für viele Jahre wirst du eine fahrende Ritterin sein.

Schwert und Schild der Wehrlosen, die auf keine andere Hilfe hoffen dürfen als auf die eines Elfen, der sich ihrer Sache annimmt. Du wirst die kälberstehlenden Riesenwelse von Manchukett jagen und selbst mit verbundenen Augen die giftigen Pfeile der Gorgonen aus Nashrapur abwehren können. Du wirst den Ruhm der Elfenvölker mehren, die immer schon das Licht der Unterdrückten waren.«

Wenn Emerelle so redete, konnte Obilee nur an eines denken. Wenn sie fahrende Ritterin wurde, dann würde sie nicht hier sein, wenn der eine zurückkehrte, dem sie ihr Herz verschrieben hatte. Er, dessen rebellische Suche nach der verbannten Magierin Noroelle zu einer Legende unter den Elfenvölkern zu werden begann. Er, der sein Leben der Liebe zu einer anderen gewidmet hatte und der wohl niemals bemerken würde, wie viel er ihr bedeutete.

»Du bist heute weit fort mit deinen Gedanken. Es ist besser, wir beenden die Übungsstunde. Zur Mittagszeit erwartet dich Elodrin von Alvemer. Er hat es immer noch nicht aufgegeben, dich in die höheren Weihen des Falrach-Spiels einführen zu wollen.« Emerelle lächelte milde.

»Verzeih mir. Ich erlaube mir diesen Spott, weil auch ich nicht gegen Elodrin bestehen könnte.« Die Königin knöpfte die gesteppte Weste auf, die sie während jeder ihrer Fechtstunden trug. Sie hätte der Schutzkleidung nicht bedurft. In all den Jahren, in denen sie nun schon die hölzernen Klingen kreuzten, hatte Obilee die Herrin Albenmarks nicht ein einziges Mal getroffen. Die meisten Albenkinder kannten Emerelle nur als ihre unnahbare Königin, doch einst war auch sie eine fahrende Ritterin gewesen, und in den Drachenkriegen hatte sie zuletzt die vereinten Heere der Elfenfürsten angeführt. Noch immer übte Emerelle jeden Tag im Fechtsaal. Sie war eine Meisterin in der Kunst des Schattenfechtens. Obilee hatte ihr oft zugesehen, wenn sie mit der Klinge in der Hand durch den weiten Fechtsaal wirbelte wie eine Tänzerin, die einer Melodie folgte, die nur sie allein zu hören vermochte. Es gab nur eine Hand voll Elfen, denen Emerelle das Privileg gewährte, den Fechtsaal zu betreten, wenn sie dort tief in der Nacht oder während der ersten Morgenstunden übte.

Manchmal fragte sich Obilee, ob die Königin versuchte, Noroelles Platz auszufüllen. Die Elfenmagierin war einst Obilees Freundin und Lehrerin gewesen.

Emerelle schenkte Wasser in einen Kristallkelch und bot ihn ihr an. Ein Schatten glitt durch den Raum, so wie manchmal an hellen Sommertagen die Schatten der Wolken über Land ziehen. Obilee zuckte zusammen. Nach all den Jahren hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt.

»Wenn Ollowain zurückkehrt, werde ich ihr Gefängnis im Nichts wieder versiegeln.« Die junge Kriegerin blickte zu ihrer Königin auf. Niemand wagte es, Emerelle direkt darauf anzusprechen, doch Ollowain war seit mehr als sieben Jahren verschollen, und auch die Krieger, die man ausgeschickt hatte, um nach ihm zu suchen, waren nie zurückgekehrt. Es gab keine Nachrichten mehr aus der Bibliothek von Iskendria. Dafür machte das Gerücht die Runde, der Hort des Wissens sei vom Nichts verschlungen worden. Wer wusste schon, was in der Zerbrochenen Welt geschah, wenn es den Yingiz sogar gelang, in den Palast der Königin einzudringen.

»Kann denn nur der Schwertmeister die Schatten töten?« Obilee mied es, den Namen der Yingiz auszusprechen, denn sie fürchtete so die Aufmerksamkeit der Schattengestalten auf sich zu lenken.

»Niemand vermag sie zu töten«, entgegnete die Königin in ungewohnter Offenheit. »Nicht einmal die Alben können das. Deshalb haben sie die Yingiz ins Nichts verbannt. Dort können sie kaum Schaden anrichten.«

Obilee sah ihre Königin mit schreckensweiten Augen an. »Wir werden die Schatten also für immer erdulden müssen?«

Emerelle wiegte sanft ihr Haupt. »Ich hoffe nicht. Ich vermag der Yingiz mit meiner Zauberkraft habhaft zu werden. Ich kenne sie. Es sind sieben, die um den Palast ihr Unwesen treiben, und es ist seit mehr als zwei Jahren kein neuer Schatten mehr hinzugekommen. Auch entfernen sie sich nie weiter als ein paar Meilen. Das Licht zieht sie an ... Oder vielleicht bin ich es. Sie verschlingen das Lebenslicht ihrer Opfer, wenn sie mächtig genug werden. Manchmal glaube ich, dass sie es auf mein Lebenslicht abgesehen haben. Dass ich ihre Trophäe bin. Deshalb verlasse ich die Burg nicht mehr.«

Dafür gehen alle anderen, die einen Grund finden, sich davonzumachen, dachte Obilee. Erst letzte Woche hatte Meister Alvias seine Tochter nach Alvemer geschickt. Sie erwartete ein Kind, und der Hofmeister, der sonst zu den Treuesten der Treuen zählte, konnte den Gedanken nicht ertragen, dass der Schatten der Yingiz auf den erblühten Leib seiner Tochter fiel. Er schämte sich für diesen vermeintlichen Verrat, das hatte er Obilee anvertraut. Aber letztlich hatte ihn das nicht davon abgehalten, seiner Tochter die Reise zu befehlen.

»Warum wirfst du die Schatten nicht zurück ins Dunkel, wenn du sie mit deiner Magie zu fangen vermagst, Herrin?«

Emerelle strich mit einem Finger über den Rand des Pokals, den die junge Elfenkriegerin wieder abgestellt hatte. Ganz in Gedanken versunken, lauschte sie dem klagenden Laut des Glases. »Es wäre ein Fehler, sie zurück ins Nichts zu bannen, solange der verlorene Strang im Netz der Albenpfade nicht wiederhergestellt ist. Bis jetzt finden die Yingiz nur zufällig aus ihrem Gefängnis in unsere Welt. Doch was wird geschehen, wenn ich jene zurückschicke, die hier waren? Sie kennen den Weg nach Albenmark. Werden sie ganze Heerscharen hierher bringen? Niemand weiß, wie viele Yingiz es gibt. Sind es genug, um eine ganze Welt in Schatten zu tauchen? Und wächst ihre Macht, wenn sie in großer Zahl kommen? Wenn Ollowai wiederkehrt, dann wird er mir Antwort auf diese Fragen bringen.«

»Und wenn er nicht wiederkehrt? Er ist nun schon so viele Jahre verschwunden.« Niemand hatte es bisher gewagt, dies in Gegenwart der Königin offen auszusprechen. Man stellte Emerelles Entscheidungen nicht in Frage, es sei denn, man war bereit zu riskieren, in die Verbannung geschickt zu werden. Doch hatten jene, die den Schatten zum Trotz noch im Palast ausharrten, nicht ein Recht darauf zu erfahren, wie es weiterging? Manche munkelten schon, Emerelle habe sich immer noch nicht von den schweren Verletzungen erholt, die sie in Vahan Calyd erlitten hatte. Fast einen Winter lang war sie bewusstlos gewesen, und manche waren der Meinung, sie sei auch jetzt noch wie erstarrt.

»Er wird zurückkehren«, sagte Emerelle leise und in sich gekehrt.

»Aber wie kannst du dir da so sicher sein?« Die Königin sah auf, und ihr Blick war wie der einer Sphinx, undeutbar und geheimnisschwanger. Es war unmöglich, an ihren Augen abzulesen, was sie wohl denken mochte. »Du wagst dich weit vor.«

Obilee presste die Lippen zusammen. Jemand hatte diese Frage stellen müssen. Sie würde sich nicht dafür entschuldigen, es getan zu haben.

»Er ist nun seit sieben Jahren, zwei Monden und dreizehn Tagen fort.« Die Königin lächelte scheu. »Und siebzehn Stunden. Niemand in ganz Albenmark erwartet seine Rückkehr so wie ich.«

Die junge Elfe war überrascht, ja fast erschrocken. Es war nicht Emerelles Art, so offen zu sein. Noch nie hatte Obilee erlebt, dass ihre Herrin ihre Gefühle verriet.

Die Königin legte ihre Rechte auf die Brust, dort, wo ihr Herz schlug. »Ich kann ihn fühlen.« Ihr Blick wurde nun weicher.

»Ich weiß, dass er lebt, auch wenn ich nicht in Worte zu fassen vermag, warum es so ist. Ich spüre ihn. Seine Gedanken. Sein Wesen.« »Ist es seine Seele, die du an dich gebunden hast?«, fragte Obilee erschrocken.

Jetzt lachte Emerelle. »Nein. Vielleicht hat er einen Teil meiner Seele mit sich genommen. Vor Jahrhunderten schon.«

»Ihr wart einst ein Paar?«, fragte Obilee, alle Etikette vergessend.

»Vor sehr langer Zeit. Er gab sein Leben für mich. Seitdem warte ich auf ihn.«

»Und er wurde erst so spät wiedergeboren? Oder hat er dich...«

Emerelle senkte den Blick. »Ich hoffe noch darauf.«

Die junge Elfe verstand. Emerelle hatte bei Hof ihre Gefühle gegenüber Ollowain bislang gut verborgen. Doch nun erschien manches in einem neuen Licht. Der schnelle Aufstieg Ollowains hatte wohl nicht allein mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten zu tun. Und seine Treue gegenüber Emerelle, die schon legendäre Züge annahm, bekam einen tragischen Beiklang. Ahnte seine Seele etwas, das sich seinen Gefühlen nicht erschlossen hatte? Gab es ein Gedächtnis der Seele, das mit Erinnerungen nichts zu tun hatte, aber dennoch das Leben bestimmte? Man sprach einen Wiedergeborenen nicht auf seine alten Bande an. Dies gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen unter allen Elfenvölkern. Die Verbliebenen erwarteten jene, die sich wieder in Fleisch kleiden würden, weil sie nicht den Weg ins Mondlicht gefunden hatten, aber man beschwerte das Leben der Wiedergeborenen nicht mit ihrer Vergangenheit. Und unter Liebenden war es auch oft so, dass man wieder erkannt werden wollte. Dass man darauf hoffte, die Liebe sei etwas Unsterbliches. Meist erinnerten sich die Wiedergeborenen jedoch nicht an ihr früheres Leben. Sehr selten vernahm man Geschichten um eine Liebe, die den Tod überdauerte, auch wenn ein Abgrund aus Jahrhunderten das Paar trennte. Nur wenn zwei Seelen sich so nahe gekommen waren, dass sie wie eine wurden, dann konnten sie wieder zueinander finden, so hieß es.

Obilee fragte sich, wie oft der Schwertmeister wohl schon wiedergekehrt war und Emerelle nicht erkannt hatte. Die verletzliche Scheu, mit der die sonst so unnahbare Königin reagierte, erschien ihr ein Hinweis darauf, dass Ollowain wohl nicht der erste Leib war, in dem die alte Seele von Emerelles Geliebtem zurückkehrte.

»Wenn er lebt, dann empfinde ich die Last der Jahrhunderte als weniger drückend. Mit ihm wird ein Stück meiner Jugend wieder lebendig. Er war mein Gefährte, als ich eine fahrende Ritterin war. Damals waren Recht und Gerechtigkeit so einfach zu finden. Man kämpfte für einen Einzelnen oder eine kleine Gemeinschaft. Alles war überschaubar. Du wirst sehen, es gibt weniges, das einen so zufrieden macht, wie dem Unrecht einen Sieg abzuringen. Heute ist alles unendlich viel schwerer geworden. Ich bin Schild und Schwert einer ganzen Welt. Ich habe tausende Zukünfte Albenmarks in meiner Silberschale gesehen. Ich war Zeugin von Schrecken, die du dir nicht einmal vorstellen könntest. Und der Grat zwischen Recht und Unrecht ist schmal wie eine Messerklinge geworden, sodass ich mich mit jedem Schritt verletze, den ich gehe. Manchmal denke ich, wäre ich noch eine fahrende Ritterin, ich würde die Emerelle bekämpfen, die auf dem Thron Albenmarks sitzt. Vielen erscheine ich als eine Tyrannin. Vielleicht ist es der Fluch der Silberschale, der mich eines Tages zerbrechen wird. Ich kämpfe nicht mehr nur für die Lebenden, nein, meine Sorge muss auch den ungezählten Legionen derer gelten, die geboren sein wollen. Wie soll ich jenen, die sich beklagen, ich hätte ihnen ein Unrecht getan, begreiflich machen, dass ich Gerechtigkeit für ihre Urenkel geübt habe? Das will niemand hören. Ich kenne keinen anderen Wert, der so wandelbar ist wie die Gerechtigkeit. Keines der Elemente, von denen uns die Alchimisten erzählen, ist so flüchtig und wandelbar. Wie übt man Gerechtigkeit für ein Schaf, dessen Lämmer gerissen wurden? Indem man den Wolf tötet? Ist es nicht ungerecht, den Wolf zu verurteilen, weil er tat, wozu er erschaffen wurde? Ich versuche so zu herrschen, dass es möglichst vielen der Geschöpfe Albenmarks möglichst gut geht. Ich wahre Frieden, indem ich mit aller Härte die Gesetze verteidige, die uns einst von den Alben gegeben wurden. Niemand steht über diesen Gesetzen. Nicht einmal ich. Deshalb hatte ich keine andere Wahl, als Noroelle zu bestrafen, als sie ihr Dämonenkind in die Welt der Menschen brachte. Du weißt, dass sie lange meine Vertraute war und mir so nahe stand wie kaum eine Zweite.«

Selbst jetzt nach all den Jahren musste Obilee gegen ihre Tränen ankämpfen, wenn sie daran dachte, wie Noroelle verbannt worden war. In einem der Splitter der Zerbrochenen Welt gefangen zu sein, war eine Strafe, die grausamer war als der Tod. Wenn Elfen starben, gingen sie ins Mondlicht, oder sie durften darauf hoffen, eines Tages wiedergeboren zu werden. Doch niemand wusste, was mit jenen geschah, die in der Zerbrochenen Welt ihr Leben ließen. Es hieß, dass die Seelen dort gefangen waren oder sogar im Nichts vergehen mussten. Der Tod verhieß dort keine Hoffnung auf Erlösung. Die Seelen verloschen wie eine Kerze, die ein plötzlicher Windstoß löschte.

»Auch ich trauere um Noroelle«, sagte die Königin schwermütig. »Sie hat eine Lücke hinterlassen, die niemand zu schließen vermag. Es ist die Bürde eines langen Lebens, zu viele solcher Wunden in seinem Herzen zu tragen. Manchmal wird die Sehnsucht, vor allem zu fliehen, schier unerträglich. Es gibt wenig Trost, die Welt für jene zu retten, die nicht einmal geboren sind. Sie sind wie eine Zahl, eine vage Vorstellung. Man hegt kein tiefes Gefühl, das mit denen verbunden ist, die noch leben werden, außer vielleicht Verantwortung. Es sind die Augenblicke, in denen ich mein Dogma, Gerechtigkeit für möglichst viele zu üben, insgeheim umkehre. Ich stelle mir dann vor, die Zukunft für ...« Sie brach abrupt ab.

Obilee blickte sie forschend an. Hatte sie etwas getan, was die Königin beleidigte? Emerelle hielt die Augen geschlossen. Ihre Rechte ruhte noch immer auf ihrem Herzen. Alle Anspannung war aus ihrem Antlitz gewichen. »Fast hätte ich seinen wahren Namen genannt«, sagte sie leise. Dann sah sie Obilee durchdringend an. »Schon lange nicht mehr habe jemandem mein Innerstes offenbart, Obilee. Du weißt nun mehr um mich als selbst Noroelle. Lass deine Lippen das Siegel meiner Geheimnisse sein.«

Obilee fühlte sich betrogen. So viel Emerelle ihr auch offenbart hatte, das letzte Geheimnis behielt sie für sich. Die junge Elfe rang mit sich. Durfte sie es wagen, noch mehr zu fordern? Lieber wäre sie unwissend geblieben, als nur einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen. »Wenn du mich etwas lehren wolltest, Herrin, dann sag mir auch alles. Was stellst du dir vor, wenn du dein Dogma der Gerechtigkeit umkehrst?«

Das Lächeln Emerelles veränderte sich. Es wich zwar nicht von ihren Lippen, doch ihre Augen erreichte es nicht mehr. Sie wirkten kühl. Forschend. »Du wirst eine gute fahrende Ritterin werden, denn du wagst es, unbequeme Fragen zu stellen. Dabei ist die Wahrheit ein fast genauso unbeständiger Stoff wie die Gerechtigkeit. Ich denke an den, den du als Ollowain kennst, wenn ich für die Zukunft Albenmarks kämpfe. In Wahrheit gibt er allein mir die Kraft. Wenn man ehrlich ist, dann will man die Welt immer nur für Einzelne verändern. Nicht für Völker. Zumindest gilt das für mich. Ich stelle mir vor, dass Albenmark immer noch der Ort sein sollte, für den wir einst gekämpft haben, als ich noch eine fahrende Ritterin war und er mich begleitete. Dies soll mein Geschenk an ihn sein, wenn er eines Tages zu unserer Liebe zurückfindet. Wann immer das sein mag.«

Obilee empfand die Antwort als unbefriedigend. Durfte eine unerfüllte Liebe zum Maß für eine ganze Welt werden? Woran maß man Gerechtigkeit? War es da nicht besser, möglichst vielen ein möglichst gerechtes Leben schenken zu wollen? Die Kriegerin war froh, nicht an Emerelles Stelle zu sein. Zugleich war sie sich sicher, dass sie anders entschieden hätte.

»Zweifelst du nun an mir?«, fragte die Königin spöttisch. »Ich rate dir, beurteile meine Taten nicht, Obilee. Das ist so, als hättest du auf einem staubigen Weg, der sich in der Ferne verliert, einen einzelnen Stein aus einem Mosaik gefunden und glaubtest, du könntest dir das Bild vorstellen, zu dem er gehört. So sehr du nun vielleicht vom Gegenteil überzeugt sein magst, du kennst mich nicht. Ich werde weiterhin für Ollowain kämpfen, denn auch, wenn er seit sieben Jahren verschollen ist, spüre ich ihn noch. Er ist nicht tot!«

In Emerelles letzten Worten vermeinte Obilee einen merkwürdigen Unterton zu hören. Würde die Königin jemals anerkennen, dass ihr Geliebter tot war? Würde sie nicht immer darauf beharren, dass er vielleicht zurückkehrte? Und konnte es sein, dass der Mann, dessen Liebe sie einst teilte, schon lange gestorben war, auch wenn seine Seele wieder und wieder nach Albenmark zurückkehrte? Sie sah Emerelle plötzlich mit anderen Augen. Hatten jene, die sie eine Tyrannin nannten, vielleicht sogar Recht? Zugleich empfand Obilee aber auch tiefes Mitleid mit ihrer Herrin. Dann dachte sie an das, was Emerelle über den Stein aus dem Mosaik gesagt hatte.

Die Königin hatte sich erhoben und deutete mit dem Übungsschwert auf sie. »Steh auf, Obilee. Ich möchte dir noch eine Lektion erteilen, bevor ich in den Thronsaal zurückkehre.«

Friedlos

»Ich lasse das Gift der Melancholie zu Tinte werden und banne es auf ein Stück fein gegerbte Rindshaut, wenn ich dir schreibe, mein verlorener Freund. Mir wird die Brust eng um mein Herz, wenn ich an dich denke, Ollowain. Fünfzehn Jahre sind verstrichen, seit ich dich das letzte Mal sah, in jenem Winter des Blutes, den die Skalden heute poetisch Elfenwinter nennen. Ich denke oft an dich, mein Freund. Manche sagen, du seiest tot. Doch ich kann mir keinen Gegner vorstellen, der dich hätte bezwingen können, Schwertmeister. Für mich bist du immer so unbesiegbar geblieben, wie du es als mein Fechtmeister warst, in jenen fernen Tagen, als ich ein Kind war und allein am Hof von Albenmark. Der einzige Mensch in einer fremden Welt. Und du warst damals mein einziger Freund. Auch denke ich oft an die Jahre, als wir gemeinsam mit meinem Vater nach Noroelles Sohn suchten. Heute könnte ich ihn wohl besser verstehen, jenen Mandred Torgridson, der mich, seinen Sohn, an die Elfenkönigin verschenkte. Das Fjordland ist aus der Asche des Krieges wieder auferstanden. Es ist ein starkes Königreich. So stark, dass unsere Nachbarn über uns spotten und sagen: Alle Königreiche hätten einen Heerhaufen, der ihm dient, so wie es sich gehört, nur das Fjordland nicht. Dies sei ein Heerhaufen mit einem Königreich, das ihm dient. Ich wünschte, es wäre anders! Doch die Trolle lassen uns nicht in Frieden. In jedem Frühling kommen sie aus dem eisigen Norden. Sie rauben Vieh, brennen einsame Gehöfte nieder und schlachten die Bauern. Dir brauche ich nicht zu sagen, was sie mit ihnen tun. Wir haben es beide gesehen.

Mein Leben ist einsam ohne dich, mein Freund. Dies mag seltsam klingen, bin ich doch als König fast immer von Leuten umgeben. Aber einen Freund wie dich habe ich nie wieder gefunden. Du hast in meinem Herzen eine Lücke hinterlassen. So wie Kadlin und Asla, die ich nicht vor den Trollen retten konnte. Manchmal stehe ich oben auf dem Hartungskliff zwischen den verzauberten Steinen. Besonders in Nächten, in denen das grüne Feenlicht über den Himmel zieht und das Land unter dem Leichentuch des Winters liegt. Dann flüstere ich dort deinen Namen. Und ich hoffe, dass sich das magische Tor öffnet und ich nach Albenmark zurückkehren kann. Meinen Sohn Melvyn habe ich nie gesehen. Ich habe ihm angetan, was mir mein Vater angetan hat. Ich habe ihn allein in der Fremde aufwachsen lassen. Silwyna erzählt nur wenig von ihm. Sie ist bei mir geblieben. Das hättest du nicht gedacht, nicht wahr? Ich selbst kann es oft nicht fassen. Natürlich ist sie mir nach Art der Maurawan treu geblieben. So wie eine Katze, die sich einen Menschen erwählt, bei dem sie bleibt. Manchmal verschwindet sie für viele Wochen auf ihre Streifzüge, und dann erwache ich eines Morgens, weil sich ihr warmer Leib an meinen Körper schmiegt. Sie kommt immer zurück. Ich weiß, auch du wirst zurückkehren, mein Freund. Ich wünsche es mir so sehr. Du wirst einen alten Mann finden. Vielleicht auch nur noch ein Grab. Aber aus dem Grab werden meine Briefe zu dir sprechen. Setz dich oben auf das Hartungskliff zwischen die Elfensteine, wenn du sie liest. Und lausche auf den Wind. Dort werde ich dir nahe sein, auch wenn mein Leib längst Staub geworden ist. Die Zeit ist ein trügerischer Freund, Schwertmeister. In meiner Jugend hat sie mir fast jeden Tag ein Geschenk gemacht. Doch nun ist sie zum Dieb geworden. Jeden Tag nimmt sie etwas von mir mit. Und nicht mehr lange, und ich werde ganz verschwunden sein. Meine Leute nennen mich Elfensohn oder auch Elfenkind. Aber wie ein Elf bin ich nie geworden. Ich habe nie das Geheimnis ergründet, wie man sich die Zeit zum ewigen Verbündeten macht. Das Zauberwort, das einen davor bewahrt, dass sie zum Dieb der Jahre wird.

Eine Geschichte muss ich dir noch erzählen, bevor die Kerze niedergebrannt ist und nur noch das kalte Feenlicht am Himmel bleibt. Sie wird dich schmunzeln lassen, das weiß ich. Mein Sohn Ulric ist ein Krieger geworden. Ein Mann, der seinen Vater mit Stolz erfüllt. Er trägt Weiß als seine Farbe, wie du, und er ist schön wie ein Elf. Meine Leute fürchten ihn, doch davon möchte ich jetzt nicht reden. Es ist eine merkwürdige Eigenart der Menschen, von der ich dir berichten möchte. Sie lässt Silwyna und Ulric zu einer Person verschmelzen. Nur ein paar Tagesritte von Firnstayn entfernt erzählt man sich, du wärst immer noch an meiner Seite, mein Freund. Sie nennen dich Ollowyn, und sie sagen, dass du bei jedem Kampf an meiner Seite seiest. Dabei ist es Ulric, der neben mir reitet. Ich mache mir Sorgen um ihn. Manchmal ist es, als gebe es ihn gar nicht. Sei ihm ein Freund, wie du mir ein Freund warst, falls ich bei deiner Rückkehr nicht mehr hier bin. Er wird dich brauchen.

Nun werde ich mein Pferd satteln lassen und mich auf den Weg hinauf zum Hartungskliff machen. Ich werde Blut mitnehmen. Erinnerst du dich noch an ihn? Den großen hässlichen Hund, der Ulric und Halgard gerettet hat und auch Yilvina. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Diebin Zeit sich vor seinen langen Fängen fürchtet. Er ist immer noch stark, auch wenn er längst eine graue Schnauze bekommen hat. Blut begleitet mich oft. Und manchmal, wenn sich die Pforten der Geisterwelt öffnen, sehe ich meine kleine Kadlin auf ihm reiten, und ich höre sie lachen. Das Hartungskliff ist ein guter Ort, um den Geistern nahe zu sein. Wenn ich dort allein bin und dem Wind lausche, höre ich manchmal Flötenspiel. Vielleicht spielt Xern auf seiner Hirtenflöte im Schatten der alten Eiche Atta Aikhjarto. Ich weiß, die beiden sind nur einen Schritt entfernt und doch so unerreichbar für mich, wie du es bist, mein Freund. Jedes Mal, wenn ich hinauf zum Kliff reite, hoffe ich, das Tor wird sich öffnen, und du wirst mir entgegentreten. Wenn Luth es so gefügt hat, werden wir uns also schon in wenigen Stunden begegnen. Das Land hat deine Farbe angelegt, Ollowain. Und falls ich dich wieder einmal nicht treffen sollte, dann wird mir der eisige Winterwind vielleicht meine Sehnsucht aus der Seele schneiden.«

XXIII. Brief des Königs Alfadas

An den Elfen Ollowain,

vertrauliches Dokument, Truhe 9,

Eichengewölbe der Bibliothek zu Firnstayn

Die Jägerin

Kadlin blickte fassungslos auf die Stadt am Fjord. Als sie vor fünf Tagen Sunnenberg erreicht hatten, war sie schon überwältigt gewesen; niemals hätte sie gedacht, dass so viele Menschen so dicht beieinander leben könnten. Doch der Anblick von Firnstayn war noch viel überwältigender. Sie versuchte zu schätzen, wie viele Häuser, Hüten und Bootsschuppen dort unten am Ufer standen. Es mussten mehr als fünfhundert sein! Wie viele Menschen mochten dort leben? Fünftausend? Oder noch mehr? Wie eine große Rentierherde. Doch die Rentiere mussten von Weide zu Weide wandern. Wie schafften es so viele Menschen auf Dauer, an einem Ort zu leben und nicht zu verhungern? Ein hoher Erdwall mit einer hölzernen Palisade umgürtete die Stadt. Und wie eine Krone erhob sich eine weite Festhalle über der Siedlung. Die Halle des Königs. Dort musste der legendäre Alfadas leben. Der Elfensohn, wie sie ihn auch nannten. Er hatte die Trolle vertrieben, nachdem sie fast das ganze Land verwüstet hatten. Und er hatte das Königreich aus der Asche wieder auferstehen lassen und zu neuer Größe geführt.

Seit ihrer Kindheit hatte Kadlin unzählige Male gelauscht, wenn die Jäger abends an den Feuern saßen und von ihrem König erzählten. Alfadas! Sein Name hatte sie immer berührt. Er weckte einen süßen Schmerz in ihr, eine Sehnsucht danach, ihm nahe zu sein und ihm zu dienen.

Sie erinnerte sich noch genau an einen nebligen Herbsttag, an dem die Wolken in die Täler hinabgestiegen waren und die Elfe Silwyna sie besucht hatte. Beim Anblick ihres Bogens hatte Kadlin beschlossen, eine Jägerin zu werden. Der König brauchte immer Jäger, um seine vielen Krieger mit frischem Fleisch zu versorgen. Auch Silwyna war eine Jägerin. Ein- oder zweimal im Jahr, meist im Frühling und im Herbst, kam sie, um ihre Eltern zu besuchen, mit denen sie sich angefreundet hatte. Sie war auch die Bettgefährtin des Königs. Bei ihrem ersten Besuch war Kadlin nicht einmal stark genug gewesen, um einen Bogen zu spannen. Die junge Frau lächelte. Seitdem war viel Zeit vergangen.

»Und?« Kalf, ihr Vater, hatte sie aufmerksam beobachtet. Er wirkte angespannt, auch wenn er sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. Er war gegen diese Reise gewesen, und noch gestern Abend hatte er am Lagerfeuer versucht, sie ihr auszureden. Kalf mochte keine großen Siedlungen und mied sie wie ein Wolf den Schneelöwen. Er schien in ihnen eine Gefahr zu sehen. Warum das so war, hatte er Kadlin nie sagen wollen. »Wie gefällt dir, was du siehst? Man kann den Gestank der vielen Menschen selbst hier oben riechen. Das ist gegen die Gesetze der Götter, dass so viele Leute auf einem Fleck leben. Sie werden in ihrem eigenen Mist ersticken! Ich vermisse schon jetzt die klare Luft der Berge.«

Kadlin atmete tief durch. Was ihr Vater sagte, war Unsinn! Die Luft war gut. Die Jägerin betrachtete die steile Felsklippe auf der anderen Seite des Fjords. Ein Kreis aus stehenden Steinen fasste den Gipfel ein, ein verzauberter Ort, durch den die Elfen in ihre Welt gelangten. Einst war Alfadas auf Befehl des alten Königs mit einem ganzen Heer durch diesen Steinkreis gezogen.

Der schroffe Gipfel kam ihr seltsam vertraut vor. Sie war doch nie zuvor hier gewesen! Ob sie ihn vielleicht im Traum gesehen hatte? Manchmal quälten sie noch Albträume aus dem Elfenwinter. Ihre Eltern waren damals mit ihr in die Berge geflohen. An das meiste erinnerte sich Kadlin nicht wirklich. Sie kannte es aus Erzählungen, und es gab keine Bilder dazu in ihrem Gedächtnis. Doch sie wusste, dass sie einmal Trollen begegnet war. Sie waren riesig. Sie hatten nach Rauch und Winter gestunken. Und es war ein Weib bei ihnen gewesen, das sein Gesicht hinter einer Maske aus Haut versteckt hatte. Dieses Trollweib war gekommen und hatte sie in den Armen gehalten. Wenn sie davon träumte, fuhr sie selbst heute noch schreiend aus dem Schlaf hoch. Die Berührung der mit Lumpen umwickelten Trollhände war wie die Berührung des Todes gewesen. Kadlin wusste nicht, warum sie und ihre Eltern noch lebten, obwohl sie auf ihrer Flucht den Menschenfressern begegnet waren. Ihre Mutter Asla hatte immer versucht, ihr diese Geschichte auszureden. Sie sagte, das sei niemals geschehen, doch sie sagte es mit solcher Entschiedenheit, dass Kadlin ihr nicht glaubte. Warum Mutter sie belog und warum die Trolle sie nicht getötet hatten, war ein Geheimnis. Und auch Kalf mochte darüber nicht reden, obwohl Asla nun schon seit drei Jahren tot war.

Nachdenklich blickte sie zu der Stadt am Fjord. Dort war sie nie gewesen, da war sie sich ganz sicher. An einen solchen Ort müsste sie sich doch erinnern. Im Süden der Stadt lag ein großes Zeltlager. Das Heer des Königs sammelte sich. Die Krieger und die Arbeiter kamen aus dem ganzen Königreich. Und sie sah auch die Bahnen, die man für die Bogenschützen abgesteckt hatte. Es war eine besondere Ehre, zu Alfadas‘ Bogenschützen zu gehören. Nur die hundert Besten würden das Heer als Jäger und Pfadfinder begleiten. Sie würden die Mägen der hungrigen Krieger füllen, und sie waren die Augen des Heerzuges, wenn sie ins Trollgebiet vorstießen.

Kadlin schulterte ihren Bogen und ging mit weiten Schritten den Weg hinab, der dem Lauf des Fjordes folgte. Ihr Vater wirkte seltsam bedrückt. Nach Aslas Tod war er schnell gealtert. Sein Haar hatte die Farbe von Kiefernhonig verloren; es war dünn und von weißen Strähnen durchsetzt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen. Obwohl er immer noch ein starker Mann war und einen erlegten Steinbock einen halben Tag lang auf seinen breiten Schultern tragen konnte, war er nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war. Es war gut, dass ihre Schwester Silwyna ihn so nicht mehr gesehen hatte. Sie war sehr empfindsam. Kali hatte gut daran getan, sie nach Mutters Tod schnell zu verheiraten. Silwyna hatten sie nach der Elfe benannt, die sie im Winter des Krieges gerettet hatte. Sie lebte in Bronsted, einem Fischerdorf hinter den Bergen. Letzten Sommer hatte Kadlin ihre Schwester zusammen mit Vater besucht. Silwyna trug damals schon deutlich sichtbar ein Kind unter dem Herzen. Es musste längst geboren sein. Ein Winterkind ... Hoffentlich hatte Luth einen Faden für das Kleine gesponnen. Es war nicht gut, Kinder im Winter zur Welt zu bringen.

Kadlin spürte, wie die Männer auf den Feldern und die Fischer in den flachen Booten sie anstarrten. Eine junge Frau in Hosen, Jagdstiefeln und mit einem Bogen über der Schulter war ein seltener Anblick. Die Elfe Silwyna hatte oft von ihrer Welt erzählt. Dort herrschte eine Frau über alle Völker, und es war nicht ungewöhnlich, Kriegerinnen zu begegnen. Hier im Fjordland war das anders. Frauen brachten Kinder zur Welt und durften sich ein Leben lang krumm schuften, ohne dass sie dafür auch nur ein Wort des Dankes erwarten konnten. Ein Krieger aber, der auf dem Schlachtfeld in seinem Blut verreckte, konnte sicher sein, dass er lange unvergessen blieb, wenn er denn heldenhaft gekämpft hatte. Aber eine Frau, die im Kindbett verblutete, weil ihr keine Amme und keine Heilkundige mehr helfen konnte, war schnell vergessen. Über sie gab es keine Lieder, die an den langen Winterabenden in den Langhäusern gesungen wurden. Kadlin wusste wohl, dass es Silwyna gewesen war, die in ihr den Willen geweckt hatte, sich aufzulehnen. Und auch ihre Mutter Asla, die im Kettenhemd auf den Wällen von Sunnenberg gekämpft hatte. Sie würde eine starke Frau sein, die sich nicht einfach dem Willen anderer fügte! Sie wusste auch, dass sie für manches der weißen Haare auf dem Haupte ihres Vaters verantwortlich war. Bis zuletzt hatte Kalf versucht ihr auszureden, hierher zu kommen. Sie würde wahrscheinlich die einzige Jägerin sein, die den Kriegszug begleitete.

Kadlin wusste, dass Kalf nicht verstanden hatte, warum ihr der Weg nach Firnstayn so wichtig war. Sie brauchte einen Mann. Das war ihr im letzten Jahr klar geworden, als sie ihre Schwester gesehen hatte. Auch sie wollte Kinder haben. In dem einsamen Tal, in dem sie aufgewachsen war, gab es niemanden, der in Frage kam. Und die wenigen anderen Jäger, die sie bislang auf ihren Streifzügen durch die Berge getroffen hatte, waren brummelige, alte Männer. Mit ihnen konnte man einen Abend an einem gemeinsamen Feuer verbringen, aber ein Leben? Nein! Es machte Spaß, ihren Zoten zu lauschen und von ihnen Flüche zu lernen, die selbst Kalf die Schamesröte ins Gesicht trieben. Manchmal hatte Kadlin auch ein wenig geflirtet... Aber ernsthafte Absichten hatte sie dabei nie gehegt. Sie dachte an den Fischerburschen, den sie während ihres Besuches bei ihrer Schwester verführt hatte. Der war schon eher nach ihrem Geschmack gewesen ... Diese heimlichen Stunden hatten sie verzaubert. Er hatte endlos über das Meer erzählen können, wenn sie nebeneinander lagen, nachdem sie sich geliebt hatten. Aber Kadlin war auch klar geworden, dass ihr Leben daraus bestehen würde, auf ihn zu warten, wenn sie sich für ihn entschied.

Jeden Tag zu Luth zu beten, dass ihr die See nicht den Liebsten raubte. Ein Leben in einer nach Fisch stinkenden Hütte ... Das war nicht das, was sie wollte. Sie suchte einen Jäger, an dessen Seite sie durch die Wälder streifen konnte. Jemanden, der sie verstand und der ihr ihre Freiheit lassen konnte. Zum Wettkampf der Bogenschützen würden die besten Jäger des ganzen Fjordlandes kommen. Hier würde sie ihren Mann finden!

Kalfs Blick wanderte unstet. Kadlin bemerkte, wie er jene Männer anstierte, die es wagten, ihr ein Lächeln zu schenken. Es waren ohnehin wenig genug. Sie würden darüber reden müssen. So wenig, wie er ihr hatte ausreden können, hierher zu kommen, hatte sie ihn davon abhalten können, mit ihr zu gehen. Aber wenn er ihr nicht von der Seite wich, dann konnte sie es gleich aufgeben, sich hier nach einem netten Jüngling umzusehen!

Hufschlag erklang hinter ihnen. Eine kleine Reiterschar preschte auf dem schlammigen Weg der Stadt entgegen. Ihr Anführer war ganz in Weiß gekleidet und ritt auf einem wunderbaren Schimmel. Das musste der Königssohn sein, von dem man nur hinter vorgehaltener Hand sprach. Ulric! Er war ein stattlicher Mann.

Kadlin und Kalf wichen ganz an den Rand des Weges aus. Die Jägerin war sich bewusst, dass sie den Königssohn in unziemlicher Weise anstarrte. Er war wirklich ein schöner Mann. Auch wenn er ein Wiedergänger war. Sein langes blondes Haar trug er offen. Ein kurzer Reiterumhang wehte um seine Schultern. Und er schenkte Kadlin ein freundliches Lächeln!

»Seid ihr so arm, dass du die alten Hosen deines Vaters auftragen musst, Mädchen?«, rief ihr ein Reiter aus dem Gefolge zu. Es war ein dunkelhaariger Kerl, dem gerade der erste zarte Flaum spross.

»Und du bist wohl ein krummbeiniger Kobold, der auf ein Pferd steigen muss, um auf ein Mädchen herabzublicken.« Kadlin konnte sehen, wie Kalf den Atem anhielt.

Der junge Reiter zügelte sein Pferd. »Du vergreifst dich im Ton, kleiner Rotfuchs. Ich bin Björn Lambison, der Sohn des Herzogs. Und hätte ich nicht so ein weites Herz, dann würde ich absteigen und dir den Hosenboden stramm ziehen, wie man es mit unartigen Mädchen macht.«

Kadlin deutete eine Verbeugung an. »Und ich bin Kadlin, die schon groß genug ist, um sich nicht hinter dem bedeutenden Namen eines Vaters zu verstecken.«

Björn lief rot an, während seine Gefährten lachten. »Wenn du kein Mädchen wärst ...«, stammelte er unbeholfen.

»Jetzt versteckst du deine Feigheit hinter der Ausrede, dass ich ein Mädchen bin. Ich mache dir einen Vorschlag. Da ich Hosen trage, tun wir doch einfach so, als hättest du es nicht bemerkt. Komm her und schlag dich mit mir! Sonst besuche ich deinen Vater und schenke ihm einen Rock für dich, denn mir scheint, dieses Beinkleid wäre angemessener für dich. Ich könnte auch ...«

»Kadlin!«, unterbrach sie Kalf scharf. »Es ist genug!« Er verbeugte sich unterwürfig vor Björn. »Bitte verzeiht meiner Tochter. Sie ist in der Wildnis aufgewachsen.«

Björn schwang sich aus dem Sattel. »Ich werde ihr jetzt die Tracht Prügel verabreichen, die du ihr besser beizeiten gegeben hättest.« Er löste seinen Schwertgurt und hängte ihn über den Sattelknauf.

Kadlin warf ihrem Vater den Bogen zu und legte ihren Köcher ab. Jetzt war ihr doch ein wenig mulmig. Nicht, weil sie Angst hatte, mit diesem Jüngling nicht fertig zu werden. Es war einfach dumm, sich mit dem Sohn eines Herzogs anzulegen. Aber es war bereits zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

»Aus einem Kampf mit einem Weib erwächst keine Ehre«, sagte Ulric streng. »Lass das Mädchen in Ruhe.«

Björn war doch nicht so klein, wie er auf seinem riesigen Rotfuchs gewirkt hatte. Er war sogar eine halbe Handbreit größer als sie. Und er hatte die breiten Schultern eines Kriegers, obwohl er noch ein Jüngling war. »Ich werde der Kleinen nur ein wenig den Staub aus den Kleidern klopfen. Einen Kampf würde ich das nicht nennen. Lass mir den Spaß. Ich werde ihr schon nicht wirklich wehtun.«

»Willst du kämpfen oder endlos schwatzen wie ein Waschweib?« Kadlin wollte nicht einfach klein beigeben. Gewiss, das wäre klüger gewesen. Aber sie konnte dem Reiz nicht widerstehen, diesem arroganten Herzogssohn eine Lektion zu verpassen. Kalf hatte sich oft beklagt, dass in ihren Adern zu viel vom Blut ihres Großvaters floss. Ihr Großvater musste wohl ein arger Halunke gewesen sein, denn weder Mutter noch Kalf wollten ihr viel über ihn erzählen. Nicht einmal seinen Namen kannte Kadlin.

Björn schnellte vor und versuchte nach ihren Haaren zu greifen. Verdammter Mistkerl. Kadlin wich aus und rammte ihm den Ellenbogen vors Ohr. Der Jüngling keuchte vor Schmerz.

»Sieh dich vor! Die wilde Biene sticht, wie es scheint«, spottete ein älterer Krieger mit einer Brandnarbe im Gesicht. Dem Mal der Diebe.

Björn hatte nun beide Fäuste erhoben, um weitere Angriffe besser abblocken zu können.

Kadlin versuchte seine Deckung mit einem rechten Haken zu durchbrechen, doch der Jüngling wich geschickt zurück. Wieder griff sie an. Sie ließ einen wahren Hagel von Schlägen auf ihn los, landete jedoch nur einen Nierentreffer, dem es an Kraft gefehlt hatte.

Mittlerweile lachte niemand mehr. Gebannt verfolgten die Reiter den Zweikampf. Ihr Vater sah sie flehend an. Wollte er etwa, dass sie sich besiegen ließ?

Björn nutzte den Augenblick ihrer Unachtsamkeit. Er ging zum Angriff über, und gleich sein erster Schlag durchbrach ihre Abwehr. Er hatte eigentlich auf ihr Kinn gezielt, aber im letzten Augenblick änderte er die Schlagrichtung, sodass er sie hart auf der Brust traf.

Kadlin taumelte zurück. Statt nachzusetzen, blieb Björn stehen und wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Genügt dir das, Weib?« Hätte er einen anderen Tonfall angeschlagen, hätte sie vielleicht aufgegeben. Stattdessen winkte sie ihm mit der Linken. »Ich kenne Säuglinge, die ihrer Mutter kräftiger in die Brust kneifen, als du zuschlagen kannst.«

Diesmal lief Björn nicht mehr rot an. Sein Erfolg hatte ihn selbstsicherer gemacht. »Dann scheinst du wohl unter Trollen aufgewachsen zu sein. Das erklärt einiges«, entgegnete er lächelnd.

Kadlin schluckte ihren Zorn hinunter. Sie mit einem Troll zu vergleichen! Das würde er büßen. Die Jägerin wusste, dass es zu den Ritualen eines Zweikampfs gehörte, seinen Gegner zu beleidigen und ihn so wütend zu machen, dass er zu unbedachten Angriffen verleitet wurde. So leicht würde sie es ihm nicht machen.

Sie schnellte vor. Er wich mit dem Oberkörper leicht aus, sodass ihr Schlag ins Leere ging. Kadlin tat so, als gleite sie im Schlamm aus, um Björn zu einem leichtfertigen Angriff zu verleiten. Aber der Mistkerl trat zurück und wartete, bis sie wieder aufstand. So kämpfte man nicht!

»Bist du erschöpft, Mädchen?« Er sagte das nicht einmal spöttisch, was sie umso mehr ärgerte.

»Es geht schon«, stieß sie zornig hervor. »Können wir weitermachen?« Björn ging wieder in seine Abwehrstellung und wartete auf ihren Angriff.

Kadlin war ein wenig ratlos. Einen solchen Kampf hatte sie noch nie bestritten. Sie hatte überhaupt noch nicht viele Kämpfe gehabt. Ihre Schwester Silwyna war jünger und schwächer gewesen. Sich mit ihr zu prügeln lohnte sich nicht. Die Elfe hatte ihr beigebracht, wie man sich in einem Kampf verhielt. Sie hatte sie auch im Bogenschießen unterrichtet, obwohl Kalf ihr schon fast alles Wissenswerte beigebracht hatte. Kadlin musste sich eingestehen, dass sie in der Stimmung gewesen war, ihr Können zu erproben. Und das schien nun gründlich schief zu gehen. Im Grunde konnte sie von Glück sagen, dass der Kerl sie nicht einfach verprügelte. Wenn sie ihm wenigstens noch einen Treffer verpassen könnte ...

Sie tänzelte mit leichtem Schritt um ihn herum, täuschte Schläge an, um eine Lücke in seiner Deckung zu finden, und zog sich jedes Mal wieder zurück. Obwohl Björn ihr überlegen war, feuerten seine Kameraden sie an.

Kadlin versuchte sich an die üblen Tricks zu erinnern, die Silwyna ihr beigebracht hatte. Wenn sie Björn dazu bringen könnte, zu spät sein Standbein zu wechseln ... Die Jägerin schnellte vor. Mit einer raschen Folge von Finten zwang sie den Krieger, sich um seine eigene Achse zu drehen. Dann war der Augenblick gekommen: Sein rechtes Bein stand zu weit vor. Mit aller Kraft ließ sie den Absatz auf seine Zehen krachen. Björn prustete vor Schmerz. Im selben Augenblick durchbrach eine linke Gerade seine Deckung. Wie ein Blitzschlag schmetterte ihre Faust gegen sein Kinn. Kadlin hörte die Knochen ihrer Hand knirschen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen.

Björn kippte nach hinten. Er fing den Sturz mit den Armen auf, saß auf dem Hintern und schüttelte benommen den Kopf, während seine Kameraden verstummt waren.

»Das war nicht sehr ritterlich!«, sagte der Königssohn trocken. Das freundliche Lächeln war aus seinem Antlitz verschwunden. Plötzlich wünschte sich Kadlin, sie hätte auf diesen schimpflichen Sieg verzichtet. Sie streckte Björn die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.

Der junge Krieger rieb sich das Kinn. »Ich kenne Pferde, die weniger heftig zutreten.« Er grinste. Blut troff von seiner aufgeplatzten Unterlippe.

Seine freundliche Art machte alles nur noch schlimmer. Kadlin konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. »Tut mir leid«, murmelte sie.

»Wirklich?«

»Sonst würde ich es wohl kaum sagen. Oder hältst du mich für eine Heuchlerin?«

»Ich dachte eigentlich, dass ich mich entschuldigen sollte. Ich habe mich dir gegenüber sehr ungehobelt benommen. Wer zu Unrecht Schaden erlitten hat, der darf nach den Gesetzten des Fjordlands zur Wiedergutmachung ein Wehrgeld einfordern.«

Kadlin schnappte nach Luft. Diese neuerliche Beleidigung traf sie völlig unerwartet. Er war es doch, der im Dreck gesessen hatte. Wie konnte er sich jetzt so aufspielen, als sei er der Sieger ihres Zweikampfs!

»Es tut mir aufrichtig leid, dass mein Kinn deiner Hand so übel mitgespielt hat. Ich möchte dich gern für die Mittagsstunde in die Gasse der Tuchhändler einladen und dir als mein Wehrgeld ein Kleid schenken, damit nicht noch mehr Krieger sich leichtfertig dazu hinreißen lassen, über dich zu spotten. Unser König braucht sein Heer schließlich, um gegen die Trolle zu ziehen, und kann es sich nicht leisten, dass seine Truppe von einer zornigen jungen Jägerin zusammengeschlagen wird.«

Kadlin wurde aus dem Kerl nicht schlau. Seine Stimme klang aufrichtig. Er schien sie nicht verspotten zu wollen. Auch keiner der anderen Krieger feixte. Welch ein merkwürdiger Haufen die Reiter des Königssohns waren!

Björn schwang sich in den Sattel. »Es war mir eine Ehre, dich kennen gelernt zu haben, Kadlin, die sich nicht hinter dem Namen ihres Vaters versteckt.«

Der Schatten im Safran

Seit er Leylin auf dem Fest gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie war leichte Beute, redete er sich ein. Er hatte bemerkt, wie sie ihn verstohlen beobachtet hatte. Doch ganz im Gegensatz zu den anderen Fürstinnen war sie seinem Blick ausgewichen. Er hatte einen gewissen Ruf, und Melvyn genoss es, damit zu spielen. All die feinen Elfendamen auf dem Fest hatten vermutlich schon Dutzende Geschichten über ihn gehört. Über den Halbelfen, aufgewachsen unter Wölfen in den dunklen Wäldern am Fuß der Slanga-Berge.

Melvyn pflegte seinen Ruf mit Hingabe. Auf Festen erschien er stets mit denselben Kleidern, die er auch im Kampf trug. Und wenn auf seinem Wams ein paar Spritzer eingetrockneten Bluts waren, umso besser. Er hielt nicht viel davon, sich herauszuputzen. Er hatte zwar keinen Körpergeruch, doch seine Kleider rochen nach seinen Gefährten. Nach Wölfen, Pferden und Adlern, nach dem etwas verrückten Lamassu Artaxas, nach Kentaurenschweiß, Koboldtabak und Blut. Er war ein Albtraum für die spießigen Elfenfürsten mit ihren langweiligen Festen. Und er war der Traum ihrer Frauen, die sich inmitten eines in Förmlichkeiten erstarrten Lebens nach Abenteuern sehnten. Die meisten von ihnen waren verdammt selbstsicher. Sie scheuten es nicht, ganz offen mit ihm anzubandeln. Mit Leylin war es anders. Vielleicht war sie ja besonders durchtrieben? Aber das war unwahrscheinlich. Er hatte sie beobachtet, und er hatte Erkundigungen über sie einziehen lassen. Jeder gute Jäger kannte sein Wild!

Leylin war schön wie Waldlicht an einem Frühlingsmorgen. Und so wie dieses Licht die Nebelschwaden zwischen den dunklen Baumstämmen wie von Zauberhand verschwinden ließ, so hatte Leylins Anblick seine üble Stimmung vertrieben, als er sie vor drei Tagen zum ersten Mal gesehen hatte. Sie stammte aus einer unbedeutenden Familie, die allein dadurch zu ein wenig Ansehen gekommen war, dass der Fürst von Arkadien ihre Tochter zu seinem Weib gewählt hatte. Melvyn konnte sich nicht vorstellen, dass bei dieser Heirat Leylins Gefühle eine Rolle gespielt hatten. Shandral, Fürst von Arkadien, war ein gut aussehender Elf. Er hatte hüftlanges, goldblondes Haar und große dunkle Augen. Man munkelte, dass er lange Jahre zu den Schülern der Fürstin Alathaia gehört und mit ihr die dunkelsten Spielarten der Magie erforscht hatte. Seine Schönheit war wie eine winterliche Vollmondnacht in den Weiten der Snaiwamark. Sie war tödlich, wenn man nicht richtig vorbereitet war. Aber das war ja gerade der Reiz. Auf dem Fest hatte es mindestens sechs oder sieben Elfen gegeben, die leicht zu verführen waren. Wenn man Jahrhunderte lebte, dann arrangierte man sich mit dem Gefährten, mit dem man dieses Leben teilte. Treue im Bett war da eine Nebensächlichkeit. Viel schwerer wog es, wenn man einander nichts mehr zu sagen hatte. Das galt als tragischer, so dachten die meisten. Aber bei Shandral war das anders, das spürte Melvyn. Der Fürst von Arkadien würde seinem Weib niemals gestatten, ein kleines Abenteuer zu erleben.

Auch wenn Leylin es sich vielleicht nicht eingestehen mochte, sehnte sie jedoch nichts so sehr herbei, wie der Tyrannei ihres Gatten zu entfliehen, und sei es nur für einige Augenblicke.

Melvyn blickte über das Meer der Dächer. Sein Freund Wolkentaucher hatte den Ort gut gewählt. Er verlor nie den Überblick, auch nicht in dem labyrinthischen Häusermeer. Das lag wohl am Blickwinkel. Die beiden Himmelssteige waren auf dem breiten Steingeländer des Balkons abgestellt. Sie sahen aus wie Hämmer, die man auf den Kopf gestellt hatte und aus deren drei Schritt langen Stielen große Rundhaken ragten.

Melvyn war ein Windsänger, und so genügte ein Gedanke von ihm, um seine großen Adler herbeizurufen. Die Himmelssteige würden es den Vögeln erlauben, ihn und Leylin aus dem Flug heraus von hier fortzutragen.

Es war eine der wenigen schwülen Nächte hier im Norden, so nah bei der Snaiwamark. Sie war wie geschaffen für seine Pläne mit Leylin. Doch nun, da alles bereit war, packten ihn Zweifel. Sein Raubzug in dieser Nacht war selbst für seine Verhältnisse besonders dreist. Er wagte viel. War eine Laune das wert? Nachdenklich betrachtete er die Tür zum Schlafgemach des Fürsten. Sie stand weit offen, um auch den leisesten Lufthauch einzufangen. Sanft bewegten sich die safranfarbenen Seidenvorhänge im Wind. Wie eingefangenes Sommerlicht strahlten sie in der Dunkelheit.

Kein Laut drang durch die offene Tür. Niemand hatte ihn bemerkt. Noch könnte er zurück, dachte Melvyn. Er stützte sich auf die Brüstung des Balkons. Sein Blick wanderte über die dunkle Stadt. Gleich Klippen ragten die steilen Dächer dem Himmel entgegen. Feylanviek war wie so viele Städte des Nordens überwiegend von Kobolden gebaut worden. Auch wenn die adeligen Elfen aus der Snaiwamark und Carandamons hier ihre Sommerresidenzen unterhielten, so waren die Häuser in der Mehrheit doch einfache Fachwerkbauten. Ihre Giebel ragten steil dem Himmel entgegen, damit in den langen Wintern der Schnee besser abrutschte und seine Last nicht die Dächer erdrückte. Die Wände der verwinkelten Häuser waren in den grellsten Sommerfarben gehalten und wurden durch schwarze oder dunkelbraune Balken in geometrische Muster untergliedert. Die Tatsache, dass Volk aus aller Herren Länder kam, um die Werkstätten der Kobolde zu besuchen, hatte zu einem merkwürdigen Baustil geführt. Jedes Haus hatte mindestens eine Halle, die hoch genug war, dass dort selbst Minotauren und Trolle einkehren konnten, ohne sich die Köpfe an den Deckenbalken zu stoßen. Für die Elfen, die in der Regel die bedeutendsten Auftraggeber der Werkstätten waren, gab es meist mehrere Räume, in denen man über Geschäfte verhandeln oder kleine Bankette abhalten konnte. Die Häuser der größten Koboldsippen unterhielten sogar eigene Gästeflügel, wo Reisende für Wochen untergebracht wurden.

Feylanviek lag in einem ehemaligen Feuchtgebiet. Längst waren die Sümpfe trockengelegt, und hunderte Kanäle durchzogen nun die Stadt und das Umland. Sie leiteten das Wasser in den behäbig fließenden Mika ab, den großen Strom, der die Stadt mit dem Meer verband, obwohl sie fast vierhundert Meilen von der nächsten Küste entfernt lag. Feylanviek war damit der Schnittpunkt der bedeutendsten Handelswege des Nordens. Die Stadt war riesig, und da die Trolle für Jahrhunderte aus Albenmark vertrieben gewesen waren, hatte sie keine schlimmeren Feinde als ein paar randalierende Viehtreiber aus den Kentaurenstämmen des Windlands zu fürchten gehabt. Es gab hier keine nennenswerten Verteidigungsanlagen, nur mehrere befestigte Zolltürme. Seit die Trolle damit begonnen hatten, südlich des Mordsteins ihre Truppen zusammenzuziehen, war vorhersehbar, dass Feylanviek ihr erstes Angriffsziel sein würde.

Sie brauchten das Fleisch, das sie hier bekommen würden, um ihre Krieger bei Laune zu halten und tiefer ins Windland vorzustoßen.

Melvyn hatte seine Zweifel, ob das Bündnis in der Lage war, die Trolle aufzuhalten. Er hatte ihr Heer im Süden der Snaiwamark gesehen. Ihre Krieger waren so zahlreich wie die Büffel in den Grasmeeren des Windlands. Die Truppen, die Elodrin von Alvemer unter seinem Kommando versammelt hatte, waren ein jämmerliches Häufchen im Vergleich zum Heer der Trolle. Außerdem war Elodrin eigentlich ein Flottenkommandant. Wahrscheinlich würde er versuchen, die Trolle daran zu hindern, den Mika zu überqueren. Doch selbst wenn ihm das gelang, würde er Feylanviek damit nur Zeit bis zum Winter erkaufen, bis der breite Strom zufror. Dann gab es nichts mehr, was ihre Feinde aufhalten würde. Selbst wenn der König der Trolle nur ein unerfahrener Knabe war, war es unmöglich, mit einer solchen Übermacht zu verlieren.

Melvyn spannte sich und blickte über die Dächer der dem Untergang geweihten Stadt. Alle hier kannten das Schicksal von Vahan Calyd und auch von Reilimee, zwei Städten, in denen die Trolle ihren Zorn ausgetobt hatten. Heute waren es nur noch Ruinenfelder. Dabei war Reilimee sogar stark befestigt gewesen.

Der Halbelf lächelte. Es war unvernünftig, hier zu sein, auf dem Balkon, um alles für eine aus einer Laune heraus geborene Leidenschaft zu riskieren. Ebenso unvernünftig, wie hier in einer Stadt zu verweilen, die dem Untergang geweiht war. Der Kampf um Feylanviek war aussichtslos. Aber er hatte immer schon einen Hang dazu gehabt, Unvernünftiges zu tun. Seit Jahren kämpfte er mit seiner Schar gegen jene Trolle, die in die Wälder am Fuß der Slanga-Berge eindrangen, um Holz für ihre schwarze Flotte zu schlagen. Seit die Trolle dazu übergegangen waren, in regelrechten Horden in den Wald einzufallen, konnte er ihnen nur noch Nadelstiche versetzen. Aber das war kein Grund aufzugeben! Deshalb war er hier. Und die Tatsache, dass Elodrin ihn und seine Männer mit Freuden in das Bündnis aufgenommen hatte, war ein Zeichen dafür, wie verzweifelt die Lage war. Melvyn wusste sehr wohl, dass die verbündeten Elfenfürsten sie abfällig eine Räuberbande nannten. Sollten sie nur! Keine ihrer stahlschimmernden Hausgarden hatte den Trollen so viele Kämpfe geliefert wie sein Räuberhaufen. Und allein darauf kam es an, wenn man auf dem Schlachtfeld überleben wollte.

Die safrangelben Seidenbahnen in der Schlafzimmertür lockten Melvyns Blick. Sie bewegten sich in der leichten Brise, die aus den Weiten des Windlands über die Stadt zog. Sie winkten ihm zu. Wenn der Tod so nahe war, dann sollte jede freie Stunde der Liebe gehören.

Lautlos trat er zur Tür. Eigentlich hätte er sich keine Mühe geben müssen, leise zu sein; das Lied der Wasserräder am Staubecken übertönte jedes Geräusch. Das fallende Wasser und die hohlen Holzrohre, die von der Bewegung der Räder in Schwingungen versetzt wurden, spielten eine beruhigende Melodie, die selbst in tausendfacher Wiederholung noch dem Ohr schmeichelte. Sie übertönte auch die Geräusche der Schmiede, die in dem großen Wehr untergebracht war. Melvyn hatte den Ort einmal besucht. Er war unheimlich. Rauch und Sprühwasser raubten einem die Sicht. Es herrschte bedrückende Enge, denn die Schmiede mochte für Kobolde zwar geräumig sein, doch Elfen mussten dort geduckt gehen. Über schmale Balkenpfade, gesichert nur mit einem Seil als Handlauf, konnte man über die großen Schmiedehämmer hinwegsteigen, die durch die Kraft des Wassers bewegt wurden. Dort fertigten die Grobschmiede der Kobolde den Feystahl, den die Elfenschmiede zum Silberstahl veredelten.

Dass die Fürsten von Arkadien so nahe bei einer Koboldschmiede einen Palast unterhielten, war ungewöhnlich. Gewöhnlich mieden die Edlen des Elfenvolkes solchen Lärm. Aber die Fürstenfamilie von Arkadien galt immer schon als sonderbar, und Shandral trieb dieses obskure Verhalten bis auf die Spitze. Nachdem nie geklärt werden konnte, was mit seinem Onkel Shahondin geschehen war, der während der Kämpfe um Vahan Calyd spurlos verschwunden war, traute Shandral keinem anderen Edlen Arkadiens mehr. In seiner Leibwache gab es keinen einzigen Elfen. Sie bestand vollständig aus Kobolden. Er hatte seine Krieger aus dem Volk der Spinnenmänner rekrutiert. Wer denen über den Weg traute, musste schon wahnsinnig sein. Wahrscheinlich hatten ihm die dunklen Zauber, die Alathaia ihn lehrte, den Verstand verdreht. Er war es nicht wert, solch eine hübsche Frau zu haben. Leylin war hier so fehl am Platze wie eine Rose in einem Distelbeet.

Melvyn strich die Safranvorhänge zur Seite und hielt inne. Der zarte Seidenstoff verströmte einen betörenden Duft von Myrrhe und Rosenöl. Drei Lampen tauchten das große Schlafgemach in aquamarinfarbenes Licht. Letzte Klümpchen von Holzkohle glommen in einer kupfernen Feuerschale.

Der Halbelf verharrte; ein Schatten, umspielt von Safran. Das Nachtlager von Shandral und Leylin war nur zwei Schritte entfernt. Sie lagen unter einem blutroten Seidentuch, auf das ein Muster aus goldenen Schlangen gedruckt war. Beide waren nackt. Shandral hatte helle Haut von der Farbe alten Elfenbeins. Sein Leib war drahtig, nicht sonderlich muskulös. Es war nicht zu übersehen, dass er kein Krieger war. Das Laken war um seine Hüften geschlungen. Er hatte sich zur Seite gedreht, von Leylin abgewandt.

Die Elfe lag auf dem Rücken. Ihre Haut hatte einen zarten Alabasterton. Das lange Haar umgab sie wie eine Decke, gewoben aus Finsternis. Die Tusche um ihre Augen war verlaufen, als habe sie geweint.

Sanft erhoben sich ihre kleinen Brüste aus der Flut der Haare, gekrönt von zarten Knospen. Wovon mochte sie wohl träumen? Melvyn bemerkte die Verfärbungen. Ein Muster dunkler, ineinander verlaufender Flecken rahmte ihre linke Brust. Auf der Innenseite ihrer Schenkel sah er ähnliche Flecken. Er ballte die Fäuste. Shandral sollte einen Unfall haben!

Im selben Moment, indem er das dachte, schlug sie die Augen auf. Obwohl sie ihn geradewegs ansah, zuckte sie nicht zusammen. Sie blinzelte. Lange sah sie ihn schweigend an. Shandral reckte sich unruhig.

»Geh!«, bedeutete sie ihm in Zeichensprache. »Er wird dich töten, wenn er erwacht.« Melvyn hob die Hände, sodass Leylin sie gut sehen konnte. »Ich gehe nur mit dir.«

»Ein Laut von ihm, und die Wachen kommen. Bitte geh! Er würde dich in die Schmiede schaffen lassen ...« Welch einen besonderen Schrecken die Schmiede haben sollte, verstand Melvyn nicht. »Ich fürchte nicht den Tod. Zwei Tage habe ich dich nun nicht gesehen. Welchen Schrecken hat der Tod, wenn das Leben mein Herz verbrennt?«

Sie lächelte traurig. »Ich kenne deinen Ruf.«

»Aber kennst du deshalb mich?«

»Was willst du hier?«

Nun lächelte er. »Dich holen«, antworteten seine Hände.

»Das Haus ist voller Wachen. Du bist verrückt! Wir kämen nicht einmal bis zur Treppe.«

»Ich habe einen Wolkentaucher zum Freund. Und ja, ich bin verrückt. Verrückt in meiner Liebe zu dir.«

Ihre Augen schimmerten. »Ich kenne dich. Geh!«

»Und wenn es Lügen wären, die man über mich erzählt? Man nennt mich auch einen Räuber, und doch bin ich hier, um für die Freiheit von Feylanviek zu kämpfen. Welchen Gewinn hätte ein Räuber davon?«

Sie schüttelte sanft den Kopf. Zugleich glaubte er ihrer Miene zu entnehmen, dass sie sich wünschte, die Worte, die seine Finger ins Dunkel zeichneten, seien wahr.

Shandral bewegte sich unruhig im Schlaf. Er gab einen gurrenden Laut von sich. Ein Wort in einer fremden Sprache? Etwas an diesem Ton war Ekel erregend. Melvyn strich über die Wülste seiner breiten Armschienen. Er könnte Shandral binnen eines Atemzuges töten. Doch als Mörder eines Elfenfürsten wäre er für immer geächtet. Emerelles Häscher würden ihn finden, das wäre nur eine Frage der Zeit. Shandrals Wunden würden verraten, wer ihn getötet hatte. Natürlich könnte er den Fürsten auch mit dem Seidenlaken erdrosseln. Doch dann würde der Verdacht auf Leylin fallen. Und vielleicht würde sie auch gar nicht zusehen, wie er ihren Gatten ermordete, sondern die Wachen rufen. Melvyn kannte den Ruf der Spinnenmänner. Er würde dieses Haus nicht lebend verlassen, wenn sie ihn hier entdeckten.

»Ich werde deinen Mann bei seinem Namen rufen und ihm sagen, dass ich dich liebe und er dich ziehen lassen soll.«

Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken, und ihre Hände zitterten, als sie ihm antwortete. »Dann sind wir beide tot. Das ist kein Spaß, Räuberhauptmann.«

»Ohne dich ist mein Leben ebenso verwirkt.«

»Das sind nur leere Worte.«

»Ich sage sie deinem Mann ins Angesicht, auch wenn das mein Tod ist. Ich werde alles tun, um deine Zweifel an mir zu zerstreuen.« Er trat zwischen den Safranschleiern hervor ins Zimmer. »Ich hauche ihm das Geständnis meiner Liebe zu dir ins Ohr.«

Leylin setzte sich mit einem Ruck auf. »Nein!«, sagte sie laut und erschrak, weil es diesmal nicht ihre Finger waren, die gesprochen hatten.

Shandral wälzte sich auf die andere Seite und blinzelte. »Was hast du?«

»Ein schlechter Traum«, stammelte sie.

Melvyn stand wie versteinert. Der Fürst sah Leylin an. Noch hatte Shandral ihn nicht bemerkt. Doch die leichteste Bewegung mochte seine Aufmerksamkeit erwecken.

Die langen, schlanken Finger des Fürsten spielten mit Leylins Haar. Dann zog er mit einem plötzlichen Ruck ihren Kopf zu sich hinab und raubte ihr einen Kuss. »Du fürchtest mich«, flüsterte er, als sich ihre Lippen wieder trennten.

»Ja, Herr.«

»Deine Furcht stachelt mich an.« Er räkelte sich. Seine Stimme war noch schwer vom Schlaf. »Ich habe mich in dir erschöpft. Heb ein wenig von deiner Furcht bis Sonnenaufgang auf. Denk an die Schmiede!« Er zog das Seidenlaken hoch, schloss die Augen und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. »Man kann deine Angst riechen.«

»Die stickige Luft raubt mir den Atem, Herr. Ich werde ein wenig hinaus auf den Balkon gehen.« Er stieß einen Laut wie Lachen aus. »Glaubst du wirklich, es ist die schwüle Hitze, die dir die Luft abschnürt?« Leylin entwand ihm ihr langes Haar. Der Fürst lächelte. Dann schlief er wieder ein.

Melvyn starrte ihn voller Hass an. Er hatte schon viel gesehen in seinem Leben ... Aber das hier. Dieser parfümierte Kerl sollte an seinem eigenen Blut ersticken! Lautlos glitten die langen, stählernen Krallen aus seinen Armschienen. Shandral würde aussehen, als habe ein Schneelöwe mit ihm gespielt, wenn er fertig mit ihm war.

»Lass ihn!«, befahlen Leylins Hände. Sie ging so dicht an ihm vorbei, dass ihn ihr langes Haar berührte.

Melvyn blickte noch einmal zu Shandral. Der Fürst regte sich nicht. Lautlos folgte der Halbelf Leylin.

Sie legte einen Finger auf ihre schmalen Lippen. »Kein Wort!«, befahlen ihre Hände. »Unsere Stimmen würden ihn wecken.«

Sie drehte sich um und deutete auf die beiden seltsamen Gestelle, die auf der Brüstung standen. »Was ist das?«

Melvyn lächelte. »Ich werde es dir bald zeigen. Es ist ein Geschenk, auch wenn es etwas unansehnlich aussieht. Ich bin kein guter Zimmermann. Die Himmelssteige sind sehr stabil, aber ich weiß, sie sind nicht gerade hübsch geraten.« Melvyn musterte die beiden Gestelle versonnen. An den schlanken, senkrechten Stangen war jeweils ein breiter Ledergürtel befestigt.

Leylin betrachtete die beiden Gestelle neugierig und strich mit der Hand über das glatte Holz. Sie war nackt. Ihr langes schwarzes Haar umgab sie wie ein Schleier.

Der Anblick der Fürstin erregte Melvyn, und zugleich schämte er sich. Scham war ein Gefühl, das ihn nur sehr selten behelligte. Aber sie zu erpressen, hier herauszukommen, war falsch. Sie wäre ihm ausgeliefert, wie sie ihrem Mann ausgeliefert war. Eigentlich hatte Melvyn nur ein Abenteuer gesucht. Er sollte sich nicht von solchen Gefühlen wie Scham leiten lassen. Alles war so gekommen, wie er es sich gewünscht hatte. Nur dass Leylin so schutzlos war ...

»Soll ich dir das Kleid holen, das über dem Stuhl hing?«, fragten seine Hände, als die Elfe sich von den beiden Gestellen abwandte und ihn musterte.

»Was habe ich noch zu verbergen, das du nicht schon gesehen hättest, während ich noch schlief?«

»Deine Seele«, entgegneten seine flinken Finger leichthin.

»Tu das nicht!« Leylin standen Tränen in den Augen. »Ich weiß, dass du mich begehrst. Doch es ist keine Liebe, die du für mich empfindest. Ich habe meine Sehnsucht danach, geliebt zu werden, vor langer Zeit in meinem Herzen begraben. Wecke sie nicht, wenn du sie nicht erfüllen kannst. Mein Glück habe ich nicht gefunden. Lass mir wenigstens meinen Frieden mit mir.«

Melvyn schluckte. Er fühlte sich schmutzig. Vor ihm stand eine wunderschöne Elfe, die er so sehr begehrte, dass er sein Leben riskierte, um eine Nacht mit ihr zu verbringen. Und nun, da die Erfüllung seiner Wünsche zum Greifen nahe war, fühlte er sich nur noch elend. Was war er nur für ein erbärmlicher Wicht! Leylin war ein Opfer. Und so, wie sie sich ihm fügte, hatte sie ihren Stolz schon lange aufgegeben und sich damit abgefunden, gedemütigt zu werden. Das Feuer seines Verlangens war erloschen. Er wollte sie nicht nehmen. Er konnte es nicht mehr. Stattdessen wollte er ihr etwas schenken. Einen glücklichen Augenblick ... Vielleicht auch nur ein Lachen, das von Herzen kam.

»Man erzählt sehr viele Geschichten über mich.« Seine Hände bewegten sich jetzt unsicher. Er schaffte es, in der Zeichensprache zu stammeln wie ein frisch verliebter Jüngling. »Ich bin unter Wölfen aufgewachsen. Meine Mutter war oft fort. Vor allem, seit ich alt genug war, alleine zu jagen. Meinen Vater habe ich nie zu Gesicht bekommen. Er ist ein König in der Welt der Menschen. Das Einzige, was wir gemeinsam haben, ist der Hass auf die Trolle.«

»Du warst sicher oft einsam.«

»Nein, Wölfe sorgen gut für ihre Welpen. Erst als ich so alt war, dass ich mir einen Platz im Rudel erkämpfen musste, wurde es schwer. Meine Zähne taugen nicht dazu, mich mit Wölfen anzulegen. Lange Zeit war ich der Letzte aus unserem Rudel, der fressen durfte, wenn wir ein Wild gestellt hatten. Erst als wir durch Glück ein Riesenfaultier erlegten, änderte sich das. Ich habe ihm seine Krallen aus dem Fleisch gebrochen und zu meinen Krallen gemacht. Und meine Krallen siegten über die Zähne des Rudels. Von da an war ich der Erste, der fraß.«

Diese Geschichte hatte Melvyn noch keiner Frau erzählt, die er begehrte. Die Hofdamen machten sich verrückte, romantische Illusionen darüber, wie es wohl gewesen sein mochte, unter Wölfen aufzuwachsen. Sie konnten sich nicht vorstellen, was es hieß, im Winter auf dem kalten Fels eines Höhlenbodens nackt zwischen Wölfen zu liegen und sich fast zu Tode zu frieren, obwohl das Rudel versuchte, einen zu wärmen. Und sie wussten nicht, wie köstlich das blutige, warme Fleisch eines jungen Rentierkalbs schmeckte, wenn man seit drei Tagen nichts mehr gegessen hatte. Den Hofdamen erzählte er den romantischen Unsinn, den sie hören wollten. Aber Leylin mochte er nicht belügen. Sie stand nackt vor ihm. Ausgeliefert. Und er hatte das Gefühl, dass auch er sich ihr ausliefern sollte, und sei es nur, indem er ihr sagte, was er sonst niemandem über sich verriet.

»Als ich ein kleiner Junge war, habe ich mir im Sommer oft einen warmen Felsen gesucht, mich wie eine Echse darauf gelegt und in den Himmel gestarrt. Ich habe den Wolken zugesehen und den Adlern, die weit über mir ihre einsamen Runden zogen. Und ich habe mir gewünscht, dort oben zu sein, nahe der wärmenden Sonne. Frei über allem dahinzufliegen. Keine Fährte zu hinterlassen, wenn ich flüchte. Ganze Tage habe ich so verbracht.«

Leylin sah ihn unverwandt an. »Ich kenne diese Sehnsucht«, sagten ihre Hände.

»Hast du den Mut, dich deiner Sehnsucht hinzugeben?« Sie runzelte leicht die Stirn.

»Versteh mich nicht falsch. Ich werde dir nicht zu nahe treten.« Er deutete auf die Brüstung des Balkons. »Wagst du es, dort hinaufzusteigen?«

Leylin sah ihn forschend an. Dann kletterte sie auf die niedrige Mauer. Obwohl sie fast eine Elle breit war, streckte sie seitlich die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten.

Melvyn folgte ihr. Der Wolfself nickte in Richtung des Hofs. Er war mit hellen Steinen gepflastert und lag mehr als sieben Schritt tiefer. »Bekommst du Angst, wenn du dort hinabblickst?«

Ein trotziges Lächeln war ihre einzige Antwort.

Melvyn beobachtete sie aufmerksam. Er musste wissen, ob sie Höhenangst hatte. Davon hing ab, ob er ihr einen Traum oder einen Albtraum schenkte. Leylin sah zum Hof hinab. Sie hielt die Arme jetzt nicht mehr abgestreckt. Ganz langsam beugte sie sich vor, als wolle sie etwas dort unten genauer betrachten.

Melvyn zog sie zurück. Sie zu berühren, bereitete ihm ein seltsames, unbekanntes Gefühl. Es war ein Ziehen und zugleich eine wohlige Wärme tief in seinem Bauch.

»Der Hof ... Er hat mich angezogen«, signalisierte sie mit flatternden Händen.

Melvyn hatte ihr einen Arm um die schlanken Hüften gelegt.

»Komm«, flüsterte er ihr zu, und sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen.

Er brachte sie zu dem vorderen der beiden Himmelssteige. Mit dem Rücken stellte er sie gegen die aufrechte Stange. Dann schlang er ihr den breiten Ledergürtel um die Taille. Er war ihr so nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte. Der schwere Duft ihrer Haare machte ihn benommen. Jetzt konnte er im trügerischen Silberlicht des Mondes sogar die Farbe ihrer Augen erkennen. Sie waren von einem warmen, dunklen Braun. Keine Angst spiegelte sich in ihnen. Sie waren erloschen. Er konnte gar kein Gefühl in ihnen erkennen. Leylin ließ ihn einfach gewähren. Es war ihr gleichgültig, was mit ihr geschah.

Als Melvyn das begriff, packte ihn eine unbändige Wut auf den Mann, der den Glanz ihrer Augen hatte verlöschen lassen. Er schwor sich, dass er Shandral töten würde. Langsam, so wie eine Katze ein Maus tötete, mit der sie spielte.

»Du bist doch nur noch einen Schritt weit vom Himmel entfernt«, sprachen seine Hände. Melvyn sah den Schatten weit über ihnen. Er stieß fast senkrecht hinab und breitete erst im letzten Augenblick die Flügel aus, um seinen Sturz zu bremsen. Die äußersten Spitzen der Schwungfedern fegten über die Brüstung des Balkons, als die kräftigen Fänge nach dem Rundhaken griffen. Mit einem Ruck wurde der Himmelssteig von der Mauerkante gezogen. Ohne Mühe gewann Wolkentaucher wieder an Höhe. Er war stark genug, um einen jungen Büffel zu tragen, wenn er wollte. Die Schwarzrückenadler vom Albenhaupt waren riesige Vögel. Ihre Flügel spannten sich über mehr als zehn Schritt. Aber selbst unter diesen großen Vögeln stach Wolkentaucher noch hervor. Er war ein Fürst unter den Adlern. Nur Goldbrust übertraf ihn noch an Größe.

Melvyn stieg auf den zweiten Himmelssteig. Er verzichtete darauf, sich mit dem Gürtel festzuschnallen. Durch die Luft zu gleiten, war ihm fast so vertraut geworden, wie auf eigenen Beinen zu stehen. Nur einen Augenblick, nachdem er auf das Gerüst gestiegen war, holte ihn Eisfeder, Wolkentauchers Nestgefährtin.

Der Halbelf genoss es, langsam in kühlere Höhen zu gleiten. Die Häuserdächer schrumpften zu eckigen Schmucksteinen, eingefasst in die Silberbänder der Kanäle, die dem Mika entgegenstrebten. Der große Strom war hier fast schon eine Meile breit. Er war Feylanvieks Schutzwall, bis der Winter kam, denn die Trolle fürchteten tiefe Wasser.

Ein Stück voraus sah Melvyn Wolkentaucher fliegen. Leylins Haar flatterte wie eine schwarze Fahne im Wind. Sie klammerte sich eng an die Stange des Himmelssteigs. Hoffentlich hatte sie keine Angst!

Eisfeder schloss nun schnell zu ihrem Nestgefährten auf. Bald flogen sie Schwinge an Schwinge.

Melvyn ließ seinen Geist mit den Adlern fliegen. Mühelos tauschte er seine Gedanken mit den großen Vögeln. Es waren stumme Zwiegespräche, bei denen sie einander nicht einmal in die Augen blicken mussten. Die beiden Adler tadelten ihn für seinen Raubzug. Das ärgerte ihn, aber er war nicht in der Stimmung, mit ihnen zu streiten.

Der Halbelf drehte sein Gesicht zur Seite. Wenn die Adler hoch und schnell flogen, dann raubte ihm der Wind den Atem, sodass er sich abwenden musste. In Gedanken bat er Eisfeder um das verabredete Manöver. Eigentlich hatte er damit ganz andere Absichten gehabt, aber vielleicht würde es Leylin aus ihrer Starre aufrütteln.

Das Adlerweibchen schwenkte leicht zur Seite und gewann dann mit kräftigen Flügelschlägen an Höhe. Mit einem weiteren Schwenker brachte sie sich in eine Position schräg vor Wolkentaucher. Sie flog jetzt etwa zehn Schritt höher als ihr Nestgefährte.

Melvyn setzte sich auf die Querstange des Himmelssteigs, dann ließ er sich nach hinten kippen, sodass er nur mit der Kniebeuge eingehakt an der Stange hing. Er liebte es, wenn der Himmel ihm zu Füßen lag und die Erde unter seinem Kopf hinweg glitt. Sein Herz trommelte wild vor Freude in seiner Brust. Leylin hielt sich noch immer dicht an die Stange geklammert. Wolkentauchers Schatten fiel auf sie, sodass er nicht in den Zügen ihres Gesichts lesen konnte. Das würde sich gleich ändern! Er streckte die Beine durch, glitt von der Stange und fiel rücklings in die Tiefe.

Der Wind riss Leylins Schrei von ihren Lippen und zerrte an Melvyns Kleidern. Mit ausgestreckten Armen schoss er dem Himmelssteig der Fürstin entgegen. Er bekam die Querstange zu packen. Es gab einen Ruck, als wolle ein Riese ihm die Arme ausreißen. Melvyn lenkte einen Teil der Kraft in einen Aufwärtsschwung um und brachte sich in eine sitzende Position. Jetzt hockte er zu Leylins Füßen.

Sie sagte etwas, doch der Wind und das Geräusch der schlagenden Flügel verschlangen ihre Worte. Dann sprachen ihre Finger, undeutlich und stammelnd, denn sie wagte kaum ihren Griff zu lösen. »Warum tust du das? Ich habe mich fast zu Tode erschrocken, als ich dich stürzen sah.«

»Damit du weißt, dass du noch lebst«, antworteten seine Hände. »Vielleicht auch, um dich zu beeindrucken. Männer machen so etwas manchmal, wenn sie einer Frau gefallen wollen.«

Sie sah ihn fassungslos an. Dann griff sie plötzlich in sein Haar und presste seinen Kopf fest gegen ihre Schenkel. Ihr Schoß duftete nach Moschus und den von zartem Pelz überzogenen Knospen der Nachtweiden. Auch nahm er den Geruch Shandrals wahr. Melvyn spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er wagte es, ihre Lippen zu küssen. Einen Herzschlag lang bog sie sich ihm entgegen, und er schmeckte den salzigen Tau der Sehnsucht.

Plötzlich bog Leylin seinen Kopf zurück. Traurig blickte sie auf ihn hinab. Er stemmte sich hoch. »Ich verzehre mich nach dir. Du darfst nicht zurückkehren.« Er hatte viel zu leise gesprochen. Der fauchende Wind verschlang seine Worte. Doch es war nicht nötig, dass Leylin ihn verstand. Sie konnte seine Gefühle in seinen Augen lesen. »Ich möchte für dich die Welt auf den Kopf stellen, meine Fürstin«, sprachen seine Hände.

Sie sah ihn lange an, bevor sie antwortete. »Das muss ich aus eigener Kraft schaffen, wenn ich leben will.« Sie öffnete den Gürtel, der sie an die Stange fesselte. Ein schelmisches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Sie legte ihm die Arme um den Nacken, als wolle sie ihn küssen. Dann schlang sie ihre Beine um seine Taille. Er spürte ihren warmen Schoß durch sein dünnes Rehlederhemd. Melvyn wollte sie küssen, doch sie bog sich zurück wie eine Schlangentänzerin. Wild wirbelte ihr Haar im Wind. Immer weiter ließ sie sich zurücksinken, bis sie schließlich mit den Händen nach seinen Knöcheln greifen konnte.

Leylin machte ihm Angst. Das war kein Spiel! Seine Hände fanden auf ihrem glatten Leib keinen Halt. Ein Fehler, und sie würde in die Tiefe stürzen!

Endlich bäumte sie sich auf. Ihre Arme schlangen sich wieder um seinen Nacken, und sie beide tauchten in den Schleier ihres Haars. Sanft küsste sie seine Stirn. Dann beugte sie sich weiter vor und flüsterte in sein Ohr. »Hast du es gesehen? Auch ich vermag die Welt auf den Kopf zu stellen. Bring mich zurück in Shandrals Palast.«

Er wollte ihr widersprechen. Wollte sie nicht ziehen lassen, doch Leylin küsste ihn noch einmal. »Wenn ich ihm fortlaufe, wird er sich an meiner Familie rächen. Du hast mich in den Himmel getragen und mir ein Geschenk gemacht, das mir niemand je wird nehmen können. Nun mach mir ein zweites Geschenk und bring mich zurück. Ganz gleich, was mit mir geschehen mag, mein Herz hat seinen Platz gefunden. Es wird bei dir sein, wohin dich deine Adler auch tragen.«

Melvyn hielt sie eng umschlungen. Dann gab er Wolkentaucher den Befehl umzukehren. Viel zu schnell schimmerten die Kanäle Feylanvieks wieder unter ihren Füßen. Diesmal sank der Adler in weiten Kreisen dem Palast entgegen. Wolkentaucher setzte die Himmelsstiege wieder auf der Brüstung ab. Leichtfüßig sprang Leylin auf den Balkon hinab. »Du bist anders als die Geschichten, die man sich über dich erzählt«, sagten ihre Hände. Sie legte die Rechte auf ihr Herz und verneigte sich. »Gib auf dich Acht, mein Räuberhauptmann. Doch versuche nicht wiederzukommen. Es wäre unser beider Unglück. Du besitzt mehr von mir, als Shandral je gehören wird, auch wenn mein Leib nun zu ihm zurückkehrt. Ich weiß, was du dir holen wolltest. Du hast etwas anderes bekommen. Hüte es wohl, denn es lebt nur bei dir.«

Sie wandte sich um und war im nächsten Augenblick zwischen den safranfarbenen Schleiern der Tür verschwunden. Ohne dass er ihm den Befehl gegeben hätte, stieß Wolkentaucher hinab und packte den Himmelssteig. Er trug ihn dem Mond entgegen, doch Melvyn hatte nur Augen für die Safranschleier. Sie schrumpften und waren bald nur noch ein winziger heller Fleck, wie das Licht einer fernen Laterne. Dann verschwanden sie ganz, und im gleichen Augenblick kam die Angst. Was würde geschehen, wenn Shandral aus seinem Schlaf erwacht war und Leylin nicht auf dem Balkon gefunden hatte?

Er hätte sie nicht zurückgehen lassen dürfen. Es war ihr Wille gewesen, aber er würde wiederkehren. Leylin war mehr als nur ein Abenteuer. Er hatte sich verliebt.

Das blaue Kleid

Kadlin stieg über eine Pfütze hinweg, die in allen Regenbogenfarben schillerte. Kalf hatte Recht gehabt. Es stank zum Erbarmen in der Stadt. Durch die Mitte der Gasse, der sie folgte, zog sich eine offene Jaucherinne. So war es hier überall. Die ganze Stadt schüttete ihren Dreck in die Abwasserrinnen, die zu wenig Gefälle hatten, um vernünftig abzufließen. Entlang der Häuser waren Wege aus Holzknüppeln gelegt. Hier und da führte ein dickes Brett über die Jaucherinnen. Und überall wurde gebaut. Fünfzehn Jahre war es her, dass die Trolle Firnstayn niedergebrannt hatten, doch die Bauarbeiten wollten noch immer kein Ende nehmen. Im Norden war die Stadt über ihren schützenden Wall hinausgewuchert. Innerhalb der Palisade hatte Kadlin, abgesehen vom Marktplatz, kein einziges unbebautes Stück Land gesehen. Immer mehr Menschen zog es hierher, dabei lag die gefährliche Grenze zu den Trollen nicht einmal hundert Meilen entfernt.

Und überall waren Krieger. Jeder zweite Mann, den man auf der Straße sah, trug Waffen. Unablässig hallte das rhythmische Hämmern der Schmiede über dem Lärm der Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen.

Es war unmöglich gewesen, in der Stadt eine Herberge zu finden. Hunderte waren gekommen, um den Kampfspielen beizuwohnen, die abgehalten werden sollten, bevor das Heer nach Norden zur Trollgrenze zog. Schon am späten Nachmittag würden die ersten Vorauswahlen zum Wettschießen der Bogenschützen abgehalten. Kadlin betrachtete ihre bandagierte Linke und fluchte. Es war dämlich gewesen, so fest zuzuschlagen. Kalf hatte ihr Moos auf die Schürfwunden an ihren Knöcheln gelegt und einen strammen Verband um die Hand gewickelt. Wenn sie versuchte, die Finger zu krümmen, peinigte sie stechender Schmerz. Sie würde kaum den Bogen halten, geschweige denn vernünftig schießen können. Vermutlich würde sie schon in der Vorausscheidung scheitern! Und alles nur, weil sie diesem eingebildeten Mistkerl über den Weg gelaufen war. Wenn sie nur an ihn dachte, bekam sie nicht übel Lust, ihm auch noch einen rechten Haken zu verpassen.

Sie hatte sich schon einige der Stoffläden angesehen, war aber ein wenig verzagt bei der Auswahl. Es gab einfach zu viel zu kaufen. Mutter hätte sicher ihre helle Freude daran gehabt, sich die Läden anzusehen. Wenn nur das Fieber nicht gewesen wäre! Es hatte mit einem Husten angefangen, und lange hatte sie darüber nur gespottet. Und als das erste Blut mit dem Husten gekommen war, da hatte sie es vor ihnen verborgen. Asla hatte Kadlin das in den langen Stunden gebeichtet, die das Mädchen an ihrem Bett gewacht hatte.

Kadlin erinnerte sich daran, als sei es erst gestern gewesen. Kalf war Tag und Nacht unterwegs gewesen. Ständig war frisches Fleisch im Haus gewesen, und die beiden Schwestern hatten kräftige Brühe daraus gekocht, doch all das hatte nichts mehr genutzt. Ein Fieber hatte sich tief in die Knochen ihrer Mutter gesenkt, und der Bluthusten hatte sie selbst in ihrer letzten Stunde noch geschüttelt. Ihre Mutter war sehr stark gewesen. Einen ganzen Winter lang hatte sie gegen die Krankheit angekämpft. Immer wieder hatte sie gesagt, dass sie nur aushalten müsse, bis die ersten Blumen durch den weichenden Schnee brachen. Zuletzt hatte sie von fast nichts anderem mehr gesprochen. Immer wieder hatte sie Kadlin hinausgeschickt, um nach Schneesternen zu suchen. Die kleinen Blumen mit ihren sternförmigen Blüten konnten selbst im Schnee gedeihen. Aber in jenem Jahr war der Frühling sehr spät gekommen. Wie zum Hohn waren die ersten Schneesterne keine fünf Schritt vom Grab ihrer Mutter erblüht, drei Tage, nachdem sie Asla begraben hatten. Im Sommer des Unglücksjahres hatte Silwyna ihren Fischer geheiratet. Seitdem war es einsam geworden in dem Tal mit seinem großen See ...

Wütend blickte Kadlin auf ihre bandagierte Hand. Sie musste es schaffen, bei den Jägern des Königs aufgenommen zu werden, um sich dort in Ruhe nach einem Mann umsehen zu können. Und wenn sie den verdammten Bogen an ihrer Hand festbinden musste, um damit zu schießen!

In ihre düsteren Gedanken versunken, war sie bis ans Ende der Gasse gelangt. Hier gab es einen Laden, der ganze Bündel von Kleidern in offenen Truhen anbot. Wahrscheinlich Plündergut, dachte Kadlin. Sie sah sich einige der Kleidungsstücke an. An einem dottergelben Hemd fand sie eingetrocknete Blutflecken. Wem es wohl einst gehört haben mochte? Ein Kleid zu kaufen, war nicht üblich. Keine Frau, die etwas auf sich hielt, tat das. Wie groß waren auch die Aussichten, etwas zu finden, das genau passte? Besser war es, Stoff zu kaufen und selbst zu nähen. Doch darin war Kadlin nie sonderlich geschickt gewesen. Schmunzelnd erinnerte sie sich, wie ihre kleine Schwester einmal zwei Monde lang an einer Schmuckborte genäht hatte. Für solchen Unsinn hatte sie selbst keine Geduld.

Nachdenklich betrachtete sie ein herbstrotes Kleid. Wahrscheinlich würde sich die Farbe mit ihrem roten Haar beißen.

»Kann ich dir helfen?« Ein zierlich gebauter blonder Mann war aus den dunklen Tiefen des Ladens aufgetaucht.

»Ich suche ein Kleid, wie man es auf Festen tragen würde.«

Der Händler strich sich mit der Hand über das Kinn und musterte sie wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. »Was darf es denn kosten?«, fragte er endlich vorsichtig.

Kadlin kannte sich mit Münzen nicht gut aus. Sie hatte bisher alles, was sie brauchte, gegen Felle eingetauscht. Jetzt wäre sie froh, wenn Kalf bei ihr wäre. Er kannte sich in solchen Dingen aus. Auf der anderen Seite war es zu peinlich, ihren Vater in irgendwelche Stoffläden zu schleppen. Außerdem war es ganz gut, wenn er nicht immer in der Nähe war. So könnte sie sich ein wenig nach Männern umsehen.

Es gab eine ganz andere Möglichkeit, dieses lästige Problem aus der Welt zu schaffen. »Björn Lambison, der Sohn des Herzogs, steht in meiner Schuld. Er wird mir das Kleid schenken. Die Kosten sind seine Sache.«

Ein strahlendes Lächeln erhellte die Züge des Händlers. »Du solltest nicht hier suchen, meine Schöne. Das ist billige Ware für Waschweiber. Hier gibt es nichts, was deiner Schönheit angemessen wäre. In meinem Laden habe ich etwas, das passender ist. Du solltest Grün tragen. Oder Blau. Ja, Blau würde dir gut stehen.«

Er brachte ein Kleid und drückte es ihr in die Hände. Es war federleicht, obwohl es lang genug war, um ihr fast bis zu den Knöcheln zu reichen. Und es fühlte sich wunderbar weich an, besser noch als das Fell von Katzenjungen. Ehrfürchtig strich sie über den Stoff. Er war in einem schönen, tiefen Blau gefärbt. An Hals und Ärmeln des Kleides gab es Schmuckborten. Mit dottergelbem Garn waren Falken aufgestickt, die mit angelegten Flügeln aus dem Himmel stürzten. Die Jägerin schnupperte an dem Kleid. Ganz schwach haftete ihm noch ein schwerer, sinnlicher Duft an.

»Dieses Kleid ist wie für dich gemacht. Du solltest es anlegen. Wie eine Königin wirst du darin aussehen.«

Kadlin runzelte die Stirn. Glaubte der Kerl tatsächlich, sie würde sich jetzt vor ihm ausziehen? Als habe er ihre Gedanken gelesen, deutete er auf einen dunklen Winkel, vor den ein schmutzig grauer Vorhang aufgespannt war. »Dort kannst du dich ungestört umkleiden.«

Die Jägerin war sich unsicher. »Wie viel kostet so ein Kleid?«

»Es wird den Sohn unseres Herzogs gewiss nicht zu einem armen Mann machen«, entgegnete der Händler ausweichend.

»Der Stoff wird angeblich tief im Süden hergestellt. Es heißt, Kinder weben ihn aus den Fäden von Spinnen. Ich halte diese Geschichte für Unsinn, aber etwas Besseres bekommt man nicht zu hören, wenn man nach dem Ursprung solcher Kleider fragt. Die Weiber dort scheinen klein und zierlich zu sein. Ich schätze, dir würde das Kleid sehr gut stehen. Du hast die Statur einer Elfe. Die Geliebte des Königs kommt manchmal hierher. Ich weiß, wovon ich rede.« Der Gedanke, sich im Haus eines Fremden zu entkleiden, hatte etwas Erregendes für Kadlin. So etwas hatte sie noch nie zuvor getan. Sie spähte in die dunkle Ecke mit dem grauen Vorhang. Warum nicht? Der Vorhang stank nach altem Schweiß. Er trennte in schrägem Winkel die hinterste Ecke des Ladens ab. Hier war es noch dunkler. Einzig durch ein Astloch an der Rückwand stach eine Lanze aus Licht. Kadlin presste die Wange an die Holzwand. Durch das Loch konnte man auf einen Hinterhof blicken. Sie lächelte. Ob der Händler neben Kleidern wohl auch Blicke auf seine Kundinnen feilbot? Sie zog den schweren Jagddolch aus ihrem Gürtel und drückte die breite Klinge langsam durch das Astloch. Sie stand nicht zum Verkauf! Hastig zog sie sich aus. Dann nahm sie das blaue Kleid. Plötzlich hatte sie Angst, sie könne es schon mit einer einzigen unbedachten Bewegung zerreißen. Ein Kleid, aus Spinnenfäden gewoben ... Luth-Priesterinnen sollten so etwas tragen. Spinnen waren Dienerinnen des Schicksalsgottes. Es wäre passend, wenn die Priesterinnen des Schicksalswebers in solche Gewänder gekleidet wären.

Vorsichtig zog die Jägerin das Kleid über den Kopf. Zart wie Blütenblätter streichelte es ihre Haut. Ein wohliger Schauer überlief sie, als der Stoff an ihr hinabglitt. Er weckte die Sehnsucht nach tastenden Händen, nach heißem Atem und Lippen, die ihre Brüste liebkosten. Was ihr Fischer wohl machte? Dachte er manchmal noch an sie? Sie hatte sich oft der Erinnerung an ihre gemeinsamen Stunden hingegeben.

Kadlin straffte sich. Ihre Hände strichen den Stoff glatt. So leicht war das Kleid, dass sie das Gefühl hatte, noch immer nackt zu sein. Der Händler hatte ein gutes Augenmaß. So weit sie es beurteilen konnte, passte ihr das Kleid. Vielleicht war es ein wenig zu kurz. Sie hatte sich verschätzt, als sie es an ihren Leib gehalten hatte. Es reichte nicht bis zu ihren Knöcheln, sondern nur bis dicht unter das Knie. An den Seiten war es geschlitzt. Man würde bequem darin gehen können.

Im Laden hörte sie gedämpfte Stimmen. Sie war neugierig zu sehen, wie sie in dem Kleid auf Männer wirkte. Kadlin strich ihr Haar glatt, dann zog sie den Vorhang zurück. Björn stand im Eingang und sprach mit dem Händler. Bei ihrem Erscheinen verstummte er abrupt und starrte sie an. Sein Mund stand offen. Er glotzte wie ein junges Kalb. Auch der Händler sah sie an. Er blickte nicht in ihr Gesicht, sondern ein wenig tiefer.

Kadlin sah an sich herab. Deutlich zeichneten sich durch den dünnen Stoff die Knospen ihrer Brüste ab. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Ihre Wangen glühten, und ihr Mund war mit einem Mal staubtrocken. Eigentlich hatte sie Björn mit einem frechen Spruch empfangen wollen, doch alle Worte verdorrten in ihrer Kehle, bevor sie über ihre Lippen gelangen konnten.

»Wunderbar!«, beendete der Händler die Stille. »Vollkommen! Kein anderes Weib sollte dieses Kleid auch nur berühren dürfen. Ein solches Wunder lassen mich die Götter vielleicht einmal in sieben Jahren schauen. Es ist, als hätten die Himmlischen selbst das Kleid für dich geschaffen. Und nur für dich! Was denkst du, Björn? Als ich dein Weib zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich an eine Wildkatze. Aber jetzt! Sieh sie dir nur an! Ich glaube, dass nicht einmal die Königin der Elfen so schön ist.«

Der Herzogssohn strich sich über das verschorfte Kinn. »Ja, eine Wildkatze. Du sagst es ...« Kadlin verschränkte ein wenig steif die Arme vor der Brust, sodass man ihre Erregung nicht mehr sehen konnte. In ihr bekämpften einander widerstreitende Gefühle. Das Kleid zu tragen, gab ihr ein prickelndes, sinnliches Gefühl. Es war ein wenig wie jenes Gefühl, das sie den letzten Sommer über beherrscht hatte, wenn sie mit ihrem Fischer in die Klippen oder eine dunkle Bootshütte geschlichen war, um dort ihre Leiber ineinander versinken zu lassen. Eine aufstachelnde Vorfreude, fast so schön wie der Tanz der Leiber. Doch zugleich fühlte Kadlin sich nackt in dem Kleid. Anders als ihre Lederkleider übte es Verrat an ihr, denn es ließ jeden, der sie ansah, ihre Erregung erblicken. Es verhüllte ihre Gefühle nicht, nein, es gab sie preis, lautstark wie ein Marktschreier, der eine Zuchtkuh anpries.

»Bei den Göttern«, murmelte Björn mit krächzender Stimme.

»Das ist ...« Er hob hilflos die Arme. »Als sei ein Schmetterling aus seinem Kokon geschlüpft.«

»Bring mir einen Streifen feines Leinen«, sagte Kadlin, wandte sich halb ab und wurde sich im gleichen Augenblick bewusst, dass man bei der Bewegung durch den seitlichen Schlitz im Kleid ihre Schenkel sehen konnte.

»Gewiss, meine Schöne. Sofort.« Der Händler erwachte aus seiner lauernden Starre und wühlte in einer Kiste.

Kadlin zog sich in die schützende Ecke hinter dem grauen Vorhang zurück. Sie wollte dieses Kleid, aber sie musste es bändigen!

»Ist das hier das Richtige?« Der Händler warf einen langen Schal über den Vorhang. Er war von gelblichem, fein gewobenem Leinen. Vielleicht würde es gehen?

Die Jägerin streifte das Kleid ab und schlüpfte in ihre enge Hirschlederhose. Dann zog sie die wadenlangen, abgetragenen Stiefel an. Sie waren bequem, aber verglichen mit dem wunderbaren Kleid kamen ihr nun all ihre anderen Besitztümer schäbig vor.

Leise feilschten der Händler und Björn miteinander. Erst glaubte Kadlin, sie habe nicht recht gehört, doch dann beharrte der Krämer wieder und wieder auf seiner völlig übertriebenen Forderung. Selbst drei Winter würden nicht genügen, um ausreichend Pelze zu erjagen und die Forderung des Händlers zu erfüllen. Ein solches Geschenk konnte sie nicht annehmen!

Der pulsierende Schmerz in ihrer Linken bohrte sich in ihre Gedanken. Es war die Hand, mit der sie den Bogen hielt. Sie würde sich im Wettkampf der Bogenschützen weit unter Wert verkaufen. Und alles nur, weil Björn sie gereizt hatte. Vielleicht würde sie nicht einmal unter die Jäger des Königs aufgenommen werden?

Kadlin fluchte leise. Sie brauchte dieses Kleid! Sie hatte sich fest vorgenommen, bis zum Winter einen Mann zu finden, der zu ihr passte. Sie wurde alt! Das Leben in der Wildnis würde bald schon Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.

Sie strich über den zarten blauen Stoff des Kleides. Es würde die Männer anlocken, wie ein Topf Honig die Fliegen lockte. Wenn sie es besaß, wäre sie nicht mehr darauf angewiesen, unter den Jägern des Königs aufgenommen zu werden.

Sie nahm den Leinenschal und wickelte ihn sich straff um ihre Brüste. Nun würde niemand mehr die verräterischen Knospen sehen. Vorsichtig streifte sie erneut das Kleid über. Verliebt darin, ihn zu berühren, strich sie den blauen Stoff glatt. Sie nahm ihren braunen Gürtel und schnallte sich ihn um die Taille. Dann zog sie das Jagdmesser aus dem Astloch und schob es zurück in Scheide. Schließlich warf sie sich den Köcher über die Schulter, nahm den Bogen und ihr altes Lederhemd und trat hinter dem Vorhang hervor.

Der Händler sah sie und stöhnte auf, als habe er einen Fausthieb in den Magen bekommen. »So geht das nicht. Man trägt kein Kleid auf einer Hose. Das sieht ja aus wie ...« er breitete die Arme aus. »Das sieht aus wie ... Wie eine Rose auf einem Kuhfladen!«

Björn lachte schallend. »Nein! Sie sieht aus wie eine Wildkatze, die sich in eine Kleidertruhe verirrt hat. So passt das Kleid zu ihr.«

Kadlin ballte die unverletzte Faust. Einen Atemzug lang war sie versucht, dem ungehobelten Kerl einen weiteren Haken zu verpassen. Aber wenn sie noch einmal so zuschlug wie heute Morgen, dann würde sie dem Bogenschützenwettkampf nur noch als Zuschauerin beiwohnen können.

»Wollen wir gehen?«, fragte sie kühl.

»Wohin immer du willst, meine Schöne. Ich würde dir mit Freuden bis ans Ende der Welt folgen.«

»Du hast Glück, vorerst will ich nur bis zum Schützenplatz am anderen Ende der Stadt.«

»So? In diesem Aufzug?« Er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht!«

»Warum?« Sie war stehen geblieben und stemmte trotzig die Hände in die Hüften. »Bist du jetzt doch derselben Meinung wie der Krämer?«

»Du wirst sie völlig verrückt machen, die anderen Bogenschützen. Sie werden dich angaffen. Du wirst ihr Blut in Wallung bringen. Sie ..,«

»Ich denke, ich sehe aus wie eine Wildkatze, die durch eine Kleidertruhe getollt ist?«

Björn lächelte verzweifelt. »Ich wollte dich damit nicht beleidigen. Jeder Jäger bewundert die Wildkatzen, ihre Schönheit und die gleitende Anmut ihrer Bewegungen.«

Kadlin hielt ihm ärgerlich die bandagierte Hand entgegen.

»Von der Anmut meiner Bogenkünste hat dein Kinn nicht viel übrig gelassen. Mir ist es nur recht, wenn ich die anderen durcheinander bringe. Das ist Luths gerechter Ausgleich dafür, dass ich mit der gleichen Anmut schießen werde, mit der ein besoffenes Pferd durch einen Apfelhain taumelt.«

Vereinte Seelen


Jules ließ sich auf dem großen Felsblock inmitten der Lichtung nieder. Die Ordensbrüder und -schwestern waren niedergekniet, eine Bewegung vollkommener Harmonie. Sie alle hatten im gleichen Augenblick die Knie gebeugt und ihre Köpfe gesenkt. Da kauerten sie nun im Gras, stolz und demütig zugleich.

»Sie wären gute Krieger«, flüsterte Michel. »Nie zuvor habe ich solche Disziplin gesehen.« Der rothaarige Krieger hatte sich Jules vor drei Tagen ungefragt angeschlossen. Er war einer jener anstrengenden Menschen, die zu allem eine Meinung hatten und stets uneingeforderte Ratschläge auf den Lippen trugen. Wie eine Klette hing er an seiner Kutte.

Michel hielt sich für einen bedeutenden Krieger. Dabei war er spindeldürr. Das Leben in den Heerlagern hatte ihn ausgezehrt. Ständig kratzte er sich, und auf seiner linken Wange wucherte eine Hautkrankheit, die ihre grindigen Finger den Hals hinabstreckte und unter dem dünnen Schal verschwand, der Michels geschundenen Nacken vor dem scheuernden Kettenhemd schützte. Jules musste ihn nur ansehen, dann begann es auch ihn zu jucken.

Michel Sarti hatte wohl keine Ahnung, dass er ihn schon am ersten Abend erkannt hatte. Vor ein paar Jahren noch hätte er den Krieger sofort getötet, aber inzwischen war der ehemalige Söldnerhauptmann zu einem Opfer des Friedens geworden. Der Schlächter von Avron, der Blutfürst von Ruonnes, war heute nur mehr ein groteskes Zerrbild dessen, was er einmal gewesen war. Aber in ihm brannte noch immer ein Feuer. Michel war nach wie vor von der festen Überzeugung durchdrungen, zu Großem berufen zu sein, auch wenn ihm seine Söldner längst davongelaufen waren, weil ihn das Glück verlassen hatte.

Jules bedachte ihn mit einem Lächeln, das Michel wieder einmal als wohlwollend missverstand. Das Schicksal schlug manchmal seltsame Kapriolen. Ein Mann voller fanatischer Leidenschaft, in dem das Lebenslicht trotz aller Rückschläge noch stark brannte, kam ihm jetzt sehr gelegen. Seit dem ersten Abend, an dem sie sich begegnet waren, lag Michel ihm in den Ohren, dass der Orden sich bewaffnen müsse. Er brauche Schwert und Schild, um sich vor den Unwägbarkeiten der Adelspolitik zu schützen. Der Tjuredglaube wuchs über die Grenzen der Königreiche hinaus. Er brauchte Streiter, die nicht einem Herrscher unterstanden, sondern allein der Kirche. Die Idee war bestechend, fand Jules. Doch die Gründung eines solchen Ordens würde er gewiss nicht in die Hände von Michel legen.

Der Wanderer verabscheute Fanatiker. Er war auf sie angewiesen, denn sie waren überaus nützlich bei der Verbreitung des Tjuredglaubens. Vor fünfzehn Jahren hatte er die Kirche fast vernichtet. Drei Refugien waren seinen Versuchen, die Shi-

Handan zu erschaffen, zum Opfer gefallen. Mehr als hundertfünfzig Ordensbrüder und -schwestern waren damals umgekommen. Und es hatte ihm nichts gebracht außer Zweifeln. Die junge Kirche aber hatte der Aderlass in eine tiefe Krise gestürzt. Niemand zweifelte daran, dass diese Bluttaten grausame Racheakte der Elfen waren; schließlich hatten die heimtückischsten der Albenkinder ja auch den heiligen Guillaume ermordet. Aber in ihrer Angst hatten viele Priester die Ordenshäuser verlassen. Sie hatten das Gefühl, sie seien nirgends mehr sicher, es sei denn, sie schworen ihrem Gott Tjured ab.

Es war mühsam gewesen, diese Angst zu bekämpfen. Zu allem Übel war auch noch ein Krieg zwischen Angnos und Fargon ausgebrochen, und die Söldnerhorden beider Seiten hatten mit großer Hingabe die Refugien der Tjuredpriester geplündert. Jules sah den Krieger an seiner Seite an. Er war der Grausamste von allen gewesen. Sich jetzt bußfertig zu geben und darauf zu spekulieren, einen Kriegerorden innerhalb der Kirche anführen zu können, war geradezu tolldreist. Wäre er militärisch begabter gewesen oder zumindest aufrichtig vom Glauben an Tjured durchdrungen, vielleicht hätte er Michel Sarti dann tatsächlich mit dieser großen Aufgabe betraut. Aber so wie die Dinge standen, war es besser, ihn auf andere Weise im Dienst der Kirche einzusetzen.

Jules Finger gruben sich in das dicke Moospolster auf dem grauen Felsblock. Er streichelte über die gewundenen Spiralmuster, die tief in den Stein eingegraben waren. Die Lichtung lag nicht weit vom Refugium des heiligen Lucien, einer Neugründung, die noch keine zehn Jahre alt war. Es war eine von drei Niederlassungen der Kirche, in denen Jules seinen Einfluss nutze, um die Ordensbrüder auf einen neuen Weg zu führen. Das Refugium lag tief im Wald, weit abgelegen von jeder Siedlung. Regelmäßig war er in den letzten Jahren hierher gekommen, um die Fortschritte der Brüder und Schwestern zu beobachten.

»Erhebe dich, Bruder Sebastien. Ich hasse es, einen Freund knien zu sehen.« Alle Brüder und Schwestern erhoben sich zugleich, als der Abt aufstand. Sebastien war ein großgewachsener Mann mit breiten Schultern. Auch er war Krieger gewesen. Jules fand es sehr zweckmäßig, ehemalige Hauptleute zu Äbten zu machen. Wer eine Schar Kämpfer unter Kontrolle halten konnte, der war auch in der Lage, ein Refugium zu leiten. Stets achtete er allerdings darauf, dass die ehemaligen Krieger auch wirklich vom Glauben an Gott durchdrungen und willens waren, nun seine Soldaten zu sein.

»Jeder von euch weiß, was ich erwarte?« Seine Stimme klang wie die eines besorgten Vaters, dessen liebster Sohn sich aufmachte, eine gefährliche Reise anzutreten. Er hatte diesen Tonfall sorgfältig einstudiert. Die Fehler von vor fünfzehn Jahren würde er nicht noch einmal begehen. Die Ereignisse in Albenmark entglitten ihm langsam. Diesmal musste es gelingen! Die Trolle waren allzu stark geworden. Wenn er nicht eingriff, würden sie Emerelle besiegen, und der Krieg wäre in wenigen Monden vorüber. Er musste dafür sorgen, dass die übrigen Albenkinder sich mit mehr Elan auf die Seite der Königin schlugen. Er wollte einen Krieg, der Albenmark ausblutete und zuletzt zerstörte. Und dazu brauchte er die Shi-Handan.

Die Brüder und Schwestern aus dem Refugium des heiligen Lucien waren mit allen Einzelheiten seines Planes vertraut. Nur dass er nicht wirklich für Tjured kämpfte, wenn er auf die Vernichtung der Albenkinder sann, wussten sie nicht. Wenn sein Zauber diesmal glückte, dann besaß er die vollkommene Waffe!

»Sind eure Seelen rein, und habt ihr mit allen irdischen Wünschen abgeschlossen?«, fragte Jules feierlich.

»Wir sind bereit, Tjured das höchste Opfer zu bringen«, antworteten die Brüder und Schwestern wie mit einer Stimme.

»So seid nun Zeugen eines Wunders. Blickt in das Licht Gottes. Gebt euch hin! Wandert durch das finstre Tal und seid seine Diener, selbst wenn ihr die Fesseln des Fleisches abgestreift habt. Und höret: Wenn seine Feinde besiegt sind, so werdet ihr die Ersten sein, die in das neue Reich des Lichtes ziehen. Ihr werdet Seite an Seite mit den Heiligen und Märtyrern die ewige Glückseligkeit erleben.«

»Sechzig Füße sind wir, doch wir gehen einen Weg. Sechzig Hände sind wir, doch wir verrichten ein Werk. Dreißig Häupter tragen wir, doch uns vereint ein Gedanke, das Leben für Tjured«, so antworteten sie wie aus einem Munde.

Ein Gedanke des Wanderers entzündete die schwarzen Kerzen im Gras, und Jules‘ Geist griff nach den Albenpfaden, die sich vor dem moosbewachsenen Felsen kreuzten. Es waren nur sechs. Kein großer Albenstern. Doch es musste genügen. Lange hatte er an sich gezweifelt, weil ihm nicht gelingen wollte, was eine ungewaschene Trollschamanin vollbringen konnte: die Yingiz mit einer lebenden Kreatur zu verschmelzen, um einen Shi-Handan zu erschaffen. Es waren Jahre dumpfen Brütens verstrichen, bis ihm aufging, dass es vielleicht nicht an ihm, sondern an den Ordensbrüdern gelegen hatte. Er wusste keine Einzelheiten, aber er vermutete, dass Skanga für ihren Zauber Elfen benutzt hatte — Geschöpfe, deren Lebenslicht über Jahrtausende brennen konnte. Kein Mensch konnte sich damit messen. Also hatte er versucht, Ordensgemeinschaften zu fördern, in denen die Brüder und Schwestern in völliger Harmonie miteinander lebten. Sie sollten regelrecht verschmelzen, so wie die Stimmen eines Chors zu einer einzigen wurden. Er hatte ihnen erklärt, was mit ihnen geschehen würde, damit sie für die Schrecken der letzten Augenblicke ihres fleischlichen Lebens gewappnet waren. Sie waren Fanatiker. Seit einem Jahr sehnten sie diesen Tag herbei, um den Krieg nach Albenmark zu bringen und den Tod der Märtyrer aus Mons Gabino und den anderen Refugien zu rächen. Sie gingen völlig in ihrem heiligen Eifer auf.

Jules hörte, wie Michel neben ihm erschrocken nach Luft japste, als sich das Tor aus goldenem Licht erhob. Der Wanderer legte dem Söldnerhauptmann einen Arm um die Schultern.

»Du hast die Ehre, zum Zeugen eines Wunders zu werden. Nicht alles, wovon die Ordensbrüder erzählen, ist frommes Geschwätz«, fügte er etwas leiser hinzu. »Bist du bereit, deinen Teil zu diesem Wunder beizutragen und zum Soldaten Gottes zu werden?«

»Ja!«, stieß er aus rauer Kehle hervor. Seine blaugrauen Augen waren vorgequollen, er zitterte. Ob ihm bewusst wurde, dass es ein Fehler gewesen war, die Macht Tjureds herauszufordern, als er seine Diener niedermetzelte? Glaubte er nun die Macht Gottes zu spüren?

Jules griff nach dem Lebenslicht des Kriegers. Der Schlächter stöhnte auf. Ein Faden klebrigen Lichts troff wie Speichel von seinen Lippen. Der Wanderer spürte, wie das Fleisch des Kriegers unter seinem festen Griff schmolz. Ungerührt sahen die Ordensschwestern und Brüder zu, wie Michel sein Lebenslicht gab, um die Yingiz zu rufen. Sie alle wussten, wer Michel war. Und sie hießen es gut, dass er sein Leben gab, um auf diese Weise den Tod so vieler Diener Tjureds zu sühnen.

Der Wurm aus Licht wand sich dem Dunkel im goldenen Torbogen entgegen. Bald würde er wissen, ob er ein Schwert aus Stahl oder zerbrechlichem Kristall erschaffen hatte, dachte Jules beklommen. Waren die Brüder und Schwestern stark genug, den Yingiz zu widerstehen? Konnte er endlich die Schnüre ziehen, die er ausgelegt hatte, oder würde der Krieg um Albenmark völlig seiner Kontrolle entgleiten?

Das Mädchen im blauen Kleid

Nur fünf Bogenschützen waren noch übrig geblieben. Zwei Tage dauerten die Wettbewerbe nun an. Mehr als dreihundert waren gekommen, um den ehrenvollen Titel eines Jägers des Königs zu erringen. Einen Titel, um den man jedes Jahr aufs Neue kämpfen musste, denn nur wer sich stets bewährte, durfte bei den Jägern bleiben. Siebenundzwanzig Veteranen der letzten Jahre waren ausgeschieden. Es war ein tückisches Wetter für einen Schützenwettkampf. Immer wieder stürmten kalte Böen vom Fjord die Wiese hinauf. Sie trieben die Pfeile aus ihrer Bahn und betrogen so manchen Schützen um seine Ringe. Doch ein guter Jäger musste so etwas berücksichtigen! Auf der Pirsch durfte er auch nicht hoffen, noch Gelegenheit zu einem zweiten Schuss zu haben, wenn sein erster Pfeil das Ziel nicht traf.

Alfadas ertappte sich dabei, wie er dem Mädchen den Sieg wünschte. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte es ihm einen schmerzhaften Stich in sein Herz versetzt. Das blaue Kleid und das flammend rote Haar ... Sie war wie seine Kadlin. Sein kleiner Rotschopf, dessen bleiche Knochen in irgendeinem der Täler am Rentiersteig lagen. Unbegraben wie so viele andere, die zu Opfern der Trolle geworden waren. Seine Kleine hätte jetzt das gleiche Alter wie die Bogenschützin dort unten. Bis er die Jägerin vorgestern zum ersten Mal gesehen hatte, war Kadlin in seinen Gedanken immer nur das kleine Mädchen gewesen, das er verloren hatte. Das Mädchen im blauen Kleid, das den riesigen schwarzen Hund zu seinen Füßen gezähmt hatte, das mit torkelndem Schritt durch den Kies am Ufer des Fjords gelaufen und seinen Namen noch nicht hatte aussprechen können. Ihr blaues Kinderkleid war alles, was ihm von ihr noch geblieben war. Er hatte es im zerstörten Firnstayn gefunden, an jenem Tag, an dem er für immer seinen Seelenfrieden verloren hatte. Sein Heerzug nach Albenmark war in einem Sturm aus Feuer und Blut auf das Fjordland zurückgefallen. Die Skalden machten ihn zum Helden und zum Retter, weil er die Trolle in den Norden zurückgetrieben hatte. Aber er wusste es besser. In Wahrheit war er der Schlächter seines Volkes. Wäre er doch wie sein Vater Mandred im Netz der Albenpfade verschollen! Für sein Volk wäre das besser gewesen!

Die Pfeile schnellten von den Sehnen. Hundert Schritt standen die großen Scheiben aus geflochtenem Stroh entfernt. Fünf Ringe umschlossen das Auge aus roter Farbe. Wer das Auge traf, das kleiner als eine Hand war, der machte zehn Ringe. Schon der Ring, der das Auge umschloss, zählte nur noch fünf.

»Wenn er es versaut, dann werde ich ihm bis zum Hals den Arsch aufreißen«, murmelte Lambi. Der Herzog spielte nervös mit seinem silbernen Trinkbecher. Sein Sohn Björn hatte es unter die letzten Fünf geschafft. Fünf, die von dreihundert geblieben waren! Eigentlich hatte Lambi schon jetzt allen Grund, stolz auf den Jungen zu sein. Aber für den Herzog war sein einziger Sohn eine große Enttäuschung. Als Schwert- und Axtkämpfer hatte Björn sich niemals bewährt. Im Kampf gegen einen Troll würde er keine zehn Atemzüge lang überleben. Björn war nicht so grobschlächtig wie sein Vater. Er unterhielt sich gern mit Vehleif, dem Skalden, und Gundaher, dem Baumeister und Chronisten. Lambi brachte er damit zur Weißglut. Dass dessen Sohn zu den besten Bogenschützen des Königreichs gehörte, zählte für den Herzog kaum. Für ihn war nur der ein Krieger, der seinem Feind von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat und sich mit dessen Blut besudelte. Bogenschützen hielt Lambi für Feiglinge.

Der dumpfe Aufschlag, mit dem sich die Pfeile in die Strohscheiben bohrten, war bis zum Ehrenplatz des Königs zu hören. Eine der Scheiben stürzte unter der Wucht des Treffers um. Das war Eiriks Geschoss. Er war der Jagdmeister des Königs. Trotz seiner Jugend hatte er sich bewährt. Eirik war ehrgeizig und aufbrausend. Ulric konnte den Jagdmeister nicht leiden. Seit ihren Kindertagen waren sie Feinde. Aber auf solche Empfindlichkeiten konnte er als Herrscher und Heerführer keine Rücksicht nehmen. Eirik war ein guter Anführer, den die Männer respektierten.

Zwei der Schützen verließen fluchend die Wiese. Einer von ihnen war ein wahrer Hüne, ein Kerl mit dichtem Vollbart und schütterem, weißblondem Haar. Nun waren nur noch das Mädchen, Björn und Eirik übrig.

»Der streichelt seine Bogensehne wie Vehleif die Saiten seiner Laute«, grummelte Lambi verstimmt. »Bei dem wird man nie sehen, dass eine Scheibe umstürzt. Die Nadelstiche einer Jungfer sind gefährlicher als seine Pfeile.«

Alfadas legte seinem Weggefährten den Arm um die Schultern. »Sei nicht so streng mit ihm! Er gehört zu den besten drei des Fjordlands, obwohl noch kaum Flaum auf seinen Wangen spießt. Jeder andere Vater wäre stolz.«

Lambi sah ihn verbittert an. »Da kannst du nicht mitreden. Dein Sohn ist der beste Schwertkämpfer des Reiches. Du hast es nie erlebt, wie es ist, wenn dein Junge immer nur die zweite Wahl ist. Und jetzt sieh dir mal an, wie er der Rothaarigen nachgafft. Gleich tritt er noch auf seine Zunge, der läufige Bastard. Ich kann froh sein, wenn er nicht auf die Idee kommt, sie hier vor allen zu bespringen. Kannst du das fassen? Er ist der Herzogssohn. Er könnte Königstöchter abbekommen, wenn ich es wollte. Und was tut er? Er steigt irgendeiner ungewaschenen Schlampe aus den Bergen nach. Siehst du dieses verfluchte blaue Kleid? Das hat er ihr geschenkt, obwohl sie ihm fast den Kiefer gebrochen hat.«

Alfadas schmunzelte. »Hat sie ihn mit dem Bogen niedergeschlagen?«

»Von wegen Bogen! Einen Fausthieb hat sie ihm verpasst. Die schlägt zu wie ein auskeilender Esel. Und was macht mein trotteliger Sohn? Der schenkt ihr vor lauter Dankbarkeit für die Prügel ein Kleid, das so teuer ist, dass man ein ganzes Gehöft dafür kaufen könnte. Die hat ihm das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel geprügelt. Hat dir Ulric denn gar nichts erzählt? Er hat daneben gestanden.«

Der König schüttelte den Kopf. »Nein. Du kennst ihn doch. Er ist zu ernst, um solche Geschichten zu erzählen.« Alfadas beobachtete, wie die Bogenschützen erneut in Stellung gingen. Daher also rührte der Verband an der linken Hand der Rothaarigen. Er seufzte. Es war nicht gut, sich so viele Gedanken um das Mädchen zu machen. Sie stürzte ihn in ein Wechselbad der Gefühle. Er hatte Spaß daran, ihr zuzusehen. Sie schien ein ausgemachter Sturkopf zu sein. Eine Hose und ein Kleid zusammen zu tragen! Sich mit Männern zu prügeln und die Oberhand zu behalten. Sich als einziges Weib zu den Jägern zu melden und hier nun bei den besten drei zu stehen. Und das, obwohl ihre linke Hand verletzt war. Was würde geschehen, wenn sie siegte? Sie würde einen schweren Stand unter den Jägern haben.

Doch im gleichen Maße, wie sie seinem Herzen Freude bereitete, brachte sie ihm auch Schmerz. Die alten Albträume waren in den letzten Nächten wiedergekehrt. Er dachte an all die toten Kinder, die er entlang der Route des Flüchtlingszugs auf dem Eis des Fjordes gesehen hatte. An die kleinen steifgefrorenen Hände, die aus den eingeschneiten Kleiderbündeln ragten. Und dann hörte er wieder die dünne Kinderstimme, die seinen Namen rief. Sie kam aus einem Bündel, aus dem ein roter Haarschopf hervorlugte. Halb im Schnee vergraben, streckte sich ihm eine Hand entgegen. Kadlin.

Er presste die Lippen aufeinander und versuchte die Albtraumbilder aus seinen Gedanken zu vertreiben. Diesen Sommer würde er die Trolle bluten lassen! Niemals würde er Frieden mit den Menschenfressern schließen, die ihm seine Familie geraubt hatten. Und er würde das fremde Mädchen nicht an seine Tafel rufen. Nicht einmal, wenn sie das Wettschießen gewann. Er musste sich vor ihr hüten! Silwyna hatte ihn vor ihr gewarnt. Seine Geliebte hatte gleich am ersten Tag des Wettschießens bemerkt, wie sehr ihn der Anblick der rothaarigen Jägerin aus dem Gleichgewicht brachte. Dass mit ihr die Geister der Toten zurückgekehrt waren. Silwyna hatte ihm wiederholt geraten, den Umgang mit dem Mädchen zu meiden. Sie kannte ihn gut. So gut ... Er sah zu ihr hinüber. Sie saß zu seiner Linken an dem groben Tisch, den man auf die Wiese gestellt hatte. All die Jahre war sie bei ihm geblieben.

Die Elfe spürte seinen Blick. Sie sah zu ihm hinüber und lächelte. Flüchtig streifte ihn ihre Hand. Dann wandte sie sich wieder den verbliebenen Bogenschützen zu. »Das Mädchen ist gut«, sagte sie stolz.

Alfadas betrachtete noch immer die Maurawani. Für einen Augenblick hatte er das Turnier und seine schmerzlichen Erinnerungen vergessen. Sie hatte das Haar aus der Stirn zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Das ließ ihr scharfkantiges Gesicht noch strenger aussehen. Sie trug lederne Jagdkleidung. Ihr schwarzer Zopf lag wie ein Schmuckstück um ihren Hals. So viele Jahre kannten sie sich schon. Sie sah noch immer so aus wie an jenem fernen Tag, an dem sie sich am Hof der Elfenkönigin zum ersten Mal begegnet waren. So würde sie noch aussehen, wenn sie an seinem Sterbebett saß. Er alterte und verfiel. Und sie hatte nicht ein einziges graues Haar. Die Zeit hatte keine Macht über Elfen. Oft fragte sich Alfadas, was Silwyna an seiner Seite hielt. Er war kein einfacher Mann. Nein, das war er wirklich nicht. Asla, sein Weib, hatte immer darunter gelitten, wie er zum Hartungskliff hinaufgeblickt und sich zurück nach Albenmark gesehnt hatte. Damals hatte er oft an Silwyna gedacht. Und nun ging ihm Asla nicht aus dem Kopf. Asla, der er nicht beigestanden hatte, als sie ihn am meisten gebraucht hätte.

Er musste wohl verrückt sein! Immer sehnte er sich nach dem, was er nicht hatte. Seine Seele fand keinen Frieden. Er hätte längst nach Albenmark reisen müssen, um dort seinen Sohn Melvyn zu besuchen. Doch er konnte das Fjordland nicht verlassen. Er durfte es nicht! Die Trolle waren unbesiegt. Niemand wusste, wann es ihnen wieder einfallen würde, gen Süden zu ziehen. Er durfte seinem Königreich nicht den Rücken zukehren! Die Trolle waren gekommen, weil die Fjordländer auf Seiten der Elfen gekämpft hatten. Seit Menschengedenken lebten sie hoch oben in den unwirtlichen Bergen, und nie waren sie ins Königreich eingefallen. Aber jetzt hatten sie Blut geleckt. Sie konnten jederzeit wiederkommen. Kaum ein Mond zog vorüber, ohne dass es Meldungen von der Grenze gab. Gestohlenes Vieh. Einsame Gehöfte, die man niederbrannte. Es konnte erst dann Frieden geben, wenn es ihm gelang, den Felsen einzunehmen, in dem ihre Höhlen lagen. Sie mussten fühlen, wie es war, vor den Gräbern der eigenen Kinder zu stehen.

Alfadas wurde die Kehle eng. Wenn es nur ein Grab für Asla und Kadlin gegeben hätte! Einen Ort, den er besuchen konnte, um dort zu trauern. Aber sie waren einfach aus seinem Leben gerissen worden. Und nichts gab es, was diese Lücke füllte, nicht einmal ein Grab.

Der König kannte die verrückten Geschichten, die man sich über seinen Sohn Ulric erzählte und über dessen Weib Halgard. Man hielt sie für Wiedergänger, für lebende Tote! Sie hatten keine Ahnung. Der lebende Tote, das war er und nicht sein Sohn!

Es gab nur eines, worauf er stolz war. Er hatte das Fjordland stark gemacht. Alfadas hatte mit harter Hand regiert, aber niemand nannte ihn einen ungerechten König. Er hatte aus Asche ein Reich errichtet. Und jedes Jahr drängten seine Krieger die Trolle ein kleines Stück weiter in den Norden zurück. In diesem Jahr würden sie eine Burg aus Stein am Hammerpass errichten. Ein uneinnehmbares Bollwerk. Den ganzen Winter über hatte er mit Gundaher an den Plänen gearbeitet. Aus der Schlacht um Phylangan wusste er, wie eine Burg beschaffen sein musste, wenn man die Trolle bluten lassen wollte.

Ein Johlen aus hunderten Kehlen riss Alfadas aus seinen Gedanken. Eirik hatte geschossen, und Vehleif war hinter die Strohscheibe getreten und streckte die geballte Faust hoch. Der Jagdmeister hatte ins Auge getroffen.

Lambi fluchte leise vor sich hin. Alfadas war immer wieder überrascht, dass dem Herzog nach all den Jahren, die sie sich kannten, immer noch neue Verwünschungen einfielen, die sich um Körperteile drehten, die nur selten das Licht der Sonne beschien.

Nun war das Mädchen an der Reihe. Was hatte er Luth getan, dass sich sein Lebensfaden mit dem der Jägerin kreuzte? Warum musste sie Kadlin heißen und auch noch ein blaues Kleid tragen? Ein Teil seiner Seele wünschte ihr den Sieg, der andere Teil fürchtete ihn.

Kadlin zog die Sehne bis zur Wange durch. Einen Herzschlag lang hielt sie inne, dann ließ sie den Pfeil davonschnellen. Und im selben Augenblick stürmte eine plötzliche Böe über die Wiese. Gespannte Stille lag über der Menge der Zuschauer. Alfadas konnte nicht recht erkennen, ob der Pfeil getroffen hatte. Die Scheiben standen jetzt hundertzwanzig Schritt entfernt. Man musste Habichtsaugen haben, um den innersten Kreis überhaupt noch sehen zu können, geschweige denn ihn zu treffen.

Vehleif trat zur Scheibe. Dann streckte er die Hand hoch und zeigte alle Finger. »Fünf Ringe!«, hallte seine Stimme über das weite Feld. »Das Auge ist um einen halben Finger breit verfehlt.«

»Danke, Luth!«, zischte Lambi. »Heute Abend vergieße ich ein Horn voll besten Mets für dich.« Alfadas empfand keine Freude. Es war ein Wunder, dass das Mädchen mit der verbundenen Hand so weit gekommen war. Vielleicht sollte er sie trotz allem an seine Tafel einladen. Nie war eine Frau zum Wettkampf der Jäger angetreten. Und außerdem war er der König. Wer schrieb ihm vor, mit wem er speiste? Verdient hätte sie es. Er dachte an Silwynas Rat. Nein! Es war besser, das Mädchen im blauen Kleid zu meiden. Diese falsche Kadlin würde ihm nur Kummer machen. Es war besser, die Toten ruhen zu lassen.

Fremde Heimat

Ollowain trat in helles Licht. Geblendet sah er sich um. Der Duft des Sommers lag in der Luft. Sanfte Hügel umgaben ihn. Ein gutes Stück entfernt erhob sich eine einsame Esche. Das Tor hinter ihnen hatte sich bereits geschlossen. Ganda hatte versucht, sie durch das Labyrinth der sich kreuzenden Albenpfade von der Bibliothek direkt ins Herzland zu bringen. Zuletzt hatte sie wirr von den Farben der Magie gesprochen und von einer heimtückischen Falle. Noch bevor sie das Tor erreichten, war sie ohnmächtig geworden.

Sanft bettete Ollowain die Lutin in das hohe Gras. Sie hatte viel Blut verloren. Sein weißes Gewand war ganz durchtränkt davon. Er schnallte seinen Dolch vom Gürtel und löste den notdürftigen Verband um ihren Armstumpf. Zwei zarte Knochen hatten sich aus dem geschundenen Fleisch geschoben. Noch immer rann Blut aus der grässlichen Wunde. Der Elf wand den Stoff zu einer Schlinge und legte sie um den Arm der Lutin. Dann schob er den Dolch durch die Schlinge und drehte ihn so lange, bis der Stoff tief in das Fleisch der Lutin schnitt. Erst als die Blutung gestillt war, band er den Dolch mit einem zweiten Stoffstreifen fest, damit er nicht verrutschen konnte. Es war nur eine armselige Aderpresse, aber fürs Erste musste das genügen.

Müde erhob sich der Schwertmeister und ging ein paar Schritte durch das hohe Gras. Einzelne goldene Weizenhalme sprenkelten die Wiese. Sie beugten sich unter schweren Ähren. Der Sommer schien weit fortgeschritten zu sein. Etwas musste auf ihrer Flucht geschehen sein. Ollowain kannte die Tücken der Albenpfade. Wer sie nicht gut kannte, konnte sich auf ihnen verlieren. Jahrhunderte konnten binnen Augenblicken verstreichen, wenn man einen Fehler machte! Emerelle hatte ihm zugesichert, dass Ganda eine Meisterin der Wege war. Aber sie war schwer verletzt gewesen. Der Schmerz und der Schock mussten sie halb wahnsinnig gemacht haben.

Verzweifelt blickte der Elf zum Himmel. Das unvergleichliche, klare Licht Albenmarks schien auf ihn hinab. Wenigstens hatte es sie nicht in die Welt der Menschen verschlagen! Vielleicht waren ja nur wenige Wochen vergangen? Sie durften nicht zu spät kommen! Emerelle hatte so sehr darauf gedrängt, dass sie sich beeilten.

Ollowain ließ den Blick von Horizont zu Horizont wandern. Zumindest hier hatten die Schatten nicht die Herrschaft angetreten. Sie kamen noch rechtzeitig. Ganz gewiss! Er musste herausfinden, wo sie waren. Und vor allem musste er eine Heilkundige auftreiben, die sich um Gandas Wunde kümmerte!

Entschlossen ging er zurück zur Lutin. Sie lag noch immer reglos. Auf ihrer Brust ruhte ein großes Buch. Ungläubig kniete Ollowain nieder und tastete nach dem schweren Ledereinband. Es war keine Illusion! Das Buch war Wirklichkeit! Er erkannte es sofort wieder. Es war jenes Buch, das auf dem niedrigen Tisch in Galawayns Zelt gelegen hatte. Was hatte dieses närrische Koboldweib nur getan! Sie wusste doch, welche Strafe darauf stand, ein Buch aus der Bibliothek von Iskendria zu stehlen. Und wie hatte sie es geschafft, dass er nichts davon bemerkte? Als er sie eben noch in den Armen gehalten hatte, hatte sie ganz sicher kein Buch bei sich gehabt!

Was sollte er tun? Sie musste versorgt werden. Aber er konnte sie nicht zu Emerelles Burg bringen. Wahrscheinlich wartete dort schon Meister Reilif oder ein anderer Hüter des Wissens, um das Buch zurückzufordern. Einen Augenblick war Ollowain versucht, das Buch einfach im hohen Gras liegen zu lassen. Er könnte behaupten, sie hätten es nicht mitgenommen. Und wenn er die Geschichte vom Mörder in der Bibliothek vortrug, dann gab es einen anderen Verdächtigen für den Diebstahl. Ob die Hüter des Wissens bemerkt hatten, dass der Minotaur nicht mehr der war, für den sie ihn hielten? Wenn nicht, dann war er sicher schon längst getürmt ... Oder er hatte sich eines neuen Körpers bemächtigt. Die vergangenen Wochen hatte der Mörder gewiss nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Der Schwertmeister blickte zweifelnd zum Himmel hinauf. Oder waren mehr als nur ein paar Wochen vergangen? Er musste eine Antwort darauf finden.

Drei Stunden trug er Ganda auf den Armen, bis er einer Blütenfee begegnete. Sie wies ihm den Weg nach Yaldemee, einer Stadt jenseits des Hügellandes. Sie lag etwa zwei Tagesmärsche von Emerelles Burg entfernt.

Mit seinem blutbefleckten Gewand und der bewusstlosen Lutin auf den Armen erregte Ollowain einiges Aufsehen. Yaldemee war keine Siedlung wie Iskendria oder die Städte, die überwiegend von Kobolden bewohnt wurden. Die Häuser standen hier nicht dicht an dicht. Sie verteilten sich auf einer großen Fläche. Es gab eine Reihe von Seidenhäusern, so nannte man die merkwürdigen Bauwerke, die sich in etlichen Baumkronen versteckten. Die Wände waren aus zähem, wasserabweisendem Papier gefertigt. Wie die Schalen einer Zwiebel lagen viele Wände hintereinander, und im Innersten verbarg sich meist eine große, drückend warme Kammer, in der die ganze Familie lebte. Der Schwertmeister bemerkte winzige, kaum daumenhohe Türen im Wurzelwerk alter Eichen. Dahinter verbargen sich die Heime von Mauslingen, einem besonders kleinwüchsigen Koboldvolk. So unscheinbar sie waren, hatten sie Yaldemee berühmt gemacht mit den Farben, die sie mischten, und die in ihrer Leuchtkraft und Schönheit in ganz Albenmark nicht ihresgleichen fanden. Auch suchte jeder, der ein Buch kunstvoll illustrieren lassen wollte, nach einem Kupferstecher aus Yaldemee.

Ollowain spürte, wie er beobachtet wurde. Hinter jedem Grashalm, in jedem Gebüsch, überall lauerten Augen. Ein Stück entfernt standen ein paar windschiefe Hütten an einem träge zwischen den Bäumen dahinsickernden Bach. Wuchernde Blumenkisten, in denen Buschwindröschen ein Feuerwerk der Farben abbrannten, lenkten vom schäbigen Grau der Holzwände ab. Ein Stück entfernt erhob sich ein Elfenpalast auf einer Hügelkrone. Schlanke Marmorsäulen trugen ein Dach aus warmroten Ziegeln. Der Bau war halb in den Hügel eingelassen. Weiße Seidenbahnen wiegten sich zwischen den Säulen im Wind und winkten dem Wanderer zu.

»Ich suche eine Heilerin«, rief Ollowain. Was war hier los? Früher wäre er längst von schnatternden Kobolden umringt gewesen. Nun schienen sie ihn zu meiden. Sah er denn so sehr zum Fürchten aus?

»Meine Gefährtin ist eine Lutin. Wollt ihr denn zusehen, wie sie stirbt?«

»Wer sagt uns, dass nicht du es warst, der sie so zugerichtet hat?«, rief es aus einer Baumkrone.

»Würde ich sie dann auf Armen tragen und meine Gewänder in ihr Blut tauchen? Warum sollte ich ihr ein Leid antun?«

»Weil sie eine Diebin ist. Dieben hackt man die Hand ab«, klang es von einem anderen Baum. »Wir sind ehrliche Leute. Mit solchem Gelichter haben wir nichts zu schaffen.«

»Ich bin Ollowain, der Schwertmeister der Königin, und kein Scharfrichter!«, sagte er stolz. Sollten sie ihm doch gestohlen bleiben! Im Elfenpalast am Hügel würde ihm gewiss geholfen werden.

»Da findest du niemanden mehr«, rief eine keckernde Stimme. »Sie sind alle in den Norden gegangen, um für die Königin zu kämpfen. Der Krieg blutet das Land aus. Die Elfen haben viele von unseren Söhnen mitgenommen. Ihnen mit schönen Worten von Ruhm und Heldenmut die Köpfe verdreht.« Und viel leiser fragte er: »Sind sie schon da?« Ein winziger Kobold erhob sich vor ihm und kletterte auf einen schneeweißen Pilz. Er hatte sich ein Büschel Gras auf den Rücken gebunden, sodass er, wenn er sich bückte, eins wurde mit der blumenübersäten Waldwiese.

Ollowain überging die Frage des Mauslings. »Stell dir vor, deinem Sohn würde es in der Fremde so ergehen wie dieser Lutin hier. Verletzt und hilfsbedürftig würde ihn ein Kamerad von Tür zu Tür tragen ...«

»Spar dir dein hohles Geschwätz, Elf. Ich habe keinen Sohn in der Fremde. Und ich habe so viel Elfenpathos zu hören bekommen, dass meine Ohren für immer taub dafür geworden sind.«

Er sprang von der Pilzkappe und winkte. »Komm, ich bring dich zur Flusshexe. Sie kann der Lutin helfen.«

Ein einzelner Faun zeigte sich halb hinter einem Baum, wagte sich aber nicht zu ihnen herüber.

»Was ist hier los?«, drängte Ollowain. »Ich bin der Schwertmeister. Ich sorge dafür, dass euch Gerechtigkeit widerfahren wird.«

Der Mausling verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. »Wie sollte ich Gerechtigkeit von einem Mann erwarten, der mir nicht einmal die Wahrheit über sich erzählt. Ich kenne den Schwertmeister. Ich habe ihn ein paarmal bei Hof gesehen, und glaube mir, Fremder, du hast nichts mit ihm gemein. Im Übrigen ist es nicht klug, von sich zu behaupten, man sei ein Held, der schon seit vielen Jahren tot ist. Die Trolle haben sich Ollowain geschnappt. Jeder weiß, dass Albenmark längst seinen besten Heerführer verloren hat.«

Ollowain traute seinen Ohren nicht! Er ein Gefangener der Trolle ... Der Schwertmeister war einen Augenblick versucht, dem Mausling seine Meinung zu diesem Unsinn zu sagen. Doch es war klüger zu schweigen. Schließlich hatte er keine Ahnung, was in der langen Zeit seiner Abwesenheit geschehen war. »Welch eine Tragödie für Albenmark«, sagte er lediglich und bemühte sich, dabei nicht ironisch zu klingen.

Sie hatten den lichten Wald verlassen und steuerten auf den Wall aus Schilf zu, der sich am Ende der Wiese erhob. Eine Rohrdommel sang ihr trauriges Lied in der Hitze des Spätnachmittags. Der Mausling war verstummt. Ängstlich sah er sich um. »Komm, nimm mich zu dir auf den Arm, Lügenmeister!«, forderte er überraschend. »Hier am Waldrand gibt es ein Frettchen, das sich nicht mehr an den alten Pakt zwischen unseren Völkern hält. Es frisst Mauslinge, als seien wir irgendwelche unbedeutenden Feld-oder Wiesenmäuse.«

Ollowain nahm den verbitterten Kobold auf und setzte ihn sich auf die Schulter, wo er sich an einer Strähne seines Haars festhielt. »Du kanntest also Ollowain ...«

»Sag ich doch! Das war ein echter Held. Ein strahlender Streiter. Nicht so eine abgerissene Gestalt wie du. Du ...« Der Mausling sah ihn plötzlich argwöhnisch an. »Jetzt sag schon! Sind sie schon im Herzland? Waren sie es, die der Lutin die Hand abgehackt haben? Hat es eine Schlacht um Burg Elfenlicht gegeben? Bist du deshalb ganz mit Blut verschmiert?«

»Wer soll hier sein?«

»Die Trolle, Mann. Die Trolle! Jetzt stell dich nicht so begriffsstutzig! Sie wollen Emerelles Kopf, und wenn sie den haben, dann geht es allen hier im Herzland an den Kragen, weil wir ja angeblich Emerelles Diener sind. Was glaubst du, warum sich das kleine Volk versteckt?« Er zupfte Ollowain am Haar. »Halt dich jetzt mehr nach links. Siehst du die Kornblumen? Geh von da aus immer geradeaus auf das Schilf zu.«

»Ich habe mich mit meiner Gefährtin auf den Albenpfaden verirrt, mein Freund. Erzähl mir, was geschehen ist. Vor wie vielen Jahren ist Ollowain denn verschwunden?«

Der Kobold zwickte sich gedankenverloren in sein Kinn. Dann zählte er leise murmelnd etwas an den Fingern ab. »Also, er war schon fort, als Breitnase geboren wurde. Das war vor vierzehn Jahren.«

Ollowain blieb wie angewurzelt stehen. »Vierzehn Jahre!«

Und der Krieg mit den Trollen hatte immer noch kein Ende. Er hätte Emerelle den Befehl verweigern sollen. Sein Platz wäre hier gewesen! »Wie steht die Schlacht? Sind die Trolle tief ins Windland vorgedrungen? Waren ihre Heere nicht geschwächt?«

»Richtig schlimm geworden ist es erst seit einem Jahr. Vorher haben sie sich nur mit den Kentauren herumgeschlagen, Vieh gestohlen und ein bisschen geplündert. Aber dann hat Emerelle jeden, der eine Waffe tragen kann, in den Norden geschickt. Man hört seither keine Nachrichten ... Aber wir wissen, dass es wieder losgegangen ist.

Niemand kann sagen, was auf der Burg der Königin geschah, als ihr Schwertmeister verschwand. Aber mit ihm ist der Glanz der Elfen gegangen. Das Licht der Elfen, das Albenmark so lange geleuchtet hat, verblasst. Die Burg ist ein düsterer Ort geworden. Niemand geht dort mehr hin. In all den Jahren hat es dort kein Fest mehr gegeben. Die Auenfeen sind von den Wiesen vor der Burg geflohen ... Und man hört üble Geschichten von Schatten, die in der Burg lauern und die Seelen jener fressen, die dort noch ausharren. Selbst Emerelle soll jetzt von düsterem Gemüt sein.«

»Und ihr harrt trotzdem aus? Warum flüchtet ihr nicht, wenn ihr fürchtet, dass die Trolle alle Bewohner des Herzlands töten werden?«

»Viele sind längst fort ... Aber sieh mich an! Was hätte ein Troll davon, mich unter seinem berggroßen Fuß zu zerquetschen? Wir Mauslinge haben schon immer im Herzland gelebt

... Wohin sollten wir gehen? Und was haben wir den Trollen getan? Doch jetzt sag schon, woher kommt all das Blut?«

»Wir haben gegen einen Minotauren gekämpft, bevor wir ins goldene Netz geflohen sind«, entgegnete der Elf knapp. Sein Kopf schwirrte ihm von all den Neuigkeiten. Vierzehn Jahre! Er konnte es noch immer nicht fassen. Wäre er doch bloß niemals nach Iskendria gegangen! Hoffentlich war das verdammte Buch es wert!

Ollowain zerteilte das hohe Schilf vorsichtig mit den Armen. Brackiges Wasser umspülte seine Knöchel.

»Immer weiter rein«, drängte sein Führer. Die Rohrdommel war jetzt verstummt. Blaugrün schillernde Libellen schossen durch das Röhricht. Das Wasser stieg dem Elfen bis zu den Hüften. Blutegel stiegen aus dem Schlamm empor und setzten sich auf seine Beine. Ganda stöhnte leise.

»Ist es noch weit?«

Der Mausling sah sich verwirrt um. Dann deutete er zu einem flachen Hügel im Schilf. »Dort. Dort ist die Hütte der Flusshexe.«

Ollowain ging in die angegebene Richtung. Und tatsächlich wurde das Wasser wieder flacher. Er erklomm ein schlammiges Ufer. Wohl verborgen im Schilf fand er eine Hütte, die ihm nur bis knapp über die Hüften reichte. Wie eine üppige Frauenbrust erhob sie sich. Sie war aus goldgelbem Schilfrohr errichtet, das man im Zenit des gewölbten Daches mit einer Grasschnur zusammengebunden hatte.

»Kommt herein, Kinderchen«, erklang eine sinnliche Stimme.

»Ich bleibe draußen«, flüsterte der Mausling. »Und nimm mich bloß wieder mit, wenn du gehst.« Er gesellte sich zu einer kleinen Schildkröte, die in der Sonne döste.

Ollowain ging auf die Knie. Die Lutin und das Buch hielt er dicht an die Brust gepresst. Vorsichtig zerteilte er das Schilf der Hütte. Blaugrauer Rauch schlug ihm entgegen. Umspielt von dünnen, goldenen Lichtbahnen hockte ein nacktes Koboldweib auf einer bunten Decke. Um sich herum hatte sie dutzende kleiner Töpfe und Tiegel aufgestellt. Aus manchen stiegen dünne Rauchfäden. In anderen gluckerte etwas wie kochende Suppe, obwohl sie auf keinem Feuer standen. Die Flusshexe hatte graue, warzenübersäte Haut. Deutlich malten sich ihre Rippen ab. Schwarzes Haar hing ihr in fettigen Strähnen vom Kopf. Sie hatte sich Federn ins Haar geflochten und auch eine kleine Jadeechse mit einer Haarsträhne festgebunden.

Goldene Augen mit einer geschlitzten Pupille musterten den Schwertmeister. Eine Nase wie eine Rübe saß der Hexe im Gesicht. Zwischen ihren schmalen Lippen steckte eine lange Meerschaumpfeife.

»Ein Elf von edlem Geblüt hat sich noch nie zu mir verirrt.«

Die Hexe erhob sich und strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre warme, sinnliche Stimme wirkte unpassend. Einen flüchtigen Augenblick lang überlegte Ollowain, ob sich die Hexe diese Stimme wohl gestohlen haben mochte.

»Meine Gefährtin braucht Hilfe. Du musst sie heilen.« Die Hexe schnalzte mit der Zunge. »So schlimm steht es schon, dass ein hoher Elf eine diebische Lutin Gefährtin nennt. Haben alle anderen schon ihr Blut vergossen? Müsst ihr nun Beutelschneider und Kinderdiebe eure Schlachten schlagen lassen?«

Sie machte eine herrische Geste. »Leg sie dort vorne auf das Kleiderbündel.« Ollowain gehorchte und schluckte seinen Ärger über die hochnäsige Art der Hexe.

Das Koboldweib tastete die Lutin ab und schüttelte traurig den Kopf. »War es das wert, dein Fleisch und deine Knochen für ihre Sache zu geben?«, fragte sie Ganda leise. Doch die Lutin konnte sie nicht hören.

»Kannst du sie heilen?«

Die Reptilienaugen der Hexe musterten Ollowain kalt. »Ich kann das Fieber aus ihrem Leib treiben und sie füttern, bis sie wieder zu Kräften kommt. Aber eine Hand kann ich ihr nicht geben. Die ist für immer verloren. Es sei denn ...« Sie kaute nachdenklich auf dem Mundstück ihrer Pfeife.

»Es gibt Hexen, die können aus einem abgeschnittenen Finger eine neue Hand wachsen lassen. Aber das ist dunkle Magie, die man übt, wenn der Mond sein Antlitz verbirgt und warmes Blut vergossen wird. Mit so etwas gebe ich mich nicht ab ... Allerdings kenne ich einen Handwerker, der könnte ihr eine Hand aus lebendem Silber machen. Die wäre fast so gut wie eine echte Hand.« Sie lächelte und blies Ollowain einen Schwall Tabakrauch ins Gesicht. »Man verbrennt sich nicht mehr die Finger, wenn man einen heißen Topf vom Feuer nimmt. Hat alles seine guten Seiten, wenn man sie denn sehen will.«

»Und so eine Hand kannst du ihr geben?«

»Darüber muss sie selbst entscheiden. Sie ist in einem Maße verstümmelt, wie du es dir kaum vorstellen kannst, Elf. Die Lutin sind ein Volk, das sich gerne verwandelt. Sie schnüren als Füchse durch das hohe Gras, schwingen sich als Falken in den Himmel oder wühlen sich in Gestalt von Dachsen tief ins dunkle Herz der Erde hinein. Sie wird all dies nicht mehr tun können. Ganz gleich, wie sie sich verwandelt, die Hand aus lebendem Silber wird ihre Form nicht verändern. Wie ein ehernes Sklavenhalsband wird sie die Lutin in ihrem Körper gefangen halten. Doch wenn sie die Hand ablehnt, wird es auch nicht besser. Sie wäre dann ein Fuchs mit drei Pfoten, ein Falke, dem ein Stück seines Flügels fehlt. Du hast dein ganzes Leben dem Schwert gewidmet, Elf. Das sieht man dir an. Der Art, wie du dich bewegst und wie die Augen nie zur Ruhe kommen. Du bist stets bereit zum Kampf. Aber was wärst du noch, wenn ich dir deine Schwerthand abschneiden würde? So geht es der Lutin. Ihr Leben gehörte der Magie. Der Wandelbarkeit. Nun muss sie einen neuen Weg für sich finden. Und ich werde ihr diesen Weg nicht bestimmen. Sie wird Zeit brauchen, ihn zu finden. Gedulde dich so lange. Dränge sie nicht.«

»Ich kann nicht bleiben, bis sie sich entschließt. Ich muss zu Emerelles Burg.« Die Hexe hob eine einzelne Augenbraue.

»Und ich dachte schon, du wärst anders. Nun, dann muss ich darauf bestehen, dass du mich im Voraus bezahlst.«

Ollowain zuckte mit den Schultern. »Nenne mir deinen Preis, und ich werde dir schicken lassen, was immer du verlangst.«

Die Hexe lachte. »Hältst du mich für einfältig wie eine Kaulquappe? Weißt du was? Ich erneuere den Verband der Kleinen, und dann kannst du sie mitnehmen zur Königin, wenn du es so eilig hast.«

»Sie kann nicht an den Hof.«

»Hat einer von euch Dreck am Stecken? Und ich soll in diese Sache mit hineingezogen werden und auch noch darauf hoffen, dass du nicht auf Nimmerwiedersehen verschwindest? Ich habe gelacht. Jetzt lass dir etwas Ernsthaftes einfallen, Elf.«

»Du kannst mein Schwert haben. Ich werde es auslösen. Es ist eine sehr kostbare Waffe.«

»Gib es mir!«

Er reichte ihr das Schwert mit dem Griff voran. Es kostete die Hexe Mühe, die Klinge blank zu ziehen. Mit spitzen Fingern berührte sie den Elfenstahl und zuckte zurück wie vor dem Biss einer Viper. »Das bleibt nicht in meiner Hütte! So viele Seelen.«

Sie sah Ollowain erschüttert an. »So viele Seelen«, wiederholte sie. »Bring diese verfluchte Waffe hinaus. Verlass meine Hütte! Weißt du überhaupt noch, wie oft du mit dieser Waffe getötet hast? Auch wenn du hier erscheinst wie ein Bettler, du bist wahrlich ein Fürst. Ein Fürst des Todes! Hinaus mit dir.«

»Ich kann ...«

»Nicht hier!« Sie griff nach dem Buch, das er auf dem Boden abgelegt hatte, um Ganda auf das Lumpenlager zu betten. Ihre Finger glitten widerstandslos durch den Buchdeckel und die Seiten. Verdutzt betrachtete die Hexe ihre Fingerspitzen. Dann sprang sie auf, spuckte in alle vier Himmelsrichtungen und murmelte irgendeine unverständliche Beschwörung. Ganz außer Atem wandte sie sich wieder an den Schwertmeister. »Du musst ein Verfluchter sein. Nimm das Buch und das Schwert! Geh jetzt! Ich werde dir draußen sagen, was mein Preis ist.«

Zögerlich streckte Ollowain die Hand nach dem Buch aus. Für ihn war es wirklich. Er konnte es aufheben; es schmiegte sich in seine Finger, als habe es auf ihn gewartet. Vorsichtig kroch der Elf rückwärts aus der Hütte. Die Schlangenaugen verfolgten ihn.

Drückende Hitze lag über dem Schilfröhricht. Der Mausling schlief. Ollowain wischte sich über die schweißnasse Stirn. Endlich teilte sich die Wand der Hütte. Eine schlanke Koboldfrau mit weißer, fast marmorner Haut trat hinaus. Das lange Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Sie war nackt wie die Hexe.

»Was gaffst du, Elf?«, fragte sie mit heiserer Stimme. Federn waren in ihr Haar geflochten. Und eine Eidechse, die vergebens versuchte, sich aus ihrer schwarzen Fessel zu befreien.

»Du bist ...«

»Metamorphosen. Verwandlungen. Ich weiß, welchen Preis dein Koboldmädchen bezahlt.« Die schnarrende Stimme schmerzte in den Ohren. Schlangenaugen hielten Ollowain gefangen. »Ärgerlich, nicht wahr? Leib und Stimme wollen bei mir nie zusammenpassen. Doch reden wir über den Preis, Fürst des Todes. Ich werde nicht fragen, warum ihr beide nicht zu Emerelles Burg könnt. Aber bei meinem Preis wird es eine Rolle spielen. Ich will einen Streifen deiner Haut. Breit wie ein Finger und so lang wie mein Unterarm.«

Der Schwertmeister sah sie fassungslos an. Er suchte in ihrem Gesicht nach einem verstohlenen Lächeln. Einem Zucken in den Mundwinkeln, einem Augenzwinkern. Irgendeinem Zeichen, das ihre Worte als einen schlechten Scherz entlarvte. Aber da war nichts.

»Was ...« Seine Stimme versagte ihm. Er räusperte sich, musste husten. »Was willst du damit?«, stieß er stockend hervor.

»Ein Stück lebendiger Elfenhaut, das kann man für viele Dinge nutzen. Ich könnte kleine Pflaster daraus schneiden. Das hilft gegen Warzen. Vielleicht brauche ich auch einen Gürtel. Oder ich nutze die Haut, um einen Beherrschungszauber auf dich zu legen. Der Schwertmeister von Albenmark, einer Koboldhexe verfallen. Das wäre doch einmal ein Scherz. Vielleicht will ich auch einfach nur sehen, wie viel dir an der kleinen Lutin gelegen ist.« Sie zog eine kleine Obsidianklinge zwischen ihren Haarsträhnen hervor. »Bist du bereit zu zahlen?«

Ollowains Gedanken überschlugen sich. Hatte er eine Wahl? Wenn Ganda mit auf die Burg kam, dann würde sich Emerelle nicht damit zufrieden geben, wenn er behauptete, er habe das Buch gestohlen. Es war besser, wenn er allein ging. Mehr als vierzehn verfluchte Jahre! Wahrscheinlich wartete schon längst ein Abgesandter der Bibliothek. Er kannte die Königin. Sie würde versuchen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber letzten Endes würde Emerelle sich nicht über das Gesetz stellen. Sie würde die Lutin opfern, aber nicht ihren Feldherrn und Schwertmeister. Ganda musste deshalb hier bleiben. Ganz gleich, was geschah, sie durfte auf keinen Fall zur Burg zurückkehren.

»Ich zahle deinen Preis, aber du musst tun, was ich verlange. Schneide mir die Haut vom Rücken. Und wenn die Lutin erwacht, dann sage ihr, dass sie aus meinem Dienst entlassen ist. Sie soll sich zu ihren diebischen Verwandten scheren. Ich will sie nie wieder sehen. Wenn sie es wagt, auf die Burg der Königin zu kommen, dann lasse ich sie dem Scharfrichter vorführen. Sie wird wissen, wofür. Sag ihr, dass sie mich enttäuscht hat und dass ich sie verachte. Und erzähle ihr nichts von unserem Geschäft. Meinetwegen soll sie denken, dass ich sie hier im Schilf liegen gelassen habe und du sie aus Barmherzigkeit pflegst.«

In den Schlangenaugen zeigte sich keine Regung. »Dass ich barmherzig bin, würde sie niemals glauben. Ich werde auch sie bezahlen lassen.«

»Du wirst ihr kein Leid zufügen!« Ollowain legte die Hand an sein Schwert. »Wie ist dein Name, Hexe?«

»Warum sollte ich ihn dir nennen?«

»Glaubst du, ich würde ihn in Yaldemee nicht erfahren?« Sie starrte ihn mit ihren kalten Reptilienaugen an. »Man nennt mich Rika.«

»Gut. Wisse, Rika, wenn du Ganda etwas antust oder sie auch nur schlecht behandelst, so werde ich davon erfahren. Es gibt kein Loch in ganz Albenmark, das tief genug wäre, um sich dort vor mir sicher zu fühlen. Ich würde dich finden, Rika, ganz gleich, wohin du gehst. Nimm meine Haut! Aber damit ist die Schuld abgetragen! Dir wird schon etwas einfallen, was du der Lutin erzählen kannst.«

»Weil alle Kobolde geborene Lügner sind?«, fragte sie harsch.

»So wie alle Elfen von Geburt an überheblich sind?«

Ollowain zog sein Gewand über die Schultern. »Fang an.«

»Leg dich vor mir in den Schlamm.« Sie sagte das langsam, kostete jedes Wort aus.

Ollowain gehorchte ihr. Er konnte die kühle Spitze der Steinklinge zwischen den Schulterblättern fühlen. Ganz langsam fuhr sie seinen Rücken hinab. So scharf war das Messer, dass er keinen Schmerz empfand.

Die Hexe schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hintern.

»Das genügt.« Er richtete sich auf und tastete mit der Hand über seinen Rücken. Da war kein Blut. Und die Hexe hielt auch keinen Hautstreifen in Händen.

»Verschwinde jetzt, Schwertmeister! Du hast mich beeindruckt. Ich hätte niemals geglaubt, dass sich ein Elf für ein Koboldweib die Haut abziehen lassen würde. Und noch dazu für eine Lutin!« Sie lächelte. »Ich werde sie heilen. Und ich werde dafür sorgen, dass sie dich für einen ausgesprochenen Mistkerl hält. Sie wird keinen Fuß in Emerelles Burg setzen.« Die Augen der Hexe blickten traurig. »Bist du sicher, dass du es so haben willst? Du wirst in Ganda eine Feindin haben, wenn sie mich verlässt.«

»Wenn sie zu Emerelles Burg käme, wäre sie in tödlicher Gefahr. Lieber habe ich sie als Feindin, als dass ich ihr als Freund Blumen aufs Grab lege.«

»Bist du da nicht ein wenig melodramatisch?« Ollowain schüttelte den Kopf. »Ich kenne Emerelle.«

Macht und Ohnmacht

Obilee wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Mit so viel Hoffnung war sie aufgebrochen, und doch war alles vergebens gewesen. Sie verabschiedete sich von der Pfadfinderin, die sie zu Eleborn ins Reich unter den Wogen geführt hatte, und den beiden Kentauren, die sie vom Tor bei den Wurzeln Atta Aikhjartos bis zur Burg der Königin gebracht hatten. Wieder eine vergebliche Reise! »Gibt es Neues aus dem Norden?«, fragte sie die Ehrenwache vor dem Thronsaal.

Die Elfenkriegerin, die sie angesprochen hatte, schaffte es nicht, ihre Niedergeschlagenheit zu überspielen. »Nichts Neues. Die Trolle werden stärker. Wir nicht.«

Obilee nickte knapp. So ging es seit Jahren. Doch die Zeit des Wartens war nun fast vorüber. Spätestens im Winter würden die Trolle ihren Angriff beginnen, da waren sich alle Fürsten einig. Und sie würden nicht ruhen, bis alle Ströme rot von Elfenblut waren. Das Heer, das sich in Feylanviek gesammelt hatte, würde die Trolle nicht aufhalten können. Es waren tapfere Krieger in schimmernden Rüstungen, die Elite der Elfenfürstentümer. Im frühen Sommer war sie bei einer Heerschau gewesen. Elodrin hatte eine wunderbare Schar um sich versammelt. Und obwohl ihre Niederlage schon jetzt feststand, würden sie kämpfen. Sie waren wie ein Tor aus Goldblech, das von einem Rammbock aus dem Stamm einer tausendjährigen Eiche bedroht wurde. Schon der erste Ansturm wäre ihr Untergang. Und sie waren nicht zu ersetzen. Zehn Jahre dauerte es, bis ein Trollwelpe zum Jungkrieger heranwuchs, aber einen toten Elfen zu ersetzen mochte hundert Jahre und mehr dauern.

Das hohe Tor zum Thronsaal schwang wie von Geisterhand auf. Die Kommandantin der Wache nickte Obilee zu, und ihr prächtiger weißer Rosshaarbusch wippte auf dem schimmernden Bronzehelm. »Die Herrin erwartet dich.«

Obilee klemmte den eigenen Helm fest unter den Arm. Ihre Hand lag auf dem Knauf ihres Schwertes. Das Kettenhemd lastete schwer auf ihren Schultern, und die Nachricht, die sie überbringen musste, lastete auf ihrem Herzen. Mit festem Schritt trat sie vor den Thron.

Emerelle erwartete sie aufrecht stehend wie eine Kriegerin in der Schlachtreihe den Ansturm der Feinde. Leise rauschte das Wasser, das in endlosen Kaskaden die Wände des Thronsaals hinabströmte. Die Luft war feucht und angenehm kühl.

Die Königin trug ein eisgraues Kleid mit hohem Kragen und langen, glatten Ärmeln. Es war von schlichtem Schnitt und betonte ihre schmalen Hüften. Sehr zierlich wirkte sie, und wer sie nicht selbst schon im Fechtsaal erlebt hatte, der hätte in dieser zerbrechlichen Frau niemals die Kriegerin erahnt. Das dunkelblonde Haar wurde von einem dünnen, silbernen Stirnreif gehalten. Die hellbraunen Augen blickten hart. Die Königin hatte sich bereits für schlechte Nachrichten gewappnet. »Es ist schön, dich wieder bei Hof zu sehen.«

Die fahrende Ritterin wusste nicht, welchen Ton sie anschlagen sollte. Sie beide waren allein im Thronsaal. Früher hatten sie sich einmal sehr nahe gestanden. Aber dieser Ort verlangte nach Förmlichkeiten. Hier wurde seit Jahrhunderten über die Geschicke Albenmarks entschieden. Es war nicht der Platz, an dem zwei Freundinnen miteinander plauderten.

»Es schmerzt mich, dir keine guten Nachrichten bringen zu können, Herrin.« Obilee senkte den Kopf. Elf Tage hatte der Fürst im Reich unter den Wogen sie warten lassen, bevor er sie endlich empfangen hatte. »Eleborn wird unsere Sache nicht unterstützen. Er beharrt darauf, dass die alte Grenze gewahrt bleibt. Die Völker des Wassers haben nichts mit den Kriegen diesseits der Ufer zu schaffen, so wie wir nicht an den Kriegen jenseits der Ufer teilhaben. Die Trolle behelligen sein Reich nicht und ...« Obilee zögerte, ob sie Eleborns Beleidigung wörtlich wiederholen sollte.

Emerelles Miene blieb wie versteinert. Sie forderte sie nicht auf, weiterzusprechen, doch sie entließ sie auch nicht. Sie wartete.

»Er lässt dir ausrichten, dass du den Thron aufgeben und dich der Trollschamanin Skanga stellen solltest. Er sieht in dir und deinen Taten den wahren Grund für diesen Krieg. Er ist stur ... Er wollte nichts anderes hören.«

»Er hätte gegen sie kämpfen können.« Emerelle sprach leise, ohne Obilee anzublicken. »Jedes ihrer Schiffe liefert sich ihm aus. Jeder Troll, der eine Furt durchquert, setzt seine schmutzigen Füße in Eleborns Reich.« Die Königin straffte sich. »Du hast ihm natürlich den schriftlichen Befehl übergeben, uns Truppen zu schicken.«

»Natürlich, Herrin. Eleborn hat ihn nicht einmal gelesen.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles entgleitet, indem ich zu sehr darum kämpfe. Ja, vielleicht zerstört man letzten Endes das, was man um keinen Preis loslassen kann. Was glaubst du, Obilee? Hat er Recht? Würde der Krieg enden, wenn ich mich den Trollen ausliefere?« Die fahrende Ritterin wusste es nicht. Viele glaubten das, und deshalb fiel es immer schwerer, Verbündete im Kampf gegen die Trolle zu finden.

»Ganz gleich, was geschieht, Herrin, ich werde stets an deiner Seite sein.«

Emerelle seufzte. »Kannst du dir vorstellen, dass sich ein Trollkönig um die Gesetze Albenmarks schert? Würde sich ein Troll jemals als der erste Diener seines Landes begreifen? Ihre Herrschaft hieße Willkür. Die Starken würden noch stärker werden. Und die Schwachen würden sein wie welkes Laub im Herbstwind. Sie würden fortgetrieben. Ich weiß, auch ich habe meine Schwächen. Aber ich habe mich stets um Gerechtigkeit bemüht. Solange ich herrsche, wird niemand über dem Gesetz stehen. Gesetze sind wie Mauern, die einen Acker einfrieden. Sie setzen Grenzen. Sie halten das Wild fern. Sie geben die Gewissheit, dass das, was heute gilt, auch morgen noch Recht sein wird. Manche glauben, ich würde mein Volk bevorzugen. Sie irren. Wir Elfen sind stark genug, unsere Rechte mit dem Schwert in der Hand einzufordern. Erst wenn wir nicht mehr ihr lebender Schild sind, werden die Schwachen begreifen, wie sehr sie uns gebraucht haben.« Die Königin straffte die Schultern. »Zu herrschen ist ein einsames Geschäft, Obilee. Aber ich werde nicht aufgeben. Das Glück ist die Gefährtin der Tapferen. Eleborn und all die anderen werden sehen, was sie davon haben, sich nicht beizeiten gegen die Trolle entschieden zu haben. Sie werden ...«

Alle Farbe wich aus Emerelles Antlitz. Sie griff an ihr Herz und ließ sich kraftlos auf den Thronsessel sinken.

Mit drei weiten Schritten stürmte Obilee die Stufen zum Thron herauf. »Herrin!«

Die Königin lächelte. »Ich spüre ihn! Er ist zurück. Ich wusste, dass wir ihn nicht verloren haben. Ollowain ist zurückgekehrt! Nun wird sich unser Schicksal wenden. Der Schwertmeister ist mehr wert als Eleborn und all seine Wassermänner und Seeelfen zusammen. Er wird das Blatt wenden.« Der euphorische Ausbruch der Königin wirkte auf Obilee befremdlich. In all den Jahren bei Hof hatte sie Emerelle noch nie in einer solchen Stimmung erlebt. Die Herrscherin bemerkte ihre Skepsis. »Lass mir doch einen Abend lang meine Illusionen. Jetzt komm mit und hilf mir, ein Kleid auszusuchen.

»Ich weiß nicht, ob ich dafür die Richtige bin«, entgegnete Obilee steif.

»Du bist genau die Richtige!« Die Königin lächelte verschwörerisch. »Du bist jetzt eine fahrende Ritterin. In ein paar Tagen wirst du die Burg schon wieder verlassen. Ich muss mir also keine Sorgen machen, dass meine Geheimnisse bei Hof die Runde machen.«

»Ich würde niemals ...«

Emerelle legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern.

»Auf 'ich würde' werde ich mich nicht verlassen. Du kannst nicht. Komm jetzt.« Sie führte Obilee aus dem Thronsaal hinauf in ihre Gemächer im Königinnenturm. Nur eine Hand voll Vertrauter hatte dort Zutritt. Früher einmal hatte Noroelle zu ihnen gehört.

Emerelle war immer noch in ausgelassener Stimmung. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und summte dabei leise eine Melodie, die der Barde Nuramon vor langer Zeit einmal für Noroelle ersonnen hatte. Jede einzelne Note war ein Stich in Obilees Seele. Nuramon! So lange war er nun schon verschwunden! Ob er und Farodin Noroelle wohl gefunden hatten? Sie alle waren Verbannte. Sie würden nie mehr nach Albenmark zurückkehren. Aber vielleicht fand wenigstens ihre Geschichte hierher. Vielleicht waren sie auch schon längst tot. So oft schon hatte Obilee versucht, Nuramon zu vergessen. Doch er nistete in ihren Gedanken wie die Tauben in den Turmfenstern der Burg. Einst, bevor die Schatten alle Vögel vertrieben hatten.

Schweigend erreichten sie den kurzen Flur, an dessen Ende eine schmucklose Tür lag. Emerelle öffnete sie.

Ihre Kammer war nicht sonderlich groß. Es gab nur wenige Möbel aus einem warmen, honigfarbenen Holz. Das Bett war nicht gemacht. Obilee musste schmunzeln. Sie würde sich nicht wundern, wenn Emerelles Leibdiener den Befehl hatten, es so zu belassen. Hier oben, dichter beim Himmel, erlaubte es sich die Königin, unvollkommen zu sein.

Rotes Abendlicht fiel durch die Scheiben der Flügeltür, die hinaus auf den kleinen Balkon führte.

Die Herrscherin trat vor den großen Spiegel, der die Wand gegenüber ihrem Bett einnahm. Der schwere Ebenholzrahmen war mit Intarsien aus schillerndem Perlmutt geschmückt. Stilisierte Rosenblüten und Blätter rankten ineinander.

Eine flüchtige Bewegung der Herrscherin betätigte eine geheime Feder. Lautlos glitt der Spiegel zur Seite und gab den Blick auf eine Kammer frei, in der sie leuchtende Gestalten erwarteten. Obilee reckte neugierig den Hals. Dort war sie noch nie gewesen.

Emerelle trat durch die schmale Tür. »Willkommen in meinem Allerheiligsten.« Sie drehte sich um und lächelte kokett. »Außer einer stummen Kobolddienerin weiß niemand um diese Kammer. Nicht einmal Meister Alvias. Hierher komme ich, wenn ich vor den Bildern der Silberschale und den Qualen der Herrscherin fliehen möchte. Hier suche ich die junge Emerelle, die sich einst stundenlang an schönen Kleidern begeistern konnte. Jenes verliebte Mädchen, das zu einer einsamen Königin wurde. Doch nicht heute. Heute kehrt das Glück vielleicht zurück.«

Jetzt konnte Obilee besser in die Kammer blicken. Was sie für leuchtende Gestalten gehalten hatte, waren aus Weidenruten gefertigte Kleiderständer. Wie Lampenschirme waren Kleider darauf gespannt. Viele Kleider! Unter einigen brannten Lichter, die berauschenden Weihrauchduft verströmten.

»Wirst du Ollowain sagen, was einst zwischen euch war?«

Die Königin schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. »Natürlich nicht.« Sie strich gedankenverloren über den Ärmel eines grünen Kleides aus schwerem Samt. »Ich möchte nicht, dass er es wie eine Verpflichtung aus der Vergangenheit sieht. Nenn es eine alberne Schwärmerei, aber ich sehne mich danach, dass er sich noch einmal in mich verliebt. Vielleicht wird heute der Tag sein, den ich so lange herbeisehne. Komm, hilf mir, die Haken an meinem Kleid zu öffnen. Vieles hängt nun von der richtigen Wahl ab.« Sie drehte Obilee den Rücken zu.

Die fahrende Ritterin öffnete die kleinen Haken und achtete darauf, dass sich Emerelles Haare nicht darin verfingen, als sie ihr das Kleid über den Kopf streifte. Verlegen wandte sie sich ab. Die Königin trug nur noch einen fein bestickten Leinengürtel, von dem die Bänder herabhingen, die ihre langen Seidenstrümpfe hielten. Ihre Füße steckten in zierlichen, lichtgrauen Schuhen.

»Welches Kleid soll ich nur nehmen? Er trägt gewiss weiß. Sollte ich auch weiß ... Nein, das wäre langweilig. Eine große Hilfe bist du nicht, Obilee.«

»Herrin, ich möchte dir nicht zu nahe treten ... Aber hast du bedacht, dass du nicht mehr die bist, in die sich einst Ollowains Seele verliebte?«

»Natürlich nicht. Ich bin gewachsen, so wie ein Baum.« Sie wandte sich der fahrenden Ritterin zu. »Hier«, sie legte sich die Hand auf die nackte Brust. »Hier ist noch all das, was er einst liebenswert an mir fand. All das ...« Ihre Lippen begannen zu zittern. »Ich ... Ich weiß, dass ich mich verändert habe. Verändern musste ... Ich ... Glaubst du, er erkennt mich nicht wieder, weil ich die Königin bin? Hat diese Bürde für immer eine Mauer zwischen uns errichtet? Ich kann die Krone nicht ablegen ... Nicht in diesen Tagen! Das wäre Verrat an Albenmark. Glaub mir, ich würde es gerne tun. Weißt du, dass ich dich beneide? Dich und deine Freiheit, als fahrende Ritterin durch die Wälder zu streifen. Und die Freiheit, nur dir selbst Rechenschaft schuldig zu sein. Ich hingegen werde zwischen meinen Pflichten aufgerieben ... Rate mir. Was soll ich tun, Obilee? Muss ich mein Glück auf dem Altar Albenmarks opfern?«

Obilee wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Bisher hatte sie immer geglaubt, es erfülle Emerelle, die Geschicke Albenmarks zu lenken. Wie eine Gefangene der Krone war sie ihr jedenfalls nie erschienen. »Vielleicht solltest du die Burg einmal verlassen. Die drückenden Schatten hier töten die Freude, ja, sie erlauben kaum ein Lächeln, das von Herzen kommt.«

»Ach, Kind! Wie soll ich denn gehen? Unten im Saal der fallenden Wasser liegt das Tor, durch das die Schatten kommen. Ich muss in seiner Nähe bleiben. Noch sind es nur einzelne Yingiz, die hierher gelangen. Aber wann wird der Damm brechen? Wann ergießen sie sich wie eine Woge aus Finsternis über das Land? Ich war es, die einen Faden im Netz der Albenpfade zerrissen hat. Ich muss hier bleiben. Das ist mein Schicksal.«

»Du sagtest, etwas von der jungen Emerelle sei immer noch in dir lebendig, Herrin. Verborgen unter den Jahresringen von Jahrhunderten, um in deinem Bild des Baumes zu bleiben. Vielleicht gibt es doch einen Weg, dich Ollowain zu erkennen zu geben. Ohne Worte.«

Die Königin ließ resigniert den Kopf sinken. »Er hat keine Erinnerung an damals. So ist es, wenn du wiedergeboren wirst. Du kehrst als ein unbeschriebenes Blatt zurück. Frei von den Lasten der Vergangenheit.«

»Aber du sagst, du kannst seine Rückkehr mit deinem Herzen fühlen. Es scheint ein unsichtbares Band zwischen euch zu geben. Glaubst du nicht, in ihm schlummert auch etwas? Etwas, das jenseits der Erinnerung seines Verstandes liegt? Vielleicht kann sich ja auch ein Herz erinnern?«

Emerelle seufzte. »Du bist ja eine Dichterin, Obilee. Die Erinnerung des Herzens ... Woran sollte sich ein Herz erinnern?«

Die Kriegerin zuckte hilflos mit den Schultern. »An deinen Duft? An deine Kleidung, den Tonfall deiner Stimme? Was habt ihr gegessen? Gab es ein Gericht, das er besonders mochte?«

»Sind wir jetzt bei der Erinnerung des Magens?«

»Herrin!« Da war sie wieder, die kalte, spöttische Emerelle. Gewiss war sie es, die es Ollowain unmöglich machte, seine frühere Liebe wiederzuerkennen.

Emerelle strich sich mit der Hand durch das lange Haar.

»Verzeih mir.« Sie sagte das so leise, dass Obilee sie fast nicht verstehen konnte. »Du hast einen wunden Punkt berührt. Ich kann die wunderbarsten Zauber weben, aber ich vermag nicht zu kochen. Falrach hat es zwar gegessen, aber er hat mich aufgezogen. Gestichelt. Trotzdem konnte auch ich über seine Späße lachen. Auch wenn seine Worte manchmal grob klangen, so hat sein Lächeln ihnen den Stachel genommen.« Sie schloss die Augen. »An manches erinnere ich mich so deutlich, als sei es erst gestern gewesen. Das schalkhafte Funkeln in seinen Augen, wenn er mir erklärte, halb rohe Hasenkeule mit angebrannten Zwiebeln sei unter allem, was ich koche, mit großem Abstand sein Leibgericht.«

»Dann koche es noch einmal für ihn«, sagte sie, doch in Gedanken war sie bei dem Brunnen vor dem Thronsaal. Falrach also war es gewesen, jener geheimnisvolle Geliebte Emerelles. Hatte sie bewusst ihr Geheimnis preisgegeben, oder war sie so tief in Gedanken und hatte gar nicht bemerkt, dass nicht Ollowains Name über ihre Lippen gekommen war?

Noch immer spielte die Königin nachdenklich mit ihrem Haar. »Ich werde mich zum Gespött unter den Kobolden in der Küche machen, wenn ich sie von ihren Herdfeuern vertreibe, um ein angebranntes Essen zu kochen.«

»Wie viel wiegt dieser Spott, wenn es dir gelingt, den Funken der Liebe wieder zu entfachen?«

Emerelle seufzte.

»Und was ist mit deiner Kleidung? Was hast du getragen?«

Wieder schloss die Königin die Augen. »Ein Jagdkostüm aus rostrotem Leder. Es war praktisch, weil man die Blutflecke darauf nicht so gut sehen konnte. Ich habe es oft geflickt. Das Leder war ganz abgestoßen. Ich sah recht verwegen darin aus. Auf der linken Schulter hatte ich einen dicken Lederstreifen. Dort saß Goldauge, mein Falke. Selbst wenn ich tief über die Mähne meiner Stute gebeugt galoppierte, blieb er dort sitzen. Er liebte das.«

»Dann leg auch dieses Jagdgewand wieder an, Herrin.«

Die Königin sah sie an. »Ach, Obilee. Es ist längst zu Staub geworden, so viele Jahrhunderte sind seitdem vergangen. Auf jede Nacht, die wir beisammen lagen, kommen mehr als tausend Nächte ohne ihn.« Sie trat an einen Sims, auf dem Dutzende kleiner Kristallflakons standen. Spielerisch strichen ihre Finger über die Fläschchen. Dann entkorkte sie eines und strich sich ein wenig Parfüm auf Hals und Nacken. Schwerer Aprikosenduft stieg Obilee in die Nase. Emerelle nahm einen anderen Flakon, träufelte etwas auf ihre Finger und strich dann über ihre Scham. Der Duft von Sandelholz mischte sich zur Aprikose.

»Herrin, jede Dame bei Hof kleidet sich in sinnliche Düfte und kostbare Seide. Wage es, anders als sie zu sein. Suche nach der Emerelle mit dem Falken auf der Schulter. Zeige Ollowain die Frau, die er als Falrach einst liebte.«

Der Flakon entglitt Emerelles Fingern und zerschellte auf dem Steinboden. »Du ... du kennst seinen Namen!«

»Herrin, du selbst hast ihn genannt.«

»Niemals. Ich ...« Sie stockte. Der Sandelholzduft lastete schwer in der Ankleidekammer. Nie zuvor hatte Obilee die Herrscherin Albenmarks so verletzlich gesehen. Ihre Wangenmuskeln zuckten. Sie blinzelte, kämpfte mit Tränen.

Zögernd trat die Kriegerin vor, stieg über die Scherben hinweg und nahm Emerelle in ihre Arme.

Emerelle vergrub das Gesicht an Obilees Schulter. Ihr Rücken bebte. »Du darfst es niemandem sagen, hörst du. Niemandem! Sie würden es ihm zutragen, nur um mich zu verletzen. Vielleicht würden sie ihn sogar ermorden, um mich damit zu treffen.«

»Aber Herrin, wer sollte so etwas tun?« Die Königin löste sich aus ihrer Umarmung und machte eine vage Geste. »Es sind so viele dort draußen, die mich fallen sehen wollen. So viele! Sogar Elfen.« Sie kniete nieder und sammelte die Scherben des zerbrochenen Flakons auf ihre flache Hand. »Reich mir deine Linke, Obilee. Die Hand, die vom Herzen kommt.«

Wie in Trance gehorchte die junge Elfe. Der Sandholzduft machte sie ganz benommen, und Emerelle hatte etwas Zwingendes in ihrem Blick. Die Königin griff mit der Hand, in der die Scherben lagen, nach ihr. Ihrer beider Finger verschränkten sich ineinander. Muskeln und Sehnen an Emerelles Unterarm spannten sich. Obilee spürte einen kurzen, stechenden Schmerz. Obwohl Fenster und Türen verschlossen waren, streifte sie ein eisiger Luftzug. Viel zu kalt für einen Sommerabend. Kauerte dort in der Ecke ein Schatten? »Schwöre mir bei deinem Blute, dass der Name, den du erfahren hast, nie mehr über deine Lippen kommen wird.«

»Ich schwöre es«, flüsterte die Kriegerin leise.

Vorsichtig löste Emerelle ihren Griff. Scherben hatten sich in die zarte Haut ihrer Hand gegraben. Auch Obilee blutete. »Du weißt, welche Macht mir ein Blutschwur gibt?« Emerelles Stimme war ohne Gefühl. Sie zog sich die Glassplitter aus der Hand.

»Dir wird meine Seele gehören, wenn das Siegel meiner Lippen bricht.« Noch immer konnte Obilee nicht fassen, was die Herrscherin getan hatte.

»Wenn deine Seele mir gehört, weil du den Eid brichst, ist der Zyklus aus Tod und Wiedergeburt für dich unterbrochen. Dann bist du ausgeschlossen vom Weg ins Mondlicht. Dein Schicksal würde sich nicht erfüllen.«

»Warum, Herrin? Warum tust du das?«

»Du hast jetzt große Macht über mich, Obilee. Ist es da nicht gerecht, wenn ich auch Macht über dich habe?«

»Aber du könntest mir doch vertrauen.«

»Und mich ausliefern? Nein, Obilee. Ich lebe zu lange, um noch Vertrauen zu haben.«

»Vielleicht findet die wiedergeborene Seele deshalb nicht zu dir?«, sagte die Kriegerin bitter. Sie wagte es nicht, Namen zu nennen, denn noch immer nisteten Schatten im Winkel bei den Schuhregalen.

»Dann ist es wohl mein Schicksal«, entgegnete Emerelle zynisch.

Die Lichter unter den Kleidern flackerten. Es wurde wieder wärmer. Obilee spähte zu den Schuhregalen.

»Es ist fort«, flüsterte Emerelle. Sie legte der Elfe ihre blutige Hand in den Nacken und zog Obilee dicht zu sich heran. »Es tut mir leid, dass ich mich so weit vergessen habe und dir diesen Namen verriet. Du bist meiner Seele nahe gewesen. Es war gut, mit dir zu reden, auch wenn ich noch nicht weiß, ob ich deine Ratschläge beherzigen werde. Ich würde sehr viel von meiner königlichen Würde aufgeben, wenn ich mich in die Küche stelle und ein schlechtes Essen zubereite. Würde ist ein wichtiger Teil meiner Herrschaft. Würde flößt anderen Respekt ein. Und nur wenn man mich respektiert, wird man mir gehorchen. Doch wie dem auch sei, ich habe auch einen Rat für dich. Er ist nicht minder heikel, aber er kommt von Herzen. Ich weiß, wie du für Nuramon empfindest. Sieh mich nicht so überrascht an, Obilee. Du hast dich in jenem Winter verraten, in dem Nuramon, Farodin und Mandred zu uns zurückgekehrt waren. Dir stand die Liebe ins Gesicht geschrieben, Obilee. Sprich zu Nuramon von deinen Gefühlen.«

Obilee stand wie vom Donner gerührt. Sie hatte sich so sehr bemüht, sich nichts anmerken zu lassen! Diese Liebe war ein Fluch! Sie wusste, dass sie nicht auf Nuramon hoffen durfte. Ihn zu lieben, war Verrat. Er hatte sein Herz Noroelle geschenkt, die Obilee einst in ihren Dienst genommen hatte. Noroelle war wie eine große Schwester für sie gewesen. Niemandem hatte sie so vertraut wie ihr. Dann war sie von der Königin verbannt worden, weil sie einem Dämonenkind das Leben geschenkt hatte und sich weigerte, Emerelle zu verraten, wohin sie ihren Sohn gebracht hatte. Es war eine grausame Strafe. Sie war an einem Ort, um den nur die Königin wusste. Niemand durfte darauf hoffen, sie jemals wieder zu finden. Doch Nuramon hatte sie nicht aufgegeben. Er suchte nach ihr, gemeinsam mit seinen Gefährten Farodin und Mandred. Diese drei waren Noroelles einzige Hoffnung. »Es steht mir nicht zu, Nuramon mein Herz zu öffnen. Er liebt eine andere, und ich darf ihn nicht von seiner Suche abbringen, denn auch ich liebe sie und wünsche ihr Glück.«

»Du glaubst also, du wärst eine Verräterin, wenn du zu Nuramon sprichst. Ach, Kind, was soll schon geschehen? Ist Nuramons Liebe zu Noroelle so beständig, wie es scheint, dann sind deine Worte keine Gefahr für die beiden. Ist sie es aber nicht, dann bewahrst du Nuramon davor, sich zu verirren. Und noch etwas gilt es zu bedenken. Auch Farodin liebt Noroelle. Sie wird zuletzt, falls die beiden Noroelle jemals finden sollten, nur einen von ihnen erwählen. Stell dir vor, es ist Farodin. Wenn dies geschieht, dann würde das Eingeständnis deiner Liebe Nuramon ein Trost sein. Es gibt aber noch einen dritten Grund, und dies ist der wichtigste von allen. Es wird der Tag kommen, an dem du es bitter bereust, wenn du nicht zu Nuramon sprichst. Ganz gleich, was er antwortet, seine Antwort wird dich befreien. Lehnt er deine Liebe ab, so nimmt er dir eine Illusion. Bei allem Schmerz, den dir das zunächst bereiten wird, schafft er so in deinem Herzen Platz für einen anderen. Ein Herz muss sich mitteilen, Obilee, sonst wird es versteinern. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Geh das Wagnis ein und sprich zu ihm, falls ihr euch noch einmal begegnet.«

Die Worte der Königin schnürten Obilee die Kehle zu. War das ein guter Rat? Emerelles Blick war offen und freundlich. Nichts erinnerte mehr an jene machtvolle Elfe, die sie zu einem Bluteid gezwungen hatte. Hatte sie von sich gesprochen? War es ihr Herz, das zu Stein geworden war? Viele dachten so von der Königin. Sie schien kalt und unnahbar. Obilee kannte jetzt die andere Emerelle. Doch wie viel war von der jungen Elfe noch geblieben, die einst den Feldherrn Falrach geliebt hatte? Genug, um sein wiedergeborenes Herz zu erringen?

Erwartungen

Blut sickerte aus dem halb rohen Fleisch und ließ die angebrannten Zwiebelstücke wie Inseln in purpurner See ausschauen. Ollowain blickte auf. Noch nie war er bei Hof so schlecht bewirtet worden. Seit er angekommen war, lag eine fast greifbare Spannung in der Luft. Die Königin hatte ihn ins Bad geschickt. Es war angenehm, gewaschen zu sein und saubere Kleider zu tragen. Wie ein wandernder Koboldkesselflicker hatte er ausgesehen und obendrein gestunken wie ein Fjordländer.

Zweimal schon hatte er auf das gestohlene Buch zu sprechen kommen wollen, doch Emerelle blockte ab. Sie schien etwas zu erwarten. Etwas, das nichts mit der langen Reise zu tun hatte. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und aß tapfer von diesem ungenießbaren Mahl.

Sie speisten auf der Terrasse bei den Maulbeerbäumen, dort, wo seine Reise vor fünfzehn Jahren begonnen hatte. Außer zwei Kobolden, die sich in respektvoller Distanz hielten, war niemand zugegen.

Ein Meer von Kerzen tauchte die Terrasse in flackerndes, goldenes Licht. Der Wind trug vom Garten den Duft von reifen Aprikosen heran. Auch roch es nach trockenem Gras und Staub. Der Atem des Spätsommers lag über ihnen. Ganz schwach war da auch noch ein anderer Geruch. Ein Duft, der etwas tief in Ollowain aufwühlte, ohne dass er ihn zuordnen konnte. Er war schwer und sinnlich. Er erregte ihn. Und das beunruhigte den Schwertmeister, denn Erregung war das letzte Gefühl, das er sich in Gegenwart der Königin anmerken lassen durfte. Seine Männlichkeit drückte gegen das Gefängnis der Beinkleider. Ollowain war froh zu sitzen, sodass seine missliche Lage unbemerkt bleiben würde. Er versuchte verzweifelt, seiner Erregung Herr zu werden, doch das ließ sein Blut nur noch heißer zwischen seinen Schenkeln pulsieren.

Er blickte hinüber zu dem Buch, das in die Lumpen einer Vogelscheuche eingewickelt auf dem steinernen Geländer lag. Er hatte den schäbigen Stoff von einem Feld gestohlen und das kostbare Dokument darin eingewickelt, damit es weniger Aufsehen erregte. Mit Erfolg! Emerelle beachtete es überhaupt nicht. Stattdessen beobachtete sie ihn verstohlen.

Die Königin trug ein tiefrotes Abendkleid. Dunkler Granatschmuck lag auf ihrer hellen Haut wie frische Wunden. Es war unheimlich still. Kein Vogel sang, nicht einmal die Grillen zirpten. So verstummte die Natur, wenn ein Jäger auf der Pirsch war. Ollowain sah sich um. Emerelle hatte noch nicht über die Schatten gesprochen. Waren sie noch hier? Hatten sie der Nacht ihre Stimmen geraubt?

Immer schwerer lastete die Stille auf ihnen. Das einzige Geräusch war das Klirren des silbernen Bestecks auf den kostbaren Tellern. Ollowain schob einen blutigen Streifen Fleisch zu den verbrannten Zwiebeln. Er konnte das nicht essen! »Du solltest deinen Koch davonjagen.«

Emerelle lächelte bemüht. »Diesen Koch und eine Ratgeberin.« Sie legte das Besteck auf den Teller und tupfte sich mit einem Seidentuch über die Lippen.

Die beiden Kobolde eilten herbei. Wortlos nahmen sie die Teller vom Tisch.

»Du warst lange fort«, sagte die Königin unvermittelt.

»Ganda war schwer verletzt, als sie das Tor zu den Albenpfaden öffnete. Ihr muss bei dem Zauber ein Fehler unterlaufen sein.«

»Schwer verletzt ...«

Ollowain erzählte von ihrer Suche und von dem geheimnisvollen Gestaltwandler, der ihnen so sehr zugesetzt hatte. Nur in einem Punkt hielt er sich nicht an die Wahrheit. Er behauptete, es sei seine Idee gewesen, das Buch an sich zu bringen, für das ihr gesichtsloser Feind so kaltblütig gemordet hatte.

»Und Ganda hat sich dem widersetzt. Eine Lutin, die keinen Anteil an einem Diebstahl haben mochte. Ungewöhnlich.« Emerelles schmallippiges Lächeln sagte mehr als Worte. Sie durchschaute ihn. »Und mein heldenhafter Schwertmeister wird zu einem gemeinen Dieb. Du bist sicher, dass es sich so zugetragen hat?«

Das Blut stieg ihm von den Schenkeln in den Kopf. »So und nicht anders.« Wenigstens klang seine Stimme noch fest. Was für ein erbärmlich schlechter Lügner er doch war!

Emerelle erhob sich und ging hinüber zur Brüstung des Balkons. Ihren Bewegungen haftete etwas Schwerfälliges und doch Sinnliches an. Der Klang feiner Silberglöckchen begleitete jeden ihrer Schritte, ohne dass Ollowain ein Schmuckstück entdecken konnte, das der Ursprung dieses metallisch-melodischen Wisperns war. Ihr Kleid war von den Hüften an aufwärts zu eng anliegend, als dass die Glöckchen, unter dem Stoff verborgen, noch hätten schwingen können. Sie musste sie an ihren Beinen tragen. Was bezweckte sie damit?

Die Königin war barfuß zum Essen gekommen. Ihr Kleid reichte bis knapp oberhalb der Knöchel. Dunkle Muster aus Schlangenlinien schmückten ihre schmalen Füße, aufgemalt mit dem Saft des Dinko-Busches.

Nein, es waren keine Schlangenlinien, sondern Schlangenleiber, die sich um die zarten Knöchel der Königin wanden und unter dem Saum ihres Kleides verschwanden. Dorthin, wo der lockende Silberklang herrührte.

Mit spitzen Fingern öffnete Emerelle das schmutzige Stoffbündel.

Ollowain betrachtete sie nachdenklich. Wäre sie nicht die Königin, er hätte geglaubt, dass sie versuchte, ihn zu verführen. Was war in den verlorenen Jahren geschehen? Was hatte Emerelle so sehr verändert?

Die Herrscherin versteifte sich. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie trat von der Brüstung zurück. Blass. Verstört.

»Herrin?«

Sie gebot ihm mit einer fahrigen Geste zu schweigen und starrte das Buch an. Es war totenstill. Selbst der Wind in den Bäumen war verstummt.

»Es war die linke Hand, die Ganda verloren hat, als du das Buch gestohlen hast?«, fragte die Königin nach langem Schweigen, hörbar um Fassung bemüht.

»Ja.«

»War sie Linkshänderin?«

»Das weiß ich nicht.« Ollowain fragte sich, was diese Fragen mit dem Buch zu tun hatten.

Die Königin trat wieder an die Brüstung und strich mit den Fingerspitzen über den messingbeschlagenen Ledereinband.

»Früher einmal hat man Dieben die Hand abgeschlagen, mit der sie gestohlen hatten. Linkshänder verloren die Linke. So war das Recht ... Ich habe das geändert, wie du weißt. Eine Blutgerichtsbarkeit gibt es nur noch sehr selten.«

Ollowain wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Auch wenn Emerelle im Volk als eine vorbildliche Herrscherin galt, hatte sie ihn immer wieder durch ihre grausamen Urteile überrascht. Sie waren selten und mochten begründet sein, aber sie passten so gar nicht zu dem Bild der zarten, einfühlsamen Herrscherin, das sie bei den meisten erweckte. Wenn sie in die Enge getrieben war, dann wurde sie sehr gefährlich. Beklommen dachte er an die Nacht, in der sie den Albenpfad durchtrennt hatte. Allein durch diese Tat hatte die Königin mehr Blut an den Händen als jeder Krieger, dem er je begegnet war.

»Du kennst Meliander, den Fürsten von Arkadien?«, fragte Emerelle unvermittelt. »Er hat dieses Buch geschrieben. Es gibt nur dieses eine Exemplar. Es ist sehr wertvoll, aber ... Es hat ihm den Verstand verwirrt. Er hat sich selbst gerichtet. In einem marmornen Bad, gefüllt mit schwarzer Tinte, hat er sich die Adern geöffnet und seinem Leibdiener die letzten Seiten diktiert, während er langsam verblutete. Der Leibdiener war ein Lutin. Er hat Meliander bestohlen, nachdem sein Herr verstorben war. Das alles liegt sehr lange zurück. Damals waren noch Drachen die Herrscher Albenmarks, und ich war eine fahrende Ritterin in ihren Diensten. Ich war Anklägerin, Richterin und Henkerin für sie. Man hatte mich geschickt, um den Lutin zu finden und zu richten. Er war Linkshänder ...«

Ollowains Mund war staubtrocken geworden. Er musste an den Falrach-Spieler aus der Bibliothek denken. Den geheimnisvollen Mörder, der jeden Zug schon im Voraus zu kennen schien. Hatte er das arrangiert? Hatte er am Ende gewollt, dass Emerelle das Buch bekam? Oder war es nur ein Zufall? Eine Laune des Schicksals?

»Das Buch war verschwunden, als ich ihn fand. Ich hätte niemals gedacht, dass er es nach Iskendria brachte. Ich war immer überzeugt, dass er sein Diebesgut verkauft hatte. An irgendeinen reichen Sammler ... Und ich dachte, es wäre seine Diebesehre, die ihn schweigen ließ. Aber Iskendria ... Die Hüter des Wissens zahlen nicht für Bücher. Was hat er davon gehabt, es dorthin zu bringen?« Wie als Antwort erklang ein scharfes, metallisches Klacken. Die Schließen des Folianten waren aufgesprungen.

»Hast du in dem Buch gelesen?« Ollowains Gedanken überschlugen sich. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass Ganda in Gefahr war, wenn Emerelle davon erfuhr, dass sie es war, die in dem Buch gelesen hatte.

»Nur sehr wenig. Meliander schrieb sehr kenntnisreich über die Yingiz. Ich dachte ...«

»Hat auch die Lutin darin gelesen?«

»Nein. Für sie öffnete sich das Buch nicht. Es schien sie abzulehnen.«

Emerelle sah ihn so durchdringend an, als könne sie in seinen Gedanken lesen. Sie schloss das Buch und verriegelte die Bronzebänder. »Komm her und öffne es.«

»Hältst du mich für einen Lügner?«

»Ich halte dich für sehr loyal, Ollowain«, entgegnete sie kühl.

»Aber im Augenblick bin ich mir nicht sicher, wem deine Loyalität gilt. Mir oder Ganda.«

»Dein Zweifel verletzt mich zutiefst.« Er sagte das nur, um hinter den Worten seine wahren Gefühle zu verbergen. Er hatte das Buch nie geöffnet. Und er hatte Angst um Ganda. War er so leicht zu durchschauen?

»Komm!«, forderte Emerelle.

Er trat an ihre Seite. Der Duft von Aprikosen und jener seltsam sinnliche andere Geruch nahmen ihn gefangen. Sie umschlossen ihn, als er neben der Königin stand. Sie war es, die diesen Duft verströmte. Einen Herzschlag lang hatte er den absurden Gedanken, dass sie ihn sich einverleiben wollte. Verschlingen, in einem Stück, so wie eine Schlange eine Maus verschlang.

Ollowain legte die Hand auf das Buch und schloss die Augen. Das Leder fühlte sich weich und warm an. Der Schwertmeister wartete auf das, was geschehen musste, wenn seine Lüge entlarvt wurde. Auf den Ruf nach den Wachen. Die Königin zu belügen, war Hochverrat. Und dafür gab es in Kriegszeiten nur eine Strafe.

All das würde er ertragen können. Nur Emerelles Blick, dem würde er sich nicht stellen. Der Enttäuschung darin. Sie hatte ihn zu dem gemacht, der er war. Dem Schwertmeister der Albenmark, ihrem Heerführer, dem Mann, dem sie vertraute wie keinem anderen. Und nun stand er vor ihr und belog sie, um eine diebische Lutin zu schützen. Sein Herz sagte ihm, dass er das Richtige tat. Aber wie hatte es so weit kommen können?

Klackend öffneten sich die Bronzebänder. Fast hätte er sich noch im letzten Augenblick verraten, indem er erleichtert aufatmete.

Emerelle lächelte, doch es war kein Lächeln, das von Herzen kam. »Gut«, sagte sie nur und verschloss das Buch wieder. Wie hatte er glauben können, dass er sie täuschen könnte! Sie wusste alles!

»Es wundert mich, dass noch keiner der Hüter des Wissens hier ist, um deinen Kopf zu fordern, Ollowain. Sie werden kommen. Ich kenne sie.«

»Und du wirst mich ausliefern.«

Ihre Antwort war eine schallende Ohrfeige. »Du machst es dir sehr leicht, Ollowain. Ich bin mir sicher, die Lutin war die Diebin, und du stellst dich vor sie, weil du glaubst, dass dir schon nichts geschehen wird. Du bist ja der Schwertmeister! Du bist unberührbar .... Eine lebende Legende! Gerechtigkeit kann es nur dort geben, wo Willkür keinen Platz hat. Auf dieser Gewissheit begründe ich meine Herrschaft. Niemand steht über dem Gesetz. Nicht einmal ich, und deshalb kann ich dich nicht retten. Wenn sie kommen und deinen Kopf fordern — und das werden sie, Ollowain, verlass dich darauf -, dann werde ich dieser Forderung nachgeben müssen, denn sie sind im Recht. Du hast doch gewusst, was geschehen würde. Warum hast du das getan? Warum habt ihr das getan?«

»Der Mörder wollte dieses Buch. Es schien wichtig ...« Ollowain wusste nicht, was er noch sagen sollte. Die Lutin hatte entschieden, das Buch zu stehlen, ohne ihn ins Vertrauen zu ziehen. Sie musste schwer wiegende Gründe gehabt haben. Sie hätte das nicht leichtfertig getan.

»Der Mörder war der Falrach-Spieler, sagtest du. Und du hast lange mit ihm gesprochen. Lange genug, dass er dich durchschauen konnte. Hast du in Erwägung gezogen, dass er vielleicht wollte, dass ihr beide mit dem Buch entkommt? Vielleicht war es seine Absicht, mich in diese Lage zu bringen. Dass du dich schützend vor die Lutin stellen würdest, war leicht vorherzusehen. Und nun muss ich über dich richten.«

Nie zuvor hatte er Emerelle so aufgewühlt gesehen.

»Du hast Recht, Herrin. Scheinbar bin ich in eine Falle gelaufen.« Er fühlte sich elend. Es gab keinen Ausweg. »Ich werde mich selbst richten, wenn du es wünschst. Das erspart dir die Peinlichkeit, über mich zu Gericht sitzen zu müssen.«

»Wie kannst du glauben, dass ich so etwas wünsche?«, fuhr sie ihn an. »Du musst fort von hier. Die Hüter des Wissens werden dich zuallererst hier suchen. Noch heute Nacht wirst du nach Feylanviek reisen, wo sich das Heer sammelt, das den Trollen entgegentreten wird. Du wirst es befehligen.« Sie lächelte zynisch. »In gewisser Weise ist auch das ein Todesurteil. Deine Truppen sind hoffnungslos in der Unterzahl. Aber wenn du kommst, wird das gut für ihre Moral sein. Und die Trolle fürchten dich seit Phylangan, obwohl sie dort gesiegt haben. In Feylanviek, inmitten deines Heeres, wird es unmöglich sein, dich verhaften zu lassen. Es ist der einzige Ort, an dem du in Sicherheit bist. Zumindest vorübergehend.«

»Und du würdest mich hinrichten lassen, obwohl du davon überzeugt bist, dass ich dich belüge, um damit Ganda zu schützen?«

Emerelle sah ihn unendlich traurig an. »Begreifst du endlich, was du getan hast? Meine Herrschaft gründet auf Gerechtigkeit und Gesetz. Verurteile ich dich, vergieße ich unschuldiges Blut und lasse zu, dass eine Lüge siegt. Verurteile ich dich aber nicht

– und bin mir sicher, du würdest bis zuletzt bei der Behauptung bleiben, dass du der Dieb warst -, dann wird es heißen, ich habe eine Lutin geopfert, um den Schwertmeister zu retten. Wenn die Albenkinder untereinander so lange in Frieden gelebt haben, dann liegt es auch an ihrem unerschütterlichen Glauben an meine Gerechtigkeit. Wird dieser Glaube erschüttert, sind alle Gesetze nichts mehr wert. Man muss daran glauben, dass sie unverrückbar sind und nicht nur ein bisschen Tinte auf Papier. Ich werde also gezwungen sein, dich Albenmark zu opfern, obwohl ich in meinem Innersten weiß, dass ich einen Unschuldigen unter das Schwert des Henkers schicke. Und das wird meinen Glauben erschüttern. Du kennst mich gut, Ollowain. Auch meine dunklen Seiten. Bei allem, was ich getan habe, ging es mir darum, die Völker der Albenkinder zu beschützen. Ich wollte immer, dass die Schwachen in Frieden leben können, geborgen hinter einem Schild aus Recht und Ordnung. Ich habe Kriege geführt, um uns vor der Willkür der Trolle zu schützen. Selbst jetzt tue ich das noch, obwohl alles verloren scheint.«

Sie starrte in die Dunkelheit des Gartens. Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Ollowain glaubte schon, sie wolle ihm durch ihr Schweigen bedeuten, dass es für ihn an der Zeit war zu gehen, da drehte sie sich überraschend um. Tränen standen ihr in den Augen, doch ihre Stimme war fest, als sie sprach.

»Weißt du, was das Schreckliche daran ist zu herrschen? Ganz gleich, was ich auch tue, wenn ich am Ende meines Lebens zurückblicke, werde ich einen riesigen Berg Leichen hinter mir sehen. Opfer auf dem Altar der Gerechtigkeit. Und bringe ich diese Opfer nicht, dann wird der Leichenberg hinter mir nur noch größer! Ich bin die Herrscherin, ja, aber zugleich bin ich auch eine Gefangene. Die Hohepriesterin eines Gottes, der nach Blut schreit! Immer lauter! Und nun werde ich dein Blut für ihn vergießen müssen. Geh! Geh mir aus den Augen, Ollowain! Du ahnst nicht, was du mir angetan hast! Geh! Such Meister Alvias und sage ihm, er soll dir jemanden suchen, der dich über die Albenpfade nach Feylanviek führt. Noch heute Nacht.«

»Aber...«

Emerelle schnitt ihm mit einer harschen Bewegung das Wort ab. »Es gibt nichts mehr zu besprechen. Du hast deine Entscheidung getroffen. Geh nach Feylanviek und finde einen ehrenvollen Tod. Für dich führt kein Weg mehr hierher zurück. Wenn die Hüter des Wissens kommen und deinen Kopf fordern, werde ich das Todesurteil über dich sprechen. Du hast mir diese Worte in den Mund gelegt, Ollowain, und dafür verdamme ich dich! Wenn ich dieses Urteil nicht sprechen kann, dann habe ich es nicht länger verdient, Königin zu sein.« Die Schminke unter ihren Augen zerlief, und sie weinte schwarze Tränen. »Geh und wisse, du nimmst meine Seele mit dir. Dein geheimnisvoller Falrach-Spieler wollte uns beide aus dem Spiel nehmen, und du hast ihm nach Kräften geholfen, diesen Zug zu gewinnen.«

Letzte Worte

»(...) Wer die Wahrheit sucht, der läuft in Gefahr zu finden, was er nie wahr haben wollte. In diesem Buch habe ich nur einen Teil der Schrecken niedergelegt, derer ich angesichtig wurde. Worte vermögen nicht auszudrücken, was uns diese Bilder meinem Herzen angetan haben. Ich war ein Mann der Tinte und der Gänsekiele. Ich war so vermessen zu glauben, es gebe nichts, worüber ich nicht schreiben könnte, und kein Geheimnis, das ich nicht zu ergründen vermöchte. Ich bin gescheitert. Doch anders, als ich erwartet hätte. Ich sah, was ich nicht hätte sehen dürfen. Sie sind nicht von uns gegangen, Schwester. Ich weiß, dass du einst diese Zeilen lesen wirst, und ich hoffe, die Zeit wird dich gnädig gestimmt haben. Du warst immer eine Kriegerin. So lange ich dich kannte warst du eine Frau des Schwertes. Und ich weiß, dass du in Zukunft eine Frau der Worte werden und dennoch Kriegerin bleiben wirst. Eine Meisterin der Intrige im Dienste des Wohl aller Albenkinder. Doch du hast dich einem Artefakt anvertraut, das geschaffen wurde, uns ins Verderben zu stürzen. Noch gehört es mir, und ich habe Jahrhunderte damit verbracht, mögliche Zukünfte zu studieren bis meine Seele im spiegelnden Wasser verbrannte. Deshalb liege ich nun in einem Bad aus Tinte. Es heißt, in warmen Wasser sei es leichter, dem Tod, so wie ich ihn gewählt habe, zu begegnen. Es soll ganz ohne Schmerzen geschehen. In der Tinte sehe ich mein Blut nicht. Ich habe nur einen kleinen Schnitt gesetzt, damit mir die Zeit bleibt, meine letzten Gedanken zu ordnen und dich zu warnen. Ich habe jeden Schritt wohl bedacht und habe die Zukünfte ergründet. Ich weiß, ein Brief an dich hätte dich nicht erreicht. Deshalb nutze ich die letzten Seiten meines Buches, um niederzuschreiben, was dich erst so spät erreichen wird. Ich weiß, dass du Cabak, meinen treuen Diener, stellen wirst, bevor er den zweiten Teil meiner Aufgabe erfüllen kann. Er hat dich nicht belogen. Er war kein Dieb. Ich habe ihm befohlen, dieses Buch nach Iskendria zu bringen –

was er dir nicht verraten haben wird -, und ja, ich habe ihm tatsächlich befohlen, die Silberschale an sich zu nehmen und einen Weg zu finden, sie für immer zu vernichten. Er hat seine Hand zu Unrecht verloren. Er hat sie für meine Treue verloren. Es wird ihn verbittert machen und er wird zum ersten Meister der Diebe unter den Lutin werden, denn er wird beschließen, dass er nun das Recht hat zu tun, wofür er zu Unrecht bestraft wurde. Sein Volk wird ihm auf diesem Weg folgen. Bevor sie ihn zur letzten Ruhe betten, wird er ein einflussreicher Kobold gewesen sein und die Seinen werden seine Bitterkeit durch die Jahrhunderte mit sich tragen. Doch ich schweife ab ... Du weißt natürlich, wie es um die Lutin steht. Was mich weit mehr schmerzt als die kleine Wunde, aus der mein Leben fließt, ist mein Wissen. Du wirst dies lesen und wirst es nicht glauben wollen. Hüte dich vor der Silberschale! Sie wurde von den Yingiz erschaffen! Sie kann zwar nicht lügen, aber sie will uns mit der Wahrheit verwirren. Sie zeigt dir einen Mann, der sich mit blutigen Händen über einen Krieger beugt, dessen Augen die Angst hinausschreien. So hältst du den Heilkundigen, der um das Leben des Verletzten kämpft, für einen Mörder. Die Silberschale zeigt dir stets eine Zukunft, die dich mit Sorge erfüllt. Und sie will dich zu Fehlern verleiten, die du ohne dein vermeintliches Wissen um die Zukunft niemals begangen hättest. Mich hat sie zu Grunde gerichtet.

Mir ist kalt. Nur wenig Blut fließt noch in meinen Adern. Doch eines musst du noch wissen. Geh behutsam um mit den Albenpfaden. Die einen umgeben unsere Welt wie ein schützendes Netz. Sie halten die Yingiz fern. Dieses Netz darf nicht zerstört werden. Die anderen aber, die zur Welt der Menschen führen und in die zerbrochene Welt, die (...)

Zitiert nach:

Die Wege der Alben, von:

Meliander, Fürst von Arkadien

Über den Dächern von Feylanviek

»Melvyn wird uns nicht dafür lieben, dass wir hier sind.« Der Kobold duckte sich hinter einen Dachfirst und sah seinen Gefährten Nossew zweifelnd an. »Wirklich nicht. Der mag es nicht, wenn man ihm hinterherschleicht.«

Nossew hielt den Zeigefinger hoch und krümmte ihn leicht. Dann streichelte er über den glatt polierten Schaft seiner Repetierarmbrust.

»Ja, ja«, murrte Misht. »Ich hab schon verstanden. Dein Zeigefinger juckt. Ein todsicheres Zeichen für Ärger. Aber weißt du was, ich halte gar nichts davon, meinen Kopf hinzuhalten, nur weil Melvyn sich mal wieder in ein fremdes Bett legen muss.«

Trotz seines Protestes stemmte sich der Kobold hoch und spähte über den Dachfirst hinweg. Der Mond stand wie eine riesige Laterne am Himmel. Man musste schon ausnehmend dumm sein, um sich ausgerechnet diese Nacht zum Herumschleichen auszusuchen. Oder über beide Ohren verliebt. Seit drei Tagen rannte Melvyn in ihrem Lager herum, als habe ihn ein Büffel vor den Schädel getreten. Kein vernünftiges Wort brachte er heraus. Er fand keine Ruhe. Auch nachts nicht. Misht kannte ihren Hauptmann schon lange. Wenn er eine seiner Affären laufen hatte, war er immer ganz aufgekratzt. Aber diesmal war er irgendwie anders. Wie ausgewechselt. Offenbar hatte er sich tatsächlich verliebt. Aber warum, bei den Alben, musste es ausgerechnet eine verheiratete Frau sein! Und dann noch das Weib eines Elfenfürsten! Wolkentaucher hatte ihm verraten, wo Melvyn sich herumgetrieben hatte. Auch der Adler machte sich Sorgen um ihren Anführer. Er war es gewesen, der Misht und Nossew darum gebeten hatte, Melvyn den Rücken freizuhalten. Und Nossew, der kaum einmal ein Wort über die Lippen brachte, hatte natürlich zugestimmt.

Die gewölbten Dachschindeln drückten Misht gegen die Rippen. Mit den Füßen stützte er sich gegen einen gemauerten Kamin und beobachtete den Balkon, der zwanzig Schritt entfernt lag. Wie Banner wehten die safranfarbenen Vorhänge in der offenen Tür. Sie strahlten hell im Mondlicht und schienen ihm zuzuwinken.

Große Klasse, dachte er säuerlich. Melvyn wälzt sich da drüben in Seidenlaken, und ich liege mir hier die Rippen wund.

Misht rückte ein wenig zur Seite und versuchte eine bequemere Stellung zu finden. Aber es war unmöglich, es sich auf diesen verfluchten gewölbten Dachschindeln gemütlich zu machen!

Nossew schob sich neben ihn, spuckte den Harzklumpen, auf dem er herumgekaut hatte, in seine Hand und klebte ihn auf eine Dachschindel. Dann zog er sein Fähnchen heraus. Er benutzte es immer, wenn es darum ging, einen guten Schuss zu landen. Es war ein schmaler Seidenstreifen, nicht einmal einen Finger lang, den er an einen Zahnstocher geklebt hatte. Vor jedem Schuss warf er einen Blick auf sein Fähnchen, um Windrichtung und Geschwindigkeit abzuschätzen. Völliger Unsinn, wie Misht fand! Armbrustbolzen waren viel weniger anfällig für den Wind als der Pfeil eines Bogens. Aber Nossew bestand auf diesem Ritual. Und eines musste man ihm lassen: Er schoss beängstigend gut.

Aus irgendeiner Tasche holte sein Gefährte ein neues Harzklümpchen hervor und begann schmatzend darauf herumzukauen. Zwar war nicht zu befürchten, dass man sie hören könnte, unten am Wehr lärmten schließlich die Hämmer der Schmiede, aber das Geräusch ging ihm auf die Nerven.

Misht trommelte nervös mit den Fingern auf einer Dachschindel. Fürst Shandral nahm an der Besprechung der Feldherren draußen vor der Stadt teil. Er würde gewiss nicht so schnell zurückkehren. Selbst dann nicht, wenn er bemerkte, dass Melvyn dort fehlte, und ahnte, was das bedeutete. Würde Shandral jetzt Elodrins Zelt verlassen, dann würden auch die anderen ahnen, worum es ging. Melvyn hatte bedauerlicherweise einen gewissen Ruf. So lange Shandral blieb, hatte jeder der Heerführer und Fürsten Grund, sich Sorgen zu machen.

Misht fluchte leise vor sich hin. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Melvyn mit einem Pfeil im Rücken in einem der Kanäle landete. Oder, nein ... es waren ja Elfen. Die würden es wohl subtiler machen. Ihn in einer dunklen Gasse überwältigen, ihn zwingen, einen Krug Branntwein zu trinken, und ihn dann im Kanal ertränken. Diese verfluchten Elfenbastarde würden anschließend gewiss auch alle zu Melvyns Begräbnis kommen. Misht mochte den Wolfself, wie viele der Fürsten und Edlen seinen Hauptmann spöttisch nannten. Mit dem übrigen Elfengeschmeiß konnte er nicht viel anfangen. Wenn Melvyn nicht wäre, hätte er sich längst auf Seiten der Rotmützen geschlagen. Von den Mauslingen im Herzland bis zu den Holden in den fernen Mangroven am Waldmeer gab es kaum einen Kobold, der nicht von den Rotmützen wusste. Misht hatte sich einige der Schriften von Elija Glops vorlesen lassen. Und der Kerl hatte Recht! Er war kein Aufrührer, wie die Elfen behaupteten, Elija war ein Held!

Misht verlagerte sein Gewicht ein wenig in der Hoffnung, vielleicht doch noch eine bequeme Stellung zu finden, in der man auf diesem verfluchten Dach liegen konnte.

Der Lärm der Schmiedehämmer am Wehr war ohrenbetäubend. Dass die nicht einmal in der Nacht Ruhe gaben! Vermutlich würde man es nicht einmal hören, wenn sie einen Dachziegel lostraten und der unter ihnen auf dem Straßenpflaster zerschellte.

Mishts Blick wanderte über die umliegenden Dächer. Sämtliche Fensterläden waren verschlossen. Und das bei dieser Hitze. Soweit sie die Gassen von hier oben einsehen konnten, war alles wie ausgestorben. Der Geruch von glühendem Metall hing in der Luft. Er sah hinüber zu der Schmiede, die auf weiten, steinernen Brückenbögen stand. Vor ihr wurde das Wasser angestaut, damit die Schaufelräder unter den Brückenbögen auch im Sommer stets mit genug Wasser versorgt werden konnten. Leise quietschend drehten sie sich. In silberweißer Gischt spritzte das Flusswasser von den hölzernen Schaufeln. Die Kraft des Wassers bestimmte den Rhythmus der schweren Schmiedehämmer. Aus dem hohen Schornstein der Schmiede quoll dicker Rauch. Er wurde vom Feuer der Erzschmelze beleuchtet, sodass es schien, als glühe selbst der Rauch.

Irgendwo in der Dunkelheit grölten ein paar Betrunkene.

Misht klopfte gegen das hölzerne Bolzenmagazin, das auf seiner Armbrust steckte. Die fingerdicken Geschosse klapperten leise. Zuunterst hatte er einen Heuler liegen. Die Spitze dieses Bolzens war hohl, und es waren zwei kleine Löcher hineingeschnitten. Wenn das Geschoss flog, gab es einen schrillen, heulenden Laut von sich. In der Schlacht verwendete man solche Bolzen, um die Pferde der gegnerischen Reiterei zu erschrecken. Zwei oder drei von ihnen konnten mehr Schaden anrichten als eine ganze Salve scharfer Geschosse, wenn die Schlachtrösser scheuten und den ganzen Angriff durcheinander brachten. Heute Nacht hatte dieses Geschoss einen anderen Zweck zu erfüllen. Ganz gleich, wie geil sein Hauptmann war und wie sehr die Elfenschlampe unter ihm stöhnte, den Heuler würde Melvyn hören. Das schrille Pfeifen war unverwechselbar. Melvyn würde wissen, dass er in Gefahr war.

Die übrigen Bolzen im Magazin hatten ebenfalls keine scharfen Spitzen. Sie konnten die Gassen von Feylanviek schließlich nicht in ein Schlachtfeld verwandeln. Ein Polster aus geflochtenem Gras saß auf den Spitzen, überzogen mit einem Bezug aus Lumpen. Wer von einem solchen Bolzen am Kopf getroffen wurde, der ging zu Boden. Und wenn man ein Auge traf ... Lieber nicht daran denken.

Die Bolzen würden jedenfalls weniger Schaden anrichten als die schweren, vierkantigen Stahlspitzen, die üblicherweise auf ihnen steckten.

Eine Bewegung im Schlagschatten einer Gaube schreckte Misht aus seinen Gedanken. Tauben, die unruhig gurrten und mit den Flügeln schlugen. Was hatte sie aufgeschreckt? Schlich dort eine Katze übers Dach?

Nossew versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen. Sein schweigsamer Gefährte nickte in Richtung des hohen Ziegelschornsteins bei der Schmiede. Ein Schatten glitt scheinbar schwerelos das Mauerwerk empor.

Die Tauben bei der Dachgaube flogen auf. An einem benachbarten Giebel glitten zwei weitere Schatten entlang.

»Spinnenmänner!« Misht spuckte das Wort aus wie einen Schleimklumpen.

Die Safranvorhänge teilten sich. Melvyn trat auf den Balkon. Er war angezogen. Einen beschisseneren Zeitpunkt hätte sich der Hauptmann nicht aussuchen können. Warum lag er nicht in den Armen seines Flittchens? Sonst war er mit den Weibern doch auch nicht so schnell fertig!

Der Kobold riss den Spannhebel seiner Repetierarmbrust zurück. Leise klackend wurde der Heuler auf die gefettete Führungsschiene gedrückt. Dann richtete er die Waffe zum Himmel und schoss. Heulend zog der Bolzen in die Finsternis davon.

Melvyn duckte sich instinktiv. Keinen Augenblick zu spät. Über ihm schlugen zwei Armbrustbolzen in die Bruchsteinmauer.

Überall rings auf den Dächern konnte Misht jetzt geduckte Gestalten erkennen. Man hatte Melvyn in eine Falle gelockt! Shandral musste geahnt haben, dass der Wolfself in dieser Nacht sein Weib besuchen käme. Und er ging die Sache wenig subtil an.

Nossew zielte auf den Spinnenmann, der am Schornstein der Schmiede hing. Der Kerl hatte die höchste Schussposition rings herum. Wahrscheinlich hatte er sie schon entdeckt. Nossew blickte zu seinem Fähnchen. Der Seidenstreifen hing schlaff vom Zahnstocher herab. Ein leises Singen des Stahlbogens der Armbrust war trotz des Lärms der Schmiedehämmer zu hören. Nossew riss den Spannhebel zurück. Ein neuer Bolzen glitt auf die Führungsschiene.

Misht sah, wie der Kerl am Schornstein die Arme hochriss und stürzte. Sein Schrei ging im stählernen Getöse der Hämmer unter. Von der Schlacht über den Dächern würde kaum jemand etwas mitbekommen, so lange die Wasserräder liefen und die Hämmer nicht zur Ruhe kamen.

Eine Dachpfanne neben ihm zerbarst. Sie waren entdeckt! Misht riss die Repetierarmbrust hoch und feuerte auf einen der Schatten bei der Gaube. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Bewaffnete auf den Balkon von Shandrals Stadthaus stürmten. Doch Melvyn war verschwunden.

Im Namen der Königin

Ollowain zügelte den Hengst auf der Hügelkuppe und blickte hinab auf die große Stadt. Schutzlos streckte sie sich am Flussufer. Der Schwertmeister konnte nicht fassen, wie man so leichtfertig sein konnte! Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit die Trolle zurückgekehrt waren, und trotzdem gab es keine Stadtmauern und Türme. Feylanviek war nicht zu verteidigen, sobald der Mika zufror. Es würde einfach überrannt werden. Keine Macht der Welt würde das verhindern können. Die Schreckensbilder des brennenden Vahan Calyd kamen Ollowain in Erinnerung. Er hatte erlebt, wie eine Stadt in einer einzigen Nacht gestorben war.

Sein Blick wanderte über die Klippenlandschaft aus steilen Dachgiebeln. Feylanviek würde brennen. Die Fachwerkhäuser waren wie ein riesiger Scheiterhaufen. Sobald der erste Straßenzug in Flammen stand, würde niemand mehr das Feuer unter Kontrolle bringen können.

Ollowain glitt aus dem Sattel und löste den Lederriemen seines Helms. Müde schüttelte er den Kopf, entspannte die Nackenmuskeln und atmete die schwüle Nachtluft. Fledermäuse tanzten in unstetem Flug durch den Himmel. In der Ferne hörte man Schmiedehämmer. Selbst in der Nacht kam die Stadt nicht zur Ruhe, als sei sie begierig, jede Stunde zu nutzen, die ihr noch blieb. Der Schwertmeister hängte den Helm ans Sattelhorn und klopfte dem großen Schimmel auf den Hals.

»Reitet voraus zum Lager. Ich möchte mich ein wenig in der Stadt umsehen, bevor die Nachricht die Runde macht, dass Emerelle mich geschickt hat.«

Obilee räusperte sich. »Herr?«

Die junge Kriegerin befehligte die kleine Eskorte, die Ollowain durch das goldene Netz gefolgt war. Ihre scheue Zurückhaltung grenzte fast schon an die abergläubische Demut, mit der die Menschen ihre Götzenbilder verehrten. Als sie ihn vor zwei Stunden aus dem Kartensaal der Burg geholt hatte, hatte sie kaum die Zähne auseinander bekommen. Mit den übrigen Kriegern der Eskorte war es nicht besser. Für sie war er eine lebende Legende. Dass er fünfzehn Jahre lang verschwunden war, hatte dem keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, in seiner Abwesenheit schienen die Geschichten über ihn nur gewachsen zu sein. Was ihn aber mehr bedrückte als sein unverdienter Ruhm, war die Hoffnung, die er in den Augen der jungen Krieger sah. Sie waren davon überzeugt, dass er ein Wunder vollbringen würde. Sie glaubten tatsächlich, er könne die Übermacht der Trolle besiegen. Dass Emerelle ihn hergeschickt hatte, damit er einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld fand, statt sein Haupt auf den Richtblock eines Henkers zu betten, ahnte niemand.

»Herr«, sagte Obilee noch einmal zögerlich. »Ich fürchte, dass du in der Stadt nicht lange unerkannt bleiben wirst in deinem Gewand.«

Ollowain blickte an sich herab. Er trug einen leichten weißen Leinenpanzer, dazu eine Reithose und weiße Stiefel. Über seinen Schultern lag ein kurzer weißer Umhang. Obilee hatte Recht. Als weißen Ritter kannte ihn jedes Kind in Albenmark. Er wusste, dass seine Anwesenheit die Moral in der Stadt heben würde. Aber in dieser Nacht wollte er noch unerkannt sein.

Er lächelte die fahrende Ritterin an. »Was schlägst du vor?«

Wieder räusperte sich die junge Elfe, als habe sie ständig einen trockenen Hals, wenn sie mit ihm sprach. »Wenn du vielleicht meinen Umhang nehmen würdest, Herr ...« Sie öffnete die breite silberne Fibel und reichte ihm das Kleidungsstück. Es war aus festem und doch leichtem grünem Tuch. Eine dünne Borte aus stilisierten Eichenblättern schmückte den Saum.

Ollowain nahm seinen Mantel ab und reichte ihn der Elfe, dann warf er sich den grünen Umhang um die Schultern und zog ihn vor der Brust zusammen. »Ich sehe euch im Heerlager. Ich wünsche, dass sich zum Morgengrauen alle Befehlshaber für eine Besprechung einfinden. Die Zeit des Herumsitzens und Wartens ist vorbei. Wer ohne triftigen Grund bei der Lagebesprechung fehlt, verliert sein Kommando.«

Obilee nickte ernst. Dann gab sie den übrigen Reitern ein Zeichen und führte die Eskorte den Hügel hinab.

Ollowain atmete freier, als er allein war. Mit weiten Schritten stieg er den Hügel hinab und überquerte die erste der zahllosen Brücken der Stadt. Der Kanal stank nach Fäulnis, nach dem zähen, schwarzen Schlamm der Ufer, verrottendem Schilf und den Fäkalien der Stadt. Bei Tageslicht war das Wasser sicher eine unansehnliche dunkle Brühe. Doch der Mond verwandelte es in einen silbernen Spiegel.

Einen Herzschlag lang hatte Ollowain wieder den schweren, sinnlichen Duft der Königin in der Nase. Keine fünf Stunden waren vergangen, seit Emerelle ihm den Befehl zu seinem letzten Kommando gegeben hatte. Und doch schien es in einem anderen Zeitalter gewesen zu sein. So viel war in so kurzer Zeit geschehen. Er hatte sich in der Rüstkammer neu einkleiden lassen und danach die Zeit, die noch blieb, im Kartensaal verbracht. Obilee verwahrte für ihn eine lange Röhre aus zähem Leder. Darin befanden sich aufgerollt sieben Karten der Region. Die Trolle sammelten sich nahe dem Mordstein; das war kaum dreihundert Meilen entfernt. Doch der riesige Tross machte ihr Heer schwerfällig. Überraschende Manöver brauchte man von ihnen nicht zu befürchten.

Der Feldherr schlenderte ziellos durch die Stadt. Er ließ sich treiben. Auch wenn er einen aussichtslosen Kampf auszutragen hatte, fühlte er sich erleichtert. Hier draußen, nahe der Grenze zur Snaiwamark, war es klar, wie die Fronten verliefen. Nicht so wie in Iskendria, wo er das wahre Antlitz seines Feindes nicht einmal hatte erahnen können. Hoffentlich zog Emerelle wenigstens Nutzen aus dem verfluchten Buch.

Ollowain wich einer Schar lärmender Minotauren aus, die sturzbetrunken gefährlich nah am Rand eines Kanals entlangtorkelten. Unbewusst hatte sich seine Hand auf den Schwertgriff gelegt. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass es nicht wirklich Kleos gewesen war, gegen den er in Iskendria gekämpft hatte, sondern nur dessen Leib. Und in dieser Schlacht waren die gehörnten Hünen ihre Verbündeten.

Der Schwertmeister beschleunigte seine Schritte und bog in eine Seitenstraße ein, die von der Front eines prächtigen Elfenpalastes beherrscht wurde. Das Geräusch der Hämmer war hier so laut, dass man ihren Lärm schon körperlich spüren konnte. Wie unsichtbare Wellen brandete das metallene Getöse in Form gezwungenen Stahls gegen ihn an. Und dann war da plötzlich ein anderes Geräusch. Ein schrilles Pfeifen, das Ollowain von Schlachtfeldern kannte. Ein Heuler!

Eine Schattengestalt fiel aus dem Nichts und landete federnd neben ihm auf dem Pflaster. Stählerne Krallen ragten über die geballten Fäuste des Kriegers. Geduckt, sichernd, drehte er sich halb im Kreis. Der Elf hatte zerzaustes blondes Haar und trug ein schmuddeliges, ledernes Jagdhemd. Seine Stiefel waren abgewetzt. Statt einer Hose trug er einen roten Lendenschurz.

Ollowain hörte ein leises Sirren. Er drückte sich an die Hauswand und zog blank. Ein Armbrustbolzen schrammte funkenstiebend über das Straßenpflaster.

Schatten glitten die Palastwand hinab. Der Krieger mit den Krallenhänden stürmte vor, doch ein Trupp Armbrustschützen, der am Ende der Gasse erschien, versperrte ihm den Fluchtweg. Die Kobolde beugten die Knie und hoben drohend die Waffen an die Schultern.

Ollowain atmete ganz ruhig und musterte die Spinnenmänner. Sie waren berüchtigt dafür, ihre Geschosse zu vergiften. Doch in ihrem Eifer, den Elfen zu ergreifen, hatten sich zu viele von ihnen in die Gasse abgeseilt. Sie konnten nicht mehr schießen, ohne Gefahr zu laufen, einander zu treffen.

Eine gedrungene Gestalt löste sich aus der Schützengruppe am Ende der Gasse, ein Kobold mit einem nietenbeschlagenen Lederwams. Ein eckig gestutzter Bart wucherte auf seine Brust hinab, der Schädel war kahl geschoren. Zwei Krieger mit Armbrüsten im Anschlag begleiteten ihn.

Ollowains Blick wanderte über die Kobolde. Sie standen auf den Dächern rings herum, an beiden Enden der Gasse und drückten sich mit drohend erhobenen Waffen an die Hauswände. Es waren mindestens dreißig.

Der Elf mit den Krallenhänden wich ein Stück zurück. Er sah sich um, suchte einen Fluchtweg. Plötzlich lächelte er, und seine Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit. »Ein schlechter Ort für einen nächtlichen Spaziergang, Kamerad. Tut mir leid.« Er ließ sich zu Boden fallen und rollte sich seitlich in einen Hauseingang.

Bolzen sirrten. Ollowain machte einen Satz nach vorn. Sein Schwert wirbelte in silbernen Kreisen. Kreischend glitt ein Geschoss an der Klinge ab. Der Ruck riss ihm fast die Waffe aus der Hand. Obilees Umhang flatterte um seine Schultern und machte ihn für die Kobolde in seinem Rücken zu einem unsicheren Ziel.

Der Schwertmeister bewegte sich wie ein Tänzer, doch war sein Rhythmus nicht vorhersehbar. Er duckte und spannte sich, machte einen überraschenden Seitschritt und wechselte einen Lidschlag später schon wieder sein Bewegungsmuster. Sein Ellenbogen traf einen Kobold an der Kehle, der Knauf seines Schwertes hämmerte gegen eine Schläfe. Röchelnde, sich krümmende Kobolde säumten seinen Weg.

Der Glatzkopf wich zurück und zog einen Dolch mit gezackter Klinge. Wieder kreischte Metall auf Metall. Ollowain drehte dem Krieger die Waffe aus der Hand. Ein Tritt und ein Schwerthieb mit der flachen Seite schickten die Eskorte zu Boden. Ollowains Finger krallten sich in den dichten Bart. Eine letzte Drehung, und er stand mit dem Rücken zur Wand. Den Anführer der Kobolde hatte er hochgerissen und hielt ihn wie einen Schild vor seiner Brust. »Im Namen der Königin, die Waffen nieder!«

»Du machst einen Fehler«, zischte der glatzköpfige Kobold.

»Du hast dich auf die falsche Seite geschlagen. Wir stehen in Diensten eines Elfenfürsten und verteidigen lediglich sein Heim.«

»Ich kenne keinen Elfenfürsten, der eine Gasse sein Heim nennt.«

»Fürst Shandral von Arkadien hat wenig übrig für solche Wortklaubereien, Fremder.«

Ollowain setzte den Anführer der Kobolde vor sich auf der Straße ab. »Dann werde ich es wohl am besten mit direkten Befehlen versuchen.« Ollowain ließ den grünen Umhang von seinen Schultern gleiten. »Vor dir steht Ollowain, Schwertmeister der Königin und Oberbefehlshaberin ihres Heeres.«

Der Kobold blickte ihn mit harten Augen an. »Und ich bin Hauptmann Madrog, Befehlshaber der Leibwache Shandrals, des Fürsten von Arkadien. Ich werde den Mann dort drüben vor meinen Fürsten schaffen.«

»Eben erschien es mir noch, als wolltet ihr ihn umbringen.«

Um die Augen des Kobolds bildeten sich tiefe Fältchen, als lache er still in sich hinein. »Wenn ich das gewollt hätte, dann läge er jetzt in seinem Blut reglos auf dem Pflaster.«

»Und welchen Verbrechens hat er sich schuldig gemacht?«, fragte Ollowain gereizt.

Der Hauptmann zögerte einen Augenblick. »Er ist ein Dieb«, sagte er schließlich.

»So. Du treibst viel Aufwand, um einen Dieb zu stellen, Hauptmann.«

»Ich bin eben gewissenhaft«, entgegnete der Kobold in beißendem Ton.

»Dir ist bewusst, dass ich als Oberbefehlshaber in einem Fürstentum unter Kriegsrecht auch die oberste Gerichtsbarkeit ausübe?«

Madrog verdrehte die Augen. »Du wirst dich doch nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten, Schwertmeister.«

Welch ein Schlitzohr, dachte Ollowain. Einen Augenblick lang war er tatsächlich versucht, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Ich nehme den Dieb in Gewahrsam, und ich brauche keine Eskorte, um mit ihm sicher ins Heerlager zu gelangen.«

»Du solltest dich da wirklich nicht einmischen, Herr. Das wäre ein Fehler. Du ...«

»Du drohst mir?« Ollowain schob sein Schwert in die Scheide zurück. Er nahm den Umhang auf, strich über den Stoff und bohrte einen Finger durch eines der Löcher, das die Armbrustbolzen gerissen hatten. »Ein Mordanschlag auf den Oberbefehlshaber der Königin. Das reicht, um selbst einem Elfenfürsten eine Seidenschlinge um den Hals zu legen.«

Der Krieger mit den Krallenhänden lachte.

Madrog hob abwehrend die Hände. »So war das nicht gemeint. Das weißt du, Herr. Wir hatten ja keine Ahnung ...«

»Ach so«, unterbrach ihn Ollowain in schneidendem Ton. »Du bringst also wahllos Leute auf der Straße um. Das ändert natürlich alles. Dann kann man deinem Herrn wohl nur vorwerfen, dass er bei der Wahl seiner Söldner schlecht beraten war. Dir allerdings bringt das einen Hanfkragen ein.« Ollowain strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es ist immer ganz gut, ein neues Kommando mit ein paar Hinrichtungen zu beginnen. Dann ist allen klar, dass Intrigenspiele um die Autorität nur Zeitverschwendung sind.«

Madrog wich einen Schritt zurück. Dann winkte er seinen Kriegern. »Wir überstellen unseren Gefangenen an den Schwertmeister der Königin.«

Madrogs Männer waren eine disziplinierte Truppe. Sie zogen sich ohne zu zögern zurück. Einige von ihnen mussten getragen werden, doch niemand murrte über den Befehl ihres Anführers.

»Ich hoffe auf deinen Sinn für Gerechtigkeit«, sagte der Hauptmann vieldeutig. Er verneigte sich zackig und ging zum Portal des Palastes.

Ollowain blickte zu dem Krieger mit den Krallenhänden. Seine seltsamen Waffen waren verschwunden. Er lehnte aufreizend lässig an der Wand und hatte grinsend die Auseinandersetzung mit den Kobolden beobachtet. Jetzt verneigte auch er sich, doch jede seiner Bewegungen war eine Parodie auf Madrogs stramme Haltung. »Es ist mir eine Ehre, von dir gerettet worden zu sein, Schwertmeister. Du gestattest, dass ich mich vorstelle. Melvyn, Sohn der Silwyna und des Alfadas. Da ich in den Augen der meisten Fürsten so etwas wie ein Räuberhauptmann bin, machst du dich besser auf einigen Ärger gefasst, Onkel.«

»Uns verbinden keine Blutsbande«, entgegnete der Schwertmeister schroff. Melvyn! So also sah er aus. Schon im Winter vor fünfzehn Jahren hatte er einiges über Silwynas Sohn gehört. Das Kind, das es eigentlich nicht geben durfte, denn Elfen und Menschen konnten miteinander keine Kinder zeugen. So hatte es jedenfalls immer geheißen.

»Da du der beste Freund meines Vaters bist, betrachte ich dich trotzdem als Onkel. Der Teil meiner nicht pelztragenden Verwandtschaft ist so klein, dass ich auf solche Feinheiten keine Rücksicht nehmen kann. Ich ... Ach, Mist!«

»Bitte?«

»Vergiss es! Mein Vater hat sich mein ganzes Leben noch nicht bei mir blicken lassen. Für ihn gibt es mich nicht. Vergiss den Quatsch mit dem Onkel. Wenn du ein Freund bist, dann bring mir diesen Trick mit den Armbrustbolzen bei. Sah sehr eindrucksvoll aus. Und ich lasse mich nicht schnell beeindrucken.«

Ollowain schüttelte sanft den Kopf. Er mochte den Jungen. Irgendwie erinnerte ihn Melvyn an Mandred. Das Blut des Fjordländers schien in Melvyn viel stärker zu sein als in Alfadas. Aber vielleicht lag das auch nur daran, dass Alfadas am Hofe Emerelles aufgewachsen war und Mandred in irgendeinem verräucherten Langhaus. So ein Langhaus kam einer Wolfshöhle sehr viel näher als dem Hof der Elfenkönigin. »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen, Melvyn. Dieser Trick, wie du es nennst, war der Tanz der Pfeile. Ich habe fast hundert Jahre gebraucht, um ihn zu meistern. Dabei bin ich siebenundzwanzigmal verletzt worden. Dreimal so schwer, dass ich nur überlebte, weil mir eine Heilerin mit der Kraft eines Albensteins zur Seite stand.« Ollowain scheute davor zurück, Emerelles Namen direkt auszusprechen. So vieles hatte die Königin für ihn getan. So oft hatte sie ihn gerettet! Und nun wollte sie seinen Tod. Er würde gehorchen, aber er verstand sie nicht.

»Und wie lernt man diesen Tanz? Es gibt etliche feine Damen, die mich für einen recht begabten Tänzer halten. Sowohl in der Senkrechten als auch in der Waagerechten.«

Ollowain erstickte ein leises Lachen mit einem Räuspern. »Zunächst musst du alle gegnerischen Schützen erfassen und alle plausiblen Flugbahnen für Pfeile oder Bolzen einschätzen. Du musst dir sämtliche Flugbahnen wie ein leuchtendes Netz vorstellen. Dann bewegst du dich durch die weitesten Maschen dieses Netzes und schlägst mit deinem Schwert einen Schutzschirm. Aber man darf sich nichts vormachen. Selbst die größten Meister im Pfeiltanz werden mit ihrem Schutzschirm höchstens acht von zehn Pfeilen ablenken können. Es wäre ein tödlicher Irrtum zu glauben, man sei unverwundbar.«

Melvyn grinste breit. »Ich wette, Madrogs Meuchlerbande sieht das anders. Die werden noch in dieser Nacht überall herumerzählen, dass du unverwundbar bist.«

Ollowain zuckte mit den Schultern. »Ich werde sie nicht daran hindern. Wie sagte Madrog auch? Ich kann mich schließlich nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten.«

Der junge Elf lachte. »Du bist anders, als sie erzählen, Schwertmeister.« Ollowain dachte an Lyndwyn. Sie hatte ihn verändert. Ihm einen Teil seines Panzers geraubt, hinter dem er allzu lange seine Gefühle versteckt hatte. Aber er sollte auf der Hut sein. Als Oberbefehlshaber konnte er sich zu viel Gefühlsduselei nicht leisten.

Seine Aufgabe verlangte, dass er Männer in den Tod schickte, ohne dabei Gewissensbisse zu haben. So wurden Schlachten gewonnen. Und er war fest entschlossen zu siegen! »Hatte ich erwähnt, dass du unter Arrest stehst, Melvyn?«

Der junge Elf grinste noch immer. Offenbar hielt er diese Worte für einen Scherz.

»Du wirst mich jetzt ins Heerlager begleiten, und dort lasse ich dich in Eisen legen, bis ich die Muße habe, mich wieder um Kleinigkeiten zu kümmern.«

»Natürlich.« Melvyn brach wieder in schallendes Gelächter aus. »Du hast wirklich Humor.«

Selkies

Sebastien liebte das Meer. Bruder Jules musste das gewusst haben. Warum sonst hätte er ausgerechnet ihm den Auftrag gegeben, die Albenkinder der See büßen zu lassen. Der frühere Abt spürte einen dunklen Gedanken. Die Bestie in ihm versuchte wieder die Herrschaft zu übernehmen. Sie ruhte nie. Doch die verbliebenen Brüder und Schwestern umgaben ihn wie einen schützenden Schild. Drei von ihnen hatten bereits mit ihrem Leben bezahlt. Alles war anders gekommen, als Bruder Jules es vorhergesagt hatte. Sebastien fühlte sich elend. Er hatte nicht den Mut gehabt, Jules zu gestehen, dass sie nicht wirklich eins geworden waren. Er hatte es nach der vermeintlichen Verschmelzung ihrer Seelen sofort gewusst. Die dreißig hätten nur noch ein Gedanke sein dürfen, nachdem sie ihr Licht gegeben hatten. Eine Macht, stark genug, der Kreatur zu trotzen, mit der das Wunder ihres Ordensbruders sie verbunden hatte. Aber sie waren die dreißig geblieben. Sie hatten ihre Disziplin behalten. Alle beugten sich seinen Befehlen. Sie waren treue Herzen, ihrer Sache unverbrüchlich ergeben, dachte Sebastien traurig. Und sie würden verlöschen, einer nach dem anderen. Die Schattengestalt war zu mächtig. Sie versuchte, ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Sie wollte töten, töten, töten. Sie war unfähig, ein anderes Ziel zu verfolgen. Dabei war sie von bösartiger Intelligenz. Wenn es keine Beute gab, versuchte sie ihre Gedanken zu manipulieren. Ihre Stimme war in ihnen. Es gab keine Möglichkeit, sich vor ihr zu verschließen. Zuhören mussten sie ihr alle, auch wenn sie ihr die Kontrolle über den Leib, den das Wunder erschaffen hatte, verwehren konnten. Noch ...

»Du denkst zu viel, Sebastien, das macht uns schwach. Wir sind erschaffen worden, um uns am Lebenslicht der Albenkinder zu laben. Zögere nicht. Damit versündigst du dich vor deinem Gott.«

Der Abt versuchte sich gegen die Gedanken zu sperren. Diese Kreatur war die reine Boshaftigkeit! Alles, was sie tat, tat sie aus Eigennutz.

Wir dienen dem Herrn. Was wir tun, ist gut und richtig. Wir sind die Aufrechten, so lange wir uns nicht den Einflüsterungen des Finsteren ergeben.

»Aufrechte Mörder?«, höhnte die Stimme.

Wir dienen Tjured, das ist eine heilige Pflicht.

»Und ich diene meinem Hunger. Das ist nicht minder heilig, denn zu fressen, kräftigt unseren Leib, und ihr macht diesen Leib doch zum Werkzeug Gottes!«

Hört nicht auf ihn, Brüder und Schwestern! Er ist die Versuchung. Er will das Böse in uns wecken, will, dass wir uns der Verderbnis hingeben. Auch wenn er mit einer Seidenzunge spricht und seine Worte uns zutiefst berühren, kennt er nur ein Ziel: uns zu verderben!

»Du bist zu engstirnig. Ich habe viel Freude an euch und euren Seelenqualen. Ich möchte euch nicht missen. Welche Fesseln ihr euch auch auferlegt, jeder von euch weiß um die Finsternis, die tief in seiner Seele ruht. Jedes denkende Wesen wird mit diesem Makel geboren. Empfindet ihr nicht tiefe Genugtuung, wenn ihr die Albenkinder tötet? Ist das rechtschaffen? Ihr mordet nicht nur, ihr löscht unsterbliche Seelen aus, indem ihr das Lebenslicht der Opfer verschlingt. Ist euch bewusst, was für ein Verbrechen dies ist? Die Geschöpfe, die wir getötet haben, können wiedergeboren werden, so lange ihre Seele lebt und nicht ihre Erfüllung gefunden hat. Wir aber löschen sie aus. Ist das Tjureds Wille?«

Der lebende Heilige hat diese Kreatur aus uns erschaffen, mahnte Sebastien seine Brüder und Schwestern. Sie ist die Verkörperung von Tjureds Willen.

»Und wenn er ein Betrüger wäre, der euren naiven Glauben ausnutzt?« Gott würde so etwas nicht zulassen! Wie könnte einer seiner Diener etwas anderes sein als sein Werkzeug? Bringt den Flüsterer zum Schweigen! Seine Brüder und Schwestern stimmten in Gedanken einen Choral an. Sie alle waren in Gedanken miteinander verbunden. Bruder Jules hatte gut daran getan, sie so lange auf ihr großes Werk vorzubereiten. Auch wenn sie nicht zu einem Gedanken verschmolzen waren, so kannten sie doch alle Disziplin und Selbstaufgabe. Nur das bewahrte sie vor dem Wahnsinn! Sie alle konnten einander in die Seele sehen. Hätten sich all ihre Gedanken vermengt, sie wären längst wahnsinnig geworden. Wären Sklaven jenes Schattens geworden, mit dem sie sich ihren neuen Leib teilten.

Vielleicht war er wie die dunklen Gedanken, die ihn früher, als er noch ein Mensch war, manchmal überkommen hatten, überlegte Sebastien. Nur stärker. Eigenständiger. Der Versucher hatte Recht. In jeder Seele gab es einen Hort der Finsternis. Diese Dunkelheit zu bezwingen, war die erste Aufgabe, die Tjured jedem seiner Kinder stellte. So sehr sie sich verändert hatten, als sie in einem Leib vereinigt wurden: Der Kampf gegen das Dunkel in ihnen war geblieben. Er war sogar noch schwerer geworden. Vielleicht gehörte das zu Tjureds Plan? Vielleicht war es eine Prüfung für sie? Gott war vollkommen! Er musste um die Gefahr gewusst haben. Also lag es in seiner Absicht, dass sie mit dieser Kreatur rangen. Wenn sie nur nicht so stark wäre!

Drei von ihnen waren schon vergangen. Sie waren eins geworden mit der Dunkelheit. Sie waren die Schwächsten gewesen. Die Übrigen hatten mehr Seelenkraft, um sich zu widersetzen. Sie würden nicht so schnell besiegt sein, wie diese Kreatur der Finsternis vielleicht glaubte. Und wenn ihr Glaube stark blieb, dann würden sie es sein, die triumphierten.

Der Choral, den seine Brüder und Schwestern in Gedanken angestimmt hatten, hatte eine beruhigende Wirkung auf Sebastien. Er fand zu seiner Zuversicht zurück. Und er konnte sein Herz endlich der Schönheit der Küstenlandschaft öffnen. Das Meer brandete in sanften Wellen gegen ein Labyrinth schwarzer Klippen an. Kleine Strände mit schneeweißem Sand wurden von Eichen beschattet, die dicht hinter den Dünen wuchsen. Die Luft war erfüllt von den Liedern der Vögel, die sich mit dem Wind und der Brandung zu einer großartigen Harmonie vereinigten.

Der Choral der Seelen hatte die Stimme des dunklen Versuchers zum Verstummen gebracht. Sebastien war sich unschlüssig, ob es die heilige Macht der Worte war, die den Schatten schweigen ließ, oder der Frieden, der ihnen entströmte und der selbst für die aufgewühlteste Seele heilender Balsam war.

Sebastien umrundete einen Felsvorsprung, der über den Strand hinaus bis zur See reichte. Er konnte das erfrischende Wasser nicht spüren. Ganz gleich, ob er über den Strand oder durch das Wasser eilte, er fühlte nichts. Nicht den Sand unter den Pfoten und nicht die spritzende Gischt, die mit kalten Fingern durch sein Fell hätte greifen sollen. Sein neuer Leib hätte es Sebastien erlaubt, durch den Fels hindurchzugehen. Aber das hätte einen Augenblick der Finsternis bedeutet. Für einen Herzschlag wären die Sonne und ihr strahlendes Licht verschwunden, und er scheute davor zurück, dem Schatten in ihrer Seelengemeinschaft so leichtfertig in die Hände zu spielen.

Der ehemalige Abt verharrte vor einem Tümpel aus dunklem Brackwasser, der vor dem Wind geschützt zwischen den Felsen lag. Er betrachtete den neuen Leib, den das Wunder Tjureds ihnen geschenkt hatte. Sie waren groß wie ein Stier geworden, auch wenn sie dabei so hager waren wie ein halb verhungerter Wolf. Deutlich zeichneten sich Muskeln und Sehnen unter dem kurzen Fell ab. Sie waren stark! Stärker als jedes Geschöpf aus Fleisch und Blut. Nachdem sie die Pfade aus Licht verlassen hatten und in die wunderschöne Welt der verhassten Albenkinder getreten waren, hatte Sebastien ihren neuen Leib erprobt. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht war er dahingestürmt. Er konnte auf Wolken laufen und durch Mauern preschen. Nichts hielt sie auf! Und wie lange sie auch rannten, sie kannten keine Müdigkeit. Dieser Körper war eine vollkommene Waffe gegen die Albenkinder. Sie hatten einen Jäger getroffen. Seine Pfeile waren wirkungslos durch sie hindurchgeglitten. Jules sagte zwar, dass Eisen aus den Schmieden der Menschen ihnen vielleicht schaden könnte, aber hier gab es keine Menschen. Die Albenkinder waren ihnen ausgeliefert. So wie die heiligen Märtyrer der geschändeten Refugien den Waffen der Albenkinder ausgeliefert gewesen waren. Dies hier war ein Kriegszug des gerechten Zorns, so hatte Jules immer wieder gepredigt. Sie waren die Auserwählten Gottes. Die Waffe, die sich tief in das Fleisch der Sündigen graben würde! Das unverwechselbare Bellen von Seehunden ließ Sebastien aufhorchen. Hier würde er erfolgreich jagen können. Viele Abende lang hatte Jules ihm von den Wundern Albenmarks und von den Geschöpfen erzählt, die hier lebten. Er sollte die Selkies finden. Die liebsten Kinder Eleborns, des Fürsten unter den Wogen. Man erkannte sie an ihren strahlenden Augen.

Sebastien blickte in das Spiegelbild ihres Leibes. Er sah blauweißes Licht, das einen Körper formte. Einen Leib mit einer mörderisch langen, schlanken Schnauze voller Zähne. Wenn sie genügend Lebenslichter ausgelöscht hatten, würden sie einen wirklichen Leib bekommen. Einen festen Körper, wie ihn jede Kreatur Gottes haben sollte. Ja, wenn sie besonders erfolgreich waren, würden sich ihre Seelen von der dunklen Kreatur lösen, und ihre Leiber würden wieder auferstehen. Dann wären sie alle lebende Heilige. Und sie würden die Welt der Albenkinder für die Kinder Tjureds in Besitz nehmen.

Sebastien träumte davon, ein Kloster hier auf den schwarzen Klippen zu errichten, hoch über dem Meer. Es war ein Ort der Schönheit, an dem man schauend Frieden in seine Seele trank.

Eine zarte Eishaut bildete sich auf dem Brackwasser. In ihrem neuen Leib spürten sie weder Hitze noch Kälte, doch Jules hatte ihnen gesagt, Eiseskälte werde sie einhüllen wie ein unsichtbarer Mantel. Ihre Opfer würden diese Kälte bemerken, noch bevor sie ihrer angesichtig wurden. Und wenn unter den Albenkindern erst einmal bekannt war, dass Tjureds Rächer ausgezogen waren, um sie zu strafen, dann würde jeder kalte Windhauch ein namenloses Entsetzen verbreiten.

Der Abt legte den starken Kopf in den Nacken. Er hätte sein Frohlocken dem Himmel entgegenschreien können. Doch sie hatten keine Stimme. Stumme Jäger waren sie.

Sebastien wandte sich von dem Spiegelbild ab und trottete zum Wasser. Er tauchte in das Jadegrün der Wogen, glitt mit den Fischschwärmen, die angstvoll auseinander stoben, wenn er in ihrer Mitte erschien. Das Meer war erfüllt von Lebenslichtern. Er konnte sie fühlen, und er konnte sie sogar sehen, wenn sein Hunger besonders groß war.

Er tauchte an schwarzen Klippen vorbei und durcheilte Wälder aus wogendem Seetang. Dort, wo die See nur seicht war, wob das Licht zauberhafte Muster auf den Sand. Muscheln klebten zu tausenden an den Felsen. In seinem Übermut schnappte er nach ihnen. Er spürte schleimige Innereien verdorren. Ihre winzigen Lebenslichter stachelten seinen Hunger nur noch mehr an. Er hinterließ einen breiten Streifen klaffender, toter Schalen.

Ein schlanker Schatten jagte einem Fischschwarm nach. Noch weitere Schatten folgten. Seehunde. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Ihre Bewegungen waren voller Eleganz.

Dunkler Hunger erhob sich in ihm. Doch er würde keinen Seehund töten. Er mochte sie! Und er war der Gebieter des Schattens, der in ihm lauerte. Noch immer hielt der Seelenchoral seiner Brüder und Schwestern dessen lästerliche Stimme gefangen.

Die Selkies galten als neugierig. Es würde leicht sein, sie zu fangen. Sebastien glitt durch den Schwarm jagender Seehunde. Erschrocken tauchten die schlanken Räuber davon. Sie mieden ihn und spähten ihm zugleich neugierig hinterher.

Sebastien tauchte entlang der schwarzen Felsen und achtete sorgfältig darauf, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren. Er erforschte die tiefen Spalten, welche die Kraft der Gezeitenströme in den Felsen geschlagen hatte. Und schließlich fand er, was er gesucht hatte. Eine Höhle, die tief im Felsen verborgen oberhalb des Wasserspiegels lag. Speere aus goldenem Sonnenlicht stachen durch breite Risse im Fels hinab. Es war wie ein Ort aus einem Kindermärchen. Und Sebastien war sich ganz sicher, dass die Selkies diese Höhle kannten. Er suchte einen finsteren Winkel und ließ den körperlosen Leib in den Fels sinken, bis nur noch sein Kopf daraus hervorragte.

Sebastien richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Jäger mussten Geduld haben! Er beobachtete, wie die Lichtspeere langsam durch die Höhle wanderten, schwächer wurden und schließlich verschwanden. Der Abt konnte die Anspannung der Kreatur tief in sich spüren. Auch der Schatten war begierig auf die Beute, die Sebastien erwählt hatte. Er versuchte nicht, mit seinen ketzerischen Gedanken die Festigkeit und Tiefe von Sebastiens Glauben zu ergründen.

Silbernes Mondlicht verzauberte die Grotte. Leise klang das Spiel der Wellen vom felsigen Ufer. Stunden mussten vergangen sein, als ein schmaler Kopf aus dem Wasser tauchte. Ein Seehund. Und seine Augen ... Sebastien war zutiefst aufgewühlt, als er sie sah. Bruder Jules hatte von den schönen Augen der Selkies gesprochen, doch darauf war Sebastien nicht vorbereitet gewesen. In diesen Augen war das Mondlicht gefangen. Sie waren wie die Augen von Katzen, die man nachts mit einer Blendlaterne überraschte. Leuchtende Flächen aus lebendigem Licht. Und das Licht hatte die Farbe der See an einem Sommernachmittag. So hatte der Wasserhimmel über ihm ausgesehen, als er getaucht war. Ein leuchtendes, von Licht durchtränktes Grün.

Der Seehund schob sich auf den glatten Uferfelsen der Grotte. Neugierig sah er sich um. Dann plötzlich wand er sich. Etwas bewegte sich unter seinem Fell. Es teilte sich, fiel von ihm ab, und eine zarte Frauengestalt entstieg dem Leib. Auf dem Felsen blieb nur die Seehundhaut zurück. Die Frau streckte sich. Ihr Haar war so schwarz wie der Felsen, die Haut von marmornem Weiß. Sie war mädchenhaft schlank, die Brüste nur sanfte Hügel. Neugierig blickte sie sich um.

Sebastien erhob sich aus seinem Versteck.

Die Selkie strich sich fröstelnd über die Arme, noch bevor sie ihn bemerkte.

Lautlos glitt er zwischen den Felsen heran.

Als spüre sie seinen Blick, wandte sich die Selkie plötzlich um. Sie musterte ihn, zeigte aber keinerlei Anzeichen von Angst. Sie sprach ihn an. Ihre Stimme war erstaunlich tief für eine Frau. Sebastien verstand ihre Worte nicht.

Neugierig streckte die Selkie eine Hand nach ihm aus. Ihre Finger glitten durch seinen Leib.

»Jetzt!«, hetzte die Stimme des Schattens. »Ich wünschte, wir hätten richtige Fänge und könnten diesem einfältigen Weib die Kehle herausreißen.«

Sebastien wollte davon nichts hören. Er wollte einfach nur dastehen und in diesen wunderbaren Augen ertrinken. Etwas, das so schön war, konnte doch nicht böse sein! Die Selkie lächelte. Sie rieb sich die Hände. Man sah ihr an, dass sie fror. Ihre Brustwarzen hatten sich aufgerichtet. Sie duftete auf wunderbare Weise nach der See. Schalkhaft zwinkernd sagte sie wieder etwas. Der Abt wünschte, er könnte sie verstehen.

»Erinnerst du dich noch an die Worte von Jules? Sie werden dich prüfen, die Albenkinder. Ihre Schönheit wird deinen Glauben erschüttern. Doch hinter dieser Maske verbergen sich verrottete Herzen. Sie sind die Mörder des heiligen Guillaume und all der anderen Märtyrer. Lass dich nicht blenden!«

Der verfluchte Schatten konnte in seinen Erinnerungen lesen!

»Bist du ein Verräter an Tjured, Sebastien? Erinnere dich, du bist nicht allein. Du, ich, all deine Brüder und Schwestern. Wir sind vereint. Du bist unser Führer im Geist. Du entscheidest, was dieser Leib tut, der ein Schwert in Diensten Tjureds sein sollte. Weiche vorn Weg ab, und du machst auch uns zu Verrätern!« Sebastien wollte das nicht hören! Es war die Wahrheit. Er wusste es. Aber diese Augen ... Die Selkie zeigte keinerlei Furcht vor ihm. Sie beschwerte sich lediglich über die Kälte. Sie war unschuldig. Wenn er sie tötete, dann war es, als ermorde er ein Kind.

»Hast du ihre feinen, nadelspitzen Zähne gesehen? Sieh hin! Damit zerreißt sie Fische, wie du mit deinen Fingern eine Blume zerpflückst. Sie ist nicht das, was du in ihr siehst. Sie ist eine Räuberin im Garten der See. Ihre Augen und ihr verführerischer Leib sind Waffen, Sebastien. Sei nicht töricht! Du warst ein Krieger, bevor du der Stimme Tjureds gefolgt bist. Erinnere dich! Nicht jeder Feind trägt Schwert und Rüstung. Verschenke nicht leichtfertig dein Vertrauen!« Leichtfertig wäre es, der Stimme des Schattens zu vertrauen, dachte der Abt bitter. Doch er konnte sich der Wahrheit seiner Worte nicht völlig verschließen. Er hatte eine Pflicht gegenüber seinen Brüdern und Schwestern. Sie hatten sich ihm anvertraut.

Die lange Schnauze stieß in die Brust der Selkie. Ihre Augen weiteten sich. Erst vor Überraschung, dann war es Schrecken. Die Kälte seiner Berührung färbte ihre Lippen blau. Ein langer Seufzer entstieg ihrer Kehle. Ihre wunderschönen Augen schienen noch heller, noch lebendiger zu strahlen, während er ihr das Licht der Lebenskraft aus der Brust riss.

Ihre Haut verwelkte. Das Fleisch schmolz von ihren Knochen. Die sinnlichen Lippen schrumpften zusammen und entblößten ihre muschelweißen, ebenmäßigen Zähne. Der Schatten hatte gelogen!

Zuletzt verloschen ihre Augen. Sie verloren sogar ihre wunderbare grüne Farbe. Wie zwei kalte harte Kiesel lagen sie in den Augenhöhlen, die plötzlich zu groß zu sein schienen.

Sebastien spürte eine beängstigende Kraft durch seinen Leib aus kaltem Licht pulsieren. Er fühlte sich so erhaben, als könne er Blitze vom Himmel pflücken. Er ... Nein! Es war nicht er, der so fühlte! Das war der Schatten! Das, was von ihm noch blieb, von einem Mann mit ehernen Grundsätzen, einem Mann, der, obwohl er Krieger gewesen war, sich dennoch ein Gewissen erhalten hatte, das war nur noch das elende Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangene zu haben. Konnte Gott ihn betrogen haben? Wo hatte er gefehlt, dass ihm ein solches Schicksal aufgebürdet worden war?

Die Bestie in ihm hob das Haupt. Das Wasser der Grotte teilte sich. Ein kleiner, schwarzer Kopf eilte dem Felsufer entgegen. Ein Kopf mit leuchtenden Augen! Noch eine Selkie! Vom Wasser aus konnte sie den zusammengeschrumpften Kadaver ihrer Gefährtin nicht sehen. Offensichtlich war sie genauso vertrauensselig wie die Tote. Der Anblick des Hundes aus fahlem Licht schreckte sie nicht. Sie kannte ihn nicht, hatte nie von einem Feind in solcher Gestalt gehört. Und sie war eines der Kinder Eleborns. Nichts in den Meeren der Welt würde ihr etwas zuleide tun. Furcht war ihr unbekannt.

Sie robbte aus dem Wasser den Felsen hinauf. Ihre Haut zerteilte sich.

Der Schatten hatte den Körper des Shi-Handan völlig unter seine Kontrolle gebracht. Er ging zu der Selkie, als sie aus der Seehundhaut stieg. Auch sie hatte meergrüne Augen wie ihre Schwester. Ihr Haar jedoch hatte die Farbe von reifem Korn.

Die junge Maid blickte lächelnd zu ihnen auf, während sie die Tierhaut von den zierlichen Füßen streifte. Sie fragte etwas. In dem Augenblick schossen die Kiefer der Bestie vor. Sebastien war selbst völlig überrascht, als er fühlte, wie sich Fänge in weiches Fleisch gruben. Sie hatten feste Gestalt angenommen, zumindest teilweise! Warmes Blut rann durch ihre Kehle. Die Selkie schrie auf.

Mit einem lässigen Schütteln riss der Shi-Handan ihr ein großes Stück Fleisch aus der Kehle. Sie stürzte zurück auf den schwarzen Felsen. Blut spritzte im Rhythmus ihres langsam ersterbenden Herzens aus der tödlichen Wunde.

Sebastien wollte die Augen schließen. Doch nicht einmal darüber hatte er noch Gewalt. Der Schatten beherrschte ihren gemeinsamen Körper. Und Sebastien hatte Teil an dem schaurigen Mahl, ob er wollte oder nicht.

Der Shi-Handan riss Fleischbrocken aus den Schenkeln der Sterbenden. Zuletzt beraubte er sie des verblassenden Lebensfunkens. Dann zog sich der Schatten zurück. Er überließ dem Abt wieder die Kontrolle über ihren gemeinsamen Leib und die Sorge um den Aufruhr der Brüder und Schwestern, die mit ihm in dieser gotteslästerlichen Bestie gefangen waren.

Die Höhle stank nach frisch vergossenem Blut.

Ihr gemeinsamer Leib hatte seine Körperlichkeit wieder verloren. Sebastien flüchtete ins schwarze Wasser. Er wollte hinab in die dunkelsten Tiefen der See, wo er für immer ihre Schande vor dem Blick Gottes verstecken konnte.

Ein neuer Wind

Ollowain breitete die Karten aus und beschwerte die Kanten mit einigen Figuren vom Falrach-Tisch, der dicht neben dem Feldbett stand. Er hatte Elodrins Zelt übernommen, der vor ihm das Kommando geführt hatte. Der weißhaarige Fürst von Alvemer stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Kartentisch. Er war ein harter Mann. Seine Miene verriet nichts über seine Stimmung. Er hatte sich die Elfe Yilvina zur Befehlshaberin seiner Leibwache gewählt. Yilvina, die Ollowain einst bei der Flucht aus dem brennenden Vahan Calyd begleitet hatte und die selbst im Fjordland noch der Schild der schwer verletzten Königin gewesen war. Sie trug das blonde Haar kurz geschnitten. Über dem Kettenhemd aus Silberstahl kreuzten sich die Gurte der beiden Schwerter, die sie auf dem Rücken trug. Vor langer Zeit einmal war sie Ollowains Schülerin gewesen. Niemand konnte es ihr im Kampf mit zwei Schwertern gleichtun. Sie war eine Meisterin des Todes.

Zu Elodrins Linker stand Nardinel. Die begabtesten Dichter hatten ihre Schönheit besungen. Fürsten hatten um ihre Hand gefreit, und doch hatte sie sich niemals gebunden. Nardinel, die Unberührte. Nardinel, die Heilerin. Nardinel, der Trost der Sterbenden. Die Namen, die man ihr gegeben hatte, waren ohne Zahl. Sie war von zarter, durchscheinender Schönheit und wirkte inmitten des Zeltes voller Krieger fehl am Platz. Begehrliche Blicke streiften sie. Sie zu sehen, hieß der Sehnsucht zu begegnen. Ihr Haar war die Nacht, ihr sanftes Antlitz das Morgenlicht. Ollowain konnte nicht begreifen, was diese beiden Frauen mit Elodrin verband. Hatte ein Befehl sie an seine Seite geführt? Und für wen würden sie sich entscheiden, wenn Elodrin Schwierigkeiten machte? Der Schwertmeister wusste, dass er es nicht leicht mit dem Seefürsten haben würde. Elodrin würde sich hier, inmitten der Befehlshaber ihres Heeres, keine Blöße geben. Aber in seinem Herzen würde er Ollowain nicht vergeben, das Kommando übernommen zu haben.

Der Schwertmeister ließ den Blick in der Runde wandern. Fast ein Dutzend Elfenfürsten standen versammelt; fünf Kentauren und auch Ajax, der Fürst der Minotauren in den Mondbergen, waren gekommen. Mit den meisten der Befehlshaber hatte Ollowain schon gemeinsam Schlachten geschlagen. Orimedes, der Erste unter den Kentaurenfürsten des Windlands, nickte ihm freundlich zu. Wie alle Kentauren überragte er den Elfen um mehr als eine halbe Mannlänge. Der Fürst hatte eine breite Nase, der man ansah, dass sie schon mehrmals eingeschlagen worden war. Durch seine linke Braue lief eine feine weiße Narbe. Ein zerzauster blonder Bart rahmte sein eckiges Gesicht. Der Kentaur hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ollowain hätte sein Schwert darauf verwettet, dass der Fürst den größeren Teil der Nacht mit einem Saufgelage verbracht hatte. Ein breiter, goldbeschlagener Schwertgurt lief über die Brust des Pferdemannes, und an seinem linken Oberarm war ein Dolch festgegurtet. Der Fürst grinste Ollowain jetzt breit an. Der Schwertmeister hatte den Eindruck, dass der Kentaur sich sehr zusammenreißen musste, um nicht herüberzukommen, ihn in die starken Arme zu schließen und sich an die Brust zu drücken. Sie hatten gemeinsam in Phylangan gefochten, ebenso wie Graf Fenryl, den die Niederlage in der Snaiwamark heimatlos gemacht hatte. Der Elfengraf hielt seinen Falken auf der Linken. Der schneeweiße Raubvogel mit seinen warmen Bernsteinaugen begleitete den Elfen wie ein Schatten. Ollowain wusste, dass Fenryl einen besonderen Bund mit dem Raubtier eingegangen war. Manchmal stieg die Seele des Grafen auf den weißen Schwingen in den Himmel hinauf. Sie flogen gemeinsam, um den Feind zu beobachten oder zu jagen.

Mit seinen warmen, hellbraunen Augen, den vollen Lippen und dem ungebändigten lockigen Haar wirkte der Graf weniger abweisend als die übrigen Elfenfürsten, die Ollowain kühl musterten. Die Mehrheit von ihnen begegnete ihm mit Skepsis. Einmal abgesehen von Shandral waren sie alle erfahrene Krieger. Und der Schwertmeister war sich sicher, dass die meisten von ihnen insgeheim der Überzeugung waren, sie könnten das Oberkommando genauso gut ausüben wie der Günstling der Königin.

Ollowain gab Obilee ein Handzeichen, und die Kommandantin seiner Eskorte ließ Melvyn in das Zelt führen. Die Augen des Halbelfen sprühten vor Zorn. Eiserne Fesseln umschlossen seine Handgelenke.

Der Schwertmeister wandte sich den versammelten Fürsten zu. Ihm entging nicht das selbstgefällige Lächeln Shandrals. Der Fürst von Arkadien verbuchte die Verhaftung Melvyns wohl als einen Sieg, doch in dieser Angelegenheit war noch nicht das letzte Wort gesprochen.

»Fürsten von Albenmark, ich halte mich nicht mit langen Vorreden auf. Ich denke, ihr alle kennt mich. Mit vielen von euch habe ich bereits Seite an Seite gefochten, und es macht mich stolz, an diesem Morgen das Kommando über die Besten unter den Kriegern Albenmarks zu übernehmen. Fürst Elodrin wird künftig mein Stellvertreter sein. Als Oberbefehlshaber der Flotten der Königin wird er von nun an die Sicherung des Mika organisieren, damit es den Trollen nicht gelingt, diese Grenze schon vor dem ersten Frost zu überschreiten.«

Ollowain versuchte in den Gesichtern der Fürsten zu lesen, wer auf Elodrins Seite stand, doch die Elfen waren zu beherrscht, um sich ihre Gefühle anmerken zu lassen. Die Kentauren hingegen gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre Freude zu verbergen. Elodrin galt als ein strenger Befehlshaber, als ein Mann von eiserner Disziplin. Ollowain war sich sicher, dass es zwischen Elodrin und den Kentauren ständig Reibereien gegeben hatte. Die Pferdemänner waren berüchtigt für ihre Zechgelage und für ihren rebellischen Geist. Ein Mann wie Elodrin sah in ihnen vermutlich nicht mehr als eine Bande von Viehdieben, die bestenfalls als Späher taugten, nicht aber als wertvolle Krieger in einer großen Feldschlacht oder gar einer Belagerung.

»Ich denke, jedem der Anwesenden ist klar, dass wir bei allem Heldenmut einer sicheren Niederlage entgegensehen, wenn die Trolle im Winter den Mika überschreiten. In Phylangan und Reilimee haben sie bewiesen, dass sie selbst Festungen überwinden können. Wir sind ihnen an Zahl unterlegen, und Feylanviek hat keine Verteidigungsanlagen. Wenn wir uns sehr gut schlagen, werden wir vielleicht drei Tage durchhalten. Wenn es uns nicht mehr gibt, hat Albenmark seinen Schild verloren. Nichts wird die Fürstentümer mehr vor dem Zorn der wütenden Horden bewahren. Die Trolle werden vielleicht an der Shalyn-Falah noch einmal auf Widerstand treffen, doch auch dort wird man sie wohl kaum noch aufhalten können.«

»Was soll dieses feige Gequatsche?«, polterte der Minotaurenfürst los. Sein Stierkopf war mit borstigem weißem Haar bedeckt. Auf seine breite rosa Schnauze waren blaue Fangzähne tätowiert. Ein Dutzend goldener Ohrringe klirrte in seinem rechten Ohr. Das linke war zu mehr als der Hälfte abgeschnitten und von wulstigem Narbengewebe überwuchert. Ajax, Fürst der Mondberge, hatte die blutroten Augen eines Albinos. Er galt als aufbrausend und gewalttätig. Ollowain hatte darauf spekuliert, dass Ajax genau an dieser Stelle seiner Ansprache einen seiner cholerischen Anfälle bekommen würde.

»Was stellst du dir vor, Elfenmännlein? Willst du zu den Trollen gehen, vor ihnen im Staub kriechen und um Gnade winseln? Bist du zu feige zum Sterben? Ich piss dir gleich auf deine hübschen Stiefel, und dann prügele ich dich eigenhändig bis zu deiner Königin zurück. Einen Drecksack wie dich haben wir gerade noch gebraucht. Erst sitzen wir uns hier den Arsch platt, und dann ...«

Ollowain nutzte den Augenblick, in dem Ajax schnaufend einatmete, um mit neuer Puste weiterzufluchen, um eine Frage zu stellen. »Du wärst also an meiner Seite, wenn ich in fünf Tagen das Heerlager der Trolle angreife?«

»Du mäuseblütiger Bastard. Du ...« Offensichtlich brauchte der Stierschädel ein paar Herzschläge lang, um diese überraschende Wendung zu erfassen.

»Das ist Selbstmord!«, empörte sich Elodrin.

»Scheiße, nein!«, fuhr Ajax seinen früheren Oberbefehlshaber an. »Das ist die Art, wie ein echter Mann Krieg führt, Weicharsch! Ich bin dabei, Schwertmeister!«

»Auf mich und meine Herden kannst du auch zählen«, sagte Orimedes mit fester Stimme.

»Auf die Doppelschwerter meiner Männer kannst du dich ebenfalls verlassen«, erklang ein tiefer Bass. Ein riesiger Kentaur stand im Zelteingang. Er trug eine prächtige, staubbedeckte Bronzerüstung. Ein Muskelpanzer umschloss seine breite Brust und reichte hinab bis zu den Vorderläufen. Beinschienen mit knollenförmigen Gelenkstücken schützten die Vorderbeine des Kriegers. Auch die Arme und Hände des Pferdemanns waren gepanzert. Unter den linken Arm hatte er einen Helm mit tief hinabgezogenen Wangenstücken geklemmt, den ein purpurn gefärbter Rosshaarkamm schmückte. In der Rechten hielt er ein Doppelschwert, eine Stangenwaffe, an deren beiden Enden lange gekrümmte Schwertklingen saßen. Das Gesicht des Kriegers war von einem fein getrimmten, kurzen Vollbart gerahmt. Er hatte blondes Haar und dunkle, sonnenverbrannte Haut. Zwei kinnlange Zöpfe rahmten sein Gesicht, während ein dritter Zopf ihm bis weit auf den Rücken reichte.

»Ich heiße dich willkommen in unserer Mitte, Katander von Uttika.« Ollowain war überrascht, den Bronzefürsten zu sehen. Die Kentauren der Westküste waren größer und hatten massigere Pferdeleiber als ihre Vettern in der Steppe. Zwischen den Bronzekriegern und den Pferdemännern des Windlands herrschte eine jahrhundertealte Fehde. Niemand konnte sich erinnern, wann die beiden Völker zum letzten Mal Seite an Seite gekämpft hatten; dafür hatten sie ungezählte Scharmützel untereinander ausgetragen.

Als sich die Blicke von Orimedes und Katander begegneten, lag eine knisternde Spannung über dem Kartentisch. Ollowain durfte nicht zulassen, dass ihre alte Fehde seinen Feldzug gefährdete.

»Welche Truppenverbände sind in der Lage, in drei Tagen dreihundert Meilen zu bewältigen?«, fragte der Schwertmeister harsch.

»In der Zeit schaffen meine Männer leicht fünfhundert Meilen!«, sagte Orimedes herausfordernd.

Aber dann sind sie zu erschöpft, um noch kämpfen zu können, dachte Ollowain, schwieg jedoch und blickte in die Runde.

Eine Elfe in grüner Rüstung mit filigranen goldenen Beschlägen lächelte den Schwertmeister selbstsicher an. Das Haar lag ihr in einem schweren, roten Zopf über der Schulter. Caileen, Gräfin von Dorien. Sie hatte das Kommando über die freien Adeligen Arkadiens. Da Shandral seinem Adel nicht mehr traute und nur noch Koboldkrieger in seiner Nähe duldete, hatten die Adeligen Arkadiens einen eigenen Verband gebildet.

»Wie viele Streitwagen befehligst du?«

»Dreihundertzweiundachtzig. Jeder bemannt mit einem Fahrer, einem Bogenschützen und einem Sensenträger. Wenn das Gelände nicht zu schwer ist, können wir leicht mit unseren Waffenbrüdern, den Kentauren, mithalten.«

»Ich bringe dir achthundert Doppelschwerter«, sagte Katander schlicht. Sich dazu zu äußern, ob seine Krieger den Gewaltmarsch schaffen konnten, war offenbar unter seiner Würde.

»Bei allem Respekt, Ollowain«, meldete sich Elodrin zu Wort.

»Aber das ist Wahnsinn. Es ist ein Todeskommando ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. Dein Angriff würde an den Schlachtreihen der Trolle abprallen wie eine Erbse, die du gegen eine Felswand schleuderst.«

»Du bist also der Auffassung, wir sollten lieber in Feylanviek darauf warten, dass die Trolle den Zeitpunkt unseres Untergangs bestimmen?«

Der Fürst von Alvemer, der Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt war, sah ihn in sprachloser Wut an.

»Im Übrigen wird von heute Morgen an niemand mehr über eine drohende Niederlage sprechen«, fuhr Ollowain ungerührt fort. »Das ist Gift für die Moral unserer Krieger. Wer gegen diesen Befehl verstößt, den werde ich auf der Stelle vom Heer ausschließen und nach Hause schicken. Wir brauchen einen Sieg, und ich bin entschlossen, ihn zu erkämpfen.«

»So wie in Phylangan?«, fragte Elodrin.

Jeder im Zelt hielt den Atem an.

Ollowain lächelte, als habe der Flottenkommandant ihm ein Kompliment gemacht. Das Letzte, was sie jetzt brauchten, waren Eifersüchteleien und Intrigen im Oberkommando. Er hätte Elodrin für einen besseren Befehlshaber gehalten. Offenbar hatte es ihn zutiefst verletzt, sein Kommando an Ollowain abtreten zu müssen. »Ich habe meine Lehren aus Phylangan gezogen, Fürst. So wie jeder gute Feldkommandant aus Schlachten lernt, gleich ob es Siege oder Niederlagen sind. Außerdem hatte ich die Ehre, von einem überaus begabten Strategen die Schwächen meiner Verteidigung in einer Gefechtssimulation am Falrach-Tisch aufgezeigt zu bekommen. Phylangan galt als uneinnehmbar. Es ist gefallen, weil unsere Feinde sich als beweglicher im Geiste erwiesen haben, als wir es waren. Wer sich auf reine Verteidigung festlegt, der hat damit die erste Schlacht schon verloren, denn er überlässt seinem Gegner die Initiative. Feylanviek ist nicht zu halten. Es wird uns so lange wie möglich als Versorgungsstützpunkt dienen, aber ich werde keinen Kämpfer opfern, um es zu verteidigen. Wir sind beweglicher als der riesige Heerzug der Trolle. Die Steppen des Windlands sind ein endlos weiter Raum, in dem unsere beweglichen Truppen operieren können. Dem sind die Trolle nicht gewachsen. Wir werden sie hinaus in die Steppen locken. Wir werden die Büffelherden davonjagen und ihre Nachschubwege kappen. Und wenn sie zu hungern beginnen, dann wird ihre riesige Zahl ihren Untergang nur beschleunigen. Es wird etliche Scharmützel geben, Überfälle und Plünderzüge. Aber zu einer Schlacht im herkömmlichen Sinne werden wir es nicht kommen lassen. Jeder hier im Zelt sollte sich dessen bewusst sein, dass wir verloren sind, wenn wir auch nur eine einzige verlustreiche Niederlage erleiden. Der Entscheidungsschlacht, die die Trolle suchen, werden wir uns nicht stellen. Wir kämpfen nur zu unseren Bedingungen. Und so werden wir siegen.«

»Meine Rede!«, stimmte der Minotaurenfürst begeistert zu.

»Hoch die Ärsche und ran an den Feind. Das ist der richtige Geist!«

Melvyn hatte ihnen säuerlich lächelnd zugehört. Nun richtete er sich auf und achtete darauf, dass die Ketten an seinen Händen für alle gut zu sehen waren. »Alles schön und gut. Nur sollten wir nicht darauf hoffen, unseren Feind zu überraschen.«

Er blickte zu Caileen. »Allein deine dreihundertzweiundachtzig Streitwagen werden dort draußen in der Steppe eine Staubwolke aufwirbeln, die man einen ganzen Tagesmarsch weit sieht.«

»Deshalb werden wir nachts marschieren.« Ollowain deutete auf die Karte. »Hier gibt es in einer langgezogenen Senke einen lichten Waldstreifen. Das Unterholz ist nicht so dicht, dass Streitwagen und leichte Kutschen es nicht passieren könnten. Das Laubdach schützt uns vor neugierigen Blicken.« Der Schwertmeister fuhr mit dem Finger ein wenig weiter die Karte hinauf. Er tippte nervös mit dem Finger auf einen schwarzen Punkt. »Jerash, ein Ruinenfeld inmitten des Graslands. Ein Ort der flüsternden Stimmen im Wind. Dort gibt es nur Staub und alte Steine. Ich war schon einmal dort. Weite Bogengänge haben den Jahrhunderten getrotzt. Ein kleines Heer wie unseres würde dort ganz brauchbare Deckung finden. Aber machen wir uns nichts vor, es ist kein so gutes Versteck wie der Wald am Tag zuvor. Wir müssen darauf setzen, dass unsere Feinde ahnungslos sind und dass sie nicht nach uns suchen.«

Orimedes und die übrigen Kentauren scharrten unruhig mit den Hufen. Auch Ajax, der Minotaurenfürst, machte ein bedrücktes Gesicht.

»Jerash ist verflucht«, murmelte Orimedes halblaut. »Das ist kein guter Platz, um dort zu lagern.« Ollowain winkte ärgerlich ab. »Ischemon ist verflucht. Dort, wo Emerelle den Fürsten der Sonnendrachen tötete. Jerash ist harmlos. Außerdem verbringen wir dort den Tag. Sobald es dämmert, werden wir die Ruinen wieder verlassen.« Niemand widersprach ihm, doch der Schwertmeister konnte in den Gesichtern der Kentauren lesen, dass ihre Bedenken nicht zerstreut waren. Er ignorierte es. Sie würden gehorchen, das war alles, was jetzt zählte. »Der Finstergrund in den Rejkas ist unser nächstes Ziel. Jetzt so spät im Sommer müsste der Fluss fast ausgetrocknet sein. In seinem Flussbett und an den Ufern werden wir gut vorankommen. Und was noch wichtiger ist, auch dort finden wir Deckung vor feindlichen Spähern. Einige Abschnitte des Flusses liegen in so tiefen Tälern, dass kein Sonnenstrahl hineinreicht. Dort können wir uns verstecken. In der folgenden Nacht brechen wir aus. Bis zum Morgengrauen werden wir das Heerlager der Trolle erreichen. Und mit dem Sanhalla, dem Südwind, der im ersten Morgenlicht von den Hängen der Rejkas streicht, werden wir angreifen. Er wird Tod und Verderben in das Herz des feindlichen Heeres tragen.«

Der Schwertmeister wandte sich an Graf Fenryl. »Unser Erfolg hängt davon ab, dass der Feind unseren Vormarsch nicht ahnt. Womöglich versucht er uns auszuspähen. Wie viele Falkner gibt es in der Stadt?«

Der Adlige sah ihn verwundert an. »Das weiß ich nicht«, gestand er schließlich.

»Finde sie alle. Ich möchte, dass eure Falken über der Stadt stehen und dass sie jeden Vogel schlagen, der versucht, von Feylanviek in die Steppe davonzufliegen. Die Trolle dürfen um keinen Preis erfahren, was hier vor sich geht.«

»Ich werde mein Bestes geben«, versprach Fenryl.

»Wer ist verantwortlich für die Organisation des Nachschubs?«, wandte sich der Feldherr an Elodrin.

»Ich«, entgegnete Nardinel.

»Ich brauche jeden leichten Wagen in der Stadt, jede Kutsche, der du zutraust, dass sie den Weg bis zum Heerlager der Trolle schafft. Beschlagnahme die besten Zugtiere.« Er wandte sich nun direkt an Elodrin. »Und ich brauche die besten Bogenschützen und Armbrustschützen, die wir haben. Wer ein guter Reiter ist, soll ein Pferd bekommen. Die Kobolde aber kommen auf die Kutschen. Besetzt nur zwei Drittel der Wagen. Wenn ein Rad bricht oder eine Achse, dann werden wir uns nicht mit Reparaturen aufhalten. Wir lassen die Wagen zurück. Aber keinen Krieger! Außerdem brauche ich hundert Schritt Seide und die besten Näherinnen der Stadt. Und Draht und so viele der kostbaren Flaschen aus dem blauen Glas von Talsin, wie sich finden lassen. Sie sollen geschützt durch geflochtenes Stroh in Frachtkisten verstaut werden.«

Elodrin runzelte die Stirn. »Man könnte glauben, du willst jemandem Gastgeschenke machen.« Ollowain lachte. »Ja. Das sind Geschenke für den Sanhalla. Hoffen wir, dass sie den Südwind gnädig stimmen.« Der Schwertmeister schlug mit der flachen Hand auf die Karte. »Bevor wir Feylanviek aufgeben, werden wir nur eine einzige Gelegenheit haben, die Trolle zu überraschen. Wenn wir sie schwer genug treffen, dann endet ihr Feldzug vielleicht schon, bevor er richtig begonnen hat. Sobald wir in ihr Lager eindringen, macht Jagd auf ihre Rudelführer und Schamanen. Ein Heer ist wie ein großer Leib. Und so übermächtig und erdrückend die starken Arme des Trollheeres auch sein mögen, sie sind hilflos, wenn wir das Haupt vom Rumpf geschlagen haben. Ihre Krieger mögen schnell nachwachsen. Gute Anführer und erfahrene Schamaninnen tun das nicht. Und noch etwas. Kein Wort zu euren Männern! Je weniger in diesen Plan eingeweiht sind, desto besser. Ich wünsche, dass unser Heer in zwei Tagen am Abend zum Aufbruch bereit ist. Sorgt dafür, dass jene Auserwählten, die uns begleiten, gut ausgeruht sind. Lasst sie schlafen. Erzählt ihnen etwas von einem nächtlichen Manöver, das der verrückte neue Kommandant in der Steppe abhält, oder was immer ihr für eine glaubwürdige Lüge haltet. Und nun seid ihr entlassen. Alle bis auf Shandral und Melvyn.«

Während die Elfen sich schweigend zurückzogen, umrundete Orimedes den Kartentisch. Er schloss Ollowain in seine Arme.

»Ich habe dich vermisst! Wo hast du nur all die Jahre gesteckt, du verdammter Mistkerl?« Die Umarmung brach dem Schwertmeister fast die Rippen. »Später«, stieß er keuchend hervor. »Es gibt noch ....«

Der Kentaur zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

»Nein, es ist spät genug. Heute Nacht kommst du in unser Lager. Wir werden einige Amphoren vom besten Roten aus Alvemer teilen. Bring also reichlich Durst mit. Dir sind ein paar gute Jahrgänge entgangen, während du verschollen warst. Keine Widerrede! Ich muss dir meinen Sohn vorstellen. Ein echter Prachtkerl!« Orimedes setzte Ollowain wieder ab. Er blickte zum Zelteingang, wo Katander noch immer wartete. »Du bist ebenfalls eingeladen, Goldbrüstchen. Und wenn du ihn siehst, dann sag dem Kuhschänder Ajax, dass auch er ein willkommener Gast ist. Ein gutes Besäufnis ist fast wie eine gute Schlacht. Meine Krieger brennen darauf, deinen Schlammtretern zu zeigen, was richtige Hengste sind.«

»Glaubst du, du kannst mich wie irgendeinen deiner stinkenden Viehtreiberfürsten besoffen machen, um mir dann einen Treueid abzunehmen? Ich werde kommen, denn die Kentauren von Uttika sind noch vor keiner Schlacht davongelaufen, und sei es nur eine Schlacht in einem Schankzelt. Aber glaube nicht, dass ich mich von dir einwickeln lasse.«

Orimedes lachte laut. »Wir werden sehen. Ach ... Vergesst nicht eure Goldlätzchen abzulegen, bevor ihr kommt. Es sei denn, ein ehrlicher Fausthieb ist zu viel für einen verzärtelten Uttiker.«

»Gar nichts werden wir mitbringen, Orimedes. Keine Gastgeschenke, denn die macht man Freunden, keine Waffen, denn die benötigt man, wenn man überlegene Feinde fürchtet. Nicht einmal ein Haarband oder einen Armreif werden wir tragen, denn wir wissen, dass unsere Vettern aus der Steppe einem die Eisen von den Hufen stehlen, wenn sich die Gelegenheit bietet.«

Orimedes grinste frech. »Stimmt! Nagelt sie gut fest. Wir sind im Augenblick wieder sehr knapp mit Hufeisen. Ich erwarte dich, Katander.«

Der Kentaurenfürst von Uttika wirkte überrascht. Offensichtlich hatte er mit einem Wutausbruch gerechnet. Orimedes‘ Antwort hatte ihn aus dem Konzept gebracht. »Ich werde kommen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und preschte davon.

»Ist dies das Alter, mein Freund?«, fragte Ollowain. »Das war ja fast diplomatisch.«

»Das Alter?« Der Fürst schnaubte verächtlich. »Mein Schwertarm ist noch stark, und ich pisse mit einem Strahl, kräftig wie der eines jungen Hengstes. Noch kann ich dem Alter davongaloppieren. Aber den Trollen nicht. In den letzten Jahren habe ich viel Zeit und Mühe darauf verwandt, die Stämme der Steppe zu einen. Zumindest in Kriegszeiten erkennen mich alle als ihren ersten Fürsten an. Nur die Uttiker muss ich noch unter mein Kommando bringen. Und wenn ich dafür ein bisschen freundlich sein muss ... Drauf geschissen, dann bin ich es eben! Mein Volk muss stark sein, oder die Trolle werden uns unsere Herden nehmen und unsere Steppe.

Und stark sind wir nur, wenn alle Fehden ruhen und alle Krieger einem Anführer gehorchen. Es hat sich viel geändert in den Jahren, als du fort warst, Schwertbruder.« Der Kentaur umfasste Ollowains Handgelenk im Kriegergruß. »Ich sehe dich auf dem Fest!«

Der Schwertmeister sah dem Kentauren nach und fühlte sich fremd in seiner Welt. So vieles war in so wenigen Jahren geschehen ... Er atmete tief durch und wandte sich den beiden Elfen zu, die im Zelt zurückgeblieben waren.

»Fürst Shandral, der Hauptmann deiner Wache, der Kobold Madrog, hat den verbündeten Elfenhauptmann Melvyn einen Dieb genannt. Ich kam hinzu, als Madrog und seine Männer sich die größte Mühe gaben, Melvyn zu töten. Könntest du mir bitte erklären, was gestohlen wurde? Als ich Melvyn in Ketten legen ließ, konnte ich keinerlei Diebesgut bei ihm entdecken.«

Shandral stand mit vor der Brust verschränkten Armen auf der anderen Seite des Kartentischs. Er betrachtete Ollowain herausfordernd. »Ich verlange den Kopf dieser Missgeburt, dieses Menschenbastards.«

»Ich stehe gern für ein Duell zur Verfügung.« Melvyn hob die gefesselten Arme. »Selbst in Eisen gelegt, würde ich dich noch in Stücke schneiden.«

»Das werde ich nicht dulden!«, unterbrach der Schwertmeister die beiden. »Die Gesetze der Königin verbieten Duelle in Kriegszeiten.«

»Ruht denn auch jegliche Rechtsprechung in Kriegszeiten?«, fragte Shandral spitz. »Ich klage Melvyn an! Er hat mich bestohlen und einen nicht mehr gut zu machenden Schaden angerichtet. Er muss mit seinem Blute dafür büßen.«

Ollowain wünschte, er wäre einen anderen Weg durch die Stadt gegangen. »Und wie lautet deine Anklage?«

»Er hat meiner Frau den Verstand und das Herz gestohlen. Einem Dieb schnitt man in alter Zeit die Hand ab, damit er nicht wieder stehlen konnte. Melvyn sollte man die Zunge herausreißen und ihm seine Männlichkeit nehmen.« Einen Augenblick lang glaubte der Schwertmeister, das müsse ein Scherz sein. Das konnte der Fürst doch nicht ernst meinen! Zitterte Shandral vor Wut? Oder schüttelte ihn ein stilles Lachen?

»Wenn deine Gattin sich einem anderen Manne zuwendet, dann ist das gewiss ein großes Unglück für dich, aber kein Verstoß gegen ein mir bekanntes Gesetz«, sagte Ollowain ruhig.

»Sie hat sich ihm nicht einfach zugewandt!«, ereiferte sich Shandral, der plötzlich allen Hochmut fahren ließ. »Er hat sich zu ihr geschlichen, in meinem Schlafgemach! Und er muss sie mit einem Zauber belegt haben. Sie ist völlig irre geworden! Nachts hat sie seinen Namen geflüstert. Ich habe sehr viel für Leylin gezahlt. Ein prächtiges Haus am Meer mit großen Gärten und hundert Kobolddienern habe ich ihrer Sippe überlassen, als sie mich geheiratet hat. Sie hat eine Schuld gegen mich abzutragen! Sie schuldet es mir, ein treues und fügsames Weib zu sein. All das hat Melvyn mir gestohlen. Und wenn ich nur seine Zunge und seinen Schwanz als Buße fordere, dann ist das ein Ausdruck meiner Mäßigung! Eigentlich sollte man Melvyn den Kopf vor die Füße legen.«

Melvyn lachte Shandral ins Gesicht. »Das ist doch lächerlich. Ihn sollte man wegsperren. So ein Irrer dürfte nicht das Kommando über fünfhundert Krieger mit Armbrüsten führen. Siehst du jetzt, was für eine Sorte Mann er ist? Er quält Leylin! Er hat sie nicht verdient. Und sie ist eine Elfe. Sie ist frei zu gehen, wohin immer sie will!«

Fünfhundert Armbrüste. Für Ollowain drehte es sich letztlich darum. Er konnte es sich nicht leisten, einen so großen Teil seines Heeres zu verlieren. Andererseits galten Melvyns Männer als die besten Späher. Auch sie durfte er nicht verlieren. Sie sollten die Augen seines Heeres sein und der heimliche Dolch, der den gegnerischen Spähern an die Kehle ging, wenn sie am wenigsten damit rechneten.

»Seinetwegen ist mein Weib verstümmelt«, sagte Shandral, sichtlich darum bemüht, noch die Fassung zu bewahren. »Das Gift falscher Liebe, das dieser Frauenheld in ihr Herz geträufelt hat, hat für immer ihr Leben zerstört! Hör dich um im Feldlager, wenn du an meinen Worten zweifelst. Er ist wirklich ein Wolf! Wahllos bespringt er die Weiber, verdreht ihnen mit schönen Worten den Kopf, und dann lässt er sie fallen. Alle Glieder sollte man ihm brechen und ihn dann wehrlos wilden Hunden zum Fraß vorwerfen! Er gehört nicht in höfische Kreise. Er beschmutzt alles, was gut und edel ist!«

Melvyn schienen die Worte nicht im Mindesten zu berühren.

»Eines ist wohl wahr. Kaufen musste ich mir noch kein Weib. Und was soll das heißen, meinetwegen sei dein Weib verstümmelt?«

Shandral legte die Hand auf seinen Dolch. »Weißt du das wirklich nicht? Ich glaube dir nicht, dass du nicht schon davon gehört hast!«

»Wovon?«

»Von dem Unfall, den du verschuldet hast!« Shandral zog seinen Dolch.

Ollowain trat zwischen Melvyn und Shandral. Er war sich sicher, dass Melvyn den gehörnten Gatten selbst mit eisernen Handfesseln noch überwältigen könnte.

»Sie wollte zu dir, die Hure!« Shandral vergrub sein Gesicht in den Händen und schluchzte. »Gestern, gleich nach Einbruch der Dämmerung, geschah es. Sie hat sich davongeschlichen. Durch die Hammerschmiede wollte sie. Sie ist über die schalen Balken hoch über den Ambossen gelaufen. Leylin muss wie von einem Wahn besessenen gewesen sein. Dort oben ist alles voller Rauch. Und es ist so heiß, dass man kaum atmen kann. Selbst die Kobolde meiden diese Wege. Sie ...« Der Fürst ließ den Dolch sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Sie ist gestürzt. Unter die Hämmer ist sie ... Die großen Hämmer ...«

Melvyn wirkte wie vom Schlag gerührt. Benommen schüttelte er den Kopf. »Das ... das kann nicht stimmen.«

»Dein Werk ist das«, zischte Shandral kalt. »Dein Werk! Und wenn du nicht verurteilt wirst, dann werde ich einen Weg finden, dich zur Strecke zu bringen. Ich bin kein Mann des Schwertes, aber ich bin nicht machtlos. Das wirst du erleben.«

Er kämpfte mit den Tränen. »Meine Diener haben sofort die besten Heilkundigen der Stadt geholt, um Leylin zu retten. Aber ... Aber ... Ich wünschte, sie hätten es gewagt, mich bei meiner Unterredung mit dem Feldherrn ... dem ehemaligen Feldherrn, meine ich. Ich wünschte, sie hätten es gewagt, mich dort zu stören. Ich hätte bei ihr sein sollen! Ihre Beine ... Ihre beiden Knie sind unter einen der schweren Hämmer geraten. Es war ... Sie ... Ihre Kniegelenke sind völlig zerschmettert. Es war den Heilern unmöglich, die Knochen wieder zusammenzufügen. Sie mussten ... Sie haben ihr beide Beine abgenommen. Dicht über den Knien.« Voller Hass blickte er Melvyn an. »Sie wird nie wieder ... laufen können.«

»Du Ungeheuer!« Der Wolfself sprang auf. Er streckte die Hände vor, als wolle er Shandral erwürgen.

Ollowains Ellenbogen krachte gegen Melvyns Schläfe, als dieser ihn zur Seite stoßen wollte. Ohne einen Laut brach der junge Elf zusammen.

»Er ist wie ein Geschwür, das man aus dem Leib schneiden muss«, sagte Shandral gehässig. »Er hätte niemals seine Wolfshöhle verlassen dürfen.«

»Du hast die Erlaubnis, nun zu gehen, Shandral.«

Der Fürst stieß mit der Fußspitze gegen Melvyn. »Und was wird mit diesem Stück Dreck?«

»Morgen werde ich dein Weib besuchen, um mit ihr zu sprechen. Danach werde ich entscheiden.«

»Sie ist noch sehr schwach, Schwertmeister. Sie wird dir keine Hilfe sein.«

»Ich werde ihre Kräfte nicht lange beanspruchen. Heute Abend erwarte ich dich auf dem Fest der Kentauren. Enttäusche mich nicht. Und nun geh!«

Shandral verließ das Zelt mit leisen Flüchen auf den Lippen.

Ollowain war zutiefst erschüttert. Fast hätte der Fürst sich verraten. Der Schwertmeister war sich ganz sicher, dass Shandral eigentlich hatte sagen wollen: Sie wird nie wieder fortlaufen können. Das war kein Unfall in der Schmiede gewesen! Shandral hatte Leylin für ihre Untreue bestrafen lassen. Aber das würde er ihm wohl kaum beweisen können.

Das Fest der Kentauren

Ollowain kannte nichts, was einer Schlacht so nahe kam wie ein Fest der Kentauren. Das Tosen der Trommeln ließ ihm fast die Ohren bluten. Die dumpfen Rhythmen drangen bis in sein Innerstes und erzählten ihm von hunderten von Kämpfen. Sie weckten in ihm die Lust zu kämpfen, Blut zu vergießen.

Wilde Stimmen schmetterten melancholische Lieder. Sie waren ein wenig wie die Sagas der Fjordländer. Die Helden starben einen tragischen Tod. Ollowain lächelte traurig. Er dachte an den Befehl, den Emerelle ihm gegeben hatte. Natürlich würde er gehorchen. Ihr hatte er immer gehorcht.

Der Schwertmeister führte eine kleine Gruppe von Elfen ins Herz des Chaos. Das Lager der Kentauren war riesig. Zelte gab es hier keine. Nur hier und dort war eine Sonnenplane aufgespannt. Meistens um ein Lager aus Weinamphoren kühl zu halten.

»Gibt es etwas, wovor ich mich besonders in Acht nehmen sollte?« Obilee musste schreien, obwohl sie neben ihm ritt.

»Rühr keine Wolfsmilch an. Wer davon trinkt und keinen Pferdemagen hat, wird unweigerlich krank.«

»Was ist das, Wolfsmilch?«

»Vergorene Stutenmilch, mit Anis und anderen Gewürzen versetzt. Trink nichts, was weiß ist!« Ollowain beobachtete verstohlen die übrigen Reiter in seinem Gefolge. Melvyn schien es zu genießen, hier zu sein. Allerdings warf der Wolfself, wenn er sich unbeobachtet fühlte, Shandral Blicke zu, die keinen Zweifel an seinen finsteren Absichten ließen. Ollowain hatte Melvyn entwaffnen lassen, aber wahrscheinlich hätte dieser keine Schwierigkeiten damit, Shandral nur mit bloßen Händen zu töten.

Der Fürst von Arkadien zuckte immer wieder zusammen, wenn irgendein Trupp Betrunkener in plötzliches Gejohle ausbrach.

Elodrin hingegen ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen. Der Seefürst wirkte äußerlich völlig gelassen. Doch Ollowain wusste, dass der Adlige es zutiefst hasste, seine Zeit auf einem barbarischen Saufgelage zu verbringen. Obwohl die Kentauren ihre treuesten Verbündeten waren, sah er in ihnen nur wenig mehr als Tiere.

Yilvina war angespannt wie eine Stahlfeder. Sie trug ein weißes Stirnband, damit ihr in der Hitze kein Schweiß in die Augen rann. Wie eine stumme Drohung ragten ihre beiden Schwertgriffe hinter ihren Schultern auf. Misstrauisch beobachtete sie jeden, der sich auch nur ungefähr in Richtung des Seefürsten bewegte.

Nardinels Schönheit umgab die dunkelhaarige Elfe wie ein schützender Panzer. Zugleich wirkte sie ein wenig entrückt, als sei sie in tiefe Meditation versunken oder als weigere sie sich schlicht, zur Kenntnis zu nehmen, wo sie hier gelandet war. Sie ritt als Einzige im Damensitz.

Obilee war im Gegensatz zu der Heilerin erfrischend neugierig. Sie sah sich um und belagerte Ollowain mit ihren Fragen. Jetzt deutete sie mit ausgestrecktem Arm auf ein Feuer. »Ist das ein Ochse, der da gebraten wird? Ist das nicht ein bisschen gefühllos, wenn man Minotauren zu Gast hat?«

»Die Pferdemänner denken da anders. Für sie ist das gutes Fleisch, und wenn man Gäste hat, dann bringt man nur das Beste auf die Bratspieße.«

Ein Pulk schreiender und aufeinander einprügelnder Reiter brach durch die Gruppen von Trinkern und Schaulustigen, die die Elfen angafften. Ständig die Richtung wechselnd, hieben die Männer aufeinander ein. Manchmal sah man in ihrer Mitte einen ledernen Ball hochschnellen, von dem ein armlanges Tau herabhing.

Ein Schimmel brachte den Ball in seinen Besitz und brach aus dem Reiterpulk aus. Sofort hefteten sich alle anderen an seine Hufe. Während einige Kentauren versuchten, seine Flanken gegen Angriffe abzuschirmen, ließen die anderen nichts unversucht, um ihm den Ball wieder abzunehmen.

Ein besonders massiger Kentaur, offensichtlich ein Uttiker, brach durch die Linie der Verteidiger und bäumte sich mit einem wilden Schrei auf. Seine Hufe trafen den Schimmel in die Flanke. Dieser schleuderte den Ball von sich, der Shandral genau in die Arme fiel. Angewidert ließ der Fürst von Arkadien den mit Schlamm und Blut besudelten Ball sofort fallen, doch es war schon zu spät. Johlend stürmten die Kentauren gegen ihren Reitertrupp an.

Obilees Pferd scheute. Elodrin rief ein Wort der Macht und atmete leuchtenden Nebel aus. Yilvina zog ihre Schwerter, bereit, mit den Breitseiten wie mit Knüppeln zuzuschlagen, sollte jemand ihrem Fürsten zu nahe kommen. Shandral duckte sich in die Mähne seines Rappen. Und Melvyn beugte sich tief aus dem Sattel und griff nach dem Ball.

Der riesige Uttiker donnerte in ihren Trupp hinein. Ollowain riss den Hengst herum und wurde trotzdem noch fast aus dem Sattel gestoßen. Mit einem Fausthieb wie ein Katapultschuss traf der Kentaur den Kopf von Shandrals Rappen. Das schlanke Pferd ging zu Boden. Shandral verfing sich in seinen Steigbügeln und schaffte es nicht mehr rechtzeitig abzuspringen. Der schwere Pferdeleib riss ihn hinab auf den schlammigen Grund. Hilflos eingeklemmt lag er inmitten trommelnder Hufe. Das Pferd rollte über ihm ab. Ein gellender Schrei erklang.

Gleichzeitig stieß Melvyn ein wildes Wolfsgeheul aus. Er schwenkte den Ball an seinem Seilende über dem Kopf und stieß seiner Stute die Fersen in die Flanken.

Ollowains Hengst stieg, erschreckt vom Wolfsgeheul. Obilee war aus dem Sattel gesprungen und versuchte Shandral gegen die Hufe der Kentauren abzuschirmen, während Melvyn in wildem Galopp davonstürmte. So schnell wie der Reiterpulk über sie hergefallen war, war er auch wieder verschwunden.

Kalter Nebel breitete sich um sie aus. Er war von unheimlichem, bleichem Licht durchdrungen. Irgendwo in der Nähe hörte Ollowain einen Minotaurenschamanen eine uralte Anrufung gegen das Böse rezitieren.

Der Schwertmeister glitt aus dem Sattel und kniete neben Shandral nieder. Der Rappe des Fürsten war wieder auf die Beine gekommen. Shandral war über und über mit schwarzem Schlamm besudelt. Das Haar klebte ihm in schmierigen Strähnen im Gesicht. Blut quoll ihm aus der Nase.

Elodrin trat aus dem Nebel. Nardinel und Yilvina begleiteten ihn. Die schwarzhaarige Heilerin kniete sich zu Ollowain, während Yilvina ihre Schwerter in die Scheiden zurückschob.

»Ich habe mir die Gesichter dieser siebzehn Raufbolde genau eingeprägt«, bemerkte Elodrin kühl. »Ich werde von Orimedes eine exemplarische Bestrafung dieser Schläger fordern. Shandral hätte tot sein können! Und nicht nur er. Jeder von uns hätte sterben können. Das ist nicht die Art, wie man eine Gesandtschaft seiner Verbündeten empfängt.«

Ollowain räusperte sich, sagte aber nichts. Es war besser, den Fürsten von Alvemer in diesem Augenblick nicht noch weiter zu reizen, indem man ihn daran erinnerte, dass die Kentauren den Zwischenfall höchstens als eine kleine Rempelei unter Freunden betrachten würden. Und es gab noch einen viel triftigeren Grund, sich nicht zu beklagen.

»Sagst du gar nichts dazu?«

»Offensichtlich ist Shandral kein sonderlich guter Reiter. Besser, wir bemerken das hier als im Heerlager der Trolle. Auch wenn wir in deinen Augen vielleicht unter Barbaren gelandet sind, Elodrin, so gibt es hier doch zumindest niemanden, der auf die Idee kommen könnte, Shandral den Hals umzudrehen und ihn auf einen Bratspieß zu stecken.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Yilvinas Gesicht, während der Seefürst empört den Kopf schüttelte. »Dies ist weder der Ort noch der Anlass, Scherze zu treiben, Ollowain. Wie geht es ihm, Nardinel?«

»Er hat drei gebrochene Rippen, aber ich kann keine inneren Blutungen feststellen. Sein linkes Bein ist ausgekugelt, doch alles in allem hat er großes Glück gehabt. Sein Rappe hat ihn in den Boden gedrückt. Der Schlamm hat Shandral das Leben gerettet. Auf festerem Untergrund wäre er vom Gewicht des Pferdes zerquetscht worden.« Der Fürst stöhnte, während sie seine Brust abtastete. Nardinel wirkte noch blasser als sonst. Es schien, als habe auch sie Schmerzen. So wenig Ollowain von den Pfaden der Magie wusste, war ihm doch bekannt, dass auf magische Weise zu heilen bedeutete, die Schmerzen mit dem Verletzten zu teilen.

Shandral atmete jetzt wieder gleichmäßiger. Er war eingeschlafen.

»Mehr werde ich nicht für ihn tun«, sagte die Heilerin, richtete sich auf und wischte den gröbsten Schmutz von ihrem Rock.

»Du solltest mehr für ihn tun. Er ist ein Fürst. Er wird es dir reich vergelten.«

»Es widert mich an, ihn auch nur zu berühren. Er hat eine dunkle Seele. Und die ist mir nahe, wenn ich ihn pflege. Im Übrigen hat er nicht nach mir schicken lassen, als Leylin so schwer verletzt wurde. Ich bin sicher, ich hätte ihr helfen können. Den ganzen Tag über haben sie mich nicht an ihr Krankenlager gelassen. Es scheint ganz so, als habe er gar kein Interesse daran, dass ihr so gut wie möglich geholfen wird.«

Der Nebel war so dicht geworden, dass man kaum einen Schritt weit sehen konnte. Der Lärm war seltsam gedämpft. Ollowain hatte das Gefühl, dass es viel stiller geworden war.

»Würdest du deinen Zauber bitte beenden, Elodrin. Ich glaube, wir sind nicht mehr in Gefahr. Aber die Steppenvölker sind sehr abergläubisch ... Ich fürchte, der Nebel macht ihnen Angst. Und es ist unmöglich vorherzusagen, wie sie sich verhalten werden, wenn sie Angst haben.«

Elodrin nickte bedächtig. »Ich gestehe, ich war ein wenig überrumpelt und habe nicht darüber nachgedacht, was ich tue. Nebel zu rufen ist eine übliche Vorgehensweise, wenn man in einem Seegefecht von einer feindlichen Übermacht bedroht wird. Was schlägst du vor?«

»Lass ihn verschwinden. Und bei den Alben, beherrsche dich und nenne die Kentauren nicht unsere Feinde!«

Elodrin beschrieb mit der Linken einen Kreis und flüsterte ein Wort, das an das Heulen des Windes erinnerte. Fast im gleichen Augenblick zerriss eine Böe den Nebelschleier.

Eine dichte Phalanx von Kentauren umgab sie. Hunderte hatten sich in weitem Kreis versammelt und gafften. Manche scharrten unruhig mit den Hufen oder ließen die Schweife peitschen. Eine fast greifbare Spannung lag in der Luft.

Plötzlich teilte sich die Reihe der Pferdemänner. Orimedes und Katander traten in den weiten Kreis.

Der Fürst der Steppenreiter lächelte schuldbewusst. »Ich hörte, es gab eine kleine Rempelei ... Es tut mir leid, dass ihr ein wenig herumgeschubst wurdet. Ich hoffe, es ist nichts Ernsthaftes passiert.«

»Ein wenig herumgeschubst«, zischte Elodrin so leise, dass es nur die Elfen um ihn herum hören konnten. »Das finde ich ein wenig untertrieben.«

Ollowain legte dem Fürsten beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Beherrsche dich. Sie sind sehr empfindlich, wenn man ihre Gastfreundschaft rügt.«

»Und ich bin ein empfindlicher Gast, wenn man einem meiner Begleiter die Knochen bricht«, entgegnete der Fürst, nur um gleich darauf ein diplomatisch kühles Lächeln aufzusetzen. »Im Übrigen bin ich kein Dummkopf. Ich kann auch Verbündete, die ich verachte, freundlich behandeln, so lange mir das opportun erscheint.«

»Begrüßt unsere Gäste«, rief Orimedes mit lauter Stimme.

»Unter euch steht der Schwertmeister Ollowain. Der Schrecken der Trolle und Held von Phylangan. Er ist mit seinem Gefolge gekommen, um mit uns zu feiern.« Ollowain entging die Spitze gegen Elodrin nicht, den Orimedes kurzerhand als 'Gefolge' deklassiert hatte, obwohl er noch am Tag zuvor der Oberbefehlshaber gewesen war.

Der Jubel war nicht so überwältigend, wie der Schwertmeister erwartet hätte. Er las Skepsis, ja sogar Unwillen in den Gesichtern vieler Pferdemänner. Elodrin hatte es mit seiner Abneigung gegen das Steppenvolk versäumt, aus den Verbündeten Freunde zu machen. Die Kentauren kämpften, weil es um ihre Heimat ging. Der Sache der Elfen dienten sie nicht.

Was ihn darüber hinaus beunruhigte, war die Tatsache, dass Melvyn verschwunden blieb. Der Schwertmeister wandte sich an Obilee. »Bring Shandral zurück in seinen Palast! Ich werde dafür sorgen, dass du eine Eskorte aus Kentaurenkriegern bekommst, die noch nüchtern sind. Und bleib so lange an der Seite des Fürsten, bis du schriftlich von mir den Befehl bekommst, den Palast wieder zu verlassen.«

»Du glaubst doch nicht etwa ....«

»Wenn Melvyn tut, was ich befürchte, dann haben wir einen Krieg in unseren eigenen Reihen, und das Heer wird morgen nicht aufbrechen. Pass auf Shandral auf! Beschütze ihn mit deinem Leben, auch wenn du ihn nicht magst.« Ollowain löste sich von der Gruppe und ritt Orimedes entgegen. Ohne abzusteigen, schloss er den Kentaurenfürsten in die Arme.

Ein neuer Ton kam in die Jubelrufe der Pferdemänner.

Ein großer, narbenbedeckter Krieger brach aus den Reihen der Kentauren. Er preschte Ollowain entgegen. »Erinnerst du dich an mich, Schwertmeister?«

Wie sollte er ihn vergessen haben! Was für alle hier fünfzehn Jahre zurücklag, war für ihn erst vor wenigen Monden geschehen. Der Schwertmeister packte das Handgelenk des Kriegers. »Ich vergesse niemals einen Helden!«, rief er mit lauter Stimme. »Senthor, dieser Dickschädel hier, wollte selbst dann, als wir schon mit dem Rücken zu den Toren des Himmelshafens standen, nicht einsehen, dass Phylangan verloren war. Er war einer der Letzten, der die Festung verließ. Es tut gut, dich zu sehen.« Dabei sah Senthor zum Erbarmen aus. Er war alt geworden. Das Leben in der Steppe hatte ihn ausgezehrt. Die Rippen stachen durch sein Fell. Mit ihm würde man keine Schlacht mehr gewinnen.

Dem alten Kentauren standen Tränen in den Augen. »Du bist einer von uns, Schwertmeister. Du hast mir das Leben gerettet bei den Kämpfen an den Barrikaden. Das werde ich dir nie vergessen. Ein Wort von dir, und ich sterbe für dich.«

Ollowain konnte sich nicht erinnern. Die Kämpfe in den Tunneln von Phylangan waren so mörderisch und unübersichtlich gewesen, dass sie alle sich ständig gegenseitig gerettet hatten oder aber füreinander gestorben waren. »Ich hab dich doch nicht gerettet, damit du bei der nächsten Gelegenheit dein Leben fortwirfst, Senthor. Begleite mich hinaus in die Steppe, wenn es so weit ist, und töte einen Troll für mich. Das ist alles, was ich von dir erwarte. Ich will den Senthor dort draußen sehen, der schon in Phylangan Seite an Seite mit mir gekämpft hat.«

Der Kentaur langte mit beiden Händen nach seinem Kopf. Feuchter Atem, der nach Anis stank, schlug Ollowain entgegen. Senthor küsste ihn auf die Lippen.

Der Schwertmeister ließ den Gefühlsausbruch über sich ergehen. Als der Kentaur ihn wieder losließ, zog er seine Waffe und reckte die Klinge dem Himmel entgegen. »Mit tausend Kriegern wie dir würde ich die Trolle vor den Toren Feylanvieks aufhalten, Senthor.« Er machte eine Pause und blickte in die bärtigen Gesichter der Kentauren rings herum. Harte Gesichter, von Wind und Sonne gezeichnet, vom entbehrungsreichen Leben in der Steppe. Gesichter, in denen stolze Augen glühten. »Aber ich sehe hier mehr als tausend von deinem Schlag, Senthor.« Der Schwertmeister dachte an die Reden Lambis, eines Fjordlandjarls, der mit ihm gekämpft hatte. Mit seinen frechen Sprüchen hatte er selbst in verzweifelter Lage stets die Herzen der Krieger gewonnen. »Du scheinst einer Menge Stuten nachgestiegen zu sein in der Zeit, in der ich fort war. Ich sehe hier mehr als tausend Krieger von deinem Schlage. Und deshalb sage ich: Schluss mit der Warterei! Gehen wir zu den Trollen. Lasst sie eure Hufe schmecken! Und wenn wir fertig sind mit ihnen, das verspreche ich, dann werden sie selbst in hundert Jahren nicht wagen, noch einmal einen Fuß auf die Steppen des Windlands zu setzen!« Ollowain deutete auf einen rothaarigen Krieger mitten im Gedränge, der noch nicht in die Jubelrufe eingestimmt hatte. »Bist du dabei, wenn wir es den Trollen zeigen?«

»Ja, Mann ...«, stieß er verlegen hervor.

Der Schwertmeister wandte sich an den nächsten. »Und du? Hast du den Mumm, dem Angriff eines Trolls entgegenzublicken und zu warten, bis du das Weiße in seinen Augen siehst, bevor du deinen Bogen hebst, oder möchtest du lieber hier bleiben und Büffel hüten?«

»Ich komme mit dir, Schwertmeister!«, rief der Krieger begeistert.

Ollowain machte eine weit ausholende Geste. »Und wie sieht es mit euch aus? Wollt ihr meinen Elfenkriegern zeigen, dass es nichts in dieser Welt gibt, das eine Attacke von tausend Kentauren aufhalten kann? Seid ihr bereit dazu? Folgt ihr mir?«

»Wir folgen dir, Schwertmeister!«, schallte es aus hunderten von Kehlen. Jetzt drängten alle nach vorne. Jeder wollte Ollowain berühren, ihm auf die Schulter klopfen oder ein paar Worte mit ihm wechseln. Sie hoben ihn aus dem Sattel und ließen ihn auf ihren hoch über die Köpfe gestreckten Handflächen gehen. Elegant wie ein Tänzer bewegte sich der Feldherr auf dem schwankenden Grund. Und er genoss das Bad in der Menge.

Einen Augenblick lang vergaß er sogar sein schlechtes Gewissen. Doch das währte nicht lange. Es war gut, dass die Kentauren seinem Oberbefehl nun williger folgen würden. Und sie würden härter kämpfen, weil sie seinen Worten glaubten und einen Sieg für möglich hielten. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass ihm nur noch vier Tage zu leben blieben. Er musste einen Nachfolger finden. Jemanden, der fähig war, die Strategie des Rückzugs in den weiten Raum des Windlands so umzusetzen, dass Emerelles Verbündete letztlich über die Trolle triumphieren würden.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Orimedes und seine Leibwache es schafften, Ollowain wieder in den Sattel zu heben und gegen die begeisterten Krieger abzuschirmen.

Der Kentaurenfürst lachte ihn an. »Das ist besser als das Beste, was einem ein Weib zu bieten hat!«

»Es war ein gutes Gefühl«, stimmte er zu.

»Ach komm, gutes Gefühl. Das ist vollkommen. Das ist...«

»Du bist bei Shandral zu weit gegangen. Er hätte tot sein können.« Ollowain sprach leise und blickte misstrauisch zu Elodrin und den anderen Elfen. Sie standen etwas abseits und plauderten mit Katander.

Orimedes runzelte ärgerlich die Stirn. »Es war deine Idee, dem Mistkerl eine Abreibung zu verpassen. Und genau die hat er bekommen. Vergiss es! Ist er es wert, dass wir über ihn streiten?«

»Ich mache mir Sorgen, dass ...« Orimedes winkte einem Krieger, der ihnen zwei silberne Kelche mit Wein brachte.

»Komm, vergiss den Kerl. Trink! Das ist bester Roter aus einer kleinen Bucht bei Vahlemer. Eigentlich viel zu weit nördlich, um noch Wein anzubauen, aber eine Strömung geht dort an der Küste entlang, und das Klima ist wunderbar mild. Koste ihn, du wirst keinen besseren Wein als diesen zu trinken bekommen. Er ist sein Gewicht in Silber wert.« Der Kentaur hob den Kelch und nickte Ollowain zu. »Auf den Sieg!«

»Auf die, die zurückkehren werden«, entgegnete der Schwertmeister.

Orimedes seufzte. »Hast du wieder eine deiner Stimmungen? Freust du dich denn gar nicht, hier zu sein?«

Was sollte er dazu sagen?, dachte der Schwertmeister bitter. Er war auf dem Weg in eine Schlacht, aus der er nicht wiederkommen durfte. Und er war es Emerelle schuldig, dass er niemandem dieses Geheimnis anvertraute. Also zwang er sich zu lächeln. »Es tut gut, dich wiederzusehen und mit dir zu reden.«

»Na also! Geht doch. Ich verspreche dir, dieser Rote wird deine Trübsal davonspülen. Und was den Feldzug ...« Orimedes schob sich plötzlich an ihm vorbei. »Heh, Nestheus, hierher!«

Der junge Kentaur, der den Ball zu Shandral geworfen hatte, kam zu ihnen herüber. Neben ihm ritt Melvyn. Beide grinsten wie kleine Jungen, denen gerade ein Streich geglückt war. Der Wolfself ließ den Ball lässig an seinem Seil kreisen.

»Haben wir gewonnen?«, rief Orimedes ihnen entgegen.

»Haben wir!« Nestheus hatte die Lippen eingeschlagen, und seine Flanken waren von Schürfwunden und üblen Prellungen gezeichnet. »Melvyn hat den Ball über die Linie gebracht.«

Der Elf sah nicht besser aus als der Kentaur. Auch er hatte einiges abbekommen, was ihn aber nicht weiter zu stören schien.

Ollowain betrachtete die beiden und wünschte sich, noch einmal so jung und frei zu sein. Bei einem Ballspiel alle Übel dieser Welt vergessen zu können, das war beneidenswert. Dennoch würde er Melvyn in dieser Nacht nicht aus den Augen lassen.

Die Wahrheit


Obilee hatte sich immer für sehr langmütig gehalten. Als aber Shandral endlich auf ein Lager in seinem großen Stadthaus gebettet wurde, war sie mehr als nur erleichtert. Der Fürst war während des Transports aus seiner Ohnmacht erwacht und hatte den Rückweg stöhnend und fluchend hinter sich gebracht. Wobei seine Flüche selbst die hart gesottenen Kentauren sichtlich eingeschüchtert hatten.

»Du gestattest, dass ich mich ein wenig in deinem Haus umsehe, Fürst? Unser Feldherr ist um deine Sicherheit besorgt, und ich bin verantwortlich für dein Wohlergehen.«

»Darum wird sich Madrog schon kümmern! Schick nach meinem Koboldhauptmann! Warum ist er noch nicht hier?«

Das Lager des Fürsten war von Kobolddienerinnen in schlichten, meergrünen Kleidern und mit weißen Hauben umgeben. Auch einige Wachen standen in den Ecken und gaben sich alle Mühe, ihrem Fürsten nicht aufzufallen. Offensichtlich fürchteten sie, Shandral könne sie für den Unfall zur Verantwortung ziehen.

»Sag deinem Ollowain, dass ich ihn durchschaue. Das war ein Mordanschlag, und ich werde ihn dafür zur Verantwortung ziehen! Die Blutfäule soll er bekommen! Ich bin kein Mann des Schwertes, aber ich bin nicht wehrlos! Er wollte, dass ich unter meinem Pferd zerquetscht werde, dieser niederträchtige Speichellecker der Königin. Er wird den Tag noch verfluchen, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Sag ihm das!«

Obilee atmete tief aus und versuchte gleichmütig zu bleiben.

»Ich werde Ollowain berichten, was du gesagt hast. Gestatte, dass ich mich nun zurückziehe.«

Shandral machte eine wedelnde Handbewegung und zuckte vor Schmerz zusammen. »Ja, fort mit dir! Ich kann euch widerliche Schleimer nicht mehr ertragen. Weg ...« Er versetzte einer Koboldfrau eine Ohrfeige, die sie von seinem Bett stürzen ließ.

»Passt auf, was ihr tut, ihr elendes Gewürm. Die Nächste, die mir mit ihren ungewaschenen krummen Fingerchen Schmerzen bereitet, lasse ich an die Hauswand nageln!« Er breitete die Arme aus. »Los schneidet das Hemd auf! Und dann ruft nach einem richtigen Heilkundigen. Schleppt mir bloß keinen Quacksalber ins Haus!«

Obilee zog sich aus dem Zimmer zurück. Shandral war eigentlich kein hässlicher Mann. Doch seine Seele schien durch und durch verrottet zu sein. Jetzt offenbarte sich sein wahres Gesicht. Welch ein Albtraum musste es sein, zu seinen Dienern zu gehören. Sie würde Emerelle von ihm berichten. Er war eine Schande für alle Elfenfürsten. Vielleicht konnte die Königin ihn seiner Herrschaft berauben oder ihn zumindest in die Schranken weisen?

Obilee trat auf den Flur hinaus. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt. Eine enge Treppe führte hinab in die Eingangshalle. Überall waren Diener, doch es herrschte Totenstille. Obilee war schon im Gemach des Fürsten aufgefallen, dass die Koboldfrauen dicke Filzschuhe trugen. Sie bewegten sich lautlos. Und jeder, der der Elfe begegnete, senkte den Blick.

Der Flur machte kurz hinter der Tür zu Shandrals Zimmer einen scharfen Knick. Dieses unübersichtliche Haus war wie dafür geschaffen, sich zu verstecken. Sollte Melvyn tatsächlich hierher kommen, dann könnte er sich wohl ohne weiteres verbergen.

Obilee zögerte nur kurz, dann ging sie den Flur hinauf, statt über die Treppe zur Eingangshalle zu eilen. Ollowain hatte sie gebeten, auf Shandral zu achten, und ganz gleich, was sie vom Fürsten von Arkadien hielt, sie würde ihre Aufgabe erfüllen, so gut es ging. Wenigstens würde sie sich die umliegenden Zimmer ansehen.

Als sie um die Ecke bog, änderte sich das Licht. Lampen aus dunkelblauem Glas säumten die Wände. Nach ein paar Schritten machte der Flur erneut einen Knick. Es gab keine Türen. Zu ihrer Linken hing ein schwerer Gobelin, der eine düstere Klippenlandschaft zeigte. Eine Galeere, an deren Heck rote Lampen glommen, hielt auf die Steilklippen zu.

Hinter der nächsten Biegung war der Flur mit schweren, schwarzen Samtvorhängen verhängt. Zwischen ihnen herrschte erstickende Finsternis. Die Berührung des Stoffes war der Elfe unangenehm. Er schien sich von sich aus zu bewegen, während sie voranschritt, als sei er lebendig und begierig darauf, ihre nackte Haut zu berühren. Kobolddiener gab es hier keine mehr. Ein bedrückender Duft hatte sich im Stoff verfangen. Es roch nach Ambra und Opium.

Etwas Ledriges strich der Elfe über die Lippen. Sie machte einen Satz nach vorn und duckte sich unter dem tastenden Stoff. Ihr Atem ging schwer. Sich drehend, versuchte sie dem Samt zu entkommen. Es war unmöglich, etwas zu sehen. Blind musste sie allein auf Gehör, Tastsinn und Geruch vertrauen.

Obilee dachte daran umzukehren. Doch sie war sich nicht mehr sicher, in welcher Richtung es zurückging. Sie fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Jede Bewegung schien auf Widerstand zu stoßen, so als schwimme sie in dickem Sirup.

Plötzlich war da Licht. Ein trübes, blaues Licht, abgeschirmt durch dickes Glas, doch es war eine Sonne inmitten der Finsternis des Samts. Der Flur hatte sich verändert. Es gab keine Ecken mehr. Die Wände gingen übergangslos in die Decke über. Und das Licht entsprang keiner Öllampe. In die Wand war eine große, ovale Linse eingelassen, die wie ein lidloses Auge starrte.

Obilee kniff die Augen zusammen. Die Duftstoffe im Samt ... Man musste ihnen Rauschmittel beigemengt haben. Was war das für ein Haus? Was bezweckte Shandral damit? Obilee hatte Gerüchte über ihn gehört. Angeblich gehörte er zu den Jüngern Alathaias, jenen Elfen, die sich den verruchten, dunklen Spielarten der Magie ergeben hatten. Magier, die keine Grenze achteten und die ihre Gier nach Wissen in die tiefsten Abgründe getrieben hatte. War dieser Flur ein Abbild dessen, was in Shandrals Kopf vor sich ging? Was bezweckte er mit diesem Schreckenskabinett? Sah so die Welt aus, in der er sich wohl fühlte?

Sollte Melvyn ihn doch holen! Ein bitterer Geschmack lag der Elfe auf der Zunge. Ihre Sinne waren manipuliert. Ständig hatte sie das Gefühl, dass sich gerade außerhalb ihres Gesichtsfelds eine Schattengestalt bewegte. Und der Boden schien unter ihren Schritten nachzugeben wie zäher Schlamm. Doch wenn sie auf ihre Füße blickte, dann sah sie lediglich einen dunklen Steinboden. Hier konnte man nicht einsinken!

Sie musste fort aus diesem Haus, das genauso krank war wie sein Besitzer. Obilee blickte zu dem sich sanft wiegenden Wall aus dunklem Samt. Der Stoff schien sie zu erwarten. Angewidert dachte sie an seine Berührung. Sie zog ihr Schwert. Doch was nutzte das hier schon ...

Die Elfe entschied, weiter dem Gang zu folgen. Vielleicht fand sie ja einen anderen Weg hinaus. Und sei es nur ein Fenster, durch das sie in die Freiheit gelangen konnte.

Vorsichtig schlich sie den Gang entlang und wendete immer wieder abrupt den Kopf, um endlich den Schatten mit ihren Blicken zu fassen zu bekommen. Doch stets entwischte ihr das Trugbild. Etwas anderes konnte es nicht sein! Eine Ausgeburt ihrer Fantasie, gezeugt aus den Rauschmitteln und der Angst, die dieser seltsame Ort atmete. Der Opiumgeruch war noch immer allgegenwärtig.

Jeder Schritt fiel Obilee schwerer. Sie lehnte sich an die Wand und rang nach Luft. Eine leise Stimme drang an ihr Ohr, sie sang ein Kinderlied. Doch die Worte waren verdreht. Sie konnte es nicht richtig verstehen. Immer wieder erklang das Lied. Monoton und ohne Gefühl. Wie eine Beschwörungsformel.

Obilee folgte dem leisen Gesang, bis sie vor einer runden Tür stand, die mit feucht schimmerndem, dunkelrotem Lack überzogen war. Eine leichte Berührung genügte, und die Tür schwang auf. Opiumduft schlug der Elfe entgegen. Feiner Rauch tanzte in der Luft. Die Bewegung der Tür ließ blaugraue Wirbel durch das Zimmer treiben.

Der Elfe zuckte erschrocken zurück. Köpfe wuchsen aus den Wänden. Und noch immer erklang die Stimme.

Flieg, Blütenfee, flieg,

dein Ritter ist im Krieg,

deine Herrin sitzt im Herzeland,

Herzeland ist Schattenland, flieg, Blütenfee, flieg.

Inmitten des Zimmers stand ein großes Bett. Eine Frau mit langem, schwarzem Haar ruhte auf blütenweißem Leinen. Ihre Lippen bewegten sich unablässig. Immer und immer wieder sang sie den Kinderreim und hielt die Augen dabei geschlossen. Eine dünne Decke war über sie gebreitet. Ihr Körper zeichnete sich deutlich unter dem Stoff ab. Er wirkte seltsam ... Zu kurz. Die Proportionen passten nicht zueinander. Ihre Beine! Obilee zog die Decke zurück. Die Elfe war nackt, ihr Leib von langen Striemen gezeichnet, die alle Schattierungen von Blauschwarz bis hin zu einem blassen Graugrün zeigten. Und Obilee sah, was mit den Beinen geschehen war! Sie sah die Wahrheit.

Die Gesichter an den Wänden grinsten spöttisch. Alles schien sich zu drehen. Und immer noch erklang das Lied.

Die Elfe schloss die Augen, doch nach wie vor tanzten die Gesichter um sie. Ihr war übel. Der bittere Geschmack in ihrem Mund ließ sie würgen. Dann hörte sie erschreckend klar ein metallisches Klacken hinter sich. Das Geräusch, das vom Abzugshebel einer Armbrust stammte. Etwas traf sie hart am Kopf. Grelles Licht löschte die tanzenden Gesichter aus. Löschte alles aus.



In der Tierhaut


Das Trommeln im Lager der Kentauren machte ihn unruhig. Der Lutin Nikodemus Glops lag unter einem dichten Busch am Ufer des Mika und beobachtete den Schattenriss des Patrouillenbootes, das langsam näher kam. In Feylanviek hatte sich etwas verändert. Die Kontrollen an den beiden gewaltigen Flussbrücken waren strenger geworden. Plötzlich waren auch viel mehr Falken am Himmel. Es wäre sinnlos zu versuchen, noch eine Brieftaube zu schicken. Seit dem Morgen hatte kein einziger seiner Spitzel mehr Kontakt zu ihm aufgenommen. Etwas stimmte nicht da drüben! Und er lag hier und konnte nichts tun als warten.

Nikodemus sah zu dem schmutzig weißen Schild, der an einem Pfahl ein Stück entfernt lehnte. Man würde ihn in der mondhellen Nacht vom Fluss aus gut sehen können. Er war nichts Besonderes. Nur ein eingeschlagener, unbrauchbarer Übungsschild. Er würde kein Aufsehen erregen. Hoffentlich war sein Spitzel an Bord des Bootes!

Die Feuer des Kentaurenlagers spiegelten sich im träge dahinfließenden Strom. Warum hatten die Pferdemänner plötzlich so gute Laune? Obwohl der Fluss fast eine Meile breit war, hatte man ihr Jubelgeschrei bis hierher hören können. Was gab es da drüben zu feiern?

Ein dumpfes Geräusch schreckte den Lutin aus seinen Gedanken. In dem weißen Schild steckte ein Armbrustbolzen. Endlich!

Nikodemus‘ Finger gruben sich in die trockene Erde. Er musste warten, bis das Boot noch ein Stück weiter gefahren war. Er konnte die Umrisse eines Elfen im Heck erkennen. Jetzt bloß kein unnötiges Risiko eingehen! Gestern war noch kein Elf auf dem Patrouillenboot gewesen. Warum waren die da drüben auf einmal so vorsichtig? Ob sie einen seiner Spitzel gefangen hatten? Nikodemus hielt den Atem an. Vielleicht war sogar die Botschaft am Armbrustbolzen eine Falle. Er spähte das Ufer entlang in Richtung der Brücke. Vor einer halben Stunde erst war ein Trupp berittener Elfen zu einem Streifzug in die Steppe aufgebrochen. Ob sie wohl abgesessen waren und da draußen auf ihn lauerten?

Nikodemus zuckte zusammen. Beim Scharren in der Erde hatte er sich einen Fingernagel umgeknickt. Mist! Liza mochte keine Kobolde mit ungepflegten Händen. Er musste sich zusammenreißen! Für sie hatte er sogar das Fingernagelkauen aufgegeben. Und jetzt hatte er sich den Nagel umgeknickt. Dumme Sache! Dass sich so etwas nicht vernünftig mit Magie richten ließ! Was hatte er sich all die Jahre abgemüht mit der Zauberei. Und was war der Lohn? Er konnte sich nicht einmal einen kaputten Fingernagel wieder heil hexen. Meister Gromjan hatte ihn all die Jahre als gestrenger Lehrer gequält. Aber etwas Vernünftiges war dabei nicht herausgekommen. Er lag hier nachts am Ufer eines Flusses statt im Bett von Liza. Kein Wunder, dass sie sich nach all den Jahren immer noch nicht für ihn entscheiden konnte. Er hätte sich auch nicht für sich entschieden. Wirklich! So ein Mistkerl, der dauernd Reisen für seinen großen Bruder machte. Was war mit so einem schon anzufangen!

Das Flussboot war inzwischen ein ganzes Stück weiter. Er sollte es wagen! Dicht an den Boden gepresst, robbte er durch das hohe Gras. Mit seinem Messer durchtrennte er die beiden dünnen Lederriemchen, mit denen ein Pergamentstreifen am Schaft des Armbrustbolzens festgebunden war.

Im hellen Mondlicht konnte er die Nachricht gut lesen, obwohl ihr wichtigster Spitzel drüben eine wahrlich üble Handschrift hatte. Ungläubig starrte er das Schreiben an. Er las es noch einmal. Sein Bruder Elija hatte immer schon gesagt, dass die Elfen verrückt waren, aber das hier übertraf jede ihrer bisherigen Torheiten bei weitem.

Ihr Spitzel hatte alle Zahlen genannt. Es waren viele Krieger. Aber die Trolle am Mordstein waren ihnen immer noch um ein Vielfaches überlegen. Und dann diese Befehle, Draht, Seide und Glasfläschchen zusammenzutragen. Vollkommen irre!

Nikodemus lernte die Nachricht gewissenhaft auswendig. Den Fehler, eine Botschaft in Tiergestalt zu befördern, würde er nie wieder machen. Mit Schaudern dachte er daran zurück, wie ihn dieser Bogenschütze vor drei Jahren fast erwischt hatte. Es war aber auch wirklich ausgesprochen blöd gewesen, mit einem Lederzylinder in der Schnauze als Fuchs herumzulaufen und zu hoffen, man sei völlig unauffällig. Nein, das würde ihm nie wieder passieren. Sorgfältig zerriss Nikodemus das Pergamentblatt in dünne Streifen und streute diese in den Fluss.

Der Lutin konzentrierte sich auf den Fuchszauber. Es zwickte und zwackte jedes Mal, wenn er sich verwandelte. Irgendwie schaffte er es nie, von einer Gestalt in die andere zu wechseln, ohne dass es weh tat.

Nikodemus bearbeitete ausgiebig mit der Schnauze sein Rückenfell. Es war immer dasselbe! Kaum nahm er Fuchsgestalt an, hatte er einen Schwarm Sandflöhe im Pelz. Die schienen ihm heimlich zu folgen! Er sollte lieber nicht seine Zeit mit ihnen vergeuden. Drei, höchstens vier Stunden, dann wurde es hell. Bis dahin sollte er ein gutes Stück Weg schaffen. Es war weit bis zum Mordstein. Im Morgengrauen würde er Falkengestalt annehmen. Dann war er weit genug fort von Feylanviek. Hier wäre es der blanke Leichtsinn, sich als Falke in die Lüfte zu erheben. Ahnten die Elfen, wie viele Spitzel unter ihnen waren? Nikodemus dachte an seine Kameraden und Kameradinnen in der Stadt. Sie riskierten ihr Leben für die Sache der Rotmützen. Aber keiner von ihnen würde jemals vergessen sein.

Der Lutin malte sich aus, wie er im Trolllager eintraf und darauf bestehen würde, sofort vor den jungen König geführt zu werden. Diese Nachricht würde ihn unsterblich machen. Noch in hundert Jahren würde sein Volk von Nikodemus Glops, dem Helden, sprechen!

Ein Kobold tritt aus

Misht wusste, dass es keinen Grund gab, Nossew irgendetwas vorzuwerfen, aber die Ruhe seines Kameraden raubte ihm den letzten Nerv. Er lag auf dem Dach, kaute auf einem Klümpchen Harz und beobachtete die Straßenfront von Shandrals Stadtpalast.

»Ich finde, Melvyn könnte auch mal jemand anderen die Nacht auf diesem Dach verbringen lassen.«

Nossew kratzte sich am Bart und sagte nichts.

Das Schweigen seines Gefährten war genauso nervtötend wie die elende Warterei. Manchmal hatte man das Gefühl, Nossew hätte seine Zunge verschluckt. Misht kannte niemanden sonst, der so maulfaul war wie sein Gefährte. Aber er war ein begnadeter Waffenbauer. Er hatte ihre Repetierarmbrüste gebaut. Die Waffen waren Kleinodien. Es gab nichts Vergleichbares. Noch nie hatten sie Ladehemmung gehabt. Die Mechanik griff ineinander, so wie Knochen und Sehnen eines lebendigen Wesens zusammenspielten. Die Rotmützen hatten ihre Waffen haben wollen. Aber Nossew mochte ihren Anführer nicht. Wahrscheinlich, weil Elija Glops für seinen Geschmack zu viel redete. Eine Woche später war ihre Werkstatt ausgebrannt. Nicht einmal ein halbes Jahr hatten sie dort arbeiten können. Alles war neu gewesen. Die Werkbänke, das Gebäude. Sie hatten viel Geld geliehen. Geld, das sie niemals mehr hätten zurückzahlen können. Die Rotmützen hatten angeboten, ihnen zu helfen. Aber der Sturkopf Nossew war der Überzeugung gewesen, dass sie den Brand gelegt hatten. Beweise gab es dafür keine. Nossew meinte, am Abend, als sie sich mit Elija getroffen hätten, da habe ihm der Bart gejuckt, als sei er eine Spielwiese für Filzläuse. Sein Bart juckte immer, wenn Ärger ins Haus stand. Das genügte ihm als Beweis dafür, dass die Rotmützen bei dem Feuer ihre Finger im Spiel gehabt hatten.

Nossew kratzte sich schon wieder. Langsam bekam Misht ein mulmiges Gefühl. An diesem Bartorakel war leider etwas dran. Vor vier Monden, als die Trolle ihre Bande fast gestellt hatten, hatte sich sein Gefährte auch dauernd gekratzt.

Der Kobold prüfte, ob sein Magazin auf der Armbrust richtig eingerastet war. Dann rüttelte er leicht daran, damit sich beim Durchladen keiner der Bolzen verklemmte.

Misht richtete sich leicht auf, um besser auf die Straße blicken zu können. Das Lärmen der Schmiede löschte alle anderen Geräusche der Nacht. Vor einer Stunde etwa hatten sie dort wieder zu arbeiten begonnen, kurz nachdem man Shandral gebracht hatte. Misht hätte gern gewusst, was mit dem Mistkerl los war. Der Fürst war von einem Kentauren getragen worden, und eine sehr nervöse junge Elfe war auch dabei gewesen. Die Kleine hätte sie fast auf dem Dach entdeckt.

Kaum waren sie im Haus verschwunden, da war ein Dutzend Boten in alle Richtungen gelaufen. Shandral brütete etwas aus. Um das zu ahnen, brauchte man kein Bartorakel.

Misht streichelte den Schaft seiner Waffe. Einen Armbrustbolzen zwischen die Augen, das war die Medizin, die Shandral brauchte. Melvyn hatte ihnen erzählt, was der Fürst seinem Weib angetan hatte.

Misht blickte hinüber zu der Schmiede am Wehr. Was, zum Henker, trieben die dort? Welchen Grund gab es, mitten in der Nacht wieder die Arbeit aufzunehmen?

Nossew kratzte sich schon wieder den Bart.

»Hör mal, sollten wir nicht Melvyn benachrichtigen? Hier stimmt doch was nicht. Man sollte auch mal nachsehen, was in der Schmiede vor sich geht.«

Nossew deutete zu dem Balkon, über den Melvyn in den Palast eingedrungen war. Spinnenmänner duckten sich dort hinter die Brüstung. Sie hielten ihre Armbrüste schussbereit und beobachteten die Straße und die umliegenden Häuserdächer. Jetzt entdeckte er auch einen bei dem Kamin auf dem Dach des Westflügels.

»Was brüten die für eine Schurkerei aus?« Nossew antwortete natürlich nicht. Stattdessen spuckte er seinen Harzklumpen aus und klebte ihn auf eine Schindel am Dachfirst. Dann steckte er sein Fähnchen auf.

»Manchmal wäre es schon eine Hilfe, wenn du die Zähne auseinander bekämst!« Sein Kamerad deutete die Straße hinauf. Ein ganzer Zug Wagen kam von dort. Man hatte die Räder mit Lumpen umwickelt, damit die Eisenbeschläge auf dem Pflaster weniger Lärm verursachten. Doch bei dem Getöse der Schmiede wäre das nicht notwendig gewesen. Lautlos glitten die Kutschen heran. Es waren große Wagen.

Das Portal des Palastes öffnete sich. Kobolde mit Fackeln und weitere Spinnenmänner mit Armbrüsten eilten auf die Straße. Jetzt erschien auch Shandral auf der Schwelle. Er stützte sich schwer auf einen schwarzen Stab und beaufsichtigte, wie Kisten zu den Kutschen getragen wurden. Auch einzelne Möbelstücke und Bilder wurden aus dem großen Haus geschafft.

Nossew räusperte sich.

»Was?« Misht sah zu seinem Gefährten. Dieser kratzte sich aufreizend zwischen den Beinen. »Was ist los? Verdammt, kannst du nicht mal sagen, was du hast? Musst du pinkeln?«

Sein Kamerad grinste.

»Nein. Doch nicht jetzt. Verdammt, klemm dir dein Ding zwischen die Schenkel und beiß die Zähne zusammen. Du kannst doch jetzt nicht ...«

Nossew kletterte vom Dach.

»Das tust du nicht!«

Sein Kamerad verschwand im Dunkel. Leise vor sich hin fluchend, widmete sich Misht wieder dem Treiben bei Shandrals Stadtpalast. Die ersten Kutschen fuhren ab. Zuletzt waren noch etliche Kobolddienerinnen auf die Kisten auf der Pritsche geklettert. Der Drecksack kniff also den Schwanz ein, dachte Misht. Schade, er hätte gerne miterlebt, wie Melvyn diesem Schinder das Licht ausgeblasen hätte.

Eine Elfe mit langem, schwarzem Haar wurde aus dem Haus gebracht. Sie schien zu schlafen. Man hatte sie mit breiten Lederriemen auf eine Trage gefesselt. Sie wurde in einen geschlossenen Wagen gebracht. Ob das wohl das Weibsbild war, dem Melvyn nachgestiegen war?

Misht blickte über die Schulter. Sein Kamerad blieb verdammt lange weg.

Weitere Kutschen fuhren ab. Jetzt verließen auch die Spinnenmänner die Dächer. Misht sah sich nervös um. Er sollte mitbekommen, wohin Shandral verschwand. Er hatte einen Verdacht

... Nur noch fünf Kutschen warteten. Immer mehr Spinnenmänner kamen aus dem Haus. Es blieb keine Zeit mehr, noch länger zu warten.

Vorsichtig erhob sich der Kobold und schlich geduckt am Dachfirst entlang. Wenn Nossew ihm nur den Rücken frei gehalten hätte!

Die letzten Spinnenmänner glitten die Hauswand hinab. Jetzt fuhren auch die verbliebenen Kutschen an. Shandral stieg in den Verschlag des letzten Wagens.

Misht sprang auf ein tiefer gelegenes Dach. Eine Schindel löste sich unter seinen Füßen und rutschte davon. Doch der Lärm der Schmiedehämmer überdeckte jedes Geräusch.

Einer der Spinnenmänner war spät dran und rannte der letzten Kutsche hinterher. Mit Mühe erwischte er noch einen Griff und sprang auf eines der Trittbretter. Sein dunkelgrauer Umhang wehte im Fahrtwind. Der Kerl hielt sich nur mit einer Hand fest. Mit der anderen kratzte er sich den Bart, als ginge es dabei um sein Lebenslicht.

Misht hielt den Atem an. Nossew! Was machte der verdammte Idiot denn auf der Kutsche! Er musste doch auch ahnen, wohin die Fahrt ging.

Lumpengebinde löste sich von den Hinterrädern, als der überladene Wagen in eine enge Kurve ging.

Misht sprang wieder auf ein tiefer gelegenes Dach. Jetzt rannte er, ohne auf seine Deckung zu achten. Die Kolonne überquerte eine gedeckte Holzbrücke. Wie fernes Donnergrollen klang der Hufschlag der Pferde auf den Bohlen.

Am anderen Ufer des Kanals stieß eine Abteilung von Armbrustschützen zu den Flüchtlingen. Die Waffen geschultert, die Umhänge aufgerollt und um die Brust gebunden, marschierten sie im Gleichschritt. Shandral nahm seine sämtlichen Truppen mit.

»Komm, Nossew, spring ab! Das war jetzt genug. Die merken, wer du bist!«

Die Kutsche des Fürsten wurde langsamer, weil sich die Wagen stauten.

Misht sprintete über das moosglatte Schindeldach der gedeckten Brücke und holte wieder auf. Über die Wagen hinweg konnte er den Platz des Silberlichts sehen.

Der Kutscher des Fürsten schimpfte wie ein Kesselflicker und drosch mit seiner langen Gerte auf die anderen Wagenlenker ein. Schwerfällig bewegten sich die überladenen Gefährte, und es entstand eine Gasse, weit genug, die Kutsche des Fürsten durchzulassen.

Ganz deutlich sah Misht seinen Kameraden, der immer noch auf dem Trittbrett stand. Was wollte Nossew beweisen? Es war unmöglich, inmitten von Shandrals Gefolge unentdeckt zu bleiben.

Die Kutsche fuhr zur Mitte des Platzes. Aus bunten Steinen war ein riesiger Stern in das Kopfsteinpflaster eingelassen. Städte, so groß wie Feylanviek, entstanden an den Kreuzungen bedeutender Handelswege. Der Ort war hier im trocken gelegten Sumpfland angesiedelt, weil der Mika bis zu dieser Stelle selbst bei Niedrigwasser schiffbar war. Er lag hier, weil ganz in der Nähe die Honigstraße durch die Steppe führte, der uralte Handelsweg von Nord nach Süd. Und er lag hier, weil dies einer der wenigen Plätze in der Steppe war, wo sich ein großer Albenstern befand. Ein wenig außerhalb gab es sogar noch einen zweiten, an dem sich sechs der goldenen Pfade kreuzten. Wer das nördliche Windland bereiste, der kam fast unweigerlich nach Feylanviek, ganz gleich, ob er auf einer Staubpiste unterwegs war, zu Wasser reiste oder sich den goldenen Pfaden durch das Nichts anvertraute. Und wer es eilig hatte, die Stadt wieder zu verlassen, der kam zum Sternplatz.

Nossew sprang ab, als die Kutsche des Fürsten anhielt. Er beeilte sich, den Verschlag aufzureißen, und verneigte sich tief, als Shandral ausstieg. So blieb sein Gesicht unerkannt.

Der Elfenfürst hinkte wie ein ausgemusterter Koboldveteran. Schwer stützte er sich auf den schwarzen Stab. Rings herum herrschte atemlose Stille. Von Ferne hörte man die Hämmer der Schmiede, und Misht hatte das Gefühl, dass sie seinem Herzen den Rhythmus vorgaben. Es pochte schmerzhaft in seiner Brust. Sein Atem ging keuchend von der halsbrecherischen Jagd über die Dächer. Er klammerte sich an einem rostigen Wetterhahn auf der Spitze eines Türmchens fest, das verspielt aus der Flanke eines großen Gildenhauses wuchs. Ob man ihn vom Platz aus sehen konnte, war Misht inzwischen egal. Das Einzige, was für ihn noch zählte, war, dass ihm nichts entging.

Inmitten des Platzes erhob sich plötzlich ein Bogen aus strahlendem silbernem Licht. Es war ein Torbogen in die Finsternis. Misht wusste, dass es dort auch einen goldenen Pfad geben musste, doch die Fuhrwerke verstellten ihm den Blick darauf.

Shandral winkte den Kutschen, und langsam setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung. Einige der Pferde scheuten und mussten mit Gertenhieben durch das Tor gerieben werden. Wenn alle Schläge nicht halfen, verband man ihnen die Augen, und ein Diener führte sie am Zügel ins Nichts.

Wagen um Wagen verschwand durch das Tor. Dann folgten in Dreierreihen die Armbrustschützen. Schließlich war nur noch Shandrals Kutsche auf dem weiten Platz. Hinkend kehrte der Fürst zurück. Nossew riss ihm den Verschlag auf.

»Lass es damit gut sein«, flüsterte Misht beschwörend.

Der Kutscher ließ seine Peitsche über die Köpfe der Pferde knallen. Nossew warf den Verschlag zu. Dann sprang er auf das Trittbrett, und die Kutsche verschwand durch das Silbertor.

Misht wartete, bis der Zauber vergangen war und der Platz verlassen im Mondlicht lag. Bis zuletzt hatte er gehofft, Nossew werde es sich noch anders überlegen und durch das Tor zurückkehren, bevor es sich schloss. Doch der Dickschädel hatte andere Pläne.

Ein verlorener Soldatenstiefel, der in einer Pfütze lag, war alles, was von Shandrals Haushalt zurückgeblieben war.

Misht kletterte vom Wetterhahn herunter und stieg vorsichtig von der Dachkuppel. Es war an der Zeit, nach Melvyn zu suchen.

Lebendes Silber

Ganda betrachtete voller Widerwillen die silberne Hand, die vor ihr auf einem blauen Samttuch lag. Sie war ein Kunstwerk, das ließ sich nicht bestreiten. Ihr Stumpf war mit einer breiten Lederkappe bedeckt, wie der Stumpf, in dem Gandas Arm endete.

»Nun komm schon«, sagte Rika. »Berühr sie. Sie beißt dich schon nicht.« Ganda sah die Hexe skeptisch an. »Ich habe nicht um diese Hand gebeten.« Breitnase, der Mausling, trat auf das Samttuch und hakte die Daumen in seine Weste. »Weißt du, wie viel Arbeit das war? Als du schliefst, habe ich deine Hand genau vermessen. Ich kenne sie wahrscheinlich besser als du selbst. Die Schwielen, die Wirbel auf deinen Fingern, das geschwollene Gelenk an deinem Ringfinger und die alte Narbe an der Handkante. Ich habe deine Knochen vermessen.« Ganda überlief ein Schaudern. »Wie geht das, wenn noch Fleisch an meinen Fingern ist?« Breitnase grinste frech. »Ein Geheimnis meiner Zunft.«

»Was genau war deine Zunft? Es ist mir wieder entfallen.«

Der Mausling schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich habe es dir nie gesagt. Ich bin ein Entmangler.«

»Entmangler? Was soll das sein?«

»Er ist ein Zauberer und dazu einer der begabtesten, die ich kenne«, mischte sich Rika mit ihrer samtenen Stimme ein.

Es war ein Wunder, dachte Ganda, wie man so hässlich sein konnte, dass sich selbst Hühneraugen geschlossen hätten, um dem Anblick zu entgehen, und zugleich mit einer solchen Stimme beschenkt war. Fast mochte man meinen, die Schöpfung habe im letzten Augenblick versucht, wieder etwas gutzumachen.

Breitnase schüttelte den Kopf. »Ich bin kein besonderer Magier. Ich versuche Mängel zu beheben. Manchmal glückt es mir, die Welt ein klein wenig besser zu machen.«

»Ach, er ist viel zu bescheiden«, erwiderte Rika. »Vergiss seine Größe. Wenn Körpergröße etwas mit Können zu tun hätte, dann müsste er ein Riese sein. Ich selbst habe gesehen, wie er für einen verletzten Schmetterling einen Flügel aus lebendem Silber erschaffen hat. Und er konnte wieder fliegen. Du hättest das sehen sollen, Ganda. Es war einfach wunderbar! Er ist geflogen, als habe ihm nie etwas gefehlt.«

»Mit einem Flügel aus Silber?«, hakte die Lutin nach. »War der denn nicht viel zu schwer?«

»Lebendes Silber, Ganda. Lebendes Silber! In ganz Albenmark gibt es höchstens eine Hand voll Alchimisten, die dieses Metall erschaffen können.«

»Ach, ein bedeutender Alchimist ist er auch noch«, murmelte die Lutin.

Breitnase zuckte mit den Schultern. »Du musst die Hand nicht annehmen. Sie ist ein Geschenk. Ich glaube, sie ist eines der besten Werkstücke, die ich je gefertigt habe.«

»Wie kann man nur so undankbar sein!«, fluchte Rika.

»Hast du denn gar kein Feingefühl? Weißt du, dass Breitnase in den letzten beiden Tagen kein Auge zugetan hat, weil man die Arbeit am lebenden Silber nicht einen einzigen Augenblick ruhen lassen darf, bevor sie vollendet ist? Sonst verdirbt nämlich das Werk. Das Metall wird hart, der Zauber verfliegt, und alles war vergebens.«

Ganda betrachtete wieder die Hand. »Was soll das heißen, das Metall wird hart?«

»Berühr die Hand, dann wirst du es wissen«, sagte der Mausling sanft.

»Na los, mach schon«, drängte Rika. »Ohne Breitnase wärst du nicht einmal zu mir gekommen und würdest noch immer draußen den Wald voll bluten. Er ist der Mutigste unter allen Bewohnern Yaldemees. Die anderen haben sich ausnahmslos verkrochen, als sie deinen Elfen gesehen haben. Zum Fürchten hat er ausgesehen in diesem blutbesudelten Gewand. Sie haben geglaubt, die Trolle wären schon im Herzland. Nur Breitnase hat sich deinem Elfen gestellt. Er hat den Mangel an Gastfreundlichkeit behoben und euch beide hierher gebracht. Und das war gut so. Und jetzt solltest du dich als Entmanglerin versuchen und deine Schwächen in Sachen Höflichkeit ausbügeln, auch wenn du eine Lutin bist. Nimm die Hand und sieh dir Breitnases Arbeit an.«

Die beiden schafften es tatsächlich, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, dachte Ganda ärgerlich. Sie wollte nicht unhöflich sein. Doch die Silberhand machte ihr Angst. Bisher hatte sie es vermieden, den Stumpf ihrer Hand auch nur anzusehen. Sie war einfach noch nicht bereit, sich dem zu stellen. Am liebsten hätte sie einfach in der Schilfhütte gelegen, vor sich hin gestarrt und die Welt verflucht. Ollowain hatte sie hier einfach abgeladen, als er sie nicht mehr gebraucht hatte. Und das Buch hatte er ihr auch gestohlen. Wütend dachte sie an das, was Rika ihr erzählt hatte. Dieser Mistkerl! Er hatte ihr das Buch genommen und drohte ihr mit dem Scharfrichter der Königin. So war er fein raus. Er hatte die Gesetze Iskendrias nicht gebrochen, und sie war eine bestohlene Diebin, die den Henker fürchten musste, wenn sie zu Emerelles Burg ging, um Gerechtigkeit zu fordern.

Bestimmt hatte Emerelle ihren falschen Helden reichlich belohnt. In Melianders Buch stand sicherlich alles aufgeschrieben, was die Königin wissen musste, um die Yingiz zu vertreiben. Ganda hatte seine Macht spüren können. Dieses Buch war gefährlich. Gefährlich genug, die Schatten zu vernichten, denen sonst nichts gewachsen schien. Und wenn die Heldentat vollbracht war, dann konnte sie vermutlich froh sein, wenn sie als Fußnote in dieser Geschichte vorkam. Die arme verkrüppelte Lutin ... Wie war auch gleich der Name der bestohlenen Diebin? Eine Witzfigur war sie geworden, weil sie so dumm gewesen war, dem Schwertmeister zu vertrauen.

In den letzten beiden Tagen hatte Ganda oft an die Geschichte des Meisterdiebs Cabak gedacht. Jeder in ihrem Volk kannte sein Schicksal. Was Cabak widerfahren war, hätte ihr eine Lehre sein sollen, sich nicht mit Emerelle einzulassen!

»Ganda?«, fragte der Mausling leise. »Soll ich später noch einmal wiederkommen? Möchtest du lieber allein sein?«

Die Lutin seufzte. Rika hatte schon Recht. Sie war es Breitnase schuldig, sich die Hand wenigstens anzusehen. Man sollte schließlich nicht von ihr sagen können, sie sei undankbar wie eine Elfe. Immer noch zögerlich streckte sie die Hand aus.

Das Silber fühlte sich warm an. Lebendig. Ungläubig hob sie das Kleinod vom Samttuch. Es war, als gebe sie jemandem die Hand! Das Silber gab leicht unter ihrem Druck nach, ganz so, wie eine Hand aus Fleisch und Sehnen es getan hätte.

Zutiefst verunsichert sah sie Breitnase an. »Das ist wirklich Silber?« Man sah dem Mausling den Stolz auf seine Arbeit an.

»Das war einmal Silber. Ich habe mit sehr reinem Silber meine Arbeit begonnen und verschiedene andere Metalle hinzugefügt. Und Magie. All mein Wissen über Anatomie steckt darin. Im Inneren der Hand gib es genaue Nachbildungen jedes Handknochens. Sehnen und Muskeln habe ich auch nachgebaut. Es gibt feine Seilzüge und Winden aus Draht, den ich aus Silberstahl gezogen habe. Der einzige Unterschied zu deiner richtigen Hand besteht darin, dass du mit der Silberhand wesentlich kräftiger zupacken kannst. Und ... nun ja, du wirst kein Gefühl in der Hand haben. Kein Schmerzempfinden und kein Gefühl für Hitze oder Kälte.«

Ganda legte die Hand zurück auf den Samt. Sie streckte ihre Rechte daneben aus und verglich die Kunsthand mit der Hand, die ihr geblieben war. Sie scheute davor zurück, dass etwas künstlich Erschaffenes etwas natürlich Gewachsenes ersetzen sollte. Die kurze Zeit in Rikas Hütte hatte sie schon gelehrt, wie hilflos man in den banalsten Dingen plötzlich war, wenn eine Hand fehlte. So hatte sie die Verschnürung ihres Kleides nicht mehr mit einer Schleife schließen können. Wie ein Kind musste sie um Hilfe bitten, wenn sie sich anziehen wollte! Das empfand sie als demütigend, auch wenn Rika ihr gerne half.

»Du weißt, dass wir Lutin gut darin sind, die Gestalt von Tieren anzunehmen. Was geschieht, wenn ich mich verwandele?«

Breitnase kratzte sich hinter dem Ohr. »Ja, das war in der Tat ein großes Problem. Es hat mich viele Stunden gekostet, eine Lösung zu finden. Wie du weißt, umgibt alles Lebendige eine Aura. Wenn die Hand eins mit dir geworden ist, wird sie auch mit deiner Aura verschmelzen. Ich glaube, sie wird sich mit dir verwandeln! Ganz sicher kann man das aber erst wissen, wenn wir es versucht haben. Ich habe mich da in neue Bereiche vorgewagt. Bisher musste ich noch nie ein künstliches Glied erschaffen, das sich auch noch in der Form verändern musste.«

Ganda hatte ein flaues Gefühl im Magen. »Was heißt, wenn es eins mit mir geworden ist?« Der Mausling zog die Schutzkappe vom Stumpf der Hand, sodass sie Drähte und die in Silber nachmodellierten Knochen erkennen konnte. Ganda war überrascht zu sehen, dass die Hand hohl war. Sie hatte sich massiv angefühlt.

»Wenn ich die Hand auf deinen Stumpf aufsetze, wirke ich einen Zauber, der Knochen, Muskeln und Sehnen mit dem lebenden Silber verbindet. Die Prothese wird so beweglich sein wie eine Hand aus Fleisch und Blut. Du könntest Flöte mit ihr spielen oder Harfe. Der Augenblick der Verschmelzung ist schmerzhaft. Rika kann dir gewiss eines ihrer wunderbaren Zaubermittel geben, um den Schmerz zu lindern. Nach zwei oder drei Tagen sind die Schmerzen dann völlig verschwunden. Aber im Augenblick der Verschmelzung werden einige Drähte tief in dein Fleisch eindringen. Das lebende Silber wird eins mit dir werden.«

Die Vorstellung, dass sich Drähte wie Würmer tief in ihren Arm fressen würden, hatte etwas Abstoßendes. Die Lutin betrachtete die Hand mit neuem Widerwillen. »Kann man die Hand wieder abnehmen, wenn ich nicht mit ihr zurechtkomme?«

»Tja«, Breitnase wich ihrem Blick aus. »Also, dir ist klar, dass die Hand wirklich eins mit dir wird, wenn ich sie anlege. Sie abzunehmen ... Das wäre wie eine Amputation. Man müsste ein Messer nehmen.« Er zupfte verlegen an seiner Nase. »Aber du solltest dir nicht solche Gedanken machen, Ganda. Es hat mich noch nie jemand darum gebeten, eine Pothese aus lebendem Silber wieder abzunehmen.«

»Hast du was zu trinken, Rika? Etwas Richtiges. Einen starken Schnaps oder schweren Wein.« Als Rika sich erhob, purzelte die kleine Jadeechse von ihrer Schulter, die sie mit einer Strähne ihres Haars angebunden hatte. Hilflos ruderte sie mit ihren Beinen in der Luft. »Du hast dich also entschieden«, sagte die Hexe mit warmer Stimme.

»Ich habe mich entschieden, es dem Schicksal zu überlassen. Wenn du genügend Schnaps hier in der Hütte hast, um mich sturzbesoffen zu machen, dann nehme ich die Hand. Und wenn nicht ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann hat das Schicksal eben anders entschieden.«

»So große Angst hast du?«, fragte Rika mitfühlend.

Ganda konnte den Blick ihrer Reptilienaugen nicht ertragen und wandte sich ab. Aber Rika hatte Recht. Sie hatte Angst. Angst vor den Schmerzen. Angst davor, was es bedeutete, ein Krüppel zu sein. Angst, dass die Silberhand an ihr hing wie ein Mühlstein um den Hals, wenn sie versuchte, sich zu verwandeln.

Die Hexe zog einige Schilfmatten zur Seite, und ein großer Holzdeckel kam zum Vorschein. Sie klopfte mit der flachen Hand auf das Schloss und murmelte etwas. Rostige Angeln kreischten wie ein Falke im Sturzflug. Wie von Geisterhand schwang der Deckel auf. Rika hatte offensichtliche eine große Kiste im Boden eingegraben. Leise vor sich hinmurmelnd, kramte sie darin herum. Sie warf ein Bündel Amulette heraus. Ein knapp geschnittenes schwarzes Kleid, einen großen verbeulten Hut und etliche dünne Hefte aus vergilbtem, billigem Papier.

Ganda beugte sich vor. Eines der Hefte kam ihr bekannt vor. Sein Einband war ganz zerfleddert. Ungläubig las sie den Titel.

Wider die Spiel- und Trunksucht

Streitschrift des ehrwürdigen Elija Glops, Begründer der Liga zur Wahrung der inneren Größe Albenmarks

Die Lutin griff nach den anderen Heften und las die Titel. AUF WELCHER SEITE STEHST DU?, GEBOREN ZU HERRSCHEN?, VON DER DIALEKTIK DER OHNMACHT, KOBOLDE ZUM LICHTE EMPOR und HALT STAND, TAPFRES ROTMÜTZENBLUT. Sie alle waren von Elija Glops verfasst.

»Rika!« Breitnase war bis zur Kiste zurückgewichen.

»Was?« Die Hexe richtete sich auf. In jeder Hand hielt sie eine verkorkte Flasche. Die kleine Echse war in ihr Haar zurückgeklettert und lauerte über ihrer Stirn.

»Sie hat die Hefte gesehen.«

Rika stellte ruhig die Flaschen ab. Während sie falsch lächelte, kramte sie mit der Linken in der Kiste weiter. »Kannst du eigentlich lesen, Herzchen?«

Ganda lachte auf. »Ob ich lesen kann? Die meisten dieser Hefte kenne ich nicht. Sie sind neu. Aber dieses hier ...« Sie hielt ein besonders abgegriffenes Exemplar hoch. »Das ist mir wohl vertraut! Ich habe für Elija die Druckfahnen von WIDER DIE SPIEL- UND TRUNKSUCHT korrigiert.«

»Elija Glops macht keine Fehler!«, sagte Breitnase entrüstet, und Rika sah sie auf eine Art an, dass es Ganda kalt den Rücken hinablief.

»Hör mal, Rika. Ich weiß nicht, was ihr beiden habt, aber ich kenne Elija Glops gut. Wirklich gut ...« Sie zögerte. Vielleicht war es klüger, nicht zu verraten, wie nahe sie sich einmal gestanden hatten.

»Wirklich gut?«, fragte Rika lauernd.

»Ja. Ich ... Ich kenne seine ganze Familie. Wir sind auf denselben Hornschildechsen geritten. Und seinem kleinen Bruder habe ich die Windeln gewechselt.«

»Sprichst du von Kommandant Nikodemus?« Fast hätte Ganda losgelacht, aber Rika hatte etwas an sich ... So wie sie von dem Rotzlöffel Nikodemus gesprochen hatte, würde sie wohl als Nächstes behaupten, der hätte niemals in die Hosen geschissen. Was, um alles in der Welt, war passiert, seit sie Iskendria verlassen hatten? Warum kannte eine Hexe, die in einer Schilfhütte hauste, Elija und Nikodemus? Und wie kam sie an die Schriften von Elija?

»Ich war einmal die Pfadfinderin von Elija. Ich habe ihn durch das goldene Netz geführt.«

»Ach, und warum hast du ihn verlassen, Herzchen?«

»Von Verlassen kann keine Rede sein! Ich habe eine Freundin besucht, die kurz vor der Niederkunft stand. Da hat mich Emerelle auf ihr Schloss bestellt. Sie hat mir befohlen, den Elfen, der mich hierher gebracht hat, bei einer Mission zu begleiten.«

»Und du hattest nichts Besseres zu tun, als Emerelle zu gehorchen?«, fragte Rika entrüstet. »Weißt du nicht, dass sie die große Knechterin ist? Sogar dein Elf hatte Angst vor ihr. Und der sah nicht so aus, als gebe es vieles, wovor er sich fürchtet. Warum kennst du Schriften nicht, die mehr als zehn Jahre alt sind, wenn du Elija und seiner Sippe so nahe stehst?«

»Rika«, sagte Breitnase vorsichtig. »Ich glaube, sie und der Elf haben sich gründlich auf den Albenpfaden verlaufen. Der Elf hat mir ganz komische Fragen gestellt. Ich glaube, sie waren so etwa vierzehn Jahre fort.«

Ganda traute ihren Ohren nicht. »Wie lange waren wir fort? Vierzehn Jahre?«

»Na, da kann man wohl von Glück sagen, dass du schon lange nicht mehr die Pfadfinderin des großen Elija Glops bist. Man stelle sich einmal vor, Elija würde für vierzehn Jahre auf den Albenpfaden verschwinden. Nicht auszudenken!«

»Da war eine Falle«, sagte Ganda, immer noch ganz benommen von der Auskunft, wie lange sie fort gewesen war. Sie dachte an den Zauber, der wohl verborgen in den Albenpfad, der nach Iskendria führte, eingewoben war. Wer das Tor dort ohne Argwohn öffnete, der würde ihn nicht einmal bemerken. War es dieser Zauber, der ihr die Jahre gestohlen hatte? Für Unerfahrene war es gefährlich, sich durch das goldene Netz zu bewegen. Ging man durch mindere Albensterne oder machte einen Fehler, wenn man ein Tor öffnete, dann wurde man in die Zukunft davongetragen. Das lernte jeder Pfadfinder, noch lange bevor zum ersten Mal über den Torzauber gesprochen wurde. Aber sie hatten in Iskendria einen großen Albenstern geöffnet. Der Weg hätte sicher sein müssen! Hunderte Male war Ganda durch das goldene Netz gewandert. Nie war ihr ein Fehler unterlaufen!

»Elija hat mir immer blind vertraut«, sagte sie und leckte sich nervös die Schnauze. Wer hatte die Macht, einen Albenpfad zu manipulieren? Und noch dazu auf eine Art, dass es kaum auffiel!

»Rika«, sagte Breitnase aufgeregt. »Auf den ersten Seiten von KOBOLDE ZUM LICHTE EMPOR schreibt der große Elija vom Roten Schlüsselchen. Sie hat immer ein rotes Kleid getragen. So ein Kleid, wie Ganda es anhat. Er beschreibt es.«

Die Lutin schluckte. Sie war überrascht, wie sehr es sie berührte, von einem Fremden mit dem Kosenamen angesprochen zu werden, den Elija ihr vor vielen Jahren gegeben hatte. Das war eine Marotte von ihm gewesen. Allen, die ihm wichtig waren, hatte er einen neuen Namen gegeben. Meistens hatten sie mit ihren besonderen Eigenschaften zu tun gehabt. Sie hatte er Schlüsselchen genannt, weil sie für ihn die Tore zu den Albenpfaden geöffnet hatte, wenn er wieder eine lange Reise gemacht hatte. Auf seine Art hatte Elija sie wohl wirklich geliebt.

»Der große Elija hat geschrieben, dass sie das rote Schlüsselchen auf Burg Elfenlicht verschleppt haben, in die finsteren Kerker der großen Knechterin.«

»Mich hat niemand verschleppt!«, stellte Ganda energisch klar.

Der Mausling zupfte sich aufgeregt an der Nasenspitze.

»Nein, nein, das verstehst du nicht. Sie sind sehr durchtrieben. Oft merken wir gar nicht, was sie mit uns machen. Aber der große Elija kennt alle ihre Schliche. Ihn können sie nicht hinters Licht führen.« Breitnase lief zu dem Heft auf dem Boden und tanzte aufgeregt darauf herum. »Das solltest du lesen. KOBOLDE ZUM LICHTE EMPOR gehört zu den älteren Schriften. Elija schreibt dort viel über seine frühen Weggefährten. Du wirst alles verstehen, wenn du es liest, Rotes Schlüsselehen.«

Und der war einer der größten Magier, dachte Ganda bei sich. Sie hob das Heft auf. Was Elija wohl über sie geschrieben hatte? Er hatte schon früher die sonderbare Gabe gehabt, dass die Leute ihm einfach alles glaubten.

Die Lutin blätterte in dem Heftchen. Einzelne Sätze sprangen sie an. Wir alle sind Albenkinder! Warum behandeln die Elfen uns dann nicht wie ihre Brüder und Schwestern? Warum sind wir ihre Diener, wenn wir Kinder derselben Eltern sind? Wacht auf, ihr Unterdrückten! Niemand wird zum Sklaven geboren! Doch wird euch auch niemand die Ketten nehmen, wenn ihr es nicht selbst tut. So lange wir dienen, stärken wir die Macht, die uns den Rücken beugt.

Ganda konnte sich nur schwer der Macht seiner Worte entziehen. Vielleicht hatte er ja Recht? Sie dachte an Ollowains Verrat. Sie hätte es besser wissen müssen! Emerelle zu dienen war ein Fehler. Keinem Kobold ist je aus dem Umgang mit den Elfen etwas Gutes erwachsen, hatte Elija immer gesagt. Und was sie anging, war er wahrlich ein Prophet gewesen.

Rika schlug die schwere Klappe der Truhe zu. »Bist du das Rote Schlüsselchen?«

»Ich war es einmal. Was ich jetzt noch bin, weiß ich nicht mehr.«

»Du bist meine Schwester, Kommandantin!«

»Kommandantin? Ich war nie eine Kommandantin!«

»Doch, doch, Schlüsselchen. Alle frühen Weggefährten des großen Elija sind Kommandanten geworden. Es steht dir zu, diesen Rang einzufordern, Schwester.«

»Und warum bin ich deine Schwester?«, fragte Ganda entnervt.

Breitnase hakte die Daumen in die Weste ein und platzte fast vor Stolz. »Weil ich zu den Rotmützen gehöre, genau wie Rika. Kommandant Nikodemus hat uns aufgenommen, als er vor zwei Jahren in Yaldemee war.«

Ganda schwirrte der Kopf. Das war ihr zu viel. Sie kannte Nikodemus als einen schusseligen jungen Lutin, der sich kaum in einen Hasen verwandeln konnte. Und Elija war ein Weltverbesserer gewesen, der unermüdlich über die Knechtschaft der Koboldvölker schwadronierte, den man aber eher belächelte, als dass man ihn ernst nahm. Die ganze Welt schien plötzlich auf den Kopf gekehrt zu sein!

»Wisst ihr denn, wo Elija jetzt ist?«

Breitnase wollte schon etwas sagen, aber Rika stieß ihn mit dem dicken Zeh an, und er purzelte quer über die Schilfmatten.

»Der große Elija schläft nur selten zwei Nächte am selben Ort. Er hat viele Feinde dort draußen. Die Elfen erkennen langsam, dass wir ihre Lügen durchschauen. Es ist noch gar nicht lange her, da hat der Fürst von Arkadien unsere Schwester Martha aufgespürt. Sie hieß 'die Eiserne' und war die Kommandantin der Rotmützen in Feylanviek. Als Shandral von Arkadien ihren geheimen Namen herausfand, ließ er sie in seine Schmieden schleppen. Er verspottete sie, indem er sagte, dass man verbogenes 'Eisen' unter den Schmiedehämmern wieder in Form bringen könne. Sie ist einen grausamen Tod gestorben.«

»Kommandant Skorpion wird sie rächen!«, sagte Breitnase voller Überzeugung.

Rika zog eine Grimasse. »Es hieß immer, die Eiserne und der Skorpion seien ein Paar. Wo war er, als sie ihn gebraucht hätte?«

»Bestimmt hatte er den Befehl, seine Tarnung nicht aufzugeben.«

»Das Leben ist nicht so romantisch, Breitnase. Ich glaube eher, dass der Skorpion zwei Herren dient.«

»Und das befürchtest du auch bei mir, weil ich so lange bei den Elfen war«, mischte sich Ganda ein.

Rika musterte sie mit ihrem Reptilienblick. »Dein Ollowain ist eigentlich kein übler Kerl für einen Elfen. Auf seine Art ist er geradezu ein Rebell. Er hat viel für dich getan, als er ...«

Ganda hob ihren Armstumpf. »O ja, er hat viel für mich getan. Er hat mich belogen und bestohlen. Er hat mich ausgenutzt. Du selbst hast mir das alles gesagt. Warum sollte ich noch der Sache der Elfen dienen?«

»Du hast freiwillig den Befehlen Emerelles gehorcht, Ganda, und das stellt dich in kein gutes Licht. Und was immer du über Ollowain denkst, er hat dich zunächst hierher gebracht und alles dafür getan, dass du gut versorgt bist. Dann erst ist er zur Königin gegangen. Im Übrigen bin ich der Überzeugung, dass du, wenn du wirklich die Kommandantin Schlüsselchen bist, auch ohne unsere Hilfe zum großen Elija finden wirst.«

Ganda atmete tief aus. Rikas Misstrauen war nicht ganz unbegründet. Wahrscheinlich hätte sie sich an Stelle der Hexe ganz ähnlich verhalten. Sie würde zum Schwarzen gehen. Beim Gedanken daran, dass man ihn jetzt wahrscheinlich auch Kommandant nannte, musste sie schmunzeln. Der Schwarze war der dickste Kobold, der ihr jemals begegnet war. Er lebte in Talsin und war Elijas Drucker. Er wusste immer, wo Elija sich aufhielt, weil der Lutin sich ständig irgendwelche Druckfahnen schicken ließ. Zumindest war es früher so gewesen.

Ganda betrachtete die Hand, die auf dem Samttuch lag. Wenn sie ihr früheres Leben wieder aufnahm, dann würde sie ihre beiden Hände brauchen.

»Bruder Breitnase, ich bin bereit für deinen Zauber.«

Der Mausling strahlte. »Du wirst sehen, Kommandantin, deine neue Hand wird besser als deine alte sein.«

Rika reichte ihr eine der Schnapsflaschen, die sie aus der verborgenen Truhe geholt hatte. »Du solltest einen Schluck trinken. Es wird wehtun.« »Das muss ich dann wohl aushalten. Ich wünsche, dass ihr mich zum nächsten Albenstern bringt, sobald die Hand mit mir verschmolzen ist.«

»Du wirst sehr geschwächt sein. Das ist nicht klug, Ganda«, wandte die Hexe ein.

»Ich habe mehr als vierzehn Jahre verloren. Elija kann nicht noch länger warten. Ich muss ihn wiedersehen.«

»Vergiss deine Zweifel«, sagte Breitnase ergriffen. »Hast du das gehört, Rika? So spricht nur eine wahre Kommandantin. Sie ist eine Heldin.«

Die Hexe hob die Silberhand auf und löste die Schutzkappe über Gandas Armstumpf. »Dafür, dass du vierzehn Jahre verloren hast, hast du es verdächtig eilig. Was zählt da noch ein Tag oder zwei? Und was den Elfen angeht, rate ich dir, frage dein Herz nach der Wahrheit. Ich hoffe, das hast du nicht zugleich mit deiner Hand verloren. Worte legen sich manchmal wie ein Schleier vor die Wirklichkeit. Sie blenden den Verstand. Das Herz zu täuschen ist schwieriger. Das ist meist unser eigenes Werk. Und nun beiß die Zähne zusammen und setz dich, sonst kommt Breitnase nicht an deinen Stumpf heran.«

Ollowains Versprechen

Der Schwertmeister zog den Vorhang zur Seite. Blasse Lichtfinger tasteten in das Zimmer. Nardinel kniete noch immer neben Obilee. Die Heilerin zitterte vor Erschöpfung.

Kalte Wut packte Ollowain, als er die vielen blutigen Fußabdrücke sah. Sie hatten die Elfe einfach zur Seite gezogen und das Zimmer ausgeräumt. Dabei waren sie immer wieder durch die große Blutlache gelaufen.

Es war ein Wunder, dass Obilee noch lebte! Der Armbrustbolzen hatte sie in einem glücklichen Winkel getroffen und war am Schädel entlanggeschrammt. Sie hatte sehr viel Blut verloren. Wären sie nur eine halbe Stunde später gekommen, wäre es vermutlich zu spät gewesen. Der Kobold, der Melvyn benachrichtigt hatte, hatte Obilee das Leben gerettet.

Ollowain machte sich Vorwürfe, weil er nicht in Erwägung gezogen hatte, dass Shandral flüchten könnte. Und er machte sich Vorwürfe, weil er sich überhaupt dazu hatte hinreißen lassen, die Intrige um den vermeintlichen Unfall des Fürsten zu spinnen. Das Lügen und Ränkeschmieden war nicht seine Welt! Aber Shandral kannte sich damit gut aus, wie er wohl alle dunklen Seiten der Seele ausgelotet hatte. Natürlich hatte der Fürst durchschaut, was auf dem Festplatz wirklich geschehen war. Jedenfalls beinahe, denn er ging gewiss davon aus, dass man ihm nach dem Leben getrachtet hatte. Dabei war es Ollowain nur darum gegangen war, ihn mit einem gebrochenen Arm oder Bein für jene Verbrechen zu bestrafen, die sich der Gerechtigkeit elfischer Gesetze entzogen.

Nardinel erhob sich. Ihr Gesicht wirkte eingefallen, und ihre Haut war fast durchscheinend. »Sie wird es überleben. So etwas habe ich noch nie gesehen. Der Armbrustbolzen hat eine tiefe Furche durch den Knochen gezogen, und das auf einer Länge von mehr als einer Hand. Aber er ist nicht durchgeschlagen. Sie wird schlimme Kopfschmerzen haben, wenn sie erwacht. Wahrscheinlich wird sie sich auch an den vergangenen Abend nicht mehr erinnern können. Aber sonst wird von der Wunde nichts zurückbleiben. Ich habe den Knochen wieder hergestellt und die Wunde geschlossen.« Die Heilerin lächelte müde. »Für eine Kriegerin war sie mir sehr zart erschienen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Dickschädel. Wenn du von deinem Feldzug zurückkehrst, wird sie wahrscheinlich schon wieder herumlaufen und jeden Rat von mir, sich zu schonen, in den Wind schlagen.«

Melvyn war die ganze Zeit über unruhig im Zimmer auf und ab gegangen. »Sie war hier, nicht wahr?« In den Holzdielen des Bodens konnte man die Abdrücke von Bettpfosten sehen. Warum Shandral das ganze Bett hatte mitnehmen lassen, war Ollowain schleierhaft. Es fehlten zwar auch andere Möbel im Haus, aber keine Betten. Auf einer hastigen Flucht belastete man sich doch nicht mit so etwas! Auch waren draußen im Flur offensichtlich Vorhänge abgenommen worden. Kein einziger Kobolddiener war zurückgeblieben, der ihnen Antwort geben konnte, was in den letzten Stunden im Stadtpalast vor sich gegangen war. Sogar die Kobolde, die in der Schmiede am Wehr gearbeitet hatten, waren verschwunden.

»Warum hängen hier überall diese grässlichen Masken?« Melvyn ballte die Hände zu Fäusten. »Ich wünschte, ich hätte diesen Mistkerl aufgeschlitzt. Ich ...« Tränen der Wut standen ihm in den Augen. »Ich war in der Schmiede. Ich hab sie mir angesehen. Warst du einmal dort, Ollowain? Hast du die Hämmer gesehen?«

»Wir werden ihn finden. Und wir werden auch Leylin wieder finden.«

»Schöne Worte! Wölfe schützen die Schwächsten im Rudel. Und wir ... Wir finden schöne Worte. Wer weiß, was er Leylin noch alles antun wird? Ich kann doch nicht hier sitzen und ...«

»Was willst du stattdessen tun? Wo willst du sie suchen?«, fuhr Ollowain ihn an. »Glaubst du, Shandral ist so dumm und flüchtet in seinen Fürstenpalast? Das wäre ja wohl der erste Ort, an dem du ihn suchen würdest. In Arkadien hat seine Familie dutzende großer Landhäuser. Und das ist nicht alles. Er ist ein Schüler Alathaias gewesen. Er könnte auch irgendwo in Langollion sein. Seine Meisterin würde ihm gewiss Zuflucht gewähren. Durch das goldene Netz kann er an hunderte von Orten gelangen, von denen wir nicht einmal ahnen, ob er dort vielleicht Freunde hat. Wie willst du ihn finden? Dir bleibt keine andere Wahl, als zu warten, bis du Nachricht von deinem Gefährten Nossew erhältst. Und da er kein Zauberer ist und die Pfade der Alben nicht aus eigener Kraft beschreiten kann, wird es Wochen dauern, bis du von ihm hörst.«

»Du willst nur, dass ich mit dir komme«, sagte Melvyn voll kalter Wut. »Das ist alles, worum es dir geht, nicht wahr? Du willst nicht noch mehr Krieger verlieren.«

»Du bist in der Tat sehr wichtig, Melvyn. Ich brauche dich, um die Späher der Trolle aufzuspüren und daran zu hindern, Nachrichten zu ihrem Heer zu bringen. Vor allem am letzten Tag, wenn wir dem Mordstein schon sehr nahe sind. Ihr könnt viele Leben retten, wenn ihr mir helft. Ich hatte auf dich vertraut. Natürlich kannst du auch deine Männer und deine Adler nehmen und nach Shandral suchen. Ich glaube zwar nicht, dass du ihn finden wirst, aber ich werde dich nicht zwingen, mir zu dienen. Shandral hat fünfhundert Armbrustschützen mitgenommen, die unser Heer gebraucht hätte. Deine Kriegerschar ist kleiner, aber nicht weniger bedeutsam. Geh Leylin suchen, und viele werden mit ihrem Leben dafür bezahlen. Das wird Blut sein, das nicht Shandral vergossen hat, sondern du. Du erzählst doch gern von deinem Wolfsrudel. Würde ein einzelner Wolf für eine aussichtslose Jagd sein Rudel verlassen? Würde er das ganze Rudel gefährden? Sag es mir! Ich weiß nur wenig über Wölfe.«

Die langen Stahlkrallen glitten aus Melvyns Armschienen. Der Elf starrte auf die barbarischen Waffen. Ganz langsam hob er die rechte Krallenhand.

Nardinel stellte sich schützend vor Obilee, die bewusstlos am Boden lag.

Melvyns Rechte zitterte. Der Stahl berührte seinen nackten Oberarm. Vier blutige Furchen blieben zurück. »Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen ... Sie nicht und mein Rudel auch nicht. Ich kann nicht ...« Wieder schnitten die Krallen in seine Haut. Der Stahl drang nicht tief ein, doch die Wunden bluteten stark.

»Melvyn. Tu das nicht! Wir brauchen dich stark und gesund, hörst du. Ich werde noch heute eine Botschaft an Emerelle schicken. Sie wird Shandral seine Herrschaft nehmen. Wir werden ihn finden. Glaub mir, Melvyn! Nach der Schlacht ...« Er stockte. Er durfte sich nicht noch tiefer in Lügen und Intrigen verstricken. Für ihn gab es kein nach der Schlacht mehr. Er hatte kein Recht, Melvyn irgendetwas zu versprechen. »Ich werde dir helfen, so lange ich mein Schwert führen kann«, sagte er mit flauem Gefühl.

Der Elf blickte auf. Er hatte die Augen seiner Mutter. Wolfsaugen! »Wir werden Shandral gemeinsam jagen?«

»So lange mich meine Beine tragen, das schwöre ich dir.« Ollowain fühlte sich erbärmlich.

Melvyn sah zu ihm auf, und all seine Seelenqual lag in seinem Blick. »Ich hätte niemals zu ihr gehen dürfen. Ich ... Ich wünschte, ich wäre ein Mann wie du. Der Ritter der Königin, der ehrenhafteste Krieger Albenmarks. Ich will dein Schüler sein, Ollowain. Lehre mich zu sein wie du.«

Jedes der Worte traf den Schwertmeister wie ein Dolchstoß. Einen Augenblick war er unfähig zu antworten. Endlich brachte er ein trockenes Ja hervor.

Melvyn schob die Krallen zurück. »Ich vertraue dir. Ich ... Es ist ... Ich fühle mich so schuldig. Weißt du, anfangs ...« Er senkte den Blick. »Es war ein Spiel, um das endlose Warten abzukürzen. Ich weiß, was man sich über mich erzählt ... Aber ich liebe sie wirklich. Ich kann es nicht ertragen, daran zu denken, was Shandral ihr angetan hat. Es ist ein Gefühl, als reiße man mir mit glühenden Zangen das Fleisch vom Leib. Ich ... Bitte hilf mir! Ich kämpfe für dich. Ich werde jeden deiner Befehle befolgen. Aber hilf mir, sie von Shandral fortzuholen.«

Ollowain konnte darauf nicht antworten. »Sorge dafür, dass deine Männer bereit sind. Die ersten Späher sollen schon heute Mittag aufbrechen.«

Melvyn wartete einige Herzschläge, ob er noch mehr sagen würde. Als nichts kam, nickte er enttäuscht und wandte sich zum Gehen.

»Schick uns zwei Krieger mit einer Trage, damit wir Obilee in mein Quartier bringen können«, rief Nardinel ihm hinterher.

Sie hörten seine schweren Schritte auf den Holzdielen. Dann war er fort, ohne ihr geantwortet zu haben. »Ich hole die Träger.«

Die Heilerin hielt Ollowain zurück. Sie sah ihn durchdringend an. Ahnte sie etwas? »Er wird uns helfen«, sagte sie ruhig.

»Aber du wirst Leylin für ihn nicht retten können.«

Der Schwertmeister räusperte sich. »So«, war alles, was er hervorbrachte.

»Diese Helme«, fuhr Nardinel flüsternd fort. »Ich kenne sie. Die Wachen Alathaias tragen solche Tiermaskenhelme. Shandral lässt in seinen Schmieden die Rüstungen und Waffen für die Streiter seiner Meisterin fertigen. Aber dieses Zimmer war mehr als nur eine Kammer, in der man die Meisterwerke seiner schwarzen Schmiedekunst ausstellte. Hast du es gerochen?«

Ollowain nickte knapp. Hatte sie sein falsches Versprechen vielleicht doch nicht durchschaut? Wie sollte sie ahnen, dass er den Tod suchte! »Der Geruch ... Ja. Opium, nicht wahr? Shandral hat es ihr wohl gegeben, um ihre Schmerzen zu lindern.«

Nardinel sah ihn traurig an. »Glaubst du, ein Mann, der seinem Weib mit Schmiedehämmern die Knie zerschmettern lässt, würde ihr danach Opium geben, damit sie die Schmerzen besser ertragen kann?«

Ollowain breitete hilflos die Hände aus. »Shandral ist verrückt. Meinem Verstand verschließt sich, was in seinem Kopf vorgeht. Vielleicht hat er seine Untat bereut? Vielleicht liebt er Leylin immer noch?«

Nardinel sah unschlüssig zur Tür hinüber. Dann bückte sie sich zu Obilee und überprüfte den Verband an ihrem Kopf.

»Sag Melvyn nicht, was ich dir jetzt anvertraue. Er würde das nicht verkraften. Aber du solltest es wissen, bevor ihr beide eine Suche beginnt, die nur in Blutvergießen und Wahnsinn münden kann. Ich fürchte, Shandral genügt es nicht, Leylins Leib zu zerstören. Wenn sie stirbt, geht sie entweder ins Mondlicht, oder aber sie wird wiedergeboren. Mit dem Leben streift sie alles ab, was man ihrem Körper angetan hat. Deshalb will Shandral ihre Seele verletzen. Er will ihr etwas antun, das sie in alle weiteren Leben verfolgt, die ihr vielleicht noch bestimmt sind. In der Kammer roch es nicht nur nach Opium. Man hat dem Opium auch weißen Weihrauch beigemischt. Richtig dosiert verursacht er starke Halluzinationen. Stell dir vor, wie Leylin hilflos im Bett liegt, schwer verletzt und außer Stande, ihr Zimmer zu verlassen. Ihre Sinne sind vom Räucherwerk benebelt. Und überall an den Wänden hängen diese Masken. Sie wird keine Helme gesehen haben. Für sie waren diese Fratzen lebendig. Vielleicht hat sie sie sogar flüstern hören. Er will Leylin in einem Ausmaß zerstören, das du dir nicht einmal vorstellen könntest, Ollowain. Es wäre besser gewesen, sein Pferd hätte ihn zu Tode gequetscht.«

Der Schwertmeister wollte das nicht hören. Was konnte er noch tun? Er würde die Gräfin Caileen zu sich befehlen. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, Melvyn bei seiner Suche zu helfen. Sie musste ihren Fürsten doch kennen. Der Adel hatte sich von Shandral abgewandt. Sie wäre gewiss eine gute Verbündete.

»Ich sehe jetzt selbst nach Trägern für eine Bahre«, sagte Nardinel, als er zu lange geschwiegen hatte.

Ollowain betrachtete die junge Elfe. Sie lag reglos da. Ihr Haar war von Blut verklebt. Wenigstens war sie dem Abgrund entronnen, der sich hier aufgetan hatte. Wenn auch nur knapp.

Obilees Augenlider flatterten. Sie sah ihn an. Erkannte ihn. Ihre Pupillen waren winzige Punkte. Die Lippen der Elfe bewegten sich. Ollowain beugte sich vor, dennoch konnte er ihre Worte kaum verstehen. »Ich habe sie gesehen ... Ihre Beine ...«

»Shandral wird dafür zur Verantwortung gezogen, was er getan hat. Ich weiß, was du ...« Obilee sah ihn mit schreckensweiten Augen an. Sie bot all ihre Kraft auf, um ihm etwas mitzuteilen. »Die Beine ...«, sagte sie noch einmal. Dann wurde sie wieder ohnmächtig.

Willkür

Emerelle saß allein in ihrem Thronsaal und betrachtete in Gedanken versunken die silbern funkelnden Wasserkaskaden, die in niemals versiegendem Strom die Wände hinabrannen. Seit er gegangen war, dachte sie nur noch an ihn. Sie zürnte ihm noch immer. Aber sie versuchte auch, ihn zu begreifen. Warum hatte er das getan? Wusste er nicht, wie bedeutend er für Albenmark war? Er war unersetzlich! Und das nicht nur für Albenmark ...

Ollowain kannte die Gesetze der Bibliothek. Er hätte das Buch nicht stehlen dürfen. Er wusste, welche Konsequenzen er dafür zu tragen hatte. Auch wenn der Schwertmeister das Gegenteil behauptete, war sie sich ganz sicher, dass es die Lutin gewesen war, die das verbotene Buch an sich genommen hatte. Aber gefangen in seine Ideale von Ritterlichkeit, musste er sich schützend vor Ganda stellen. Dabei war sie doch nur eine unbedeutende Lutin. Die Welt würde ihren Verlust verkraften ... Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr setzte sich in Emerelle die Überzeugung fest, dass Ollowain sie zu eben diesen Gedanken hatte führen wollen. Vielleicht nicht als bewusste Entscheidung Es war die Art, wie er die Welt sah, die in diesem unlösbaren Konflikt gipfeln musste. Wie viel waren Emerelles hehre Ansprüche an eine gerechte Herrschaft wert, wenn es letztlich doch keine Sicherheit für den Einzelnen gab? Gut, Ganda hatte wirklich gegen Gesetze verstoßen. Sie wäre zu Recht verurteilt worden. Aber Emerelle war auch bewusst geworden, dass sie bereit gewesen wäre, Ganda zu opfern, selbst wenn sie nicht die Diebin gewesen wäre. So war ihre Herrschaft. Gut erinnerte sie sich, wie sie Obilee vor Jahren erklärt hatte, dass sie als gute Herrscherin einer größtmöglichen Menge von Untertanen das größtmögliche Glück schenken wolle. Das bedeutete in letzter Konsequenz die Aufhebung aller Gesetze, an die sie sich so gern klammerte. Niemand konnte sich in einer Welt sicher fühlen, in der die Herrscher dieser Maxime folgten. Es war egal, ob Ganda schuldig war oder nicht. Wenn sie die Lutin an die Hüter des Wissens auslieferte, wäre deren Ruf nach einem Blutgericht Genüge getan. Und die Welt brauchte Ollowain mehr als die Lutin. Er war der einzige Feldherr, der die Trolle vielleicht aufhalten konnte. Siegten sie, dann bedeutete das tausende Tote, brennende Städte und endloses Leid. Trotz der Warnung in Melianders Buch hatte sie die Zukunft weiterhin in der Silberschale betrachtet. Sie hatte die endlosen Flüchtlingsströme in der Steppe und auf den Pässen der Mondberge gesehen. Das brennende Feylanviek und all die Toten. War Gerechtigkeit diesen Preis wert? Wog das Leben der Lutin so schwer wie all das? Sie kannte die Antwort. Es ging nicht nur um die Lutin. Das hatte Ollowains Verhalten ihr klar gemacht. Niemand in Albenmark konnte sich mehr sicher fühlen, wenn sie über die festgeschriebenen Gesetze noch eine ungreifbare, höhere Gerechtigkeit setzte. Ganda war der Anfang. Doch jeder konnte jederzeit wie sie zum Opfer werden, wenn die abstrakte höhere Gerechtigkeit das erforderte. Jede gerechte Herrschaft wäre damit ad absurdum geführt.

Emerelle hatte nur schwer der Versuchung widerstanden, Ganda mit Hilfe der Silberschale zu suchen. Wenn es stimmte, was Meliander auf den letzten Seiten seines Buches geschrieben hatte, dann hätte die Silberschale sie gewiss zu der Lutin geführt. Und die Schale hätte Bilder gezeigt, die es Emerelle leichter gemacht hätten, die Koboldfrau zu verurteilen.

Die Königin hatte sich Ollowains Willen gefügt, die Lutin aus dieser Sache herauszulassen. Er und seine verfluchte Ritterlichkeit ...

Er hatte sich auch schützend vor sie gestellt. Seine klare Art hatte sie immer fasziniert. Sein Festhalten an den Grundsätzen der Gerechtigkeit. All das waren Eigenschaften, die ihn zu dem Mann machten, der seit Jahrhunderten ihr Herz gefangen hielt, obwohl er sie in seinen Reinkarnationen nie als seine frühere Liebe wiedererkannt hatte. Und nun schickte sie ihn auf den Richtblock! Sie, die ...

Das hohe Tor des Thronsaals schwang auf. Meister Alvias trat ein. Distinguiert wartete er am Tor darauf, dass sie ihn anblickte und zu sprechen aufforderte.

»Nun?«

»Reilif, Hüter des Wissens in der Bibliothek von Iskendria, ist eingetroffen und wünscht eine Audienz, Herrin. Soll ich ihn hereinbringen?«

Die Königin nickte. Sie hatte eine verzweifelte letzte List ersonnen, um Ollowain zu retten. Es war ein Spiel mit den Gesetzen. Aber was sie tat, tat sie in bester Absicht. Und sie würde sich dabei an das niedergeschriebene Recht halten.

Wenig später geleitete Alvias eine Gestalt in langer schwarzer Kutte in den Thronsaal. Das Gesicht des Hüters des Wissens blieb im Schatten seiner Kapuze verborgen. Er blieb respektvolle zehn Schritt vor dem Thron stehen. Der Hofmeister blieb an seiner Seite. »Ihr wisst, weshalb ich komme, Herrin?«

»Ja. Mich verwundert allerdings, dass du so spät kommst.«

»Ich bin den Dieben sofort gefolgt, Herrin.«

Emerelle stutzte. Reilif hatte fünfzehn Jahre gebraucht. War ihm das nicht klar? Sie entschied, dieses Wissen zunächst für sich zu behalten. »Du kommst wegen des Buches Die Wege der Alben, das mein Bruder Meliander verfasst hat.«

»So ist es, Herrin. Ich fordere Gerechtigkeit. Den beiden Dieben war klar, welche Gesetze in der Bibliothek gelten und welche Strafe sie erwartet, wenn sie unsere Schriften stehlen. Iskendria steht jedem offen, und in aller Regel erlauben wir unseren Besuchern, Abschriften von jedem Text zu fertigen, den sie zu sehen wünschen. Doch gegen den Diebstahl von Büchern gehen wir mit aller Härte vor.«

»Verwehrt ihr euch mit derselben Vehemenz dagegen, Diebesgut in euren Bücherschatz aufzunehmen? Oder gilt diesbezüglich zweierlei Maß in Iskendria?«

Reilif hob ruckartig den Kopf. Jetzt konnte Emerelle sein Kinn und seinen schmalen, verkniffenen Mund sehen. Die obere Gesichtshälfte blieb weiterhin im Schatten der Kapuze verborgen. »Solltest du einen Vorwurf gegen die Hüter des Wissens erheben wollen, möchte ich dich bitten, ein wenig konkreter zu werden, Herrin.«

Emerelle wusste, seit sie das Buch ihres Bruders gelesen hatte, dass sie dem Kobold Cabak, seinem treuen Diener, Unrecht getan hatte. Sie hatte ihm nicht geglaubt, als er seine Unschuld beteuert hatte. Sie erinnerte sich auch, dass sie damals zornig darüber gewesen war, dass ein Dieb, den sie mit einem Teil seiner Beute gestellt hatte, es immer noch gewagt hatte, so vehement auf seiner Unschuld zu bestehen. Jetzt würde sie Cabak, der seit vielen Jahrhunderten tot war, ein zweites Mal Unrecht tun. Doch es geschah, um den Lebenden zu dienen. »Die Wege der Alben wurde von meinem Bruder Meliander verfasst. Nach seinem Tod hat man das Buch gestohlen. Dieses Buch hätte niemals nach Iskendria gelangen dürfen. Oder ist der Wissensdurst der Bibliothekare nun so groß, dass man sich zum Hehler von Diebesgut macht?«

Reilif räusperte sich und zog eine Schriftrolle aus dem weiten Ärmel seiner Kutte. »Ich bin erschüttert, einen solchen Vorwurf aus deinem Munde zu hören, Herrin. Und deine Worte treffen mich umso mehr, da ich den Verdacht hege, dass du das Ansehen der Bibliothek beschmutzt, um einen wirklichen Dieb vor seiner gerechten Strafe zu bewahren. Würdest du deiner Herrin bitte dieses Schriftstück bringen, Alvias. Es dokumentiert unseren rechtmäßigen Anspruch auf das Buch Die Wege der Alben.«

Der Hofmeister brachte ihr wortlos die Schriftrolle. Emerelle öffnete das Dokument. Schon der erste Blick verriet ihr, dass es tatsächlich in der Handschrift ihres Bruders verfasst war. Er erklärte, dass Die Wege der Alben ein Geschenk an die Bibliothek von Iskendria sei.

Die Königin atmete schwer aus. Meliander musste das kommen gesehen haben. Wie konnte er nur diese Urkunde verfassen, wenn er den Bildern der Silberschale nicht mehr traute? Um Fassung bemüht, rollte Emerelle das Pergament zusammen und reichte es Alvias, der wartend neben ihrem Thron stand.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Reilif. Die späteren Untaten des Lutin Cabak haben meinen Blick für die Wahrheit verstellt.«

»Ich hoffe, dass nicht auch dein Blick für Gerechtigkeit verstellt ist.«

»Hüte deine Zunge!«, sagte Alvias scharf. »Niemand beleidigt ungestraft unsere Herrin!«

»Lass es gut sein, mein Freund.« Emerelle war überrascht, dass Reilif sich zu einer solchen Frechheit hatte hinreißen lassen. Er erinnerte sie in diesem Augenblick an eine der Allegorien auf den Tod, die man zuweilen als Illustration in alten Handschriften fand. Eine hagere, gesichtslose Gestalt in schwarzer Kutte, die reglos hinter den Lebenden lauerte und wartete.

»Ich habe ein schriftliches Geständnis des Schwertmeisters Ollowain. Er hat das Buch aus Iskendria entwendet, weil er der Meinung war, dass es dort nicht in Sicherheit sei. Er berichtete mir von einigen Morden, die wohl begangen wurden, um jemanden zu finden, der das Buch zu öffnen vermag.«

»Seine Beweggründe interessieren mich nicht«, entgegnete Reilif kühl. »Auch sein Status ist nicht von Belang. Ich fordere seine Auslieferung oder aber, dass hier in Albenmark das Urteil vollstreckt wird, das über ihn verhängt wurde.«

»Ihr habt schon ein Urteil.« Emerelle war ebenso überrascht wie schockiert. »Wie konntet ihr wissen, ob er es war? Und wie konntet ihr ein Gericht einberufen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, zu euren Anschuldigungen Stellung zu beziehen?«

»Wenn er einen Brief hinterlassen hat, in dem er sich selbst als den Dieb des Buches Die Wege der Alben bezichtigt, dann haben wir uns wohl nicht geirrt. Und was das Urteil angeht, haben wir in das Dokument noch keinen Namen eingetragen. Das werde ich nun nachholen, wenn du mir Tinte und Feder bringen lässt.« Reilif holte eine zweite Schriftrolle hervor, diesmal aus dem anderen Ärmel seiner Kutte. »In Anbetracht seines Ranges hat Ollowain wohl ein Recht darauf, durch Schwert oder Beil gerichtet zu werden. Würdest du mir den Dieb bitte vorführen lassen, Herrin, damit ich ihm das Urteil der Hüter des Wissens verkünden kann?«

»Ich fürchte, das ist im Augenblick nicht möglich. Der Schwertmeister befindet sich in Feylanviek. Er versammelt dort die Heere Albenmarks für eine Schlacht gegen die Trolle.«

»Dann musst du Krieger schicken und ihn festnehmen lassen, Herrin.«

Emerelle faltete die Hände und legte sie in ihren Schoß. Sie dachte an den Bericht, den Elodrin ihr über die Vorfälle während des Festes der Kentauren geschickt hatte. »Ich fürchte, du verkennst die Lage, Reilif. Nicht einmal ich hätte die Macht, ihn inmitten seiner Truppen festnehmen zu lassen. Diese Krieger sind bereit, sich für Ollowain in Stücke hacken zu lassen. Ihren Feldherrn aus ihrer Mitte zu holen, ist unmöglich.«

»Bist du sicher, dass du noch die Herrin Albenmarks bist, Emerelle?«, fragte der Hüter des Wissens scharf.

»Ist es klug, das herausfinden zu wollen, indem du mich beleidigst?« Emerelle erhob sich und klatschte in die Hände. Das Tor zum Thronsaal schwang auf, und Wachen erschienen auf der Schwelle. »Der Hüter des Wissens möchte zu seiner Kammer begleitet werden.«

Reilif hob drohend die zweite Schriftrolle. »Es gibt einen Vertrag zwischen dir und Iskendria. Darin hast du dich verpflichtet, unser Recht anzuerkennen, und uns Beistand versprochen, wenn wir Flüchtigen nachsetzen. Ich fordere die uns verbriefte Unterstützung ein, Herrin! Oder gelten Gesetze und Verträge in Albenmark nicht mehr?«

»Ich erkenne das Urteil der Hüter des Wissens an. Und ich werde Ollowain verhaften lassen, sobald er ins Herzland zurückkehrt. Als Königin bin ich dem Recht verpflichtet, selbst wenn meine Gäste sich nicht dem Gesetz der Höflichkeit verpflichtet fühlen. Ist deinen Forderungen damit Genüge getan, Reilif?«

Der Hüter des Wissens verbeugte sich steif. »Mit deiner Erlaubnis werde ich verweilen, bis man Ollowain an mich ausliefert, Herrin.«

»Zu den Gesetzen der Gastfreundschaft gehören neben Rechten auch Pflichten, Reilif. Ich ermahne dich, dich an deine Pflichten zu erinnern, sonst erlöschen auch deine Rechte. Du hast mein Wort als Königin, dass Ollowain an dich überstellt wird, sobald er das Herzland betritt. Und er soll in dieser Halle vor seinen Henker geführt werden. Ich akzeptiere das Todesurteil über den Schwertmeister als gültig, auch wenn ich die Art, in der euer Tribunal Urteile in Abwesenheit der Angeklagten fällt, als äußerst fragwürdig empfinde. Ich werde meine Schreiber und Rechtsgelehrten beauftragen, die Verträge mit Iskendria zu überprüfen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie für die Zukunft aufzukündigen. In deinen Forderungen und deinem Auftreten kann ich nicht mehr den Geist jenes Iskendria entdecken, mit dem Albenmark sich einst verbunden fühlte. Du darfst nun gehen, Reilif.«

Der Hüter des Wissens blieb ungerührt stehen. »Ich fordere das Buch zurück, das uns gestohlen wurde.«

Emerelle spürte die Wärme des Albensteins auf ihrer Brust. Das Rauschen des fallenden Wassers war lauter geworden. Feine Gischt sprühte in den Thronsaal. »Du wirst das Buch zusammen mit dem Kopf des Schwertmeisters erhalten. Und nun erlaube ich dir, dich zurückzuziehen.«

Der Hüter des Wissens verbeugte sich erneut. Vor der hohen Tür verharrte er. Ohne sich umzudrehen, sprach er. »Wenn ich den Thron besteige, dann bin ich in Fesseln aus Papier geschlagen. Es sind die Fesseln der Gesetze Albenmarks, und mögen sie euch auch schwach erscheinen, so binden sie mich fester als jeder Stahl, denn würde ich sie nicht achten, hieße meine Herrschaft Willkür, und ich wäre es nicht wert, weiterhin das Szepter Albenmarks zu führen. Erinnerst du dich an diese Worte, Emerelle? Du hast sie an jenem Tag gesprochen, als du zum ersten Mal auf den Thron gewählt wurdest. Sie stehen niedergeschrieben in den Geschichtsbüchern Iskendrias. Gelten sie noch für dich? Oder haben Jahrhunderte der Herrschaft das Papier deiner Fesseln zu Staub zerfallen lassen?«

Emerelle gab sich nicht die Blöße, darauf zu antworten. Die Wachen führten Reilif ab, der keinen weiteren Widerstand leistete. Seine Worte hatten sie zutiefst getroffen. Hatte er Recht? War ihre Herrschaft Willkür geworden? Oder waren es die Jahrhunderte, die den Geist der Gesetze unter Bergen von Papier erstickt hatten? Wie hatte es geschehen können, dass Recht und Gerechtigkeit nicht mehr übereingingen?

Emerelle trat an das Stehpult, das hinter der hohen Lehne ihres Throns verborgen stand. Eilig brachte sie ein paar Zeilen zu Papier, die ihr das Herz diktierte, auch wenn sie sich bemühte, dass die Worte nicht allzu verräterisch waren. Sorgsam faltete sie die Botschaft und siegelte sie. Dann trat sie zu Alvias. »Diese Nachricht muss Ollowain erreichen!«

»Das Heer marschiert bereits, Herrin. Es wird schwer sein, zu ihnen durchzukommen. Wenn du gestattest, werde ich höchstpersönlich dein Bote sein.«

Emerelle nickte. »Ich danke dir. Noch ein zweiter Bote muss in dieser Stunde aufbrechen. Er soll Alathaia aufsuchen und der Fürstin von Langollion ausrichten, dass es mir eine Freude wäre, sie als meinen Gast begrüßen zu dürfen.«

»Alathaia«, sagte Alvias. Den deutlich gesprochenen Namen noch einmal zu wiederholen, war die einzige versteckte Kritik, die er sich erlaubte. Nichts an seiner Miene, dem Tonfall seiner Stimme oder seiner Körperhaltung verriet seine Gedanken.

»Ja, Alathaia«, wiederholte Emerelle. Sie wusste, was es hieß, die Herrscherin über Langollion um Hilfe zu bieten, doch ihr blieb keine andere Wahl mehr.

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Herrin.« Alvias verneigte sich und verließ mit eiligen Schritten den Saal.

Das Wasser tröpfelte nur noch in dünnen Rinnsalen von den Wänden. Fröstelnd rieb sich Emerelle die Arme. Sie hatte die papiernen Fesseln abgestreift. In dieser Nacht hatte die Willkür Einzug gefunden in den Thronsaal.

Der Vormarsch auf den Mordstein

»... Auch mit dem Abstand von Jahrhunderten muss der schnelle Schlag, den der Schwertmeister Ollowain im dritten Trollkrieg gegen das Heerlager am Mordstein führte, als beispielhaft gelten. Weniger als drei Tage lagen zwischen dem Beginn der Planung und dem Aufbruch der Truppen, die den Überfall durchführen sollten. Der Verband bestand aus circa 8000

Kentauren, 1754 Mann schwerer elfischer Reiterei, 382 Streitwagen aus Arkadien sowie 281 Kutschen, auf denen Ausrüstung und circa 1200 Koboldarmbrustschützen und etliche Torsionsspeerschleudern transportiert wurden. Des Weiteren waren 412

Minotauren sowie 587 berittene elfische Bogenschützen, bei denen es sich mehrheitlich um Normirga handelte, an der Operation beteiligt, sowie eine Spähertruppe, zu der neben mehreren Schwarzrückenadlern sogar ein Lamassu gehörte. Trotz der beachtlichen Größe dieser Streitmacht war das Heer der Trolle den Verbündeten immer noch um etwa das Fünffache überlegen.

Um einen überraschenden Schlag zu führen, marschierten die Verbündeten bei Nacht. Ein Schirm von Spähern deckte die meilenlange Marschkolonne. Falkner ließen ihre Greifvögel aufsteigen, um Raben und andere Vögel, die Trollen als Kundschafter dienen mochten, vom Himmel zu vertreiben. Die Schwarzrückenadler konnten unter Führung des Maurawan Melvyn alle Späher der Trolle stellen, die sich dem Heerzug näherten. Der Augen ihres Heeres beraubt, wären der junge Trollkönig Gilmarak und seine Beraterin Skanga wohl dem Untergang geweiht gewesen, hätte es nicht einen Verräter unter den Verbündeten gegeben. So aber kannten die Trolle nicht nur Tag und Stunde des Angriffs, sie wussten sogar um die genaue Zusammensetzung der Truppen Albenmarks. Und sie waren bereit, als das Heer der Verbündeten am dritten Morgen, nachdem es Feylanviek verlassen hatte, aus dem trockenen Flussbett des Myra hinaus auf die Ebene südlich des Mordsteins marschierte. Sie hatten einen Plan ersonnen, wie das ganze Heer Albenmarks zu vernichten war....«

Vom Krieg mit den Trollen,

von: Caileen, Gräfin zu Dorien,

Talsiner Goldschnittausgabe, s. 603

Von der Logik des Krieges

Ollowain war auf einen flachen Hügel geritten, der sich dicht neben dem ausgetrockneten Flussbett erhob. Er blickte nach Osten. Bald würde sich der erste Silberstreif am Himmel zeigen. Es war der Augenblick des Zwielichts, in dem das Ringen zwischen der Nacht und dem neuen Tag noch nicht entschieden war. Die Dunkelheit wich zurück, doch noch zeigte sich die Sonne nicht. Die Wagen und Reitertruppen hatten die Schwalben aufgeschreckt, deren Bruthöhlen in dem gegenüberliegenden Steilufer verborgen waren. Wie schwarze Sicheln zogen sie über die Reiter hinweg.

Graf Fenryl lenkte sein Pferd den Hügel hinauf. Sein Gesicht war aschfahl. Wie die meisten Hauptleute hatte er nur wenig geschlafen. Der Marsch nach Norden war besser geglückt, als Ollowain zu hoffen gewagt hatte. Sie hatten das Ende des Flusstals Stunden früher erreicht, als geplant war. So war den Truppen Zeit für eine letzte Rast geblieben, auch wenn wohl kaum jemand geschlafen hatte.

»Schwertmeister?« Der Graf trug seinen Falken auf der linken Faust. Das Tier blickte Ollowain eindringlich an. Es hatte wunderschöne, bernsteinfarbene Augen.

»Schwertmeister, ich bin mit Schneeschwinge geflogen. Ihr Heerlager ... Es ist nicht, wie wir erwartet haben. Sie haben es verlegt.«

Ollowain hob eine Braue. Seit dem Aufbruch aus Feylanviek hatte er allen Spähern verboten, das Heerlager der Feinde zu überfliegen. Nichts sollte den Argwohn der Trolle wecken.

»Haben sie sich etwa zurückgezogen?«

»Nein, im Gegenteil. Sie sind nur knapp drei Meilen von uns entfernt. Das Lager bildet einen weiten Halbkreis, dessen Hörner auf die Flussmündung weisen. Man könnte meinen, sie erwarten uns.«

Ollowain stutzte, aber er war nicht ganz so überrascht, wie Fenryl vielleicht erwartet hätte. Schon an Emerelles Hof hatte es Gerüchte gegeben, Geschichten über eine verdeckte Revolte. Jemand unterstützte die Trolle. Er hatte das bei seinen Planungen berücksichtigt. Sie würden es schwerer haben, aber ein Sieg war noch möglich. »Wir werden trotzdem angreifen«, sagte er ruhig.

»Schwertmeister, sie bereiten sich auf uns vor. Wir haben sie nicht überrascht. Wir werden nicht in ihre Lager preschen, wie wir es geplant hatten. Sie werden uns in geordneten Schlachtreihen erwarten. Du kennst sie! Erinnere dich an Phylangan.«

»Vertraue mir, mein Freund. Ich erinnere mich an Phylangan. Und ich gebe eine Schlacht nicht verloren, die noch nicht einmal begonnen hat.« Ollowain spürte den Sanhalla in seinem Haar. Den Südwind, der von den Hängen der Berge blies. Er war ihr wichtigster Verbündeter. Und er hatte sich nicht gegen sie gewandt.

»Bei allem Respekt, Feldherr, aber was du planst, ist kein Kampf, sondern ein Glücksspiel. Wenn die Trolle Schild an Schild stehen, dann sind sie wie eine hölzerne Mauer. Selbst die besten Reiter Albenmarks können nichts gegen sie ausrichten. Die Pferde werden scheuen und seitlich vor diesem Hindernis ausbrechen. Wenn die Trolle kaltherzig sind und stehen bleiben, obwohl ein Sturm aus Stahl ihnen entgegenprescht, dann haben wir verloren. Verlieren sie bei diesem Anblick den Mut, und ihre Schlachtreihe zerbricht, dann gibt es keinen Kampf, sondern ein Massaker. Wir beide wissen, dass den Trollen als Krieger mancher Makel anhaftet. Sie sind grausam und undiszipliniert. Nur eines sind sie gewiss nicht: Feiglinge! Sie müssen nur stehen bleiben, um zu siegen. Hoffen wir, dass sie das nicht wissen.«

»Ich verspreche dir, sie werden nicht stehen bleiben.« Fenryl setzte zu einer Antwort an, schüttelte dann aber doch nur den Kopf. »Du bist der Feldherr, Ollowain.«

»Fenryl, vertraue mir. Wir werden siegen. Und nun schick Boten nach den anderen Befehlshabern. Ich erwarte euch in einer halben Stunde auf diesem Hügel. Dann werde ich euch meinen vollständigen Schlachtplan vorstellen.«

Der Graf wendete ohne ein weiteres Wort sein Pferd und ritt davon. Auch Ollowain lenkte seinen Schimmel den Hügel hinab. Er ritt zu der langen Reihe von Kutschen, die aus dem Flussbett ausgeschert war und nun Aufstellung auf der Ebene nahm. Auf jeden fünften Wagen war eine Speerschleuder montiert. Ihre Geschosse mit den dreikantigen Stahlspitzen waren stark genug, einen Troll und dessen türgroßen Schild noch auf hundert Schritt zu durchschlagen. Doch es waren nicht diese Geschütze, die Ollowain so siegessicher machten. Er sah sich nach dem Kobold um, dem er das Kommando über die Wagen übertragen hatte. Dem Einzigen unter all seinen Kriegern, der vielleicht ahnte, was heute geschehen würde.

Auf den Wagenpritschen herrschte hektische Betriebsamkeit. Ollowain reckte sich im Sattel und sah sich nach Misht um. Melvyn hatte ihm den Kobold als vertrauenswürdig empfohlen. Misht war ein Handwerker gewesen, bevor er sich der Räuberbande des Wolfselfen angeschlossen hatte. Er verstand es zu organisieren.

Der Schwertmeister ritt die Front der Kutschen ab und bewunderte das Koboldvolk. Ein Troll war fast fünfmal so groß wie ein Kobold, und er wog wahrscheinlich mehr als das Zwanzigfache. Aber das schien die kleinen Krieger nicht zu beunruhigen. Die Kutscher saßen auf ihren Böcken, kauten Kautabak, schwatzten oder würfelten. Manche nahmen ein deftiges Frühstück aus Wurst, Käse und Zwiebeln zu sich. Sie alle wussten, dass sie heute gegen einen Feind antreten mussten, der sie einfach zerquetschen würde, wenn er bis zu ihren Reihen durchbrach. Aber wenn man sie in ihrer stoischen Ruhe so sah, musste man glauben, es sei ein Tag wie jeder andere. Sie störten sich auch nicht an der Anwesenheit des Feldherrn. Keiner sprang auf und salutierte oder nahm zumindest eine militärische Haltung ein. Einige der Kutscher nickten ihm zu. Das war alles. Ollowain schmunzelte. Mit dieser vermeintlichen Respektlosigkeit brachten sie Elodrin zur Weißglut. Aber der Schwertmeister wusste, er würde sich auf sie verlassen können, wenn die Schlacht begonnen hatte. Das war alles, was für ihn zählte. Er brauchte keine zackigen Paradekrieger. Er brauchte Kämpfer, die in besonnener Ruhe ihre Befehle ausführten, auch wenn rings um sie die Welt aus den Fugen zu geraten schien.

Eine keifende Stimme ließ Ollowain aufblicken. Ein Stück voraus hüpfte ein Kobold auf einer Wagenpritsche auf und ab und führte sich auf, als habe ihn die Tollwut gepackt.

»Keine Pfeife, du Missgeburt! Ich habe es euch allen oft genug gesagt! Was ist los mit dir? Hast du einen Arsch in deinem Schädel statt einem Hirn?«

Misht trampelte noch immer auf etwas herum, das Ollowain zwischen den großen bunten Seidenkugeln auf der Pritsche nicht erkennen konnte.

»Das wirst du mir büßen, du aufgeblasener kleiner Straßenräuber«, zischte der Kobold, mit dem Misht sich angelegt hatte. Der Kerl hatte ein erstaunlich breites Kreuz.

Ollowain sah, wie sich die Schultermuskeln spannten. Der Kerl hob die Fäuste. »Das war eine Meerschaumpfeife aus Vahlemer. Die war ein Vermögen wert, du Bastard.«

Misht spuckte ihm vor die Füße. »Heb eine Hand gegen mich, und ich schnitz dir aus deinem Schädel einen Pfeifenkopf!«

»Krieger«, mischte sich Ollowain ein. »Höre auf deinen Hauptmann. Dann werden wir heute siegen, und ich verspreche dir, aus Vahlemer wird man dir eine Pfeife schicken, auf der dein Name steht.«

Der aufsässige Kobold drehte sich um und sah ihn geringschätzig an. »Was soll ich mit einer Pfeife, auf der mein Name steht? Auf so eine Idee kann auch nur ein Elf kommen. Was bringt mir das an einsamen Abenden, meinen Namen anzuglotzen? Auf meiner Pfeife war ein Meermädchen, das hatte zwei Titten, da fielen dir die Augen aus dem Kopf. So eine Pfeife will ich!«

Ollowain lächelte. »Weißt du was? Wenn wir siegen, schicke ich dich auf meine Kosten nach Vahlemer in ein Hurenhaus am Hafen. Da kannst du dann solche Brüste einmal anfassen, statt dich in einsamen Nächten mit einer Pfeife zu vergnügen.«

Die Koboldkrieger rings herum brachen in grölendes Gelächter aus, während der Streithahn einen hochroten Kopf bekam.

Ollowain erhob die Stimme, sodass man ihn nun in weitem Umkreis hören konnte. »Ich weiß, dass es in diesem Heer viele Kentauren und Elfen gibt, die auf euch herabsehen. Von heute Abend an wird das anders sein. Ganz gleich welche Heldentaten meine Reiterscharen heute vollbringen: Ihr werdet es sein, die die Schlachtreihen der Feinde aufbrechen. Ihr werdet heute für Albenmark den Sieg erringen. Und so großmäulig all jene sein mögen, die auf einem Pferdearsch sitzen oder sogar selbst einen haben, sie werden im Herzen wissen, dass es die Kobolde waren, die heute die Trolle vom Feld gejagt haben. Ich vertraue auf jeden Einzelnen von euch. Macht mich stolz. Macht euch stolz! Siegt!« Wieder einmal wünschte sich Ollowain, er könnte Reden schwingen wie Lambi, der Heerführer seines Freundes Alfadas. Seine Worte hatten keinen allgemeinen Jubel bewirkt. Aber immerhin grinsten die meisten Kobolde, als sie sich auf den Kutschenpritschen wieder an ihre Arbeit machten.

»Seid ihr bereit?«

Misht rollte mit den Augen. »Ich warte immer noch darauf, dass einer auf einem Fass mit Lampenöl seine Pfeife ausklopft. Ich hätte ihnen sagen sollen, was da drin ist.«

»Nein. Lieber verliere ich eine Kutsche als die Schlacht, weil unsere Feinde ahnen, was auf sie zukommt.«

Der Kobold blickte zu dem kleinen Fass, das hinter der Kutschenpritsche festgezurrt war. »Das Zeug muss man nur scharf ankucken, dann geht es schon in Flammen auf. Und es qualmt wie ein asthmatischer Drache.«

»Wie sieht es mit den Glasflaschen aus?« Der Kobold zuckte mit den Schultern. »Wie du es vorhergesagt hast. War ‚ne holprige Fahrt. Mehr als die Hälfte liegt in Scherben. Aber mit dem Rest haben wir immer noch genug.«

»Ich vertraue auf dich«, sagte Ollowain ein wenig steif, dann zog er seinen Hengst herum und suchte nach Nestheus. Er hatte einen wichtigen Auftrag für Orimedes‘ Sohn, der den jungen Kentauren aus dem unmittelbaren Kampfgebiet bringen würde. Wahrscheinlich würde der Junge ihn dafür verfluchen, aber sein Vater hatte große Pläne mit ihm. Für die Zukunft des Windlands war es wichtig, dass er lebend nach Feylanviek zurückkehrte.

Der Gedanke hatte etwas Beklemmendes. Ollowain blickte nach Osten. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Wie ein feuerroter Ball hing sie über den Hügeln. Ihr Licht legte einen blassroten Schimmer auf die Rüstungen der Lanzenreiter, die er gerade passierte.

Der Schwertmeister atmete tief ein. Es roch nach Staub und zerstampftem Gras. Die Grillen hatten ihr morgendliches Konzert begonnen. Es würde ein heißer Spätsommertag werden. Sein letzter Tag. Der Elf schluckte. Er durfte sich nicht mit solchen Gedanken aufhalten. Das Leben hunderter Krieger hing davon ab, dass er seine Aufgaben als Feldherr so gut wie möglich meisterte. Er durfte sich jetzt keinen Gefühlsduseleien hingeben!

Wie erwartet sträubte sich Nestheus gegen den Befehl. Der junge Kentaur sah zwar ein, wie wichtig seine Aufgabe war, aber er wehrte sich verzweifelt dagegen, dass diese Pflicht ausgerechnet ihm übertragen wurde. Erst als Ollowain ihm damit drohte, ihm sein erstes Kommando wieder zu entziehen und ihn in Ketten legen zu lassen, fügte sich Nestheus. Der Schwertmeister hatte das Gefühl, dass der Junge einmal ein guter Anführer werden würde, auch wenn er ein wenig zu stur und aufbrausend war.

Als Ollowain zum Hügel zurückkehrte, von dem aus er den Aufmarsch des Heeres beobachtet hatte, fand er dort alle ranghohen Befehlshaber versammelt. Er setzte sie über die neue Lage in Kenntnis, dass die Trolle sie offenbar erwarteten, dann schilderte er den Teil seines Schlachtplans, den er bislang vor allen geheim gehalten hatte.

Als er endete, lag wieder Zuversicht in den Blicken seiner Gefährten. Elodrin verneigte sich vor ihm. »Schwertmeister, du bist auch ein Meister des Krieges. Wir werden durchbrechen! Wir werden sicherlich sogar bis zum Mordstein kommen und können die Festung besetzen. Dort werden wahrscheinlich nur Weiber und Gebrechliche sein. Es sollte leicht sein, ihren Widerstand zu überwinden.«

Ollowain sah den Seefürsten verwundert an. Eine der verlorenen Felsenburgen der Snaiwamark zurückzuerobern, war nie Teil ihrer Pläne gewesen. »Wir sind ein schnelles und schlagkräftiges Heer. Aber um eine Festung zu halten, fehlen uns die Fußtruppen. Außerdem wäre es für die Trolle ein Leichtes, die Besatzung des Mordsteins zu belagern und von jedem Nachschub abzuschneiden. Uns fehlen alle Mittel, um so eine Festung zu halten, selbst wenn wir sie erobern sollten.«

Elodrin lächelte überheblich. »Wie ich sehe, erkennst du doch nicht alle strategischen Notwendigkeiten dieses Krieges. Es geht nicht darum, eine Festung zu besetzen. Es geht um die Trollweiber dort. Wir sollten sie töten. Das wäre der schwerste Schlag, den wir den Trollen versetzen können. Denn von Niederlagen in Feldschlachten erholen sie sich viel schneller als wir von unseren Siegen.«

Der Schwertmeister war fassungslos. »Ich führe keinen Krieg gegen Weiber, Kinder und Alte.«

»Deine Ritterlichkeit in Ehren, Ollowain, aber ich glaube, du hast aufgrund deiner langen Abwesenheit noch nicht die Zeit gehabt zu verstehen, worum es in diesem Krieg wirklich geht. Seit die Trolle nach Albenmark zurückgekehrt sind, sind ihre Weiber außergewöhnlich fruchtbar geworden. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht jede von ihnen ein Kind bekommt. Als die Trolle versuchten, über die Albenpfade ins Herzland vorzustoßen, hat Emerelle tausende von ihnen getötet. Doch nun, gerade einmal fünfzehn Jahre später, sammelt sich in dieser Ebene ein Heer, das noch größer ist als jenes, das unsere Königin besiegte. Und wir Elfen haben immer noch nicht die Verluste ersetzen können, die wir in Vahan Calyd, Reilimee und Phylangan erlitten haben. Unsere Frauen gebären ein oder zwei Kinder in einem Leben, das nach Jahrhunderten zählt. Und wie lange dauert es, bis du einen Krieger ausgebildet hast, Ollowain? Jahrzehnte! Selbst wenn wir unter deiner Führung Sieg an Sieg reihen, werden wir keine Schlachten ohne eigene Verluste schlagen. Wir werden uns zu Tode siegen. Es gibt nur einen Weg, dieses Dilemma zu beenden. Wir müssen ihre Weiber töten. Nur so wird unser eigenes Volk überleben, Schwertmeister.«

Erschüttert sah Ollowain, wie Katander von Uttika und Ajax, der Minotaurenfürst, beifällig nickten.

»Wenn wir Frauen und Kinder ermorden, dann sind wir zu dem geworden, was wir ausgezogen sind zu bekämpfen, Elodrin. Ich erteile hiermit den ausdrücklichen Befehl, den Mordstein zu verschonen. Ich bin ein Krieger, kein Mörder!«

»Hehre Worte, Feldherr«, entgegnete der Fürst von Alvemer zynisch. »Ich sehe in dir einen lebenden Toten, denn wer sich der Logik des Krieges nicht unterwirft, der wird vernichtet werden. Auch ich fordere dich auf, noch einmal zu bedenken, wofür wir kämpfen! Was nutzt deine Ritterlichkeit, wenn sie uns daran hindert, diese Ungeheuer zu besiegen, die nach jeder Schlacht die Toten auf der Walstatt fressen, die in Höhlen hausen und deren Schamanen sich der Blutmagie ergeben haben. Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass die Trolle jemals den Thron Albenmarks besteigen. Alles!«

»Elodrin«, sagte Ollowain mit mühsam beherrschter Stimme.

»Hiermit entziehe ich dir als kommandierender Feldherr das Kommando über die Lanzenreiter. Du wirst den Befehl über die Nachhut übernehmen, deren Aufgabe darin besteht, ihre Stellung zu halten, um den schnellen Verbänden nach dem Kampf einen sicheren Rückzugsweg offen zu halten.«

Der Seefürst erbleichte. »Damit besiegelst du das Schicksal unseres Volkes. Ganz gleich, wie glorreich dein Sieg heute sein wird. Dein Weg wird uns alle in die Vernichtung führen. Nicht die Trolle werden die Schlächter unseres Volkes sein. Du bist es, Ollowain! Du allein!«

Glas und Seide

Mishts Hand klammerte sich um den Flaggenstock. Seit er sich Melvyn und dessen Kriegern angeschlossen hatte, hatte er in mehr als einem Dutzend Scharmützeln mit Trollen gekämpft. Er war kein Feigling! Aber das hier war etwas anderes. Was er sah, machte ihm Angst.

Das Land fiel in sanften Wellen zur Ebene hin ab. Die schweren Karren hatten auf einem Hügelkamm Stellung bezogen, sodass er einen guten Überblick hatte. Das Heer der Trolle stand etwas mehr als eine halbe Meile entfernt; wogende Staubschleier verhüllten es halb vor seinem Blick. Schild an Schild standen die Trolle in weitem Halbkreis und warteten. Vor ihnen preschte die Masse der Kentaurenkrieger parallel zu ihrer Front und schoss einen wahren Hagel von Pfeilen auf sie ab. Die Pferdemänner waren es, die den Staub aufwirbelten und den Trollen den Blick auf das Gelände vor ihnen nahmen. Die Geschosse der Kentauren richteten kaum Schaden an. Selbst über die weite Entfernung konnte Misht den Einschlag der Pfeile hören. Es klang wie dumpfes Klopfen. Die zollstarken Schilde der Trolle vermochten sie nicht zu durchdringen.

Hinter den Bogenschützen der Steppe warteten die in Bronze gewappneten Krieger des Katander von Uttika. Sie waren in Einheiten zu etwa hundert Mann eingeteilt. Ihre Aufgabe sollte es sein, durch die Reihen der Trolle zu brechen, sobald sich die erste Lücke auftat. Hinter ihnen, in einer Bodensenke verborgen, standen die Streitwagen Arkadiens. Lange stählerne Sicheln funkelten an ihren Radnaben. Jeder Wagen wurde von vier Pferden gezogen. Drei Krieger standen Seite an Seite in jedem der zerbrechlichen Gefährte, die wie der Wind über die Hügel der Steppe eilen würden. Ein Wagenlenker, ein Bogenschütze und ein Kämpfer mit einer Schwertlanze, die jeden treffen würde, der dem Wagen zu nahe kam. Bunte Seidenbanner, die an Schmetterlingsflügel erinnerten, wehten von den Wagen. Die Besatzungen in ihren prunkvollen Rüstungen mit federgeschmückten Helmen und kostbaren Umhängen sahen eher aus, als wollten sie zu einem Hofball gehen, dachte Misht. Elfen konnten sich einfach nie auf das Wesentliche beschränken. Aus allem mussten sie einen Maskenball machen!

Hinter den Streitwagen warteten die Lanzenreiter. Steigbügel an Steigbügel waren die Ritter nebeneinander aufgezogen. Fünf Reihen tief standen sie, jede Reihe mehr als dreihundert Reiter breit. Sie würden zuschlagen, wenn die Trolle versuchten, sich neu zu formieren.

Ein wenig vor ihnen waren die berittenen Bogenschützen abgesessen. Sie stellten Feuerkörbe auf, und als Misht dünnen, blaugrauen Rauch aufsteigen sah, hob er die Fahne, die er die ganze Zeit festgehalten hatte. Er schwenkte das Seidentuch über seinem Kopf hin und her. Einen Augenblick lang dachte er bedrückt, dass er es war, der das Inferno entfesselte. Sein Name würde nie in irgendeinem Geschichtsbuch stehen, aber er hatte das Signal gegeben, an diesem Tag mit dem Morden zu beginnen.

Überall entlang der Wagenreihe wurden Zündstöcke angesteckt. Manche Kobolde ließen sie wild über ihren Köpfen wirbeln, damit die Lunten hell aufglommen. Aus Hanf gedreht, waren die Lunten straff um schwer brennbare Eichenstäbe gewickelt. Man hatte die Schnüre in Kalisalpeter und giftigen Bleizucker getaucht, damit sie sehr langsam abbrannten. Ein unangenehmer, durchdringender Geruch ging von den schwelenden Lunten aus.

Misht stieg von der Pritsche herab, warf die Fahne achtlos aus dem Wagen und griff nach dem Zündstock, den sein Kutscher vorbereitet hatte. Dann kniete er neben der ersten Seidenkugel nieder. Schweiß rann ihm von den Schläfen. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Die Seide war auf dünne Drahtgeflechte aufgezogen, sodass sie große Kugeln formte, die am unteren Ende in einen Zylinder übergingen. Ein Stück unter dem Zylinder hing eine dünnwandige Flasche aus blauem Talsiner Glas in dem Drahtgeflecht.

Vorsichtig zog Misht den fein geschliffenen Glasverschluss aus der ersten Flasche. Dann schob er den Zündstock ganz langsam durch das weitmaschige Drahtgeflecht und den Flaschenhals, sodass die Lunte ins Innere der Flasche reichte. Mit einem Puff geriet die Oberfläche des Lampenöls in Brand. Es war eine besondere Ölmischung, mit der Ollowain die Flaschen hatte füllen lassen. Leicht entzündlich war sie, und beim Verbrennen entstand ein öliger, schwarzer Rauch.

Vorsichtig zog Misht die Lunte aus der Flasche. Der Rauch stieg in die Seidenkugel und färbte binnen Augenblicken den goldgelben Stoff schwarz. Die Seide knisterte leise, als sie sich erwärmte. Fast einen Schritt betrug der Durchmesser jeder Ballonkugel. Ungeduldig wartete Misht, bis die Glasflasche sanft schaukelnd von dem Seidenballon angehoben wurde. Der Kobold trug Lederhandschuhe, die er sich vom Kutscher geliehen hatte. Vorsichtig griff er nach dem Glas. Selbst durch das Leder hindurch spürte er die Wärme.

Behutsam hob er den Ballon an, damit die zarte Flasche nicht im letzten Augenblick noch gegen eine der niedrigen Holzwände schlug, von denen die Pritsche der Kutsche eingefasst war.

Dann spürte Misht, wie der Sanhalla nach der Seidenkugel griff. Der Südwind hob sie dem Himmel entgegen und ließ sie langsam zu den Reihen der Trolle schweben. Überall entlang der Linie der Kutschen stiegen rußgeschwärzte Seidenkugeln in den Himmel. Der Kobold wusste, dass es mehr als zweihundert waren.

Er blies auf die Lunte und kniete neben dem nächsten Ballon nieder. Sie hatten den Befehl, die Seidenkugeln so schnell wie möglich hintereinander in die Luft zu bringen.

Misht winkte dem Kutscher. »Du hast gesehen, was ich getan habe. Sobald er in der Luft schwebt, hebst du die nächste Kugel aus der Kutsche. Und stoße bloß nirgends mit dem Glas an.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, erklang ein gellender Schrei. Misht blickte über die Pritschenwand und sah, wie etwa hundert Schritt entfernt eine Kutsche in Flammen aufging. Eine Flammengestalt sprang vom Wagen und wand sich schreiend im Gras. Der Wind trug eine Fahne aus dichtem schwarzem Rauch den Hang hinab. Ein Minotaur eilte dem brennenden Kobold zu Hilfe. Er versuchte die Flammen mit einer Decke zu ersticken.

Schaudernd wandte Misht sich ab. »Pass bloß auf, was du tust«, ermahnte er den Kutscher.

Die Hand des Kobolds zitterte, als er die Lunte in die nächste Flasche einführte. Brennender Schweiß rann ihm in die Augen. Er blinzelte. Ganz vorsichtig zog er die Lunte heraus. Auch wenn er die Seide berührte, mochte ein Unglück geschehen. Der Stoff war trocken wie Zunder.

Er überließ es dem Kutscher, den Ballon in den Wind zu heben. Mit flatternden Nerven wandte er sich der nächsten Flasche zu. Weitere Schreie erklangen. Diesmal blickte er nicht mehr auf. Er wollte nicht sehen, was mit den Männern geschah, die unter seinem Kommando standen. Und er wünschte sich, Nossew wäre hier. Er vermisste seinen schweigsamen Gefährten. Ihn hatte immer eine Aura unerschütterlicher Ruhe umgeben. Nossew hätten gewiss nicht die Hände gezittert.

Leise klirrend schlug der Zündstab gegen die Flasche. Misht hielt den Atem an. Das Glas war heil geblieben. Zoll um Zoll zog er die Lunte unter dem Ballon hindurch. Dann lehnte er sich zurück und atmete schwer aus. Das war nichts für ihn! Drei Flaschen noch.

Verfluchte Elfen! Wie konnte man nur auf die Idee kommen, aus den Flakons, in denen reiche Weiber ihre Duftwässerchen verwahrten, und aus schillernder Seide Waffen zu machen? Was für die Schönheit geschaffen war, brachte nun Tod und Zerstörung.

Der Kobold wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und beugte sich zur nächsten Glasflasche hinab. Wieder begann er zu zittern.

Das Netz aus Rauch

»Was tun die Elfen da, Skanga?« Die Schamanin schnalzte abfällig mit der Zunge. »Elfentricks. Das versuchen sie immer, wenn sie unterlegen sind. Sorgen muss man sich nur machen, wenn sie so etwas nicht tun, denn dann halten sie sich für stark genug, um uns in einer ordentlichen Feldschlacht zu besiegen.«

»Diese Dinger sehen unheimlich aus.«

»Der Himmel ist voller schwarzer Kugeln, die langsam in unsere Richtung schweben«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.

Skanga legte dem Welpen ihre Hand auf die Schulter. Gilmarak, der junge König, war noch nicht einmal zehn Jahre alt. Er machte sich gut. Aber seit die Lutin ihr verraten hatten, dass die Elfen einen Überraschungsangriff planten, hatte die Schamanin kein Auge mehr zugetan. Emerelle hatte verloren. Daran konnte es keinen Zweifel geben! Höchstens zwei Jahre noch, dann würde sie vom Thron vertrieben sein. Doch immer wenn die Königin mit dem Rücken zur Wand stand, wurde sie besonders gefährlich. Sie war wie eine verwundete Schneelöwin, die ihre Jungen verteidigte, und man musste auf alles gefasst sein.

Skanga blickte zum Himmel, doch sie konnte die Dinge nicht sehen, die dort auf sie zukamen. Sie hatten keine Aura, und sie waren auch nicht von Magie durchdrungen.

Dafür bemerkte Skanga die Unruhe und die Angst, die sich in die Herzen der Krieger schlich. Sie konnte spüren, wie die Zuversicht ihrer Krieger ins Wanken geriet. Dem Pfeilhagel der Kentauren, die immer wieder anritten, eine Salve feuerten und feige davonstürmten, trotzten ihre Krieger.

Sie hatte ihnen gedroht, dass sie jede Sippe auslöschen würde, aus der ein Kämpfer hervorging, der den vermeintlich fliehenden Feinden hinterherlief und so die eigene Schlachtreihe in Unordnung brachte.

Skanga hatte angenommen, dass sie ihr Heer auf alles vorbereitet hätte! Aber diese Kugeln am Himmel hatte niemand je zuvor gesehen. Keiner wusste, was man von ihnen zu erwarten hatte. Nur eins war allen klar. Von den Elfen kam nie etwas Gutes!

Selbst Birga, ihrer Ziehtochter, die ihr sonst in stets gleichbleibendem Tonfall ihre Beobachtungen ins Ohr flüsterte, war die Anspannung anzumerken.

»Die schwarzen Kugeln kommen von Kutschen, die auf einem Hügel stehen. Es sind hunderte. Der ganze Himmel hängt voll mit ihnen, und der Sanhalla treibt sie uns entgegen.«

»Weißt du, was das ist, Fuchsgesicht?«

»Ballons!«, sagte Elija.

»Ich frage nicht, wie das heißt! Ich will wissen, was das ist!«

Die Überheblichkeit des Lutin hatte ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Sie war auf ihn angewiesen, und das wusste Elija Glops genau. Aber wenn der Feldzug erst einmal beendet war, dann würde sie sein Herz essen. Oder nein ... Besser sein Hirn. Klug war er, das musste man ihm lassen. Er hatte ihrer Sache gute Dienste geleistet. Sein Plan mit den Hügelgräbern hatte den Krieg überhaupt erst möglich gemacht ... Wusste der Henker, was er sonst noch für Pläne verfolgte.

»Ballons sind Kugeln aus dünnem Seidenstoff, den man auf Draht oder Weidenruten spannt. Dann leitet man heiße Luft in das Innere der Kugel. So wie Rauch in den Himmel steigt, steigt auch heiße Luft nach oben. Sie trägt den Ballon. Man könnte einen Mausling mit so einem Ballon fliegen lassen.« Er lachte.

»Aber fliegende Mauslinge sind immer noch genauso ungefährlich wie Mauslinge zu Fuß. Die können nicht einmal einer Fliege was zu Leide tun.«

»Ballons.« Skanga sprach das Wort langsam, ließ es auf der Zunge zerfließen und suchte nach der Bedrohung, die sich dahinter verbergen mochte.

»Warum haben wir keine Ballons?«, fragte Gilmarak.

»Weil wir Krieger aus Fleisch und Blut haben. Das ist besser als Seide und heiße Luft. Solche Krieger eilen nicht davon, nur weil der Wind sich dreht.«

Das war es! Ganda schloss die Lider über ihren toten Augen und suchte nach der Kraft der Magie. Es war kein guter Platz, um zu zaubern. Nur ein einziger Albenpfad lag in der Nähe des Schlachtfelds, und er widersetzte sich. Das Blau war stark in ihm. Die einzige Farbe, die sie nie richtig gemeistert hatte. Die Farbe des Himmels, die ihre alte Meisterin Matha Naht ihr vorenthalten hatte. Magie war überall. Doch in den Pfaden der Alben floss sie mit besonderer Kraft. Dort war es leichter, sie dem eigenen Willen zu beugen. Der Wind widersetzte sich ihr! Schweiß rann ihr über das Gesicht. Nicht einmal eine einzelne Böe konnte sie dem Himmel abringen. Wenn sie Zeit hätte und Opfer bringen könnte, dann würde sie einen richtigen Sturm entfesseln können. Aber so ...

»Geht es dir nicht gut?«, flüsterte Birga.

Skanga versetzte ihr einen ärgerlichen Knuff. Manchmal war sie einfach nur lästig! Ständig belauerte sie einen! Sie hatte auch immer versucht, mit ihr zur Nachtzinne zu reisen. Regelrecht aufgedrängt hatte sie sich. Was sie wohl von Orgrim wollte?

Skanga war in den letzten Jahren immer wieder in die Andere Welt gereist. Sie hatte sogar den jungen König mitgenommen. Doch nichts vermochte Orgrim zu bewegen, sein Herzogtum zu verlassen. Er hatte sich zwei Weiber genommen und acht Welpen gezeugt. Skanga lächelte gehässig. Sechs davon waren Weiber. Aber Orgrim liebte sie alle. Er war ein seltsamer Krieger. Er flüchtete vor dem Krieg.

Als Skanga einsehen musste, dass er die Nachtzinne nicht verlassen würde, hatte sie versucht, von ihm die Kunst der Kriegsführung zu erlernen. Doch allzu bald hatte sie erkannt, dass ihr dazu die Begabung fehlte. Sie wusste darum, wie man Heere aufstellte und führte. Aber was ihr fehlte, war die Gabe, mit beweglichem Geist auf plötzliche Änderungen zu reagieren. Orgrim hatte versucht, ihr ein Spiel der Elfen beizubringen, bei dem man schwarze und weiße Figuren auf einem eigens gefertigten Tisch hin und her schob. Der Herzog schrieb sogar seine Gedanken und Gefühle auf! Skanga musste jedes Mal lachen, wenn sie daran dachte. Sie kannte keinen anderen Troll, der das tat. Niedergeschriebene Gedanken waren tot und begraben. Das begriff Orgrim nicht. Gedanken mussten frei sein und sich verändern dürfen.

Die Schamanin spürte, wie die Unruhe im Heer immer weiter wuchs. Es war schwer gewesen, ihre Trollkrieger dazu zu zwingen, in einer Reihe anzutreten und nicht einfach wild gegen den Feind zu stürmen. Auch wenn Skanga keine große Feldherrin geworden war, hatte sie einige grundlegende Einsichten der Kriegsführung dennoch begriffen. Die Krieger mussten mit ihren Schilden eine feste, hölzerne Mauer bilden, sonst würden die Reiter sie gnadenlos auseinander treiben und ein Blutbad unter ihnen anrichten.

Dass die Lutin ihr die Pläne der Elfen verschafft hatten, war der Schlüssel zum Sieg. Auch wenn sie nichts von den ... wie hießen diese Dinger gleich? Barlons? Egal! Skanga hatte den linken Flügel ihres Heeres verstärkt. Gut versteckt in einem breiten Streifen Buschland lagen fünftausend Trollkrieger unter dem Befehl des Rudelführers Brodgrim. Er hatte ihr lange als Kundschafter gedient und sich in den letzten Jahren als ein fähiger Anführer erwiesen. Wenn die Schlacht begann, würde Brodgrim zum trockenen Fluss durchbrechen und den Elfen den einzigen Rückzugsweg nehmen. Wenn dies gelang, saß ihr Heer gefangen zwischen dem übermächtigen Trollheer und den Bergen. Dann würden sie bis zum letzten Kobold vernichtet werden. Das wäre der Anfang vom Untergang. Von so einer Niederlage würde sich selbst Emerelle nicht mehr erholen. Das Verderben der Elfen war, dass sie ihre Toten nicht schnell genug ersetzen konnten.

Skanga blickte zum Himmel. Wenn nur diese Barlons nicht wären! Es war verwünscht! Sie führte das Heer, und sie war die Einzige auf der ganzen Ebene, die nicht sehen konnte, was dort auf sie zukam.

»Die ersten dieser schwarzen Kugeln schweben jetzt über uns«, flüsterte Birga.

Der Gestank der Angst lag in der Luft. Die meisten Trollkrieger würden sich ohne Bedenken nur mit einem Stein in der Faust einem Höhlenbären zum Kampf stellen. Aber vor der Heimtücke der Elfen fürchteten sie sich. Zu viele blutige Niederlagen hatte ihr Volk erlitten! Und niemand hatte vergessen, dass Emerelle sie für Jahrhunderte aus ihrer Heimat vertrieben hatte.

Hinter der Schlachtreihe erklang das ängstliche Blöken der jungen Hornechsen. Ein durchdringender, tiefer Laut. Er war Öl in die Glut der Angst. »Können deine Fuchsschnauzen nicht einmal ihre Echsen ruhig halten?«, herrschte sie Elija an.

»Ich werde mich darum kümmern, Skanga.« Der verdammte Lutin hatte es so eilig fortzukommen, dass die Schamanin überzeugt war, er habe nur auf einen Vorwand gewartet, sich zu verdrücken. Vielleicht hatte er seinen Leuten sogar befohlen, die Jungechsen zu schlagen, damit es einen Grund gab, nach dem Rechten zu sehen und den Feldherrenhügel zu verlassen. Den Lutin war jede Heimtücke zuzutrauen. Doch gerade das machte sie zu so wertvollen Verbündeten im Kampf gegen die Elfen. Ohne ihre Spitzel wäre das Trollheer an diesem Morgen überrascht worden, und die Elfen hätten ein Massaker angerichtet, das für viele Jahre alle Kriegspläne zunichte gemacht hätte.

»Kannst du ihr Heer sehen, Birga?«

»Nein. Die Pferdemänner wirbeln zu viel Staub auf. Ich sehe die Wagen, mit denen sie gekommen sind. Sie stehen auf einem Hügel, etwa eine halbe Meile entfernt und ...« Birga brach ab. Rings herum waren erstaunte Ausrufe zu hören.

»Sie malen auf dem Himmel«, sagte Gilmarak.

»Was passiert da?« rief Skanga ärgerlich darüber, dass selbst Birga verstummt war.

»Hinter dem Staub steigen dünne Rauchfäden in den Himmel. Es müssen hunderte sein. Manche gehen über Kreuz und bilden ein Gitterwerk. Sie folgen glühenden Funken ...«

Ein fauchendes Geräusch ging in Schreckensschreien unter. Die Linie der Schildträger zerbrach im Zentrum. Hitze schlug der Schamanin entgegen. Birga klammerte sich an ihren Arm.

»Die schwarzen Kugeln«, stammelte ihre Ziehtochter. »Die Kugeln. Kommt fort von hier. Es sind auch welche über uns.«

»Wachen, bleibt bei eurem König! Bildet einen Schildwall!«, schrie Skanga. »Wer jetzt fortläuft, dem wird sein Herz zu Staub zerfallen, und dessen Kinder und Enkel werden als Sklaven geboren sein bis in ihr siebtes Glied.«

Die Schamanin schmeckte öligen Rauch. Der Gestank von verbranntem Fleisch zog über das Schlachtfeld. Es war wie beim Sturm auf das Tor von Phylangan. »Haltet die Krieger zusammen«, rief Skanga und schwenkte zornig ihren Knochenstab. »Was passiert?«, fragte sie leise.

Birgas Stimme klang atemlos vor Schreck. »Die Kugeln. Sie spucken Fontänen aus Feuer auf uns hinab. Manche stürzen auch brennend aus dem Himmel, und wo sie niedergehen, steht sofort das Gras in Flammen. Der Wind treibt uns die Feuer entgegen, Skanga. Überall sind Rauchsäulen. Golden gepanzerte Reiter brechen durch die vorderste Schlachtreihe.«

Ganz in der Nähe schrieen Krieger auf. Hitze streifte wie Drachenatem Skangas Gesicht. Ihre toten Augen begannen zu tränen. Die Schamanin hielt eine Hand fest in die Schulter Gilmaraks gekrallt.

»Ganz gleich, was auch geschieht, Junge, du weichst nicht von meiner Seite. Sie wollen uns auseinander treiben. Das darf ihnen nicht gelingen! Steht der Schildwall auf dem ....« Etwas Heißes traf Skanga im Gesicht. Sie zuckte zusammen. Es waren nur ein paar Tropfen.

Gilmarak schrie auf und riss sich los. Skanga sah die himmelblaue Aura des Jungen. Der König lief davon.

»Halte ihn auf, Birga! Hol ihn! Er darf nicht sterben! Hol ihn zurück. Sie werden ihn jagen. Du weißt, wie gnadenlos sie sind! Sie ...« Ihre Worte erstarben in einem Hustenkrampf. Skangas Kehle brannte, als würde auch sie in Flammen stehen. Der Rauch! Die Elfen mussten irgendetwas hineingegeben haben. Skanga spürte die Hitze der Feuer rings herum. Der Rauch aber blieb ihren blinden Augen verborgen. Es war nichts Magisches, was die Elfen damit angestellt hatten. Vielleicht Gift?

Ihr Husten ging in ein Würgen über.

»Wachen ... zu mir!« Sie tastete über ihr Gesicht. Dort, wo die Flammentränen sie berührt hatten, ertastete sie schmerzende Blasen. An einer Stelle dicht beim linken Auge gab es nur noch rohes Fleisch. »Wir holen den König«, stieß sie hervor. »Mir nach!!« Schwer auf ihren Knochenstab gestützt, stieg sie den Hügel hinab, der Flut flüchtender Trolle entgegen.

Bronze und Federn

Katander blinzelte ungläubig. Von einem Augenblick zum anderen war der Horizont ein Inferno aus Rauch und Flammen geworden. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Das war nicht das, was er sich unter einer Schlacht vorstellte! Das war ... Er hatte keine Worte dafür. Es war unheimlich. Irgendwie falsch. Krieg sollte der Klang von Stahl auf Stahl sein. Nicht so etwas!

»Fürst! Mein Fürst? Das Signal.« Die Stimme seines Schwertbruders Parmeion erinnerte Katander an seine Pflichten. Er riss das Doppelschwert hoch. »Das Signal!« Die Bläser hoben ihre goldenen Luren an die Lippen. Die schlanken Schlangenhälse der Instrumente streckten sich dem Himmel entgegen. Ein tiefer, melancholischer Klang hallte über das Schlachtfeld und begleitete den Sanhalla bis hinüber zu den Trollen. Das Signal wurde von den anderen Kentaurengruppen aufgenommen. Überall entlang der Schlachtlinie erklangen weitere Luren.

»Die Tücher!«, befahl er und rammte sein Doppelschwert in den Boden. Er nahm den Helm ab, wickelte ein dickes Leinentuch von seinem Waffengurt und schüttete etwas Essig aus seinem Wasserschlauch darüber. Dann band er es vor Mund und Nase. Ollowain hatte ihnen erst am Morgen den Befehl gegeben, diese Tücher zu tragen, um sich gegen den dicken, schwarzen Qualm zu schützen.

Der Kentaurenfürst hatte das für irgendeine Elfenspinnerei gehalten, doch jetzt, wo er die Flammensäulen vor sich sah und den dichten Rauchschleier, der die Schlachtlinie der Trolle verschlang, dachte er anders. Er zurrte den Kinnriemen des Helms fest. Es war Zeit, das Bluthandwerk zu beginnen.

Katander riss das Doppelschwert aus dem Boden und hob die mörderische Waffe der Bronzekrieger aus Uttika hoch über den Kopf. Auf den Enden des mit Leder und Silberdraht umwickelten Holzstabs saßen zwei gekrümmte Schwertklingen. Dieses Schwert hatte schon sein Großvater in der Schlacht getragen, doch einen Tag wie diesen hatte die alte Waffe gewiss noch nie gesehen! »Zum Angriff!«, rief der Kentaurenfürst aus voller Kehle und preschte los.

Der Boden erbebte unter dem trommelnden Hufschlag seiner Gefährten. Die Luren ließen sein Herz schneller schlagen. Sie schrieen die Melodie der Schlachten dem rauchverhangenen Himmel entgegen. Ohne sich umzudrehen, wusste Katander, dass die Linie der Reiter hinter ihm jetzt langsam auffächerte. Um die Doppelschwerter einzusetzen, brauchte man Platz. In enger Formation würde man seine Kameraden verletzen.

Aus den Augenwinkeln sah der Fürst, wie die leichter bewaffneten Kentauren der Steppe zu ihnen einschwenkten und sich gegen den Befehl Ollowains dem Angriff anschlossen. Er erkannte Orimedes mitten unter den Kriegern und musste lächeln. Für einen Viehdieb aus der Steppe war er ein ganz brauchbarer Kerl.

Die Linien der Trolle waren aufgebrochen. Viele von ihnen hielten trotz Flammen und Rauch ihre Stellung. Doch überall klafften breite Lücken in der Schlachtreihe. Die hölzerne Mauer war zerbrochen, noch bevor die erste Angriffswelle gegen sie anbrandete. Katander schwenkte ein wenig nach links ein und hielt auf eine dieser Lücken zu. Seine Hände schlossen sich fester um den Griff des Doppelschwertes.

Er sah einen Trollkrieger, dem Feuerzungen über die Brust leckten und dessen Gesicht eine einzige blutende Wunde war. Dennoch versuchte er, seinen Posten wieder einzunehmen. Katander bäumte sich auf. Seine Vorderhufe trommelten auf den großen Schild, den der Troll zu seinem Schutz hochriss. Die Wucht der Huftritte riss den großen Krieger von den Beinen. Er stürzte in das verbrannte Gras. Katanders Doppelschwert beschrieb einen weiten Bogen. Die stählerne Klinge traf den Troll seitlich am Kopf. Knochen krachten. Die Wucht des Treffers ließ die Augen des Sterbenden hervorquellen, als wollten sie aus den Höhlen springen.

Mit einem Satz war der Kentaurenfürst über den Feind hinweg. Ein Rückhandhieb traf das Handgelenk eines anderen Trolls, der mit hoch erhobener Keule auf ihn losstürmte. Hand und Keule flogen in weitem Bogen davon. Katander riss das Doppelschwert hoch und versetzte dem Krieger einen Stich mitten in die Brust. Das gekrümmte Schwertblatt glitt vom Brustbein ab und verkantete sich zwischen den Rippen. Der Troll griff mit der Linken nach der Klinge. Blut quoll ihm zwischen den Fingern hervor. Mit dem Stumpf der Rechten schlug er nach Katander. Der Kentaur drehte sich leicht. Der Hieb traf ihn seitlich am Kopf. Er wurde vom Wangenschutz seines Helmes abgemildert, dennoch tanzten dem Fürsten grelle Lichter vor den Augen. Warmes Blut spritzte durch die Helmöffnung.

Katander hielt das Doppelschwert mit beiden Händen umklammert. Beide zerrten sie an der Waffe. Der Stahl musste dem Troll schon bis auf die Fingerknochen schneiden, doch er ließ nicht los.

Plötzlich kippte der Kopf des Trolls vom Hals. Parmeion ließ das Doppelschwert spielerisch um seinen Kopf kreisen. »Du verzeihst mir, Fürst. Das war kein Gegner mehr für dich!« Der junge Krieger brach in schrilles Gelächter aus und preschte davon. Dichter Rauch verschlang den Rappen.

Katander blickte auf den Toten. Der abgeschlagene Kopf lag auf der Seite. Die Augen waren starr auf die Hand mit der Keule gerichtet, die nur einen Schritt entfernt lag.

Etwas schlug scheppernd gegen die Brustplatte des Kentaurenfürsten. Ein faustgroßer Stein hatte ihn getroffen. Nicht weit entfernt sammelte sich eine schnell größer werdende Truppe von Trollen. Einige hatten große Taschen umgeschlungen und hielten Lederschlingen in ihren unförmigen Händen. Schleudern! Schon hob einer von ihnen seine Schlinge und ließ sie in weiten Kreisen über seinem Kopf wirbeln.

»Uttiker zu mir!« Katanders Rippen schmerzten. Die tiefe Beule im Bronzepanzer quetschte seine Bauchmuskeln, und jeder Atemzug versetzte ihm einen schmerzhaften Stich.

Die Trolle durften keine Gelegenheit finden, sich wieder zu formieren. Sie mussten den Trupp so schnell wie möglich auseinander treiben.

Katander preschte vor, ohne darauf zu warten, ob jemand auf seinen Befehl reagierte.

Die Lederschlinge des Trolls öffnete sich. Der Stein flog dem Fürsten entgegen und streifte seinen Helmbusch. Dann war der Pferdemann heran. Der Schleuderer war ein solcher Hüne, dass er selbst den Kentauren noch um zwei Haupteslängen überragte. Er zog einen Kriegshammer mit einem schweren Granitkopf aus seinem Gürtel.

Katander führte mit dem Doppelschwert einen Stich, der auf den Bauch des Trolls zielte, doch der Riese wich überraschend behände aus. Ein Rückhandschlag zielte auf den Kopf des Kentauren. Der Fürst duckte sich und führte einen Stich, der dem Troll drei Zehen von seinem Fuß trennte.

Mit einem ohrenbetäubenden Jaulen machte der Hüne einen Satz zurück und hüpfte unbeholfen auf einem Bein. Den nächsten Schlag Katanders sah er vermutlich nicht einmal kommen. Die Waffe des Kentauren wirbelte herum und traf den Troll seitlich am Kopf. Katander lenkte die Kraft des Aufschlags um und führte mit der Klinge am unteren Ende des Doppelschwerts einen Hieb gegen das linke Knie des Trolls. Der Schleuderer stürzte. Ein Stich traf ihn in den Mund, ließ Zähne zersplittern und trieb den Stahl tief in seinen Kiefer. Blut spuckend kippte der Troll nach hinten. Mit letzter Kraft führte er stürzend einen Hieb gegen den Rumpf des Kentauren.

Die Wucht des Treffers riss den Fürsten von den Beinen. Er spürte Rippen brechen, und ein peitschender Schmerz raubte ihm die Sinne.

Im verbrannten Gras liegend, kam er zu sich. Neben ihm lagen erschlagene Krieger seines Gefolges. Einem von ihnen war der Bauch aufgeschlitzt, dunkle Darmschlingen rutschten heraus. Der junge Krieger sah ihn mit flehendem Blick an. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur noch ein Röcheln hervor.

Katander schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Sein Nacken schmerzte, als stecke ein Messer darin. Seine Uttiker hatten einen weiten Kreis um ihn gebildet. Auch eine Hand voll Steppenkrieger war bei ihnen. Sie versuchten die Trolle fern zu halten, die sich rings herum in dichten Trauben sammelten.

Steine zischten durch die Luft. Der Kopf eines Steppenreiters platzte in einer Blutfontäne, als er getroffen wurde. Die Trolle schienen sich dazu entschieden zu haben, sie auf Distanz mit Steinwürfen zu erledigen, um den mörderischen Doppelschwertern nicht mehr allzu nahe zu kommen.

Scheppernd krachte ein Schleuderstein gegen eine Brustplatte. Einer seiner Krieger brach in die Knie.

Verzweifelt versuchte Katander wieder auf die Beine zu kommen. Er fühlte sich schwach wie ein neu geborenes Füllen. Immer wieder knickten die Beine unter ihm ein. Seine Männer durften nicht hier bleiben! Hier würden sie abgeschlachtet werden, ohne sich auch nur wehren zu können. Und sie taten es seinetwegen, um einen lebenden Schutzwall um ihn zu formen.

Wieder prasselten Steine auf die Uttiker nieder. Die Trolle sammelten immer mehr Schleuderer. Katander rammte sein Doppelschwert in die verbrannte Erde. Die Klingen waren dunkel vom Blut erschlagener Trolle. Wenn er es jetzt nicht schaffen sollte, sich wieder aufzurichten, dann würde er sich in sein Schwert stürzen. Er musste dem Sterben der tapfersten seiner Männer ein Ende bereiten. Wäre er erst einmal tot, dann wären sie frei, davonzupreschen und sich nicht länger dem tödlichen Steinhagel auszusetzen.

Mit beiden Händen umklammerte der Fürst den Schaft der Waffe. Seine Arme zitterten vor Anspannung. Er sah einen Muskel an seinem linken Arm zucken, als winde sich ein kleines Tier dicht unter seiner Haut. Halb hatte er sich aufgerichtet. Da sah er sein linkes Vorderbein. Ein geborstener Knochen ragte durch sein rostbraunes Fell. Katanders Mund war schlagartig staubtrocken. Er würde nicht mehr hochkommen. Es war unmöglich, aus eigener Kraft zu laufen. Und wenn seine Männer ihn stützten, dann würden sie so langsam werden, dass es unmöglich war, den Trollen zu entkommen.

Verzweifelt blickte Katander sich um. Der Ring seiner Krieger war geschrumpft. Die Trolle aber hatten sie jetzt fast vollständig eingeschlossen. Immer neue Hünen traten aus dem dichten Rauch. Ihre Übermacht war erdrückend. Wenn seine Krieger jetzt nicht den Durchbruch wagten, dann gab es kein Entkommen mehr.

Der Fürst richtete die obere Klinge gegen seine Kehle. Er erinnerte sich daran, wie er als junges Füllen das Doppelschwert seines Großvaters bewundert und es einmal heimlich aus dem grünen Tuch gewickelt hatte, in dem es der Alte in Friedenszeiten verwahrte. Damals hatte er die Waffe nicht einmal heben können. Katander dachte an den stolzen Augenblick, als er das Schwert aus den Händen seines Vaters empfangen hatte, der nach einer Pfeilwunde eine steife Schulter behalten hatte und lange vor der Zeit sein Leben als Krieger hatte aufgeben müssen. Nie hätte sich Katander träumen lassen, dass er diese Waffe eines Tages gegen sich richten würde.

Der Fürst spürte den Boden unter seinen Füßen beben.

Die Schwertklinge unter seiner Kehle schimmerte rötlich im Licht der Feuer.

Jubelrufe übertönten den Schlachtenlärm. Der Boden bebte stärker. Und dann sah er sie! Die Streitwagen Arkadiens umzingelten die Kriegerhaufen, in denen sich die Trolle gesammelt hatten, nachdem sie sich vom ersten Schock des Flammenangriffs erholt hatten.

Schillernde Seidenbanner flatterten wie Flügel an den Seiten der Streitwagen. Die Luft war erfüllt von sirrenden Pfeilen. Jetzt hörte Katander auch wieder Kriegsluren. Von der linken Flanke kam einer seiner Trupps herbeigeeilt und schloss sich dem Elfensturm an. Kurz erkannte Katander die Elfengräfin Caileen in ihrer grüngoldenen Rüstung. Sie hielt einen großen Bogen und sandte mit gelassener Miene Pfeil auf Pfeil in die Scharen der Trolle, die sich erneut zur Flucht wandten.

Die Luft knisterte vor Magie. Im aufgewirbelten Staub formten sich schlangenartige Leiber. Sie wogten den Trollen entgegen. Der Staub blendete die Hünen, drang ihnen durch Mund und Nase in die Lunge und erstickte sie. Manche wurden auch von den Staubwirbeln emporgehoben und aus großer Höhe fallen gelassen. Wieder andere schmirgelten den Trollen die Haut vom Leib, bis ihre Körper eine einzige, blutende Wunde waren. Katander beobachtete das Schauspiel gleichermaßen fasziniert wie angewidert. Krieger sollten nicht auf diese Weise kämpfen. Doch der entfesselte Elfenzorn kannte keine Schranken mehr.

Mit den Staubgeistern verschwanden auch die Streitwagen. Einige Gefährten eilten herbei, um Katander aufzuhelfen. Er stützte sich mit den Armen auf die Schultern der Krieger. Jemand schnallte ihm die eingedellte Brustplatte ab. Endlich konnte er wieder ohne Schmerzen atmen!

Für ihn war die Schlacht vorüber. Sie stiegen über einen Wall aus Toten hinweg. Zu viele seiner Krieger lagen in ihren schimmernden Rüstungen zwischen den Trollen!

Unter den Toten sah er auch Parmeion. Er lag nicht weit von dem Troll, den er enthauptet hatte. Seine Arme waren in groteskem Winkel verdreht. Streitkolbenschläge hatten ihm die Knochen gebrochen und sein Schicksal besiegelt. Aus seinen Flanken waren breite Streifen Fleisch geschnitten. Offenbar hatten einige der Trolle schon vorschnell mit ihrem Siegesmahl begonnen.

Als sie eine Hügelkuppe erreichten, befahl Katander den Männern, die ihn stützten, innezuhalten. Er blickte über das weite Schlachtfeld. Ihr Opfer war nicht vergebens gewesen. Die Schlachtreihen der Trolle waren auf einer Strecke von mehr als einer Meile auseinander gebrochen. Caileen trieb die Flüchtenden vor sich her. Auch die schutzlosen Flanken des riesigen Trollheeres wichen langsam zurück. Und Ollowain hatte die Elfenritter noch nicht einmal in die Schlacht geführt. Sie würden einen großen Sieg erringen!

Der Befehl

Brodgrim blickte auf das Hügelland und konnte immer noch nicht fassen, was er sah. Sie hätten doch siegen sollen! Das Banner des jungen Königs war verschwunden. Der Rauch und der Staub erlaubten keine klare Sicht. Im Kampfgetümmel würden die Trolle siegen! Da war er sich ganz sicher. Sie durften nur nicht davonlaufen. Ein Trollkrieger konnte einen Elfenkopf in seiner Faust zerquetschen! Sie brauchten diese wieselflinken kleinen Schwertschwinger nicht zu fürchten.

Verdammte Feiglinge da oben, die sich von ein bisschen Feuer und Rauch einschüchtern ließen! Skangas Befehle waren klar und unmissverständlich gewesen. Die da oben sollten ihren Schildwall halten.

»Rudelführer?« Slarag, der Anführer seiner Späher, kam geduckt zu ihm herübergeschlichen. Trotz der Hitze trug er das Fell eines Schneelöwen um die Schultern. Er hatte es mit Dreck eingerieben, damit ihn der helle Pelz nicht verriet, wenn er sich anschlich. Aber ablegen mochte er es nicht. Er behauptete überall, er habe die Bestie mit bloßen Händen erschlagen. Brodgrim hatte Zweifel daran. Aber einmal abgesehen von dieser Geschichte war Slarag ein zuverlässiger Späher.

»Wir bekommen Probleme, Rudelführer.«

Brodgrim grunzte abfällig. »Ich sehe, was auf den Hügeln vor sich geht. Verdammte Weichlinge! Führen sich auf wie Welpen, die zum ersten Mal den Rauch eines Feuers wittern. Wie kann man nur so feige sein! Mit Kriegern wie denen hätten wir niemals den Königsstein erstürmt. Wir hätten die Wache des Königs sein sollen!«

»Das meine ich nicht, Brodgrim. Es gibt etwas anderes, das mich beunruhigt. Komm mit, ich zeige es dir.« Der Späher führte ihn zum Rand des Dickichtstreifens, der sich an einem Bach entlang erstreckte. Dort deutete er nach Osten. Deutlich konnte man eine riesige Staubfahne über der Steppe sehen. Sie war noch viele Meilen entfernt.

Brodgrim spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Wer ist das?«

»Jedenfalls kein Wind, der den Staub aufgewirbelt hat.«

Brodgrim nahm den Wasserschlauch von seiner Schulter und trank einen tiefen Schluck. Durstig sollte man keine Entscheidungen treffen. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und auf seine mit Schmucknarben bedeckte Brust. »Was denkst du, Slarag?«

»Wir erwarten keine Verstärkungen. Da kommen Elfen oder Kentauren.« Brodgrim schüttelte den Kopf. »Woher sollten sie kommen? Ausgeschlossen!«

»Dann erklär mir die Staubwolke.«

»Du bist der Späher. Das ist deine Aufgabe.«

Slarag schnitt verärgert eine Grimasse. »Du hast mir alles beigebracht. Du weißt, was das da bedeutet.«

»Wir haben Befehle.« Brodgrim fühlte sich zunehmend unwohl. Alles lief anders an diesem Tag. Dabei waren sie so siegessicher gewesen. Auch hatte er das Gefühl, dass es an seiner Entscheidung hängen könnte, ob sich das Schicksal noch einmal zu ihren Gunsten wendete. Etwa fünftausend Trolle verbargen sich in dem breiten Buschstreifen, und die Elfen schienen keine Ahnung zu haben, dass sie hier waren. Er blinzelte mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont. Oder wussten sie doch etwas? Kamen diese Truppen deshalb geradewegs auf ihn zu? Hilflos blickte er zu dem Feldherrenhügel, von dem das Banner seines Königs verschwunden war. Gilmarak sollte den Befehl zum Angriff geben. Brodgrim wusste genau, was zu tun war. Er brauchte nur den verdammten Befehl. Oder den Befehl, sich zurückzuziehen.

»Was tun wir, Rudelführer?«

Er hätte Slarag erwürgen können! Diese Fragerei machte nichts besser! Er könnte seine Krieger einfach im Buschland lassen und abwarten, was weiter geschah. Aber sie alle waren ein großes Wolfsrudel. Kein Wolf, der noch Zähne besaß, sah einfach nur zu, wie sein Rudel jagte. Und wenn er es doch tat, dann hatte er kein Anrecht auf einen Anteil der Beute. Der Plan von Skanga war gut gewesen. Sie wussten doch, wie wenige die Elfen waren! Selbst wenn dort hinten noch ein paar tausend Kentauren kämen, wären die Elfen und ihre Verbündeten immer noch erbärmlich in der Unterzahl.

Wenn ein Wolfsrudel einen großen Elchbullen jagte, dann mochte es Rückschläge geben. Ein guter Jäger konnte von den mächtigen Schaufeln getötet werden. Ein zweiter würde durch einen Tritt des Elchbullen lahmen. Aber das Rudel würde nicht aufgeben. Es wäre immer um den Elch herum. Es würde ihn müde machen, bis der Erste ihm die Fesseln durchbiss. Und wenn der Elch stürzte, dann würden sie ihm an die Kehle gehen.

Genauso war es mit dem Heer der Elfen. Es würde den jagenden Trollrudeln nicht entgehen, wenn er, Brodgrim, sich an den Plan hielt. Er musste das trockene Flussbett erreichen und den Weg über die Berge versperren. Der nächste Pass, den die Elfen dann erreichen konnten, war zwei Tagesmärsche entfernt.

Und zwei Tage würden sie nicht überleben, wenn sich die Rudel der Trolle erst einmal vom Schock des Flammenangriffs erholt hatten.

Es lag an ihm. Aber er durfte seinen König nicht einfach für den Sieg opfern. Wenn diese Flanke völlig ungeschützt gegen die anrückenden Reiter blieb, dann mochten die Elfen vielleicht Gilmarak gefangen nehmen.

»Ich lasse dir fünf starke Rudel hier, Slarag. Du hältst das Buschland.« Brodgrim deutete auf die Staubwolke in der Ferne.

»Sie können nicht wissen, dass wir hier sind. Halte diese Flanke. Und wenn sie ganz nah heran sind, dann pack sie! Hol dir ihre Herzen! Und schütze den König. Sie dürfen unserem Heer nicht in die Flanke fallen. Du weißt, wie Wölfe jagen. Haben sie sich erst einmal in der Flanke ihrer Beute verbissen, dann ist die Jagd entschieden. Schütze den König.«

Slarag machte ein Gesicht, als habe ihn eine Grasviper gebissen. Brodgrim roch seine Angst. Ganz schwach nur, aber sein Späher fürchtete sich.

Der Rudelführer lachte. »Bepiss dich nicht! Du tust, was du auch als Späher tust. Du liegst hier auf dem Bauch in den Büschen und wartest darauf, dass deine Beute näher kommt. Und wenn sie so nahe ist, dass sie dir nicht mehr entkommen kann, dann schlägst du zu.«

Im Herzen des Chaos

Ganda drosch mit der Reitgerte auf die Flanken des Esels ein und fluchte. Hätte sie nur auf den Schwarzen gehört! Der fette Drucker hatte sie gewarnt, nicht hierher zu kommen.

»Bist du blind, du räudiges Hinkebein?« Verzweifelt zerrte sie an den Zügeln und versuchte den Esel nach links zu bringen.

Eine ganze Reihe von Streitwagen kam über den Hügelkamm vor ihnen und raste mit halsbrecherischem Tempo auf sie zu. Einige Trolle liefen vor den Wagen davon. Ganda konnte sehen, wie die Bogenschützen der Elfen kaltblütig zielten. Ein Troll, dessen wulstige Schmucknarben auf der Brust einen Wolfskopf zeigten, kam geradewegs auf sie zugelaufen.

»Mach Platz, du Hohlschädel!« Ganda warf die Gerte fort und schlug dem Esel jetzt mit der flachen Hand auf die Kruppe.

»Los doch!«

Doch das sture Tier lief unbeirrt geradeaus.

Eine kleine, rote Zunge wuchs aus einer Falte im Hals des Trolls. Vorwitzig streckte sie sich Ganda entgegen. Der Krieger riss die Arme hoch. Nein, das war keine Zunge! Eine Pfeilspitze lugte aus dem Hals des Trolls.

Jetzt erst sah die Lutin die mörderischen Sicheln an den Radnaben der Streitwagen. Sie mähten das hohe Steppengras nieder. Die Wagen fuhren so dicht beieinander, dass sich die Sicheln fast berührten. Noch zehn Schritt, dann waren sie hier. Und der verdammte Esel rannte auf die vermeintliche Lücke zwischen zwei Streitwagen zu.

»Nicht, du blödes Vieh!«, schrie sie verzweifelt. Ihre Finger krallten sich in die schwarze Mähne. Sie schlug ihm mit der Faust auf den Kopf, doch der Esel lief jetzt in blinder Panik weiter.

Ganda suchte nach der Kraft der Albenpfade. Sie rief die Worte der Verwandlung. Zu spät! Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Wäre sie doch nur in Talsin geblieben!

Der Esel stieß einen grässlichen Schrei aus. Nie hatte sie ein Tier einen solchen Laut von sich geben hören. Es gab einen Ruck. Ganda wurde aus dem Sattel geschleudert. Sie riss die Hände hoch, um ihren Kopf zu schützen. Die Welt schien nur noch aus Lärm zu bestehen. Hart schlug sie auf den Boden auf. Da war ein zischendes Geräusch, das im Trommeln der Hufe fast unterging. Sie drückte sich flach in den heißen Staub. Ihre Hände wühlten darin. Sie wünschte, sie wäre klein wie ein Mausling.

Langsam entfernte sich der Hufschlag. Sie lebte noch! Vorsichtig hob Ganda den Kopf. Hundert Schritt entfernt waren noch andere Streitwagen. Sie konnte auch Kentauren sehen, die flüchtenden Trollen hinterherpreschten. Rauchsäulen woben dunkle Narben auf den strahlend blauen Himmel.

Vorsichtig erhob sich die Lutin. Sie hatte sich nichts gebrochen. Ihr Esel gab jämmerliche, japsende Laute von sich. Als sie das Tier im hohen Gras liegen sah, musste sie würgen. Die Sicheln hatten ihm dicht unter dem Rumpf die Beine abgetrennt. Die blutigen Stümpfe zuckten, als wolle er immer noch laufen. Die Augen des Esels waren so weit aufgerissen, dass die Iris von einem weißen Kranz umgeben war.

Ganda zog ihr Messer aus dem Gürtel und kniete neben dem verstümmelten Tier nieder. Sanft strich sie ihm über den Hals.

»Ich wünschte, ich hätte dich niemals hierher gebracht. Bitte verzeih mir.« Sie tastete nach der dicken Ader an der Vorderseite des Halses und schlitzte sie der Länge nach auf. Dunkles Blut spritzte über ihre Hände. Sie kraulte den Esel zwischen den Ohren und redete beruhigend auf ihn ein, bis dessen Beinstümpfe aufhörten zu zucken und er ganz still lag.

Müde stemmte sich die Lutin auf die Beine und ging dem Hügelkamm entgegen. Es war zu spät, um noch umzukehren. Sie hätte fliehen sollen, als ihr die schreienden Trolle entgegengekommen waren. Oder als sie gesehen hatte, wie die Rudelführer mit langen Bullenpeitschen auf ihre Männer eingedroschen hatten, um sie aufzuhalten und sich wieder zum Kampf zu stellen. Selbst als ihr der Kentaur in der Bronzerüstung begegnet war, wäre es noch Zeit gewesen zu fliehen. Der irre Glanz in den Augen des Pferdemannes hatte ihr eisige Schauer über den Rücken gejagt. Aber nein, sie war blind für all das gewesen. Sie hatte die Rauchsäulen am Horizont als ihr Ziel gewählt und war auf sie zu geritten.

Die Lutin erreichte den breiten Hügelkamm. Als sie den Hang hinabstieg, schmatzte die Erde unter ihren Füßen, so hatte sie sich voller Blut gesogen. Überall lagen tote Trolle. Vereinzelt gab es auch Kentauren. Ein Stück entfernt erhoben sich die Trümmer eines umgestürzten Streitwagens über das Leichenfeld. Obwohl die Schlacht noch in vollem Gange war, zankten schon dutzende Krähen um die besten Happen.

Ein Stück entfernt hatten ein paar hundert Trolle eine Hügelkuppe besetzt und trotzten verzweifelt einer Schar von Kentauren, die in rasendem Galopp den Hügel umrundete und die Trolle dabei mit einem Hagel von Pfeilen eindeckte.

Mehr als eine Meile entfernt kamen lange Reihen von silbern glänzenden Reitern eine Hügelflanke hinab. Das Chaos der Schlacht schien sie nicht zu berühren. Bunte Banner wehten über ihren Häuptern. Ein wahrer Wald von Lanzen ragte über ihnen auf. Wie auf einem Paradefeld kamen sie geritten. Dann senkten sich die Lanzen der vordersten Reihe. Undeutlich konnte Ganda eine dunkle Linie vor den Elfenrittern erkennen, die an den Enden auseinander franste.

Ganda wandte den Blick ab. Sie wollte nicht sehen, was dort geschah. Sie verschloss auch ihre Ohren vor dem Stöhnen der Verwundeten. Sie konnte hier nicht helfen. Es waren viel zu viele. Sie wünschte, ihre Sinne würden ihr den Dienst verweigern! Sie wollte diese Schrecken nicht in sich aufnehmen.

Ein Schatten glitt über sie hinweg. Über ihr flogen riesige Adler dahin. Sogar ein Lamassu war zu sehen. Nicht einmal der Himmel war vom Krieg verschont geblieben!

Ganda standen Tränen in den Augen. Halb blind lief sie zwischen den Toten dahin. Sie erklomm einen weiteren Hügel. Ein vertrauter Laut beflügelte ihre Schritte: das ängstliche Blöken einer jungen Hornschildechse. Nie zuvor war sie auf diesem Hügel gewesen oder auch nur im Hügelland südlich des Mordsteins, und doch war sie nach Hause gekommen. Dort unten zwischen den Hügeln war ihre Herde. Schon von weitem erkannte sie den alten Zweistoß, den Leitbullen, am gezackten rotorangefarbenen Rand der großen Hornplatte, die seinen Nacken schützte. Die Herde war groß geworden! Es gab viele Jungtiere.

Die Hornschildechsen hatten sich in einem weiten Kreis aufgestellt. Ihre gepanzerten Köpfe mit dem breiten Hornkragen und den drei geschwungenen Hörnern bildeten einen Wall, der selbst Trollen Respekt abnötigte. Die Tiere standen nicht Schulter an Schulter. Zwischen ihnen blieben ein bis zwei Schritt weite Lücken, sodass sie ihre mächtigen gepanzerten Schädel hin und her schwingen konnten, falls ein Angreifer tollkühn genug war, sich mit ihnen anzulegen. Die jungen Hornschildechsen hielten sich in der Mitte des Kreises. Dort befanden sich auch die Ponys und die Ziegen der Lutinsippen, die mit den Hornschildechsen zogen.

Auf die Rücken der ausgewachsenen Echsen waren Plattformen aus Bambusrohr gebaut, auf denen niedrige Zelte aus Ziegenhaar standen. Von hohen Stangen flatterten die Sippen-

und Familienbanner, aber auch Hemden und andere Wäsche, die man zum Trocknen herausgehängt hatte. Die Strickleitern zu den Plattformen waren eingeholt. Schwere Armbrüste waren auf Schwenkbeinen arretiert, bereit, jedem Feind einen Willkommensgruß mit einer Spitze aus geschliffenem Vierkantstahl zu senden. Doch niemand griff die Lutin an, und auch die Kobolde mischten sich nicht in die Kämpfe ringsherum ein.

Eine Schwadron Kentauren preschte auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe vorbei, ohne auch nur die geringste Notiz vom Lager der Hornschildechsen zu nehmen. Das kleine Tal war wie das Auge eines Wirbelsturms. Rings herum wurde tausendfach gestorben, doch hier herrschte gespannter Frieden, und statt Kriegsbannern flatterten Unterhosen im Wind.

Ganda stieg langsam die Hügelflanke hinab. Jetzt erkannte sie auch andere der Hornschildechsen. Wolfsbeißer und Torkelschritt lebten noch. Auch Mondkragen, die junge Echsenkuh, auf deren Rücken sie einst gewohnt hatte, war bei der Herde. Ihre zähe, faltige Haut hatte das helle Grasgrün der Jungtiere verloren und mittlerweile den matten, graugrünen Ton der Alten angenommen.

Ganda klopfte das Herz. Für sie waren nur wenige Wochen vergangen, aber für ihre Sippe fünfzehn Jahre. Würde man sie überhaupt noch wiedererkennen? Wer lebte noch von ihren Freunden? Alle Kinder, die sie gekannt hatte, wären jetzt erwachsen. Wer lebte wohl auf dem Rücken von Mondkragen? Und wo würde sie unterkommen?

Auf den Bambusplattformen waren nur wenige Lutin zu sehen. Alle Alten und die Kinder waren in den Zelten verborgen. Die Frauen, die sich zeigten, trugen bunt bestickte Westen, grobe Leinenhemden und enge Reithosen so wie früher. Kleider und Röcke waren zu unpraktisch, solange man mit der Herde wanderte. Auch die Männer trugen enge Hosen und Schaftstiefel, dazu speckige Lederjacken. An heißen Tagen verzichteten sie auf Hemden. Ein locker umgeschlungener Seidenschal verhinderte, dass sie sich an den steifen Kragen die Nacken wund scheuerten.

Die meisten hatten ihre Jacken nicht zugehakt. Über ihrer Brust baumelten Amulette aus Federn, Hornplatten und allen erdenklichen anderen Dingen bis hin zu eingetrockneten Nabelschnüren oder mumifizierten Zehen. Aus ihren Gürteln ragten die Griffe des Nackenstechers und des Häutermessers, der beiden Klingen, die jeder Lutin erhielt, sobald er zum Mann wurde.

Ganda trug noch immer das rote Kleid, in dem sie in jener schicksalhaften Nacht vor Emerelle getreten war. Es war unpassend für das Leben in der Steppe. Sie spürte die Blicke, mit denen sie gemustert wurde.

Der Schwarze hatte ihr einiges über ihre Legende erzählt. Er kannte sich aus. Schließlich hatte er die Bücher und Flugschriften gedruckt, in denen Elija ihre Geschichte weit über den engen Horizont der Wahrheit hinaus gesponnen hatte. Sie war eine Heldin, die in den Kerkern der Elfen verschwunden war. Unbeugsam und tapfer, hatte sie angeblich nicht einmal unter der Folter die Sache der Rotmützen verraten. Ganda lächelte freudlos. Mit diesen Geschichten würde sie leben müssen. An sie zu rühren, hieße das empfindliche Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Lüge zu gefährden, auf dem jene Welt beruhte, die Elija in seinen Schriften entworfen hatte.

»Ich bin Kommandantin Schlüsselchen«, rief Ganda den Kriegerinnen und Kriegern an den Armbrüsten zu. »Ich bin zurückgekehrt, um meinen Platz in der Herde einzufordern. Bringt mich zu Elija!«

Zwei Kriegerinnen schwenkten ihre Armbrüste auf sie ein. Zwischen den Plattformen auf den Rücken der Hornechsen wurden Flaggensignale getauscht. Früher hatte es einmal einen eigenen Wimpel für sie gegeben, der einen roten Schlüssel auf gelbem Grund zeigte. Heute nahmen sie für sie den Wimpel mit der Bedeutung fremd. Das zu sehen, machte ihr mehr zu schaffen, als sie erwartet hatte.

Schließlich gab ihr eine Kriegerin mit einem roten Turban ein Zeichen, sich entlang der Front der Hornechsen zu bewegen.

»Du findest Elija auf Wolfsbeißer!«, rief die Lutin.

Ganda schnaubte verächtlich. Sie wollten sie also auf die Probe stellen! Eine Fremde könnte nicht wissen, zu welcher Echse sie gehen musste. War es nur die Schlacht, die ihre Sippe so misstrauisch machte? Zu ihrer Zeit hatte man Fremde nie so unfreundlich empfangen.

Die Hornschildechsen musterten sie aufmerksam mit ihren großen, meergrünen Augen. Manche klapperten mit den Schnabelschnauzen. Der Rauch und der Kampfeslärm machte sie unruhig. Immer wieder erklang das ängstliche Blöken der Kälber aus der Mitte des Kreises.

Ganda blieb vor einer Echse mit graugrünem Schnabel stehen. Breite gelbe Streifen wie stilisierte Sonnenstrahlen schmückten den Hornkragen. Wolfsbeißer war schon alt gewesen, als Ganda geboren wurde. Selbst jetzt, inmitten der Schlacht, strahlte er eine majestätische Ruhe aus.

Die Lutin nahm Augenkontakt mit ihm auf und streckte dann vorsichtig die Hand aus, um ihm über die fleischige Lippe zu streicheln, in die der Hornschnabel überging. »Fürchten dich die Wölfe noch immer, Starkschnabel?«, fragte sie zärtlich. »Alt wie ein Fels kommst du mir vor und genauso stark. Ich weiß noch, wie ich im Schatten zwischen deinen Beinen mit Grashüpfern gespielt habe. Kennst du mich noch?«

Die große Echse legte den Kopf schief. Die weiten Nüstern bebten. Fauchend schnaubte das Reptil. Dann schoss die raue, lila Zunge hervor. Ihre Berührung fühlte sich an, als reibe grober Sand über Gandas Haut.

»Komm herauf!«, erklang eine Stimme über ihr. Auf das Geländer der Bambusplattform stützte sich ein junger Lutin. Er zwinkerte ihr freundlich zu. Etwas an ihm kam Ganda vertraut vor. Selbst für einen Lutin war der junge Mann recht extravagant gekleidet. Seine Hose war mit goldenen Blumen bestickt. Statt eines Gürtels trug er eine breite, rote Bauchbinde, aus der die Griffe des Häutermessers und des Nackenstechers hervorlugten. Seine Lederjacke war mit roten Litzen abgesetzt. Um den Hals hatte er einen schmuddelig weißen Seidenschal geschlungen. Die Jacke klaffte weit offen, sodass man seinen flachen Bauch sehen konnte. Ein hübscher Kerl, dachte Ganda beiläufig. Sie kletterte die Leiter hoch und duckte sich unter dem Geländer hindurch.

Der Krieger schnalzte mit der Zunge. »Du siehst gut aus, Tante Ganda. Du ...« Sein Blick verharrte auf ihrer Silberhand.

»Bei den Alben, was ist denn das?«

Ganda überging die Frage. »Tante?« Der Lutin lächelte breit.

»Nikodemus. Ich war noch ein Junge, als die Elfen dich verschleppt haben, Kommandantin. Das hat sich inzwischen geändert.« Ganda trat einen Schritt zurück und musterte ihn noch einmal von den Ohrenspitzen bis zur Sohle. Niemals hätte sie in dem selbstsicheren jungen Kobold den schüchternen Jungen von einst erkannt. Jetzt verstand sie, warum er einen so nachhaltigen Eindruck bei Rika, der Flusshexe, hinterlassen hatte.

Er deutete über die Schulter. »Mein Bruder erwartet dich, Kommandantin Schlüsselchen.« Nikodemus beugte sich vor und flüsterte. »Pass auf dich auf. Er hat heute wieder seine Stimmungen. Er ist wütend, weil die Trolle sich dermaßen das Fell gerben lassen. Sei vorsichtig mit dem, was du sagst. An solchen Tagen weiß man nie, wie er sich verhalten wird.«

»Danke«, entgegnete sie knapp. Zumindest daran hatte sich also nichts geändert. Elija war auch früher schon für seine Launen berüchtigt gewesen, auch wenn Nikodemus das als Kind vielleicht nicht hatte wahr haben wollen.

Plötzlich umarmte der junge Lutin sie. Er drückte sie fest an sich. Ganda schob die spitze Fuchsschnauze in seinen offenen Kragen. Er duftete angenehm nach Schweiß, Fuchsfell und dem unverwechselbaren Geruch der Hornechsen. Die Lutin musste mit den Tränen kämpfen. Fast ihr ganzes Leben hatte sie dieser Geruch umgeben. Sie war zu Hause! Kein Duftwasser der Elfen roch so köstlich.

»Geh jetzt, Tantchen«, drängte Nikodemus. »Er wartet nicht gern.« Ganda löste sich aus der Umarmung. Wolfsbeißer bewegte sich, und die Plattform schwankte ein wenig. Ganda musste nach dem Geländer greifen, um ihr Gleichgewicht zu halten. Nikodemus hatte das nicht nötig. Er grinste sie an. Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Lümmel einmal so ein gut aussehender Lutin werden würde! Als Ganda das schwarze Zelt umrundete, fühlte sie sich zunehmend unwohler. Früher hatte sie sich ganz gut darauf verstanden, wie man Elija zu nehmen hatte. Ob er sich wohl sehr verändert hatte? Der Anführer der Lutin wandte ihr den Rücken zu. Er blickte auf ein weites Feld hinaus, auf dem sich ein großes Rudel Trolle ein erbittertes Gefecht mit den Streitwagen der Elfen lieferte. Elija hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ganda spürte, dass er um ihre Anwesenheit wusste. Aber er ließ sie warten. Strafte sie mit seinem Schweigen.

Elija hatte sich einen weiten, rotbraunen Ledermantel lose um die Schultern gehängt. Aus der linken Tasche lugte eine rote Mütze hervor. Um den Hals des Kobolds war ein weinroter Schal geschlungen. Eine abgewetzte blaue Hose mit breiten roten Streifen über den Nähten war nachlässig in hohe Schaftstiefel gestopft. Ob er ein Hemd trug, konnte Ganda nicht sagen, solange er ihr den Rücken zuwandte.

Die Trolle behaupteten sich im Kampf gegen die Streitwagen. Als die Elfen sie nicht zu überrennen vermochten, zogen sie sich zurück.

»Die Masse triumphiert über die Arroganz der Elite«, sagte Elija endlich. Dann wandte er sich um. Seine Brust war mit wulstigen Schmucknarben übersät. Silber sprenkelte das Haar seiner Schnauze. Seine Augen musterten die Lutin kalt durch die kleine Brille.

Alt war er geworden, das war Gandas erster Gedanke. Und die Kälte, mit der er sich umgab, war noch schneidender.

»Ja, meine Brust ... Wir alle müssen Opfer bringen. Bei unseren Verbündeten gilt man nur dann als richtiger Mann, wenn man so etwas klaglos über sich ergehen lässt. Sie schmieren einem eine graue Paste in die Wunden. Es heißt, ihre Schamaninnen hätten da hineingepinkelt. Und das ist noch eine der angenehmeren Zutaten. Die Wunden heilen schlecht, und es bilden sich diese üblen Narben. Unsere Verbündeten haben ein eigenwilliges Verständnis von Schönheit. Das ist der Preis ...«

Er sah ihre Hand. »Und wie ist es dir im Kerker ergangen?«

Ganda stutzte. Wusste er es wirklich nicht besser? Glaubte er die Geschichten, die er über sie geschrieben hatte, am Ende gar selbst? Es war unmöglich, in seiner Miene zu lesen. Nichts verriet, ob er scherzte oder es ernst meinte.

Die Lutin hob ihre Silberhand und streifte den Ärmel ihres Kleides zurück. »Jeder zahlte seinen Preis«, sagte sie, ohne sich damit auf irgendetwas festzulegen.

Er trat dicht vor sie. Sein Atem roch nach Knoblauch. Vorsichtig berührte er die silberne Hand. »Sie haben dir übel mitgespielt, die Elfen ...«

»Ja.«

»Gut, dass du ihnen entkommen bist.«

Ganda war das Versteckspiel leid. »Ich war nicht ihre Gefangene. Ich ...«

Er legte ihr sanft die Hand auf die Lippen. »Ich will das nicht hören. Weißt du, jeder erschafft sich seine eigene Welt. Sie setzt sich aus Wahrheit, Missverständnissen und Lügen zusammen. Deshalb bleiben wir letztlich immer einsam. Niemand teilt wirklich die Welt eines anderen. Es gab eine Zeit, da habe ich dich für eine Verräterin gehalten, Ganda. Du warst unsere beste Pfadfinderin. Du weißt, wie dringend wir dich gebraucht hätten. Du bist gesehen worden, wie du zweimal in einer Nacht in Emerelles Burg gegangen bist. Du weißt ja, wir Lutin haben unsere Augen überall. Niemand hat dich jemals wieder von dort fortgehen sehen. Ich habe hunderte Male versucht, in die Burg zu gelangen. Doch Emerelle schätzt mich nicht. Sie hat es verstanden, mich fern zu halten. Um unsere Spitzel weiß sie jedoch nicht. Selbst in ihrem Fechtsaal wird sie beobachtet. Dich zu finden, war dennoch unmöglich. Ich hatte Angst, dass du tot bist. Doch auch dafür gab es keine Zeugen. Gerüchte machten die Runde, dass du unsere Sache verraten hättest. Du als meine Vertraute! Ich musste etwas dagegen unternehmen. Also machte ich dich zur Märtyrerin. Kommandantin Schlüsselchen, von den Elfen verschleppt, weil sie eine der Größten unseres Volkes war. Eine Heldin im Kampf gegen die Knechter. So hast du mir weiterhin gedient und unsere Sache vorangebracht. Zerstöre das nicht, Ganda. Für unsere Kampfgefährten bist du die Lutin, die ihren Folterknechten entkommen ist. Die Aufrechte, die in all den Jahren, die man sie im tiefsten Kerker von Burg Elfenlicht gefangen hielt, niemals unsere Sache verraten hat. Die Kriegerin, die ihren Wächtern entkam und zu uns zurückkehrte, um wieder den Kampf gegen die Unterdrücker aufzunehmen. Die Stunde des Sieges ist nicht mehr fern, Ganda. Bald schon wird sich die Einheitsfront aller Kobolde erheben und die Herrschaft der Elfen hinwegfegen.«

»Mit geringfügiger Unterstützung durch die Trolle.« Sie blickte über das weite Schlachtfeld. Die Kämpfe in unmittelbarer Nähe waren zum Erliegen gekommen. Es schien, als zögen sich die Elfen zurück.

»Zynismus steht einer Kommandantin der Rotmützen nicht gut zu Gesicht, Ganda. Auch die Trolle sind Opfer der Elfen. Es war nur folgerichtig, dass wir uns im Kampf gegen den gemeinsamen Feind unterstützen.«

»Und in welches Licht stellt es unsere Sache, wenn wir die Unterstützung blutsaufender Ungeheuer brauchen?«

Sie berührte Elijas vernarbte Brust. »Kann ein Sieg nicht auch zu teuer erkauft sein?«

»Brennt in deiner Brust ein Feuer, Ganda?«

Sie sah ihn misstrauisch an. »Wie meinst du das?«

»Gibt es etwas, wofür du bedenkenlos dein Leben geben würdest? Hat dein Leben ein Ziel? Gibt es für dich einen höheren Wert, als einfach nur zu existieren?«

»Zu existieren hat mir bisher genügt.«

»Was für eine kümmerliche Seele du doch hast. Was ist in den Kerkern der Elfen aus der Ganda geworden, die ich einmal kannte?« Er packte sie bei den Armen. Seine Augen glänzten, und seine Stimme überschlug sich fast, als er weitersprach. »Du musst für etwas brennen, Ganda. Es ist gleich, für was! Sei es die Leidenschaft für einen Mann oder für ein hehres Ziel. Wenn du das nicht tust, dann vegetierst du nur, und nichts unterscheidet dich von einem Tier. Entfache das Feuer in dir! Folge mir auf meinem Weg, und dein Leben wird auf eine Weise reich werden, wie du es dir nicht im Entferntesten vorstellen kannst. Du fragst mich, wie ich mit den Trollen paktieren kann. Dieses Bündnis hat all ihren Koboldsklaven die Freiheit gebracht! Und wenn die Elfen erst einmal besiegt sind und mit ihnen all jene, die sie unterstützen, dann wird es in ganz Albenmark keine Knechtschaft mehr geben. Es zählt dann nicht mehr, in was für einen Leib eine Seele geboren wird. Es zählt allein das Feuer in deiner Brust, das dich auf deinem Lebensweg vorantreibt. Es wird immer Handwerker geben, Soldaten und Anführer, die sich berufen fühlen, die Schicksale ganzer Völker zu lenken. Aber deine Geburt wird nicht mehr darüber bestimmen, was dereinst aus dir werden wird. Dies ist die Welt, in der ich leben will. Es ist die Welt, die ich erschaffen werde, Ganda. Der Lauf der Geschichte ist vorherbestimmt. Es ist unausweichlich, dass sich die Unterdrückten gegen die Tyrannen erheben werden. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, so wie ein Knabe zum Mann heranwächst. Es ist unausweichlich, dass das Joch der Elfentyrannei abgeworfen wird. Die einzige Frage ist, welche Generation die Kraft für diesen großen Kampf aufbringen wird. Ich habe mich entschieden, dass die Zeit gekommen ist. Und mein Jungbrunnen ist es zu sehen, wie sich durch meinen Willen und meine Taten die Welt um mich herum zum Besseren wandelt.«

Ganda betrachtete das Schlachtfeld, und Elija schien ihre Gedanken zu erraten.

»Wir dürfen nicht zimperlich sein, Kommandantin Schlüsselchen. Was wir erleben, ist eine Geburt. Und bei jeder Geburt fließt auch Blut.«

Die Lutin bezweifelte, dass Elija jemals bei einer Geburt zugegen gewesen war. Doch das Feuer, von dem er sprach, war Wirklichkeit. Er brannte, und sie beneidete ihn darum. Sie hatte kein Ziel.

»Warum greifen uns die Elfen nicht an?«

»Weil wir doch nur Diener und Händler sind. Wir sind keine Bedrohung. Sie können sich nicht vorstellen, dass sich die Sklaven, die jahrhundertelang jede Drecksarbeit erledigt haben, einmal gegen sie erheben werden. Ihre Welt steht still. Sie ist vollkommen, und deshalb darf sich in ihr nichts ändern. Ich sagte dir ja schon, jeder lebt in seiner eigenen Welt. Meine bewegt sich. In nicht allzu ferner Zukunft wird es einen Tag geben, der die Elfen sehr überraschen wird. Sie glauben, dass die Fronten klar verlaufen.« Elija deutete hinaus auf das Schlachtfeld. »Dort ist der Ort, an dem der Krieg stattfindet, so denken sie. Doch bald schon werden wir den Krieg mitten in ihre Paläste tragen.«

Auf Adlerschwingen

»Dort unten, der sieht aus wie ein Rudelführer. Den schnappen wir uns!« Wolkentaucher antwortete ihm in Gedanken. Er kippte über den linken Flügel ab und stürzte in die Tiefe. Eisfeder schloss sich dem Sturzflug an und auch der große Lamassu Artaxas. Wenn sein stierleibiger Gefährte zu einem tollkühnen Flugmanöver ansetzte, hielt Melvyn jedes Mal die Luft an. Er erinnerte sich noch zu gut an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Artaxas war auf eine Felswand zugeflogen, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, dein Hindernis auszuweichen. Dass er noch lebte, grenzte an ein Wunder. War es Ungeschick oder etwas anderes? Der große Stiermann hatte es ihm nie verraten.

Der warme Wind brannte Melvyn im Gesicht. Er lockerte die Muskeln seines Schwertarms. Ein paar Augenblicke noch ... Die Trolle hatten sie entdeckt und stoben auseinander. Sie waren mutige Krieger, das musste man ihnen lassen. Dass sie sich trotz der katastrophalen Verluste wieder zu sammeln versuchten, hatte Ollowain nicht vorhergesehen. Sie mussten die Rudelführer töten und die Schamaninnen. Ihr Heer musste den Kopf verlieren; nur dann würden sie auch das Herz verlieren, noch weiter zu kämpfen.

Wolkentaucher spreizte das Gefieder, um den Sturzflug abzufangen. Melvyn ließ sich auf dem Himmelssteig nach hinten kippen. Die Kniegelenke um die Querstange gehakt, hing er mit dem Kopf nach unten. Er sah, wie der Rudelführer der Trolle versuchte sich wegzuducken. Wolkentaucher flog mit rasender Geschwindigkeit an dem Troll vorbei. Melvyns Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen. Der Rückhandschlag traf den Troll mitten ins Gesicht.

Melvyn spürte, wie unter der Wucht des Treffers Knochen brachen. Wie alle Reiterschwerter war seine Waffe kopflastig und schlecht ausbalanciert für einen Kampf zwischen zwei Fechtern. Doch dafür war diese Klinge auch nicht erschaffen worden. Sie sollte mit tödlicher Wucht unter fliehende Feinde fahren.

Wolkentaucher stieg in einer steilen Kurve dem Himmel entgegen und stieß in wilder Freude einen Siegesschrei aus. Melvyn schwang sich hoch und griff mit der Linken nach der Hauptstange des Himmelssteigs. Dann warf er einen flüchtigen Blick zurück über die Schulter. Der Rudelführer der Trolle lag hingestreckt zwischen seinen Kriegern. Die Hufe von Artaxas trommelten auf hastig hochgerissene Schilde. So retteten die Trolle ihre Köpfe, doch die Wucht der Lamassutritte schleuderte sie in den Staub.

Immer höher stieg Wolkentaucher empor. Er flog jetzt in weiten Kreisen mit ausgebreiteten Schwingen. Der Adler ließ sich vom Aufwind über der heißen Ebene tragen.

Aus großer Höhe erinnerte das Schlachtfeld ein wenig an einen Falrach-Tisch. Einheiten schrumpften zu Spielfiguren. Man überblickte alles, jede Bewegung auf dem Feld. Was unten am Boden durch Staub und Rauch verborgen blieb oder durch die Eigenheiten des hügeligen Geländes, hier oben war es offenbar.

Ollowain war mit den silbern schimmernden Reihen der Elfenritter ins Herz des Trollheeres vorgestoßen. Die Schlachtlinien der Reiter hatten sich aufgelöst. Das Bild wurde bestimmt von Reitern, die nun in kleinen Gruppen den Fliehenden nachstellten. Immer weiter stoben sie auf die Ebene hinaus. Weit vorn an der Spitze erkannte Melvyn einen Ritter mit wehendem weißem Mantel. Aus der Höhe war es unmöglich zu sagen, ob es sich um Ollowain oder Graf Fenryl handelte. Doch wer auch immer es war, er hatte sich zu weit vorgewagt. Man musste ihn warnen. In seiner Flanke begannen die Trolle sich zu sammeln. Bald wäre ihm der Rückweg abgeschnitten.

Melvyn musste den Kopf verdrehen, um den Reiter nicht aus den Augen zu verlieren, während Wolkentaucher seine Kreise zog. Unter ihnen schwebten Artaxas und Eisfeder. Weit im Osten stieg eine riesige Staubwolke in den Himmel. Melvyn musste lächeln, als er daran dachte, wie Nestheus den Schwertmeister verflucht hatte. Der junge Kentaurenkrieger hatte kurz nach Sonnenaufgang den Befehl erhalten, mit hundert Pferdemännern weit nach Osten abzurücken. Dort sollten sie Bündel aus trockenen Zweigen sammeln, um diese dann an Seilen hinter sich her zu ziehen. Ihre einzige Aufgabe in der Schlacht bestand darin, so viel Staub wie möglich aufzuwirbeln und den Trollen vorzugaukeln, dass sich noch ein zweites Heer von Osten her näherte. So würde Nestheus keinen einzigen Schwerthieb in dieser Schlacht führen.

»Siehst du die Bewegung dort unten bei dem Bach? Dort im Buschstreifen«, erklang Wolkentauchers Stimme in seinen Gedanken.

Melvyn war ein wenig ärgerlich über die Ablenkung. Er hatte auch den Ritter mit dem weißen Umhang aus den Augen verloren. Er drehte sich und brauchte eine Weile, bis er das Geländestück ausgemacht hatte, das der große Adler meinte.

»Was ist dort?«, schrie der Wolfself. Obwohl er die Adler nun so lange kannte und er ein Windsänger war, der sich mit den majestätischen Greifvögeln allein durch Gedanken verständigen konnte, fühlte er sich sicherer, wenn seine Stimme den Gedanken Worte folgen ließ. Melvyn wusste auch, dass das Brausen des Windes die meisten seiner Worte verschlang; aber dennoch vermochte er in Augenblicken wie diesen nicht an sich zu halten. Statt zu antworten, glitt der Adler in einem weiten Bogen tiefer. Melvyn hatte durchaus scharfe Augen, doch wenn er mit Wolkentaucher flog, fühlte er sich stets blind wie ein Maulwurf.

Dann endlich bemerkte auch er die Bewegung. Hunderte Gestalten schlichen geduckt durch die Büsche. Ein verborgenes Heer! Und es bewegte sich geradewegs auf die Flanke der Kutschen zu, aus denen die Ballons aufgestiegen waren. Auf dem Weg, den die Trolle eingeschlagen hatten, würde ein hoher Hügelkamm sie vor den Blicken der Kobolde verbergen. Erst die letzten zweihundert Schritt mussten sie durch offenes Gelände.

»Wenn die Trolle die Kobolde überrumpeln, dann schneiden sie dem restlichen Heer den Rückzug ab.«

Melvyn fluchte. In weniger als einer halben Stunde mochte sich ihr Sieg in eine Niederlage verwandeln. »Bring mich runter zu Elodrin!«

Grüne Augen

Ollowain blickte in den treibenden Rauch. Sie war hier, er konnte sie fühlen. Ganz dicht hinter dem Schleier aus Rauch wartete sie auf ihn. Lyndwyn. Dies war der Tag, der sie wieder miteinander vereinen würde. Der Tag, den er so oft herbeigesehnt hatte. Der Tag, an dem die Wunde in seinem Herzen endlich heilen würde.

»Feldherr?« Senthor, der alte Kentaurenkrieger, kam ihm seltsam weit entfernt vor, obwohl er nur zwei Schritte neben ihm stand. Sein Gesicht war mit Ruß verschmiert, in dem sein Schweiß wie schwarze Tränen glänzte. Wie die Tränen Emerelles im Palast. Jetzt war die Stunde gekommen, ihr Todesurteil zu vollstrecken.

»Wir sollten zu den anderen zurückkehren«, sagte der Kentaur mit rauer Stimme. Er war von Erschöpfung gezeichnet. Die Gewaltmärsche der letzten Nächte und die Schlacht hatten ihn ausgebrannt. Senthor war eine verlöschende Flamme. Und doch hatte er den ganzen Tag nicht von seiner Seite weichen wollen.

Ollowain deutete mit dem blutigen Schwert auf die wirbelnden Rauchschleier. »Dort wartet noch jemand auf mich.«

Der Kentaur schüttelte entschieden den Kopf. »Dort ist niemand mehr! Du hörst doch die Hörner. Wir müssen uns zurückziehen. Das war dein Befehl, Feldherr.«

Ollowain streichelte seinem Hengst den Hals. Er beugte sich vor und flüsterte: »Komm, Großherz. Du weißt, wen ich suche. Trag mich das letzte Stück des Weges. Es ist nicht mehr weit.«

Der Schimmel trabte langsam dem Rauch entgegen. Nicht weit entfernt erhob sich eine einsame Felsklippe über die Hügel der Steppe. Nach Osten geneigt, zeichneten sich ihre Umrisse scharf gegen den rauchverhangenen Himmel ab. Im Schatten der Klippe hatten sich einige Trolle gesammelt. Es waren nicht nur Krieger. Ollowain erkannte einen Halbwüchsigen. An seiner Seite standen eine alte Vettel, die sich auf ihren Stab stützte, und ein zweites Trollweib, das sein Gesicht hinter einer Maske verbarg. Mehr und mehr Krieger eilten zu der Klippe. Der Schwertmeister atmete schwer aus. Das war der Kampf, den er suchte.

»Das muss der junge König sein«, fluchte Senthor. »Lass uns schnell von hier verschwinden. Hier wird es bald von Trollen nur so wimmeln.«

»Keine Sorge, ich bin ein Ritter. Ich töte keine Kinder.«

»Davon rede ich nicht, Feldherr. Die werden uns töten. Es sind zu viele! Bitte, Ollowain. Komm!«

Eine Bewegung im Rauch erweckte die Aufmerksamkeit des Schwertmeisters. Ein Stück südlich der Klippe lag eine Ruine. Vielleicht ein längst aufgegebenes Jagdschloss. Es war zu wenig erhalten, um zu sagen, was für ein Gebäude es einmal gewesen sein mochte. Abgesehen von ein paar Grundmauern war ein filigran durchbrochener, steinerner Fensterbogen alles, was von der einstigen Pracht des Gemäuers geblieben war.

Nahe dem Fensterbogen war einer der Streitwagen aus Alvemer gestrandet. Die stolzen Rösser lagen erschlagen in ihren Geschirren. Der Wagenlenker hielt selbst im Tod ihre Zügel. Zertretene Pfeile waren im verbrannten Gras verstreut. Die zerfetzten Seidenbanner bewegten sich träge im Wind. An das zerbrochene Rad des Wagens war ein großer Trollschild gelehnt. In seinem Windschatten kauerte eine Gestalt, die sich in einen zerfetzten Umhang gewickelt hatte. Matt winkte sie ihm.

Das Winken ... Ollowain war plötzlich wie in Trance. Er fror, wie auf der Eisebene, als er Lyndwyn im verlassenen Heerlager der Trolle gefunden hatte. Die Gluthitze des Sommertags war verflogen. Er spürte wieder den schneidenden Wind der Snaiwamark.

Langsam trottete sein Schimmel zu dem Streitwagen. Sein Traum aus Iskendria würde sich erfüllen! Diesmal würde er sie retten. Er würde nicht zulassen, dass Galawayn die Figur der Zauberin aus dem Spiel nahm! Gegenwart und Vergangenheit waren eins geworden. Seine Liebe zu Lyndwyn hatte die Fesseln der Zeit überwunden. Diesmal würde sie nicht sterben! Er schwang sich aus dem Sattel.

Rotes Haar rahmte ein blasses Gesicht. Ihre wunderbaren grünen Augen nahmen ihn gefangen. Sie waren ... Rotes Haar?

»Bei den Fürzen meiner Urahnen! Ollowain! Sie kommen die Klippe hinüber. Wir müssen fort!« Die derben Worte des Kentauren zerstörten das Trugbild. Lyndwyn hatte schwarzes Haar! Sie ... Er zog den zerrissenen Umhang zur Seite. Darunter schimmerte eine grüne Rüstung mit goldenen Beschlägen. Vor ihm lag Caileen, die Gräfin von Dorien.

»Flieh ...«, hauchte sie. »Ich wollte dich nicht herrufen, als ich gewunken habe. Ich wollte dir ein Zeichen geben zu flüchten ... Ich ...« Blut troff von ihren Lippen. Eine zerbrochene Speiche ihres Streitwagens ragte über der Hüfte aus ihrer Rüstung.

»Du wirst hier nicht sterben«, sagte Ollowain sanft. Er rammte sein Schwert in den Boden und hob sie auf. Das Gewicht der Gewappneten ließ ihn taumeln. Sein Hengst kam ihm entgegen. Er schob Caileens Fuß in einen der Steigbügel und wuchtete sie in den Sattel.

Hinter ihnen erklang ein rauer Ruf. Einer der Trolle forderte ihn zum Kampf. »Bring sie zu Nardinel!«, befahl Ollowain dem Kentauren. »Zu niemand anderem! Nardinel wird sie retten. Wenigstens diesmal werde ich nicht zu spät gekommen sein.«

Der Kentaurenkrieger wartete.

»Bring sie fort, Senthor!«

»Nicht ohne dich, Herr!«

»Du bist zu schwach, um sie zu tragen, und auch mein Hengst ist zu erschöpft, um zu entkommen, wenn ich hinter Caileen in den Sattel steige. Zögere nicht. Noch können wir den Trollen zwei Leben entreißen!«

»Warum tust du das?«

Wie sollte er das dem Kentauren erklären? »Weil ich ein Ritter bin«, sagte er kurz angebunden. »Nun reite, damit es jemanden gibt, der meine Geschichte erzählen kann.«

Dunkles Blut rann von der Rüstung der Elfengräfin und troff auf das schneeweiße Fell des Hengstes.

Ollowain musste an Lyndwyns Blut im Schnee denken. »Reite!«, rief er. Dann schlug er dem Hengst auf die Flanken.

»Reite!«

Senthor griff nach den Zügeln. »Ich hole Verstärkung. Halte aus!« Wieder erklang die fordernde Stimme hinter Ollowain. Es war zu spät! Die Trolle waren überall. Sie schnitten Senthor und Caileen den Weg zurück in die Hügel ab. Dem Kentauren wurde das Schwert aus der Hand gewunden.

Caileen war zusammengesunken. Ihr Kopf ruhte auf der Mähne des Schimmels.

»Lasst die beiden! Sie sollen sehen, wie er stirbt! Der Schwertmeister hat Recht. Es soll einen Zeugen für seinen Tod geben. Sonst werden sie unsinnige Geschichten erfinden.« Die alte Vettel hatte gesprochen. Ihre Stimme war voller Kraft. Obwohl sie mehr als hundert Schritt entfernt war, verstand der Elf jedes Wort so deutlich, als stünde sie unmittelbar vor ihm.

Die Trollkrieger fügten sich ihr.

»Hol deine Waffe, Schwertmeister!« Ollowain gehorchte. Caileen blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn er einen wirklichen Kampf lieferte, dann würde sie verbluten.

Der Schwertmeister hob die Klinge zum Fechtergruß und küsste den Stahl. Er würde niemanden mehr töten.

Da waren sie wieder, Lyndwyns grüne Augen. Hinter dem Schleier aus Rauch. Sie war hier und wartete auf ihn!

Lächelnd ging Ollowain dem Troll entgegen, der ihn herausgefordert hatte, und wich dem Hieb nicht aus, der auf seinen Kopf zielte.

Der Bote

Erleichtert atmete Alvias auf, als er dem endlosen Strom abgekämpfter Reiter entkam. Eine der Lehren des Falrach ging ihm durch den Kopf. Eine Reitereinheit ist wie ein Pfeil im Köcher des Kriegsmeisters. Ist das Ziel gut gewählt, wird der Schuss töten. Doch wie einen Pfeil wirst du deine Reiter in dieser Schlacht kein zweites Mal einsetzen. Ganz gleich, ob die Reiter siegten oder abgeschlagen wurden, selbst disziplinierte Einheiten hatten die Angewohnheit, sich nach einem Angriff zu zerstreuen. Entweder flohen sie vor einem übermächtigen Gegner, oder sie setzten dem geschlagenen Feind nach.

Blutende Kentauren und Elfenritter in zerschlagenen Rüstungen zogen sich Seite an Seite durch das trockene Flussbett zurück. Sie sahen nicht aus wie Sieger.

Der Hofmeister Emerelles lenkte seinen Rappen eine flache Uferböschung hinauf. Er hielt neben einem Minotauren mit bandagiertem Kopf, der sich schwer auf einen Speer stützte und auf den Flüchtlingsstrom hinabblickte.

»Wo finde ich den Befehlshaber, Freund?« Der Stiermann hob den Kopf. Ihr Blick begegnete sich fast auf gleicher Höhe. Eines der Augen des Kriegers war nur noch eine leere, blutende Höhle. Stumm wies der Minotaur zu einem Hügel im Osten.

»Danke.« Alvias winkte seiner Eskorte, ihm zu folgen. Der Hofmeister war erschöpft. Seit einem Tag und einer Nacht war er nicht mehr aus dem Sattel gekommen. Seinem Hengst schien der lange Ritt weniger auszumachen als ihm. Sein Schritt war immer noch kraftvoll, auch wenn das Fell voller Kletten war und der Staub der weiten Steppe ihm das Weiß in den Augen gerötet hatte.

Das Land fiel in sanften Wellen nach Norden hin ab und öffnete sich auf eine weite Ebene. Meilen entfernt erkannte er eine Herde von Hornschildechsen, die sich in schützendem Kreis um ihre Jungen aufgestellt hatten. Überall auf der Ebene eilten einzelne Reiter und Streitwagen dem Hohlweg entgegen, der hinab zur ausgetrockneten Myra führte. Nur wenige scherten nach Osten aus, dorthin, wo auf einem Hügel über schweren Fuhrwerken das Banner der Königin, ein goldenes Pferd auf grünem Grund, und die Standarte Alvemers mit ihrer silbernen Nixe wehten.

Alvias war froh, die Botschaft der Königin endlich überreichen zu können. Solange er Emerelle kannte, hatte er sie noch nie in so seltsamer Stimmung erlebt wie an dem Abend, an dem sie ihn bat, Ollowain zu finden. Eindringlich hatte sie ihm eingeschärft, dass die Nachricht nur dem Schwertmeister und niemand anderem ausgehändigt werden durfte.

Der Hofmeister führte seine Eskorte den Hügel hinauf. Die Wagen oben waren zu einem weiten Kreis zusammengeschoben, als wollten sie wie die Hornschildechsen eine Herde schützen. Auf dem Hang lagen hunderte tote Trolle im zertrampelten Gras. Doch auch die Verbündeten hatten einen mörderischen Blutzoll entrichtet.

Ein Kobold, der eine schmutzig rote Signalfahne schwang, wies die neuen Verteidiger zu einer Lücke im Wall der Wagenburg. Eine Gruppe von Bogenschützen und Speerkämpfern stieg von Streitwagen, die am Fuß des Hügels gehalten hatten. Müde stapften sie über die Leichen hinweg, während die Wagenlenker ihre Gefährte hinab zum Flussbett brachten. Alvias sah eine Kriegerin mit langem, blondem Haar verharren. Langsam hob sie ihren Speer und stach die lange Klinge einem der Trolle durch die Kehle. Die Gliedmaßen des Hünen zuckten, während sie das Stichblatt in der Wunde drehte und wieder frei zog. Ihre Kameraden nahmen nicht einmal Notiz von dem beiläufigen Mord an einem Verwundeten.

Im Inneren der Wagenburg standen hunderte Pferde zusammengepfercht. Ein Teil der Kutschen bildete ein zweites, inneres Karree. Die Seitenwände der Ladepritschen waren heruntergeklappt. Dort lagen Kobolde neben feingliedrigen Elfen und Minotauren, deren Brustkörbe so massig wie Weinfässer waren. Ihr Leid hatte alle Grenzen zwischen ihnen verwischt. Blut troff von den Pritschen. Es stank nach Fäkalien und Urin. Die Luft summte vor Fliegen. Einige Elfen und Koboldweiber versuchten verbissen, den Strom von Blut zu stillen und den Tod in seine Schranken zu weisen. Alvias sah die lange Reihe von Leibern unter den Kutschen. An diesem Nachmittag führte der Tod die längere Liste der Siege.

Ein ausgemergelter alter Kentaur trug eine Frau in grün-

goldener Rüstung zu einer der Pritschen. Obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, bedrängte er die Heiler so lange, bis eine wunderschöne Elfe neben der Kriegerin niederkniete. Ihr Gesicht war mit Blutspritzern besudelt und aschgrau vor Erschöpfung, doch all dies vermochte ihre fast schon ätherische Schönheit nicht verblassen zu lassen. Sie hatte etwas Gütiges und Nobles an sich. Etwas, das hier inmitten dieses Schlachthauses des Krieges so fehl am Platz wirkte wie ein Gewappneter inmitten einer Blumenwiese.

Die Heilerin fühlte nach der Kehle der Kriegerin, zog ihren zerrissenen Umhang zur Seite und blickte auf die abgebrochene Radspeiche, die seitlich aus der Rüstung der Sterbenden ragte. Alvias war zu weit entfernt, um hören zu können, was die Heilerin sagte, aber das musste er auch nicht. Ihr trauriges Kopfschütteln sagte mehr als alle Worte.

Der Kentaur packte sie grob am Arm. »Er ist für sie gestorben, hörst du? Das darf nicht vergebens gewesen sein! Du rettest sie! Und wenn es das Letzte ist, was du tust. Das schulden wir ihm! Du ...«

Hörnerklang übertönte das wütende Geschrei des Pferdemanns.

»Braucht ihr eine schriftliche Einladung oder seid ihr einfach nur Feiglinge?«, herrschte ein junger Krieger Alvias an und griff nach den Zügeln seines Rappens. Der Hofmeister sah, wie der Hauptmann seiner Wache zu einer angemessenen Erwiderung ansetzte. Ein Blick, und die Worte blieben unausgesprochen. Alvias hatte von dem jungen Krieger in der abgetragenen Lederrüstung und mit den seltsam wulstigen Armschienen schon gehört.

»Ich denke, Hauptmann Melvyn ist einer der Feldkommandanten hier. Er wird ...«

»Er wird sich nicht mit Höflichkeiten aufhalten. Runter von den Pferden! Und folgt mir!« Alvias stieg ab und löste den schwarzen Schild von seinem Sattel. Er warf den Umhang über seine Schultern und folgte dem Wolfselfen. Obwohl er noch regelmäßig Fechtübungen machte, war es lange her, dass er das letzte Mal auf einem Schlachtfeld gestanden hatte. Er versuchte, die Ruhe eines gleichmäßigen Atemrhythmus in seine Glieder fließen zu lassen. Doch statt sich zu entspannen, verkrampfte er seinen Schildarm.

Melvyn brachte sie zu einer umgestürzten Kutsche, bei der die Leichen so dicht lagen, dass man das Gras nicht mehr sehen konnte. Der Hofmeister vermied es, in die Gesichter der Toten zu blicken. Hier waren viele Elfen gefallen. Die meisten hatte er von Festen auf Emerelles Burg gekannt.

»Ich hab dich bisher noch nicht beim Heer gesehen«, stellte Melvyn fest. »Ich hoffe, du schlägst dich gut.«

»Das hoffe ich auch«, entgegnete Alvias trocken. Am Fuß des Hügels sammelten sich hunderte Trolle. Das scharfe Klacken von Speerschleudern löste den Klang der Hörner ab. Der Hofmeister konnte sehen, wie einer der Trolle mehrere Schritte nach hinten gerissen wurde, als einer der kurzen Speere glatt seine Brust durchschlug.

»Damit wir uns richtig verstehen, wenn du glaubst, das ist hier nichts für dich, dann geh jetzt. Wenn du mitten im Gefecht abhaust, steche ich dich ab.«

»Und du glaubst, das ist so einfach.«

Aus den Armschienen des Wolfselfen schnellten lange stählerne Krallen hervor. »Ob einfach oder nicht, ich werde es tun. Verlass dich darauf! Auch deine Leibwächter werden mich nicht daran hindern. Wir müssen diesen Hügel halten, du Hofschranze. Ich weiß nicht, was im Schädel des Rudelführers da unten vor sich geht, aber er hat sich offensichtlich vorgenommen, uns hier zusammenzuschlagen und erst dann zum Flussbett vorzustoßen.

Das heißt, so lange wir hier kämpfen, bleibt der Fluchtweg offen. Mit jedem Atemzug, den wir den Hügel halten, retten wir einem Krieger das Leben. Wir sind in der Unterzahl und ausgelaugt. Ein einziger Feigling, der aus der Schlacht flüchtet, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.« Melvyn deutete mit der Rechten die Linie entlang. »Sie alle wollen eigentlich nicht hier sein. Sie halten aus, weil sie wissen, wie wichtig es ist. Aber wenn auch nur einer im Gefecht davonläuft, dann könnte die Panik um sich greifen wie ein Strohfeuer. Also bist du Manns genug, hier zu bleiben?«

»Weißt du, ich habe so lange im Sattel gesessen, dass es sich anfühlt, als würde man mir eine Fackel unter mein geschätztes Hinterteil halten. Selbst wenn ich wollte, könnte ich kaum laufen. Das sind wohl beste Voraussetzungen, hier einen Helden abzugeben.«

Melvyn grinste ihn an. »Für einen Mann, der sich nur mit einer Eskorte von Schoßhündchen in die Steppe wagt, beweist du Auge in Auge mit einer Trollhorde noch erstaunlich viel Humor. Ich heiße Melvyn.«

»Angenehm«, entgegnete der Hofmeister und musste darüber schmunzeln, dass ihm Förmlichkeiten des Umgangs bei Hof so sehr in Fleisch und Blut übergegangen waren, dass er selbst jetzt nicht aus seiner Haut kam. »Mich nennt man Alvias.«

Melvyn stöhnte. »Bist du etwa der Alvias? Emerelles Hofmeister?«

»Ich fürchte, das kann ich nicht verneinen.«

»Ein Ort mehr, an dem ich mich nicht mehr blicken zu lassen brauche.«

»Warum?«

»Ich nehme an, du würdest dich revanchieren.« Alvias lächelte. »Nun, auch bei Hof gelten einige Regeln, genau wie hier auf dem Schlachtfeld. Und dort führe ich unbestritten das Kommando. Ein einziger Gast wie du, der Wasser offenbar nur nutzt, um sich gelegentlich die Kehle zu befeuchten, könnte eine ganze Festgesellschaft in die Flucht schlagen mit dem Duft, der ihn sicherer umschließt als jede Rüstung. Dein Erscheinen könnte auf immer den Ruf meiner Herrin zerstören, die prächtigsten Bälle Albenmarks zu geben. Eine Neuigkeit, die die flüchtenden Gäste gewiss binnen kürzester Zeit bis in die entferntesten Fürstentümer tragen würden. Ich müsste dich also, sobald du einen Fuß in Emerelles Burg setzt, von ein paar Pferdeknechten packen lassen, die besser gegen strenge Gerüche ankommen als die Dienerinnen in unseren Bädern. Sie würden dich in einem Stall schrubben, bis dein Duft auf ein Maß reduziert ist, dass unsere Ankleidedamen und Baderinnen dir bei deinem Erscheinen nicht reihenweise ohnmächtig zu Füßen liegen. Wenn du dann ein zivilisiertes Bad über dich ergehen lässt und deine Muskeln mit wohl riechenden Ölen massiert wurden, dann kann ich mir vorstellen, dass du dich zumindest für die Damen, die bei Hof weilen, als ein Gewinn erweist, denn schließlich eilt dir ein gewisser Ruf voraus, Melvyn.«

Der Halbelf hob abwehrend die krallenbewehrten Hände.

»Genug, Alvias! Genug! Darf ich mich nun in eine friedliche Schlacht stürzen? Scharfen Zungen bin ich wehrlos ausgeliefert.«

»Das Wortgeplänkel kann man erlernen wie das Schwerterschwingen. Ich würde mich gerne der Herausforderung stellen, dir ein paar Unterrichtsstunden zu geben. Ich glaube ...« Der ohrenbetäubende Schlachtruf der Trolle beendete Alvias‘ Rede. Mit Kriegshämmern und Keulen auf die großen Schilde schlagend, setzte sich der Kriegerpulk am Fuß des Hügels in Bewegung.

»Wie viel Munition haben wir noch, Misht?« Ein Kobold, dessen linker Arm in einer blutbesudelten Schlinge ruhte, beugte sich über die Brüstung des Fuhrwerks neben ihnen. »Drei Schuss je Speerschleuder und eine Hand voll Armbrustbolzen. Die meisten Bogenschützen von den Streitwagen kommen mit leeren Köchern hier an. Das wird der letzte Angriff, den wir mit ernst zu nehmendem Beschuss empfangen können.«

»Dann sorgen wir am besten dafür, dass sie nicht wiederkommen.«

»Da müsst ihr im nächsten Nahkampf wohl ein wenig unfreundlicher zu ihnen sein, damit diese Dickschädel endlich begreifen, dass sie hier nicht willkommen sind.«

»Machen wir, Misht. Machen wir. Diesmal haben wir eine Geheimwaffe. Einen parfümierten Hofmeister.«

Der Kobold kicherte. »Du kannst wirklich grausam sein, Melvyn.« Alvias fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es war lange her, dass er zuletzt in einer Feldschlacht gekämpft hatte, aber er hatte nicht vergessen, wie bestimmte Zeichen zu deuten waren. Diese alberne Art verhieß nichts Gutes. Es war ein Weg, mit Angst fertig zu werden. Und wenn ein Krieger wie Melvyn Anzeichen von Angst zeigte, gab es allen Anlass, beunruhigt zu sein.

Trotz der Pfeile, die ihnen entgegenschlugen, verfielen die Trolle nicht in Laufschritt. Alvias hörte die tiefen Stimmen der Rudelführer. Sie ermahnten ihre Männer, die Schilde hochzuhalten und ruhig zu bleiben. Wenn sie die Hügelflanke hinaufliefen, würden sie außer Atem hier oben ankommen und schlechter kämpfen. Sie waren nur noch zwanzig Schritt entfernt!

Alvias zog sein Schwert. Koboldarmbrustschützen, die unter den Fuhrwerken kauerten, schossen eine Salve ab. Sie zielten tief und trafen die Trolle in die Beine. Ein Dutzend von ihnen ging in die Knie.

»Du kennst doch sicher die Schriften des Schwertmeisters Falrach«, sagte Melvyn.

Der Hofmeister nickte.

»Er meint, in aussichtsloser Lage sei es das Beste, seine Feinde zu überraschen. Bist du bereit für eine Überraschung?«

Alvias sah erschrocken auf. »Du wirst doch nicht ...« Der Halbelf riss die Faust hoch. »Zum Angriff! Jagt sie den Hügel hinab!« Überall zwischen den Wagen sprangen die abgekämpften Krieger der Verbündeten auf. Kobolde zogen Kurzschwerter und liefen neben hünenhaften Minotauren. Die Elfenritter Alvemers und Arkadiens hoben ihre prächtigen Schilde. Kentauren in goldenen Rüstungen preschten den Hang hinab. Es war ein verzweifeltes letztes Aufbäumen. Alvias sah, wie Pferde vor die Fuhrwerke mit den Verwundeten geschirrt wurden. Der letzte Angriff würde ihnen vielleicht die Möglichkeit geben zu entkommen.

Der Hofmeister ließ sich mit der Welle der Angreifer treiben. Es war verrückt! Die Trolle waren ihnen um mindestens das Dreifache an Zahl überlegen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass Emerelles Botschaft Ollowain niemals erreichen würde, wenn er hier starb. Er hätte die Nachricht jemand anderem geben müssen. Er hätte ... Alvias duckte sich unter einem wuchtigen Keulenhieb hinweg. Seine Reflexe waren noch gut. Die ungezählten Stunden im Fechtsaal der Burg würden sich bezahlt machen. Er sah die Lücke in der Verteidigung des Trolls, und noch bevor er den bewussten Gedanken zum Gegenangriff fasste, machte er einen Ausfallschritt und stieß dem Troll sein Schwert durch den Fuß. Mit einer leichten Drehung bekam er die Klinge wieder frei, ließ sich nach vorne fallen und spürte den Luftzug eines Keulenhiebs im Nacken, der ihn nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Er rollte sich seitlich über die Schulter ab und führte noch im Aufstehen einen Rückhandschlag gegen den Knöchel des Trolls. Das Schwert schnitt durch Fleisch und Knochen. Der Troll stürzte, und noch bevor er auch nur schreien konnte, rammte ihm ein Kentaurenkrieger sein Doppelschwert in die Brust.

Der Schild behinderte den Hofmeister in seiner Beweglichkeit. Seine Angriffe kamen Alvias ungelenk vor. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er sich zwischen den Trollen wie ein Kind fühlte. Er duckte sich weg, suchte nach Lücken in der Verteidigung seiner Angreifer und versuchte, ständig in Bewegung zu bleiben. Es war schwer, an den türgroßen Schilden vorbeizukommen und den Gegnern den Stahl ins Fleisch zu rammen. Für ihre Größe bewegten sich die Trolle recht geschickt. Sie waren gut ausgebildet. Das war kein Heerhaufen von halb verhungerten Ungeheuern wie in den früheren Kriegen. Die Trolle hatten sich verändert.

Alvias bewegte sich wie ein Tänzer zwischen den großen, grauen Leibern. Er war durch die Schlachtlinie gebrochen. Sie waren jetzt überall. Er drehte sich, stach in eine Kniekehle, duckte sich weg. Die Trolle behinderten sich gegenseitig. Um ihre großen Waffen effektiv einzusetzen, brauchten sie Platz. Platz, den sie hier im Gedränge nicht mehr hatten.

Ein leichter Schnitt durchtrennte Fersensehnen und ließ einen weiteren Hünen hilflos stürzen.

Die Trolle stanken nach ranzigem Fett und Schweiß. Manche hatten sich mit dem Blut ihrer Opfer Kreise und Handabdrücke auf den Leib geschmiert. Ohrenbetäubender Lärm drang von der Kampflinie den Hügel hinab. Schlachtrufe, wütende Schreie und das verzweifelte Kreischen von Verwundeten.

Alvias führte einen glatten Stich durch einen Oberschenkel. Einen halben Herzschlag lang betrachtete er verwundert die grau gemusterte Haut seines Opfers. Sie sah aus wie Granit. Erstaunlich, wie sehr die Trolle den Felsen ihrer Heimat glichen.

Eine Finte ließ den verletzten Troll ängstlich zurückspringen. Er stieß mit einem seiner Kameraden zusammen, und beide stürzten zu Boden. Alvias nutzte die Gunst des Augenblicks. Ein Schnitt hinterließ eine feine rote Linie auf der Kehle seines Gegners. Der Troll folgte ihm mit Blicken, wendete den Kopf ein wenig, und die Linie weitete sich zu einem klaffenden Spalt, aus dem das Blut in pulsierenden Stößen hervorquoll.

Aus dem Augenwinkel sah Alvias eine Bewegung und riss in tausendfach geübter Routine seinen Schild hoch, um den Schlag abzufangen. Noch bevor der Schmerz kam, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das hier war kein Fechtsaal!

Der Hieb des Trolls traf ihn mit der Wucht eines Pferdetritts. Alvias wurde von den Beinen gerissen und ein gutes Stück weit zurückgeschleudert. Er prallte gegen etwas Weiches und glitt zu Boden. Welch ein dummer Tod, dachte er seltsam teilnahmslos. Ein Opfer meiner Fechtsaalübungen ...

Einen Schwerthieb hätte er mit seinem Schild leicht ablenken können. So hatte er es in tausenden Fechtstunden getan. Diese Bewegung war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Routine, die von Muskeln und Sehnen ausgeführt wurde, ohne dass er über die Bewegungen noch nachdachte. Das war gut, solange er einem gleich großen Schwertkämpfer gegenüberstand. Doch den Schlag eines Trollkriegshammers so abzufangen, war einfach nur dumm!

Stämmige graue Beine schritten über Alvias hinweg. Ein Troll hob seinen Kriegshammer an, um ihn dem Hofmeister in den Brustkorb zu rammen.

Dem Elfen standen Tränen in den Augen. Sein Schildarm war vor Schmerz ganz gefühllos geworden. Fast wäre Alvias entkommen. Der Hieb streifte nur seine Schulter. Der Hofmeister schrie auf. Dann kippte der Troll über ihm zur Seite. Eine Gestalt mit blutigen Krallen setzte über den gefällten Hünen hinweg. Melvyn!

Der Elf bewegte sich seltsam geduckt. Seine Angriffe waren schnell, effektiv, gnadenlos. Ihnen fehlte die tänzerische Eleganz des Fechtsaals. Wie ein Raubtier versuchte er die Kehle seines Gegners zu finden.

Vom Schmerz ganz benommen, beobachtete Alvias, wie die Trolle vor Melvyn zurückwichen. Andere Krieger drangen in den weiten Kreis, der sich um den Elfen bildete. Ein nach Branntwein stinkender Minotaur kniete neben Alvias und hob ihn auf die Arme. Noch nie war der Hofmeister jemandem, der so schlecht roch, so dankbar gewesen.

Plötzlich, wie auf ein geheimes Zeichen hin, griffen die Trolle wieder an. Ein Kentaur ging hilflos auskeilend mit gebrochenen Läufen zu Boden. Schreie gellten durch die Mittagshitze. Alvias spritzte Blut ins Gesicht.

Der Minotaur warf ihn grob auf die Pritsche eines Fuhrwerks und wandte sich wieder zu den Angreifern um. Alvias lag zwischen toten Kobolden. Einer von ihnen hielt selbst jetzt noch seine Armbrust umklammert. Eine merkwürdige Waffe, auf die ein hölzerner Kasten aufgesetzt war. Er lag zwischen den Holzverstrebungen der Speerschleuder, die man auf den Wagen montiert hatte. Ein stählerner Bogenarm des Geschützes war aus seiner Verankerung gebrochen. Armlange Geschosse mit vierkantigen Spitzen lagen auf dem Boden verstreut. Auch etliche große graue Steine lagen auf der hölzernen Pritsche. Einige von ihnen waren mit Blut verschmiert. Offenbar hatten sie das Schicksal der Kobolde besiegelt.

Immer lauter tönte das Geschrei der Kämpfer. Der Hofmeister wollte sehen, was um ihn geschah. Er konnte nicht einfach nur da liegen und sich seinem Schicksal ergeben. Vom Schmerz ganz benommen, zog er sich an der Seitenwand des Fuhrwerks hoch. Die Trolle waren bis an die Wagen herangekommen. Der Kampf der Verbündeten war nur noch ein letztes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche.

Alvias griff nach einer Armbrust, die zu seinen Füßen lag. Doch vermochte er den linken Arm nicht zu bewegen, und nur mit einer Hand konnte er die Waffe nicht spannen. Entmutigt sah er sich nach seinem Schwert um. Es musste auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben sein, dort, wo er niedergeschlagen worden war. Trotzig zog der Elf sein Messer. So würde er wenigstens mit einer Waffe in der Hand sterben.

Am Fuß des Hügels erschollen dutzende Kriegshörner. Es hörte sich an, als gehe eine riesige Reiterschar zum Angriff über. Das Handgemenge hatte so viel Staub aufgewirbelt, dass man nur undeutlich sehen konnte, was dort geschah.

Eine riesige graue Hand legte sich vor Alvias auf die Seitenwand der Pritsche. Ein großer Kopf mit geröteten Augen erschien. Als der Troll das Messer sah, grinste er breit. »Zu klein!«

Alvias wollte dem Mistkerl den Dolch in den Handrücken rammen, doch ein leichter Stoß des Trolls holte ihn von den Beinen. Zwischen den vermeintlichen Toten erhob sich ein Kobold, der den Arm in einer Schlinge trug. Er richtete seine Armbrust auf den Angreifer. Mit scharfem Klacken zog er den Abzug durch. Ein Bolzen traf den Troll dicht über der Nasenwurzel in die Stirn. »Ein zu großes Ziel, um es zu verfehlen.«

Der Kobold ließ die Waffe sinken. Ihm zitterten die Hände.

»Das war mein letzter Bolzen.« Alvias trat an die Seite des Schützen. Es war derselbe, mit dem Melvyn sich vor Beginn der Kämpfe unterhalten hatte.

»Du bist Misht?«

Der Schütze grinste. »Als Hofmeister der Königin hat man wohl ein gutes Namensgedächtnis. Schade, dass die Trolle es gleich durch die Kutsche schmieren werden.«

Der Elf hob trotzig seinen Dolch. »Der erste Schmierfink sollte auf seine Finger Acht geben.«

»Mich musst du nicht mit solchen Sprüchen ermutigen«, murmelte der Kobold. »Worte sind allzu billig.«

Alvias atmete tief aus. »Ich glaube, das habe ich eher gesagt, um mir Mut zu machen. Manchmal hilft es, die eigene Stimme zu hören. Da scheint eine Reiterattacke im Gange zu sein. Glaubst du, die hauen uns hier heraus?« Der Kobold kletterte auf einen umgestülpten Weidenkorb, um über die hölzerne Seitenwand zu blicken. Auch er zog trotzig sein Messer. »Du solltest dir keine Hoffnungen machen, Hofmeister. Wir sind die letzten Reserven. Es gibt niemanden mehr zum Heraushauen, es sei denn, wir bekommen das selbst auf die Reihe.«

Alvias trat an Mishts Seite. Die Kämpfenden hatten sich wieder ein Stück von den Wagen entfernt. Die Hörner klangen jetzt ganz nahe.

»Kentauren«, sagte der Kobold, als sei damit alles erklärt, was sich dort unten abspielte.

Alvias sah, wie einige Trolle vom Hügel fortliefen. Dann wurden es mehr. Der aufgewirbelte Staub raubte ihm die Sicht.

»Schirrt die Pferde an!«, rief ein Elf in verbeulter Rüstung.

»Wir ziehen uns zurück.« Erschöpfte Krieger kamen den Hang hinauf. Ihre Umhänge hingen in Fetzen. Die Rüstungen waren mit Staub und Blut bedeckt.

Eine Gruppe aus drei Kentauren und zwei Elfen kam den Hügel hinauf. Eine Elfenkriegerin mit kurzem, blondem Haar deutete zu Alvias und sagte dann etwas zu ihren Begleitern. Jetzt erkannte Alvias den Fürsten Elodrin. Der Heerführer lenkte sein Pferd zum Fuhrwerk herüber. »Ein ungewöhnlicher Ort, um dem Hofmeister der Königin zu begegnen.«

»Ich suche den Schwertmeister.« Alvias tastete nach dem ledernen Zylinder an seinem Gürtel. »Ich habe eine dringende Nachricht von der Königin für ihn.«

Elodrins Blick wurde härter. Die übrigen Krieger vermieden es, Alvias in die Augen zu sehen.

»Wo finde ich den Schwertmeister?« Der Fürst von Alvemer deutete auf das Schlachtfeld hinaus. »Irgendwo dort draußen. Du kommst zu spät.«

»Kann mich jemand zu ihm bringen?«

»Verstehst du nicht?«, fragte Elodrin grob. »Er wird deine Botschaft nicht mehr lesen. Er ist tot.«

»Das muss ein Irrtum sein. Er ist der Schwertmeister! Er ...«

Alvias stockte. Er hob den ledernen Zylinder, der das Siegel der Königin trug. »Er ist doch ...«

»Einer meiner Krieger hat ihn sterben sehen«, sagte ein Kentaur mit silbernen Strähnen in seinem Bart. Er kämpfte darum, die Fassung zu wahren, und sprach schnell und abgehackt.

»Ein Veteran aus Phylangan. Er kannte Ollowain gut. Es ist ausgeschlossen, dass er sich irrte. Der Schwertmeister hat sein Pferd aufgegeben, damit die Gräfin Caileen vom Schlachtfeld gebracht werden konnte. Die Trolle haben ihn umringt und niedergemacht. Er hat nicht einmal ...« Der Kentaur schüttelte den Kopf. »Es war mehr eine Hinrichtung als ein Kampf.« Alvias sah unschlüssig den Lederzylinder an.

»Gib mir die Nachricht«, forderte Elodrin. »Bis wir Feylanviek erreichen, werde ich wieder das Kommando führen. Ich sollte wissen, was die Königin Ollowain mitzuteilen hatte.«

Der Hofmeister zögerte. »Emerelles Befehl war eindeutig. Diese Nachricht ist allein für Ollowain bestimmt.«

»Bist du so schwer verletzt, dass du nicht mehr erkennst, was um dich herum geschieht?«, fragte der Fürst von Alvemer eisig.

»Du siehst hier ein Heer, das am Ende seiner Kräfte ist. Jeden Augenblick kann sich unser halbwegs geordneter Rückzug in eine wilde Flucht verwandeln. Wäre Nestheus nicht gewesen, der mit seinen Kentauren den Trollen in den Rücken gefallen ist, würden auf diesem Hügel nur noch Leichen liegen. Weißt du, dass es nur hundert Kentauren waren, die die Trolle vertrieben haben? Sie haben einen Lärm gemacht, als rückten alle Reiter der Steppe an. Sobald die Trolle bemerken, wie schwach wir sind, werden sie wieder angreifen. Deshalb räumen wir den Hügel und werden uns so schnell wie möglich zurückziehen. Ich muss wissen, welche dringende Nachricht Emerelle hat. Du weißt, dass sie in die Zukunft sehen kann! Will sie uns vor einem Feind in unserem Rücken warnen? Gibt es einen Hinterhalt? Oder sind Verstärkungen auf dem Weg zu uns? Willst du verantworten, dass noch mehr Krieger Albenmarks sterben, nur weil du dich an die Etikette hältst, Alvias?«

Die Argumente des Fürsten waren nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch fühlte sich Alvias wie ein Verräter an Emerelle und Ollowain, als er das Siegel des Zylinders brach und die Botschaft herausgleiten ließ. Er kannte die Handschrift der Königin gut, doch hätte er nicht daneben gestanden, als sie die Botschaft verfasste, er hätte nicht geglaubt, dass sie von Emerelle stammte. Die Schrift war fahrig, die Buchstaben stark geneigt und undeutlich.

Verzeih mir, ich habe mich geirrt.

Gib auf dich Acht.

Komm zurück.

Lebe!

Alvias atmete schwer aus. Dann zerriss er den Zettel. »Was hat sie geschrieben?«, drängte Elodrin.

»Nichts, was jetzt noch eine Rolle spielte.« Der Hofmeister hatte gesehen, wie niedergeschlagen Ollowain gewesen war, als er den Thronsaal verlassen hatte. Er wandte sich an den Kentauren mit den silbernen Strähnen im Bart. »Was, sagtest du, hat dein Krieger berichtet? Es sei mehr eine Hinrichtung als ein Kampf gewesen?«

Der Pferdemann nickte. »Ja. Offenbar hat der Schwertmeister nicht einmal versucht, sich zu verteidigen. Schon der erste Hieb hat ihn gefällt. Er hat ...« Der Kentaur stockte. »Das war ... Ich...« Er konnte nicht mehr weiter sprechen.

»Stand etwas in der Nachricht, was sein Verhalten erklären würde?«, fragte die blonde Kriegerin.

»Nein«, log Alvias.

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