Sie setzten sich auf die zwei weißen Bänke, die in den Anlagen stehen, und auf das niedrige eiserne Gitter, das den Rasen einzäunt, und zogen ernste Gesichter. Der Junge, der Professor genannt wurde, hatte anscheinend auf diesen Tag gewartet. Er griff sich, wie sein Vater, der Justizrat, an die Hornbrille, hantierte daran herum und entwickelte sein Programm. »Es besteht die Möglichkeit«, begann er, »daß wir uns nachher aus praktischen Gründen trennen müssen. Deshalb brauchen wir eine Telefonzentrale. Wer von euch hat Telefon?«
Zwölf Jungen meldeten sich.
»Und wer von denen, die ein Telefon haben, hat die vernünftigsten Eltern?«
»Vermutlich ich!« rief der kleine Dienstag.
»Eure Telefonnummer?«
»Bavaria0579.«
»Hier sind Bleistift und Papier. Krummbiegel, mach dir zwanzig Zettel zurecht und schreibe auf jeden von ihnen Dienstags Telefonnummer. Aber gut leserlich! Und dann gibst du jedem von uns einen Zettel. Die Telefonzentrale wird immer wissen, wo sich die Detektive aufhalten und was los ist. Und wer das erfahren will, der ruft ganz einfach den kleinen Dienstag an und erhält von ihm genauen Bescheid.«
»Ich bin doch aber nicht zu Hause«, sagte der kleine Dienstag.
»Doch, du bist zu Hause«, antwortete der Professor. »Sobald wir hier mit Ratschlagen fertig sind, gehst du heim und bedienst das Telefon.« »Ach, ich möchte aber lieber dabei sein, wenn der Verbrecher gefangen wird. Kleine Jungens kann man bei so-was sehr gut verwenden.«
»Du gehst nach Hause und bleibst am Telefon. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Posten.«
»Na schön, wenn ihr wollt.«
Krummbiegel verteilte die Telefonzettel. Und jeder Junge steckte sich den seinen vorsichtig in die Tasche. Ein paar besonders Gründliche lernten gleich die Nummer auswendig.
»Wir werden auch eine Art Bereitschaftsdienst einrichten müssen«, meinte Emil.
»Selbstredend. Wer bei der Jagd nicht unbedingt gebraucht wird, bleibt hier am Nikolsburger Platz. Ihr geht abwechselnd nach Hause und erzählt dort, ihr würdet heute vielleicht sehr spät heimkommen. Ein paar können ja auch sagen, sie blieben zur Nacht bei einem Freund. Damit wir Ersatzleute haben und Verstärkung, falls die Jagd bis morgen dauert. Gustav, Krummbiegel, Arnold Mittenzwey, sein Bruder und ich rufen von unterwegs an, daß wir wegblieben . . .Ja, und Traugott geht mit zu Dienstags, als Verbindungsmann, und rennt zum Nikols-burger Platz, wenn wir wen brauchen. Da hätten wir also die Detektive, den Bereitschaftsdienst, die Telefonzentrale und den Verbindungsmann. Das sind vorläufig die nötigsten Abteilungen.«
»Was zum Essen werden wir brauchen«, mahnte Emil. »Vielleicht rennen ein paar von euch nach Hause und holen Stullen ran.«
»Wer wohnt am nächsten?« fragte der Professor. »Los! Mittenzwey, Gerold, Friedrich der Erste, Brunot, Zer- lett, schwirrt ab und bringt paar Freßpakete mit!«
Die fünf Jungen rannten auf und davon.
»Ihr Holzköppe, ihr quatscht dauernd von Essen, Telefon und Auswärtsschlafen. Aber wie ihr den Kerl kriegt, das besprecht ihr nicht. Ihr ... ihr Studienräte!« grollte Traugott. Ihm fiel kein ärgeres Schimpfwort ein.
»Habt ihr denn einen Apparat für Fingerabdrücke?« fragte Petzold. »Vielleicht hat er sogar, wenn er gerissen war, Gummihandschuhe getragen. Und dann kann man ihm überhaupt nichts nachweisen.« Petzold hatte schon zweiundzwanzig Kriminalfilme gesehen. Und das war ihm, wie man merkt, nicht gut bekommen.
»Du kriegst die Motten!« sagte Traugott empört. »Wir werden ganz einfach die Gelegenheit abpassen und ihm das Geld, das er geklaut hat, wieder klauen!« »Quatsch!« erklärte der Professor. »Wenn wir ihm das Geld klauen, sind wir ganz genau solche Diebe, wie er selber einer ist!«
»Werde bloß nicht drollig!« rief Traugott. »Wenn mir jemand was stiehlt, und ich stehl's ihm wieder, bin ich doch kein Dieb!«
»Doch, dann bist du ein Dieb«, behauptete der Professor.
»Quatsch dir keine Fransen«, murrte Traugott.
»Der Professor hat sicher recht«, griff Emil ein. »Wenn ich jemandem heimlich was wegnehme, bin ich ein Dieb. Ob es ihm gehört, oder ob er es mir erst gestohlen hat, ist egal.«
»Genau so ist es«, sagte der Professor. »Tut mir den Gefallen und haltet hier keine klugen Reden, die nichts nützen. Der Laden ist eingerichtet. Wie wir uns den Halunken kaufen, können wir noch nicht wissen. Das werden wir schon deichseln. Jedenfalls steht fest, daß er es freiwillig wieder hergeben muß. Stehlen wäre idiotisch.« »Das versteh ich nicht«, meinte der kleine Dienstag. »Was mir gehört, kann ich doch nicht stehlen können! Was mir gehört, gehört eben mir, auch wenn's in einer fremden Tasche steckt!«
»Das sind Unterschiede, die sich schwer begreifen lassen«, dozierte der Professor, »moralisch bist du meinetwegen im Recht. Aber das Gericht verurteilt dich trotzdem. Das verstehen sogar viele Erwachsene nicht. Aber es ist so.«
»Von mir aus«, sagte Traugott und zuckte die Achseln.
»Und seid ja recht geschickt! Könnt ihr gut schleichen?« fragte Petzold. »Sonst dreht er sich um, und schon sieht er euch. Dann Guten Abend.«
»Ja, gut geschlichen muß werden«, bestätigte der kleine Dienstag. »Deswegen hatte ich ja auch gedacht, ihr könntet mich brauchen. Ich schleiche wundervoll. Und ich wäre unerhört als so eine Art Polizeihund. Bellen kann ich auch.«
»Schleiche mal in Berlin, daß dich niemand sieht!« Emil regte sich auf. »Wenn du willst, daß dich alle sehen sollen, brauchst du nur zu schleichen.«
»Aber einen Revolver müßtet ihr haben!« riet Petzold. Er war nicht totzukriegen mit seinen Vorschlägen.
»Einen Revolver braucht ihr«, riefen zwei, drei andere. »Nein«, sagte der Professor. »Der Dieb hat sicher einen.« Traugott hätte am liebsten gewettet.
»Gefahr ist eben dabei«, erklärte Emil, »und wer Angst hat, geht am besten schlafen.«
»Willst du etwa damit sagen, daß ich ein Feigling bin?« erkundigte sich Traugott und trat wie ein Ringkämpfer in die Mitte.
»Ordnung!« rief der Professor, »keilt euch morgen! Was sind das für Zustände? Ihr benehmt euch ja wahrhaftig wie ... wie die Kinder!«
»Wir sind doch auch welche«, sagte der kleine Dienstag. Und da mußten alle lachen.
»Eigentlich sollte ich meiner Großmutter ein paar Zeilen schreiben. Denn meine Verwandten haben ja keine Ahnung, wo ich bin. Womöglich rennen sie noch zur Polizei. Kann mir jemand, während wir den Kerl hetzen, einen Brief besorgen? Schumannstraße 15 wohnen sie. Es wäre sehr freundlich.«
»Mach ich«, meldete sich ein Junge, der Bleuer hieß. »Schreib nur schnell! Damit ich hinkomme, ehe das Haus geschlossen wird. Ich fahre bis zum
Oranienburger Tor. Mit der Untergrund. Wer gibt mir Pinke?«
Der Professor gab ihm Fahrgeld. Zwanzig Pfennige, für Hin- und Rückfahrt. Emil borgte sich Bleistift und Papier. Und schrieb:
Liebe Großmutter!
Sicher habt Ihr Sorge, wo ich bin. Ich bin in Berlin. Kann aber leider noch nicht kommen, weil ich vorher was Wichtiges erledigen muß. Fragt nicht was. Und ängstigt Euch nicht. Wenn alles geordnet ist, komm ich und freu mich schon jetzt. Der Junge mit dem Brief ist ein Freund und weiß, wo ich stecke. Darf es aber nicht erzählen. Denn es ist ein Amtsgeheimnis. Viele Grüße auch an Onkel, Tante und Pony Hütchen
Dein treuer Enkel Emil.
NB. Mutti läßt vielmals grüßen. Blumen hab ich auch mit. Die kriegst Du, sobald ich kann.
Emil schrieb dann noch die Adresse auf die Rückseite, kniffte das Papier zusammen und sagte: »Daß du aber niemandem von meinen Leuten erzählst, wo ich stecke, und daß das Geld futsch ist. Sonst geht mir's elend.« »Schon gut, Emil!« meinte Bleuer, »gib das Telegramm her! Wenn ich zurück bin, klingle ich den kleinen Dienstag an, um zu hören, was indessen passiert ist. Und melde mich beim Bereitschaftsdienst.« Dann rannte er fort.
Inzwischen waren die fünf Jungen wiedergekommen und brachten Stullenpakete angeschleppt. Gerold lieferte sogar eine ganze Schlackwurst ab. Er hätte sie von seiner Mutter gekriegt, erzählte er. Na ja.
Die fünf hatten zu Hause angedeutet, daß sie noch ein paar Stunden wegblieben. Emil verteilte die Stullen, und jeder steckte sich eine als Reserve in die Tasche. Die Wurst erhielt Emil selber zur Verwaltung.
Dann rannten fünf andere Jungen heim, um zu bitten, daß sie noch einmal, für längere Zeit, wegdürften. Zwei von ihnen kamen nicht wieder. Die Eltern hatten es wahrscheinlich verboten.
Der Professor gab die Parole aus. Damit man immer gleich wüßte, wenn jemand käme oder telefonierte, ob er dazugehöre. Die Parole lautete: »Emil!« Das war leicht zu merken.
Dann schob der kleine Dienstag mit Traugott, dem mürrischen Verbindungsmann, ab und wünschte den Detektiven Hals- und Beinbruch. Der Professor rief ihm noch nach, er möge doch für ihn zu Hause anrufen und dem Vater sagen, er, der Professsor, habe was Dringendes vor. »Dann ist er beruhigt und hat nichts dagegen«, fügte er hinzu.
»Donnerwetter nochmal«, sagte Emil, »gibt's in Berlin famose Eltern!«
»Bilde dir ja nicht ein, daß sie alle so gemütlich sind«, meinte Krummbiegel und kratzte sich hinter den Ohren. »Doch, doch! Der Durchschnitt ist ganz brauchbar«, widersprach der Professor. »Es ist ja auch das Gescheiteste. Auf diese Weise werden sie nicht belogen. Ich habe meinem alten Herrn versprochen, nichts zu tun, was unanständig oder gefährlich ist. Und solange ich das Versprechen halte, kann ich machen, was ich will. Ist ein glänzender Kerl, mein Vater.« »Wirklich famos!« wiederholte Emil. »Aber höre mal, vielleicht wird's heute doch gefährlich?«
»Na, da ist's eben aus mit der Erlaubnis«, erklärte der Professor und zuckte die Achseln. »Er hat gesagt, ich solle mir immer ausmalen, ob ich genau so handeln würde, wenn er dabei wäre. Und das täte ich heute. So, nun wollen wir aber abhauen!«
Er pflanzte sich vor den Jungens auf und rief: »Die Detektive erwarten, daß ihr funktioniert. Die Telefonzentrale ist eingerichtet. Mein Geld lasse ich euch da. Es sind noch eine Mark und fünfzig Pfennige. Hier, Gerold, nimm und zähle nach! Proviant ist da. Geld haben wir. Die Telefonnummer weiß jeder. Noch eins, wer nach Hause muß, saust ab! Aber mindestens fünf Leute müssen dableiben. Gerold, du haftest uns dafür. Zeigt, daß ihr richtige Jungens seid! Wir werden inzwischen unser möglichstes tun. Wenn wir Ersatz brauchen, schickt der kleine Dienstag den Traugott zu euch. Hat wer noch 'ne Frage? Ist alles klar? Parole Emil!«
»Parole Emil!« riefen die Jungen, daß der Nikolsburger Platz wackelte und die Passanten Stielaugen machten.
Emil war direkt glücklich, daß ihm das Geld gestohlen worden war.