Da kamen drei Stafettenläufer aus der Trautenaustraße gestürmt und fuchtelten mit den Armen.
»Los!« sagte der Professor. Und schon rannten er, Emil, die Brüder Mittenzwey und Krummbiegel nach der Kaiser allee, als sollten sie den Weltrekord über hundert Yards brechen. Die letzten zehn Meter bis zur Zeitungsbude legten sie vorsichtig und im Schritt zurück, weil Gustav abwinkte.
»Zu spät?« fragte Emil außer Atem.
»Bist du meschugge, Mensch?« flüsterte Gustav. »Wenn ich was mache, mach ich's richtig.«
Der Dieb stand, auf der anderen Seite der Straße, vor dem Cafe Josty und betrachtete sich die Gegend, als wäre er in der Schweiz. Dann kaufte er einem Zeitungsverkäufer ein Abendblatt ab und begann zu lesen.
»Wenn er jetzt hier rüber kommt, auf uns los, wird's eklig«, meinte Krummbiegel.
Sie standen hinter dem Kiosk, drängten die Köpfe an der Wand vorbei und zitterten vor Spannung. Der Dieb nahm darauf nicht die mindeste Rücksicht, sondern blätterte mit bewundernswerter Ausdauer in seiner Zeitung.
»Der schielt sicher übern Rand weg, ob ihm jemand auflauert«, taxierte Mittenzwey der Ältere.
»Hat er oft zu euch hergeblickt?« fragte der Professor. »Nicht die Bohne, Mensch! Gefuttert hat er, als hätte er seit drei Tagen nischt gegessen.«
»Achtung!« rief Emil.
Der Mann im steifen Hut faltete die Zeitung wieder zusammen, musterte die Vorübergehenden, winkte dann, blitzartig, einer leeren Autodroschke, die an ihm vorbeifuhr. Das Auto hielt, der Mann stieg ein, das Auto fuhr weiter.
Doch da saßen die Jungen schon in einem andren Auto, und Gustav sagte zu dem Chauffeur: »Sehen Sie die Droschke, die jetzt zum Prager Platz einbiegt? Ja? Fahren Sie hinterher, Herr Chauffeur. Aber vorsichtig, daß er es nicht merkt.«
Der Wagen zog an, überquerte die Kaiserallee und fuhr, in gemessenem Abstand, hinter der anderen Droschke her.
»Was ist denn los?« fragte der Chauffeur.
»Ach, Mensch, da hat einer was ausgefressen, und dem gehen wir nicht mehr von der Pelle«, erklärte Gustav. »Aber das bleibt unter uns, verstanden?« »Wie die Herren wünschen«, antwortete der Chauffeur und fragte noch: »Habt ihr denn auch Geld?«
»Wofür halten Sie uns eigentlich?« rief der Professor vorwurfsvoll.
»Na, na«, knurrte der Mann.
»IA 3733 ist seine Nummer«, gab Emil bekannt.
»Sehr wichtig«, meinte der Professor und notierte sich die Ziffer.
»Nicht zu nahe ran an den Kerl!« warnte Krummbie-gel. »Schon gut«, murmelte der Chauffeur.
So ging es die Motzstraße entlang, über den ViktoriaLuise-Platz und die Motzstraße weiter. Ein paar Leute blieben auf den Fußsteigen stehen, blickten dem Auto nach und lachten über die komische Herrenpartie.
»Ducken!« flüsterte Gustav. Die Jungen warfen sich zu Boden und lagen wie Kraut und Rüben durcheinander.
»Was gibt's denn?« fragte der Professor.
»An der Lutherstraße ist rotes Licht, Mensch! Wir müssen gleich halten, und der andre Wagen kommt auch nicht rüber.«
Tatsächlich hielten beide Wagen und warteten hintereinander, bis das grüne Licht wieder aufleuchtete und die Durchfahrt freigab. Aber niemand konnte merken, daß die zweite Autodroschke besetzt war. Sie schien leer. Die Jungen duckten sich geradezu vorbildlich. Der Chauffeur drehte sich um, sah die Bescherung und mußte lachen. Während der Weiterfahrt krochen sie vorsichtig wieder hoch.
»Wenn die Fahrt nur nicht zu lange dauert«, sagte der Professor und musterte die Taxameteruhr. »Der Spaß kostet schon 80 Pfennige.«
Die Fahrt war sogar sehr schnell zu Ende. Am
Nollendorfplatz hielt die erste Autodroschke, direkt vor dem Hotel Kreid. Der zweite Wagen hatte rechtzeitig gebremst und wartete, außerhalb der Gefahrenzone, was nun werden würde.
Der Mann im steifen Hut stieg aus, zahlte und
verschwand im Hotel.
»Gustav, hinterher!« rief der Professor nervös, »wenn das Ding zwei Ausgänge hat, ist er futsch.« Gustav verschwand.
Dann stiegen die anderen Jungen aus. Emil zahlte. Es kostete eine Mark. Der Professor führte seine Leute rasch durch das eine Tor, das an einem Lichtspieltheater vorbei in einen großen Hof führt, der sich hinter dem Kino und dem Theater am
Nollendorfplatz ausbreitet. Dann schickte er
Krummbiegel vor, er möge Gustav abfangen.
»Wenn der Kerl in dem Hotel bleibt, haben wir Glück«, urteilte Emil. »Dieser Hof hier ist ja ein wundervolles Standquartier.«
»Mit allem Komfort der Neuzeit«, stimmte der Professor bei, »Untergrundbahnhof gegenüber, Anlagen zum Verstecken, Lokale zum Telefonieren. Besser geht's gar nicht.«
»Hoffentlich benimmt sich Gustav gerissen«, sagte Emil.
»Auf den ist Verlaß«, antwortete Mittenzwey der Ältere. »Der ist gar nicht so ungeschickt, wie er aussieht.«
»Wenn er nur bald käme«, meinte der Professor und setzte sich auf einen Stuhl, der verlassen auf dem Hofe stand. Er sah aus wie Napoleon während der Schlacht bei Leipzig.
Und dann kam Gustav wieder. »Den hätten wir«, sagte er und rieb sich die Hände. »Er ist also richtig im Hotel abgestiegen. Ich sah, wie ihn der Boy im Lift hochfuhr. Einen zweiten Ausgang gibt's auch nicht. Ich habe mir die Bude von allen Seiten aus betrachtet. Wenn er nicht übers Dach davonwandert, ist er in der Falle.« »Krummbiegel steht Wache?« fragte der Professor. »Natürlich, Mensch!«
Dann erhielt Mittenzwey der Ältere einen Groschen, rannte in ein Cafe und telefonierte mit dem kleinen Dienstag.
Der kleine Dienstag notierte sich alles gründlich
»Hallo, Dienstag?«
»Jawohl, am Apparat«, krähte der kleine Dienstag am anderen Ende.
»Parole Emil! Hier Mittenzwey senior. Der Mann im steifen Hut wohnt im Hotel Kreid, Nollendorfplatz. Das Standquartier befindet sich im Hof der West-Lichtspiele, linkes Tor.«
Der kleine Dienstag notierte sich alles gründlich, wiederholte und fragte: »Braucht ihr Verstärkung, Mittendurch?«
»Nein!«
»War's schwer bis jetzt?«
»Na, es ging. Der Kerl nahm sich ein Auto, wir ein andres, verstehst du, und immer hinterher, bis er hier ausstieg. Er hat ein Zimmer genommen und ist jetzt oben. Guckt wahrscheinlich nach, ob wer unterm Bett liegt und mit sich Skat spielt.«
»Welche Zimmernummer?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir kriegen's schon raus.« »Ach, ich wäre so gern mit dabei! Weißt du, wenn wir nach den Ferien den ersten freien Aufsatz haben, schreib ich drüber.«
»Haben schon andre angerufen?«
»Nein, niemand. Es ist zum Kotzen.« »Na servus, kleiner Dienstag.«
»Guten Erfolg, meine Herren. Was ich noch sagen wollte ... Parole Emil!«
»Parole Emil!« antwortete Mittenzwey und meldete sich dann wieder im Hof der West-Lichtspiele zur Stelle. Es war schon acht Uhr. Der Professor ging, die Wache zu kontrollieren.
»Heute kriegen wir ihn sicher nicht mehr«, sagte Gustav ärgerlich.
»Es ist trotzdem das beste für uns, wenn er gleich schlafen geht«, erläuterte Emil, »denn wenn er jetzt noch stundenlang im Auto rumsaust und in Restaurants geht oder tanzen oder ins Theater oder alles zusammen - da können wir ja vorher ruhig ein paar Auslandskredite aufnehmen.«
Der Professor kam zurück, schickte die beiden Mittenzwey als Verbindungsleute auf den Nollendorfplatz und war sehr wortkarg. »Wir müssen was überlegen, wie wir den Kerl besser beobachten können«, sagte er, »denkt mal, bitte, scharf nach.«
So saßen sie geraume Zeit und grübelten heftig.
Da ertönte im Hof eine Fahrradklingel, und in den Hof rollte ein kleines vernickeltes Rad. Darauf saß ein kleines Mädchen, und hinten auf dem Rad stand Kamerad Bleuer. Und beide riefen: »Hurra!«
Emil sprang auf, half beiden vom Rad, schüttelte dem kleinen Mädchen begeistert die Hand und sagte zu den ändern: »Das ist meine Kusine Pony Hütchen.«
Der Professor bot Hütchen höflich seinen Stuhl an, und sie setzte sich.
»Also, Emil, du Rabe«, sagte sie, »kommt nach Berlin und dreht gleich 'nen Film! Wir wollten gerade noch mal nach dem Bahnhof Friedrichstraße zum Neustädter Zug, da kam dein Freund Bleuer mit dem Brief. Netter Kerl übrigens. Gratuliere.«
Bleuer wurde rot und drückte die Brust raus.
»Na ja«, erzählte Pony, »die Eltern und Großmutter sitzen nun zu Haus und bohren sich Löcher in den Kopf, was mit dir eigentlich los ist. Wir haben ihnen natürlich nichts erzählt. Ich habe bloß Bleuer noch vors Haus gebracht und bin ein bißchen mit ihm ausgekratzt. Aber ich muß gleich wieder nach Haus. Sonst alarmieren sie das Überfallkommando. Denn noch 'n Kind weg, an ein und demselben Tag, das hielten ihre Nerven nicht aus.«
»Hier ist der Groschen für die Rückfahrt«, sagte Bleuer stolz, »den haben wir gespart.« Und der Professor steckte das Geld ein.
»Waren sie böse?« fragte Emil.
»Nicht die Bohne«, meinte Hütchen, »Großmutter ist durchs Zimmer galoppiert und hat dauernd gerufen: >Mein Enkel Emil ist erst auf 'nen Sprung beim Reichspräsidenten !< bis sich die Eltern beruhigten. Aber morgen schnappt ihr den Kunden hoffentlich? Wer ist denn euer Stuart Webbs?«
»Hier«, sagte Emil, »das ist der Professor.«
»Sehr angenehm, Herr Professor«, erklärte Hütchen, »endlich lerne ich mal 'nen richtigen Detektiv kennen.«
Der Professor lachte verlegen und stotterte ein paar unverständliche Worte.
»So, und hier«, sagte Pony, »ist mein Taschengeld, fünfundzwanzig Pfennige. Kauft euch ein paar Zigarren.«
Emil nahm das Geld. Sie saß wie eine Schönheitskönigin auf dem Stuhl, und die Jungen umstanden sie wie die Preisrichter.
»Und nun mach ich mich schwach«, sagte Pony Hütchen, »morgen früh bin ich wieder da. Wo werdet ihr schlafen? Gott, ich bliebe ja zu gern hier und würde euch Kaffee kochen. Aber was soll man machen? Ein anständiges Mädchen gehört in die Klappe. So! Wiedersehen, meine Herren! Gute Nacht, Emil!«
Sie gab Emil einen Schlag auf die Schulter, sprang auf ihr Rad, klingelte fidel und radelte davon.
Die Jungen standen eine ganze Zeit sprachlos.
Dann tat der Professor den Mund auf und sagte: »Verflucht nochmal!«
Und die andern gaben ihm völlig recht.