EINS Vorfahren

KAPITEL 1 Dinosaurierträume Montana, Nordamerika, vor ca. 65 Millionen Jahren

I

Purga kroch aus einem Farndickicht am Rand der Lichtung. Es war Nacht, aber trotzdem hell – nicht etwa wegen des Monds, sondern wegen des Kometen, dessen spektakulärer Schweif sich durch den wolkenlosen Himmel zog und alle außer den hellsten Sternen ausblendete.

Dieses Wäldchen stand in einer breiten Tiefebene zwischen den Vulkanen im Westen – den Bergen, die sich zu den Rocky Mountains auffalten würden – und der Ebene der Appalachen im Osten. Heute Nacht war die feuchte Luft klar. Oft zogen aber von Süden Dunst und Nebelschwaden heran. Sie bildeten sich über dem großen Binnenmeer, das noch immer tief ins Herz Nordamerikas vorstieß. Der Wald wurde von Pflanzen beherrscht, die Feuchtigkeit aus der Luft aufzunehmen vermochten: Flechten bedeckten die schuppige Rinde der Araukarien, und sogar an den kleinen Magnolienbüschen hing Moos. Es war, als ob der Wald mit einer dicken grünen Lackschicht überzogen wäre.

Doch die Blätter waren übersäuert, das Moos und die Farne bräunlich verfärbt. Der durch die Gase der starken Vulkanausbrüche im Westen vergiftete Regen hatte Flora und Fauna gleichermaßen geschädigt. Es war ein ungesundes Klima.

Trotzdem träumten Dinosaurier auf der Lichtung.

Ankylosaurier hatten sich in einem schützenden Kreis versammelt und die Jungen in die Mitte genommen. Die gelbschwarzen Panzer waren dick mit glitzerndem Tau überzogen.

Diese riesigen Kaltblüter standen wie militärisches Gerät in der lauen Luft der Kreidezeit.

Im milchigen Licht hatten Purgas Augen eine Motte ins Visier genommen. Das Insekt saß dick und zufrieden auf einem Blatt und hatte die braunen Flügel zusammengefaltet. Mit einem präzisen Sprung schnappte Purga sich die Beute mit den Pfoten. Zuerst knabberte sie mit den kleinen Schneidezähnen die Flügel ab. Dann biss sie der Motte genüsslich in den Unterleib. Es hörte sich an wie der Biss in einen Apfel. In diesem kurzen Moment, wo sie den Mund voll Futter hatte, verspürte Purga einen Anflug von Zufriedenheit in ihrem sonst so entbehrungsreichen und harten Leben.

Die Motte verendete. Mit dem Fünkchen Bewusstsein empfand sie kaum Schmerz.

Nachdem Purga die Motte verspeist hatte, zog sie weiter. Es gab hier kein Gras als Deckung – die Gräser sollten das Land erst noch erobern –, aber es gab eine grüne Decke aus niedrigen Farnen, Moosen, Krüppelkiefern, Schachtelhalmen und Koniferenschösslingen und sogar ein paar Farbtupfer in Form von purpurroten Blumen. Sie vermochte sich fast lautlos durch diese Vegetation zu bewegen und sie als Deckung zu nutzen. In der Dunkelheit war die Einzeljagd die beste Strategie. Räuber legten sich im Dunkel der Nacht in den Hinterhalt. Eine Gruppe wäre viel auffälliger gewesen als ein einzelner Pirschgänger. Also jagte Purga allein.

Für Purga war die Welt eine Scheibe in Schwarz, Weiß und Blau, erleuchtet vom Licht des Kometen, das hinter hohen verstreuten Wolken hervordrang. Ihre großen Augen hatten nicht die hohe Farbempfindlichkeit der Dinosaurier-Augen – manche Räuber vermochten sogar Farben außerhalb des von Menschen wahrnehmbaren Spektrums zu sehen, zum Beispiel trübes Infrarot und funkelndes Ultraviolett –, doch dafür hatte sie eine gute Nachtsichtfähigkeit. Und Schnurrhaare, die wie taktile Radarstrahlen die Umgebung sondierten.

Purga hatte mit den Schnurrhaaren, einer spitzen Schnauze und kleinen, angelegten Ohren eher das Aussehen eines Nagetiers als eines Primaten. Sie hatte etwa die Größe eines Buschbabys. Auf dem Boden bewegte sie sich auf allen vieren und schleppte dabei den langen buschigen Eichhörnchenschwanz nach. Für menschliche Augen hätte sie eigenartig gewirkt – fast reptilienartig in ihrer reglosen Lauerstellung, vielleicht auch irgendwie unfertig.

Dennoch war sie, wie Joan Useb eines Tages herausfand, ein Primat, beziehungsweise ein Vorläufer dieser großen Tierklasse. Durch ihr kurzes Leben erstreckte sich ein molekularer Fluss, dessen Quelle die tiefste Vergangenheit und dessen Mündung die allerfernste Zukunft war. Und aus diesem Fluss der Gene, der im Verlauf von Jahrmillionen sich ständig verbreiterte und verzweigte, würde eines Tages die Menschheit auftauchen: Jeder Mensch, der je geboren wurde, würde von Purgas Kindern abstammen.

Sie wusste freilich nichts davon. Sie vermochte sich nicht einmal einen Namen zu geben. Sie war kein bewusstes Wesen wie ein Mensch – nicht einmal wie ein Schimpanse oder ein Makake; ihr Bewusstsein entsprach eher dem einer Ratte oder einer Taube. Ihr Verhalten war von starren Mustern geprägt und wurde von Trieben beherrscht, deren Gewichtung und Priorität sich ständig änderten und jeden Moment eine neue Resultierende bildeten. Sie war wie ein kleiner Roboter. Sie war sich ihrer selbst nicht bewusst.

Und doch verfügte sie über ein Bewusstsein. Sie kannte sogar Freude – die Zufriedenheit eines vollen Bauches, die beruhigende Sicherheit des Baus, das angenehme Kitzeln der an den Zitzen saugenden Jungen –, und in dieser gefahrvollen Welt kannte sie auch Angst. Sehr gut sogar.

Sie schlich um die Füße der träumenden Ankylosaurier. Als Purga unter den riesigen Leibern hindurchging, hörte sie über sich das Rumoren der Verdauung der Riesenechsen. Die Luft war von ihren erstickenden Fürzen geschwängert. Wegen der stumpfen Zähne mussten die Mägen der Dinosaurier die Aufgabe übernehmen, die ballaststoffreiche Nahrung zu zerkleinern und zu verdauen. Der Verdauungstrakt der Ankylosaurier arbeitete im Schlafen wie im Wachen.

Die Ankylosaurier waren Pflanzen fressende Saurier. Jedoch war dies auch ein Zeitalter großer, wilder Räuber. Deshalb wurden diese Tiere, die größer waren als Elefanten, durch einen Panzer geschützt, einen Verbund aus Knochen, Rippen und Wirbeln. Ein starkes, gelb-schwarzes Rückgrat prägte den Rücken. Die Schädel waren derart verstärkt, dass kaum noch Platz für das Gehirn war. Die Schwänze liefen in einer Art ›Morgenstern‹ aus, der Beine und Schädel zu zertrümmern vermochte.

Die Dinosaurier waren so groß, dass es Purgas Vorstellungsvermögen überstieg. Sie lebte in einer kleinen Welt, wo ein umgestürzter Baumstamm oder eine Pfütze schon ein größeres Hindernis darstellten und wo ein fetter Tausendfüßler eine seltene Delikatesse war. Für sie war die dösende Ankylosaurier-Herde ein Wald aus stämmigen Beinen und lianenartigen Schwänzen, die in keinerlei Verbindung zueinander standen.

Dennoch war Purga hier in ihrem Element: Dinosaurier-Kot, der in großen Haufen über den lehmigen aufgewühlten Boden verteilt war. In den faserigen Bergen aus halb verdauten Pflanzen fand sie vielleicht Insekten – sogar Mistkäfer, die sich anstrengten, die enormen Butzen zu vertilgen. Sie grub sich begierig in die dampfende Masse.

Diese Rolle hatten die Vorfahren der Menschen in der langen Blütezeit der Dinosaurier also gespielt: Sie waren an den Rand der großen Reptilien-Gesellschaft verwiesen worden, hatten sich nur des Nachts aus dem Bau gewagt und sich von Kot, Insekten und dem Abfall des Waldes ernährt.

In dieser Nacht war die Ausbeute allerdings dürftig. Der Kot war wässrig und roch faulig. Die durch den Vulkanismus in Mitleidenschaft gezogene Vegetation hatte für die Ankylosaurier an Nährwert verloren, und was hinten heraus kam, brachte Purga nicht nach vorn.

Sie bewegte sich über die Lichtung und verschwand im Wald. Hier ragten Koniferen auf und vereinigten sich hoch oben zu einem ausgedehnten Blätterdach. Dazwischen gab es kleinere Bäume wie Palmen und ein paar kleine Büsche mit blassgelben Blüten.

Purga kletterte gewandt auf die eckigen Äste eines Ginkgo-Baums. Beim Aufstieg setzte sie mit Drüsen in der Vagina Duftmarken am Baum. Für sie als Geschöpf der Nacht waren Gerüche und Geräusche wichtiger als Sicht; und falls andere ihrer Art innerhalb von einer Woche auf diese Markierungen stießen, würden sie wie eine Fackel leuchten und ihnen sagen, dass sie hier gewesen war.

Das Klettern war ein Genuss: Sie spürte die Muskeln, die sie geschmeidig hoch über den gefährlichen Erdboden katapultierten und nutzte den Schwanz als Steuerruder. Das Höchste war aber, unter Ausnutzung des vollen körperlichen Potenzials, des Gleichgewichtssinns, der Gewandtheit, der beweglichen Hände, der scharfen Augen zu springen und für Sekundenbruchteile von Ast zu Ast zu fliegen. Sie war wohl gezwungen, in unterirdischen Bauten Schutz zu suchen. Dennoch war sie durch ein Leben in der komplexen dreidimensionalen Umgebung des Waldes geprägt, in dem fast alle Primaten-Spezies in der langen Geschichte dieser Familie Zuflucht finden würden.

Allerdings hatte der saure Regen der letzten Monate die Bäume und das Unterholz in Mitleidenschaft gezogen; die Rinde war sauer, und die Ausbeute an Insekten war mager.

Purga hatte ständig Hunger. Sie musste jeden Tag das Äquivalent ihres Körpergewichts verzehren – das war der Preis der Warmblütigkeit und der Milch, die sie für ihre beiden Jungen in der Sicherheit des Baus tiefer im Wald produzieren musste. Widerwillig kletterte sie den Ginkgo-Baum hinunter. Im Widerstreit von Angst und Hunger erklomm sie noch zwei Bäume, ohne dass ihr jedoch größerer Erfolg beschieden gewesen wäre.

Plötzlich hob sie den Kopf. Die Schnurrhaare zuckten, und die hellen Augen waren weit geöffnet, um das Dunkelgrün des Waldes zu durchdringen. Sie roch Fleisch: den verlockenden Duft von verwesendem Fleisch. Und sie hörte ein verzagtes, hilfloses Piepen wie von Jungvögeln.

Sie setzte sich in Bewegung und folgte dem Geruch.

Auf einer kleinen Lichtung am Fuß einer großen knorrigen Araukarie lag ein aufeinander geschichteter Mooshaufen. An dessen Rand bewegte sich plötzlich eine schlammige Stelle, die mit Pflanzenresten übersät war. Bald hob der Bereich sich wie ein Deckel an, und ein dürrer Hals erhob sich über den Boden und durchstieß die Schicht aus Lehm und Kompost. Ein schnabelartiger Mund öffnete sich weit.

Das Dinosaurier-Baby tat den ersten Atemzug. Der kleine Kopf wackelte, und die winzigen Schuppen und Federn waren noch mit Dotter verklebt. Das Geschöpf sah aus wie ein zu groß geratenes Vogelkind.

Auf diesen Moment hatte das Didelphodon gewartet. Dieses Säugetier von der Größe einer Hauskatze war eins der größten Säugetiere seiner Zeit. Es war gedrungen mit einem schwarzsilbernen Fell. Plötzlich machte es einen Satz, packte das Saurier-Baby am Hals, riss es aus der Eierschale und warf es in die Luft.

Das Leben des Saurierbabys war eine kaleidoskopartige Abfolge intensiver Eindrücke: die kalte Luft außerhalb der gesprungenen Schale, das verschwommene Glühen des Kometen, das Gefühl zu fliegen. Und dann tat sich eine heiße Höhle unter ihm auf. Das noch mit Eigelb verschmierte Baby war sofort tot.

Inzwischen brachen immer mehr Babys aus dem Boden. Sie schlüpften alle zur gleichen Zeit. Auf dem Erdboden wimmelte es plötzlich nur so von Dinosaurier-Babys. Das Didelphodon und noch gefräßigere Säugetiere setzten sich an den reich gedeckten Tisch.

Eine uralte Überlebensstrategie besteht in Redundanz. Dinosaurier waren Reptilien, die ihre Eier auf dem Erdboden ablegten. Obwohl manche Eltern über ihre Brut wachten, hatten sie keine Möglichkeit, die verwundbaren Gelege und Jungen ständig zu kontrollieren. Also legten die Dinosaurier viele Eier, und zwar so, dass der Zeitpunkt des Schlüpfens synchronisiert wurde. In diesem Moment mussten Dutzende Gelege, die über diesen Abschnitt des Waldes verteilt waren, ausgebrütet sein und Hunderte von Jungen schlüpfen. Die Strategie dabei war, den Waldboden mit Dinosaurier-Babys förmlich zu überschwemmen, sodass selbst die gierigsten Räuber damit überfordert waren, alle aufzufressen. Die meisten Jungen würden zwar umkommen, aber das war nicht so wichtig. Es genügte, dass ein paar überlebten.

Doch hier und heute war die Strategie gescheitert – mit schrecklichen Konsequenzen für die Dinosaurier-Babys. Die Mutter der Jungen war ein Jäger, der von der Herde getrennt worden war. Verwirrt, hungrig und selbst in Furcht vor Räubern hatte sie die Eier am alten, vertrauten Ort abgelegt – diese Brutstätte war Jahrtausende alt – und mit modrigen Pflanzenresten abgedeckt, um sie warm zu halten. Im Grunde hatte sie alles richtig gemacht, nur dass es der falsche Zeitpunkt war und die Jungen ohne die Deckung von ein paar hundert anderen schlüpfen mussten.

Die Luft war erfüllt vom Gestank von Blut, dem Knurren der Räuber und dem kläglichen Piepen der todgeweihten Jungen. Zu diesem gruseligen Bankett hatten sich viele Säugetierarten eingefunden. Das Didelphodon repräsentierte die größte. Es gab ein Paar Deltatheria, rattenartige Allesfresser, die weder Beutel- noch Säugetiere waren – eine einzigartige Linie, die zusammen mit den Dinosauriern unterging. Viele der versammelten Kreaturen hatten ein Potenzial, das ihre aktuelle Erscheinungsform weit überstieg; so war zum Beispiel ein unauffälliges kleines Geschöpf Urahn der Linie, aus der einmal die Elefanten hervorgehen würden.

Doch im Moment ging es ihnen allen nur darum, sich den Bauch voll zu schlagen. Weil es den Säugern zu lang dauerte, bis die Jungen sich aus den Eiern gepellt hatten, gruben sie den Lehm um und trugen auf der Suche nach weiteren Eiern die Moosschicht ab, die die Saurier-Mutter übers Nest gebreitet hatte.

Als Purga eintraf, hatte die Brutstätte sich bereits in ein ›Killing Field‹ mit einer zuckenden Masse fressender Säugetiere verwandelt. Die als Nachzüglerin erschienene Purga grub sich gierig in den Boden. Bald knirschten winzige Knochen in ihrem Maul. Und weil sie den Kopf auf der Suche nach Leckereien so tief in den Boden gesteckt hatte, spürte sie die Rückkehr des Saurier-Muttertiers auch als Letzte.

Sie hörte ein zorniges Bellen und spürte, wie der Boden erbebte.

Purga zog den Kopf aus dem Boden. Die Schnauze war noch von Dotter verklebt. Die anderen Säugetiere flohen in den Schutz des grünschwarzen Waldes. Streiflichtartig sah Purga das Geschöpf in voller Lebensgröße. Ein unglaubliches gefiedertes Ungeheuer hing mit gespreizten Gliedern und offenem Maul in der Luft. Dann fuhr eine riesige, mit Klauen bewehrte Hand aus dem Himmel herab.

Purga rollte sich zischend weg. Zu spät merkte sie, dass sie das Nest eines Troodons geplündert hatte: eines geschmeidigen schnellen Killers – und eines auf Säugetiere spezialisierten Jägers.

Troodon bedeutete ›Verletzlicher Zahn‹.

Verletzlicher Zahn war von der Größe eines Hundes und gehörte damit zu den kleinen Dinosauriern, aber er war intelligent und leichtfüßig. Sein Gehirn war so groß wie das der Laufvögel späterer Zeitalter, mit denen er bereits eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Die Augen hatten die gleiche Größe und gute Nachtsichtfähigkeit wie die Purgas und waren außerdem nach vorn gerichtet. Das ermöglichte dem Troodon das räumliche Sehen und versetzte es in die Lage, seine kleinen, flinken Ziele schnell aufzufassen. Es hatte Beine, mit denen es wie ein Känguru zu hüpfen vermochte, eine lange sichelartige Klaue am zweiten Zeh jedes Fußes und Hände wie Spaten, die eigens dafür ausgelegt waren, Säugetiere auszugraben und zu zerstückeln.

Das Geschöpf steckte in einem Kleid aus kleinen Federn, einer Weiterentwicklung der Schuppen. Die Federn waren jedoch nicht zum Fliegen gedacht, sondern um den Körper in den kühlen Nächten warm zu halten. In dem milden Klima, das zu jenen Zeiten auf der Erde herrschte, war kein warmblütiger Stoffwechsel-Apparat erforderlich, um die Körperwärme zu halten: Ab einer gewissen Größe speicherte der kaltblütige Körper die Wärme auch in der Nacht, selbst wenn man an den Polen lebte. Kleine Dinosaurier wie das Troodon brauchten jedoch eine zusätzliche Isolation.

Trotz der geringen Körpergröße hatte es eins der größten Gehirne aller Dinosaurier. Alles in allem war es ein gut ausgestatteter Jäger. Dennoch hatte es Schwierigkeiten.

Das Troodon wusste es zwar nicht, aber diese Schwierigkeiten wurden durch die Verbreiterung des Atlantiks verursacht, des großen geologischen Ereignisses, das die Periode der Kreidezeit prägte. Während der amerikanische Doppel-Kontinent nach Westen gedrückt wurde, war Nordamerikas großes Binnenmeer geschrumpft und schließlich trocken gefallen, und in der Nähe der Westküste – nur wenige hundert Kilometer von der Brutstätte des Troodons entfernt – war eine Kette neuer Vulkane wie eine offene Wunde ausgebrochen. Der Vulkanismus beeinträchtigte das komplexe Geflecht des Lebens in vielerlei Hinsicht. Die jungen Vulkane waren fast ununterbrochen aktiv und stießen schwefligen Rauch und Asche aus, die sich mit dem Regen in Säure verwandelten. Viele Pflanzenarten waren bereits verschwunden, und die Bäume in den höheren Lagen waren auf kahle Stämme reduziert worden. Andernorts war die Zerstörung augenfälliger und reichte als große Finger aus erstarrter Lava tief in den Wald hinein.

Die Säugetiere, die Nahrung des Troodons, standen noch am Anfang der Nahrungskette und waren deshalb weniger beeinträchtigt als die größeren Arten der räuberischen Dinosaurier. Überhaupt vermochten die Säugetiere mit den kleinen Körpern und der hohen Fortpflanzungsrate solchen ungünstigen Zeiten besser zu widerstehen als die großen Landtiere.

Außerdem jagten die Troodons im Rudel. Dieses Weibchen war vor ein paar Tagen von ihrer Herde abgeschnitten worden, als plötzlich ein Geysir ausgebrochen war. Obwohl sie nun allein war, trug Verletzlicher Zahn noch Eier von der letzten Befruchtung im Leib. Deshalb war sie zur uralten Brutstätte der Herde gekommen. Irgendwie hatte sie gehofft, andere ihrer Art hier zu finden. Aber es war niemand hier außer ihr.

Verletzlicher Zahn wurde älter – mit fünfzig waren viele ihrer stark strapazierten Gelenke schon arthritisch und schmerzten. Und wegen des Alters und der schwindenden Kraft und Schnelligkeit war sie selbst bedroht: Es war eine Ära so starker Räuber, dass es geboten war, Geschöpfe, die sogar größer waren als Elefanten, mit einem Panzer aus Knochenplatten auszustatten. Sie musste sich fortpflanzen; das sagte ihr der Instinkt.

Also hatte sie die Eier abgelegt, wie sie es schon immer getan hatte. Das Nest war eine kreisrunde, im Lehm ausgehobene Grube, und sie hatte die Eier mit einer eigentümlichen, fast chirurgischen Präzision arrangiert. Sie achtete darauf, dass die zwanzig Eier nicht zu nah beieinander lagen und dass die Spitzen zur Mitte wiesen, damit die schlüpfenden Babys sich möglichst leicht auszugraben vermochten. Dann hatte sie die Eier mit Erde und Moos bedeckt. Sie war dann ein paar Mal zum Nest zurückgekehrt und hatte mit den Klauen gegen die Eierschalen getippt, um ihren Zustand zu prüfen. Sie sah, dass die Eier sich gut entwickelten. Und nun waren die Eier ausgebrütet – die Jungen waren geschlüpft –, aber es war nichts mehr von ihnen übrig außer roten Fleischfetzen und abgenagten Knochen. Und hier, mitten im verwüsteten Nest, war ein Säugetier, dessen Gesicht mit Blut, Eigelb und Schmutz verschmiert war.

Deshalb griff Verletzlicher Zahn an.

Panisch entleerte Purga den Darm und hinterließ eine Geruchs-Warnung: Vorsicht! Säugetier-Jäger! Dann rannte sie aus dem Wald zurück zur Lichtung der Ankylosaurier.

Am Rand der Lichtung hielt Purga inne. Sie musste eine Wahl treffen: gleichsam die Wahl zwischen Pest und Cholera. Zunächst einmal musste sie sich vor dem Troodon in Sicherheit bringen, das sie verfolgte. Sie kehrte zum Bau zurück, wo die Jungen warteten. Indem sie die Lichtung aber erneut überquerte, verzichtete sie auf den Schutz der Bäume. Die unbewusste Kalkulation führte schnell zu einem Ergebnis. Sie wagte das Spiel und raste über die Lichtung.

Ein schläfriges Riesenbaby öffnete ein knochiges Augenlid.

Das Licht schien nun heller als je zuvor und enttarnte sie. Aber es war nicht die Morgendämmerung, sondern der Komet. Der große verschwommene Kern strahlte hell, und die Gasströme, die er ausstieß, waren in der diesigen Luft klar zu erkennen. Es war ein ebenso unheimlicher wie außergewöhnlicher Anblick, der – obwohl sie auf der Flucht war – einen Anflug von Neugier in ihrem regen Bewusstsein weckte.

Ein Schatten schoss durch den Rand des Blickfelds.

Instinktiv sprang sie zur Seite, und im nächsten Moment schlug eine Dinosaurier-Kralle auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte. Sie rannte Haken schlagend in die Ankylosaurier-Herde zurück und suchte Schutz im Schatten der lethargischen Dinosaurier.

Das Troodon jagte sie im Slalom um säulenartige Beine herum. Doch selbst der wütende Saurierjäger war darauf bedacht, diese riesigen gepanzerten Kreaturen nicht zu stören, die ihm mit einem Schwanzhieb den Garaus gemacht hätten. Purga schlüpfte sogar verwegen unter den erhobenen Fuß eines Ankylosaurus, der wie ein fallender Mond über ihr dräute, während Verletzlicher Zahn frustriert zischte und im Boden scharrte.

Schließlich erreichte Purga die gegenüberliegende Seite der Lichtung. Vom Geruchssinn und Instinkt geleitet rannte sie ins Unterholz.

Der Bau war pechschwarz. Mit dieser Dunkelheit waren sogar ihre großen Augen überfordert. Es war, als ob sie in einen Schlund in der Erde eingedrungen wäre. Aber der Bau war vom vertrauten Geruch ihrer Familie durchdrungen, und sie hörte das Schnüffeln der zwei Jungen, die blind im Dunklen umherwuselten. Bald knabberten sie mit winzigen warmen Schnauzen an ihrem Bauch und suchten die Zitzen. Ihr Gefährte war nicht da – er war selbst auf der Jagd in dieser klaren Kreidezeit-Nacht.

Verletzlicher Zahn musste jedoch in der Nähe sein; der Geruch des warmen Fleisches, der Pelze und der Milch, der Purga nach Hause geführt hatte, würde den Jäger auch hierher locken.

Die Prioritäten in ihrem Kopf verschoben sich erneut. Sie schob die Jungen hinter sich und bugsierte sie vom Eingang in den hinteren Bereich der Höhle. Im Gegensatz zum Troodon war Purga noch jung – erst ein paar Monate alt –, und das war ihr erster Wurf. Und im Gegensatz zu den schnell sich vermehrenden Dinosauriern bekam Purgas Art nur wenige Junge. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Nachwuchs zu verlieren. Und nun bereitete sie sich darauf vor, ihn zu verteidigen.

Es krachte hinter ihr.

Das Dach aus festgestampfter Erde stürzte ein, und ein Hagel aus Schmutz ging auf Purga und ihre Jungen nieder. Der Bau wurde mit Kometenlicht geflutet, das sie nach den paar Sekunden der Dunkelheit blendete. Es war, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Eine große Hand fuhr aus dem Himmel in den Bau herab. Die Jungen krümmten sich quiekend, und dann wurde eins mit einer blutigen Klaue aufgespießt. Im nächsten Moment hatte es sein Leben ausgehaucht. Das nackte, leblose Stück Fleisch wurde nach oben aus dem Bau herausgehoben und verschwand aus Purgas Leben.

Purga zischte traurig und rannte zum Eingang des Baus, nur weg von der Klaue. Sie spürte, dass das andere Junge unbeholfen hinter ihr her tapste. Aber das schlaue Troodon hatte das vorausgesehen. Es schob die Klaue in den Eingang und riss die Erdwände ein. Reptilienfinger schlossen sich und pressten das Leben aus dem zweiten Jungen. Der Schädel und die winzigen Knochen splitterten, und die Organe wurden zerquetscht.

Purga, deren Welt in wenigen Sekunden zusammengebrochen war, zog sich vom zerstörten Eingang und dem eingestürzten Dach in den tiefsten Winkel des Baus zurück. Doch diese Klauenhand brach wieder wie eine Maschine durchs Dach, brachte es zum Einsturz und ließ immer mehr milchiges Kometenlicht herein.

Purga verspürte den unwiderstehlichen Drang, sich in den Schutz der Dunkelheit zu flüchten, einen neuen Bau und eine neue Zuflucht zu suchen – sie wollte überall sein, nur nicht hier. Außerdem hatte sie Hunger; für ein Geschöpf mit einem so schnellen Stoffwechsel wie Purga war es schon lang her, seit sie sich am Dotter der Eier von Verletzlichem Zahn gelabt hatte.

Plötzlich verließen sie die Kräfte.

Sie kauerte sich an der Rückwand des zerstörten Baus zusammen und schlug die Pfoten vors Gesicht, als ob sie das Fell von Milben befreien wollte. Von dem Moment an, als sie in diese Welt aus großen Zähnen und Klauen geboren wurde, die ohne Vorwarnung aus dem Himmel hernieder fuhren, hatte sie mit Instinkt und Beweglichkeit ums Überleben gekämpft. Doch nun waren ihre Jungen tot. Die angeborenen Imperative lösten sich auf, und etwas wie Verzweiflung ergriff von ihr Besitz.

Und während Purga in der Ruine ihres Baus zitterte, zitterte eine ganze Welt mit ihr.

Wenn sie aufgab, würde sie keine lebenden Nachkommen zurücklassen: Der molekulare Fluss der Vererbung würde hier für immer versiegen. Natürlich würden andere ihrer Art sich fortpflanzen, und andere Linien würden wachsen und sich in die weit entfernte Zukunft hinein entwickeln – aber nicht Purgas Linie, nicht ihre Gene.

Auch nicht Joan Useb.

Das waren die Wechselfälle des Lebens.

Die große Klauenhand fuhr erneut herab und verfehlte Purga nur um ein paar Zentimeter. Dann rammte Verletzlicher Zahn ungestüm den Kopf in den Bau. Purga schrak vor einer Wand schnappender Zähne zurück.

Als der Dinosaurier kreischend näher kam, roch Purga Fleisch und zerschmetterte Knochen und einen süßlichen Duft nach Milch. Der heiße Atem des Ungeheuers roch nach Purgas Babys.

Wutentbrannt stürzte Purga sich auf den Gegner.

Die Zähne schnappten wie ein riesiges Schneidwerk um Purga. Purga wich den blitzenden Hauern flink aus und grub ihrerseits die Zähne in den Mundwinkel des Dinosauriers. Die schuppige Haut war zäh, aber sie spürte, dass die unteren Schneidezähne sich ins warme, weiche Fleisch in der Mundhöhle der Kreatur senkten.

Verletzlicher Zahn bellte und wich zurück. Purga wurde an den eigenen Zähnen aus dem Bau gezerrt und um ein Vielfaches ihrer Körperhöhe in die Luft gehoben, am schuppigen Leib von Verletzlichem Zahn vorbei in die kalte Nacht.

Ihre Wut verrauchte. Sie drehte den Kopf, wobei sie dem Dinosaurier ein Stück Fleisch herausriss, und fiel durch die diesige Luft. Im Fall holte eine Klauenhand nach ihr aus und versuchte sie zu packen. Weil Purga aber ein Geschöpf des Waldes war, drehte sie sich im freien Fall. Wieder hatte sie Glück, aber die Klaue verfehlte sie diesmal nur so knapp, dass der Luftzug den Haarflaum an ihrem Bauch streifte.

Sie fiel auf festgestampften Erdboden und blieb für einen Moment benommen liegen. Doch die Zähne und Klauen stießen schon wieder herab, vom unheimlichen Kometenlicht silbern gezeichnet. Purga rollte sich herum, kam auf die Beine und rannte zwischen die Wurzeln des nächsten Baums. Mit großen Augen und offenem Mund kauerte sie sich keuchend zusammen und zuckte bei jedem raschelnden Blatt zusammen.

Purga hatte ein Stück Fleisch im Mund. Sie wusste nicht mehr, dass es vom Dinosaurier stammte. Sie kaute es schnell, schluckte es hinunter und linderte für einen Moment den Hunger, der selbst jetzt in ihr rumorte. Dann ließ sie den Blick schweifen und suchte ein sichereres Versteck.

Verletzlicher Zahn stakste umher und schrie die Frustration heraus.

Purga hatte sich fürs Leben entschieden. Aber sie hatte sich auch einen Feind geschaffen.

II

Der Teufelsschweif war so alt wie die Sonne. Das Sonnensystem war aus einer dichten rotierenden Wolke aus Gestein und Staub entstanden. Die von der Druckwelle einer Supernova verwirbelte Wolke verdichtete sich schnell zu Planetesimalen: lose Zusammenschlüsse von Gestein und Eis, die wie blinde Fische chaotisch durch die Dunkelheit drifteten.

Die Planetesimalen stießen zusammen. Dabei wurden die meisten zerstört und ihre Substanz wieder der Wolke zugeführt. Ein paar verschmolzen jedoch miteinander. Aus diesem Chaos gingen die Planeten hervor.

In der Nähe des Zentrums entstanden die Planeten als Gesteinskugeln – wie die Erde – und wurden vom Feuer der Sonne ausgeglüht. Weiter draußen wurden große neblige Welten geboren, Gaskugeln – aus den leichtesten Gasen überhaupt, Wasserstoff und Helium, die in den ersten Sekunden des Universums entstanden waren.

Und diese sich aufblähenden Gasriesen wurden von Kometen wie von Fliegen umschwärmt, den letzten eisigen Planetesimalen.

Die Kometen lebten gefährlich. Viele wurden in die Gravitationsquellen von Jupiter und den anderen Riesen gezogen und nährten mit ihrer Masse diese anschwellenden Ungeheuer. Andere wurden durch die Gravitationsschleudern der Riesen ins warme überfüllte Zentrum geschleudert und stießen dort mit den inneren Planeten zusammen.

Ein paar glückliche Überlebende wurden jedoch in die Gegenrichtung – weg von der Sonne – in die kalten Weiten der Peripherie des Systems geschleudert. Bald bildete sich dort draußen eine lockere Wolke aus Kometen, die weite, langsame Umlaufbahnen einschlugen, die sich dem nächsten stellaren Nachbarn der Sonne bis auf die halbe Distanz näherten.

Einer dieser Kometen war der Teufelsschweif.

Hier draußen war der Komet sicher. Für die meiste Zeit seiner langen Lebensdauer war der nächste Nachbar so weit entfernt wie Jupiter von der Erde. Und am weitesten Punkt des Orbits erreichte der Teufelsschweif ein Drittel der Entfernung zum nächsten Stern und verharrte schließlich an einem Ort, wo die Sonne mit den Sternenfeldern verschmolz und die Planeten, die sich um sie drängten, nicht mehr zu sehen waren. In der Kälte des Leerraums kühlte der Komet schnell ab und gefror steinhart. Die Oberfläche war durch silikathaltigen Staub geschwärzt, und ein epochaler Frost schuf exotische, fragile Skulpturen auf der Oberfläche mit einer geringen Schwerkraft – ein Wunderland, das kein Auge jemals schauen sollte.

Hier zog der Komet viereinhalb Milliarden Jahre lang seine Bahn, während auf der Erde Kontinente tanzten und Arten aufkamen und untergingen.

Doch selbst hier wirkte noch die Gravitation der Sonne – wenn auch nur schwach. Langsam, langsamer als der Rhythmus der Erdzeitalter, hatte der Komet reagiert.

Und er fiel wieder dem Licht entgegen.

Die Morgenröte erhellte den Himmel im Osten. Die Wolken hatten eine blasenartige Struktur, und der Himmel hatte einen eigentümlichen purpurnen Farbton wie von einem Bluterguss. In dieser tiefen Vergangenheit war sogar die Luft anders – dicht, feucht und sehr sauerstoffhaltig. Selbst der Himmel hätte für menschliche Augen fremdartig gewirkt.

Purga befand sich noch immer auf Wanderschaft. Sie war erschöpft und wurde vom Licht der aufgehenden Sonne geblendet. Sie war nun weit von jedem Wald entfernt. Es gab hier nur ein paar vereinzelte Bäume, die über einen Boden verteilt waren, der aus einer grünen Matte niedriger Farne bestand. Die Bäume waren Zikaden, hohe Stämme mit einer schorfigen Rinde, die Palmen ähnelten, gedrungene Zikadenartige, die wie riesige Ananasbäume anmuteten, und Ginkgos mit diesen eigenartigen ventilatorförmigen Blättern. Diese Linie war jetzt schon alt und sollte sich bis ins Zeitalter der Menschen und darüber hinaus halten.

In der Stille zwischen Nacht und Tag regte sich nichts. Die Dinosaurierherden schliefen noch, und die Jäger der Nacht hatten sich in ihre Bauten und Nester zurückgezogen – alle außer Purga, die in der offenen Prärie gestrandet war und deren Nerven in Erwartung einer Gefahr bis zum Zerreißen angespannt waren.

Etwas bewegte sich am Himmel. Sie drückte sich flach auf den Boden und schaute nach oben.

Ein geflügeltes Gebilde glitt in großer Höhe unterm Himmelszelt dahin. Das Profil war im rotgrauen Licht der Morgendämmerung deutlich zu erkennen. Es sah aus wie ein hochfliegendes Flugzeug. Aber es war kein Flugzeug, sondern ein Lebewesen.

Purgas instinktive Kalkulation stufte den Pterosaurier als ungefährlich ein. Für sie waren selbst die wildesten Flug-Saurier viel ungefährlicher als die Räuber, die vielleicht hinter diesen Zikaden lauerten, die Skorpione, Spinnen und Fleisch fressenden Reptilien – einschließlich der unzähligen kleinen und wilden Dinosaurierarten.

Sie stolperte weiter, der aufgehenden Sonne entgegen. Bald wurde die grüne Vegetation spärlicher, und sie kroch über Dünen aus festgebackenem rötlichem Sand. Sie erklomm eine kleine Anhöhe und erblickte ein träge schwappendes Gewässer, das bis zum Horizont sich erstreckte. Die Luft roch seltsam: nach Salz und Ozon.

Sie hatte die Nordküste des großen Meers erreicht, das ins Herz Nordamerikas stach. Sie sah, wie große Gebilde träge die Wasseroberfläche durchstießen.

Und im Südwesten, wo die Sonne aufging, hing der Komet am Himmel. Sein Kopf war eine milchige Masse, aus der gewaltige Fontänen perlweißer Gase sprudelten. Der Komet wurde sichtlich größer. Der doppelte Schweif, der von der Sonne weggerichtet war, schlang sich als verwirrende wabernde Masse um die Erde. Es war, als ob man in das Mündungsfeuer einer doppelläufigen Schrotflinte geschaut hätte. Die spektakuläre Lichtshow wurde vom seichten Meer reflektiert.

Müde stolperte sie vorwärts und stieg zu einem schmalen abschüssigen Strand ab. Die Küste war mit Muschelschalen und halb getrocknetem Seetang übersät. Sie probierte das Zeug, aber der Seetang war faserig und salzig. Und sie roch das Salz im Wasser. Zu trinken gab es hier nichts.

Sie fühlte sich zunehmend exponiert, als ob sie von einem Scheinwerfer angestrahlt würde.

Sie machte einen Farn aus, der nicht mehr als einen Meter hoch war. Sie wankte dort hin und legte die Wurzeln frei, in der Hoffnung, einen provisorischen Bau errichten zu können. Aber der feinkörnige Sand rieselte immer wieder in die Gräben zurück, die sie aushob. Als die rote Sonne sich über den Horizont erhob, gelang es Purga schließlich, ein Loch zu graben, das groß genug war, um ihr Deckung zu bieten. Sie zog den Schwanz an, bedeckte das Gesicht mit den Pfoten und schloss die Augen.

Die Wärme und Dunkelheit des Baus erinnerten sie an das Zuhause, das sie verloren hatte. Aber der Geruch passte nicht. Sie roch nichts als Salz und Sand, Ozon und modrigen Seetang: den intensiven Geruch dieses Orts, wo Land und Meer aufeinander trafen. Der heimische Bau hatte nämlich nach ihr gerochen, nach dem anderen, der ihr Gefährte war, und nach den Jungen, die wie eine Mischung aus ihr und ihrem Gefährten gerochen hatten – eine wundervolle Melange. Doch das alles war nun unwiederbringlich verloren. Sie verspürte einen Anflug von Bedauern, obwohl ihrem Bewusstsein die Kapazität fehlte, den Grund dafür zu erkennen.

Während sie den langen Tag verschlief, scharrte und kratzte sie mit den Beinen im körnigen Sand.

Die Erde der Kreidezeit war eine Welt der Ozeane, flacher Meere und Küsten.

Ein großes Meer namens Tethys – eine Verlängerung des Mittelmeers – trennte Asien von Afrika. Europa war kaum mehr als ein Archipel verstreuter Inseln. Die Wüste Sahara war Meeresboden. Die Welt war warm; so warm, dass es keine Eiskappen gab. Und seit achtzig Millionen Jahren stieg der Meeresspiegel. Nachdem der Superkontinent Pangäa auseinander gebrochen war, hatte die Kontinentaldrift eingesetzt, und bei der Bildung großer Kalkriffe und Schelfe vor den Küsten waren große Mengen fester Materie in die Meere geschoben worden. Das war in etwa damit zu vergleichen, als ob man Steine in einen vollen Wassereimer gelegt hätte. Infolgedessen hatten die überlaufenden Meere die Kontinente überflutet. Aber die großen flachen Meere hatten fast keine Gezeiten und nur einen schwachen Wellengang.

Das Meeresleben war reicher und vielgestaltiger als zu jedem anderen Zeitpunkt in der langen Erdgeschichte. Große Planktonwolken trieben im Wasser und sogen das Sonnenlicht ein. Plankton war der Ursprung der langen Nahrungskette der Meeresbewohner. Und im Plankton lebten mikroskopisch kleine Algen, die Haptophyten. Nach einer kurzen ›Freischwimmer‹-Phase hüllten die Haptophyten sich in winzige filigrane Panzer aus Kalziumkarbonat. Und nach ihrem Tod sanken dann Milliarden winziger Kadaver in die warmen Meeresböden, wo sie sich ablagerten und zu einem komplexen weißen Stein aushärteten: Kalk.

Schließlich bedeckten mächtige kilometerdicke Schichten aus Kalkstein Kansas und die nordamerikanische Golfküste, überzogen die Südhälfte Englands und schoben sich sogar bis nach Norddeutschland und Dänemark vor. Menschliche Wissenschaftler bezeichneten dieses Zeitalter wegen dieser Monumente, der von Plankton geschaffenen Kalkformationen als Kreidezeit.

Als das Licht vom Himmel verschwand, verließ Purga ihre Unterkunft.

Sie stapfte mühsam durch den Sand, in den sie mit jedem Schritt einsank und der manchmal um sie herum aufstob. Sie war ausgeruht. Aber sie war hungrig und verwirrt und litt unter der Einsamkeit.

Sie erreichte die Anhöhe, die sie tags zuvor überquert hatte und ließ den Blick über eine weite, sanft gewellte Ebene schweifen, die sich bis zu den im Westen aufragenden, rauchenden Bergen erstreckte. Einst hatte das riesige amerikanische Binnenmeer diesen Ort überflutet. Doch nun hatte das Meer sich zurückgezogen und eine durch große Seen und Feuchtgebiete geprägte Ebene hinterlassen. Es wimmelte hier nur so von Leben. Riesige Krokodile kreuzten wie bizarre Unterseeboote in den seichten Gewässern. Manche hatten Vögel auf dem Rücken. Es gab Vogelschwärme und vogelartige pelzige Pterosaurier; manche bauten sogar große Flöße, um die Nester zu versorgen, die geschützt vor den landlebenden Räubern in der Mitte der Seen lagen.

Und es gab Dinosaurier, so weit das Auge reichte.

Herden von Entenschnäbeln, Ankylosauriern und ein paar Gruppen langsamer, schwerfälliger Triceratops hatten sich am Wasser versammelt, spielten und kämpften. Lurche liefen und Frösche hüpften ihnen zwischen den Füßen herum, außerdem Echsen wie Iguanas und Geckos und viele kleine, gefräßige Saurier. Die Luft wurde vom Flügelschlag und den Rufen von Pterosauriern und Vögeln erfüllt. Am Rand des Waldes sah man Räuber patrouillieren, die die wogenden Herden observierten.

Die Hadrosaurier, die Entenschnabel-Dinosaurier, waren die am weitesten verbreiteten Pflanzenfresser dieses Zeitalters. Obwohl sie größer waren als spätere Säugetier-Äquivalente wie Büffel oder Antilopen, gingen sie auf zwei Beinen wie zu groß geratene Strauße – mit langen Schritten und wackelnden Köpfen. Die Herden wurden von Männchen angeführt, die sich durch große Kämme auf Nase und Stirn auszeichneten. Die Kämme dienten als natürliche Trompeten. Sie vermochten Töne hervorzubringen, die so tief waren wie das Unterregister einer Orgel. Die Stimmen der Entenschnäbel schallten wie Nebelhörner über die dunstige Ebene.

Im Vordergrund durchquerte eine Herde Anatotitanen die Flutebene. Es war ein wahrer Geleitzug aus Fleisch. Diese gewaltigen Kreaturen wirkten mit den massiven Hinterbeinen – die größer waren als ein ausgewachsener Mensch – und den vergleichsweise dürren Vorderläufen irgendwie unstimmig. Dazu schleppten sie lange dicke, konische Schwänze nach. Die Luft war von ihren Geräuschen erfüllt: vom Rumoren der großen Mägen der Pflanzenfresser und des noch tieferen Grollens der Stimmen, mit denen sie sich verständigten. Diese Laute reichten bis in den Infraschallbereich hinein und wären für menschliche Ohren unhörbar gewesen.

Die Anatotitanen sammelten sich in einem Zikadenhain. Die Blätter der Zikaden waren dick und zäh, aber die jungen Triebe, die von einer Lage älterer Blätter verdeckt wurden, waren grün und saftig. Also stellten die Anatotitanen sich auf die stämmigen Hinterbeine und fraßen die frischen Triebe ab. Als sie mit den großen Füßen ins Farndickicht traten, stiegen Wolken von Insekten empor. Die Phalanx der Titanen ließ die Zikaden ruiniert zurück. Obwohl die Tiere weit entfernt von hier Samen für zukünftige Wälder verstreuten, würde es lang dauern, bis die Vegetation sich vom Kahlschlag erholt hatte, den sie anrichteten.

Die Geräuschkulisse war beeindruckend: das nebelhornartige Trompeten der Entenschnäbel, das Bellen der gepanzerten Dinosaurier, das Kreischen der Vögel, das lederartige Flappen der großen Pterosaurier-Schwärme. Und das alles wurde vom durchdringenden, unmodulierten Brüllen eines Tyrannosaurus-Weibchens überlagert, dem ›Platzhirsch‹: Alle Tiere waren hier in ihrem Revier, und das machte sie ihnen und rivalisierenden Tyrannosauriern auch unmissverständlich klar.

Die Szenerie hätte einen Menschen vielleicht an Afrika erinnert. Obwohl diese großen Pflanzenfresser die Rolle von Antilopen, Elefanten, Nilpferden, Büffeln und Räubern wie Löwen, Leoparden und Hyänen einnahmen, waren diese Tiere enger mit Vögeln verwandt als mit Säugetieren. Alle Verrichtungen erledigten sie mit slapstickartig schnellen Bewegungen, die durch den hohen Sauerstoffgehalt der Luft ermöglicht wurden. Die kleinen, leichtfüßigen Dinosaurier, die durchs Unterholz rannten oder pirschten, hätten freilich surreal angemutet. Im Zeitalter der Menschen gab es nichts, was diesen zweibeinigen Läufern geglichen hätte. Und im Afrika des einundzwanzigsten Jahrhunderts wäre der Anblick von zwei sich paarenden Ankylosauriern, die zärtlich die Hinterteile aneinander rieben, wohl auch undenkbar gewesen.

Es war eine Landschaft von Riesen, in der Purga hilflos und verloren war. Sie hatte hier nichts zu melden. Im Westen machte Purga jedoch einen dichten Wald aus, der in mehreren Vegetationszonen sich zu den entfernten Vulkanen hinaufzog.

Purga war in die falsche Richtung gegangen, sodass es sie an diese Stelle der Meeresküste verschlagen hatte. Sie war aber ein Geschöpf des Waldes und des Bodens; dorthin musste sie also gehen. Um dorthin zu gelangen, musste sie jedoch die offene Ebene überqueren – und aufpassen, dass sie nicht unter diese klobigen Füße geriet. Zögerlich rutschte sie die Sandbank hinunter.

Und dann sah sie durch den Farn eine streiflichtartige Bewegung. Sie huschte unter eine junge Araukarie und presste sich an den Boden.

Ein Raptor: Er stand wie in Stein gemeißelt da und spähte die umherstreifenden Anatotitanen aus.

Es war ein Deinonychus, eine Art ungefiederter Laufvogel. Aber er verharrte so reglos wie ein Krokodil. Der Raptor roch kaum – seine Haut war nicht mit Drüsen besetzt wie die der Säugetiere –, aber es lag dennoch ein stechender Geruch in der Luft, der Purga zur Vorsicht mahnte.

Der Raptor befand sich in ummittelbarer Nähe. Falls er sie erwischte, würde er sie blitzschnell töten.

Ein Vogel kletterte auf den Baum über ihr. Er hatte ein kräftig blaues Gefieder, Klauen an den Vorderkanten der Flügel und einen gezähnten Schnabel. Dieses Geschöpf war ein Relikt aus einem früheren Erdzeitalter, ein archaisches Bindeglied zwischen Vögeln, Krokodilen und Dinosauriern. Der Vogel unternahm die Kletterpartie, um seine dicken zirpenden Jungen zu füttern. Anscheinend hatte er den Raptor noch nicht bemerkt.

Fürs Erste hatte der Raptor es aber auf fettere Beute abgesehen.

Der Raptor beobachtete die Anatotitanen-Herde mit kalten Raubvogelaugen. Seine Gedanken drehten sich einzig und allein darum, welcher der riesigen Pflanzenfresser ihm als Beute dienen könnte. Falls nötig, würde er die Herde aufscheuchen und versuchen, ein Tier zu isolieren. Das wäre dann verwundbar.

Aber das erwies sich als unnötig.

Einer der ausgewachsenen Titanen fiel hinter die anderen zurück. Dieses Weibchen, das müde dahintrottete, war über siebzig Jahre alt. Sie war ihr ganzes Leben lang gewachsen, sodass sie nun die Größte der Herde war – sogar einer der Größten ihrer Art überhaupt. Nun tauchte sie den Kopf ins sämige Wasser eines seichten Tümpels.

Der Raptor pirschte sich geschmeidig und lautlos an den alten Titanen an. Purga kauerte sich im Schutz der Araukarie zusammen.

Der Raptor war drei Meter hoch. Er war leichtfüßig und kompakt und hatte schlanke Beine, mit denen er eine hohe Geschwindigkeit erreichte. Ein langer Schwanz diente der Balance. Die Fersen, die sich beim Gehen vom Boden lösten, waren jeweils mit einer Klaue besetzt.

Der Raptor war nicht gerade eine Intelligenzbestie. Sein Gehirn war klein – nicht größer als das eines Huhns oder vergleichbaren Vogels. Und er war ein Einzelgänger, weil es ihm an der Intelligenz mangelte, um im Verbund zu jagen. Aber das musste er auch gar nicht.

Der Anatotitan hatte noch immer keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte.

Der Raptor brach aus der Deckung. Er drehte sich in der Luft, wobei die Fersenklauen Furcht erregend blitzten. Die Hiebe waren gut platziert.

Blut floss. Bellend versuchte der Anatotitan, sich vom Wasser zurückzuziehen. Doch schon quollen dampfende schwarze Eingeweide aus den klaffenden Bauchwunden. Und dann verfing er sich auch noch mit dem Vorderfuß in den glitschigen Wasserpflanzen. Mit einem Geräusch wie Donnerhall fiel er auf die Brust. Dann knickten die Hinterbeine ein, und der massige Körper kippte auf die Seite.

Einer der Anatotitanen schaute zurück und trompetete traurig. Bei dem dröhnenden Laut erbebte der Boden unter Purga. Aber die Herde zog schon weiter.

Der Raptor atmete stoßweise und wartete darauf, dass den Titan die Kräfte verließen.

Die Dinosaurier waren hundertfünfzig Millionen Jahre zuvor aufgetaucht – in einem Zeitalter mit einem heißen, trockenen Klima, das Reptilien eher begünstigte als Säugetiere. In jener Zeit waren die Kontinente in einer einzigen großen Landmasse, Pangäa, vereinigt, sodass die Dinosaurier sich über den ganzen Planeten ausgebreitet hatten. Später war dieser Superkontinent dann auseinander gebrochen, die Kontinentalverschiebung hatte eingesetzt und es hatten sich Klimazonen herausgebildet. Und die Dinosaurier passten sich entsprechend an.

Dinosaurier waren anders.

Sie jagten nicht wie die räuberischen Säugetiere späterer Zeiten. Weil sie Kaltblüter waren, vermochten sie keine hohe Geschwindigkeit über weite Strecken zu halten. Ihnen fehlte die Ausdauer, um die Beute zu hetzen, wie beispielsweise Wölfe es taten. Dafür hatten sie robuste Hochdruck-Herzen. Und ihr Körperbau glich in vielerlei Hinsicht den Vögeln: Die Halsknochen und der Rumpf dieses Raptors wurden von einem Röhrensystem durchzogen, das wie ein Luftansauger wirkte und den Körper mit einer großen Sauerstoffmenge versorgte. So war der Raptor immerhin zu kurzen Sprints befähigt und vermochte einen Angriff mit vollem Krafteinsatz zu führen.

Wenn Dinosaurier jagten, lief das in aller Stille ab. Sie legten sich auf die Lauer und harrten stumm und reglos aus, bis die Jagd in einem explosiven Gewaltausbruch kulminierte.

Im Vergleich zu den Dinosauriern hatten die Säugetiere aber auch keine schlechten Voraussetzungen. Purga schaute nämlich selbst auf eine Entwicklungsgeschichte von vielen Millionen Jahren zurück und war perfekt an die Nische angepasst, in der sie sich eingerichtet hatte. Trotzdem wurden die Säugetiere durch die harten Tatsachen der Energieökonomie in die kleinen Nischen der Dinosaurier-Welt gedrängt. Insgesamt hatte ein Raubsaurier eine höhere Energieeffizienz als ein Säuger: Dieser Raptor vermochte wie eine Gazelle zu laufen, ruhte aber wie eine Eidechse. Es war diese Kombination aus Energieeffizienz und Kampfkraft, die den Dinosauriern für eine so lange Zeit ihre beherrschende Stellung gesichert hatte.

Der Raptor war vielleicht so etwas wie ein mächtiger Raubvogel. Oder eine Art zweibeiniges Krokodil. Dennoch war er nicht wirklich wie diese Tiere. Er stellte etwas dar, das es auf der Erde des Menschenzeitalters nicht gab, etwas, das keines Menschen Auge je erblicken würde.

Er war eben ein Dinosaurier.

Die bevorzugte Jagdmethode dieses Raptoren bestand darin, aus der Deckung zu brechen und der Beute Wunden zu schlagen, die zwar schwer waren, aber nicht unbedingt tödlich. Die Beute vermochte wohl noch zu fliehen, war aber durch klaffende Wunden in Beinen und Flanken, durch aufgerissene Bäuche oder durchtrennte Sehnen, durch den Blutverlust und Schock geschwächt. Und weil Mundhygiene für den Raptor kein Thema war – er hatte fürchterlichen Mundgeruch –, übertrug er mit jedem Biss ein paar Bakterienkulturen. Dann verfolgte der Raptor die Beute. Manchmal griff er sie erneut an, manchmal folgte er auch nur dem Geruch der stinkenden infizierten Wunden, bis die Beute vor Erschöpfung und Wundbrand verendete.

Heute hatte dieser Raptor indes ganze Arbeit geleistet und das Opfer mit einem Streich niedergestreckt. Er musste nur noch abwarten, bis der Titan so geschwächt war, dass er ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Und dann würde der Saurier die Beute schon einmal bei lebendigem Leib anfressen.

Deshalb ließ er einen so kleinen Happen wie Purga auch links liegen, wo ihn ein so üppiges Festmahl erwartete. Vorsichtig und wachsam verließ sie die Deckung des Farns und huschte über die Flutebene und durch die Schneise der Verwüstung, die die Anotitanen-Herde geschlagen hatte, in die Sicherheit der Bäume.

Zum ersten Mal seit vier Milliarden Jahren spürte der Teufelsschweif Wärme. Fragile Eisskulpturen, die älter waren als die Erde, schmolzen.

Gas strömte aus Spalten in der Kruste. Bald hatte eine mondgroße leuchtende Wolke aus Staub und Gasen den Kometen umhüllt. Der Sonnenwind aus Licht und schnellen Teilchen bündelte das Gas und den Staub hinter dem fallenden Kometen-Kern in Schweife mit einer Länge von Millionen Kilometern. Der Doppelschweif war zwar hauchdünn, aber er reflektierte dennoch das Licht und begann zu leuchten.

Zum ersten Mal schauten leere Augen auf der Erde den sich nähernden Kometen.

Der Teufelsschweif zog weiter seine Bahn, wobei der rotierende, Feuer speiende Kern die Gase mit zunehmender Heftigkeit ausstieß.

III

Wieder ging ein langer, heißer Kreidezeit-Tag ins Land. Purga schlief den ganzen Tag inmitten ihrer neuen Familie. Sie wachte nicht einmal auf, als die Jungen Milch sogen. Der weiche Boden des Baus war mit dem weichen Fell der Primaten bedeckt, und er roch unzweifelhaft nach Purga, ihrem neuen Gefährten und den drei Jungen, die von ihr stammten.

Purgas Gefährte hatte sich selbst keinen Namen gegeben, und Purga gab ihm auch keinen, genauso wenig wie sie sich einen gab. Wenn sie es aber getan hätte – im Bewusstsein, dass er auf keinen Fall der Erste in ihrem Leben war –, dann hätte sie ihn vielleicht Zweiter genannt.

Während Purga schlief, träumte sie. Die Primatengehirne hatten bereits die Größe und Komplexität, die für die mentale Säuberung erforderlich waren. Also träumte sie von Wärme und Dunkelheit, von blitzenden Klauen und Zähnen und von ihrer Mutter, die die Erinnerung ausfüllte.

Purga war, wie alle Säugetiere, ein Warmblüter.

Der tierische Metabolismus basiert auf der langsamen zellulären Verbrennung der Nahrung mit Sauerstoff. Die ersten Tiere, die das Land besiedelten – nach Luft schnappende Fische, die aus trocken gefallenen Wasserläufen krochen und ihre Schwimmblasen als provisorische Lungen nutzten –, hatten sich noch mit Stoffwechselapparaten behelfen müssen, die für das Leben im Wasser ausgelegt waren. Diese ersten Landbewohner hatten noch einen sehr langsamen Metabolismus. Aber der entscheidende Schritt des ›Landgangs‹ war erfolgreich gewesen; ab diesem Zeitpunkt bis in alle Zukunft würde jedes Tier – Säugetiere, Dinosaurier, Krokodile und Vögel, selbst Schlangen und Wale – auf einer Variante desselben uralten ›Vier-Säulen-Bauplans‹ mit vier Beinen, Rückgrat, Rippen, Fingern und Zehen beruhen.

Ungefähr zweihundert Millionen Jahre vor Purgas Geburt hatten jedoch einige Tiere einen neuartigen Metabolismus entwickelt. Es hatte sich dabei um Raubtiere gehandelt, die wegen ihrer Spezialisierung die Nahrung schneller verbrennen mussten, um das Jagdglück zu steigern.

Das hatte eine komplette Neukonstruktion bedeutet. Diese ehrgeizigen Räuber benötigten mehr Nahrung, eine höhere Verdauungsgeschwindigkeit und eine effizientere Entsorgung der Abfallprodukte. All das hatte den Grundumsatz erhöht – sogar im Ruhezustand –, sodass sie die Wärme erzeugenden Organe wie Herz, Nieren, Leber und Gehirn hatten vergrößern müssen. Selbst die Zellfunktionen hatten sich beschleunigt. Zuletzt war noch eine neue, stabile hohe Körpertemperatur eingestellt worden.

Die neuen warmblütigen Körper hatten einen unerwarteten Vorteil. Kaltblüter waren auf Umgebungswärme angewiesen. Warmblüter aber nicht. Sie vermochten auch in der Kühle der Nacht Spitzenleistungen zu erbringen, wenn die Kaltblüter ruhen mussten oder in extremer Hitze, wenn Kaltblüter Schutz suchen mussten. Und sie waren sogar in der Lage, Kaltblüter wie Frösche, kleine Reptilien und Insekten in der Morgen- und Abenddämmerung zu jagen, wo diese Kreaturen langsam und dadurch verwundbar waren.

Aber sie vermochten nicht die Dinosaurier vom Thron zu stoßen; dem stand die überlegene Energieeffizienz der Dinosaurier entgegen.

Ihre Träume wurden jedoch vom wuchtigen Stampfen der Dinosaurier gestört, die tagsüber an der Oberfläche ihren Verrichtungen nachgingen. Der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben, und die Erde bröckelte von den Wänden des Baus und rieselte um die dösende Familie herum nieder. Es war, als ob Armeen von Wolkenkratzern über die Welt marschierten.

Aber es gab nichts, was man dagegen zu tun vermochte. Für Purga waren die Dinosaurier eine Naturgewalt, die sich ihrem Einfluss genauso entzog wie das Wetter. In dieser großen, gefährlichen Welt war der Bau ihr Zuhause.

Die dicke Erdschicht schützte die Primaten vor der Hitze des Tages und schirmte die noch nackten Jungen von der Kühle der Nacht ab: Mutter Erde selbst schützte Purga vor dem Dinosaurier-Wetter.

Und doch hielt sich im Hinterkopf eine vage Erinnerung, eine Ahnung, dass dies nicht ihr erstes Zuhause, nicht ihre erste Familie war – eine unterschwellige Warnung, dass sie auch dieses Glück in einem Moment aus Licht und blitzenden Klauen und Zähnen verlieren konnte.

Als die Erde sich weiterdrehte, die Luft kühler wurde und die Dinosaurier in ihre nächtliche Lethargie verfielen, tat sich zu ihren Füßen der Boden auf. Die Kreaturen der Nacht kamen zum Vorschein: Insekten, Amphibien – und unzählige kleine Säugetiere, die wie eine Flut um die Säulenbeine der Dinosaurier anschwollen.

In dieser Nacht gingen Purga und ihr neuer Gefährte zusammen auf die Pirsch. Purga, die etwas älter und erfahrener war, übernahm die Führung. Im Abstand von ein paar Zentimetern wanderten sie den flachen Abhang zum See hinunter, wobei sie ständig sicherten und spähten.

Normalerweise jagten sie nicht gemeinsam. Wegen des trockenen Wetters mussten die beiden aber trinken.

Dieser Teil Amerikas war von einer lang anhaltenden Dürre heimgesucht worden. Vom Binnenmeer war nur noch ein großes Sumpfgebiet übrig. Es wurde allmählich von Sedimenten überlagert, die sich vom Felsengebirge nach Osten schoben. Die Ablagerungen entstanden aus jungen Bergen, die so schnell erodierten, wie sie entstanden waren. Und in dieser Dürreperiode war jedes Gewässer ein Anziehungspunkt für große und kleine Tiere.

Deshalb wimmelte es im See auch von Dinosauriern.

Da war eine Herde Triceratops, Riesen mit drei Hörnern und einer starken Panzerung, die an einen Lampenschirm erinnerte. Die wie überdimensionierte Nashörner anmutenden Tiere dösten in lockeren Kreisen. Die ausgewachsenen Tiere bildeten mit den Hörnern eine Phalanx, um nächtliche Angreifer abzuschrecken.

Es gab auch viele Hadrosaurier mit den typischen Entenschnäbeln. Ganze Herden hatten sich um den seichten See versammelt und bildeten farbige Kontraste. Purga und Zweiter mussten durch einen Wald aus Beinen huschen, als ob sie sich in einem gewaltigen Stelenfeld verirrt hätten. Die Entenschnäbel schliefen, doch selbst ihr Schnarchen war eine Kakophonie aus einem tiefen, melancholischen Trompeten, Tröten und Kollern.

Schließlich erreichten Purga und Zweiter das Seeufer. Das Wasser hatte sich zurückgezogen, und sie mussten einen aus Geröll und getrocknetem Schlick bestehenden Abschnitt des ehemaligen Seebodens überqueren, der mit Schleim und grünen Pflanzen überzogen war. Purga trank hastig, mit geweiteten Augen und zuckenden Schnurrhaaren.

Nachdem die Primaten den Durst gelöscht hatten, teilten sie sich. Zweiter lief zum flachen Ufer hinüber und suchte nach kleinen Sandwirbeln im Boden, die die Anwesenheit eines Wurms markierten.

Purga lief über das Ufer zum Waldrand. Sie folgte einem verheißungsvolleren Geruch.

Bald fand sie die Quelle des Geruchs: Es war ein Fisch. Er lag auf einem Haufen rostbrauner Farnwedel. Der Kadaver war in der silbrigen Haut geschrumpft. Er war weitab vom Wasser gestrandet und schon seit vielen Stunden tot. Als Purga in die Haut des Fischs stach, platzte sie auf. Ein übler Brodem quoll hervor – und eine wimmelnde Masse geisterhaft fahler Maden. Purga wühlte mit den Pfoten im Kadaver und stopfte sich die Maden in den Mund. Die salzigen Delikatessen platzten zwischen den Zähnen und gaben leckere Körpersäfte frei.

Plötzlich flog ein weiterer Fisch über sie hinweg und landete tiefer im Gestrüpp. Erschrocken presste sie sich auf den Boden. Die Schnurrhaare zuckten.

Ein Dinosaurier stand stocksteif im flachen Wasser. Er war groß und ragte ungefähr neun Meter empor. Er hatte einen Kiefer wie ein Krokodil und ein großes purpurrotes Segel auf dem Rücken. Die Zähne waren gebogen, und die Hände waren mit dreißig Zentimeter langen Klauen bestückt, die wie Messer anmuteten. Plötzlich stieß der Saurier die Klauen ins Wasser und zerbrach die glitzernde Oberfläche. Ein paar silberne Fische wurden aus dem Wasser geschleudert. Sie zappelten in der Luft, und der Dinosaurier fing die meisten mit dem ausladenden Maul auf.

Dies war ein Suchomimus, ein auf Fische spezialisierter Jäger. Diese Art war erst vor vergleichsweise kurzer Zeit über die Landbrücken, die sich sporadisch zwischen den Kontinenten bildeten, aus Afrika eingewandert. Er jagte die Fische auf die gleiche Art wie ein Bär. Er vermochte die Beute mit den Klauen zu packen oder mit dem Krokodil-Kiefer durchs Wasser zu pflügen und die Beute mit den gekrümmten Zähnen aufzuspießen. Er jagte nachts, wenn die meisten anderen Geschöpfe seiner Größe schliefen. Dies war die Zeit, wo die durch die Dunkelheit in Sicherheit gewiegten Fische an die Oberfläche und ans Ufer kamen, um Nahrung zu suchen.

Im Abstand von ein paar Metern folgte ihr ein zweiter Suchomimus. Dies war ein Männchen; wie die meisten jagenden Dinosaurier wanderten die Suchomimus in Paaren.

Das Suchomimus-Weibchen fuhr erneut mit der Pfote durchs Wasser, und Fische regneten aufs ausgetrocknete Ufer. Sie zappelten kurz, und dann löschte der Erstickungstod die winzigen Flämmchen des Bewusstseins. Das Suchomimus-Weibchen ignorierte jedoch diese leichte Beute. Sie schien aus Spaß an der Freud’ zu jagen.

Der spähende Deinosuchus schien aber auch seinen Spaß zu haben.

Der Deinosuchus war ein riesiges Krokodil. Er glitt fast lautlos durchs Wasser des Sees und wurde dabei durch eine dünne Schicht Wasserfarne an der Oberfläche getarnt. Die transparenten Augenlider schlossen sich über gelben Augen, um die kleinen grünen Blätter abzuhalten.

Bei diesem Deinosuchus handelte es sich auch um ein Weibchen: Es war zwölf Meter lang, bereits sechzig Jahre alt und hatte reichlich Nachwuchs bekommen, der sich inzwischen selbst schon zu Jägern entwickelt hatte. Zeiten wie diese – eine Trockenzeit, wo die Tiere sich am Wasser zusammendrängten und vor lauter Durst die angeborene Vorsicht vergaßen – waren ein Segen für die Krokodile. Die gebratenen Tauben flogen ihnen sozusagen ins Maul. Aber der Deinosuchus, der es sogar mit einem Tyrannosaurier aufzunehmen vermochte, hatte nur selten Hunger; egal, welche Witterung herrschte.

Die Krokodile waren schon eine alte Art, die sich vor hundertfünfzig Millionen Jahren von zweibeinigen Jägern abgespalten hatte. Sie waren überaus erfolgreich und beherrschten die seichten Wasserstraßen und Seen von ganz Nordamerika und darüber hinaus: Sie gehörten zu den wenigen Tieren der Kreidezeit, denen ein langes Leben beschieden war. Und sie sollten auch bis ins Zeitalter der Menschen und weit darüber hinaus überdauern.

Die feine Nase des Deinosuchus vermochte die Bewegungen des Suchomimus-Paars am Seeufer zu spüren. Sie krümmte den mächtigen Schwanz.

Purga sah eine Art Eruption am Seeufer. Pterosaurier und Vögel stoben von schwimmenden Nestern auf und schrien ihren heiseren Protest heraus. Das Suchomimus-Männchen hatte kaum Zeit, den ausdruckslosen Kopf zu wenden, bevor der Kiefer des Krokodils sich um ein Hinterbein schloss. Das Krokodil schwamm zurück. Der Suchomimus stürzte in den Schlick und brach sich das schöne Segel ab. Er wehrte sich mit lautem Trompeten und versuchte die langen blutigen Klauen einzusetzen, aber das Krokodil versank im Wasser und nahm das Suchomimus-Männchen mit.

Seit dem Auftauchen des Deinosuchus war kaum eine Minute vergangen, und die Turbulenzen der Wasseroberfläche hatten sich auch schon wieder geglättet. Das Suchomimus-Weibchen schien durch den plötzlichen Verlust bestürzt. Mit einem traurigen Trompeten suchte es die Wasserlinie ab.

Das Krokodil hatte geradezu ein Gemetzel veranstaltet. Der Uferschlick war blutgetränkt und mit Überresten des Suchomimus-Männchens übersät – mit glitzerndem Gedärm, Fleischfetzen und sogar mit dem leer blickenden, abgetrennten Kopf. Nun traten die ersten Aasfresser auf den Plan. Es war ein Rudel kleiner, leichtfüßiger Raptoren, das hüpfend, springend und wirbelnd aus dem Unterholz brach. Sie bekämpften sich gegenseitig wie Kickboxer, während sie nach den saftigen Fleischbrocken schnappten.

Bald bekamen sie Gesellschaft von Pterosauriern, die mit lautem Flügelschlag einfielen. Sie landeten und staksten mit fledermausartig gespreizten Beinen und Armen durch den Schlick. Sie hatten lange Schädel und schmale Schnäbel mit spitzen Zähnen, die sie tief in die Überreste des Suchomimus schlugen. Immer mehr Pterosaurier wurden angelockt, bis sie den Himmel mit ihren pergamentartigen Schwingen schließlich verdunkelten. Ein Pterosaurier hatte es allerdings auf zwei Primaten abgesehen.

Purga sah ihn kommen. Zweiter nicht.

Er nahm ihn erst in Form eines rauschenden Luftzugs wahr, als behaarte, lederartige Flügel den Himmel über ihm verdunkelten. Dann fielen klauenbesetzte Füße vom Himmel und schlossen ihn wie in einem Käfig ein.

Es war vorbei, ehe Zweiter noch wusste, wie ihm geschah. Von den vertrauten Geräuschen des Bodens wurde er in eine Stille emporgehoben, die nur vom Rauschen des mächtigen Flügelschlags des Pterosauriers durchbrochen wurde, vom leisen Sirren der gespannten Muskelstränge und dem Rauschen des Winds. Er sah das dunkelgrüne, mit blau schimmernden Tümpeln übersäte Land unter sich wegfallen. Und dann öffnete der Blick sich spektakulär nach Südosten, die Richtung, aus der der Komet kam. Der Kometenkopf hing wie eine riesige unirdische Laterne über der Meerenge, die sich vom Golf von Mexiko ins Landesinnere hineinzog.

Zweiter wollte nur aus diesem Käfig aus schuppigem Fleisch freigelassen werden und wieder auf den Boden und in den Bau gelangen. Er schlug gegen die Klauen, die ihn hielten und wollte hineinbeißen, aber die kleinen Zähne vermochten die Schuppen der mächtigen Kreatur nicht zu durchstoßen.

Und dann drückte der Pterosaurier, bis kleine Primaten-Rippen knackten.

Der Pterosaurier war ein Azhdarchide von der Größe eines Flugdrachens. Der mächtige Kopf mit einem spitzen zahnlosen Dreiecksschnabel vorn und einem leitwerkartigen Kamm hinten verbesserte durch die Stromlinienform die Flugeigenschaften des Tiers. Durch die hohlen Knochen, den porösen Schädel und den kleinen Rumpf war es erstaunlich leicht. Es bestand im Grunde nur aus Flügeln und Kopf und sah aus wie eine Skizze von Leonardo da Vinci.

Der Sporn an jedem Flügel des Pterosauriers war ein großer Finger. Drei rudimentäre Finger in der Mitte der Vorderkante bildeten eine kleine Klaue. Gespreizt wurden die Flügel von den Hinterbeinen. Weil alle vier Gliedmaßen für die Kontrolle der Steuerflächen benötigt wurden, vermochten die Verwandten des Azhdarchiden sich nicht wie die Vögel in Land- und Wasserlebewesen zu differenzieren. Trotzdem waren die Pterosaurier erstaunlich erfolgreich gewesen. Neben den Vögeln und Fledermäusen waren sie eine der drei Wirbeltier-Gruppen gewesen, die die Fähigkeit des Fliegens erlangt hatten – und sie waren sogar die ersten gewesen. Die Pterosaurier verdunkelten den Himmel über der Erde nun schon seit über hundertfünfzig Millionen Jahren.

Der Azhdarchide vermochte zwar auch in flachen Gewässern zu fischen, betätigte sich aber hauptsächlich als Leichenfledderer. Säugetiere schlug er nur selten. Doch Zweiter, der gerade einen Wurm aus dem Sand zog und sich daran gütlich tat,’ hatte nicht bedacht, dass er vom hellen Kometen förmlich angestrahlt wurde. Er war auch nicht das einzige Tier, das vom neuen Licht am Himmel irritiert wurde. Er war eine leichte Beute gewesen.

Zweiter war in Schmerz erstarrt, während er von kalter Luft umströmt wurde.

Er sah die ausgestreckten Flügel und den Kometen über sich, dessen Licht blau durch die transparente Haut drang. Sie wimmelte von winzigen Kreaturen. Der Flügel eines Pterosauriers war eine große Fläche spärlich behaarter Haut mit vielen Blutgefäßen und übte eine große Anziehungskraft auf parasitische Insekten aus. Jeder Quadratzentimeter der Flügeloberfläche des Pterosauriers war mit einer Matte aus Muskelgewebe unterlegt, das den Azhdarchiden in die Lage versetzte, die Fluglage mit unnachahmlicher Präzision zu regeln. Sein Körper war ein besser konstruierter Gleiter als alle von Menschenhand geschaffenen Fluggeräte.

Der Azhdarchide flog eine Kurve, um einer Rauchwolke auszuweichen, die über einem Vulkan hing. Ein Kontakt mit der verschmutzten Luft hätte die empfindlichen Flügel stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Echse war ein Meister im Ausnutzen der Thermik – die durch Kumuluswolken markiert wurde und über von der Sonne beschienenen Hängen auftrat –, in der sie Auftrieb gewann, ohne sich selbst anstrengen zu müssen. Für sie war die Welt ein räumliches Netz unsichtbarer Förderbänder, auf denen sie überallhin zu gelangen vermochte.

Das Nest des Azhdarchiden lag oberhalb der Baumgrenze in einem Vorgebirge der Rocky Mountains. Ein steiler Wall aus jungem Gestein ragte über einen kotverschmierten Vorsprung, der mit Eierschalen, Knochen und Schnäbeln übersät war. Jungtiere staksten kreischend in diesem abgeschlossenen Bereich umher und verteilten die Schalen der Eier, aus denen sie vor ein paar Wochen geschlüpft waren. Es waren drei; ein schwaches viertes Junges hatten sie schon aufgefressen.

Das Elterntier bewegte einen Knochensporn im Handgelenk, der die Form der Flügelmembran veränderte und die Funktion einer Luftbremse erfüllte. So vermochte es abzubremsen, ohne zu überziehen. Der Flugsaurier verharrte einen Meter über dem Vorsprung und richtete sich auf den Hinterbeinen auf. Er faltete die zarten Flügelmembranen zusammen, legte die Flugfinger auf den Rücken und ging mit ausgestellten Beinen und angewinkelten Ellbogen weiter.

Zweiter wurde fallengelassen. Er plumpste auf nackten Stein und sah den ausgewachsenen Azhdarchiden davon flattern. Er scharrte auf dem Stein, aber er war zu hart, als dass er sich einzugraben vermocht hätte.

Und dann wurde er von kleinen Ungeheuern umringt, die im Kometenlicht blauschwarz schimmerten. Die Jungen bekamen von den Eltern eine proteinhaltige Atzung aus Fisch und Fleisch und gediehen prächtig. Aber die Flügel waren noch bloße Stummel, sodass Rumpf und Kopf überproportional groß wirkten. Sie schauten aus wie winzige Dinosaurier.

Das erste Junge pickte fast spielerisch ins Bein von Zweiter. Der Geruch seines eigenen Bluts weckte plötzlich Erinnerungen an den Bau. Er verspürte eine Art Bedauern und fletschte die Zähne. Die nimmersatten Jungen fielen über ihn her. In wenigen Sekunden war es vorbei, der warme Körper zerrissen.

Doch nun regte sich etwas über der Azhdarchiden-Mutter. Sie drehte den kantigen Schädel und schaute nach oben. Am Himmel hatten Räuber sich mit der ganzen Wildheit ihrer bodenverhafteten Gegenstücke zu einer Pyramide formiert. Dann sah sie, dass der riesige keilförmige Schatten, der über den kometenerhellten Himmel zog, über den tiefsten Wolken stand, und sie wusste, dass sie nicht in Gefahr war.

Es war nur ein Luftwal.

Das größte fliegende Tier, das je von Menschen entdeckt wurde, gehörte zur Art der Azhdarchiden und trug den Namen Quetzalcoatlus. Mit der Flügelspannweite von fünfzehn Metern hatte er die des größten Vogels, des Kondors, ums Vierfache übertroffen und war wie ein kleines Flugzeug erschienen.

Aber der größte Pterosaurier war noch einmal um eine Größenordnung größer.

Die riesigen filigranen Flügel des Luftwals hatten eine Spannweite von hundert Metern. Sein Skelett war ein extrem leichter Gitterrohrrahmen mit Streben und Hohlknochen. Das Maul war eine riesige durchscheinende Höhle. Die größte Gefahr für ihn bestand darin, im ungefilterten Sonnenlicht der Höhenluft zu überhitzen, aber der Körper verfügte über eine Anzahl von Ausgleichsmechanismen. Dazu gehörte die Drosselung des Blutkreislaufs in den gewaltigen Schwingen und Luftsäcke im Körper, an die die inneren Organe Wärme abführten.

Er brachte sein Leben in der dünnen hohen Luftschicht der Stratosphäre zu, die über den Bergen und über den meisten Wolken lag. Doch selbst in dieser großen Höhe gab es noch Leben: ein vom Winde verwehtes, feines Plankton aus Insekten und Spinnen. Manchmal wurden Schwärme sich paarender Milben und sogar Heuschrecken in diese luftigen Höhen getragen. Das war die karge Kost des Wals, die er stetig in sein großes Maul schaufelte.

Hätte er einen Blick nach unten geworfen, dann hätte der Luftwal vielleicht das kleine Drama mit Zweiter, den Azhdarchiden-Jungen und dem Pterosaurier verfolgt. Doch hier oben waren solche entfernten Ereignisse unwichtig. Wenn der Wal den Blick über sein luftiges Reich schweifen ließ, sah er die Krümmung der Erde: das dicke blaue Band dichterer Luft, das den Horizont markierte und das im Kometenlicht glitzernde Meer. Der Himmel über ihm färbte sich im Zenit zu Violett. In dieser Höhe gab es kaum noch Luftmoleküle, die das Licht streuten; trotz der Helligkeit des Kometen sah er die Sterne.

Der Luftwal besaß die Fähigkeit, die Erde zu umrunden. Er folgte den Höhenwinden und nutzte die Thermik, ohne auch nur einmal den Boden zu berühren. Seine Art war nur eine kleine Population – das Luftplankton vermochte nicht allzu viele Exemplare zu ernähren –, aber sie war über den ganzen Planeten verstreut. Drei- oder viermal hatte er sich in seinem Leben gepaart, wobei eine innere Uhr, die von der Bewegung der Sonne gesteuert wurde, ihn zu den höchsten Berggipfeln des Planeten gelenkt hatte. Die Paarung war mechanisch und reizlos; so große, zarte Wesen vermochten sich die Balzriten der bodenständigeren Spezies nicht zu leisten. Dennoch brachen sich manchmal uralte Instinkte Bahn. Es gab Kämpfe – oft heftig und fast immer tödlich –, und wenn das geschah, regneten zum Erstaunen der am Boden lebenden Aasfresser mächtige ätherische Leiber vom Himmel.

Der Wal war das Endprodukt einer brutalen evolutionären Konkurrenz, die hauptsächlich auf das Abwerfen von Ballast abgezielt hatte. Alles, was nicht unbedingt notwendig war, war über die Generationen ausgemerzt worden oder nur noch rudimentär vorhanden. Und weil es hier oben in der kühlen Stratosphäre recht beschaulich zuging, umfassten diese verkümmerten Organe auch das Gehirn des Wals. Der Wal war der größte und zugleich dümmste Vertreter seiner Art; das Gehirn war nur noch ein besserer Fluglageregler oder eine organische Rechenmaschine. Deshalb beeindruckte die majestätische Aussicht ihn auch nicht im Geringsten.

Nur in der warmen sauerstoffreichen Luft der Kreidezeit hatten solche riesigen und zarten Geschöpfe sich von den Fesseln der Schwerkraft zu befreien vermocht, und nie wieder sollte es eine Genbank wie die Pterosaurier geben, um Rohstoffe für ähnliche evolutionäre Experimente bereitzustellen. Nie wieder sollte ein Lebewesen diese besondere ökologische Nische ausfüllen. In Zukunft würden die vom Wind getragenen Insekten nicht mehr behelligt werden.

Menschliche Paläontologen, die dieses Zeitalter anhand von Knochen und versteinerten Pflanzen rekonstruierten, fanden keine Reste von diesen Riesen. Die meisten Pterosaurier-Knochen, auf die man stieß, gehörten Wasser- und Küstenbewohnern, weil die Fossilien in diesem Gelände am besten konserviert wurden. Die Geschöpfe, die das Dach der Welt beherrscht hatten, die Hochebenen und Gebirge, hinterließen relativ wenig Spuren, weil diese Habitate starken Auffaltungen und Abtragungen unterworfen waren: Das höchste Gebirge des Menschenzeitalters, der Himalaja, hatte in der Kreidezeit noch nicht einmal existiert.

Die Fossilien ergaben also nur ein unvollständiges und verzerrtes Bild. Schon zu allen Zeiten hatte es Ungeheuer und Wunder gegeben, die keines Menschen Auge je geschaut hatte – wie dieses riesige Flugwesen.

Mit einer zarten Berührung der langen ausgestreckten Mittelfinger legte der Wal die Flügel an und schoss auf eine Schicht zu, die besonders reich an Luftplankton war.

Die Nacht sollte noch weitere Schrecken für Purga bergen.

Trotz des Verlusts von Zweiter setzte sie die Jagd fort. Sie hatte keine Wahl. Der Tod war allgegenwärtig, und das Leben ging weiter. Sie hatte keine Zeit zu trauern.

Doch als sie zum Bau zurückkehrte, stieß ein kleines, schmales Gesicht ihr durch die Dunkelheit entgegen: eine zuckende, bewegliche Schnauze, leuchtende schwarze Augen, zitternde Schnurrhaare. Einer von ihrer Art, ein Männchen.

Sie zischte und zog sich aus dem Eingang zum Bau zurück. Sie roch Blut. Das Blut ihrer Jungen.

Es war schon wieder passiert. Blindwütig stürzte Purga sich auf das Männchen. Aber es war dick und kräftig – offenbar ein guter Jäger – und wehrte sie mit Leichtigkeit ab.

Verzweifelt rannte sie in die gefährliche Morgendämmerung hinaus, wo mächtige Dinosaurier sich regten und die Luft von den ersten, weit tragenden Rufen der Hadrosaurier vibrierte. Sie lief zu einem alten, ihr bekannten Farn, um dessen Wurzeln der Boden trocken und bröckelig war. Schnell grub sie sich ein, ohne von den feuchten Würmern und Käfern Notiz zu nehmen. Schließlich lag sie zitternd in der Sicherheit des unterirdischen Baus und versuchte, den schrecklichen Gestank des Bluts ihrer Jungen aus dem Kopf zu verdrängen.

Nachdem das fremde Männchen Purgas Duftmarken entdeckt hatte – den Geruch eines fruchtbaren Weibchens –, war es ihnen zum Bau gefolgt. Dabei hatte es ihre Marken sorgfältig mit seinen eigenen überlagert, um keine anderen Männchen auf die Fährte zu locken.

Nachdem der Fremde in den Bau eingedrungen war, hatten die Jungen sich um ihn versammelt. Sein Geruch, der ihn als Artgenossen auswies, hatte den familienfremden Geruch überdeckt. Anhand der Fell- und Kotspuren erschnüffelte er, dass hier ein gesundes, fruchtbares Weibchen hauste. Das Weibchen war nützlich für ihn, nicht aber die Jungen. Sie rochen nicht nach ihm und hatten nichts mit ihm zu tun. Ohne sie würde das Weibchen viel eher bereit sein, sich mit ihm zu paaren und den Nachwuchs aufzuziehen, den er mit ihr zeugen würde.

Für das Männchen war das alles ganz logisch. Die beiden größeren Jungen hatten auf der Suche nach Milch noch seinen Bauch beschnüffelt, während er schon ihre kleine Schwester auffraß.

In der darauf folgenden Nacht spürte das Männchen sie wieder auf. Es stank noch immer nach ihren toten Jungen, nach dem verlorenen Teil von ihr. Sie wehrte ihn in blinder Wut ab.

Es dauerte noch zwei Nächte, bis sie auf sein Werben einging. Und bald würde sie seine Jungen austragen.

Es war hart.

Es war das Leben.

Es wäre auch kein Trost für Purga gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass dieses grausame Land, dem ihre beiden Würfe zum Opfer gefallen waren, bald von einer Welle des Leidens und Sterbens überrollt werden sollte, die alles in den Schatten stellte, was sie bisher erduldet hatte.

IV

Die Erde befand sich nun innerhalb der anschwellenden Koma, der lockeren Gaswolke, die den eigentlichen Kern umhüllte.

Der Schweif, der von der Sonne wegzeigte, war auf der ganzen Nachtseite der Erde zu sehen. Es war, als ob der Planet in einen glitzernden Tunnel eingetaucht wäre. Meteore funkelten am Himmel, und kleine Kometenbruchstücke drangen in die Atmosphäre ein und verglühten in einer Lichtshow, die von den lethargischen Dinosauriern nur flüchtig wahrgenommen wurde.

Der Kometenkern war jedoch größer als jeder Meteor. Er bewegte sich mit einer interplanetaren Geschwindigkeit von zwanzig Kilometern pro Sekunde und hatte den Mondorbit schon gekreuzt.

Von wo aus er nur noch fünf Stunden brauchen würde, um die Erde zu erreichen.

Die ganze Nacht ertönten die Stimmen der verwirrten Vögel, und dann schliefen sie erschöpft den ganzen Tag durch. Ihr Gehirn war nicht auf ein neues Licht am Himmel programmiert, und sie waren bis hinunter auf die Ebene der Körperzellen aus dem Gleichgewicht geraten. In den Meeren waren das Plankton und größere Lebewesen wie Krabben und Garnelen irritiert; die Jäger nutzten das weidlich aus und machten fette Beute.

Nur die großen Dinosaurier blieben ungerührt. Das Licht des Kometen bewirkte keine Änderung der Lufttemperatur, und als die Nacht hereinbrach, versanken sie in der üblichen dumpfen Starre. In der letzten Nacht einer Regentschaft, die fast zweihundert Millionen Jahre gewährt hatte, schliefen die Herren der Welt tief und fest.

Wären da nicht die Dinosaurier-Eier gewesen, hätte der junge Gigantosaurier das verstörte Troodon noch früher erspäht. Im Windschatten der Berge pirschte er lautlos durch grüne Schatten. Sein Name bedeutete ›Riese‹.

Der lichte Wald bestand aus schlanken Araukarien und Baumfarnen, die über einen mit scharfkantigem Vulkan-Gestein übersäten Boden verteilt waren. Nichts regte sich. Alles, was sich zu verstecken vermochte, hatte sich schon versteckt; und alles andere lag reglos da und hoffte darauf, dass der Schatten des Todes an ihm vorüber zog.

Er kam zu einem Haufen aus Moos und Flechten. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein Haufen, der vom Wind oder von vorbeiziehenden Tieren aufgeschichtet worden war. Doch Riese erkannte die charakteristischen Kratzer und roch den Geruch eines Fleischfressers.

Es war ein Nest.

Mit einem gierigen Grollen stürzte er sich auf das Nest und riss es mit den kurzen Vorderarmen auseinander. Nachdem er die Eier freigelegt hatte, bohrte Riese den klauenbesetzten Daumen mit chirurgischer Präzision in das größte Ei. Er zog den Embryo am Kopf heraus. Während das Eiweiß noch abtropfte, sah Riese, dass das Baby schwächlich zappelte. Er sah sogar das winzige Herz schlagen.

Wie die Embryonen von Schimpansen, Gorillas und Menschen sich verblüffend ähnlich waren, sahen auch Dinosaurier-Föten mehr oder weniger gleich aus. Diesem Baby war nicht anzusehen, dass es sich zu einem Tyrannosaurier-Weibchen entwickelt hätte. Der blinde, taube und noch unfertige Embryo versuchte den Mund zu öffnen. Es glaubte wohl, die massige Gestalt seiner Mutter vor sich zu haben, die es füttern würde. Riese steckte sich den Embryo ins Maul und schluckte ihn unzerkaut hinunter. Das Leben des Babys endete im Säurebad eines dunklen, sich zusammenziehenden Magens.

Das spielte aber auch keine Rolle. Auch wenn der Räuber das Gelege nicht geplündert hätte, wäre das Ei zerstört worden, ehe es noch ausgebrütet war – von einem Ungeheuer, das noch schrecklicher war als ein Gigantosaurier.

Riese entstammte einer südamerikanischen Linie, die vor tausend Jahren eine vorübergehende Landbrücke zu diesem Kontinent überquert hatte.

In einer Welt auseinanderdriftender Inselkontinente hatte die Dinosaurier-Fauna sich diversifiziert. In Afrika gab es altertümlich anmutende, riesige Pflanzenfresser mit langen Hälsen und Tiere mit dicken, gedrungenen Leibern und klauenbewehrten Füßen, die an Nilpferde erinnerten. In Asien lebten kleine, schnelle gehörnte Dinosaurier mit Nasen wie Papageienschnäbeln. Und in Südafrika wurden große Sauropoden von riesigen Räuber-Rudeln gejagt. Die dortigen Verhältnisse erinnerten an frühere Zeiten, als Pangäa noch existiert hatte. Die Gigantosaurier waren durch die Jagd auf die südamerikanischen Titanosaurier jedoch in eine evolutionäre Sackgasse geraten.

Riese war ein halbwüchsiges Männchen und doch schon größer als die meisten Fleischfresser dieses Zeitalters. Der Kopf von Riese war im Verhältnis zum Körper größer als der eines Tyrannosauriers – aber sein Gehirn war dennoch kleiner. Die Gigantosaurier waren weniger beweglich, weniger schnell und weniger intelligent; sie hatten mehr mit den prähistorischen Allosauriern gemein, die für das Töten mit Zähnen und Klauen ausgerüstet waren. Wogegen die Tyrannosaurier, deren evolutionäre Energie in den großen Köpfen konzentriert war, darauf spezialisiert waren, wie Haie zuzubeißen. Wo die Tyrannosaurier sich zum Jagen auf die Lauer legten, waren die Gigantosaurier Herdentiere. Um einen fünfzig Meter langen und hundert Tonnen schweren Sauropoden zu erlegen, kam es weniger auf Köpfchen an als vielmehr auf schiere Kraft und ansatzweise Teamarbeit – und auf eine Art Blutrausch.

Nachdem die Gigantosaurier über diese Landbrücke in ein neues Land gekommen waren, hatten sie sich jedoch der Konfrontation mit einer etablierten Ordnung von Räubern stellen müssen. Die Eindringlinge hatten schnell erkannt, dass sie ein Gebiet erst dann dauerhaft zu übernehmen vermochten, wenn sie den dominierenden Fleischfresser in einem blutigen Putsch gestürzt hatten.

Und genau deshalb tat dieses junge Gigantosaurier-Männchen sich auch an glitschigen Tyrannosaurier-Embryos gütlich. Methodisch knackte Riese ein Ei nach dem andern. Das sorgfältig gebaute Nest verwandelte sich in ein Chaos aus zerbrochenen Eiern, verstreutem Moos und zerfetzten Embryos. Riese ließ es sich schmecken – und stellte zugleich eine Herausforderung dar.

Eine Machtübernahme würde stattfinden. Der Tyrannoraurus war der dominierende Räuber gewesen, der Beherrscher des Landes im Umkreis von hundert Kilometern – als ob das ganze, fein austarierte Ökosystem ein großes Landgut wäre, das nur zu seinem persönlichen Wohlergehen geführt wurde. Die Beute-Spezies hatten sich indes mit der schrecklichen Kreatur arrangiert, die mitten unter ihnen lebte: Mit ihren Panzern, Waffen und Flucht-Strategien hatten die Gejagten eine Verteidigungsposition aufgebaut, wo die Verluste durch Räuber den Bestand der Herde nicht mehr gefährdeten.

Mit der Zeit hätte das alles sich geändert. Der Impetus der hungrigen Invasoren hätte sich über die Nahrungskette fortgepflanzt und große und kleine Lebewesen gleichermaßen betroffen, bevor ein neues Gleichgewicht sich eingestellt hätte. Und es hätte noch länger gedauert, bis die Beute-Spezies neue Verhaltensweisen erlernt oder auch nur neue Fluchtstrategien und Körperschutz entwickelt hätten, um den Gigantosauriern nicht völlig schutzlos ausgeliefert zu sein.

Doch nichts von alledem sollte geschehen. Der Clan der Gigantosaurier würde keine Zeit mehr haben, seinen Triumph auszukosten. Nicht in den paar noch verbleibenden Stunden.

Riese wandte sich vom verwüsteten Nest ab. Aber er hatte noch Hunger – wie immer.

Verwesungsgeruch lag in der stillen, diesigen Luft. Etwas Großes war verendet: wahrscheinlich eine leichte Beute. Er schob sich durch einen Hain aus Baumfarnen und betrat wieder eine Lichtung. Hinter dem grünen Vorhang auf der anderen Seite erkannte er verschwommen die schwarze Flanke eines jungen Vulkans.

Und hier, in der Mitte der Lichtung, stand ein Dinosaurier – ein Troodon – reglos über einer Erdaufwerfung.

Riese erstarrte. Das Troodon hatte ihn nicht gesehen. Und es war allein; es fehlten die wachsamen Gefährten, von denen er wusste, dass sie die Rudel dieses leichtfüßigen kleinen Dinosauriers bildeten.

Das Troodon verhielt sich irgendwie seltsam. Und diese Gelegenheit sollte er nutzen, sagte das grausame räuberische Kalkül ihm.

Verletzlicher Zahn hätte eigentlich imstande sein müssen, den Verlust eines Geleges zu verwinden.

Dies war schließlich eine wilde Zeit. Die Sterblichkeit unter den Tierkindern war sehr hoch, und der plötzliche Tod war eine Konstante des Lebens. Zumal die Evolution das Troodon mit dem Rüstzeug ausgestattet hatte, um sich in dieser Welt zu behaupten.

Aber es vermochte sich nicht zu behaupten. Nicht mehr.

Es war ohnehin das Schwächste seiner Brut gewesen. Es hätte nicht einmal die ersten paar Tage nach dem Schlüpfen überlebt, wenn seine Geschwister nicht zufällig durch einen umherstreifenden Beuteltier-Räuber dezimiert worden wären. Schließlich hatte es die körperliche Schwäche überwunden und sich zu einem guten Jäger gemausert. Aber in einem dunklen Winkel des Bewusstseins war es immer das schwächste Junge geblieben, dem die Geschwister das Futter stahlen und das sogar in der Gefahr geschwebt hatte, von ihnen verspeist zu werden.

Hinzu kam die langsame Vergiftung durch die Dämpfe und Stäube der Vulkane im Westen. Und das Bewusstsein der eigenen Alterung. Und der hammerharte Schlag des Verlusts der Brut. Es war ihm nie gelungen, Purgas Geruch aus dem Kopf zu verbannen.

Es war nicht schwer gewesen, diesem Geruch über die Grenzen des Reviers hinaus zu folgen, über die Flutebene zur Meeresküste bis hin zu diesem unbekannten Ort, wo Purgas Geruch stark war.

Verletzlicher Zahn stand stumm und starr da. Die Nase sagte ihm, dass der Bau sich direkt unter seinen Füßen befand. Sie bückte sich und legte den Kopf schräg auf den Boden. Aber er hörte nichts. Die Primaten verhielten sich mucksmäuschenstill.

Also wartete er stundenlang, während die Sonne an diesem letzten Tag immer höher stieg und das Kometenlicht unmerklich heller wurde. Er zuckte nicht einmal zusammen, als Meteore über ihr verglühten.

Wenn er gewusst hätte, dass der Gigantosaurier ihn beobachtete, wäre es ihm auch egal gewesen. Und selbst wenn er das Fanal des Kometenlichts erkannt hätte, wäre es ihm egal gewesen. Er wollte Purga schnappen; das war alles, was ihn interessierte.

Es war schon eine besondere Ironie, dass Verletzlicher Zahn ausgerechnet durch seine hohe Intelligenz in diese Situation geraten war. Er gehörte nämlich zu den wenigen Dinosaurier-Arten, die intelligent genug waren, um verrückt zu werden.

Es war noch nicht dunkel. Purga sah das an den Lichtreflexen am Eingang des Baus. Aber welche Bedeutung hatten Tag und Nacht überhaupt noch in diesen merkwürdigen Zeiten?

Weil das Kometenlicht die Nacht seit einiger Zeit zum Tag machte, war sie erschöpft, unruhig und hungrig – und das Gleiche galt auch für ihren Gefährten, Dritter und die zwei überlebenden Jungen. Die Jungen waren fast schon so groß, um selbst auf die Jagd zu gehen, und deshalb waren sie gefährlich. Wenn es nicht genug Nahrung gab, fiel die im Bau eingepferchte Familie vielleicht noch übereinander her.

Sie setzte neue Prioritäten und revidierte eine frühere Entscheidung. Sie würde nach draußen gehen müssen, auch wenn es nicht die richtige Zeit zu sein schien, auch wenn das Land mit Licht überflutet war. Zögernd bewegte sie sich auf den Ausgang des Baus zu.

Draußen hielt sie inne und lauschte. Es waren keine Schritte zu hören, unter denen die Erde erbebte. Sie ging mit zuckenden Schnurrhaaren weiter.

Das Licht war stark und seltsam. Kometenbruchstücke fielen vom Himmel und erleuchteten das Firmament wie ein lautloses Feuerwerk. Es war außergewöhnlich und hatte einen gewissen Reiz – schließlich war es viel zu weit entfernt, um eine Gefahr darzustellen…

Ein riesiger Käfig fiel vom Himmel. Sie rannte zum Bau zurück. Aber diese großen Hände waren schneller, und dicke muskulöse Finger krümmten sich um sie.

Und nun erblickte sie einen Verhau aus Zähnen, hunderte von Zähnen und ein riesiges Gesicht mit Reptilienaugen, die so groß waren wie ihr Kopf. Ein riesiges Maul öffnete sich, und Purga roch Fleisch.

Das Dinosauriergesicht mit dem großen Maul, das mit pergamentartiger Haut bespannt war, hatte nicht die Beweglichkeit von Purgas weicher Schnauze. Verletzlicher Zahn hatte ein starres, ausdrucksloses Gesicht wie ein Roboter. Obwohl sie es nicht zu zeigen vermochte, war das ganze Sein von Verletzlicher Zahn auf das kleine warme Säugetier in ihrem Griff fokussiert.

Purgas Gliedmaßen wurden an den Körper gepresst, und sie hörte auf zu zappeln.

Eigentümlicherweise verspürte Purga im diesem letzten Moment einen Seelenfrieden, um den Verletzlicher Zahn sie beneidet hätte. Purga war bereits im mittleren Alter, was sich durch eine verlangsamte Bewegung und Gehirnleistung bemerkbar machte. Und sie hatte schließlich alles erreicht, worauf ein Geschöpf wie sie überhaupt hoffen durfte. Sie hatte Nachwuchs bekommen. Obwohl sie in der Schraubzwinge des kalten Reptiliengriffs des Troodons steckte, roch sie die Jungen in ihrem Fell. Auf ihre Art war sie zufrieden. Sie würde hier und jetzt sterben – in wenigen Herzschlägen –, aber die Spezies würde überdauern.

… Und dann schob sich irgendetwas hinter den massigen Leib des Troodons, etwas noch Größeres – ein lautlos gleitender Berg.

Das Troodon war unglaublich sorglos. Riese fragte aber nicht nach dem Grund dafür. Und er interessierte sich auch nicht für den warmen Brocken, den Verletzlicher Zahn in der Pfote hatte.

Der Angriff erfolgte schnell, lautlos und mit einem präzisen Biss ins Genick. Verletzlicher Zahn hatte noch Zeit, eine Schrecksekunde und einen unerträglichen Schmerz zu verspüren – und eine enorme Erleichterung, als Weiße ihn umfing.

Er öffnete die Pfote. Ein Fellknäuel flog durch die Luft.

Bevor Verletzlicher Zahn noch zu Boden ging, hatte Riese zu einem zweiten Angriff angesetzt. Er schlitzte ihm den Bauch auf und riss die Gedärme heraus. Dann schüttelte er ihn und verteilte den Inhalt in der Gegend. Blutige, halb verdaute Nahrung spritzte heraus.

Bald kamen seine beiden Brüder auf die Lichtung gerannt. Gigantosaurier jagten zwar gemeinsam, aber ihr sozialer Zusammenhalt war selbst im günstigsten Fall nur als brüchig zu bezeichnen. Riese wusste, dass er seine Beute nicht zu verteidigen vermochte, aber kampflos aufgeben wollte er sie dann auch nicht. Während er die Leber von Verletzlicher Zahn verspeiste, trat und schnappte er nach den anderen.

Purga fiel auf den Boden. Über ihr bekämpften sich Berge mit animalischer Wildheit. Ein Regen aus Blut und Speichel prasselte auf sie nieder. Sie hatte keine Ahnung, was überhaupt passiert war. Sie hatte dem Tod ins Auge geschaut. Nun lag sie hier im Dreck und war wieder frei.

Und das Licht am Himmel wurde immer unheimlicher.

Der Kometenkern hätte das Raumvolumen, das von der Erde eingenommen wurde, in nur zehn Minuten zu durchqueren vermocht.

Auf der feurigen Bahn, die der Komet gezogen hatte, war ihm ein Großteil seiner Masse abhanden gekommen, aber nicht so viel, dass es seine Existenz gefährdet hätte. Wenn es ihm gelungen wäre, die Umrundung der Sonne abzuschließen, hätte er sich wieder zur Kometenwolke zurückgezogen und wäre schnell abgekühlt. Die ästhetische Koma und der Schweif wären in der Dunkelheit erloschen, und der Kern wäre wieder in seinem äonenlangen Traum versunken.

Wenn.

Seit Tagen und Wochen hatte der Komet langsam und stetig am Himmel seine Bahn gezogen. Dass er ihnen von Stunde zu Stunde näher kam, vermochte keine der Kreaturen zu erkennen, die verständnislos zu ihm aufschauten. Doch nun glitt der hell leuchtende Kopf: Er stieg den Himmel herab wie eine untergehende Sonne und sank dem südlichen Horizont entgegen.

Auf der ganzen Tagseite des Planeten wurde es still. Die Entenschnäbel, die sich um die austrocknenden Seen geschart hatten, schauten auf. Raptoren brachen Pirsch und Verfolgung für einen Moment ab und versuchten dieses noch nie da gewesene Schauspiel zu deuten. Vögel und Pterosaurier stiegen verängstigt von den Nestern und Brutstätten auf und suchten angesichts einer unbegreiflichen Bedrohung den Schutz der Luft.

Selbst die kämpfenden Gigantosaurier hielten in ihrer viehischen Fresserei inne.

Purga flüchtete sich in die Dunkelheit des Baus. Der abgetrennte Kopf des Troodons fiel hinter ihr zu Boden und blockierte den Eingang des Baus. Er verfolgte Purga mit einem grotesken leeren Blick, während das Licht weiterwanderte.

KAPITEL 2 Die Jäger von Pangäa Pangäa, vor ca. 145 Millionen Jahren

Achtzig Millionen Jahre vor Purgas Geburt streifte ein Ornitholestes durch den dichten Wald des Jura und jagte Diplodocus.

Dieser Ornith war ein Fleisch fressender Dinosaurier mit einem schlanken Leib. Er hatte ungefähr die Größe eines ausgewachsenen Menschen, aber nur die halbe Masse. Das Tier hatte kräftige Hinterbeine, einen langen Schwanz, mit dem es die Balance hielt, spitze kegelförmige Zähne und ein weiches braunes Federkleid. Dies war eine gute Tarnung in den Randbezirken der Wälder, wo seine Art sich als Aasfresser und ›Eierdieb‹ entwickelt hatte. Das Wesen glich einem großen gerupften Vogel.

Aber der Kopf mutete beinahe menschlich an mit der hohen Stirn, die über einem spitzen, fast krokodilartigen Gesicht aufragte. Dadurch wirkte der gesamte Kopf unproportioniert. Um die Hüfte trug das Geschöpf einen Gürtel in Form einer zusammengerollten Peitsche. In den langfingrigen Händen hielt es ein Werkzeug, eine Art Speer.

Und es hatte auch einen Namen. Die annähernde Übersetzung hätte ›Lauscher‹ gelautet, denn trotz seiner Jugend hatte es bereits bewiesen, dass es über ein außergewöhnliches Gehör verfügte.

Lauscher war ein Dinosaurier: ein Dinosaurier mit einem großen Gehirn und einem Namen.

Trotz der zerstörerischen Kraft waren die Herden der Entenschnäbel und gepanzerten Dinosaurier aus Purgas Tagen nur ein schwacher Abklatsch der Vergangenheit. Im Zeitalter des Jura hatten die größten Landtiere die Welt durchstreift, die jemals gelebt hatten. Und ihnen hatten Jäger mit Speeren nachgestellt, deren Spitzen vergiftet waren.

Lauscher und ihr Gefährte huschten lautlos durch die grünen Schatten des Waldes. Die Bewegungen koordinierten sie in stummer Zwiesprache, sodass sie wie zwei Hälften ein- und desselben Wesens wirkten. Denn seit Generationen, die bis in den Dämmerzustand der Verstandeslosigkeit ihrer Vorfahren zurückreichten, hatte diese Fleischfresser-Spezies in Paaren gejagt, und genauso hielten sie es auch jetzt.

Der Wald dieses Erdzeitalters wurde von Araukarien und Ginkgos dominiert. Im offenen Gelände wuchsen Farne, Schösslinge und wie Ananasbäume aussehende zikadenartige Bäume. Aber es gab keine blühenden Pflanzen. Dies war eine ziemlich triste, unfertig anmutende Welt, eine Welt in Grau-Grün und Braun, eine Welt ohne Farben, durch die die Jäger streiften.

Lauscher hörte die heranziehend Diplo-Herde zuerst. Sie spürte es als leichtes Vibrieren in den Knochen. Sie warf sich auf den Boden, schob Farne und Koniferennadeln beiseite und legte den Kopf auf den festen Boden.

Das Geräusch war ein tiefes Grollen wie von einem weit entfernten Erdbeben. Das waren die tiefsten Stimmlagen der Diplos, die Lauscher als Bauch-Stimmen bezeichnete: ein Grummeln im Infraschallbereich, das der Verständigung diente und kilometerweit trug. Die Diplo-Herde musste das Wäldchen verlassen haben, in dem es die kühle Nacht verbracht hatte: die langen Stunden des Waffenstillstands, wo Jäger und Gejagte gleichermaßen in traumloser Starre verharrten. Nur wenn die Diplos auf Wanderung waren, hatte man eine Chance, die Herde zu attackieren und vielleicht ein wehrloses Junges oder ein krankes Tier zu isolieren.

Lauschers Gefährte wurde Stego genannt, weil er genauso stur und schwer vom einmal eingeschlagenen Weg abzubringen war wie der mächtige, aber dumme Stegosaurus. Sie bewegen sich?, fragte er.

Ja, erwiderte sie. Sie bewegen sich.

Wenn Fleischfresser jagten, verhielten sie sich still. Deshalb benutzten sie eine Sprache aus Schnalzlauten, Handzeichen und einer geduckten Körperhaltung – aber keine Mimik, denn die Gesichter dieser Ornithen waren genauso starr wie die der Dinosaurier.

Je näher sie der Herde kamen, desto lauter wurden die Bauch-Stimmen der großen Tiere. Der Boden erbebte, die Farnblätter schüttelten sich und Staub wurde aufgewirbelt, als ob der Vorbeimarsch der Herde schon vorweggenommen würde. Und bald hörten die Ornithen auch die Schritte der mächtigen Tiere. Es war ein gewaltiges Stampfen, das sich anhörte, als ob Felsbrocken einen Abhang hinunterrollten.

Die Ornithen erreichten den Waldrand. Und sahen vor sich die Herde.

Wenn Diplodocus marschierte, war es, als ob die Landschaft sich verschöbe, als ob die Hügel ein Eigenleben entwickelt hätten und übers Land glitten. Ein menschlicher Beobachter hätte vielleicht Schwierigkeiten gehabt, zu begreifen, was er sah. Der Maßstab stimmte nicht: Sicher handelte es sich bei diesen großen gleitenden Massen um geologische Phänomene und nicht etwa um Tiere.

Das größte Exemplar dieser vierzigköpfigen Herde war eine riesige Kuh, eine Diplo-Matriarchin, die seit über hundert Jahren im Mittelpunkt dieser Herde stand. Sie war volle dreißig Meter lang, hatte eine Widerristhöhe von fünf Metern und wog zwanzig Tonnen. Selbst die Jungtiere der Herde waren mit zehn Jahren schon größer als ein Elefant. Auf dem Marsch hielt die Matriarchin den mächtigen Hals und Schwanz fast horizontal, sodass sie auf einer Länge von ein paar Dutzend Metern eine Parallele zum Erdboden bildete. Das Gewicht des schweren Bauchs wurde durch die breiten Hüften und elefantenartigen Säulenbeine gestützt. Faserstränge dick wie Schiffstaue zogen sich vom Hals den Rücken entlang bis zum Schwanz. Sie wurden in Kanälen geführt, die neben dem Rückgrat verliefen. Hals und Schwanz spannten durch ihr Gewicht die Fasern im Nacken, die wiederum das Gewicht des Rumpfs ausglichen. Sie war wie eine biologische Hängebrücke konstruiert.

Die Matriarchin hatte einen absurd kleinen Kopf, als ob er zu einem anderen Tier gehörte. Trotzdem war das der Stutzen, mit dem sie die Nahrung einnahm. Sie war ständig am Fressen. Mit den mächtigen Kiefern vermochte sie große Stücke aus Baumstämmen herauszureißen, und ein robuster Verdauungstrakt besorgte die Verarbeitung des qualitativ minderwertigen Futters. Sie weidete sogar im Schlaf. In einer Welt mit einer so üppigen Vegetation wie im späten Jura gab es Nahrung im Überfluss.

Ein so großes Tier vermochte sich nur mit chtonischer Langsamkeit zu bewegen. Aber die Matriarchin hatte ohnehin nichts zu befürchten. Sie wurde durch ihre enorme Größe geschützt, durch ein Verhau aus Knochenstacheln auf dem Rücken und massive Panzerplatten unter der Haut. Sie musste auch nicht intelligent, flink und reaktionsschnell sein; das Gehirn diente vor allem als Steuergerät für die Biomechanik des gewaltigen Leibs und regelte Koordination und Motorik. Trotz der Masse mutete die Matriarchin irgendwie elegant an. Sie war eine zwanzig Tonnen schwere Ballerina.

Die Herde bewegte sich schnaubend und kollernd fort. Die Pflanzenfresser trompeteten gereizt, wenn die mächtigen Körper sich gelegentlich berührten. Unterlegt wurden diese Laute von den mechanischen Mahlgeräuschen der Diplo-Mägen. Ein Mahlwerk aus Steinen rumorte in den mächtigen Verdauungs-Apparaten und unterstützte das Zerkleinern der Nahrung. Auf diese Art und Weise vermochte der Diplo-Magen verschiedene minderwertige Futtersorten effizient zu verwerten, die von dem kleinen Gebiss kaum gekaut wurden. Es hörte sich so an, als ob schwere Maschinen am Werk seien.

Eskortiert wurde diese Parade von den ›Roadies‹ der großen Pflanzenfresser. Insekten umschwirrten die Diplos und ihre riesigen Kothaufen. Durch die Schwärme stieß eine Vielfalt kleiner, Insekten fressender Pterosaurier. Ein paar Pterosaurier ritten sogar auf den breiten Rücken der Diplos. Die störte das aber nicht. Es gab sogar ein Paar plumper, flügelschlagender Protovögel, die den Diplos zwischen den Füßen herumliefen und gierig nach Larven, Fliegen und Käfern schnappten. Und dann waren da noch die Fleisch fressenden Dinosaurier, die ihrerseits die Jäger jagten. Lauscher erkannte eine Schar junger Coelusaurier, die zwischen den säulenartigen Beinen der Pflanzenfresser ihrer Beute nachstellten und in jedem Moment den Tod durch einen achtlos gesetzten Fuß oder den Peitschenhieb eines Schwanzes riskierten.

Es war eine riesige mobile Gemeinschaft, eine ganze Stadt, die endlos durch den Weltenwald wanderte. Und es war eine Gemeinschaft, von der Lauscher ein Teil war – in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte und der sie bis zu ihrem Tod folgen würde.

Die Diplo-Matriarchin gelangte zu einem Ginkgo-Hain. Die Bäume waren ziemlich hoch und trugen sattes grünes Laub. Sie reckte den sehnigen Hals und nahm das Grünzeug in Augenschein. Dann tauchte sie den Kopf ins Blattwerk und tat sich daran gütlich, wobei sie die Blätter mit den stumpfen Zähnen abriss. Die anderen Erwachsenen schlossen sich ihr an. Die Tiere knickten die Bäume einfach ab, bissen in die Stämme und rissen sogar die Wurzeln aus der Erde. Bald war das Wäldchen gerodet; der Ginkgo würde Jahrzehnte brauchen, um sich von diesem Besuch zu erholen. Solcherart prägten die Diplos die Landschaft. Sie hinterließen einen Pfad der Verwüstung und schlugen Schneisen aus grüner Savanne in eine von Wald dominierte Welt. Weil die Herde die Vegetation restlos zerstörte, musste sie immer weiter ziehen wie ein marodierendes Heer.

Und dabei waren sie noch nicht einmal die größten Pflanzenfresser – diese Ehre gebührte nämlich den riesigen Brachiosauriern, die bis zu siebzig Tonnen schwer waren und Bäume wie Streichhölzer knickten. Jedoch waren die Brachiosaurier Einzelgänger und schlossen sich höchstens zu kleinen Gruppen zusammen. Die aus bis zu hundert Tieren bestehenden Diplo-Herden hatten das Land geprägt wie keine andere Spezies vor oder nach ihnen.

Diese lose Herde war seit zehntausend Jahren zusammen und seitdem immer nach Osten gewandert. Die Mitglieder wechselten zwar, aber die Struktur blieb unverändert. Es gab allerdings auch genug Platz für solch gewaltige Wanderungen.

Die Erde des Jura bestand aus einem einzigen, riesigen Kontinent: Pangäa, was ›alles Land der Erde‹ bedeutete. Es war eine mächtige Landmasse. Südamerika und Afrika waren noch nicht getrennt und bildeten einen Teil der mächtigen Gesteinsplattform. Ein riesiger Fluss entwässerte das Herz des Superkontinents – Kongo und Amazonas waren ein einziger gewaltiger Strom, der von Osten nach Westen verlief und unbehindert durch die Anden, die sich erst viel später auffalteten, in den Ozean mündete.

Der Zusammenschluss der Kontinente hatte eine große Welle des Artensterbens ausgelöst. Das Verschwinden von Gebirgs- und Meeresbarrieren hatte eine Vermischung von Pflanzen und Tieren erzwungen. Nun erstreckte eine einheitliche Flora und Fauna sich über ganz Pangäa – von Küste zu Küste, von Pol zu Pol. Diese Einheitlichkeit hatte noch immer Bestand, obwohl gewaltige tektonische Kräfte schon an der Aufspaltung der riesigen Landmasse arbeiteten. Nur ein paar Arten hatten den Zusammenschluss überlebt: Insekten, Amphibien, Reptilien – und Proto-Säugetiere, reptilienartige Kreaturen, die schon Merkmale von Säugetieren aufwiesen. Sie waren plumpe, hässliche und unfertige Geschöpfe. Doch aus diesen paar Spezies würden schließlich die Säugetiere hervorgehen – einschließlich der Menschen – und die Linien der Vögel, Krokodile und Dinosaurier.

Wie als Reflex auf die unendliche Weite der Landschaft, in der sie lebten, waren die Diplos gewachsen. In diesen Zeiten mit einer gemischten Vegetation, deren Bestandteile noch dazu ständig wechselten, gereichte diese Größe ihnen sicher zum Vorteil. Mit dem langen Hals vermochte ein Diplo methodisch eine große Fläche abzuweiden, ohne dass es sich vom Fleck bewegen musste. Es fraß den gesamten Bodenbewuchs ab, einschließlich der unteren Äste der Bäume.

In den klugen Ornithen war den Diplos jedoch eine neue Gefahr erwachsen, eine Gefahr, auf die die Evolution sie nicht vorbereitet hatte. Jedoch hatte die Matriarchin in einem über hundertjährigen Leben eine gewisse Weisheit erlangt, und die vom Alter blutunterlaufenen Augen kündeten vom Verständnis der plötzlich auftauchenden Gefahren, die auf ihre Art lauerten.

Nun war für die geduldigen Ornithen die Gelegenheit gekommen.

Die Diplos weideten sich noch immer im verwüsteten Ginkgo-Hain. Sie hatten sich sternförmig formiert. Die Köpfe auf den langen Hälsen wanderten wie die Klauen mechanischer Kirschpflücker über die verstreuten Blätter. Die Jungtiere hatten sich in der Nähe versammelt, waren in diesem Moment aber von den Erwachsenen ausgeschlossen.

Ausgeschlossen, vergessen, schutzlos.

Stego guckte sich ein Diplo-Junges aus. Es war kleiner als die anderen, nicht größer als ein ausgewachsener Elefant – ein richtiger Kümmerling eben. Es hatte Mühe, sich gegen die anderen durchzusetzen. Auf der Suche nach einem Platz an der Futterstelle streifte es mit ruderndem Kopf am Rand der Herde entlang.

Es gab keine echte Loyalität unter den Diplos. Die Herde war ein reiner Zweckverband und kein fürsorglicher Familienverbund. Diplos legten ihre Eier am Waldrand ab und überließen sie dann sich selbst. Die überlebenden Jungen hielten sich in der Deckung des Waldes auf, bis sie groß genug waren, um sich ins offene Land hinauszuwagen und Herdenanschluss zu suchen.

Die Herdenbildung war strategisch sinnvoll: Die Diplos boten sich durch die schiere Präsenz gegenseitig Schutz. Zumal die Herden frisches Blut brauchten, um ihren Bestand zu sichern. Und selbst wenn ein Räuber sich ein Junges holte, war es auch nicht weiter schlimm. In den endlosen Wäldern Pangäas fand sich schnell ein neues, das seinen Platz einnahm. Es war, als ob die Herde solche Verluste als Tribut hinnähme, den sie für den langen Marsch durch die urzeitlichen Wälder entrichten musste.

Und heute sah es so aus, als ob das schwache Weibchen diesen Tribut zahlen würde.

Lauscher und Stego wickelten die Diploleder-Peitschen von den Hüften ab. Mit den Peitschen und wurfbereiten Speeren krochen sie durch das Gestrüpp aus Schösslingen und Farnen, das am Waldrand wucherte. Selbst wenn die Diplos sie sahen, würden sie vielleicht nicht reagieren; die evolutionäre Alarmprogrammierung der Diplos umfasste nämlich keine Alarmsignale für die Annäherung zwei so kleiner Räuber.

Es entspann sich ein stummes Gespräch in Form subtiler Gesten, Kopfnicken und Augenkontakts.

Der da, sagte Stego.

Ja. Schwach. Jung.

Ich werde auf die Herde zulaufen. Ich werde die Peitsche schwingen. Versuche sie nervös zu machen. Den Kümmerling von ihnen zu trennen.

Einverstanden. Ich starte den Angriff…

Es wäre eigentlich Routine gewesen. Als die Ornithen sich anschlichen, stoben jedoch Coelusaurier davon, und Pterosaurier erhoben sich mit schwerem Flügelschlag in die Luft.

Stego zischte. Lauscher drehte sich um.

Und schaute einem anderen Ornithen in die Augen.

Lauscher sah, dass die Fremden zu dritt waren. Sie waren etwas größer als Lauscher und Stego. Sie waren stattliche Tiere mit einem prächtigen Kamm aus dekorativen Schuppen, der sich über den Hinterkopf und Nacken zog. Lauscher spürte, wie ihre Stacheln sich aufstellten, als der Körper einem uralten Instinkt folgte.

Doch diese Ornithen waren nackt. Sie hatten keinen Gürtel aus geflochtener Rinde um die Hüften wie Lauscher; sie hatten weder Peitschen noch Speere, und ihre langen Hände waren leer. Sie gehörten nicht zu Lauschers Jagd-Nation, aber sie waren entfernte Verwandte: wilde Ornithen, die Art mit den kleinen Gehirnen, aus denen ihre Art hervorgegangen war.

Sie riss den Mund auf und trat zischend auf die Lichtung. Geht weg! Geht hier weg!

Die wilden Ornithen gingen aber nicht weg. Sie erwiderten Lauschers Blick, rissen selbst den Mund auf und wackelten mit dem Kopf.

Lauscher verspürte einen Anflug von Angst. Vor nicht allzu langer Zeit wären solche wie diese drei bei ihrer Annäherung geflohen; die Wilden hatten bereits die Wirkung der Waffen fürchten gelernt, die ihre intelligenteren Verwandten benutzten. Doch der Hunger war stärker als die Angst. Es war wahrscheinlich schon länger her, seit diese Primitiven ein Diplo-Nest gefunden hatten, das ihre Hauptnahrungsquelle war. Und nun hofften diese raffinierten Opportunisten wohl darauf, Lauscher und Stego die Beute abzujagen.

Im Welten-Wald herrschte mittlerweile ein richtiges Gedränge.

Lauscher, die mit dieser unwillkommenen Erinnerung aus der eigenen primitiven Vergangenheit konfrontiert wurde, wusste, dass sie keine Angst zeigen durfte. Sie ging unbeirrt auf die drei wilden Ornithen zu, wobei sie mit dem Kopf wackelte und gestikulierte. Wenn ihr glaubt, ihr könntet mich um die Beute prellen, dann seid ihr auf dem Holzweg. Verschwindet von hier, ihr Tiere! Aber die Primitiven reagierten nur mit Zischen und Spucken.

Die Unruhe machte die Diplodocus nervös. Das schwächliche Weibchen hatte sich inzwischen in den Schutz der Herde geflüchtet und sich dem Zugriff der Jäger entzogen. Nun ließ die große Matriarchin selbst den Blick schweifen. Der Kopf wurde auf dem Hals geschwenkt wie eine Kameraplattform auf einem Ausleger.

Auf diese Gelegenheit hatten die Allosaurier gewartet.

Die Allos verharrten wie Statuen im grünen Schatten des Waldes. Sie standen auf den massiven Hinterbeinen und ließen die schlanken Arme mit den dreifingrigen Klauen-Händen baumeln. Es war ein Rudel aus fünf Weibchen. Sie waren zwar noch nicht ganz ausgewachsen, maßen aber schon zehn Meter und wogen über zwei Tonnen. Allosaurier gaben sich nicht mit mickrigen Jungtieren ab. Sie hatten es auf ein fettes Diplo-Männchen abgesehen, das wie sie selbst noch nicht ganz ausgewachsen war. Und als die Herde durch den Streit der Ornithen in Aufruhr geriet, wurde dieses Männchen nun aus dem schützenden Verbund der Herde hinausgedrängt.

Die fünf Allos griffen blitzartig an, zu Lande und in der Luft. Mit den wie Sicheln wirbelnden Klauen der Hinterbeine schlugen sie dem Opfer tiefe Wunden. Sie benutzten die robusten Köpfe als Knüppel, mit denen sie auf den Diplo einschlugen, und Zähne wie Flammdolche bohrten sich ins Fleisch des Diplos. Im Gegensatz zum Tyrannosaurus hatten sie große Pfoten und lange, starke Arme, mit denen sie den Diplo festhielten, während sie ihn verstümmelten.

Allosaurier waren die schwersten landlebenden Fleischfresser aller Zeiten. Sie glichen zweibeinigen, Fleisch fressenden und schnellen Elefanten. Es war eine Szene eines großen und wilden Schlachtfests.

Doch nun setzte die Diplo-Herde sich zur Wehr. Die zornig bellenden Erwachsenen fegten mit den langen Hälsen über den Boden und hofften, die Räuber zu erwischen, die sich innerhalb dieses Radius befanden. Ein Diplo richtete sich sogar in einer überwältigenden Demonstration der Größe und Stärke auf den Hinterbeinen auf.

Und sie brachten ihre schrecklichste Waffe zum Einsatz. Die Diplo-Herde peitschte mit den Schwänzen, und die Luft wurde von einem ohrenbetäubenden Knallen erfüllt. Hundertvierzig Millionen Jahre vor den Menschen hatten die Diplos als erste die Schallmauer durchbrochen.

Die Allosaurier traten den Rückzug an. Dann wurde doch noch einer von einer überschallschnellen Schwanzspitze an der Brust getroffen. Die auf Geschwindigkeit ausgelegten Allosaurier hatten leichte Knochen; der Schwanz brach dem Allosaurus drei Rippen, was ihm für die nächsten Monate schwer zu schaffen machen sollte.

Dennoch war der schnell vorgetragene Angriff ein Erfolg gewesen.

Ein Bein des Diplo-Männchens war bereits eingeknickt; die gerissenen Bänder vermochten das anteilige Gewicht des Tiers nicht mehr zu tragen. Und der Blutverlust würde es bald noch mehr schwächen. Es hob den Kopf und trompetete kläglich. Das Sterben würde sich noch über Stunden hinziehen – wie so viele Fleischfresser spielten auch die Allosaurier mit ihrer Beute –, aber sein Leben war schon vorbei.

Allmählich ließen die Peitschenknalle nach, und die Herde beruhigte sich wieder.

Aber es war die große Matriarchin, die den letzten Schlag führte.

Als die Allosaurier angriffen, waren die in plötzlichem Schrecken vereinten Ornithen von der Lichtung geflohen. Nun kauerten Lauscher und Stego mürrisch nebeneinander im Gestrüpp. Die Waffen hatten sie noch in der Hand, obwohl man ihnen die Jagd vermasselt hatte. Trotzdem vermochten sie der Lage noch etwas Positives abzugewinnen. Wenn die Allos sich am Diplo satt gefressen hatten, waren für sie vielleicht auch noch ein paar Brocken übrig…

Dann kam dieser letzte Peitschenhieb. Der lange Schwanz des Diplos traf Stego am Rücken und riss ihn bis auf den Knochen auf. Er schrie auf und taumelte mit offenem Mund ins Freie. Die geschlitzten Pupillen seiner Augen zuckten, als er zu Lauscher aufschaute.

Und einer der nicht weit entfernten Allosaurier drehte sich interessiert um. Lauscher erstarrte vor Schreck.

Mit einem einzigen Satz erreichte der Allo Stego. Stego schrie und kratzte im Lehm. Neugierig, fast sanft stupste der Allo ihn mit der Schnauze an.

Und dann stieß der Allo mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Kopf vor und biss Stego den Hals durch. Er packte ihn an der Schulter und hob ihn hoch. Stegos Kopf hing noch an ein paar Hautfetzen, und der Körper zuckte noch. Der Allosaurier entfernte sich von der Herde und trug ihn zum Waldrand, wo er ihn verschlang. Das geschah recht schnell. Der Allo hatte Scharniere im Kiefer und Schädel, sodass er wie eine Python das Maul weit zu öffnen und das Gebiss so auszurichten vermochte, um die Beute optimal zu portionieren.

Lauscher starrte wie in Trance auf eine Allosaurier-Spur, die aus tiefen dreizehigen Abdrücken im zertrampelten Lehm bestand. Ein Jäger ohne Gefährte ist wie eine Herde ohne Matriarchin – ein Ornithen-Sprichwort, das ihr immer wieder durch den Kopf ging.

Die große Matriarchin drehte den Kopf und sah Lauscher an. Lauscher verstand. Das Gezänk der Ornithen hatte den Allos den Angriff überhaupt erst ermöglicht. Also hatte die Matriarchin Stego mit dem Peitschenhieb enttarnt und den Allos zum Fraß vorgeworfen. Es war ein Racheakt.

Die Matriarchin wandte sich mit einem zufrieden klingenden Träten ab.

In Lauschers Bewusstsein verhärtete sich etwas zu einem dunklen Kern.

Sie wusste, dass sie den Rest ihres Lebens bei dieser Herde verbringen würde. Und sie wusste auch, dass die Matriarchin ihr wichtigstes Element war: Sie bot den anderen durch ihre schiere Größe Schutz und führte sie mit einer über lange Jahre erworbenen Weisheit. Ohne sie wäre die Koordinierung der Herde viel schlechter und die Gefährdung viel größer. In gewisser Weise war diese Matriarchin das wichtigste Wesen in Lauschers Leben.

Doch in diesem Moment schwor sie ihr Rache.

Jede Nacht kehrten die Ornithen in den urzeitlichen Wald zurück, wo sie einst Säugetiere und Insekten gejagt und die Nester von Diplodocus geplündert hatten. Sie verteilten sich auf kleine Reviere und sicherten sie mit schwer bewaffneten Wachen. Doch an jenem Abend war die Trauer groß. Diese Ornithen-Nation umfasste nur ein paar hundert Individuen und vermochte den Verlust eines starken, intelligenten jungen Manns wie Stego nur schwer zu verkraften.

Auch als die Kühle der Nacht sie umfing, kam Lauscher nicht zur Ruhe.

Sie schaute zu einem Himmel empor, an dem Auroras, große dreidimensionale Skulpturen aus grünem und purpurnem Licht waberten. In diesem Zeitalter war das Erdmagnetfeld dreimal so stark wie im Zeitalter der Menschen, und der anbrandende Sonnenwind wurde in flammende Auroras verwandelt, die den Planeten manchmal von Pol zu Pol umhüllten. Die Lichter am Himmel bedeuteten Lauscher aber nichts; sie spendeten ihr keinen Trost und vermochten sie nicht einmal abzulenken.

Sie suchte Zuflucht in Erinnerungen an glücklichere, unbeschwerte Zeiten, als sie und Stego ihre fernen Vorfahren imitiert und Diplo-Eier gesucht hatten. Dabei galt es, im Wald eine Stelle zu finden, die nicht allzu weit vom Waldrand entfernt war und durch herumliegendes Laub und aufgeworfenen Dreck den Eindruck einer scheinbaren Unberührtheit erweckte. Wenn man ein gutes Gehör hatte und das Ohr auf den Boden legte, vermochte man mit etwas Glück das Kratzen der Diplo-Jungen in den Eiern zu hören. Lauscher hatte ›ihr‹ Nest immer vor den anderen geheim gehalten und gewartet, bis die Diplo-Jungen aus den Eiern schlüpften und den Kopf aus dem Schmutz streckten.

Einem erfindungsreichen Geist wie Lauscher fielen immer wieder neue Spiele ein.

Man konnte zum Beispiel raten, welches von den Jungen als nächstes schlüpfen würde. Und man konnte versuchen, ein frisch geschlüpftes Junges möglichst schnell zu töten, kaum dass es das Licht der Welt erblickt hatte. Man konnte die Jungen aber auch erst einmal schlüpfen lassen. Die schon einen Meter langen Jungtiere mit dem dünnen Schwanz und dem baumelnden Hals hatten nur das eine Ziel: tiefer in den Wald zu fliehen. Man konnte warten, bis ein Junges es fast bis zu einem Gestrüpp geschafft hatte – und es dann am Schwanz zurückziehen. Man konnte ihm nacheinander die Beine oder Stücke vom Schwanz abbeißen, den kleinen Happen zerquetschen, es zappeln lassen und schauen, wann er sein kurzes Leben aushauchte.

Alle intelligenten Fleischfresser hatten diesen Spieltrieb. Durch ihn lernten sie etwas über die Welt, über das Verhalten der Tiere und schärften zugleich die Reflexe. Für ihre Zeit waren Ornithen wirklich sehr intelligente Fleischfresser gewesen.

Und vor nicht mehr als zwanzigtausend Jahren hatte einer von ihnen sich ein neues Spiel ausgedacht. Er hatte einen Stock vom Boden aufgehoben und damit nach Eiern gestochert.

In der nächsten Generation waren aus den Stöcken Haken geworden, um die Embryos aus den Eiern herauszuziehen, und angespitzte Stäbe, um sie aufzuspießen.

Und in der übernächsten Generation wurden die neuen Waffen dann in einem größeren Spiel eingesetzt: bei halbwüchsigen, bis zu fünf oder sechs Jahre alten Diplos, die sich noch keiner Herde angeschlossen hatten, aber schon eine Fleischausbeute darstellten, die hunderten Embryonen entsprach. Inzwischen hatte man auch eine rudimentäre Sprache entwickelt, mit der die im Verbund agierenden Jäger sich verständigten.

Dann folgte eine Art Wettrüsten. In diesem Zeitalter der riesigen Beutetiere zahlten die besseren Werkzeuge, die differenziertere Kommunikation und die komplexen Strukturen der Ornithen sich schnell in Form einer größeren und besseren Fleischausbeute aus. Das Gehirn der Ornithen wurde schnell größer und versetzte sie in die Lage, noch bessere Werkzeuge zu fertigen, die Gesellschaft noch besser zu organisieren und die Sprache noch weiter auszudifferenzieren – wodurch zugleich der Bedarf an Fleisch stieg, um die großen, energieintensiven Gehirne zu versorgen, was wiederum bessere Werkzeuge erforderte. Es war ein Teufelskreis, der sich viel später in der langen Geschichte der Erde wiederholen sollte.

Die Ornithen waren den Herden ihrer Beutetiere gefolgt, die den Superkontinent auf den breiten Wanderwegen ihrer Vorfahren kreuz und quer durchzogen, und hatten sich dabei über ganz Pangäa ausgebreitet.

Doch nun änderten die Verhältnisse sich. Pangäa brach auseinander; sein Rückgrat wurde mürbe. Grabenbrüche, riesige, mit Asche und Lava gefüllte Tröge brachen auf. Ein großes, kreuzförmiges Meer entstand: Schließlich würde der Atlantik den amerikanischen Doppelkontinent von Afrika und Eurasien trennen, während das mächtige äquatoriale Tethys-Meer Europa und Sibirien von Afrika, Indien und Austral-Asien trennte. So wurde Pangäa gevierteilt.

Es war eine Zeit ebenso schneller wie dramatischer Klimaänderungen. Durch die Drift der kontinentalen Bruch-Platten entstanden neue Gebirge, die die Regenwolken zurückhielten. Die Wälder starben ab, und riesige Wüstengebiete entstanden. Die großen Sauropoden-Herden wurden über viele Generationen hinweg dezimiert, weil ihre Territorien immer kleiner wurden und die Vegetation sich nicht rechtzeitig von ihrem Kahlfraß zu erholen vermochte.

Dennoch hätten die Sauropoden vielleicht noch viel länger überlebt und sogar den Zenit der Dinosaurier-Evolution, die Kreidezeit erlebt, wären da nicht die Ornithen gewesen.

Ja, wären da nicht die Ornithen gewesen.

Obwohl Lauscher sich neue Gefährten suchte und stolze Würfe gesunder und wilder Junger aufzog, vergaß sie nie das Schicksal, das ihren ersten Gefährten, Stego, ereilt hatte. Lauscher wagte es aber nicht, die Matriarchin anzugreifen. Jeder wusste, dass die Herde nur dann eine Überlebenschance hatte, wenn das starke alte Weibchen möglichst lang lebte. Es hatte sich bisher auch keine neue Matriarchin gefunden, die ihren Platz einzunehmen vermocht hätte.

Trotzdem ließ Lauscher ihren Plan reifen.

Es dauerte ein Jahrzehnt. In diesem Zeitraum wurde der Bestand der Diplo-Herde um die Hälfte reduziert. Auch die über den Superkontinent verstreuten Allosaurier stürzten in eine tiefe Krise, weil ihre Beutetiere rar wurden.

Nach einer besonders entbehrungsreichen und trockenen Zeit stellte Lauscher fest, dass die Alte hinkte. Vielleicht litt sie nun auch in den Hüften an Arthritis, von der Hals und Schwanz schon länger befallen waren.

Die Zeit war gekommen.

Und dann roch und schmeckte Lauscher etwas im Ostwind, das sie schon seit langer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. Es war Salz. Und sie wurde sich bewusst, dass das Schicksal der Matriarchin nicht mehr wichtig war.

Schließlich gelang es ihr, die Jäger hinter sich zu vereinen.

Die große Diplo-Kuh war nun hundertzwanzig Jahre alt. Ihre Haut trug die Spuren unzähliger Räuber-Attacken, und viele der knochigen Stacheln auf dem Rücken waren abgebrochen. Aber sie wuchs noch immer und brachte es inzwischen auf erstaunliche zweiunddreißig Tonnen. Nachdem die Knochen aber für so lange Zeit ein solches Gewicht hatten stützen müssen, waren sie nun mürbe und hatten die Matriarchin zur Invalidin gemacht.

An dem Tag, als die Kräfte sie schließlich verließen, dauerte es nur ein paar Minuten, bis sie von der stetig dahintrottenden Herde getrennt wurde.

Die Ornithen warteten. Sie hatten schon seit Tagen gewartet. Sie reagierten sofort.

Drei Männer – alle Söhne von Lauscher – führten den Angriff. Sie umrundeten die Matriarchin und ließen die Peitschen aus gegerbtem Leder knallen, wobei sie den Überschallknall der Diplo-Schwänze imitierten.

Ein paar Tiere aus der Diplo-Herde schauten trübe zurück. Sie erkannten die Matriarchin und die winzigen Räuber. Nicht einmal in diesem Moment wollten die kleinen Diplo-Gehirne von der Millionen Jahre alten Programmierung abrücken, dass diese dürren Fleischfresser keine Bedrohung darstellten. Die Diplos wandten sich ab und widmeten sich wieder dem großen Fressen.

Die Matriarchin sah die kleinen Gestalten, die vor ihr herumhampelten. Sie grollte gereizt, und die Steine im Magen rumpelten. Sie versuchte den Kopf zu heben und den Schwanz zum Tragen zu bringen, doch zu viele Gelenke waren schon in schmerzhafter Bewegungsunfähigkeit erstarrt.

Nun griff die zweite Welle der Jäger an. Sie war mit Speeren mit vergifteten Spitzen bewaffnet und setzten die klauenbewehrten Hände und Füße ein. Sie attackierten die Matriarchin auf die gleiche Art, wie die Allosaurier es auch getan hatten -Angriff und Rückzug.

Jedoch hatte die Matriarchin nicht umsonst über hundert Jahre überlebt. Sie ignorierte den heißen Schmerz, der von den Nadelstichen in der Flanke ausstrahlte und richtete sich mit letzter Kraft auf den Hinterbeinen auf. Wie ein einstürzendes Gebäude dräute sie über der Horde der Fleischfresser und schlug sie in die Flucht. Sie schlug so hart auf dem Boden auf, dass sie ein kleines Erdbeben verursachte und beim Aufprall der Vorderfüße Schmerzwellen durch jedes größere Gelenk im Körper liefen.

Wenn sie nun geflohen wäre, wenn sie der Herde gefolgt wäre, hätte sie möglicherweise überlebt und vielleicht sogar die Verwundungen durch die Speere auskuriert. Aber nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung war sie erschöpft. Und es war ihr auch nicht vergönnt, sich zu erholen. Wieder griffen die Jäger an und attackierten sie mit Speeren, Klauen und Zähnen.

Und dann kam Lauscher.

Lauscher hatte sich ausgezogen und sogar die Peitsche von der Hüfte abgewickelt. Sie stürzte sich auf die zitternde Flanke des Diplos, die wie ein Berg vor ihr aufragte. Die Haut war zäh und widersetzte sich sogar ihren scharfen Klauen. Sie war kreuz und quer von Furchen durchzogen, den Narben alter Wunden, in denen rote und grüne Parasiten blühten. Der Gestank nach verwestem Fleisch war kaum auszuhalten. Aber sie machte weiter, stieß die Klauen in den Körper und erklomm ihn, bis sie die Stacheln erreicht hatte, die aus dem Rücken der Matriarchin ragten. Dann biss Lauscher dem Diplo in den Rücken und zerrte an den Hornplatten unter der Haut.

Vielleicht erinnerte der Diplo sich in einem dunklen Winkel des Bewusstseins an den Tag, als er das Leben dieses kleinen Ornithen zerstört hatte. Nun spürte sie die neuen Schmerzen am Rücken und versuchte den Kopf zu drehen – wenn sie den Störenfried schon nicht zu beseitigen vermochte, wollte sie ihn wenigstens sehen. Aber es gelang ihr nicht.

Lauscher brach ihre fieberhafte und grausame Wühlarbeit erst ab, als sie zum Rückenmark vorgedrungen war. Sie durchtrennte es mit einem schnellen Biss.

Für eine lange Zeit erhielt der Fleischberg die Nation der Jäger am Leben, und die Jungen nutzten den höhlenartigen Brustkorb der Matriarchin als Spielplatz.

Dennoch wurde Lauscher kritisiert, und zwar durch zorniges Kopfwackeln, Tänze und Gesten. Das war ein Fehler. Sie war die Matriarchin. Wir hätten sie verschonen sollen, bis eine neue erschienen wäre. Sieh, wie die Herde sich zerstreut. Sie verliert die Disziplin und wird immer kleiner. Nun haben wir zu essen. Doch bald werden wir vielleicht verhungern. Du warst blind vor Zorn. Wir waren Narren, dass wir dir gefolgt sind. Und so weiter.

Lauscher focht das aber nicht an. Sie wusste natürlich, welcher Schaden der Herde durch den Verlust der ohnehin schon sehr geschwächten Matriarchin entstanden war und dass ihre Überlebenschancen sich stark verschlechtert hatten. Jedoch spielte das sowieso keine Rolle mehr. Weil sie nämlich das Salz gerochen hatte.

Als die Matriarchin verspeist war, zog die jagende Nation weiter. Sie wanderte auf dem Savannen-Pfad nach Osten, wie sie es immer schon getan hatte und folgte der von der Herde geschlagenen Schneise aus zertrampeltem Boden und geknickten Bäumen.

Bis der Kontinent plötzlich aufhörte. Hinter einem letzten Waldgürtel – unter einem flachen Sandstein-Kliff – lag ein schimmerndes Meer. Die riesigen Diplos gingen an diesem unbekannten Ort, der eigenartig nach Ozon und Salz stank, verwirrt im Kreis.

Die Herde hatte die Ostküste der späteren iberischen Halbinsel erreicht und schaute aufs weite Tethys-Meer hinaus, das sich westwärts zwischen die sich trennenden Kontinentalblöcke geschoben hatte. Bald würden die Wasser von Tethys den Durchbruch zur Westküste geschafft und einen Superkontinent geflutet haben.

Lauscher stand am Rand der Klippe und sog den Geruch von Ozon und Salz ein, der ihr vor so langer Zeit erstmals in die Nase gestiegen war. Die an den Wald angepassten Augen wurden vom Sonnenlicht geblendet. Die Matriarchin war tot – aber das spielte auch keine Rolle mehr. Die Diplodocus-Herde hatte den Superkontinent durchquert und stand nun vor dem Nichts.

Die Ornithen hätten vielleicht überdauert, wenn sie eine flexiblere Kultur gehabt hätten. Wenn sie gelernt hätten, die großen Sauropoden zu domestizieren – oder wenn sie sie in dieser Zeit des Umbruchs einfach etwas geschont hätten –, dann hätten sie vielleicht überlebt. Aber die ursprüngliche Prägung als Fleisch fressende Jäger war einfach zu stark. Sogar ihr rudimentärer Mythos wurde von der Jagd dominiert und enthielt Legenden von einer Art Ornitholesten-Walhalla. Sie waren Jäger mit der Befähigung zur Werkzeug-Fertigung; und das würden sie auch bleiben, bis es nichts mehr zum Jagen gab.

Aufstieg und Niedergang der Ornithen waren in einer Periode von ein paar Jahrtausenden komprimiert – eine sehr kurze Zeitspanne im Vergleich zu den achtzig Millionen Jahren, die das Reich der Dinosaurier noch Bestand hatte. Sie fertigten Werkzeuge nur aus vergänglichen Materialien wie Holz, Pflanzenfasern und Leder. Sie kannten weder die Metallgewinnung noch lernten sie die Bearbeitung von Stein. Sie kannten nicht einmal das Feuer, mit dem sie vielleicht auf sich aufmerksam gemacht hätten. Die Episode ihrer Existenz war einfach zu kurz gewesen; in der dünnen Schicht wurden ihre großen Köpfe nicht erhalten. Nach ihrem Verschwinden hinterließen die Ornithen keine Spuren, die menschlichen Archäologen Rätsel aufgegeben hätten – keine außer dem plötzlichen Sterben der großen Sauropoden. Lauscher und ihre Kultur würden wie der große Luftwal und unzählige andere Fabelwesen für immer verschwinden.

Mit einem jähen Gefühl des Verlustes schleuderte Lauscher den Speer ins Meer. Er tauchte in den glitzernden Fluten unter.

KAPITEL 3 Der Teufelsschweif Nordamerika, vor ca. 65 Millionen Jahren

I

Einst hatten interplanetare Einschläge eine konstruktive, segensreiche Wirkung gehabt.

Die Erde war in der Nähe der heißen Sonne entstanden. Wasser und andere flüchtige Stoffe waren schnell verdampft und hatten die junge Welt zu einer kahlen Gesteinskugel reduziert. Die vom äußeren System einfliegenden Kometen luden jedoch Substanzen ab, die in dieser kalten Region sich herauskristallisiert hatten: insbesondere Wasser, aus dem die Weltmeere entstanden, und Kohlenstoffverbindungen, deren Kettenmoleküle die Bausteine des Lebens waren. Die Erde entwickelte sich zu einer chemischen ›Hexenküche‹, wobei in den toten Meeren komplexe organische Moleküle synthetisiert wurden. Es war ein langes Vorspiel zum Leben, das ohne die Kometen niemals stattgefunden hätte. Im neuen Sonnensystem liefen die übrigen Planeten und Monde auf fast kreisförmigen Bahnen wie ein großes Uhrwerk. Die meisten anderen Objekte, die erratischen Pfaden folgten, waren ausgesondert worden.

Wie gesagt, die meisten.

Das Ding, das aus dem Dunkel kam und dessen Oberfläche aus schmutziger Schlacke in der Sonnenhitze blubberte, war wie eine Erinnerung an die traumatische Entstehung der Erde.

Oder wie ein Albtraum.

In menschlichen Zeiten war die Halbinsel Yucatan eine Landzunge, die im Norden Mexikos in den Golf ragte. An der Nordküste der Halbinsel gab es ein kleines Fischerdorf namens Chicxulub (Tschik-schu-lub ausgesprochen). Es war ein öder Ort, eine Kalksteinebene, die mit Abflüssen und Quellen durchsetzt und mit Agavenplantagen und Büschen bewachsen war.

Vor fünfundsechzig Millionen Jahren – im feucht-warmen Dinosaurier-Zeitalter – hatte sich hier ein Meer ausgebreitet. Die Küstenebenen des Golfs von Mexiko waren bis zum Vorgebirge der Sierra Madre Orientale überflutet gewesen. Die flache Halbinsel Yucatan hatte fast hundert Meter unter Wasser gestanden. Die Sedimente, die später Kuba und Haiti bilden würden, waren Teil des Tiefseebodens und sollten erst noch durch Auffaltungen an die Oberfläche gehoben werden.

In einem Zeitalter, das von warmen Meeren beherrscht wurde, war das überflutete Chicxulub ein beliebiger Punkt auf der Landkarte. Doch genau an dieser Stelle sollte eine Welt untergehen.

Chicxulub ist ein Wort aus der Maya-Sprache, ein uraltes Wort, das von einem untergegangenen Volk geprägt wurde. Nach dem Verschwinden der Mayas vermochte niemand seine Bedeutung wiederzugeben. Örtlichen Legenden zufolge bedeutete es ›der Teufelsschweif‹.

In der Endphase flog der Komet aus südwestlicher Richtung an und überflog den Atlantik und Südamerika.

II

Im klaren, flachen Wasser kreuzten die Ammoniten. Dieser Meeresboden-Jäger sah aus wie eine Schnecke mit einem gekammerten Spiralgehäuse von der Größe eines Traktorreifens, aus dem Fangarme und ein Kopf hervorlugten. Der heranwachsende Ammonit hatte immer mehr Kammern ›angebaut‹, die dem Auftrieb und der Steuerung dienten.

Der Ammonit bewegte sich mit erstaunlicher Eleganz und schraubte sich mit der aufrechten Spirale durchs Wasser. Und er nahm seine Umwelt mit großen intelligenten Augen wahr.

Das von der Sonne beschienene Meer war voller Leben und mit Plankton gesättigt. Zahlreiche der hiesigen Lebewesen -Austern, Muscheln und viele Fischarten – wären den Menschen bekannt vorgekommen. Andere hingegen nicht: Es gab viele alte Tintenfisch-Spezies und besagte Ammoniten. Und nicht zuletzt riesige Wasserreptilien, Mosasaurier und Plesiosaurier – die Delphine und Wale jenes Erdzeitalters –, die als verschwommene Schemen in den blauen Tiefen des Meers kreuzten.

Als es hell wurde, stiegen immer mehr Ammoniten auf und hingen wie Glocken im klaren Wasser.

Dann machte der Ammonit eine Bewegung im Meeresboden aus. Er stieß schnell hinab und fuhr tastende Tentakel aus dem Gehäuse. Anhand der visuellen und haptischen Eindrücke ermittelte er, dass es sich bei dem Ding, das unter dem grobkörnigen Sand umherhuschte, um eine Krabbe handelte. Weitere Arme schoben sich aus dem Gehäuse und umschlangen das Krustentier, wobei winzige Haken an den Armen für einen festen Griff sorgten. Die Krabbe wurde mühelos aus dem weichen Meeresboden gezogen. Der Ammonit fuhr einen massiven vogelartigen Schnabel aus und biss der Krabbe zwischen den Augen in die Schale. Dann injizierte er Verdauungssäfte in die Schale und saugte die sich rasch bildende Suppe aus.

Die Fleischpartikel, die sich im Wasser verteilten, lockten weitere Ammoniten an.

Doch dann sah der Ammonit mit der Krabbe einen Schatten über sich – einen Schatten mit einer Schnauze und Flossen, der schnell Gestalt annahm. Es handelte sich um einen Elasmosaurier, ein Meeresreptil mit einem schlauchartigen Hals, das ein Verwandter des Plesiosaurus war. Der Ammonit ließ die Beute fahren und verzog sich ins Gehäuse. Die Öffnung im Gehäuse wurde mit einem massiven Pfropf aus schnell aushärtendem Gewebe verschlossen.

Der Elasmosaurus stürzte sich auf den Ammoniten, drehte das Gehäuse um und spannte es an der ›Nabe‹ der Spirale zwischen den starken Kiefern ein. Aber er vermochte sie nicht zu knacken. Nachdem der Elasmosaurus sich ein paar Zähne am Gehäuse ausgebissen hatte, ließ er es fallen. Es sank wieder auf den Meeresboden. Frustration und Schmerz tobten in seinem eindimensionalen Bewusstsein.

Der Ammonit war zwar heftig durchgeschüttelt worden, doch sonst war ihm in seinem gepanzerten Haus nichts passiert.

Ein junger Ammonit war aber etwas unvorsichtig gewesen. Mit ungerichteten Stößen seines Staustrahlmechanismus suchte er sein Heil in der Flucht.

Nun wurde der Elasmosaurier für die misslungene Jagd entschädigt. Geschickt ritzte er das Spiralgehäuse mit den Zähnen an der Stelle auf, wo der Körper an der Innenwand aufgehängt war. Dann schüttelte er das Gehäuse kräftig, bis der lebendige Ammonit ins Wasser purzelte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nackt. Die Fischechse schluckte ihn am Stück hinunter.

Nun machte der Elasmosaurier eine Wolke im Wasser aus und stieß ohne zu zögern hinein.

Die Wolke war eine Schule aus Belemniten und zählte ein paar tausend Tiere. Die kleinen Kalmare hatten sich zum Schutz zusammengerottet, und die Verteidigungssysteme in Form von Wächtern, Tinte und ›Tarnen und Täuschen‹ erfüllten normalerweise auch bei so schnellen Räubern wie diesem Elasmosaurier ihren Zweck. Sie waren jedoch vom ungestümen Angriff dieser Kreatur überrascht worden. Sie stoben davon, nebelten den großen Feind mit Tinte ein und sprangen sogar aus dem Wasser in die kometenhelle Luft. Trotzdem starben hunderte von ihnen: jeder mit einem winzigen Bewusstsein, jeder auf seine Art unverwechselbar und einzigartig.

Inzwischen hatte der Ammonit, der die Krabbe erlegt hatte, die Schale wieder vorsichtig geöffnet. Eine Muskelröhre schob sich aus der Öffnung, und dann schoss ein Wasserstrahl heraus, auf dem der Ammonit in die Höhe ritt. Er hatte die Krabbe verloren. Aber egal. Er würde eine neue Beute finden.

Das war der Lauf der Dinge. Es war eine Zeit brutaler Raubzüge, zu Wasser und zu Land. Mollusken jagten Ammoniten, durchbohrten Schalen, vergifteten Beutetiere und schossen tödliche Pfeile ab. Im Gegenzug hatten die Muscheln gelernt, sich tief in den Meeresboden einzugraben und Stacheln und massive Gehäuse ausgebildet, um Angreifer abzuschrecken. Napfschnecken und Rankenfüßler hatten sich aus der Tiefsee zurückgezogen und kolonisierten die seichten Küstengewässer, wo nur die hartnäckigsten Jäger sie zu erreichen vermochten.

In den Meeren wimmelte es von räuberischen Reptilien. Fleisch fressende Schildkröten und langhalsige Plesiosaurier ernährten sich von Fischen und Ammoniten. Dann gab es noch die Pterosaurier, fliegende Reptilien, die gelernt hatten, nach den Reichtümern des Meeres zu tauchen. Und diese Räuber wurden wiederum von großen Pliosauriern mit ihren mächtigen Kiefern ins Visier genommen. Sie erreichten eine Länge von fünfundzwanzig Metern, wobei allein das Maul schon drei Meter lang war. Die Pliosaurier, deren einzige Strategie darin bestand, ihre Beute durchzuschütteln und zu zerreißen, waren die größten Fleischfresser in der Geschichte des Planeten.

Die Meere der Kreidezeit waren ein unerschöpfliches Reservoir des Lebens, ein dreidimensionales Ballett von Jägern und Gejagten, von Leben und Tod. So war es für viele Jahrmillionen gegangen. Doch nun erschien ein immer helleres Licht über der glitzernden Oberfläche des Meeres, als ob die Sonne vom Himmel fiele.

Das Auge des Ammoniten drehte sich nach oben. Das Tier war intelligent genug, um so etwas wie Neugier zu verspüren. Das war neu. Was das wohl war? Aber die Vorsicht überwog: Neues war in der Regel gefährlich. Der Ammonit zog sich wieder ins Gehäuse zurück.

Doch diesmal vermochte nicht einmal die mobile Festung ihn zu schützen.

Der Komet durchstieß in Sekundenbruchteilen die Atmosphäre der Erde. Er verdrängte die Luft um sich herum, blies sie ins All und hinterließ einen Tunnel aus Vakuum auf dem Weg, den er genommen hatte.

Der Ammonit war direkt im Zielpunkt des Kometen. Es war, als ob der Himmel mit einem großen glühenden Deckel abgedeckt würde. Die Masse des Ammoniten verdampfte, und er verging. Genauso wie die Belemniten. Wie der Elasmosaurier. Wie die Austern und Muscheln. Wie das Plankton.

Die Ammoniten hatten seit über dreihundert Millionen Jahren die Weltmeere bewohnt und Tausende Arten ausgeprägt. Innerhalb eines Jahres würde jedoch keine einzige mehr existieren. Und schon in diesen ersten Sekundenbruchteilen fanden lange genetische Biographien ein jähes Ende.

Das paar Dutzend Meter tiefe Meer setzte dem Kometen keinen größeren Widerstand entgegen als die Luft. Das gesamte Wasser verdampfte in einer hundertstel Sekunde.

Dann traf der Kometenkern auf den Meeresboden. Er war ein fliegender Berg aus Eis und Staub mit einer Masse von einer Billion Tonnen. Innerhalb von zwei Sekunden zerbarst er auf dem Gestein des Meeresbodens und setzte in diesen Sekunden mehr Wärmeenergie frei, als in den letzten tausend Jahren durch sämtliche Vulkane und Erdbeben auf der Erde freigesetzt worden war.

Der Kometenkern wurde zertrümmert, und der Meeresboden wurde pulverisiert: Gestein wurde zu Staub zermahlen. Eine mächtige Druckwelle pflanzte sich durch den Meeresboden fort. Und ein schmaler Keil glühenden Gesteinsstaubs schoss in Gegenrichtung zur Kometenflugbahn durch den Tunnel, den der Komet in die Atmosphäre gebohrt hatte. Es sah aus wie der Strahl eines riesigen Suchscheinwerfers. Um diese glühende Mittelsäule wurde eine riesige Wolke aus pulverisiertem und zertrümmertem Gestein aus dem sich verbreiternden Krater geblasen. Die Masse dieser Wolke war ein paar hundertmal größer als die des Kometen selbst.

In den ersten paar Sekunden wurden Billionen Tonnen festen, geschmolzenen und verdampften Gesteins in den Himmel geschleudert.

In der Küstenebene des nordamerikanischen Binnenmeers versammelten die Entenschnabel-Herden sich um die stehenden, zu bloßen Tümpeln geschrumpften Gewässer. Mit traurigem Trompeten bildeten sie Gruppen und stupsten sich gegenseitig an. Räuber, von hühnergroßen Raptoren an aufwärts, beäugten mit kalter Berechnung Entenschnabel-Junge, die sich unvorsichtigerweise von den Herden abgesondert hatten. An einer Stelle hatte ein Rudel Ankylosaurier sich formiert. Die staubigen Panzer glänzten wie die Rüstungen römischer Legionäre.

Weit im Süden war ein orangefarbenes Glühen zu sehen – wie ein zweiter Sonnenaufgang. Dann schoss ein dünner gleißender Pfeil durch die Luft. Er war wie mit dem Lineal gezogen… sogar noch präziser als ein Laserstrahl, denn der Strahl aus glühendem Gestein wurde nicht gebrochen, als er durch das Loch in der hoch erhitzten Erdatmosphäre stieß. All das entfaltete sich lautlos.

Das krokodilgesichtige Suchomimus-Weibchen pirschte am Meeresufer entlang. Die langen Klauen waren ausgefahren. Der täglichen Routine folgend suchte es nach Fisch. Der ein paar Tage zurückliegende Tod ihres Gefährten wirkte als ein dumpfer Schmerz nach, der aber langsam nachließ. Das Leben ging weiter; von der diffusen Trauer wurde sie nicht satt.

Andernorts jagte eine verstreute Gruppe Stegoceras. Diese Pachycephalosaurier hatten in etwa die Größe eines Menschen. Die Männchen hatten große Knochenkappen auf dem Kopf, um die kleinen Hirne bei den wilden Paarungskämpfen zu schützen, wenn sie wie Steinböcke die Köpfe gegeneinander rammten. Auch in diesem Moment stießen zwei große Männchen sich mit den gepanzerten Köpfen, und das knochige Knallen der Kollisionen hallte über die Ebene. Diese Spezies hatte wegen dieser Kämpfe ein großes evolutionäres Potential verschenkt. Die Notwendigkeit, eine so schwere knöcherne Schutzkappe zu tragen, hatte die Entwicklung des Pachycephalosaurier-Gehirns für Jahrmillionen gebremst. Die in ihrer biochemischen Logik gefangenen Männchen registrierten die wandernden Lichter am Himmel und die doppelten Schatten, die über den Erdboden glitten, nicht einmal.

An diesem Strand war es ein ganz normaler Tag in der Kreidezeit. Keine besonderen Vorkommnisse.

Doch nun kam etwas von Süden.

Der Krater war nun eine glühende Schüssel aus feuriger brodelnder Einschlagsschmelze. In ihm hätte ganz Los Angeles von Santa Barbara bis Long Beach Platz gefunden. Die Tiefe entsprach der vierfachen Höhe des Mount Everest. Der Rand ragte so hoch über den Boden, wie Überschall-Flugzeuge sich über die Erdoberfläche aufschwangen. Es war dies ein neunzig Kilometer durchmessender und dreißig Kilometer tiefer Krater, der in Sekunden geschlagen worden war. Aber dieses riesige Gebilde war instabil. Es hatten sich bereits große bogenförmige Spalten geöffnet, und die steilen Wände kollabierten auf einer Breite von Dutzenden Kilometern in Erdrutschen.

Und der Meeresboden wölbte sich auf. Die tieferen Gesteinsschichten der Erde waren durch den Aufprall des Kometen in den Mantel hineingedrückt worden. Nun federte das Gestein zurück, wobei es zwanzig Kilometer angehoben wurde und durch den riesigen ›Schmelztiegel‹ an die Oberfläche brach. Das erweichte Urgestein breitete sich schnell in einem großen kreisförmigen Gebiet aus und wurde in Sekunden zu einer vierzig Kilometer breiten Bergkette aufgefaltet. Gleichzeitig strömte Wasser in das Loch, das in den Meeresboden geschlagen worden war. Und schon fiel Auswurfschutt als ein glühender Gesteinsschauer auf den sich verschiebenden Kraterboden zurück. Die Temperaturen stiegen auf ein paar tausend Grad an. Die Hitze war so groß, dass selbst die Luft sich entzündete. Stickstoff verband sich mit Sauerstoff zu Giften, die noch jahrelang wirken würden. Es war ein Hexenkessel aus Feuer, Dampf und Schlackeregen.

An der Einschlagstelle wurde hoch erhitzte Luft mit interplanetarischer Geschwindigkeit verdrängt. Eine große kreisförmige Sturmfront breitete sich von Yucatan über Südamerika und den Golf von Mexiko aus. Die Druckwelle war noch immer überschallschnell, als sie zehn Minuten später die Küste von Texas erreichte.

Im Süden des Strands hatte die dünne Lichtsäule sich aufgefächert. Sie wurde diffuser, und die Farbe wechselte zu einem dunkleren Orange-Weiß. Winzige orangefarbene Tupfer stiegen an der Basis auf. Und nun legte ein dunkles Band sich über den südlichen Horizont. Noch immer lief das alles lautlos ab. Was da nahte, war nämlich viel schneller als der Schall. Die Dinosaurierherden waren ahnungslos, und die jungen Pachycephalosaurier vollführten noch immer ihren Tanz um die Beute.

Die Vögel und Pterosaurier kannten den Himmel aber. Eine Gruppe Pterosaurier war im Tiefflug übers Meer geflogen, um mit den hydrodynamisch geformten Schnäbeln Fische zu fangen. Nun machten sie kehrt und flogen wieder landeinwärts, wobei sie mit kräftigem Flügelschlag beschleunigten. Eine Schar kleiner möwenartiger Vögel folgte ihnen. Sie schwangen sich auf grau-weißen Flügeln empor, die im glühenden Kometenlicht zu pulsieren schienen.

Von den tausenden Dinosauriern reagierte nur Suchomimus auf die Lichtshow. Er wandte den Kopf Richtung Süden, und die geschlitzten Pupillen verengten sich beim Anblick dessen, was er sah. Einem Instinkt folgend kam er aus dem Wasser und lief die Küste hinauf. Der warme weiche Sand unter den Füßen erschwerte das Fortkommen. Aber Suchomimus rannte weiter.

Die jungen Raptoren hatten mit dem Panzer einer gestrandeten Schildkröte gespielt und hoben interessiert den Kopf, als Suchomimus an ihnen vorbeikam. In einem Winkel seines Bewusstseins ertönten Alarmsignale. Er verstieß gegen viele vorprogrammierte Regeln und wurde dadurch verwundbar. Aber ein tieferer Instinkt sagte ihm, dass die Dunkelheit, die sich am Horizont ausbreitete, gefährlicher war als jeder Raptor.

Er erreichte eine niedrige Dünenkette. Ein Fellknäuel wand sich unter einem Fuß hervor und floh so schnell, dass es vor den Augen verschwamm.

Über der Küstenebene erlosch das Licht.

Schließlich wurden die Dinosaurier doch unruhig. Die grasenden Pflanzenfresser-Herden, die Entenschnäbel und Ankylosaurier hoben den Kopf und richteten den Blick gen Süden. Der Schweif des abstürzenden Kometen war nicht mehr zu sehen und hinter einer Wand aus Dunkelheit verborgen, die den Horizont überspannte. Aber es war eine wandernde Wand, die brodelte und kochte. Blitze zuckten über die sich bewegende Fläche und ließen sie in einem purpur-weißen Licht erscheinen.

Nicht einmal diese letzten Sekunden vermittelten den Eindruck einer nahenden Katastrophe. Es war nur wie ein unheimliches Zwielicht. Die Dinosaurier wurden zum Teil sogar schläfrig, als das Nervensystem auf die reduzierte Helligkeit reagierte.

Und dann erreichte sie von Süden her die Druckwelle. Die lastende Stille wurde jäh von einem infernalischen Knall zerrissen wie von einer Explosion. Die Welle brandete mit voller Wucht gegen die Tierherden an. Entenschnäbel wurden in die Luft geschleudert. Die mächtigen Erwachsenen krümmten sich, und ihr Trompeten ging im plötzlichen Inferno unter. Der Kampf zwischen den dickköpfigen Stegoceras wurde unentschieden abgebrochen und nie wieder fortgeführt. Ein paar Ankylosaurier hielten sich auf den Beinen, drehten sich in den Wind und kauerten sich auf den Boden wie rundliche Bunker. Aber der Boden wurde um sie herum umgepflügt, die Vegetation ausgerissen und verstreut, und sogar die Seen wurden leergefegt. Die flachen Dünen explodierten über Suchomimus und begruben ihn in körniger Dunkelheit.

Doch genauso schnell wie sie gekommen war, ebbte die Schockwelle auch wieder ab.

Als Suchomimus spürte, dass das Erdbeben nachließ, grub er sich aus. Er nieste, um die Nase vom Sand zu befreien, wischte mit den durchscheinenden Augenlidern die Augen frei und rappelte sich auf.

Dann machte er ein paar vorsichtige Schritte. Der neue Boden war mit Geröll übersät, trügerisch und erschwerte das Gehen.

Die Küstenebene war nicht mehr wieder zu erkennen. Die Düne, hinter der Suchomimus Deckung gesucht hatte, war niedergerissen. Die Jahrhunderte lange, geduldige Arbeit des Winds war in Sekunden zunichte gemacht worden. Die Ebene war mit Schutt übersät: mit zerbröseltem Gestein, Schlick vom Meeresboden und sogar mit Seetang und kleinen Meerestieren. Über ihm brodelten nordwärts ziehende Wolken.

Der Lärm dauerte an. Es ertönten laute Salven wie von Geschützfeuer, als die Schallmauer durchstoßen wurde. Aber Suchomimus hörte nichts von alledem. Beim Durchgang der ersten Schockwelle waren ihm schon die Trommelfelle geplatzt, und er hatte das Gehör verloren.

Überall lagen Dinosaurier herum.

Auch die größten Entenschnäbel waren zerschmettert worden. Sie lagen mit gebrochenen Knochen und grotesk verrenkt unter Sandverwehungen und Schlick. Eine Gruppe Raptoren lag in einem verworrenen Knäuel aus schlanken Leibern da. Alt und Jung lagen wirr durcheinander, Eltern neben ihren Kindern, Räuber mit der Beute, alle im Tod vereint. Von den meisten Naturkatastrophen wie Fluten und Bränden wurden die Schwächsten und Kranken, die Jungen und Alten am schlimmsten heimgesucht. Oder bestimmte Arten – zum Beispiel durch Epidemien, die über eine Landbrücke zwischen den Kontinenten eingeschleppt worden waren. Diesmal war jedoch niemand verschont worden – niemand außer ein paar Glücklichen wie Suchomimus.

Suchomimus sah einen silbernen Fisch, der in Sekunden über ein Dutzend Kilometer versetzt worden war. Er lebte noch und zappelte. Der Magen von Suchomimus knurrte leise. Selbst im Angesicht des Weltuntergangs hatte er Hunger.

Aber der Sturmwind hatte sein Werk noch nicht beendet. Über dem Meer strömte die Luft zurück, um das an der Einschlagstelle entstandene Vakuum auszufüllen. Es war wie ein gewaltiger Atemzug.

Der mit dem Fisch spielende Suchomimus sah die Wand aus Dunkelheit erneut herannahen. Diesmal kam sie jedoch aus dem Landesinnern und war mit Schutt gespickt, mit Erde, Gestein, entwurzelten Bäumen und sogar einem riesigen Tyrannosaurier, der in der Luft umhergewirbelt wurde.

Wieder vergrub Suchomimus sich im Sand.

Das Inferno des Kraters zog immer weitere Kreise, wie Wellen um einen ins Wasser geworfenen Stein. Weiter landeinwärts, wo Riese das Tyrannosauriernest geplündert hatte, hatte die Schockwellenfront eine so lange Schneise geschlagen, dass sie einmal um den Mond gereicht hätte.

Im Gefolge der sich ausbreitenden Wellenfront entstanden Tornados.

Für Riese war der Wirbelsturm eine Röhre aus Dunkelheit, die Himmel und Erde miteinander verband. Zu seinen Füßen wurden splitterartige Gebilde aufgewirbelt und senkten sich wieder herab. Die Vorfahren des Gigantosaurus hatten einen ganzen Kontinent erobert. Riese stellte sich mit wackelndem Kopf auf die Hinterbeine und peilte die nahende Bedrohung an.

Aber das war kein Rivale in Gestalt eines Artgenossen. Der Wirbelsturm kam bedrohlich näher.

Schließlich fokussierte irgendetwas im Bewusstsein von Riese sich auf die Zweige zu Füßen dieses klimatischen Ungeheuers. Diese ›Zweige‹ waren Bäume, Redwoods, Ginkgos und Baumfarne, die wie Tannennadeln verstreut worden waren.

Seine Brüder stellten die gleichen Überlegungen an. Dann wandten die drei sich zur Flucht.

Der Tornado schlug eine Schneise in den Wald, knickte Bäume um und wirbelte Felsbrocken umher. Tiere, die fünf Tonnen und mehr wogen, wurden durch die Luft geschleudert – riesige, träge Pflanzenfresser, die urplötzlich den Bodenkontakt verloren. Die meisten starben am Schock, noch ehe sie wieder auf dem Boden aufschlugen.

Purga schlief in ihrem Bau. Durch die bebende Erde wurde sie wachgerüttelt. Sie und ihr Gefährte nahmen die beiden Jungen in die Mitte und lauschten dem Heulen des Winds, dem Krachen der umstürzenden Bäume und den Todesschreien der Dinosaurier.

Purga schloss verwirrt und erschrocken die Augen und wünschte sich, dass der Lärm verstummte.

Und im Vorgebirge der Rocky Mountains spürte die Azhdarchiden-Mutter die Ankunft des gewaltigen Sturms. Hastig faltete sie die Schwingen zusammen und watschelte auf Knöcheln und Knien zum Nest zurück.

Die Jungen scharten sich um sie, aber sie hatte kein Futter für sie. Die Babys pickten sie zornig. Sie waren noch immer ohne Flügel; die Flügelmembranen mussten sich erst noch entwickeln. Im Moment hatten sie nur labbrige, nutzlose Hautlappen zwischen Flugfingern und Hinterbeinen. Und doch waren sie auf ihre Art schon Schönheiten: Die Schuppen, die sich wie eine Krause um den dünnen Hals zogen – ein Relikt der Reptilienherkunft –, reflektierten schimmernd und funkelnd das Sonnenlicht.

Die Sonne wurde von Wolken verdüstert. So hoch reichten die Tornados zwar nicht. Trotz der großen Entfernung von der Einschlagstelle war die Schockwelle aber noch immer eine massive brodelnde Wand aus aufgewühlter Luft.

Die erste Bö fegte übers Nest hinweg. Die Babys kreischten und taumelten.

Instinktiv spreizte das Muttertier die Schwingen und schwang sich in die Luft. Ein archaischer Imperativ hatte die Oberhand gewonnen. Sie vermochte neue Eier zu legen, wenn sie überlebte. Die unter ihr zurückfallenden Jungen kreischten zornig und ängstlich.

Als die Sturmfront sich näherte, trat ein Moment der Stille ein.

Die Fluggeschwindigkeit des Azhdarchiden fiel abrupt ab. Er drehte sich und spreizte in einer instinktiven Reaktion die Flügel. Er streckte den Flugfinger und das Hinterbein aus und regelte mit leichten Schenkel- und Kniebewegungen die Flügelspannung. Er war ein hervorragendes Fluggerät, ein Apparat aus Sehnen, Bändern, Muskeln, Haut und Pelz, der von Dutzenden Jahrmillionen der Evolution geformt worden war.

Doch das war dem vom Kometen verursachten Sturm egal.

Der Wind traf zuerst das Nest. Es wurde vom Felsvorsprung gefegt und zertrümmert. Die Knochen der Pterosaurier-Opfer – einschließlich der von Zweiter – wurden mit dem Rest der Abfälle durch die Luft gewirbelt. Und die Babys flogen: wenn auch nur kurz, wenn auch nur einmal, wenn auch nur in den Tod.

Und dann hatte die Azhdarchiden-Mutter das Gefühl, gegen eine Wand aus Staub und Dreck zu fliegen, die noch dazu mit Pflanzenresten, Holz und Steinen durchsetzt war. Sie spürte, wie die leichten Knochen brachen und wurde hilflos wie ein Blatt herumgewirbelt.

Wieder rappelte Suchomimus sich auf. Er hatte Schmerzen am ganzen Körper, wo er von umher fliegendem Schutt getroffen worden war – den Trümmern seiner Welt.

Erneut hatte der Strand sein Gesicht verändert. Der Boden war nun mit Schutt von der Landseite übersät, mit Resten zerschmetterter Bäume und zerfetzter Tiere, mit toten und sterbenden Pterosauriern und Vögeln und sogar mit Schlick vom Seeboden. Nichts regte sich – nichts außer sterbender Kreatur und Suchomimus.

Er erinnerte sich an den Fisch, den er hatte verspeisen wollen. Der Fisch war verschwunden.

Über ihm zogen dunkle Wolken wie ein fallender Vorhang am Himmel entlang. Die Sonne verschwand und sollte sich für lange Zeit auch nicht mehr zeigen.

Und im Süden glühte das Firmament in einem unheimlichen Orange. Eine Brise trug einen stechenden, unverkennbaren Geruch heran. Ozon. Der Geruch des Meeres. Suchomimus dachte an plätscherndes Wasser und die glitzernden Fische in den Untiefen. Er musste das Meer erreichen. Er hatte immer vom Meer gelebt; dort wäre er sicher. Mit einem traurigen Laut, den nicht einmal er selbst hörte, folgte er dem Geruch und achtete nicht auf den grausigen Schutt unter den Füßen.

Die Meeresschildkröte hatte Glück gehabt. Als der Komet einschlug, kreuzte sie weit von der Einschlagstelle entfernt über dem Meeresboden.

Ihre Art gehörte zu den primitivsten Reptilienstämmen. Trotzdem war diese Schildkröte ein guter Jäger. Sie war anspruchslos und brauchte nur ein Zwanzigstel der Nahrung wie ein Dinosaurier mit dem gleichen Gewicht. Durch den verstärkten Panzer war sie gut geschützt und ließ auch als Jäger Vorsicht walten. Deshalb bestanden die einzigen Lebensrisiken im alljährlichen Lauf an den Strand, den sie zur Eiablage durchführen musste, um dann wieder in die Sicherheit des Wassers einzutauchen.

Sie hatte ein kleines Hirn mit einem trüben Bewusstsein und lebte allein in einer Welt farbloser Eintönigkeit. Sie hatte keine Bindungen zu ihren Eltern und Geschwistern und wusste auch nicht, dass die Eier, die sie ablegte, eine neue Generation hervorbringen würden. Aber sie war alt, erfahren und geduldig.

Doch nun wurde ihre einsame blaue Welt gestört. Eine gewaltige Strömung zog das Meer nach Süden.

Die Schildkröte tauchte mit heftigen Paddelbewegungen ab. Die durch Tropenstürme von Jahrmillionen geschärften Instinkte sagten ihr, was sie tun musste: zum Meeresboden hinuntertauchen und Schutz suchen.

Doch war dies keine Strömung, wie sie sie bisher erlebt hatte. Sie sah, dass auch viel größere Tiere – sogar riesige Pliosaurier –, die im schlammigen und aufgewühlten Wasser trieben, in diesen starken Strudel gezogen wurden. Beim Tauchen stieß sie mit Schutt, hilflosen Ammoniten, Muscheln, Kalmaren und sogar mit Steinen vom Meeresboden zusammen.

Schließlich traf sie auf weichen Schlick. Mit allen vieren grub sie sich in den Boden und ignorierte dabei den Hagel der Objekte, die ihr auf den Panzer prasselten. Irgendwann würde sie wieder an die Oberfläche zurückkehren müssen, um sich der Luft und Wärme auszusetzen. Damit vermochte sie sich aber viel Zeit zu lassen; vielleicht sogar so lang, bis dieser ungeheure Sturm abgeflaut war.

Doch plötzlich senkte die schimmernde Meeresoberfläche sich zu ihr herab – das Meer versickerte –, und sie hockte in feuchtem blubberndem Schlick und wurde von der Sonne beschienen. So etwas wie ein Schock durchfuhr ihr trübes Bewusstsein. Die Welt war auf den Kopf gestellt worden. Das ergab keinen Sinn.

Und nun wurde der trockengefallene schlammige Meeresboden erschüttert.

Im wabernden fremdartigen Licht sah Suchomimus endlich das Meer. Mit einem heiseren Schrei der Erleichterung rannte er darauf zu.

Aber das Meer zog sich vor ihm zurück und hinterließ nur feucht glitzernden Schlick. Und so schnell er auch lief, das Meer wich noch schneller zurück.

Ein Fisch fiel ihm vor die Füße. Er blieb stehen, hob ihn vom Boden auf und steckte ihn sich in den Mund. Das winzige Bewusstsein des Fischs signalisierte eine Art Erleichterung; dies war ein schneller Tod verglichen mit dem qualvollen Ersticken, das ihm am neuen Strand gedroht hätte.

Der Meeresboden, der seit Jahrmillionen zum ersten Mal freigelegt wurde, war ein glitzernder Tummelplatz des Lebens. Er wimmelte von Muscheln, Krustentieren, Kalmaren, Fischen und Ammoniten in allen Größen, die nun an der Luft erstickten.

Weiter südlich waren riesige Gestalten zu erkennen. Suchomimus sah einen Plesiosaurier, der wie die anderen gestrandet war. Der acht Meter lange Koloss lag nach Luft schnappend im Schlick. Die vier großen Flossen waren abgespreizt. Der tonnenschwere Fleischfresser warf sich mit peitschenden Flossen herum und schnappte mit rasiermesserscharfen Zähnen zornig ins Leere – nach dem Schicksal, das ihn hier hatte stranden lassen.

An jedem anderen Tag wäre er ein bemerkenswerter Anblick gewesen. Suchomimus drehte sich verwirrt um.

Er schaute nach Norden zum Festland und sah Tiere aus den verwüsteten Wäldern aufs windgepeitschte Marschland kriechen. Viele waren Ankylosaurier und andere gepanzerte Geschöpfe. Sie waren bisher von der schweren Panzerung geschützt worden, die sie sich zugelegt hatten, um sich der Zähne und Klauen der Tyrannosaurier zu erwehren. Nun krochen sie dem freigelegten Meeresboden entgegen, um dort Schutz zu suchen, zu saufen und zu fressen.

Plötzlich öffneten die Ankylosaurier die Mäuler und zogen sich wieder zurück. Suchomimus schaute ihnen verblüfft nach. Sie bellten, aber das hörte er nicht.

Was zuvor mit der Luft geschehen war, widerfuhr nun auch dem Wasser.

Von der Einschlagstelle breitete sich eine kreisrunde Druckwelle im Meer aus, die durch einen gewaltigen Wärmepuls gespeist wurde. Ihre zerstörerische Kraft war aber begrenzt, weil der Einschlag nicht in der Tiefsee erfolgt war. Dennoch war die Welle ungefähr dreißig Meter hoch, als sie sich der Küstenlinie von Nordamerika näherte. Als sie die flachen Gewässer vor der texanischen Küste erreichte, türmte die Flutwelle sich sogar zum Zwanzigfachen der ursprünglichen Höhe auf.

Nichts im evolutionären Erbe von Suchomimus hatte ihn darauf vorbereitet. Das zurückkehrende Meer glich einem wandernden Gebirge, das sich aus dem Erdboden emporhob. Er vermochte es nicht zu hören, aber er spürte, wie der freigelegte Meeresboden erbebte und roch den Geruch von Salz und pulverisiertem Gestein. Er richtete sich auf und fletschte trotzig die Zähne im Angesicht der nahenden Springflut.

Das Wasser schlug über ihm zusammen. Er verspürte einen kurzen Druck, eine Schwärze und eine gewaltige Kraft, die ihn zusammendrückte. Er starb binnen einer Sekunde.

Die Flutwelle rollte landeinwärts und türmte sich vor den Ankylosauriern auf, bevor sie auch sie zermalmte – da halfen auch die Panzer nichts. Und sie bahnte sich ihren Weg durch den uralten, ausgetrockneten Meeresarm. Als das Wasser sich zurückzog, ließ es große Mengen Schutt zurück, den es aus dem Meeresboden gerissen hatte. Es war eine gewaltige Überschwemmung, die der in diesen Kreidezeit-Teich geworfene Stein verursacht hatte.

An Land, im heutigen Texas, überlebte nichts.

Und im Meer überstanden nur ein paar Lebewesen die Katastrophe.

Darunter auch die Meeresschildkröte. Sie hatte sich so tief in den Schlick eingegraben, dass die Flutwelle sie nicht mitriss. Als sie spürte, dass wieder eine gewisse Ruhe eingekehrt war, wühlte sie sich aus dem Schlick heraus und schwamm durchs Wasser an die Oberfläche, in dem Wolken aus Schutt und Resten toter Tiere und Pflanzen trieben.

Die urtümlichen Schildkröten hatten den Zenit der Entwicklung schon überschritten. Wo jedoch ästhetischere Tiere en masse ausgestorben waren, hatte die Schildkröte überlebt. In einer gefahrvollen Welt hielt man sich eben besser bedeckt.

Der Einschlag hatte einen Energiestoß durch den Erdball geschickt. In Nord- und Südamerika klafften über tausende von Kilometern Spalten auf und Erdrutsche gingen ab, als der Erdboden unter der Schockwelle erbebte. Die Wellen wurden bei der Fortpflanzung im Gestein zwar gedämpft, doch wirkten die Schichten des Erdinnern wie eine riesige Linse, die die seismische Energie im Antipoden des Einschlags, also im südwestlichen Pazifik wieder bündelte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten hob der Meeresboden sich zehnmal höher als beim Erdbeben von 1906, bei dem San Francisco zerstört wurde.

Die Druckwellen pflanzten sich durch den Planeten fort, schnitten, überlagerten und verstärkten sich. Noch Tage danach vibrierte die Erde wie eine Glocke.

Aus dem Weltraum betrachtet breitete eine glühende Wunde sich um die noch immer brennende, stecknadelkopfgroße Einschlagstelle auf der Erde aus. Es war eine riesige Wolke aus Gesteinsschmelze, die in den Weltraum aufstieg.

Im Vakuum kühlten die Tröpfchen ab und kondensierten zu festen Partikeln. Ein Teil dieses Materials war für den Planeten für immer verloren und schloss sich dem dünnen Materiestrom an, der zwischen den Planeten verlief: In ein paar tausend Jahren würden Fragmente des Meeresbodens von Yucatan als Meteore auf dem Mars, der Venus und dem Mond niedergehen. Und ein Teil des im All driftenden Materials würde durch eine Laune der Natur eine Umlaufbahn um die Erde einschlagen und einen dunklen, unspektakulären Ring um die Erde legen, der sich unter dem gravitationalen Tauziehen von Sonne und Mond jedoch bald wieder auflösen sollte.

Aber der größte Teil des Auswurfmaterials würde auf die Erde zurückstürzen.

Der große Hagel hatte bereits eingesetzt. Zuerst fiel der gröbere Schutt von der Peripherie des Kraters wieder herab. Die meisten Bruchstücke bestanden aus zertrümmertem Kalkstein vom Meeresboden. Diese Brocken waren durch den Hitzepuls des Einschlags nicht geschmolzen worden. Als sie nun in die warme Erdatmosphäre eintauchten, glühten sie hell auf. Lichtbahnen zogen sich in einer Länge von ein paar hundert Kilometern über den Himmel. Sie muteten wie skurrile geometrische Zeichnungen an. Die Bruchstücke waren zum Teil so groß, dass sie beim Erhitzen zerplatzten – worauf von diesen Explosionsherden leuchtende Sekundärspuren ausgingen.

Von allen Lebewesen im Umkreis von ein paar tausend Kilometern um die Einschlagstelle war der große Luftwal bislang am wenigsten betroffen.

Er hatte das Licht über der Halbinsel von Yucatan niedergehen sehen, hatte den emporschießenden Laserstrahl aus verdampftem Meeresboden und Kometensubstanz gesehen und hatte sogar die Kraterentstehung verfolgt: Das Gestein des freigelegten Meeresbodens hatte Wellen geschlagen, bis es in einer mächtigen chtonischen Aufwallung erstarrte. Hätte der Wal seine Beobachtungen zu beschreiben vermocht, die Nachwelt wäre in den Genuss eines fesselnden Augenzeugenberichts über die Katastrophe gekommen – über den stärksten Einschlag seit dem Ende der Bombardierungen, die vier Milliarden Jahre früher die Entstehung der Erde begleitet hatten.

Doch das focht den Wal nicht an. Er war nicht einmal durch den Wind beeinträchtigt worden; er war in großer Höhe geflogen und hatte sogar noch Nahrung aufzunehmen vermocht, während tief unter ihm bunte Luftschlieren über den Erdboden huschten. Ferne Lichter am Himmel und Chaos am Boden – wie etwa die cremig gequirlten Wetterfronten, die Land und Meer überquerten – bedeuteten einer Kreatur nichts, die an der Grenze zum Weltall entlang flog. Solang das feine Plankton, von dem sie sich ernährte, vom Land aufstieg, vermochte sie es in ihrer kleinen Nische gut auszuhalten.

Aber dieser Sturm war anders.

Der Luftwal war den Anblick von Meteoren gewohnt. Sie waren nur Lichtstreifen am purpurblauen Himmel. Fast alle der nach Milliarden zählenden kosmischen Trümmerstücke, die zur Erde hinab fielen, verglühten schon hoch über der Stratosphäre, dem Reich des Luftwals.

Doch nun stachen ein paar dieser Spuren in die dichtere Lufthülle der Erde hinein und zogen sich tief unter ihm dahin. Der Wal hatte kein Gehör – das brauchte er nicht in der Stille der dünnen Luft, in die kein Räuber jemals vorstieß –, aber wenn er eins gehabt hätte, dann hätte er vielleicht das pfeifende Heulen der Meteore gehört, mit dem sie auf den Planeten zurückfielen, der sie gerade erst von sich geschleudert hatte. Er sah sogar, wo die ersten Brocken des Meeresbodens einschlugen: Auf der Erde tief unter ihm zuckten in schneller Folge Lichtblitze auf wie winzige Blumen. Es war wie die Aussicht aus einem in großer Höhe fliegenden Bomber.

Zum ersten Mal, seit er ein Jungtier gewesen war, verspürte der Wal wieder Furcht. Plötzlich verwandelte diese ätherische Lichtshow sich in einen Regen aus Licht und Feuer. Es war ein Regen, der um ihn herum niederging – und er wurde immer stärker. Schließlich wendete er und flog mit langsamen Schlägen der gewaltigen Schwingen nordwärts.

Licht pulsierte.

Der weiß glühende Gesteinsbrocken war nur klein. Nach dem Zusammentreffen mit dem Wal setzte er den Abstieg zu den dichten Kreidezeit-Wäldern fort. Es war auch nur ein Bruchteil der kinetischen Energie aufgezehrt worden. Aber das komplexe Nervensystem des Wals hatte dem kleinen Hirn qualvolle Schmerzbotschaften übermittelt. Er drehte den mächtigen Kopf nach rechts und sah, dass die Oberfläche des Flügels aufgerissen und versengt war.

Wenn der Meteor den Flügel in der Mitte durchschlagen hätte, dann wäre vielleicht nur ein Loch zurückgeblieben, und der Wal hätte noch etwas länger gelebt. Aber er hatte Pech gehabt. Der Meteor hatte nämlich ein Gelenk des langen, zerbrechlichen Flugfingers zertrümmert. Der Flügel faltete sich schon großflächig um den gebrochenen Knochen zusammen.

Die blau-graue Erde drehte sich um den Wal. Obwohl er verzweifelt mit dem unversehrten Flügel ruderte, bekam der Wal Schlagseite – er verlor die Kontrolle und stürzte vom Himmel. Bei vollem Bewusstsein verzog er sich langsam und zerknitterte wie ein Spielzeugdrachen. Und der Meteorhagel verdichtete sich. Meteore schossen wie Kugeln durch die Körperhöhlen, rissen Luftsäcke auf, zertrümmerten das filigrane, ätherisch leichte Skelett und perforierten die majestätischen Flügel.

Er wurde von Schmerz überwältigt. Das Bewusstsein wurde mit tröstlichen, weich gezeichneten Erinnerungen erfüllt, wie er hoch über einer friedvollen Erde dahin geglitten war. Er war lang tot, bevor die Lunge von der dichten Luft zerquetscht wurde und die Überreste des Torsos den Boden erreichten.

Riese rappelte sich wieder auf.

Vor ihm torkelte ein verwirrter Stegoceras umher. Die scharlachrote Kappe aus Knochen und Fleisch auf dem Kopf mutete geradezu absurd an. Weil es sich zufällig in ein dichtes Araukarienwäldchen geflüchtet hatte, hatte dieses junge Männchen den Wirbelsturm überlebt. Er hatte keine schlimmere Verletzung davongetragen als eine gebrochene Rippe. Aber sein Rudel war verschwunden, buchstäblich vom Winde verweht. Er hob den Kopf und stieß ein trauriges Heulen aus. Es war wie der Klagelaut eines einsamen und verlassenen Jungtiers.

Es war aber nicht seine Mutter, die antwortete, sondern zwei große Fleischfresser: Gigantosaurier, die mit wackelnden Köpfen auf ihn zukamen und die Augen auf ihn geheftet hatten. Selbst jetzt wurde das Räuber-und-Beute-Spiel noch gespielt.

Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn, und kreatürliche Angst ergriff von ihm Besitz. Dennoch bemerkte der Stegoceras etwas Seltsames. Ein dritter Gigantosaurier, so groß und stark wie die anderen beiden, zeigte keinerlei Interesse an ihm. Das dritte Ungeheuer wackelte drohend mit dem Kopf – es reagierte auf etwas, das vom Himmel kam. Verwirrt und verängstigt drehte der Stegoceras sich gen Süden, wo ein unheimliches Orange die dahinrasenden schwarzen Wolken durchdrang.

Der erste Meteor überflog sie kreischend wie eine glühende Hornisse. Im Tiefflug fegte er über den Wald hinweg und schlug in einem Hügel ein. Junges Vulkangestein explodierte. Ein Sekundärhagel dampfender Bruchstücke prasselte auf den ohnehin schon mit Schutt übersäten Boden. Alle Dinosaurier drehten sich erschrocken in diese Richtung und vergaßen für einen Moment ihre angeborene Feindschaft.

Der zweite Meteor durchschlug den Leib des Stegoceras wie ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss. Einen Sekundenbruchteil später traf der Meteor auf den undurchdringlichen Boden und gab die Restenergie ans Gestein ab. Der Körper des Stegoceras wurde von der Explosion zerrissen, ehe er noch Zeit zum Umfallen hatte.

Nun schlugen die Meteore in den Resten des vernichteten Waldes ein. Feuer brach aus.

Riese und seine Brüder gerieten in Panik und flohen. Und der Meteorhagel wurde ständig dichter. Die Meteore pflügten den Boden um die Gigantosaurier um, schlugen flache Krater und setzten das Unterholz in Brand. Es war, als ob die Saurier-Brüder durch Artilleriesperrfeuer rannten.

Purga roch den Rauch auch.

Die Primaten vermochten einen Waldbrand in den tief ins kühle Erdreich gegrabenen Bauten zu überstehen. Wenn sie dann wieder an die Oberfläche kamen, war der Wald verkohlt und zerstört. Doch diesmal war es anders, sagte der Instinkt Purga. Sie schob sich an ihrem zusammengekauerten Gefährten, den Jungen und dem grässlich verstümmelten Kopf des Troodons vorbei und wurde in Tageslicht getaucht. Sie wurde geblendet, weil die empfindlichen nachtadaptierten Augen mit der ungewohnten Lichtflut überfordert waren. Dennoch vermochte sie das Unheil dieses apokalyptischen Tags in groben Zügen zu erkennen: die sich ausbreitenden Brände im zertrümmerten Wald und den unaufhörlichen, unbegreiflichen Meteorhagel.

Hier konnte sie nicht bleiben. Aber wohin sollte sie gehen?

Die meisten Bäume, die ihr die Sicht verstellt hatten, waren vom Sturmwind gefällt worden. So hatte sie einen freien Blick auf die Rocky Mountains, deren Gipfel von Vulkanrauch eingehüllt wurden. Und wo die Kometenwinde warme, feuchte Bodenluft die Flanken des Bergmassivs hinaufgedrückt hatten, hingen nun dicke Haufenwolken an den oberen Berghängen.

Schatten. Dunkelheit. Vielleicht würde es dort sogar Regen geben.

Mit zuckenden Schnurrhaaren machte sie einen zweiten Schritt ins Freie. Sie bewegte sich ruckartig, hielt alle paar Schritte inne und drückte sich flach auf den Boden.

Sie schaute zurück. Hinter dem abgetrennten Kopf des Troodons sah sie ihren Gefährten und die Jungen – drei große Augenpaare, die ihr nachschauten. In hundert Millionen Jahren geschärfte Instinkte drängten sie, in die kühle Erde zurückzukehren oder auf einen Baum zu klettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Denn sonst würden die furchtbaren Klauen, Zähne und Füße dieses Riesen sie mit Sicherheit erwischen. Aber die Bäume waren geknickt und zersplittert, und der Bau war nun ungeschützt.

Sie lief davon, den wolkenverhangenen Bergen entgegen.

Ihr Gefährte folgte zögernd. Eins der Jungen lief ihm nach. Das zweite floh entsetzt und verwirrt in den Bau zurück. Es gab nichts, was Purga für das zweite Junge zu tun vermochte. Sie sollte es nie wieder sehen.

Also wanderten die drei kleinen, rattenartigen Geschöpfe, die bereits alle Anlagen der Menschheit in sich trugen, über die verwüstete, schwelende Ebene. Meteore gingen um sie herum nieder.

Das Feuer nährte sich aus sich selbst. Die verstreuten Brandnester vereinigten sich. Als die Lufttemperatur anstieg, entzündete sich sogar das feuchte Unterholz. Wind kam auf, und der Rauch stieg spiralförmig empor. Hier und in ganz Nord- und Südamerika folgten die Brände einer eigenen Logik und entwickelten sich zu selbst erhaltenden und selbst perpetuierenden Systemen.

Daraus entstanden die Feuerstürme. Alles, was brennbar war, geriet in Brand: jedes Fitzelchen der Vegetation und sogar Wasserpflanzen, die noch mit Feuchtigkeit voll gesogen waren. Tiere gingen einfach in Flammen auf: Raptoren brannten wie Zunder, und die großen gepanzerten Pflanzenfresser schmorten in ihren riesigen Gehäusen.

Schließlich brachen die drei Gigantosaurier aus dem Wald und betraten eine Lichtung mit einem großen See in der Mitte. Sie waren überhitzt – das Maul weit geöffnet, den Kopf vom stinkenden Rauch benebelt.

Der offene Himmel bot einen außergewöhnlichen Anblick. Ein schwarzer Deckel raste von Südosten heran, als ob ein riesiger Vorhang zugezogen würde. Dieses unheimliche orangefarbene Glühen breitete sich ebenfalls aus. Es wurde immer heller und tendierte schließlich zu Gelb. Und noch immer schlugen die Meteore in den lehmigen Boden ein.

Am See selbst sahen die Gigantosaurier eine desolate Szenerie.

Panik brach unter den Dinosauriern aus. Herden rivalisierender Entenschnabel-Spezies rannten durcheinander, gepanzerte Ungeheuer wie Ceratops und Ankylosaurier versuchten Land zu gewinnen und Pflanzenfresser rannten neben Räubern her. Es gab sogar Säugetiere, die im Licht schimmerten und zwischen riesigen Füßen umherwuselten. Alle Tiere waren in Panik. Sie verbrannten sich auf dem glühend heißen Boden die Füße und stießen blindlings miteinander zusammen. Das wäre vor ein paar Stunden noch unvorstellbar gewesen. Das fein austarierte ökologische Verhältnis von Pflanzen- und Fleischfressern, von Räuber und Beute, das sich über hundertfünfzig Millionen Jahre herausgebildet hatte, war mit einem Mal wie weggefegt.

Riese stürmte los und bahnte sich, von einem starken Instinkt getrieben, durch die panische Masse einen Weg zum Wasser. Er stürzte sich in den See, ohne die glühenden Trümmer zu beachten, die an der Oberfläche trieben. Die tieferen Schichten waren angenehm kühl. Als er mit dem Kopf schon untergetaucht war, sah er noch, wie Meteore im See einschlugen und im Wasser Blasenspuren hinterließen.

Und nun stieg ein Schemen wie eine Rakete vor ihm auf. Ein großes Maul klaffte weit, und im trüben Wasser sah er kegelförmige Zahnreihen. Er wich zurück.

Das Krokodil hatte reglos und geduldig auf dem Seeboden auf der Lauer gelegen.

Der entfernte Verwandte des im Meer heimischen Deinonychus war von den Auswirkungen dieses turbulenten Tags bisher nicht betroffen. Er hatte wohl das Beben der Erde und die dadurch verursachten Turbulenzen im Wasser gespürt und hatte auch die sonderbaren Lichter am Himmel gesehen. Aber er rechnete damit, diesen Sturm abzureiten wie schon so viele zuvor. Er vermochte den Stoffwechsel im Notfall fast ganz herunterzufahren und für eine Stunde unter Wasser zu bleiben. Seine Denkvorgänge liefen langsam ab. Er wusste, dass er nicht mehr tun musste, als hier unten im Schlick liegen zu bleiben, bis der Sturm sich gelegt hatte. Und dann würde ihm auch wieder Nahrung ins offene Maul schwimmen.

Doch nun tauchte ein Dinosaurier ins Wasser ein. Er blieb aber nicht nur am Rand stehen, um zu saufen und Wasserpflanzen abzuschöpfen wie die dummen Entenschnäbel, sondern er schwamm sogar durch sein Reich. Er verspürte Zorn wegen dieses Eindringens und zugleich Vorfreude wegen einer leichten Beute. Er erhob sich aus dem Schlick und stieg zur Oberfläche empor, die im Meteorlicht schimmerte. Und nun stürzten sich noch mehr massige Leiber ins aufgewühlte Wasser und stapften durch den klebrigen Schlick des Seebodens.

Das Krokodil griff natürlich an.

Riese schlug um sich, wich dem zuschnappenden Krokodil aus und versetzte ihm einen Tritt gegen die Schnauze. Das Krokodil zog sich kurz zurück und setzte dann erneut zum Angriff an. Riese hätte die Gelegenheit zum Rückzug nutzen können. Doch nun drängte eine Horde Tiere hinter ihm ins Wasser. Das Krokodil schnappte nach den Eindringlingen, die sich wiederum gegenseitig bekämpften.

Und dann gab es eine mächtige Welle, als ein Nachbeben der seismischen Erschütterung, die der Komet verursacht hatte, durchs Urgestein lief. Der Boden wölbte sich auf und platzte auf – und das Wasser floss plötzlich ab und ließ Riese inmitten von Wasserpflanzen und zuckenden Tieren auf dem Trockenen zurück.

Das Krokodil, das plötzlich heißer, trockener Luft ausgesetzt war, verstand die Welt nicht mehr. Instinkte, die es vom Schlüpfen bis zu den ersten Schwimmversuchen geleitet hatten, rieten ihm, sich im Schlick einzugraben. Aber der Schlamm trocknete und härtete so schnell aus, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war.

Und derweil stürzten die Meteore herab und stachen wie Lichtsäulen durch die Rauchwolken.

Der Sturmwind und die Flutwelle hatten bereits fast alles Leben in Nord- und Südamerika ausgelöscht – von Insekten bis zu Dinosauriern.

Und die Brände, die auf der ganzen Welt anschwollen, töteten nun die meisten Überlebenden.

Aber das Schlimmste sollte erst noch kommen.

Das gröbere Auswurfmaterial an der Peripherie des Kometeneinschlags war schnell zurückgefallen und hatte den ohnehin schon verwüsteten Erdboden auf einem bis zwei Kraterdurchmessern noch einmal umgepflügt. Doch die große zentrale Wolke aus Gesteinsstaub war unter dem Einfluss der eigenen Wärmeenergie weiter aufgestiegen. Im Vakuum des Weltraums kondensierten feste Teilchen aus dieser glühenden Wolke und fielen weiß glühend auf die Erde. Wo sie zuvor in einem Tunnel aus Vakuum aufgestiegen waren, stürzten sie nun in die Atmosphäre zurück und gaben die Energie an die Luft ab. Es war ein tödlicher Feuerhagel, eine Decke aus vielen Milliarden winziger, weiß glühender Meteore, die den Planeten einhüllte.

Über dem ganzen Planeten glühte die Luft.

Purga hatte inzwischen das Vorgebirge erreicht. Ihr Gefährte, Dritter und das eine überlebende Junge waren an ihrer Seite. Der Weg zum Felsengebirge selbst war ihnen jedoch versperrt, weil das Land auch hier von den Erdbeben aufgerissen, zerklüftet und mit Felsbrocken übersät war, die um ein Vielfaches größer waren als Purga.

Sie würde sich mit den Gegebenheiten arrangieren müssen. Sie wühlte im losen Erdreich und versuchte einen Bau zu graben.

Dann schaute sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Unter den dräuenden Rauchwolken glühte das ganze Land in einem hellen Orange. Es war ein außergewöhnlicher Anblick. Selbst hier auf dieser felsigen Erhebung spürte sie die Hitze und roch den Gestank von verbranntem Fleisch.

Sie sah auch die Wolken, die sie hierher geführt hatten – sie hatten sich zwar schon etwas gelichtet, hüllten die oberen Berghänge aber immer noch ein. Die orange-weißen Wolken kontrastierten mit dem nachtschwarzen Himmel und reflektierten das Glühen des brennenden Landes. Und nun breitete dieses orangefarbene Licht aus dem Süden sich über den Wolken aus. Der Himmel selbst begann zu glühen, als ob die Sonne in allen Himmelsrichtungen zugleich aufginge. Die Farbe wechselte schnell zu Orange, dann zu Gelb und schließlich zu einem gleißenden, sonnenhellen Weiß.

Und dann spürte sie den ersten Hauch der Hitze.

Die Primaten pressten sich verzweifelt auf den Boden.

Auf dem rissigen Seeboden kam Riese wieder auf die Beine. Er war von Kadavern umgeben und versuchte, Sauerstoff aus der mit Rauch und Asche geschwängerten Luft zu ziehen. Es war, als ob er sich in einem grauen Nebel befände. Er sah nichts außer Rauch, Staub und aufgewirbelter Asche.

Die Hitze pulsierte wie in einem Backofen. Es stank nach verbranntem Fleisch.

Er verspürte einen stechenden Schmerz in der Pfote und hob sie in trüber Neugier. Die Finger brannten wie Kerzen.

Er dachte an seine Brüder. Und das war auch schon sein letzter Gedanke.

Der Tod kam mit plötzlicher Wucht. Aber er spürte nichts. Die lebenswichtigen Organe wurden so schnell zerstört, dass das Gehirn keine bewusste Reaktion zu verarbeiten vermochte. Dann kochten und verschmorten die Muskeln. Arme und Beine wurden dadurch angezogen, aber das Rückgrat war durchgedrückt, sodass er im Moment des Todes eine Boxerhaltung einnahm: den Kopf zurückgelegt, die Hände hochgenommen und die Beine angewinkelt.

All das geschah, ehe Riese noch Zeit hatte, zu Boden zu gehen.

Und dann zerbarst das Gestein.

In diesem Moment glich die Erde einem Juwel. Die alten Meere des Mondes leuchteten im Widerschein der plötzlichen Helligkeit. Aber es war die Schönheit einer sterbenden Welt.

Die Hälfte der von der brennenden Luft freigesetzten Wärmeenergie wurde an die untere Atmosphäre und an den Erdboden abgegeben. Auf dem ganzen Planeten war die Luft sonnenheiß und gleißend hell. Pflanzen und Tiere wurden an ihrem Standort einfach abgefackelt. Die Bäume der großen Kreidezeit-Wälder brannten wie Zunder. Die Vögel am Himmel verpufften förmlich, und die Pterosaurier verschwanden im Mahlstrom des Massensterbens. Die Bauten der Säugetiere, Insekten und Amphibien wurden zu winzigen Gräbern. Purgas zweites, allein gelassenes Junges wurde geröstet.

Purga wurde verschont. Die letzten schwarzen Wolken fransten aus, lichteten sich schnell und verdampften zum Teil – doch in den entscheidenden Minuten des mächtigen Hitzepulses schirmten sie den Boden vor einem sonnenheißen Himmel ab.

Seit dem Einschlag war erst eine Stunde vergangen.

III

Nach ein paar Tagen klangen die Erschütterungen der Erde ab, und das tägliche Stampfen der berggroßen Reptilien war verstummt.

Purga war Dunkelheit gewohnt. Aber keine Stille: Diese unheimliche Stille nahm einfach kein Ende.

Seit unzähligen Generationen hatten die Dinosaurier das Leben von Purgas Art geprägt. Selbst nach diesem apokalyptischen Schock hatte sie noch vage Visionen von Dinosaurier-Kohorten, die in Reihe angetreten waren und nur darauf warteten, dass ein Säugetier so unvorsichtig war, den Kopf aus dem Bau zu stecken.

Aber sie konnte auch nicht in diesem behelfsmäßigen Bau bleiben. Einmal gab es hier keine Nahrung mehr; die Familie hatte schon alle Würmer und Käfer ausgegraben und verzehrt, an die sie herangekommen waren. Sie wussten nicht einmal, ob es Tag oder Nacht war. Der Schlafzyklus war auf der Flucht am Tag des Einschlags gestört worden. So waren sie zu verschiedenen Zeiten wach, und der Hunger lag im Widerstreit mit der Angst vor der fremdartigen, kalten Stille über ihnen. Sie drohten schon übereinander herzufallen, schnappten nach den anderen und bissen sich.

Und dann stürzte die Temperatur von der Hitze des brennenden Himmels zu bitterer Kälte ab. Die Primaten wurden zwar durch eine dicke Erdschicht geschützt, aber dieser Schutz war nicht von Dauer.

Schließlich wandte Dritter sich gegen das Junge – Letztes, denn es war Purgas letztes überlebendes Kind. Purga sah Dritter nicht. Aber mit den Schnurrhaaren und dem gut entwickelten Gehör spürte sie, wie ihr Gefährte sich Schritt für Schritt und mit geöffnetem Maul an das Junge anschlich, als ob er sich an einen Tausendfüßler heranpirschte.

Dritter war zornig, verwirrt, verängstigt und sehr, sehr hungrig. Und seine Handlung ergab auch einen gewissen Sinn. Schließlich gab es hier nichts zu fressen. Wenn das Fleisch des Jungen die Erwachsenen etwas länger am Leben erhielt – lang genug, um neuen Nachwuchs zu zeugen –, hätte das dem genetischen Programm entsprochen. Die Überlegungen waren stringent und logisch.

Unter anderen Umständen hätte Purga sich der Gewalt von Dritter vielleicht gebeugt und das Junge womöglich noch gemeinschaftlich mit ihm getötet. Aber Purga hatte bereits ein für ihre Art langes Leben hinter sich und hatte auch schon viel erlebt: die Zerstörung des ersten Zuhauses, die lange Verfolgung durch Verletzlicher Zahn, und nun den Albtraum des Kometeneinschlags und die Verbannung in diese Welt aus Kälte und Stille.

Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie biss Dritter kräftig ins Bein, huschte an ihm vorbei und stellte sich vor ihre Tochter.

Letztes war genauso verwirrt wie die anderen. Aber sie erkannte, dass ihre Mutter sie gegen eine Art Angriff von ihrem Vater verteidigte. Also stellte sie sich neben Purga und fletschte die Zähne gegen Dritter. Eine geschlagene halbe Minute wurde der Bau von Zischen und dem Geräusch zornig scharrender Pfoten erfüllt; sechs Schnurrhaarbündel füllten den Raum zwischen den Primaten aus, von denen jeder auf einen Angriff des anderen wartete.

Am Ende war es Dritter, der nachgab. Plötzlich gab er die aggressive Haltung auf und rollte sich in einer Ecke des Baus zusammen. Purga blieb bei ihrer Tochter, bis ihr Zorn und die Aggression sich verflüchtigt hatten.

Es war dieser Zwischenfall, der das Gleichgewicht der Kräfte in Purgas Bewusstsein veränderte.

Sie konnten hier nicht bleiben. Sie würden verhungern oder erfrieren, wenn sie sich vorher nicht gegenseitig umbrachten. Sie mussten hier raus, egal welche unbekannten Gefahren in der stillen Welt über ihnen lauerten. Genug war genug. Als sie das nächste Mal von der inneren Uhr geweckt wurde, schob Purga die Erde beiseite, mit der der Eingang des Baus verschlossen war.

Und tauchte in die Dunkelheit ein.

Nach zwei Tagen war das Feuer am Himmel erloschen. Doch nun war die geschundene Erde von Pol zu Pol mit Staub und Asche bedeckt – eine schwarze Hülle, die mit gelb-weißen Schwefelsäure-Wolkenfetzen durchsetzt war. Die ehedem wie ein Stern leuchtende Erde war in einen düsteren, finsteren Ort verwandelt worden, der noch dunkler war als der Kern des Kometen, der diese Katastrophe verursacht hatte. Staub und Asche: Der Staub stammte von Kometenbruchstücken, vom Meeresboden und vulkanischem Schutt, der nach den starken Erdbeben ausgestoßen worden war, die den Planeten erschüttert hatten. Und die Asche stammte von verbranntem Leben -Pflanzen, Säugetiere und verschiedene Dinosaurier-Spezies aus Amerika und China, Australien und Antarktika, die in den globalen Feuerstürmen verbrannt und vom Puls der Superhitze nachverbrannt worden waren und sich nun in der versmogten Stratosphäre sammelten. Nach dem Einschlag war Schwefel aus dem Gestein des Meeresbodens herausgelöst und in die Luft eingetragen worden, wo Schwefelsäure-Kristalle sich bildeten. Die hohen, hellen sauren Wolken warfen das Sonnenlicht zurück und verursachten eine weitere Senkung der Temperatur.

Gefolgt von Dritter und Letztes entfernte Purga sich vorsichtig vom Eingang des Baus. Die Schnurrhaare zuckten nervös. Es war später Nachmittag hier im kalten Herzen von Nordamerika. Wenn der Himmel klar gewesen wäre, hätte die Sonne noch hoch über dem Horizont gestanden. Stattdessen herrschte ein düsteres Zwielicht, mit dem selbst Purgas große, lichtempfindliche Augen fast überfordert waren.

Sie stolperte über nackten, versengten Fels. Nichts stimmte mehr. Es fehlte der Geruch wachsender grüner Pflanzen, der intensive würzige Gestank der Dinosaurier und ihres Dungs. Stattdessen roch sie nur Asche. Die dicke grün-braune Schicht des Kreidezeit-Lebens war völlig abgebrannt: Sogar die toten Blätter und der Dung waren verschwunden. Übrig waren nur noch Mineralien, verbrannte Erde und Gestein.

Und es war kalt – eine tiefe, beißende Kälte, die sich schnell durch die abgeschmolzenen Fettschichten in die Knochen fraß.

Sie kam zu den Überresten von etwas, was einmal ein kleiner Farnwald gewesen war. Sie scharrte mit den Pfoten auf dem Boden, aber er war seltsam hart – und so kalt, dass die Pfotenballen schmerzten. Doch als sie sich die Hand ableckte, sammelten sich ein paar Wassertropfen im Mund.

Noch vor ein paar Tagen war dieser Ort von tropischen Wäldern und Sumpfland bedeckt gewesen. Seit Jahrmillionen hatte es hier keinen Frost mehr gegeben. Doch nun war der Boden gefroren. Purga kratzte auf dem Boden und stopfte sich das merkwürdige kalte Zeug in den Mund. Langsam füllte der Mund sich mit Wasser, aber auch mit viel Asche und Schmutz.

Sie versuchte tiefer zu graben. Sie wusste nämlich, dass es auch nach dem größten Waldbrand noch Nahrung gab: gehärtete Nüsse, tief vergrabene Insekten und Würmer. Aber die Nüsse und Sporen waren unter einem fest gefrorenen Erdboden begraben, den Purga mit den kleinen Pfoten nicht zu durchdringen vermochte.

Sie ging weiter und ertastete mit den Schnurrhaaren einen Weg durch die Dunkelheit.

Sie erreichte eine flache Pfütze, bei der es sich um den Fußabdruck eines verschwundenen Ankylosauriers handelte. Die Schnauze stieß auf eine harte Oberfläche: Sie war beißend kalt und hart wie Stein. Die Kälte, die sich durchs Fell fraß, war kaum auszuhalten. Sie zog sich hastig zurück.

Genauso wenig wie mit Frost hatte sie bisher die Bekanntschaft von Eis gemacht.

Vorsichtig betastete sie mit Schnauze und Händen das Eis. Sie scharrte und kratzte – sie roch das Wasser, das irgendwo verborgen war und wurde schier verrückt, weil sie ihm nicht näher kam. Frustriert umkreiste sie die kleine Pfütze und untersuchte sie. Schließlich kam sie zu einer Stelle, wo der Fuß des Ankylosauriers etwas tiefer in den weichen, warmen Lehmboden eingedrungen war. Das Eis war hier dünner, und als sie draufdrückte, splitterte die Schicht und wölbte sich auf. Sie sprang erschrocken zurück. Der aufragende Eissplitter versank langsam im schwarzen Wasser. Vorsichtig kam sie wieder näher. Und als sie diesmal die Schnauze zögerlich in die Pfütze tauchte, fand sie Wasser: In der Kälte überzog es sich schon wieder mit einer neuen Eisschicht, aber es war noch flüssig. Sie sog es gierig ein und ignorierte dabei den bitteren Geschmack des mit Asche und Staub versetzten Wassers.

Angelockt von den Schlürfgeräuschen kamen Dritter und Letztes herbei. Sie vergrößerten das Loch, das sie ins Eis gebrochen hatte und schlürften das verunreinigte Wasser.

Zum ersten Mal seit dem Kometeneinschlag hatte die Lage für Purga sich wieder verbessert: nicht viel, aber immerhin.

Plötzlich berührte etwas sie an der Schulter: etwas Leichtes und Kaltes. Winselnd drehte sie sich um. Es war ein weißes Gespinst, das schon wieder schmolz.

Mehr Flocken fielen vom Himmel. Sie sanken unregelmäßig und langsam herab. Wenn eine Flocke direkt neben ihr herunterkam, sprang sie auf und schnappte sie mit dem Mund, als ob sie eine Fliege vom Himmel holte. Bald hatte sie den Mund voll weichem Eis.

Es schneite.

Das wurde ihr dann doch zu unheimlich. Sie drehte sich um und flüchtete sich in die Sicherheit des Baus.

Durch den Einschlag war verdampftes Meerwasser in die Luft geschleudert worden. Nachdem es wochenlang dort verharrt hatte, fiel es schließlich zurück.

Und es war viel Dampf. Eine wahre Sintflut ging über dem ganzen Planeten nieder.

Aber der Regen machte das Ganze nur noch schlimmer. Er war mit Schwefelsäure aus den Eiswolken gesättigt. Durch den Einschlag waren auch Wolken aus giftigen Metallen in die Atmosphäre aufgestiegen, die vom Regen ausgewaschen wurden. Nickel allein erreichte schon die doppelte Toxizitätsschwelle für Pflanzen. Durchs ablaufende Wasser wurden Substanzen wie Quecksilber, Antimon und Arsen aus dem Boden gewaschen und in Seen und Flüssen konzentriert.

Für die nächsten Jahre würde jeder Regentropfen vergiftet sein.

Der Regen wusch Staub und Asche aus. Die ganze Welt wurde von einer feinen schwarzen Schicht überzogen, einem dunklen Band, das als punktierte Linie im Sedimentgestein überdauern würde – ein Grenzlehm, der zusammengepresste Überrest einer Biosphäre, der eines Tages von Joan Useb und ihrer Mutter studiert werden würde.

Nach monatelanger Dunkelheit durchdrang schließlich die Sonne die Staub- und Ascheschichten, die den Planeten umspannten. Aber sie war nur wie ein Punktstrahler, der das gefrorene Land kaum erwärmte. Das düstere Zwielicht würde noch für ein Jahr anhalten.

Die wiederkehrende Sonne schien auf eine Landschaft des Todes herab.

Die tropischen Pflanzen waren, soweit sie nicht verbrannt waren, durch den Kälteschock eingegangen. Die überlebenden Dinosaurier litten an Hunger und unter der Kälte und wurden bald von den überlebenden Räubern gefressen. Hier und da regten sich jedoch Lebewesen in der Asche: Insekten wie Ameisen, Schaben und Käfer, Schnecken, Frösche, Lurche, Schildkröten, Eidechsen, Schlangen und Krokodile – Geschöpfe, die sich im Schlamm oder in tiefem Wasser verborgen hatten – und viele Säugetiere. Das Körperfell und die Angewohnheit, sich in Bauten unter der Erde einzugraben, schützten sie vor den schlimmsten Folgen der Kälte. Und dass sie Allesfresser waren, kam ihnen ebenso zugute.

Es war, als ob auf der Welt eine Rattenplage ausgebrochen wäre.

Und die Überlebenden pflanzen sich sogar fort. Trotz der Kälte und der Futterknappheit vermehrten sie sich nach dem Verschwinden der alten Räuber. Sogar in diesem Moment trennten die imaginären Skalpelle der Evolution Rohmaterial ab, das an eine untergegangene Welt angepasst war und schnitten und formten es um für die Bedingungen der neuen Welt.

Einsam und allein stolperte das Euoplocephalus-Weibchen durch die kalte Unendlichkeit und suchte nach den robusten Pflanzen, die es zum Leben brauchte.

Sie gehörte einer Ankylosaurus-Spezies an. Sie war zehn Meter lang und hatte, bevor der langsame körperliche Verfall einsetzte, sechs Tonnen gewogen. Der Körper war gepanzert: Rücken, Nacken, Schwanz, Flanken und Kopf wurden von Knochenplatten geschützt. Selbst die Augenlider waren knöcherne Scheiben. Die Platten waren in eine Schicht aus zähen Fasern eingebettet, wodurch der mächtige Panzer flexibel, aber auch schwer wurde. Der lange Schwanz lief in einem Knochen-Klöppel aus. Einst hatte sie mit dieser Peitsche ein junges Tyrannosaurier-Männchen krumm und lahm geschlagen – nicht dass sie sich daran erinnerte. Dieser Panzer bot keinen Platz für ein großes Gehirn und machte es auch überflüssig.

Im geologischen Maßstab war das große Sterben, das den Planeten heimsuchte, ein Wimpernschlag. Nicht aber für die Kreaturen, die davon betroffen waren. Für Tage, Wochen und Monate hielten die Todgeweihten am Leben fest – auch die Dinosaurier.

Die Euoplos hatten sogar relativ gute Voraussetzungen, um das Ende der Welt zu überleben. Die große Körpermasse, die enorme Stärke und der schwere Panzer in Verbindung mit einem günstigen Standort unter einer dicken Wolkendecke in der Nähe eines Flussufers hatten es ein paar Exemplaren ihrer Art ermöglicht, die ersten Stunden der Katastrophe zu überleben. Sie hatte zuvor schon Dürren überstanden und müsste eigentlich auch mit dieser unerwarteten Widrigkeit zurechtkommen. Alles, was sie tun musste, war in Bewegung zu bleiben und die Räuber abwehren.

Und so wanderte sie über die vereisende Erde und suchte nach Nahrung. Aber sie fand kaum welche.

Einer nach dem andern waren ihre Gefährten auf der Strecke geblieben, bis die Euoplo-Kuh schließlich allein war.

Durch eine Laune des Schicksals hatte sie sich aber noch einmal gepaart und war nun schwer mit Eiern beladen.

In dieser neuen Welt, einem Land aus Eis und Schwärze, das von einem grau-schwarzen Himmel bedeckt wurde, hatte sie die alten Brutplätze nicht mehr wieder gefunden. Also hatte sie aus den verbrannten Pflanzenresten, die den Boden eines einst dichten Waldes übersäten, nach besten Kräften ein Nest gebaut. Sie hatte mit einem Trompeten die Eier abgelegt und in einer akkuraten Spirale auf dem Boden angeordnet. Euoplos waren keine fürsorglichen Mütter; diese Sechs-Tonnen-Kolosse hätten den Nachwuchs mit ihrer Zuneigung buchstäblich erdrückt. Aber das Euoplo war immerhin in der Nähe des Nests geblieben und hatte es vor Räubern geschützt.

Vielleicht wären die Eier trotz der Kälte ausgebrütet worden, und vielleicht hätten ein paar Junge die große Kälte überstanden. Von allen Dinosauriern war es nämlich der Ankylosaurier, der in der neuen, härteren Welt die besten Überlebenschancen gehabt hätte.

Aber der Regen hatte die Nährstoffe weggeschwemmt, die der Körper des Euoplos zur Produktion gesunder Eier gebraucht hätte. Ein paar Eier hatten so dicke Schalen, dass die Jungen sie nicht zu durchbrechen vermochten, und andere waren so dünnwandig, dass sie schon bei der Ablage zerbrachen. Und der Regen beschädigte die Eier zusätzlich: Im Säurebad verloren sie den schützenden Überzug.

Kein Ei war ausgebrütet worden. Das traurige und auf der zellulären Ebene verwirrte Euoplo war von dannen gezogen. Sie war kaum verschwunden, als auch schon eine pelzige Wolke räuberischer Säugetiere sich über die Eier hermachte und das Nest in ein schlammiges Schlachtfeld verwandelte.

Das Euoplo, das Letzte seiner Art, wanderte von einem finalen Imperativ getrieben übers Land: überleben. Aber das Gift und der Regen setzten auch ihm zu. Lebewesen wie Purga suchten in Bauten oder unter Steinen Schutz vorm Regen – und wenn es sein musste, auch unter einem leeren Schildkrötenpanzer. Das Euoplo war jedoch zu groß, um irgendwo Unterschlupf zu finden, und einzugraben vermochte es sich auch nicht. Der Rücken war entsetzlich verbrüht, von den großen Knochenplatten löste sich das Fleisch, und die Faserstränge brannten wie Feuer.

Blindlings wankte es dem Meer entgegen.

Ein Vierteljahr nach dem Einschlag stolperten Purga und Letztes über einen steinhart gefrorenen Boden.

Sie begegneten nur wenigen Tieren: Manchmal beobachtete ein vorsichtiger Frosch ihren Vorbeimarsch, oder ein Vogel flog bei ihrer Annäherung auf. Sein Zwitschern zerriss die Stille, und er ließ ein Stück gefrorenes Aas am Boden zurück. Die Überreste der üppigen Kreidezeit-Vegetation, die Baumstümpfe und das vereinzelte Unterholz waren zu harten schwarzen Skulpturen gefroren. Beim Versuch, sie anzunagen, sprangen höchstens ein Mundvoll Eis oder ein abgebrochener Zahn heraus.

Sie waren nur noch zu zweit. Dritter war an Hunger und Kälte gestorben.

Purga sehnte sich in ihrem Sicherheitsbedürfnis danach, auf einen Baum zu klettern oder sich in die weiche Erde einzugraben. Aber es gab keine Bäume mehr, nichts als Asche, Baumstümpfe und Wurzelreste, und der Boden war zu hart zum Eingraben. Wenn sie sich ausruhen mussten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als im losen Schutt Nester aus Asche, verbranntem Laub und Holzresten zu bauen. Dort lagen sie dann bibbernd und kuschelten sich aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen.

Nach einer tagelangen Wanderschaft erreichten Purga und Letztes die Küste des amerikanischen Binnenmeers.

Der grobkörnige Strand war gefroren, und auf dem Meer, das schwarz-grau war wie der Himmel darüber – drifteten Eisschollen. Aber die sanfte Brise trug noch immer Salzgeruch über den Sand. Und hier, an der Meeresküste fanden die Primaten Nahrung – Seetang, Krustentiere und sogar gestrandete Fische.

Auch die Meere waren durch den Einschlag verwüstet worden. Der Verlust des Sonnenlichts und der saure Regen hatten das photosynthetische Plankton vernichtet, das in den oberen Schichten des Meeres vorgekommen war. Nachdem der Ursprung der Nahrungskette verschwunden war, starben die Arten wie fallende Dominosteine. Auf der geschundenen Erde ging der Tod um, und im Wasser des mit Eisschollen bedeckten, verdunkelten Meers spielten sich Dramen ab, die genauso schrecklich waren wie die Tragödien, die an Land stattfanden. Es sollte eine Million Jahre dauern, bis die Meere sich wieder erholt hatten.

Purga stieß auf einen gestrandeten Seestern. Sie hatte noch nie am Meer gejagt und ein solches Geschöpf nie zuvor gesehen. Sie stupste es mit der Schnauze an und versuchte es in eine ihrer Kategorien einzuordnen: gefährlich oder essbar.

Ihre Bewegungen waren schwach, und sie sah den Seestern auch nur verschwommen.

Purga wurde immer schwächer. Sie war ständig durstig und litt an chronischen Schmerzen, die Mund und Rachen erfüllten und bis in den Magen ausstrahlten. Seit dem Einschlag hatte sie stetig Gewicht verloren. Dabei war sie immer schon ein schmächtiges Wesen gewesen, das nicht viel zum Zusetzen hatte. Und sie war ein Geschöpf der Tropen, das es plötzlich in eine arktische Umgebung verschlagen hatte. Das Fell speicherte zwar die Wärme, aber der lange, schlanke Körper hatte eben nicht die kompakte Kugelform der an die Kälte angepassten Lebewesen. Deshalb verbrannte sie durch das Zittern noch mehr Energie und Körpermasse.

Sie war abgemagert, geschwächt und kam nicht mehr zu Kräften. Das Bewusstsein trübte sich zunehmend, und die Instinkte versagten.

Und sie wurde alt. Die wichtigste Überlebensstrategie der als ›Ungeziefer‹ lebenden Säugetiere hatte in der schnellen Vermehrung bestanden. Ihre Zahl war immer so groß gewesen, dass die Dinosaurier sie auf ihren Jagdzügen nicht auszurotten vermochten. Solche Geschöpfe hatten nichts von einem langen Leben. Purga näherte sich bereits dem Ende ihres kurzen, intensiven Lebens.

Letztes litt natürlich auch. Aber es war jünger und hatte mehr Kraftreserven. Purga spürte eine wachsende Kluft zwischen ihnen. Das war aber keine Frage mangelnder Loyalität. Es war die Logik des Überlebens. Purga spürte im tiefsten Innern, dass der Tag kommen würde, wo ihre Tochter sie nicht mehr als Jagdgefährtin betrachtete und nicht einmal als Behinderung, sondern als Beute. Nach allem, was sie überstanden hatte, wären Purgas letzte Erinnerungen vielleicht, dass die eigene Tochter ihr die Zähne an die Kehle setzte.

Doch nun rochen sie Fleisch. Und sie sahen weitere Überlebende, noch mehr rattenähnliche Säugetiere über den Strand huschen. Da gab es etwas zu fressen. Purga und Letztes liefen hinterher.

Schließlich wankte das Euoplo, dessen Bewusstsein wie eine defekte Glühlampe flackerte, an die Küste des Meeres.

Es schaute verständnislos nach unten. Wasser umspülte die Füße, und schwere Regentropfen prasselten hernieder. Der Sand war von Ruß und vulkanischem Staub geschwärzt und mit den Knochen winziger Kreaturen übersät. Sie machte die silbrigen Kadaver von Fischen aus, denen Vögel die Augen ausgepickt hatten. Aber das Euoplo verspürte nur Müdigkeit, Hunger, Durst, Einsamkeit und Schmerz.

Es hob den Kopf. Die Sonne ging im Südwesten als eine blutrote Scheibe unter und würde bald hinter einem kohlrabenschwarzen Horizont versinken.

Das Euoplo verharrte bewegungslos an der Wasserlinie. Es war einer der letzten großen Dinosaurier, die auf der ganzen Erde überlebt hatten. Es mutete an wie ein Denkmal für seine untergehende Art. Kopf und Schwanz wogen schwer unter dem massiven Panzer, und das Euoplo ließ sie sinken. Es starb, ohne auch nur ein einziges lebensfähiges Junges in die Welt gesetzt zu haben. Ein Gefühl der Verlorenheit und Trauer erfüllte das kleine Bewusstsein des Euoplos.

Plötzlich verspürte es ein scharfes Zwicken an der weichen Unterseite des Fußes.

Es war ein therisches Säugetier: auch nicht schöner als Purga, aber schon mit Zähnen ausgestattet, die schnitten – wie eines Tages die Zähne eines Löwen schneiden würden. Es war vorgestürmt und hatte den Saurier mit unglaublicher Verwegenheit gebissen. Das Euoplo trompetete erzürnt und hob in einer Kraftanstrengung einen mächtigen Fuß. Als es ins Wasser stampfte, platschte es aber nur; das flinke Säugetier war längst weggeflitzt.

Aber es scharten sich immer mehr Überlebende um das Euoplo.

Diese Tiere waren alle klein. Purga und Letztes waren hier, und andere Säugetiere, die in den unterirdischen Bauten überlebt und sich während des langen Winters durch die konstante Körpertemperatur gewärmt hatten. Es gab auch Vögel, die durch das warme Blut und die geringe Größe ein Ereignis überlebt hatten, das ihren größeren Verwandten den Garaus gemacht hatte. Außerdem gab es Insekten, Schnecken, Frösche, Salamander und Schlangen – Lebewesen, die in Bauten, Sandbänken und tiefen Löchern ausgeharrt hatten. Diese kleinen Kreaturen waren daran gewöhnt, sich von Resten zu ernähren und sich in irgendeiner Ecke zu verkriechen; ihre Lebensumstände wurden auch durch den Kometeneinschlag kaum verschlechtert.

Nun rückten sie diesem Riesen auf den Leib, dem letzten der Ungeheuer, die ihre Welt mehr als hundert Millionen Jahre lang dominiert hatten. In den langen Monaten seit dem Einschlag hatten sie sich über eine Welt verbreitet, die wie eine Leichenhalle anmutete. Und dabei hatten viele von ihnen sich eine neue Nahrungsquelle erschlossen: Dinosaurier-Fleisch.

Die Zeiten hatten sich geändert.

Aussterben war ein endgültigerer Vorgang als der Tod.

Im Tod hatte man wenigstens noch den Trost, dass die Nachkommen überlebten und dass man in ihnen weiterlebte. Das Aussterben nahm einem selbst diesen Trost. Aussterben bedeutete nämlich nicht nur das Ende des eigenen Lebens, sondern auch das der Kinder, der Enkelkinder und überhaupt aller Angehörigen der eigenen Art bis zum Ende aller Zeiten; das Leben würde weitergehen, aber nicht für die eigene Art.

So schrecklich es auch war, das Artensterben war ein ganz normaler Vorgang. In der Natur wimmelte es von Arten, die durch Konkurrenz oder Symbiose miteinander verbunden waren und die alle ständig ums Überleben kämpften. Niemand konnte immer nur gewinnen; ein Scheitern war immer möglich, ob durch bloßes Pech, Naturkatastrophen oder das Eindringen eines besser ausgestatteten Konkurrenten, und der Preis des Scheiterns war immer schon das Massensterben gewesen.

Der Kometeneinschlag hatte jedoch ein Massensterben verursacht, und zwar eins der schlimmsten in der langen Geschichte dieses geschundenen Planeten. Der Tod suchte jedes biologische Reich heim, an Land, im Meer und in der Luft. Ganze Arten-Familien, ganze Königreiche verschwanden im Mahlstrom der Katastrophe. Es war eine große biotische Krise.

Und in einer solchen Zeit kam es auch nicht mehr darauf an, wie gut man sich angepasst hatte, wie erfolgreich man vor den Räubern floh oder mit den Nachbarn konkurrierte – weil die Spielregeln sich grundlegend geändert hatten. Bei einem Massensterben zahlte es sich aus, klein, zahlreich und weit verstreut zu sein und eine Versteckmöglichkeit zu haben.

Und was entscheidend war, man musste imstande sein, andere Überlebende zu fressen.

Doch selbst dann hing das Überleben ebenso vom Zufall wie von guten Genen ab: also nicht nur von der Evolution, sondern auch vom Glück. Trotz der geringen Größe und der Fähigkeit, sich zu verstecken, war über die Hälfte der Säugetiere mit den Dinosauriern ausgelöscht worden.

Trotzdem gehörte den Säugetieren die Zukunft.

Das Euoplo war sich nicht einmal bewusst, dass die Beine einknickten. Aber es spürte plötzlich eine feuchte Kälte am Bauch und – weil der Kopf ins Wasser hing – einen salzigen Geschmack im Mund.

Das Tier schloss die Augen, und die gepanzerten Lider blendeten das Licht aus. Der Saurier stieß ein tiefes Brummen aus, ein Geräusch, das andere Exemplare seiner Art noch kilometerweit entfernt gehört hätten, und spuckte die Brühe aus. Dann zog er sich in die knochige Rüstung zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Bald hatte er das Gefühl, den auf den Sand und aufs Wasser prasselnden Regen nicht mehr zu hören und auch nicht das Trippeln der hässlichen kleinen Kreaturen, die um ihn herumschlichen.

Bis zum letzten Moment verspürte er keinen Frieden, nur einen großen reptilienhaften Verlust. Aber er spürte kaum Schmerz, als die spitzen kleinen Zähne sich an die Arbeit machten.

Dieser letzte große Dinosaurier war ein Vorrat an Fleisch und Blut, von dem sich die zänkische Tierhorde eine Woche lang ernährte.

Als schließlich der saure Regen die großen angenagten Rückenplatten des Euoplos schneeweiß verfärbte, begegneten Purga und Letztes einer kleinen Gruppe Primaten. Die meisten waren so alt wie Letztes oder noch jünger; sie waren wahrscheinlich schon nach dem Einschlag geboren worden und hatten nie etwas anderes kennen gelernt als diese desolate Welt. Sie waren mager und wirkten hungrig. Entschlossen. Zwei von ihnen waren Männchen.

Sie rochen merkwürdig und waren nicht einmal entfernt verwandt mit Purgas Familie. Aber sie waren unzweifelhaft Purgatorius. Die Männchen interessierten sich nicht für Purga; ihre Ausdünstungen sagten ihnen, dass sie schon zu alt war, um noch Nachwuchs zu bekommen.

Letztes warf ihrer Mutter einen letzten Blick zu. Und dann lief sie zu den anderen, wo die Männchen sie mit zuckenden Schnurrhaaren beschnüffelten und mit blutigen Schnauzen anstupsten.

Und nach diesem Tag sah Purga ihre Tochter nie wieder.

IV

Einen Monat später erreichte die allein wandernde Purga die Zone mit dem Farnbewuchs.

Mit neuem Mut beseelt lief Purga weiter, so schnell sie konnte. Es waren zwar nur niedrige, kriechpflanzenartige Gewächse, aber die Farnwedel spendeten einen dunkelgrünen Schatten. An der Unterseite sah sie kleine Sporensäcke wie braune Punkte.

Grün in einer rußgeschwärzten und aschfahlen Welt.

Farne waren robuste Pflanzen. Die Sporen waren so zäh, dass sie Feuer widerstanden und so klein, dass sie über große Entfernungen vom Wind verweht wurden. Manchmal entsprossen die neuen Triebe direkt dem überlebenden Wurzelsystem: Schwarzen Kriechwurzeln, die im Gegensatz zu Baumwurzeln unverwüstlich waren. In Zeiten wie diesen, als das Licht langsam zurückkehrte und Photosynthese wieder einsetzte, hatten die Farne kaum Konkurrenz. Inmitten des rußigen Schlamms und Lehms nahm die Welt eine Gestalt an, die sie seit dem Zeitalter des Devon vor vierhundert Millionen Jahren nicht mehr gehabt hatte, als die ersten Pflanzen – darunter auch urtümliche Farne – das Land erobert hatten.

Purga kletterte. Die größten Gewächse bildeten nur eine wenige Zentimeter hohe Plattform über dem Boden, aber sie war auch damit schon sehr zufrieden. Es genügte, um eine Flut von Erinnerungen auszulösen, wie sie über die Äste der großen verschwundenen Wälder der Kreidezeit gehuscht war.

Später grub sie sich ein. Es regnete noch immer, und der Boden war aufgeweicht. Sie grub aber in der Nähe der zähen Farnwurzeln, sodass sie doch noch einen zufrieden stellenden Bau hinbekam. Sie entspannte sich – zum ersten Mal seit dem Einschlag, vielleicht sogar zum ersten Mal, seit das verrückt gewordene Troodon die Hetzjagd auf sie veranstaltet hatte.

Das Leben stellte keine Anforderungen mehr an Purga. Eins ihrer Jungen hatte überlebt und würde sich fortpflanzen. Durch sie würde der Fluss der Gene in eine unbekannte Zukunft weiterströmen. Und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass sie in früheren Zeiten sicher schon einem Räuber zum Opfer gefallen wäre. Es war die große Entleerung der Welt, der sie ihr Leben zu verdanken hatte – ein paar zusätzliche Monate, die sie auf Kosten vieler Milliarden Lebewesen herausgeschunden hatte.

So zufrieden, wie sie überhaupt nur sein konnte, legte sie sich in einem irdenen Kokon schlafen, der noch immer nach der Feuersbrunst roch, die eine ganze Welt verzehrt hatte.

Schnell sich vermehrende, kurzlebige Kreaturen erfüllten den Planeten. Fast die gesamte Population der Erde war in die neue Zeit hineingeboren worden und kannte nichts außer Asche, Dunkelheit und Aas. Während Purga schlief, verkrampften sich ihre Beine, und die Pfoten scharrten auf der Erde. Purga, eins der letzten Geschöpfe auf dem Planeten, die sich noch an die Dinosaurier erinnerten, wurde noch immer von den schrecklichen Echsen verfolgt – zumindest im Traum.

Eines Morgens wachte sie nicht mehr auf, und der kleine Bau wurde zu ihrem Grab.

Bald überzog eine Decke aus Sedimenten, die aus dem Meer sich abgelagert hatten, den riesigen Einschlagkrater. Schließlich versank die geologische Deformation unter einer tausend Meter dicken Kalksteinschicht.

Vom Teufelsschweif selbst blieben nur Spuren zurück. Der Kern war bereits in den ersten Sekunden des Einschlag-Ereignisses zerstört worden. Lang bevor der Himmel über der Erde wieder aufklarte, wurden die letzten Reste der Coma und des spektakulären Schweifs – der ätherische Leib des Kometen, der sozusagen den Kopf verloren hatte – vom Sonnenwind zerblasen und davongetragen.

Dennoch setzte der Komet eine Art Denkmal. Im Grenzlehm würde man nämlich Tektiten finden – Erdbrocken, die in den Weltraum geschleudert und beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zu glasigen tränenförmigen Gebilden geschmolzen worden waren. Weitere Fundstücke waren Fragmente aus Quarz und anderen Mineralien, die von der Einschlagsenergie in seltsame gläserne Formen gepresst worden waren. Es gab Splitter von kristallinem Kohlenstoff, der normalerweise nur tief im Erdinneren vorkam und in diesen paar Sekunden elementarer Gewalt an der Erdoberfläche zusammen gebacken worden war: Kleine Diamanten funkelten in der Asche aus Kreidezeit-Wäldern und Dinosauriern. Es gab sogar Spuren von Aminosäuren. Das waren die komplexen organischen Verbindungen, die einst von den lang verschwundenen Kometen auf die jungfräuliche Erde gebracht worden waren – die Verbindungen, die die Entstehung von Leben auf der Erde überhaupt erst ermöglicht hatten. Es handelte sich in gewisser Weise um ein Wiedergutmachungs-Präsent von einem Besucher, der viel zu spät gekommen war.

Und als die Wolken sich schließlich verzogen und die Temperaturen wieder anstiegen, wurde auch das letzte ›Geschenk‹ des Kometen an die Erde ausgepackt. Riesige Mengen Kohlendioxid, die im Kalkstein des zertrümmerten Meeresbodens gebunden waren, entwichen in die Luft, und es wurde ein verheerender Treibhauseffekt ausgelöst. Die sich regenerierende Vegetation versuchte sich anzupassen. Die ersten Jahrtausende wurden von Sümpfen, Feuchtgebieten und Faulgas-Gebieten geprägt, in denen abgestorbene Vegetation Seen und Flüsse verstopfte. Auf der ganzen Welt entstanden mächtige Kohleflöze.

Durch die Sporen und Samen, die um die Welt geblasen wurden, gelangten schließlich neue Pflanzengemeinschaften zur Blüte.

Allmählich wurde die Erde wieder grün.

In der Zwischenzeit nagte der Zahn der Zeit an Purgas Überresten.

Ein paar Stunden nach ihrem Tod hatten Schmeißfliegen schon Eier in Augen und Mund abgelegt. Und bald ließen Fleischfliegen Larven auf die Haut fallen. Als die Maden sich in den Kadaver fraßen, brachen die Darmbakterien, die ihr ein Leben lang gedient hatten, aus. Die Eingeweide platzten. Der Inhalt ergoss sich über andere Organe, und der Kadaver verflüssigte sich wie ein stinkender Limburger Käse. Das lockte wiederum Fleisch fressende Käfer und Fliegen an.

In den Tagen nach ihrem Tod machten sich fünfhundert Insektenarten über Purgas Kadaver her. Nach einer Woche war nichts mehr von ihr übrig außer Knochen und Zähnen. Auch die DNA-Moleküle vermochten nicht lang zu überdauern. Proteine zerfielen in die ursprünglichen Bausteine, Aminosäuren, die sich wiederum in spiegelbildliche Substanzen aufspalteten.

Bald darauf flutete ein Schwall saures Wasser die kleine Höhle. Purgas Knochen wurden einen halben Kilometer entfernt in einer flachen Mulde abgelagert, zusammen mit den Knochen von Raptoren, Tyrannosauriern, Entenschnäbeln und sogar Troodons. Feinde, die im Tod vereint waren.

Mit der Zeit wurden immer mehr Schlammschichten von Überschwemmungen und über die Ufer tretenden Flüssen abgelagert. Unter dem Druck verwandelten die Schichten aus Schlick sich in Gestein. Und Purgas Knochen wurden in ihrem steinernen Grab auch umgewandelt, als mineralreiches Wasser in jede Pore gepresst wurde und sie mit Kalzit füllte, sodass die Knochen selbst zu Stein wurden.

Die tief begrabene Purga trat eine spektakuläre Reise an, die Jahrmillionen dauerte. Als Kontinente miteinander zusammenstießen, wölbte das Land sich auf und nahm die in ihm eingeschlossenen Passagiere mit wie ein Ozeandampfer, der eine Welle abreitet. Durch Hitze und Druck zerbrach das Gestein und verzog sich. Und die Erosion wirkte, eine unerbittliche zerstörerische Kraft, die die schöpferischen Auffaltungen der Erde austarierte. Im Lauf der Zeit geriet dieses Land zu einer zerklüfteten Landschaft mit Plateaus, Bergen und Wüsten-Bassins.

Schließlich legte die Erosion das Massengrab frei, das Purgas Knochen verschluckt hatte. Das zerbröselnde Gestein brachte versteinerte Knochen ans Licht. Skelettreste wurden an die Oberfläche gehoben und erwachten aus einem sechzig Millionen Jahre währenden Schlaf.

Von Purgas Knochen war nicht mehr allzu viel übrig. Sie waren in geologischen Zeiträumen zu Staub zerfallen. Die gründliche chtonische Konservierung war vergebens. Doch im Jahr 2010 würde ein entfernter Nachkomme von Purga direkt über einer merkwürdigen Schicht aus dunklem Lehm einen geschwärzten Splitter aus einer grauen Felswand ziehen und ihn sofort identifizieren – als einen winzigen Zahn.

Dieser Moment lag aber noch weit in der Zukunft.

KAPITEL 4 Der leere Wald Texas, Nordamerika, vor ca. 63 Millionen Jahren

Plesi kletterte durch den endlosen Wald. Das eichhörnchenartige Wesen erklomm einen schuppigen Baumstamm und huschte über einen dicken Ast. Obwohl die Sonne fast im Zenit stand, herrschten hier schlechte und diffuse Lichtverhältnisse. Das Blätterdach war hoch über ihr, und die grüne Schicht des Bodens tief unter ihr. Im Wald war es still außer dem Rascheln der Blätter in der warmen Brise und den Rufen der Vögel, den farbenprächtigen Verwandten der verschwundenen Dinosaurier.

Es war ein Welten-Wald. Und er gehörte den Säugetieren – einschließlich Primaten wie Plesi.

Sie schaute den Ast zurück. Da waren ihre beiden Jungen, die sie als Stark und Schwach einordnete. Sie waren etwa halb so groß wie Plesi und klammerten sich an den Übergang zwischen Baum und Ast. Selbst jetzt schubste Stark Schwach unmerklich zur Seite. Bei manchen Spezies hätte man das kümmerliche Schwache vielleicht sterben lassen. Plesis Art bekam aber nur wenige Junge, und in einer unsicheren und gefährlichen Welt mussten alle fürsorglich behandelt werden.

Jedoch vermochte Plesi ihre Jungen nicht für immer zu beschützen. Sie waren beide schon entwöhnt. Sie hatten wohl schon gelernt, sich von den Früchten und Insekten zu ernähren, die diesen ihren Geburtsbaum bevölkerten, aber das genügte nicht – sie mussten in den Wald ausschwärmen und Nahrung suchen.

Und dazu mussten sie springen lernen.

Plesi kratzte an der schorfigen Rinde des Asts, spannte den Körper an und sprang.

Plesi war ein Plesiadapide und gehörte einer Spezies an, die eines Tages als Carpolestide bezeichnet werden würde. Plesi hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Urahnin, Purga. Wie Purga hatte sie das Erscheinungsbild eines kleinen Eichhörnchens, mit einem schlanken Körper wie eine Ratte und einem buschigen Schwanz. Obwohl sie schon ein echter Primat war, hatte Plesi noch Purgas Krallen statt Fingernägeln, die Augen waren noch nicht nach vorn gerichtet und das Gehirn hatte sich auch kaum weiterentwickelt. Sie hatte auch noch die großen Nachtsicht-Augen, die Purga in der Zeit der Dinosaurier so gut gedient hatten.

Die signifikanteste Entwicklung des Primaten-Körpers seit Purgas Zeiten betraf die Zähne; Plesi gehörte einer auf Hülsenfrüchte spezialisierten Spezies an, aus der viel später die australischen Possums hervorgehen sollten. Das war ein notwendiger Schritt, ohne den die Primaten nichts zu beißen gehabt hätten. Die wenigsten Tiere dieser Zeit ernährten sich von Blättern. In einer einheitlichen Welt, wo die tropischen und subtropischen Wälder sich weit zu beiden Seiten des Äquators ausbreiteten, gab es kaum eine jahreszeitliche Abwechslung. Hier in Texas verloren die Bäume auch nicht regelmäßig ihr Laub. Außerdem deponierten die Bäume Giftstoffe und Chemikalien im Laub, sodass die Blätter für neugierige Säugetierzungen bitter schmeckten oder ganz ungenießbar waren.

Insgesamt hatte die Primaten-Linie seit Purga wenig Innovation erfahren, obwohl bereits zwei Millionen Jahre vergangen waren. Das gleiche galt für andere Abstammungs-Linien. Noch lang nach dem großen Einschlag hatte es den Anschein, dass die geleerte Welt vom Schock wie gelähmt war.

Plesi landete ohne Schwierigkeiten auf dem Ziel-Ast.

Die beiden Jungen schmiegten sich noch immer zögernd an den Baumstamm und stießen ein klägliches Baby-Wimmern aus. Obwohl die Rufe ihr ans Herz gingen, hob Plesi nur den Kopf und zuckte mit der Schnauze. Sie versuchte die Jungen zu locken, indem sie die Früchte anknabberte, mit denen dieser neue Baum reichlich versehen war.

Schließlich reagierten die Jungen. Zu Plesis Erstaunen war es das Kleine, Schwach, das zuerst kam. Es krabbelte unsicher und zögerlich zum Ende des Asts, hielt aber gut das Gleichgewicht. Nun hob es den Schwanz und spannte die Muskeln an – und zog sich im nächsten Moment unschlüssig zurück und putzte sich erst einmal das Gesichtsfell. Dann sprang es aber doch.

Das Junge war etwas zu weit gesprungen. Taumelnd fiel es herab und prallte gegen seine Mutter. Plesi zischte ärgerlich. Aber sie hielt sich mit den beweglichen Händen und Füßen an der Rinde fest und sicherte sich. Zitternd schlich Schwach zu seiner Mutter, vergrub das Gesicht in ihrem Bauchfell und suchte nach einer Zitze, die aber schon trocken war. Plesi ließ das Junge saugen und belohnte es damit für seinen Mut.

Und dann sah sie eine schemenhafte Bewegung vom anderen Baum. Das zurückgebliebene Stark machte plötzlich einen Satz und rutschte dabei mit den Füßchen auf der Rinde aus. Und dann sprang es in die Luft, ohne das Ziel richtig anzupeilen und ohne mithilfe der angeborenen Fähigkeit die Entfernung zu schätzen.

Angst keimte in Plesi auf.

Stark erreichte den Ast, kam aber zu hart auf und rutschte sofort wieder ab. Für einen Moment hing das Junge da, kratzte mit den kleinen Händen nutzlos an der Rinde und schlegelte mit den Hinterläufen. Und dann stürzte es ab.

Plesi sah, wie es zuckend hinab fiel. Der weiße Bauch zeigte nach oben, und Hände und Füße griffen ins Leere. Stark stieß den piepsenden Schrei eines verängstigten Babys aus. Dann fiel es auf die Blätter und war im nächsten Moment verschwunden – verschwunden im Grün des Bodens, das alle Toten des Waldes verschluckte.

Plesi klammerte sich zitternd an den Ast. Es war so schnell passiert. Ein Junges verloren, ein kümmerlicher Schwächling übrig. Es war kaum zum Aushalten. Sie zischte das bedrohliche Grün wütend an.

Und dann kletterte Plesi zum Grün, zum Boden hinunter. Schwach, die sich ängstlich an den Baumstamm klammerte, ließ sie zurück.

Schließlich erreichte sie die untersten Äste und schaute hinab auf eine Oase aus Licht.

Dies war eine der wenigen Lichtungen des endlosen Waldes. Innerhalb der letzten Monate war ein großer, von innen ausgehöhlter Laubbaum vom Blitz gefällt worden. Als er umkippte, hatte er eine Schneise ins dichte Blattwerk geschlagen. Diese Lichtung würde nicht lang Bestand haben. Doch fürs Erste nutzten die Unterholz-Pflanzen wie diese robusten Überlebenden, die Bodenfarne, die Gelegenheit zur Verbreitung. Der Waldboden war hier ungewöhnlich üppig und grün. Und schon sprossen Schösslinge und starteten ein gnadenloses ›Pflanzen-Rennen‹, bei dem es darum ging, den anderen das Licht zu nehmen und das Loch im Blätterdach zu schließen.

Der Wald war ein seltsam statischer Ort. Die großen Laubbäume wetteiferten miteinander, so viel Sonnenlicht wie möglich einzufangen. Im Dämmerlicht der unteren Ebenen war das Licht zu schwach, um Wachstum zu unterstützen, und der Boden war mit toter pflanzlicher Materie und den Knochen von Getier und Vögeln übersät, die das Pech gehabt hatten, abzustürzen. Unter dem stummen Boden harrten indes Samen und Sporen aus und warteten Jahrhunderte, notfalls auch Jahrtausende, bis der Tag kam, da der Zufall eine Bresche ins Blätterdach schlug und das Rennen ums Leben von neuem begann.

Plesi rutschte an einer Luftwurzel hinab und erreichte den Boden. Unter den breiten Wedeln eines Bodenfarns huschte sie unbehaglich über einen direkt von der Sonne beschienen Abschnitt. Der feste Boden, der weder nachgab noch schwankte, mutete sie sehr seltsam an – so ungewohnt wie die Erschütterungen eines Erdbebens auf einen Menschen gewirkt hätten.

Es gab noch weitere Tiere auf dieser Lichtung, die von der Aussicht auf Nahrung angelockt worden waren. Da waren Frösche, Lurche und sogar ein paar Vögel, die als bunte Schwärme durch die Luft stoben und nach Insekten und Samen Ausschau hielten.

Und es gab Säugetiere.

Darunter waren Geschöpfe wie Waschbären, die aber enger mit den behuften Tieren der Zukunft verwandt waren, und flinke Insektenfresser, deren Nachfahren Mäuse und Igel umfassen würden. Und da war ein Taeniodont, der wie ein kleiner dicker Wombat aussah. Es wühlte im Boden und grub Wurzeln und Knollen aus. Keins der kleinen Geschöpfe auf dieser Lichtung wäre einem menschlichen Beobachter bekannt vorgekommen. Sie waren scheu, eigenartig, hässlich und legten ein fast reptilienartiges Verhalten an den Tag. Sie schauten laufend über die Schulter wie Gelegenheitsdiebe, die jeden Moment mit der Rückkehr des Hausherrn rechneten.

Diese Säugetiere hatten sich aus der Kreidezeit herübergerettet. Damals hatte die Erde den Eindruck einer einzigen Stadt erweckt, die nur an den Bedürfnissen ihrer Besitzer, den Dinosauriern ausgerichtet war. Doch nun waren die Herren verschwunden, die Infrastruktur vernichtet, und die einzigen Überlebenden waren die urbanen Spezies, die in der Kanalisation gehaust und sich von Abfällen ernährt hatten.

Die zu neuem Leben erwachte Erde unterschied sich aber grundlegend von der idyllischen Kreidezeit. Die neuen Wälder der Erde waren viel dichter. Es gab keine großen Pflanzenfresser mehr: Die Sauropoden waren verschwunden, und das Erscheinen der Elefanten lag noch weit in der Zukunft. Es gab keine Tiere mehr, die groß genug waren, um Bäume zu fällen, Lichtungen und Schneisen zu schlagen und parkartige Savannen zu schaffen. Nun spross die Vegetation umso üppiger und verwandelte die Welt in einen botanischen Garten, wie man ihn nicht gesehen hatte, seit die ersten Tiere an Land gekommen waren.

Aber es war eine seltsam leere Bühne. In diesen dichten Urwäldern lebten keine räuberischen Dinosaurier mehr, aber auch noch keine Jaguare, Leoparden oder Tiger. Praktisch alle Bewohner des Waldes waren kleine, auf Bäumen lebende Säugetiere wie Plesi. Für eine außergewöhnlich lange Zeit – für Jahrmillionen – würden die Tiere noch an ihren Kreidezeit-Lebensgewohnheiten festhalten, und wesentlich größer würde auch keine Säugetier-Spezies werden. Sie begnügten sich noch immer mit der Dunkelheit und den Nischen der leeren Welt, fingen Insekten und enthielten sich aller evolutionären Neuerungen, die über ein neues Gebiss hinausgingen.

Wie zu langen Haftstrafen verurteilte Gefängnisinsassen wurden auch die Überlebenden institutionalisiert. Obwohl die Dinosaurier längst verschwunden waren, fiel es den Säugetieren schwer, Verhaltensweisen zu ändern, die sie sich in hundertfünfzig Millionen Jahren als ›Underdogs‹ angewöhnt hatten.

Dennoch fanden Veränderungen statt.

Schließlich hörte Plesi das leise Winseln ihres Babys.

Am Rand der Lichtung hatte Stark sich in einer Art Nest aus bräunlich verfärbten Wedeln zusammengekauert. Nachdem er vom Baum gefallen und auf die Lichtung gestürzt war, hatte er wenigstens die Geistesgegenwart besessen, in Deckung zu gehen. In Sicherheit war er deshalb aber noch lange nicht: Ein großer rotbäuchiger Frosch beobachtete ihn mit einer gewissen Neugier in den leeren Augen. Als er Plesi sah, machte Stark einen Satz und rannte zu seiner Mutter. Er suchte nach Plesis Zitzen, doch Plesi schnappte nach ihm und verweigerte ihm diesen Trost.

Plesi war zutiefst beunruhigt. Ein Carpolestid, der sich im Nest zu behaupten vermochte, aber keinen Instinkt für den Baum hatte – und der sich nicht einmal ruhig verhielt, wenn er exponiert war –, hatte schlechte Überlebensaussichten. Plötzlich wirkte Stark gar nicht mehr so stark. Plesi verspürte einen seltsamen Impuls, sich einen Gefährten zu suchen und sich noch einmal zu paaren. Doch fürs Erste biss sie Stark nur mit dem kräftigen Schneidezahn in die Seite und ging zum Baum zurück, von dem sie herabgestiegen war.

Aber sie hatte erst ein paar Körperlängen zurückgelegt, als sie erstarrte.

Die ausdruckslosen Augen des Räubers fixierten Plesi mit tödlicher Berechnung.

Der Räuber war ein Oxyclacnus. Er war ein schlankes Pelztier mit vier Beinen. Mit dem langen Körper und den kräftigen Beinen sah er aus wie ein zu groß geratenes Wiesel, obwohl Kopf und Schnauze eher an einen Bären erinnerten. Aber er war weder mit dem Wiesel noch mit dem Bären verwandt. Vielmehr handelte es sich um einen Ungulaten, einen frühen Angehörigen der großen Familie, die eines Tages behufte Säugetiere wie Schweine, Elefanten, Pferde, Kamele und sogar die Wale und Delphine umfassen würde.

Dieser Oxy wirkte plump, träge und sogar unfertig für ein Auge, das an Leoparden und Wölfe gewöhnt war. Aber diese Art hatte gelernt, sich durchs spärliche Unterholz des endlosen Waldes an Beute anzupirschen. Er vermochte sogar zu klettern und die Beute bis auf die unteren Äste der Bäume zu verfolgen. In dieser urtümlichen Zeit hatte der Oxy kaum Konkurrenz.

Und während er Plesi betrachtete, die sich furchtsam auf den Boden gepresst hatte, wurde der Oxy von zwei pragmatischen Fragen umgetrieben: Wie erwische ich dich? und Wie gut wirst du mir schmecken?

Plesi lag flach auf dem Boden. Sie zitterte, die Schnurrhaare zuckten, und die kleinen spitzen Zähne waren gebleckt. Aber sie war mit Instinkten ausgestattet, die über hundert Millionen Jahre zu Füßen der Saurier einen Feinschliff erfahren hatten. Und sie führte eine nüchterne Neueinschätzung des Risikos durch. Hier im Freien würde sie kein Versteck finden. Es würde ihr nicht gelingen, sich auf einen Baum zu flüchten und dem Zugriff des Oxys zu entziehen. Und wenn sie vor ihm zu fliehen versuchte, würde er sie leicht mit einer dieser schrecklichen Klauen aufspießen.

Sie hatte nur eine Möglichkeit.

Sie machte einen Buckel, riss den Mund auf und zischte so heftig, dass sie den Oxy mit Speichel besprühte.

Der Oxy wich bei der unerwartet aggressiven Reaktion dieser kleinen Kreatur zurück. Aber sie stellt doch keine Gefahr dar. Der zornige Oxy fasste sich wieder und wollte es Plesi heimzahlen.

Doch Plesi war schon im Unterholz verschwunden. Sie hatte nie vorgehabt, den Oxy anzugreifen; es war ihr nur darum gegangen, Zeit zu schinden. Und sie hatte Stark zurückgelassen.

Der junge Carpolestide presste sich unter dem geradezu hypnotischen Blick des Fleischfressers auf den Boden. Der Oxy versetzte Stark mit der Pfote einen Hieb und brach dem jungen Primaten das Rückgrat. Stark wurde von Schmerz durchflutet, wandte sich gegen den Angreifer und versuchte ihm die Zähne ins Fleisch zu schlagen. Im letzten Moment verspürte Stark so etwas wie Mut. Aber das half ihm nichts mehr.

Der Oxy spielte noch eine Weile mit dem verkrüppelten Jungtier. Dann fraß er es auf.

In dem Maß, wie die Welt sich erholte, prägten die sich verändernden Bedingungen ihre Bewohner.

Die Säugetiere experimentierten mit neuen Rollen. Die Vorfahren der heutigen Fleischfresser, zu denen auch Hunde und Katzen gehören, waren kleine, wieselähnliche Tiere und flinke, opportunistische Allesfresser. Aber beim Oxyclacnus zeichnete sich bereits die Spezialisierung der späteren Säugetier-Räuber ab: senkrechte Beine für hohe Ausdauer und starke permanente Zähne, die durch doppelte Wurzeln verankert und mit Höckern verbunden waren, um Fleisch zu zerkleinern.

Das alles war Teil eines uralten Musters.

Alle Lebewesen versuchten am Leben zu bleiben. Sie nahmen Nahrung zu sich, heilten sich selbst, wuchsen heran und mieden Räuber.

Doch kein Organismus lebte für immer. Die einzige Möglichkeit, dem Tod zu entgehen, war Fortpflanzung. Durch Fortpflanzung gab man genetische Informationen über sich an seine Nachkommen weiter.

Aber kein Nachkomme war mit seinen Eltern identisch. Jede Spezies enthielt in jedem Moment ein großes Potential der Variation. Jedoch mussten alle Organismen in einem Rahmen der Habitabilität existieren, der ihnen von der Umwelt vorgegeben wurde – eine Umwelt aus Wetter, Terrain und anderen Lebewesen, die sie ihrerseits prägten. Während mit unerbittlicher Härte ums Überleben gekämpft wurde, wurde der Umwelt-Rahmen ausgefüllt: Jede lebensfähige Variation einer Spezies, die einen Platz zum Überleben zu ergattern vermochte, wurde ausgeprägt.

Raum war aber knapp. Und der Wettbewerb um diesen Raum war unerbittlich und endlos. Es wurden mehr Nachkommen geboren, als zu überleben vermochten. Der Existenzkampf war gnadenlos. Die Verlierer wurden durch Hunger, Räuber und Krankheiten ausgemerzt. Diejenigen, die etwas besser an ihre Nische in der Umwelt angepasst waren als andere, hatten eine dementsprechend bessere Chance, den Kampf ums Überleben zu gewinnen – und die genetischen Informationen über sich an folgende Generationen weiterzugeben.

Aber die Umwelt war auch Veränderungen unterworfen, wenn das Klima sich änderte und Kontinente zusammenstießen. Dann vermischten die Arten sich über Landbrücken und wurden mit neuen Nachbarn konfrontiert. In dem Maß, wie die klimatischen Bedingungen und Lebensumstände sich änderten, änderten sich auch die Anforderungen an die Anpassung. Das Auswahlprinzip an sich verlor aber nicht seine Gültigkeit.

So vollzogen die Populationen der Organismen die Veränderungen der Welt von Generation zu Generation nach. Alle Variationen einer Art, die sich in den neuen Rahmen integrierten, wurden ausgewählt, und alle anderen, die nicht mehr lebensfähig waren, wurden der Nachwelt als Fossilien erhalten oder verschwanden spurlos. Unzählige solcher Wendepunkte markieren die Erdzeitalter. Solang die ›erforderliche‹ Variation noch innerhalb der genetischen Variabilität lag, änderten die Populationen sich unter Umständen schnell – genauso schnell, wie menschliche Züchter domestizierter Tiere und Pflanzen Änderungen vornehmen, um ihre Vorstellungen von Vollkommenheit in den ihnen unterworfenen Geschöpfen zu verwirklichen. Wenn die verfügbare Variation jedoch ausgeschöpft war, blieben die Veränderungen aus. Bis eine neue Mutation stattfand, die durch ein zufälliges Ereignis verursacht wurde, vielleicht durch Strahlungseinwirkung, und neue Möglichkeiten der Variation eröffnete.

Das war Evolution. Im Grunde war es ganz einfach: ein simples Prinzip, das auf genauso simplen, offensichtlichen Gesetzen beruhte. Aber es prägte jede Art, die jemals die Erde bevölkerte – von der Entstehung des Lebens bis zur endgültigen Auslöschung, die in ferner Zukunft unter einer aufgeblähten Sonne stattfinden würde.

Und es wirkte auch jetzt.

Es war hart.

So war das Leben.

Plesi hatte mit dem Oxy eine stillschweigende Vereinbarung getroffen. Nimm mein Kind. Verschone mich. Auch als sie durch die grüne Hölle huschte, sich in die Sicherheit der Bäume flüchtete und nach ihrer überlebenden Tochter suchte, hallte dieses Stratagem noch in ihrem Bewusstsein nach.

Das und ein Gefühl, das aus dem tiefsten Innern emporstieg – ein Gedanke, den sie vielleicht so formuliert hätte: Ich hatte immer gewusst, es war zu schön, um wahr zu sein. Die Zähne und Klauen waren nicht verschwunden. Sie hatten sich nur versteckt. Ich hatte immer gewusst, dass sie zurückkommen würden.

Sie hatte den richtigen Instinkt. Zwei Millionen Jahre nach dem brüchigen, durch den Tod der Dinosaurier bedingten Waffenstillstand fielen die Säugetiere nun übereinander her.

In jener Nacht sah Schwach, die selbst verwirrt und verängstigt war, wie ihre Mutter im Schlaf zuckte und knurrte.

KAPITEL 5 Die Zeit der langen Schatten Ellesmere Island, Nordamerika, vor ca. 51 Millionen Jahren

I

Es gab weder einen richtigen Morgen in diesen langen Tagen des Arktischen Sommers noch eine richtige Nacht. Doch als die Wolken sich vorm Antlitz der aufgehenden Sonne verzogen und Licht und Wärme durch die großen Blätter der Bäume drang, wallten Nebel vom sumpfigen Waldboden auf. Ein Geruch nach überreifen Früchten, verrottenden Pflanzen und dem feuchten Fell seiner Familie stieg in Noths feine Nase.

Es fühlte sich an wie ein Morgen, wie ein Neubeginn. Eine wohltuende Energie erfüllte Noths jungen Körper.

Er faltete die kräftigen Hinterbeine unter sich zusammen und stellte den dicken Schwanz auf. Dann huschte er über den Ast zu seiner Familie – zu Vater, Mutter und den neuen Zwillingsschwestern. Die versammelte Familie kämmte sich behaglich. Mit den geschickten Fingern der kleinen schwarzen Hände kämmten sie durchs Fell und befreiten es von Rindenstücken und Resten getrockneten Babykots und von ein paar parasitischen Insekten, die einen leckeren, blutig-saftigen Imbiss abgaben.

Vielleicht war es das aufkommende Licht, das den Gesang inspirierte.

Es begann weit entfernt. Ein trällernder Kanon aus den Stimmen eines Männchens und Weibchens, wahrscheinlich nur eines einzelnen Pärchens. Doch bald fielen mehr Stimmen in das Duett ein und schwollen zu einem Chor aus Jubelrufen an, die das ursprüngliche Thema mit Kontrapunkten und Harmonien anreicherten.

Noth lief zum Ende des Asts, um besser zu hören. Er lugte durch Vorhänge aus großen Blättern, die wie kleine Sonnenschirme sich nach Süden, der Sonne entgegen ausgerichtet hatten. Man vermochte weit zu blicken. Der den Pol umspannende Wald war licht, und die Bäume – Zypressen und Birken – standen weit genug auseinander, dass die Blätter das Licht der tief stehenden arktischen Sonne einzufangen vermochten. Auf den zahlreichen großen Lichtungen ästen plumpe, am Boden lebende Pflanzenfresser. Noths Augen stachen groß aus der Maske aus schwarzem Fell – wie die Augen seiner Ur-Ur-Ur-Ahnin Purga ermöglichten sie ihm eine gute Nachtsicht, wurden aber im Tageslicht leicht geblendet.

Die Botschaft des Lieds war einfach: Wir sind wir! Wenn du nicht zu uns gehörst, bleib weg, denn wir sind viele und stark! Wenn du zu uns gehörst, komm heim, komm heim! Die Ausdrucksform des Lieds ging aber noch über den reinen Nutzwert hinaus. Das meiste war zwar wahllos und dissonant wie Katzenmusik. In Teilen war es aber auch eine spontane vokale Symphonie, die für Minuten anhielt und Passagen von außergewöhnlicher harmonischer Reinheit enthielt, die Noth verzauberten.

Er hob den Kopf und rief.

Noth war eine Primatenart mit der späteren Bezeichnung Notharctus und gehörte zu einer Klasse namens Adapiden, die von den Plesiapiden der ersten Jahrtausende nach dem Kometen abstammte. Er hatte mit seiner hohen konischen Brust, seinen langen starken Beinen und den vergleichsweise kurzen Armen mit schwarzen Greifhänden Ähnlichkeit mit einem kleinen Lemuren. Der kleine Kopf hatte eine Schnauze und aufgestellte Ohren. Und er war mit einem langen, kräftigen Schwanz ausgestattet, der auch als Fettspeicher für den Winterschlaf diente. Er war nicht viel älter als ein Jahr.

Noths Gehirn war beträchtlich größer als das von Plesi und Purga, und dementsprechend vielgestaltiger war auch seine Interaktion mit der Welt. Es gab mehr in Noths Leben als nur die Grundbedürfnisse von Sex und Nahrung und das Gefühl von Schmerz; es gab Platz für so etwas wie Freude. Und es war Freude, die er in seinem Lied ausdrückte. Seine Eltern stimmten schnell ein. Sogar Noths kleine Schwestern versuchten sich im Singen, und ihre winselnden Stimmchen verschmolzen mit den Rufen der Erwachsenen.

Es war Mittag, und die Sonne hatte den Zenit erreicht. Dennoch stand sie tief am Himmel. Säulen aus trübem, grün gefiltertem Licht stachen durch die Bäume und wurden vom dichten warmen Dunst gestreut, der aus dem dampfenden Kompost am Boden stieg. Die Baumstämme warfen Schatten auf den Waldboden.

Das war Ellesmere, der nördlichste Teil Nordamerikas. Die Sommersonne ging niemals unter. Überm Horizont hängend zog sie endlose Kreise und tauchte die breiten Blätter der Koniferen in ihr Licht. Dies war ein Ort, an dem die Schatten immer lang waren, sogar im Hochsommer. Der um den Pol der Erde sich ziehende Wald hatte die Aura einer riesigen Baum-Kathedrale, als ob die Blätter Splitter von Kirchenfenstern wären.

Und überall hallten die Stimmen der Adapiden.

Durch den Gesang ermutigt kletterten die Adapiden die Äste zum Boden hinab.

Noth ernährte sich zwar hauptsächlich von Früchten. Doch nun stieß er auf einen dicken, juwelenartigen Käfer. Der schöne, blau-grün schillernde Panzer knackte, als er hineinbiss. Unterwegs folgte er den Duftmarken seiner Art: Ich bin hier entlang gekommen. Dieser Weg ist sicher… Hier habe ich Gefahr gesehen. Zähne! Zähne!… Ich gehöre zu dieser Sippe. Bruder, nimm diesen Weg. Fremder, halte dich fern…Ich bin ein Weibchen. Folge dieser Spur, um mich zu finden… Bei dieser letzten Botschaft verspürte Noth ein seltsames Ziehen in der Lendengegend. Er hatte Duftdrüsen an den Handgelenken und in den Achselhöhlen. Mit den Handgelenken fuhr er sich durch die Achselhöhlen und strich dann mit den Unterarmen über den Baumstamm. Mit den Knochenspornen an den Handgelenken ›ritzte‹ er den Duft ein und hinterließ eine unverwechselbare gekrümmte Markierung in der Rinde. Die weibliche Duftmarke war schon alt, denn die kurze Paarungszeit war längst vorbei. Aber der Instinkt sagte ihm, die Markierung mit seiner eigenen ›Multimedia‹-Signatur zu überschreiben, damit kein anderes Männchen auf die Fährte des Weibchens gelockt wurde.

Vierzehn Millionen Jahre nach dem Kometen wies Noth noch immer körperliche Merkmale der nachtaktiven Vorfahren auf, wozu auch die Duftmarkierung gehörte. Er hatte noch keine Zehennägel wie ein Affe, sondern Krallen wie ein Lemure. Er hatte große, aufmerksame Augen und wie Purga Schnurrhaare, um den Weg zu ertasten. Außerdem besaß er ein ausgezeichnetes Gehör, einen guten Geruchssinn und Ohren, die er wie Radarschüsseln schwenkte. Jedoch hatten Noths Augen trotz der Größe und guten Nachtsichtfähigkeit nicht mehr die optimale Anpassung nachtaktiver Tiere: ein Tapetum, eine gelbe reflektierende Schicht im Auge. Die Nase war immer noch empfindlich, aber trocken. Die pelzige und bewegliche Oberlippe verlieh dem Gesicht eine größere Ausdrucksstärke als den früheren Adapiden-Spezies. Und die affenartigen Zähne hatten nicht mehr den Kamm-Zahn – einen speziellen Zahn für die Fellpflege – der Vorfahren.

Wie jede Spezies in der langen evolutionären Linie, die von Purga in die unvorstellbare Zukunft geführt hatte, war auch Noths Spezies eine Art im Übergang – sie war mit den Relikten der Vergangenheit beladen und leuchtete zugleich im Versprechen der Zukunft.

Aber sein Körper und Geist waren gesund und perfekt an die Welt angepasst. Und heute war er so glücklich, wie es ihm nur möglich war.

In den Wipfeln über ihm kümmerte Noths Mutter sich um eins ihrer Jungen.

Sie stellte sich ihre beiden überlebenden Töchter als Links und Rechts vor, denn die eine bevorzugte die Milch aus der Zitzenreihe an der linken Seite; und die andere – die kleiner und schwächer war – musste sich mit der rechten begnügen. Die Notharctus hatten in der Regel große Würfe, und die Mütter hatten viele Zitzen, um den Wurf zu säugen. Noths Mutter hatte Vierlinge geboren. Ein Junges war jedoch von einem Vogel ergriffen worden, und ein anderes schwaches Baby hatte sich eine Infektion zugezogen und war daran gestorben. Seine Mutter hatte es bald vergessen.

Nun hob sie Rechts auf und schob sie gegen den Baum, an dem das Junge sich festhielt. Das solcherart ›geparkte‹ Baby, dessen braunes Fell mit dem Hintergrund der Baumrinde verschmolz, würde hier warten, bis seine Mutter zurückkam und es säugte. Es vermochte stundenlang reglos auszuharren.

Das war eine Art des Schutzes. Die Notharctus lebten tief genug im Wald, um vor herabstoßenden Raubvögeln sicher zu sein, aber das Junge war von den hiesigen, am Boden lebenden Räubern bedroht – hauptsächlich von den Miacoiden. Die hässlichen wieselgroßen Tiere drangen hin und wieder in Bauten ein und waren Aasfresser, die sich über die Beute anderer Räuber hermachten. Die Miacoiden waren eine scheußliche Art und zugleich die Vorfahren der Großkatzen, Wölfe und Bären späterer Zeiten. Und sie vermochten auf Bäume zu klettern.

Nun bewegte die fürsorgliche Mutter sich auf dem Ast entlang und suchte nach einem halbwegs sicheren Ort, an dem sie Links zurückzulassen vermochte. Aber das stärkere Kind fühlte sich ganz wohl, wo es war, und klammerte sich am Bauchfell der Mutter fest. Nachdem sie ein paar Mal versucht hatte, das Kind mit sanfter Gewalt von sich zu lösen, gab sie es auf. Mit dem warmen Gewicht ihrer Tochter beladen stieg es über eine Leiter aus Ästen zum Boden hinab.

Währenddessen streifte Noth auf allen vieren über die dicke Schicht aus verrottendem Laub.

Die hiesigen Bäume waren Laubbäume. Jeden Herbst warfen sie die großen, geäderten Blätter ab, die den Boden mit einer Schicht Biomasse bedeckten. Die Matte, auf der Noth ging, bestand überwiegend aus dem Laub des letzten Herbsts, das in der Winterkälte gefroren war, ehe es zu vermodern vermochte. Doch nun wurden die Blätter schnell kompostiert, und kleine Fliegen schwirrten durch die diesige Luft. Es gab auch Schmetterlinge, deren bunte Flügel als huschende Farbkleckse mit dem schmutzigen Boden kontrastierten.

Noth war auf Nahrungssuche. Er bewegte sich langsam und war sich der Gefahr bewusst. Er war nicht allein hier.

Zwei dicke Taeniodonten zogen Furchen durch den Boden; die Gesichter hatten sie in den vermodernden Blättern vergraben. Sie sahen wie Wombats aus und benutzten die kräftigen Vorderbeine, um auf der Suche nach Wurzeln und Knollen im Schmutz zu wühlen. Sie wurden von einem Jungen gefolgt, einem tapsigen Bündel, das fortwährend gegen die Beine der Eltern stieß und sich durch die dicke Laubschicht kämpfte. Ein Paläonodont stocherte mit der langen Ameisenbären-Schnauze nach Ameisen und Käfern. Und hier war ein einzelnes Barylambda, ein plumpes Geschöpf wie ein Faultier mit muskulösen Beinen und einem kurzen spitzen Schwanz. Diese Kreatur, die missmutig im Dreck wühlte, hatte die Größe einer Dänischen Dogge. Ihre Verwandten im offenen Land erreichten jedoch die Größe von Bisons und zählten zu den größten Tieren ihrer Zeit.

In einer Ecke der Lichtung machte Noth die langsame Bewegung eines Primaten aus, der einer anderen Adapiden-Art angehörte. Aber er hatte keine Ähnlichkeit mit Noth. Wie die Herrscher des Tierreichs späterer Zeiten sah auch diese träge Kreatur eher aus wie ein tapsiges Bärenjunges als ein Primat. Sie bewegte sich fast geräuschlos durch den Kompost und schnüffelte am Boden. Dieser Adapide hielt sich generell tiefer im Wald auf, wo seine Langsamkeit kein so großes Handicap war wie im freieren Gelände. Hier war er mit den langsamen und lautlosen Bewegungen fast unsichtbar für Räuber – und für die Insekten, die seine Beute waren.

Noth rümpfte die Nase. Dieser Adapide setzte Duftmarken mit Urin; bei jedem Streifzug durch sein Revier urinierte er gründlich auf Hände und Füße, um seine Signatur zu hinterlassen. Mit dem Ergebnis, dass es für Noths feine Nase übel stank.

Noth fand einen umgestürzten Bienenstock und nahm ihn ebenso neugierig wie vorsichtig in Augenschein. Bienenstöcke waren eine relativ neue Erscheinung – Teil einer Explosion von Schmetterlingen, Käfern und anderen Insekten. Der Stock war leer, aber er enthielt noch reichlich Honig.

Doch bevor er sich am Honig labte, stellte Noth die Lauscher auf und sog schnüffelnd die Luft ein. Seine Nase sagte ihm, dass die anderen noch hoch in den Bäumen und weit weg waren. Er müsste in der Lage sein, die Leckerei zu verspeisen, bevor sie ihn erreichten. Aber er dürfte es nicht. Das galt es zu berücksichtigen.

Noth nahm unter den Männchen seiner Gruppe einen niederen Rang ein. Von Noth wurde erwartet, dass er es den anderen meldete, wenn er Nahrung gefunden hatte. Dann würden die anderen Männchen und Weibchen kommen, sich am Honig gütlich tun und – wenn Noth Glück hatte – ihm etwas übriglassen. Wenn er nichts von sich hören ließ und mit dem Honig erwischt wurde, würde man ihn verprügeln und das restliche Futter wegnehmen, sodass er gar nichts mehr hätte. Andererseits, wenn er nicht erwischt wurde, könnte er den ganzen Honig schlabbern und entginge auch einer Bestrafung…

Die Entscheidung war getroffen. Er griff mit beiden Händen in den Honig und leckte ihn hastig ab, wobei er zugleich Ausschau nach den anderen hielt. Als seine Mutter den Boden erreichte, hatte er den Honig bereits verspeist und sich die Schnauze abgewischt.

Das Junge, Links, klammerte sich noch immer an ihren Bauch. Sie scharrte auf dem Boden und hatte den mit Fett gefüllten Schwanz nach hinten gestreckt. Ihre Silhouette zeichnete sich gegen die hellen Lichtbahnen ab, die die oberen Etagen des Waldes durchstachen. Noth machte sich einen Spaß daraus, nach dem Honig zu greifen, doch seine Mutter stieß ihn weg und machte sich selbst darüber her.

Inzwischen war auch Noths Vater aufgetaucht und wollte an dem Schmaus teilhaben, doch seine Gefährtin drehte ihm den Rücken zu. Und dann kamen zwei Tanten von Noth, Schwestern seiner Mutter. Sie schlugen sich sofort auf die Seite ihrer Schwester und vertrieben Noths Vater mit Gekreisch, gebleckten Zähnen und Blättern, mit denen sie ihn bewarfen. Eine riss ihm sogar ein Stück Honigwabe aus der Hand. Noths Vater setzte sich zwar zur Wehr, aber wie die meisten Männchen war er kleiner als die Weibchen und stand auf verlorenem Posten.

So war das eben. Die Weibchen bildeten das Zentrum der Notharctus-Gesellschaft. Schwestern, Mütter, Tanten und Nichten schlossen sich auf Lebenszeit zu mächtigen Clans zusammen und ließen die Männer außen vor. Das war jedoch eine archaische Verhaltensweise: Die Dominanz der Weibchen über die Männchen und die Angewohnheit, dass Männchen und Weibchen eine Paarbildung eingingen, die auch nach der Paarung Bestand hatte, war eher bei nachtaktiven Spezies anzutreffen als bei solchen, die im Licht zu leben vermochten. Dieses starke Matriarchat gewährleistete, dass die Schwestern vor jedem Männchen ein Anrecht auf die beste Nahrung hatten.

Noth fügte sich brav in seinen Ausschluss. Schließlich hatte er noch den Nachgeschmack des verbotenen Honigs im Mund. Er stahl sich davon, um woanders Nahrung zu suchen.

Purga und Plesi hatten ein isoliertes Leben geführt, normalerweise nur als Weibchen mit Jungen oder als Paar zur Paarungszeit. Einzeljagd war eine bessere Strategie für nachtaktive Geschöpfe; als Teil einer lauten Gruppe hätte man sich zu leicht den Jägern der Nacht verraten, die ihrer Beute im Hinterhalt auflauerten.

Für tagaktive Tiere war Gruppenbildung jedoch die bessere Alternative, denn viele Augen und Ohren nahmen Angreifer eher wahr. Die Notharctus hatten Alarmrufe und Gerüche entwickelt, um sich vor verschiedenen Räubern zu warnen -Raubvögel, Boden-Räuber und Schlangen –, die jeweils eine andere Verteidigungsstrategie erforderten. Und als Teil einer Gruppe bestand immer die Chance, dass der Räuber den anderen nahm und nicht einen selbst. Es war ein kaltblütiges Glücksspiel, das sich jedoch oft genug auszahlte, um übernommen zu werden.

Aber das Gruppenleben hatte auch Nachteile. Vor allem den, dass bei großen Gruppen die Konkurrenz um Nahrung zunahm. Um diese Konkurrenz aufzuheben, musste die soziale Komplexität zunehmen, woraufhin die Adapiden wiederum größere Gehirne entwickelt hatten, um diese Komplexität zu beherrschen. Daraufhin waren sie natürlich gezwungen, die Effizienz bei der Nahrungssuche zu steigern, um diesen großen Gehirnen Brennstoff zuzuführen.

Das war der Weg in die Zukunft. Mit zunehmender Komplexität der Primaten-Gesellschaften entstand eine Art kognitiven Wettrüstens, wobei durch zunehmende soziale Komplikationen wiederum die Intelligenz stärker ausgeprägt wurde.

Aber so intelligent war Noth auch wieder nicht. Als er den Honig fand, hatte Noth eine einfache Verhaltensregel befolgt: Meldung machen, wenn die Großen in der Nähe sind. Keine Meldung machen, wenn sie nicht da sind. Durch diese Regel hatte Noth die Chance, mit einem Maximum an Nahrung und einem Minimum an Schlägen davonzukommen. Das klappte zwar nicht immer, aber doch so oft, dass die Anwendung dieser Regel sich lohnte.

Es sah so aus, als ob er bezüglich des Honigs gelogen hatte. Aber Noth war gar nicht fähig, bewusst zu lügen – also eine falsche Maxime ins Bewusstsein eines anderen zu pflanzen –, denn er wusste nicht, dass andere überhaupt eine Maxime hatten. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Maximen sich von seinen unterschieden oder dass seine Handlungen diese Maximen zu prägen vermochten. Das Spiel, das gern von Menschenbabys gespielt wurde – um dich zu verstecken, musst du dir nur die Augen zuhalten; wenn du sie nicht siehst, sehen sie dich auch nicht –, hätte bei ihm jedes Mal geklappt.

Noth war eins der intelligentesten Geschöpfe auf dem Planeten. Aber seine Intelligenz war spezialisiert. Er war viel intelligenter, was Probleme seiner Artgenossen betraf – wo sie waren, ihr Bedrohungs- oder Hilfspotential und die Hierarchien, die sie bildeten –, als sonst jemand in seiner Umgebung. Andererseits war er nicht fähig, anhand von Schlangenspuren zu abstrahieren, dass er über eine Schlange stolperte. Obwohl sein Verhalten durchaus komplex und subtil wirkte, befolgte er Regeln, die so starr waren, als ob sie einem Roboter einprogrammiert worden wären.

Und doch verbrachten die Notharctus den Großteil ihres Lebens als Einzeljäger, wie Purga es getan hatte. Das sah man schon an der Art, wie sie sich bewegten: Sie waren sich der anderen bewusst und gingen sich je nach Bedarf aus dem Weg oder drängten sich zum Schutz zusammen, aber sie bewegten sich nicht als Einheit. Als ob sie von Natur aus Einzelgänger gewesen wären, die der Not gehorchend mit anderen kooperierten, sich dabei aber eingeengt fühlten.

Als Noth über den Waldboden streifte, huschte ein Rudel kleiner dunkler Geschöpfe vorbei. Sie hatten rattenartige Schneidezähne und muteten im Vergleich zu Noth und seiner Familie wie Ungeziefer an. Das schwarz-weiße Fell war struppig und schmutzig. Diese kleinen Primaten waren Plesiapiden und fast identisch mit Purga, die vor bereits vierzehn Millionen Jahren gestorben war. Sie waren ein Relikt der Vergangenheit.

Ein Plesi kam Noth zu nah und beschnüffelte ihn in seiner relativen Blindheit. Noth reagierte, indem er es mit einem Samen bespie; der Samen traf die Kreatur im Auge, und sie zuckte zusammen.

Ein geschmeidiger, schlanker Körper wie der einer Hyäne brach aus dem Schatten der Bäume. Es handelte sich um ein Mesonychid.

Noth und seine Familie räumten schnell das Feld.

Das Plesi erstarrte. Aber auf dem offenen Waldboden saß es wie auf dem Präsentierteller.

Das Mesonychid machte einen Satz. Das Plesi schlug einen Haken und rollte sich zischend herum. Aber die Zähne des Mesos hatten ihm schon ein Stück aus dem Hinterlauf gerissen. Und nun kamen weitere Angehörige des Meso-Rudels herbei. Sie hatten Blut gerochen.

Das Mesonychid war eine Art der Condylarthen, eine Tier-Gruppe, die mit den Vorfahren der Huftiere verwandt waren. Das Meso war nicht aufs Töten spezialisiert und auch kein ausschließlicher Fleischfresser, aber wie Bären und Vielfraße war es ein Opportunist. Die Condylarthen starben zehn Millionen Jahre vor dem Entstehen der Menschen aus. Fürs Erste waren sie jedoch die stärksten Räuber des Welten-Walds.

Die anderen Bewohner des Waldbodens reagierten in der ihnen eigenen Art und Weise. Die lorisartigen Adapiden hatten auf dem Rücken einen Hornhaut-Schild über knochigen Höckern, unter den sie nun den Kopf zogen. Das große dumme Barylambda kam zu dem Schluss, dass auch ein Rudel dieser kleinen Jäger keine Gefahr darstellte; wie die Hyänen späterer Zeitalter waren die Mesos hauptsächlich Aasfresser und griffen nur selten Tiere an, die größer waren als sie selbst. Die Taeniodonten indes hielten Vorsicht für geboten; sie trotteten schwerfällig davon und zeigten die langen Zähne.

Das Plesi setzte sich derweil zur Wehr und brachte den Angreifern Kratz- und Bisswunden bei. Ein Meso winselte; die Sehnen des rechten Hinterlaufs waren durchtrennt und Blut tropfte aus der Wunde. Doch schließlich unterlag das Plesi der Übermacht. Die Mesos bildeten einen losen Kreis um ihr Opfer, und dann drängten die schlanken Leiber sich mit wedelnden Schwänzen um die Beute wie Fliegen um eine offene Wunde. Der Geruch von Blut und der Gestank von in Panik abgesondertem Kot und Mageninhalt waren zu viel für Noths empfindliche Nase.

Obwohl die altertümlichen Plesiapiden gelernt hatten, wie ein Opossum Früchte zu schälen oder vom Mark der Bäume zu leben, waren sie primär Insektenfresser geblieben. Doch nun bekamen sie Konkurrenz von anderen Insektenfressern, den Vorfahren der Igel und Mäuse – und von ihren eigenen Nachfahren wie den Notharctus. In Nordamerika waren die Plesis schon fast ausgestorben und überlebten nur noch in Randgebieten wie diesem nur bedingt bewohnbaren Wald in der Polarregion. Jedoch waren die endlosen Tage ungünstig für Körper und Lebensgewohnheiten, die sich in den Nächten der Kreidezeit ausgeprägt hatten. Bald würde auch das letzte Plesi verschwunden sein.

Noth war hoch oben unter den kathedralenartigen Wipfeln und sah die Familie mit geschmeidigen Bewegungen zu sich heraufklettern. Doch irgendetwas störte ihn: eine Änderung der Lichtverhältnisse, eine plötzliche Kälte. Als Wolken sich vor die Sonne schoben, zerbrachen die Gitterstreben aus Licht, die den Wald durchzogen. Noth fror, und das Fell sträubte sich. Und dann regnete es: Schwere, dicke Tropfen prasselten auf die großen Blätter und zerplatzten wie Geschosse auf dem lehmigen Boden.

Es lag am einsetzenden Regen und dem überwältigenden Gestank des blutigen Gemetzels am Boden, weshalb Noth die Annäherung von Solo nicht bemerkte.

Solo hatte sich in einem schattigen Abschnitt versteckt, und zwar so, dass er Gegenwind hatte. So vermochte die Sippe der Notharctus, die sich in (trügerische) Sicherheit brachte, nicht seine Witterung aufzunehmen.

Und er sah Noths Mutter mit dem Kleinen.

Sie war ein fruchtbares, gesundes Weibchen: Das war es, was die Anwesenheit des Jungen ihm über sie sagte. Aber sie hatte einen Gefährten bei sich, und weil sie schon ein Kind hatte, war es unwahrscheinlich, dass sie in dieser Paarungssaison noch einmal heiß werden würde. Allerdings ließ Solo sich davon nicht abhalten. Er wartete, bis Noths Familie sich auf einem Ast in Sicherheit gebracht und wieder beruhigt hatte.

Solo war drei Jahre alt und ein geschlechtsreifes starkes Notharctus-Männchen. Und er fiel auch irgendwie aus dem Rahmen.

Die meisten Männchen durchstreiften in Grüppchen den Wald und suchten nach den großen und sesshafteren Gruppen von Weibchen, mit denen sie sich zu paaren hofften. Aber nicht Solo. Solo zog es vor, allein auf die Pirsch zu gehen. Er war größer und stärker als fast alle Weibchen, denen er auf seinen Streifzügen durch den polaren Wald begegnet war. Auch in dieser Hinsicht war Solo untypisch; das durchschnittliche Männchen war nämlich kleiner als das durchschnittliche Weibchen.

Und er hatte gelernt, sich mit dieser Stärke zu holen, was er wollte.

Mit einem geschmeidigen Schwung ließ Solo sich auf den Ast fallen und baute sich vor Noths Mutter auf. Er schien nur mit Mühe das Gleichgewicht zu halten – die Hinterläufe waren vergleichsweise kräftig, die Vorderarme kurz und dünn, und den langen Schwanz hatte er aufgestellt, sodass er ihm wie ein Haken über den Kopf ragte. Aber er war groß, bedrohlich ruhig und einschüchternd.

Noths Mutter roch den großen Fremden: nicht verwandt. Sie geriet in Panik, zischte und schob Links hinter sich.

Noths Vater trat auf den Plan. Er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und stellte sich dem Eindringling. Mit schnellen, ruckartigen Bewegungen rieb er die Geschlechts-Drüsen an den umliegenden Blättern und strich mit dem Schwanz über die Unterarme, sodass die Knochensporne über den Handgelenks-Drüsen durch den buschigen Schwanz kämmten und ihn mit seinem Geruch imprägnierten. Dann wirbelte er den stinkenden Schwanz über dem Kopf. In der vom Geruch dominierten Welt der Notharctus war das eine machtvolle Demonstration. Geh weg! Das ist mein Platz. Das ist meine Sippe, Junge. Geh weg!

Das Verhalten des Vaters enthielt keine emotionale Komponente. Der einzige Zweck seiner ›Vaterschaft‹ war die Zeugung gesunder Nachkommen und deren Schutz, damit sie bis zur Geschlechtsreife überlebten. Die Bereitschaft, sich dem Eindringling entgegenzustellen, entsprang allein dem selbstsüchtigen Bestreben, sein Erbe zu erhalten.

Normalerweise wäre dieses Spiel ›Abschreckung durch Gestank‹ weitergegangen, bis eins der beiden Männchen sich ohne Körperkontakt zurückgezogen hätte. Doch auch in dieser Hinsicht wich Solo von der Norm ab. Er verzichtete auf eine entsprechende ›Gegendarstellung‹ und beobachtete das hektische Gebaren des anderen nur mit kaltem Blick.

Entnervt durch die unheimliche Ruhe des Neuankömmlings gab Noths Vater schließlich auf. Die Duftdrüsen trockneten ein, und er ließ den Schwanz hängen.

Da schlug Solo zu.

Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich auf Noths Vater und prallte gegen seine Brust. Noths Vater kippte quiekend um. Solo ging auf alle viere hinunter, ließ sich auf ihn fallen und biss ihm durchs Fell in die Brust. Noths Vater schrie auf und verschwand. Er war nur leicht verletzt, aber seine Moral war gebrochen.

Nun wandte Solo sich den Weibchen zu. Die Tanten hätten Solo leicht abzuwehren vermocht, wenn sie mit vereinten Kräften gegen ihn vorgegangen wären. Aber sie zogen sich vor Solo zurück. Seine Attacke hatte sie genauso verstört wie sein Opfer. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Sie waren auch alle Mütter und dachten sofort an die Jungen, die sie in den oberen Ästen zurückgelassen hatten.

Solo ignorierte sie ebenfalls. Mit den geschmeidigen Bewegungen eines Fleischfressers näherte er sich Noths Mutter, seinem Hauptziel.

Sie bleckte zischend die Zähne und trat ihn sogar mit den kräftigen Hinterbeinen. Aber er wehrte ihre Schläge mühelos ab, durchbrach ihre Abwehr – und entriss ihr das verwirrte Junge. Er biss es schnell in den Hals und zerfleischte es, bis er die Luftröhre aufgerissen hatte. Das Kind hauchte sein Leben aus. Er ließ den zuckenden Kadaver auf den Waldboden fallen, wo sich durch den Geruch des frischen Bluts angelockte Mesonychiden mit unheimlichem Bellen, das so ganz anders klang als das eines Hunds, einfanden. Mit blutiger Schnauze und Händen wandte Solo sich Noths Mutter zu. Sie war natürlich noch nicht wieder fruchtbar, vielleicht erst in ein paar Wochen, aber er konnte sie schon einmal mit seinem Geruch markieren, um den Besitzanspruch anzumelden und die Ambitionen anderer Männchen zu vereiteln.

Solo verübte aber keine bewussten Grausamkeiten. Indem er die Jungen von Noths Mutter nämlich tötete, würde sie vielleicht bis zum Ende des Sommers wieder heiß werden. Und wenn Solo sie dann deckte, würde er von ihr Nachwuchs bekommen. Somit war der Kindermord also eine Gewinn bringende Taktik für Solo.

Jedoch wäre Solos brutale Strategie nicht überall von Erfolg gekrönt gewesen. Die Notharctus-Männchen waren nicht als Kämpfer ausgestattet. Ihnen fehlten nämlich die Reißzähne, mit denen spätere Spezies ihren Rivalen Wunden schlagen würden. Zumal dieser Polarwald eine territoriale Randlage hatte, wo tödliche Kämpfe buchstäblich eine Energieverschwendung und Vergeudung knapper Ressourcen gewesen wären – weshalb sich auch die Gestank-Duelle entwickelt hatten. Aber für Solo, die Ausnahme, war es eine Strategie, die sich hundertfach bewährt und ihm viele Gefährtinnen beschert hatte – und viele Nachkommen, die im ganzen Wald verstreut waren und in deren Adern Solos Blut floss.

Diesmal hatte er sich jedoch verkalkuliert.

Noths Mutter, mit dem Geruch des Killers markiert, schaute hinab in die grüne Leere unter sich. Sie hatte ihr Baby verloren; ein Verlust, wie auch Purga, ihre Urahnin, ihn einst erlitten hatte. Weil sie deutlich intelligenter war als Purga, verspürte sie aber auch den Schmerz umso stärker.

Sie wurde von Schwärze erfüllt. Mit aufgerissenem Mund und wirbelnden Gliedmaßen stürzte sie sich auf Solo. Er wich erschrocken zurück.

Sie verfehlte ihn. Und stürzte ab.

Noth sah, wie seine Mutter in die Grube fiel, in die zuvor seine kleine Schwester gefallen war. Ihr zuckender Leib wurde sofort unter den umherwuselnden Körpern der Mesos begraben.

Noth war ein paar Wochen nach der Geburt entwöhnt worden. Bald wäre eh die Zeit gekommen, da er sich von der Sippe entfernt und eigene Wege gegangen wäre. Die Bindung zu seiner Mutter war nur noch schwach. Und doch verspürte er einen so starken Schmerz, als ob man ihn von der Mutterbrust weggerissen hätte.

Und der Regen wurde immer heftiger.

Noth kroch zitternd durchs Laub. Es war fast windstill, sodass der Regen in schweren Tropfen auf den Körper und die großen Blätter der Bäume prasselte.

Er folgte den noch vorhandenen Duftspuren seiner Mutter und stieß auf seine kleine Schwester. Sie klammerte sich noch immer an den Baum, wo ihre Mutter sie zurückgelassen hatte – und wo sie wahrscheinlich ausgeharrt hätte, bis sie verhungert wäre. Noth roch ihr feuchtes Fell. Er schmiegte sich an sie, schlang die Arme um sie und schützte den kleinen zitternden Körper vorm Regen.

Er wollte bei ihr bleiben. Sie roch nach Familie und teilte einen Großteil seines genetischen Erbes. Deshalb hatte er einen Anteil am Nachwuchs, den sie eines Tages vielleicht gebar.

Es regnete eine ganze Nacht und einen ganzen Tag, derweil die Sonne ihre sinnlosen Kreise am Himmel zog. Der Waldboden verwandelte sich in Matsch; schimmernde Pfützen, auf denen Pflanzenreste trieben, bedeckten den Boden und überschwemmten abgenagte und verstreute Knochen.

Und der unaufhörliche Regen wusch auch die letzten Reste der Geruchsmarkierungen von Noths Sippe von den Bäumen. Noth und seine Schwester waren verloren.

II

Während der endlose Tag sich dahin zog und die Sonne ihre Kreise beschrieb, stolperten Noth und Rechts durch die Äste des Waldes.

Sie waren schon seit einer Woche auf sich gestellt. Sie hatten keinen von ihrer Art gefunden. Aber es gab hier in den Baumwipfeln viele Adapiden, Verwandte des Notharctus. Viele waren kleiner als Noth. Manchmal sah er kurz ihre glühenden Augen, die wie unheimliche gelbe Lichter aus einem dunklen Winkel lugten. Ein paar huschten die Äste entlang, von einer schattigen Deckung zu nächsten. Ein Geschöpf vollführte jedoch spektakuläre aufrechte Sprünge von Baum zu Baum. Es ließ die Hinterbeine baumeln und packte mit den Pfoten zu. Die membranartigen Ohren drehten sich wie bei einer Fledermaus, während es mitten im Flug ein Insekt aus der Luft pflückte.

Eine einsame Kreatur klammerte sich an die verrottete Rinde eines alten Baums. Sie hatte ein struppiges schwarzes Fell, fledermausartige Ohren und vorstehende Schneidezähne. Mit einem krallenbesetzten Finger klopfte es geduldig ans Holz und schwenkte dabei die großen Ohren. Wenn es die Bewegung einer Larve unter der Rinde hörte, schälte es die Rinde mit den Zähnen ab, spießte die Larve mit dem langen Mittelfinger auf und steckte sie sich in den großen, gierigen Mund. Dieser Primate hatte gelernt, wie ein Vogel, wie ein Specht zu leben.

Einmal traf Noth auf eine riesige, faultierartige Kreatur, die kopfüber an einem dicken Ast hing und mit den Primatenhänden das Holz umklammerte. Das Ungeheuer drehte den Kopf und musterte Noth und Rechts mit leerem Blick. Es hatte den Mund voll saftiger Blätter, von denen es sich hauptsächlich ernährte und kaute gemächlich. Diese Art hatte sich ›vergrößern‹ müssen, weil sie einen Magen unterbringen musste, der groß genug war, um die Zellulose in den Zellwänden des Laubs aufzubrechen. Das Gesicht des faultierartigen Wesens war seltsam unbeweglich, statisch und mit begrenzter Ausdrucksfähigkeit. Das soziale Leben dieser träge herumhängenden Kreatur war öde; der langsame Stoffwechsel und der Mangel an frei verfügbarer Energie ließen ihm keine andere Wahl.

Die Welt hatte sich seit dem schrecklichen Einschlag stetig erwärmt. Die Vegetation hatte sich in Wellen vom Äquator ausgebreitet, bis tropische Regenwälder schließlich ganz Afrika und Südamerika, Nordamerika bis zur heutigen kanadischen Grenze, China, Europa bis nach Frankreich und den Großteil Australiens bedeckten. Sogar an den Polen gab es Dschungel.

Nordamerika war noch immer durch mächtige Landbrücken mit Europa und Asien verbunden, während die südlichen Kontinente wie eine Inselkette unterhalb des Äquators aufgereiht waren. Indien und Afrika verschoben sich beide nach Norden, doch das Tethys-Meer umspannte noch immer den Äquator. Die mächtige Strömung transportierte Wärme um den ganzen Planeten. Der Tethys war wie ein Fluss durch den Garten Eden.

Im Zuge der Erderwärmung hatten die Kinder von Plesi und den anderen Säugetieren die Vergangenheit schließlich abgeschüttelt. Es war, als ob die Erdbewohner endlich erkannt hätten, dass der leere Planet ihnen viel mehr zu bieten hatte als neue Pflanzen, an denen sie sich gütlich zu tun vermochten.

Während die überlebenden Reptilien, die Eidechsen, Krokodile und Schildkröten weitgehend unverändert blieben, sollten bald die Grundlagen für die erfolgreichen Säugetier-Linien der Zukunft gelegt werden.

Plesi war wie Purga ein kurzbeiniges ›Kriechtier‹ mit für Säugetiere typischen vier Füßen und dem gesenkten Kopf gewesen. Ihre Primaten-Nachkommen wurden nun größer und bildeten kräftigere Hinterbeine aus, um einen aufrechten Rumpf und Kopf zu stützen. Inzwischen waren auch die Augen der Primaten nach vorn gerückt. Das ermöglichte ihnen das räumliche Sehen und verlieh ihnen die Fähigkeit, die immer weiteren Sprünge abzuschätzen und die Insekten und kleinen Reptilien anzupeilen, die noch immer auf ihrem Speiseplan standen. In dem Maß, wie die Primaten ihre Lebensweise differenzierten, prägten sie unterschiedliche Formen aus.

Dahinter stand jedoch kein Plan, und zielgerichtete Verbesserungen fanden auch nicht statt. Jeder Organismus kämpfte nur darum, sich selbst, seine Nachkommen und seine Art zu erhalten. Doch während die Umwelt sich allmählich veränderte, veränderten durch die unerbittliche Selektion sich auch die Spezies, die sie bewohnten. Es war kein Vorgang, der vom Leben gespeist wurde, sondern vom Tod: die Eliminierung der weniger gut Angepassten, das endlose Aussondern ungeeigneter Möglichkeiten.

Viele Adapiden hatten sich zu sehr spezialisiert. Diese behagliche, den Planeten umspannende Wärme würde nicht für immer anhalten. In kühleren Zeiten in der Zukunft, als die Wälder sich zurückzogen und jahreszeitliche Unterschiede deutlicher hervortraten, war es unklug, bei der Suche nach Nahrung allzu wählerisch zu sein. Die zwangsläufige Folge waren wieder Massensterben.

Noth fand die Geschwister in dieser breit gestreuten Ansammlung exotischer Primaten nicht.

Bei der Untersuchung des Waldbodens entdeckte er eine Pflanze mit einer gekapselten Frucht – eine Art Erbse. Er brach ein paar Schoten auf und gab sie seiner Schwester zu essen.

Eine Art Ameisenbär mit einer Länge von einem Meter näherte sich einem säulenartigen Ameisenhügel. Er stürzte sich auf das Nest und stemmte sich mit den kräftigen Armen und Schultern dagegen. Wie bei einer Spitzhacke war die ganze Kraft in einem Punkt konzentriert: in der Spitze des gekrümmten Mittelfingers. Die Ameisen schwärmten aus – sie waren riesig, bis zu zehn Zentimeter lang –, und der Ameisenfresser verleibte sie sich mit der langen klebrigen Zunge ein, ehe die Soldaten sich noch zur Verteidigung zu formieren vermochten. Der Ameisenfresser war ein Nachkomme einer südamerikanischen Art, die vor vielen Generationen über Landbrücken eingewandert war.

Noth und Rechts sahen mit großen Augen zu. Während Noth den Ameisenfresser beobachtete, wurde er im Unterbewusstsein jedoch von Sorge geplagt.

Er war auf Nahrungssuche gegangen, damit die Schwänze Winterfett ansetzten und sie den langen Winterschlaf überstanden, der immer näher rückte. Er folgte damit dem Befehl seiner inneren Programmierung. Aber sie bekamen nicht genug Nahrung. Ohne die Unterstützung der Sippe musste er zu viel Zeit damit verbringen, nach Räubern Ausschau zu halten.

Er hätte umzukehren vermocht. Wie die ganze Spezies – und die mobilen Männchen mehr als die sesshaften Weibchen – bestimmte er die Position durch nautisches Koppeln, die Integration von Zeit, Raum und dem Winkel des einfallenden Sonnenlichts. Diese Fähigkeit half ihm, Futter- und Wasserquellen zu finden. Im Notfall hätte Noth nach Hause zurückzufinden vermocht, zu der Baumgruppe, die der Ausgangspunkt der Aktivitäten seiner Sippe war. Aber er vernahm nicht ihren unverwechselbaren trällernden Gesang, sodass die rudimentären Entscheidungsfindungs-Prozesse ihn dazu zwangen, nach einer anderen Sippe zu suchen, die ihn und seine Schwester aufnahm.

Obwohl die Sonne noch immer ihre endlosen Kreise überm Horizont zog, wurde das Tageslicht allmählich rot gefärbt, und hier am Waldboden hafteten nun Sporen an den Farnwedeln. Der Herbst nahte. Und dann würde der Winter kommen. Sie waren unterernährt, und die Zeit lief ihnen davon.

Rechts versank wieder in Niedergeschlagenheit, wie es so oft geschah. Sie ließ die Erbsenschoten fallen und krümmte sich zusammen. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schaukelte mit leisem Klagen hin und her. Noth nahm sie in den Arm und trug sie zu einer Astgabel, wo er sie kämmte. Vorsichtig behandelte er das lichte Fell und beseitigte Schmutz, Reste von Laub und getrockneten Kot, glättete verfilzte Fellpartien und entfernte Parasiten, die sich an ihrer zarten Haut labten.

Rechts beruhigte sich schnell wieder. Das Kämmen war eine Mischung aus Vergnügen, Zuwendung und leichtem Schmerz, wodurch der Kreislauf mit Endorphinen geflutet wurde, den körpereigenen Opiaten. Noch ehe sie viel älter geworden war, wäre sie buchstäblich süchtig nach diesem angenehmen Kratzen – wie ihr Bruder, der die massierenden Streicheleinheiten erwachsener Finger auf dem Rücken schon schmerzlich vermisste.

Dennoch machte Noth sich Sorgen um sie, und zwar auf einer tiefen Ebene, die er nicht verstand.

Rechts irritierender Kummer erfüllte einen Zweck. Damit signalisierte sie sich selbst, dass sie einen Verlust erlitten hatte, dass ein Loch in ihrer Welt klaffte, das sie ausfüllen musste. Obwohl Noth zu echter Empathie nicht fähig war – wenn man nicht wusste, dass andere Leute ein Bewusstsein, Gedanken und Gefühle wie man selbst hatte, vermochte man unmöglich Empathie zu verspüren –, lösten die Anzeichen des Kummers bei seiner Schwester dennoch eine Art Beschützerinstinkt bei ihm aus. Er wollte die Dinge für seine Schwester wieder ins Lot bringen: Der Instinkt, dem Waisenkind zu helfen, ging sehr tief.

Letztlich war zwanghafte Trauer aber kontraproduktiv. Wenn Rechts sich nicht wieder erholte, gab es nichts, was er für sie zu tun vermochte. Er würde sie im Stich lassen müssen, und dann würde sie sicher sterben.

Die Tage gingen ins Land, und schließlich rutschte die Sonne, als sie im tiefsten Punkt der Umlaufbahn am Himmel stand, unter den südlichen Horizont. Anfangs waren die kurzen Nächte zwielichtig, und in klaren Nächten hoben sich purpurrote Lichtvorhänge in den weiten Himmel. Doch die Abstecher der Sonne in die Unsichtbarkeit wurden immer länger, und die Abschnitte, wo Sterne an einem tiefblauen Himmel leuchteten, wurden ebenfalls länger. Bald würde es wieder richtig dunkel werden im polaren Wald.

Das Wetter wurde schnell kälter und trockener. Regen fiel nur noch selten, und an manchen Tagen schien die Wärme der Sonne kaum die Nebelschwaden zu durchdringen. Viele Vögel, die in den Baumwipfeln lebten, waren bereits verschwunden und unter den verständnislosen Blicken der Primaten in dicht aufeinander folgenden Schwärmen in die wärmeren südlichen Gefilde abgeflogen.

Noth war erschöpft und derangiert, und seine Träume handelten von blitzenden Klauen und schnappenden Zähnen. Er hatte Visionen, dass seine kleine Schwester in riesigen Mäulern verschwand.

Ihr größtes Problem war nun der Durst. Es hatte so lang nicht mehr geregnet, dass die Baumwipfel schon verdorrten. Und die Bäume verloren bereits das Laub; die letzten Blätter waren verwelkt und braun. Bald musste Noth sich damit behelfen, jeden Morgen den kalten Tau von der Rinde zu lecken.

Schließlich machten die Geschwister sich, vom Durst getrieben, auf die Suche nach Oberflächenwasser. Unweit des nächsten großen Sees huschten sie mit großen Augen einen Baumstamm hinab.

Auf dem Weg zum Wasser kamen die Primaten an zwei Wesen vorbei, die wie Miniatur-Hirsche aussahen. Diese schnellen und einzeln lebenden Läufer hatten die Größe eines Hunds und lange Schwänze, die sie nachschleppten. Sie ernährten sich von Blättern und Fallobst. Sie waren Vorfahren der großen Artiodactylus-Familie, die eines Tages Schweine, Schafe, Kühe, Damwild, Antilopen, Giraffen und Kamele umfassen würde. Rechts scheuchte einen Frosch auf. Er hüpfte mit einem ärgerlichen Quaken davon. Sie wich zurück und schaute das fremdartige Geschöpf mit großen Augen an. Bald sahen sie noch mehr Amphibien – Frösche, Kröten und Salamander. Vögel bevölkerten die Büsche und erfüllten mit ihren schrillen Schreien die feuchte Luft.

Noth fühlte sich unwohl. Das Ufer war zu überlaufen. Noth und Rechts waren nämlich nicht die einzigen durstigen Geschöpfe in diesem kalten Dschungel.

Eine meterlange Kreatur wie ein langschwänziges Känguru rannte vorbei; es handelte sich um ein Leptictidium, das kleine Tiere und Insekten jagte. Als es mit der biegsamen Nase den Boden sondierte, scheuchte es einen Pholidocerus auf, einen stachelhaarigen Vorfahren der Igel. Er hoppelte davon wie ein Kaninchen. Und dort stand eine dicht gedrängte Pferdeherde. Die Tiere waren klein – nicht größer als Terrier, aber schon mit richtigen Pferdeköpfen. Vorsichtig bahnten diese edlen kleinen Geschöpfe sich einen Weg durchs Unterholz. Sie gingen auf Pfotenballen wie Katzen und hatten an jedem Fuß ein paar Hufzehen. Diese Art war erst vor ein paar Millionen Jahren in Afrika entstanden. Das raue Grollen eines hungrigen Fleischfressers schreckte die Pferdchen auf, und sie ergriffen sofort die Flucht.

Durch diese exotische Versammlung schlichen nun die zwei Primaten, legten Sprints ein und schlugen Haken.

Der See selbst lag still da und war mit Pflanzen, totem Schilf und blühenden Algen bedeckt. An manchen Stellen hatten sich schon dünne graue Eisflächen gebildet. Durchs offene Wasser wateten Vögel, Vorfahren der Flamingos und Säbelschnäbler, und große Wasserlilien trieben auf der Oberfläche.

Eine Spinne hing überm Wasser an einem seidenen Faden, und riesige Ameisen – jede so groß wie die Hand eines Menschen – flogen über den See, um neue Nester zu bauen. Durch diese Wolke aus Insekten flatterte eine Familie zarter Fledermäuse. Die fliegenden Säugetiere, die sich erst kürzlich entwickelt hatten und so groß und filigran wie Papierdrachen waren, schnappten nach den Insekten. Urtümliche knochige Fische und ein spiraliger Aal brachen durch die Wasseroberfläche und fingen das Futter aus der Luft.

Die Primaten fanden weit genug von den Räubern entfernt einen Platz, an dem sie ungestört zu trinken vermochten. Sie gingen in die Knie, tauchten die Schnauzen ins kühle Nass und sogen es dankbar ein.

Die größten Tiere von allen suhlten sich am schlammigen Ufer des Sees.

Ein Paar Uintatheria stand nebeneinander. Diese großen Tiere sahen aus wie übergroße Nashörner. Sie hatten sechs Hörner auf dem Kopf und lange obere Reißzähne wie ein Säbelzahntiger. Die dicke Haut war mit Schlamm verkrustet, der sie kühlte und die Insekten fernhielt. Sie grasten genüsslich den Seeboden ab und tranken das von Algen grün gefärbte Wasser, während ein dickes lebhaftes Jungtier um die Beine der Eltern strich und mit dem Kopf, aus dem erst die Ansätze der Hörner sprossen, die Säulenbeine rammte.

Noth behielt die mächtigen Füße ängstlich im Auge.

Am Ufer marschierte eine Moeritherium-Familie entlang. Die einen Meter großen Erwachsenen bewegten sich mit ruhiger Gelassenheit durchs Wasser und verständigten sich mit einem beruhigenden Grummeln, während die rundlichen Jungen zu ihren Füßen herumplanschten. Mit den langen Nasen grasten sie methodisch die Vegetation des Seebodens ab. Sie gehörten zu den ersten Proboscidea, den Vorfahren der Elefanten und Mammuts. Sie hatten zwar noch größere Ähnlichkeit mit Schweinen als mit Elefanten, waren aber schon intelligente und soziale Tiere.

Um die Pflanzenfresserherden schlichen Fleischfresser. Es handelte sich überwiegend um Creodonten, die wie eine Kreuzung aus Fuchs und Vielfraß aussahen. Und es gab ein Rudel behufter Räuber – wie Fleisch fressende Pferde. Zu diesen bizarren, Furcht einflößenden Kreaturen gab es im Zeitalter der Menschen keine Entsprechung.

Viele dieser Tiere wirkten langsam, träge und irgendwie missraten. Sie waren das Ergebnis der ersten Experimente der Natur, große Pflanzenfresser und Fleischfresser aus dem Bestand der Säugetiere hervorzubringen, die den Tod der Dinosaurier überlebt hatten. Das offene Grasland lag noch Millionen Jahre in der Zukunft, genauso wie die schlanken, langbeinigen und eleganten Pflanzenfresser, die sich in den üppigen Weiten einrichten würden und wie die klügeren und schnelleren Fleischfresser, die sie jagen würden. Wenn es soweit war, würden die meisten Spezies um Noth dem Massensterben anheim fallen. Aber die den Menschen bekannte Ordnung – die echten Primaten, die Huftiere, die Nagetiere und Ratten, das Damwild und die Pferde – hatte ihr Debüt bereits gegeben.

Im Moment gab es nirgendwo auf der Erde eine komplexere und dichtere Ökologie als hier auf Ellesmere Island. Dieser Ort war ein Knotenpunkt der großen Wanderwege durch den amerikanischen Doppelkontinent und übers Dach der Welt nach Europa, Asien und Afrika. Hier trafen sich Pangoline aus Asien, Fleischfresser aus Nordamerika, Huftiere aus Afrika, europäische Insektenfresser wie urtümliche Igel und sogar Ameisenfresser aus Südamerika und traten in Konkurrenz zueinander.

Plötzlich hob Noth den Kopf.

Aus dem Wasser schauten zwei Primaten ihn an, ein kräftiges Männchen und ein kleines Weibchen. Er vermochte das Männchen aber nicht zu riechen, vermochte nicht zu sagen, ob es ein Verwandter oder ein Fremder war. Er kreischte und fletschte die Zähne. Das Primaten-Männchen fletschte seinerseits die Zähne.

Wütend stand Noth auf und zeigte dem Fremden im Wasser seine Duftdrüsen – der gleichermaßen reagierte, was ihn noch wütender machte –, und dann schlug er aufs Wasser, bis der gespiegelte Notharctus verschwunden war.

Noth vermochte andere Exemplare seiner Art zu erkennen, zwischen Männchen und Weibchen und zwischen verwandt und nicht verwandt zu unterscheiden. Sich selbst vermochte er jedoch nicht zu erkennen, weil sein Bewusstsein nicht die Fähigkeit zur Selbstreflexion hatte. Sein Leben lang würde er sich vor solchen zufälligen Spiegelungen fürchten.

Eine schlanke Gestalt sprang aus dem Wasser und schob sich mit flossenartigen Gliedmaßen auf die Gesteinsplattform. Noth und Rechts wichen zurück. Über eine krokodilsartige Schnauze peilte der Neuankömmling zwei verdutzte Primaten an.

Dieses Ambulocetus war ein Verwandter der hyänenartigen Mesonychiden. Wie ein Otter war es in einen schwarzen Pelz gehüllt und hatte lange starke Hinterläufe, die mit zehn Zentimeter langen Zehen bewehrt waren. Vor Äonen waren die Vorfahren dieses Tiers auf der Suche nach einem besseren Leben ins Wasser zurückgekehrt und von der Selektion entsprechend geformt worden. Das Ambulocetus hatte bereits größere Ähnlichkeit mit einem Wasser- als mit einem Land-Lebewesen.

Bald würde diese Art auf Dauer im Meer untertauchen. Schädel und Hals würden kürzer und die Nase zurückversetzt werden, und die Ohren würden sich schließen, sodass der Schall durch eine Fettschicht übertragen würde. Zuletzt würden die Beine sich in Flossen verwandeln – wobei mehr Knochen hinzukamen –, und die nutzlos gewordenen Zehen würden sich zurückentwickeln und schließlich verschwinden. Wenn sie die weiten Räume des Pazifik und Atlantik erreichte, würde sie wachsen und im Vergleich zur jetzigen Größe so groß werden wie ein Mensch im Verhältnis zu einer Maus. Dennoch würden diese mächtigen, im Meer lebenden Nachkommen das Erbe der Geschöpfe – wie fossile Knochen und molekulare Spuren – in sich tragen, die sie einst gewesen waren.

Der wandernde Wal starrte die zwei furchtsamen Primaten verständnislos an. Dann entschied er, dass dieser überfüllte Strand doch kein so guter Platz zum Sonnenbaden sei. Er bog den Rücken durch und schwamm elegant davon.

Als das Licht erlosch, zogen Noth und Rechts sich in den Schutz der Bäume zurück. Doch die Äste waren nun alle kahl und boten ihnen kaum Deckung. Sie schmiegten sich in einer Astgabel aneinander.

Die Pflanzenfresser kamen platschend aus dem Wasser, und die Familien fanden durch Rufe zueinander. Und die Stimmen der Räuber ertönten: Ein raues, hundeartiges Bellen und löwenartiges Knurren hallte im lichten Wald wider.

Mit zunehmender Kälte spürte Noth, wie eine Starre von ihm Besitz ergriff. Aber er fror und saß hier mit seiner kleinen Schwester fest – weit entfernt von der kuscheligen Wärme der Sippe.

Und dann wurde er zu seiner Überraschung durch einen starken Moschusduft aus dem Schlaf gerissen.

Plötzlich war er von Notharctus umgeben. Es wimmelte nur so von ihnen. Sie waren auf den Ästen über und unter ihm. Die dicht gedrängten Gestalten hatten die Beine unter sich angewinkelt und ließen die langen, dicken Schwänze herabbaumeln. Der Geruch sagte ihm, dass sie von seiner Art, aber nicht mit ihm verwandt waren. Er hatte ihre Duftmarken nicht früher entdeckt, denn die Markierungen waren von Frostschichten versiegelt. Dafür hatten die fremden Notharctus ihn entdeckt.

Zwei kräftige Weibchen ließen sich, vom Geruch des Babys angelockt, in der Nähe nieder. Eine, die er als Größte bezeichnete, stieß die andere – die nur Groß war – weg und nahm Rechts in Augenschein.

Noths Gedanken jagten sich. Er wusste, ihr Leben hing davon ab, dass sie von dieser neuen Gruppe akzeptiert wurden. Also streckte er die Hand nach dem Weibchen aus, das ihm am nächsten war und bohrte vorsichtig die Finger ins Fell der Hinterläufe. Groß fand Gefallen am Kämmen und streckte wohlig die Beine aus.

Als jedoch Größte dessen ansichtig wurde, stieß sie einen Schrei aus und schlug sie beide. Noth kauerte sich zitternd zusammen.

Noth war schlau genug, um seinen Platz auf der sozialen Leiter zu erkennen – in diesem Fall auf der untersten Sprosse. Aber seine soziale Kompetenz hatte auch ihre Grenzen. Genauso wenig, wie er die Ansichten und Wünsche anderer zu erkennen vermochte, hatte er die Intelligenz, den relativen Rang anderer in einer Gruppe zu beurteilen. Er hatte einen Fehler gemacht: Größte stand rangmäßig über Groß, und sie erwartete, dass dieses neue Männchen sich zuerst ihr widmete.

Also wartete Noth, während Größte mit der schläfrigen Rechts spielte. Schließlich ließ Größte zu, dass Noth sich ihr näherte und das dichte miefige Fell kraulte.

III

Die Tage wurden kürzer, und die Nächte länger. Bald gab es nur noch für ein paar Stunden am Tag Licht, und die Intervalle zwischen der Dunkelheit wurden nur noch von einem rosig-grauen Zwielicht unterbrochen.

Im Wald herrschte nun Stille. Die meisten Vögel und die großen Pflanzenfresser-Herden waren längst verschwunden und waren gen Süden in wärme Klimazonen gewandert. Das ohrenbetäubende Kreischen war mit ihnen verschwunden. Die summenden Insektenschwärme des Hochsommers waren nur noch eine Erinnerung – die Larven und tief vergrabenen Eier schliefen traumlos. Die großen Laubbäume hatten das Laub abgeworfen. Es lag nun in dicken Schichten am Boden und war durch den Dauerfrost zusammengeschweißt. Die kahlen Baumstämme und blattlosen Äste würden erst dann wieder ein Lebenszeichen zeigen, wenn in ein paar Monaten die Sonne zurückkehrte. Am Boden waren Pflanzen wie der Bodenfarn bis auf die Wurzeln und Rhizome abgestorben und wären bald unter einer Schicht aus Eis und Schnee in der Erde versiegelt.

Die hier vorkommenden Spezies waren aus alten Stämmen hervorgegangen, die an die milden klimatischen Bedingungen der Tropen angepasst waren und hatten es nur mit größter Mühe geschafft, unter den extremen Bedingungen des Pols zu überleben. Jede Pflanze, egal wo sie wuchs, war zwecks Energiezufuhr und Wachstum auf Sonnenlicht angewiesen, und während des endlosen Sommers war die Vegetation mit großen eckigen Blättern förmlich zur Sonne empor geschwappt. Doch nun nahte eine Jahreszeit, wo es für Monate kein Licht geben würde außer dem Mond- und Sternenlicht. Das war aber zuwenig fürs Wachstum: Wenn die Pflanzen weiter gewachsen wären und geatmet hätten, dann hätten sie den gesamten Energievorrat verbraucht. Also hatte die Flora sich auf einen Pflanzen-Winterschlaf eingerichtet, wobei jede Art ihre eigene Strategie verfolgte.

Und so schliefen auch die Pflanzen.

Die Notharctus-Sippe bestand aus dreißig Mitgliedern, die sich in den Ästen einer großen Konifere versammelt hatten. Sie sahen aus wie große pelzige Früchte. Im Schlaf klammerten sie sich mit Händen und Füßen an den Ästen fest. Die Köpfe hatten sie an die Brust gelegt und die Rücken der Kälte zugewandt. Reif glitzerte auf dem neuen Winterfell, und wo eine Schnauze hervorlugte, entströmte blau-weißer Atem.

Noth verschlief die langen Nächte. Sein Fell sträubte sich durch die Körperwärme der anderen Sippenmitglieder. Manchmal träumte er auch. Er sah seine Mutter den Mesos ins Maul fallen. Oder er war allein auf einer offenen Fläche, von gierig schauenden Räubern umzingelt. Oder er war wieder ein Baby und wurde von einer Sippe von Erwachsenen verstoßen, die größer und stärker waren als er – ausgeschlossen durch Regeln, die er nicht instinktiv verinnerlicht hatte. Manchmal verblassten diese Träume jedoch, und er fiel in eine Art Starre, eine Trance, die die langen Monate des Winterschlafs vorwegnahm.

Einmal wachte er nachts zitternd auf, sodass die Muskeln Energie verbrennen mussten, um ihn am Leben zu erhalten.

Die schlafende Welt war voller Licht: Der volle Mond stand hoch am Himmel, und der Wald glühte blau-weiß und schwarz. Lange, scharf konturierte Schatten zogen sich über den mit Kompost bedeckten Boden, und die senkrechten Stämme der blattlosen Bäume ließen die Szene in einer unheimlichen geometrischen Präzision erscheinen. Aber die knorrigen Äste weiter oben waren ein komplexerer und bedrückender Anblick. Die kahlen und mit glitzerndem Frost glasierten Hölzer bildeten einen krassen Kontrast zum warmen grünen Glühen der Blätter im Hochsommer.

Dennoch war es eine auf ihre Art schöne Szene, und hier bewährten sich auch Noths große archaische Augen. Sie lösten Details und subtile Farbnuancen auf, die einem Menschen verborgen geblieben wären. Doch alles, was Noth wahrnahm, war Mangel: ein Mangel an Licht, an Wärme, an Nahrung – und ein Mangel an familiärer Nähe in dieser Gruppe von Fremden. Er hatte nur seine Schwester, deren noch wachsender Körper irgendwo in der zusammengedrängten Sippe verborgen war. Und er wusste im tiefsten Innern, dass der eigentliche Winter erst noch bevorstand: die über lange Monate sich hinziehende Art von Agonie, während sein Körper sich selbst verzehrte, um ihn am Leben zu erhalten.

Er krümmte sich auf dem Ast und versuchte, tiefer in die Gruppe einzudringen. Die Erwachsenen wussten, dass es in ihrer aller Interesse lag, wenn sie sich abwechselnd am Rand der Gruppe platzierten und für kurze Zeit der Kälte aussetzten, um die anderen zu schützen. Es hatte niemand etwas davon, wenn die außen Liegenden erfroren. Jedoch war Noth durch seinen niederen Rang benachteiligt, und als die anderen schläfrigen Männchen seinen Geruch wahrnahmen, schoben sie ihn mit vereinten Kräften zurück, sodass er wieder genauso exponiert war wie zuvor.

Er hob den Kopf und stieß einen traurigen Laut aus.

Diese Primaten spendeten sich gegenseitig keinen Trost. Noth empfand die Fellpflege als angenehm, aber nur bezüglich seiner eigenen körperlichen Empfindungen und der Folgen, die es auf das Verhalten der anderen ihm gegenüber hatte – nicht aber in Bezug darauf, wie die anderen sich fühlten. Die anderen Notharctus waren einfach nur ein Teil seiner Umwelt wie die Koniferen und Podocarpus, die Jäger, Räuber und Beute: Sie hatten nichts mit ihm zu tun.

Diese aneinander gekuschelten Notharctus waren trotz der körperlichen Nähe einsamer, als ein Mensch es je sein würde. Noth war für immer im Gefängnis seines Kopfs eingesperrt und gezwungen, seine Sorgen und Nöte allein auszuhalten.

Der Tag brach an, aber ein eisiger Nebel lag über dem Wald. Auch wenn die Sonne hell strahlte, spendete sie kaum Wärme.

Die Notharctus reckten und streckten sich nach den langen Stunden, die sie unbeweglich in der Kälte verbracht hatten. Vorsichtig und wachsam kletterten sie den Baum hinab und schwärmten zögernd auf dem Waldboden aus. Die ranghöchsten Weibchen bewegten sich am Rand der Lichtung entlang und erneuerten mit Handgelenken, Achselhöhlen und Genitalien die Duftmarken.

Noth wühlte im gefrorenen Kompost. Mit dem toten Laub vermochte er nichts anzufangen, aber er lernte schnell, an Stellen zu graben, wo die Schicht besonders dick war. Die verrottenden Blätter speicherten Feuchtigkeit und gefroren nicht. Deshalb vermochte er Tau vom Laub abzulecken und im weichen Boden nach Knollen, Wurzeln und sogar den Rhizomen von Farnen zu graben.

Plötzlich ertönte eine Serie lauter Schreie, die durch den Wald hallte. Noth schaute mit zuckenden Schnurrhaaren auf.

Es herrschte Unruhe in einem Podocarpus-Hain. Noth sah, dass eine Gruppe Notharctus aus fremden Weibchen und einer Schar Jungen aus dem Wald gekommen war. Sie näherten sich dem Podocarpus.

Größte stob mit ein paar anderen Weibchen auf sie zu. Das große dominierende Männchen der Sippe – den Noth sich irgendwie als ›Kaiser‹ vorstellte – schloss sich den vorpreschenden Weibchen an. Bald ergingen alle sich in Drohgebärden, kreischten und benetzten die langen Schwänze mit Duftstoffen. Die fremden Weibchen wichen zurück und erwiderten die Drohgebärden. Der Wald hallte für einen Moment von einer lautstarken Auseinandersetzung wider.

Die weiblichen Clans, das Herz der Notharctus-Gesellschaft, wurden bei Grenzverletzungen des Territoriums zu Furien. Diese fremden Weibchen hatten die Duftmarken missachtet, die von Groß und den anderen gesetzt worden waren und die im Sensorium eines Notharctus wie rote Alarmlichter wirkten. In dieser Zeit des Jahres wurde auch das Futter knapp, und im letzten Versuch, die Körper-Speicher für den harten Winter aufzufüllen, lohnte sich der Kampf um einen üppigen Popdocarp-Busch.

Die Weibchen führten ihre Auseinandersetzungen mit größerem Ungestüm als die Männer – und dabei trugen sie noch ihre Jungen unterm Bauch. Die Gebärden eskalierten schnell zu Ausfällen und Finten und sogar Beißattacken. Die Weibchen waren wie Messerkämpfer.

Aber es kam nicht zum Äußersten. Die Demonstration von Größter und den anderen bewog die Neuankömmlinge zum Rückzug, ohne dass ein Notharctus die Pfote gegen einen anderen erhoben hätte. Sie zogen sich in die langen grau-braunen Schatten des tiefen Waldes zurück; aber nicht ohne dass ein größeres Junges vorgeprescht wäre, die Zähne in eine von der Kälte verschrumpelte Frucht geschlagen und mit der Beute davongerannt wäre, ehe man es aufzuhalten vermochte.

Die Weibchen, die sich plötzlich der Verwundbarkeit ihres Schatzes bewusst geworden waren, bildeten nun einen Kreis um den Podocarp und verschlangen gierig die Früchte. Ein paar ältere, starke Männchen, einschließlich des Kaisers, schlossen sich Größter und den anderen bei der Mahlzeit an. Noth umkreiste mit anderen jungen Männchen die futternde Gruppe und wartete darauf, dass er sich an den Resten gütlich tun konnte.

Er wagte es aber nicht, den Kaiser herauszufordern.

Die Notharctus-Männchen hatten ihre eigene komplexe und differenzierte Sozialstruktur, die diejenige der Weibchen überlagerte. Und sie war auf die Paarung ausgerichtet, die die wichtigste Sache – die einzig wichtige Sache für sie war. Der Kaiser hatte ein großes Territorium, das die Reviere vieler Weibchen-Gruppen umfasste. Er war bestrebt, sich mit allen Weibchen seines Territoriums zu paaren, um die Chance zu maximieren, seine Gene weiterzugeben. Er setzte Duftmarken an Weibchen, um Rivalen abzuschrecken. Und er kämpfte mit aller Macht, um andere starke Männchen von seinem großen Reich fernzuhalten – genauso wie Noths Vater versucht hatte, Solo zu vertreiben.

Dieser Kaiser war ein guter Kämpfer und hatte sein ausgedehntes Reich schon seit über zwei Jahren halten können. Aber wie alle Mitglieder seiner kurzlebigen Art alterte er schnell. Sogar Noth, der rangniederste Neuling, stellte endlose instinktive Kalkulationen über die Stärke und Konstitution des Kaisers an. Der Trieb, sich zu paaren und Nachwuchs zu zeugen, um den Fortbestand seiner Linie zu gewährleisten, war bei Noth genauso stark wie bei allen anderen Männchen. Bald würde der Kaiser sicher auf einen Herausforderer treffen, dem er nicht gewachsen war.

Doch fürs Erste war Noth noch nicht in der Position, den Kaiser oder eins der anderen stärkeren Männchen herauszufordern, die in der sozialen Hierarchie über ihm standen. Und er sah, dass der Bestand der Podocarp-Früchte schnell schwand.

Mit einem frustrierten Ruf rannte er über den Waldboden und kletterte auf einen Baum. An den Ästen, die von Reif, Tau und Flechten glitschig waren, hingen keine Blätter und Früchte mehr. Aber es bestand vielleicht immer noch die Möglichkeit, Speicher mit Nüssen oder Samen zu finden, die Waldtiere vorsorglich angelegt hatten.

Er kam zu einem Loch in einem abgestorbenen Baumstamm. In der feuchten, modrigen Höhlung sah er den Schimmer von Nussschalen. Er griff mit den kleinen, beweglichen Händen hinein und holte eine Nuss heraus. Die runde Schale war fugenlos und intakt. Er schüttelte die Nuss und hörte den Kern darin rasseln. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Doch als er hineinbiss, glitten die Zähne an der glatten harten Oberfläche ab. Verwirrt versuchte er es von neuem.

Plötzlich ertönte ein lautes Zischen. Mit einem Schrei ließ er die Nuss fallen und flüchtete sich auf einen höheren Ast.

Eine Kreatur von der Größe einer großen Hauskatze kroch unbeholfen auf das Nussversteck zu. Es schaute zu Noth auf und zischte erneut, wobei es einen rosigen Rachen mit kräftigen oberen und unteren Schneidezähnen entblößte. Mit einem Ausdruck der Zufriedenheit, dass es den Konkurrenten vertrieben hatte, holte das Geschöpf eine der Nüsse aus dem Vorrat heraus und knackte die Schale mit dem kräftigen Gebiss. Dann biss es auf der Schale herum und erweiterte das entstandene Loch. Schließlich gelangte es an den Kern und knabberte ihn geräuschvoll. Noth, der sich hinter dem Baumstamm versteckt hatte, wurde vom Schwall des süßen Aromas schier überwältigt.

Dieses Ailuvarus sah annähernd aus wie ein rudimentäres Eichhörnchen mit einem mausartigen Gesicht. Es hatte einen langen buschigen Schwanz, mit dem es wie mit einem Fallschirm den Sturz abbremste, wenn es vom Baum fiel – was oft geschah. Obwohl es nicht die biegsamen Hände und Füße eines Primaten hatte und kein sehr guter Kletterer war, hätte es wegen seiner Größe Noth mit Leichtigkeit abzuwehren vermocht.

Das Ailuvarus war eins der ersten Nagetiere. Die große robuste Familie war ein paar Millionen Jahre zuvor in Asien aufgetaucht und hatte sich dann über die ganze Welt verbreitet. Diese streiflichtartige Begegnung war ein Scharmützel am Anfang eines epochalen Kampfs um Ressourcen zwischen den Primaten und den Nagetieren.

Und die Nagetiere gingen jetzt schon als Sieger aus diesem Kampf hervor.

Einmal gelangten sie leichter an Nahrung als Primaten. Noth hätte einen Nussknacker gebraucht, um Hasel- oder Walnüsse zu essen und einen Mühlstein, um Körner wie Weizen oder Gerste zu verarbeiten. Doch die Nagetiere mit den starken und immer längeren Schneidezähnen vermochten selbst die härtesten Nussschalen und Spelzen zu knacken. Und bald würden sie auch die besten Früchte von den Bäumen fressen, ehe sie noch reif waren.

Und nicht nur das, die Nagetiere vermehrten sich auch viel stärker als die Primaten. Dieses Ailu vermochte in einem Jahr ein paar Würfe zur Welt zu bringen. Viele Junge verhungerten zwar, unterlagen im Konkurrenzkampf mit ihren Geschwistern oder fielen Vögeln und Fleischfressern zum Opfer. Aber es überlebten trotzdem genug, um die Linie fortzuführen. Dem Ailu bedeuteten seine Jungen weniger als dem Notharctus, das nur einmal im Jahr trächtig wurde und für das der Verlust auch nur eines Jungen eine Katastrophe war. Und die große Nachkommenschaft der Nagetiere bot den blinden Schöpfern der natürlichen Auslese jede Menge Rohmaterial; sie entwickelten sich in atemberaubendem Tempo.

Obwohl Primaten wie Noth viel intelligenter waren als Nagetiere wie das Ailu, vermochte seine Art nicht mit ihnen zu konkurrieren.

Es waren nicht nur die Plesiapiden, die in Nordamerika selten wurden. Es war nämlich kein Zufall, dass Noths Art in diesen peripheren Polarwald abgedrängt worden war. In der Zukunft würde Noths Linie weiter wandern, über das Dach der Welt nach Europa einwandern und von dort weiter nach Asien und Afrika. Auf diesem langen Marsch würden sie sich anpassen und ihre Gestalt verändern. In Nordamerika würden jedoch in ein paar Millionen Jahren die Nagetiere auf ganzer Linie siegen. Eine neue Ökologie würde entstehen, die von Goffern, Eichhörnchen, Packratten, Murmeltieren, Feldmäusen und Streifenhörnchen bevölkert wurde. Es würde keine Primaten mehr in Nordamerika geben: nicht für die nächsten einundfünfzig Millionen Jahre, als menschliche Jäger, weit entfernte Nachfahren des Notharctus, über die Beringstraße von Asien her einwanderten.

Als das Nagetier das Mahl beendet hatte, kroch Noth vorsichtig aus seinem Versteck. Mit den beweglichen Händen sammelte er die Reste der Kerne auf, die das Ailu hatte fallen lassen und stopfte sie sich gierig in den Mund.

Für ein paar Stunden am Tag wurde es am südlichen Himmel noch hell. Aber die Sonne zog nun ihre Kreise unter dem Horizont. Die Seen waren fast alle zugefroren, und die Bäume waren dick vereist. An manchen schimmerten gespinstartige Splitter, wo der Nebel Spinnennetze vereist hatte. Die Notharctus bewegten sich langsam und träge durch die Bäume und über den stummen Waldboden. Aber das spielte keine Rolle, denn der Wald vermochte ihnen in diesem Herbst sowieso kaum Nahrung zu bieten.

Dann kam ein letzter klarer Tag, als Schichten roter Wolken sich an einem violetten südlichen Himmel auftürmten und die purpur-grüne Aurora wie ein weiter Vorhang die Sterne verhüllte.

Die Notharctus stiegen zum Boden herab und gruben sich an Stellen, wo Laubschichten das Gefrieren des Bodens verhindert hatten, oder unter Baumwurzeln ein. In dieser Nacht würde es den bisher strengsten Frost des Winters geben, und sie alle wussten, dass es Zeit war, Schutz zu suchen. Also gruben die Primaten sich ein und bauten Höhlen, in denen auch Purga sich wohl gefühlt hätte. Es war, als ob die kurze Zeitspanne auf den Bäumen nur ein Traum von Freiheit gewesen wäre.

In tiefster Dunkelheit schob Noth sich durch Tunnel, die durch die durchziehenden Primaten-Körper geglättet wurden. Der Boden war mit Fellresten übersät. Schließlich führte seine feine Nase ihn zu Rechts.

Sanft beschnupperte Noth seine Schwester. Sie schlief schon. Sie hatte sich in der Nähe von Groß zusammengerollt und den Schwanz um sich gewickelt. In den Monaten bei der Sippe von Größter war Rechts gewachsen; dennoch würde sie immer klein bleiben und Züge des Kümmerlings aufweisen, der von seinem nun toten Zwilling herumgestoßen worden war. Ihr Winterfell glänzte noch immer seidig und war weder verfilzt noch schmutzig. Der Schwanz war prall mit Fett gefüllt, das sie über den Winter bringen würde.

Noth verspürte eine Art Zufriedenheit. Angesichts der schlechten Ausgangsvoraussetzungen im Sommer hatten die beiden sich als wahre Überlebenskünstler erwiesen. Für Noth, der selbst keinen Nachwuchs hatte, war Rechts seine einzige Verwandte – seine ganze genetische Zukunft hing von ihr ab. Doch fürs erste vermochte er nicht mehr für sie zu tun.

In der Dunkelheit, eingetaucht in die Gerüche und charakteristischen Geräusche seiner Art, schmiegte Noth sich eng an seine Schwester. Er schloss die Augen und war bald eingeschlafen.

Kurz träumte er: von Splittern aus Sommerlicht, von langen Schatten, davon, wie seine Mutter vom Baum gefallen war. Und als sein Körper sich dann abschaltete, löste das Bewusstsein sich auf.

IV

Die fast horizontalen Sonnenstrahlen bohrten sich wie Suchscheinwerfer in den Wald. Über den langsam auftauenden Gewässern hing ein kühler Nebel. Er leuchtete in präzisen rosig-grauen Wirbeln, eine Schönheit, die von niemandem gewürdigt wurde. Von den kahlen Baumstämmen erstreckten sich lange Schatten nach Norden. Doch schon knospten die ersten Blätter an den kahlen Ästen. Kleine grüne Scheiben hingen fast senkrecht, um das Sonnenlicht einzufangen. Die Blätter waren bereits bei der Arbeit: Die Frühlings- und Sommertage waren so kurz, dass diese robusten pflanzlichen Diener jeden Lichtstrahl auffangen mussten, dessen sie habhaft wurden.

Es war nur ein Streiflicht, eine Dämmerung, die nicht länger als ein paar Minuten währte. Aber es war seit ein paar Monaten das erste Mal, dass die Sonnenscheibe sich wieder gezeigt hatte.

Der Wald war still. Die großen Pflanzenfresser-Herden befanden sich noch hunderte Kilometer im Süden; es würde noch Wochen dauern, bis sie die Sommerweiden erreichten, und die Vögel ließen auch noch auf sich warten. Noth war aber schon wach und trieb sich wieder draußen herum.

Nach dem Winterschlaf war er abgemagert, und der Schwanz war schlapp und hatte das ganze Fett verloren. Das zerzauste und von Urin gelb befleckte Fell hing wie eine von der Sonne angestrahlte Wolke um ihn und ließ ihn doppelt so groß erscheinen, wie er eigentlich war. Weil das Nahrungsangebot der Bäume noch immer dürftig war, musste er über den mit pflanzlichen Abfällen übersäten eiskalten Boden laufen. Nach der Winterkälte hatte es den Anschein, als ob hier niemand jemals gelebt hätte, und überall markierte er Steine und Baumstämme mit seinem Duft.

Um ihn herum waren die Männchen auf Futtersuche, wobei eine große Konkurrenz zwischen ihnen herrschte. Sie waren nun alle erwachsen: Sogar diejenigen, die vor kaum einem Jahr geboren worden waren, hatten fast ihre volle Größe erreicht, während ›Veteranen‹ wie der Kaiser selbst, dessen dritter Geburtstag nahte, sich steifer als im vergangenen Jahr bewegten. Nach dem auszehrenden Winterschlaf machten alle einen kränklichen Eindruck, und die anhaltende Kälte fraß sich durch das lose Fell in die abgemagerten Körper.

Es war aber riskant, so früh sich schon zu bewegen. In den Höhlen schliefen noch immer die Weibchen und brauchten die letzten Wintervorräte auf. Die Räuber waren auch schon aktiv, und wegen des Futtermangels waren ›Frühaufsteher‹-Primaten ein lohnendes Ziel. Wenn eins der Männchen auf ein unerwartetes Futterdepot stieß, wurde er schnell von schnappenden Rivalen umzingelt, und der leere Wald hallte wider von ihrem Kreischen und Kläffen.

Noth hatte aber keine andere Wahl, als sich der Kälte auszusetzen. Es nahte nämlich die Paarungszeit, eine Zeit harter Auseinandersetzungen zwischen den Männchen. Noths Körper wusste, je eher er für die bevorstehenden Kämpfe Kraft tankte und Energie speicherte, desto bessere Chancen hatte er, eine Partnerin zu finden. Er musste das Risiko eingehen.

Noth machte sich auf den Weg zum größten der nahe gelegenen Seen, wobei er sich anhand der verschwommenen Erinnerungen orientierte.

Der See war noch weitgehend zugefroren. Die graue Eisdecke war mit losem, hartkörnigem Schnee bedeckt. Ein Paar entenartiger Vögel, frühe Einwanderer, watschelten über den See und pickten hoffnungsvoll auf der Oberfläche herum. Unter dem Grau sah Noth das kühle Blau älteren Eises – eine Linse tiefgekühlten Materials, das schon im letzten Sommer nicht geschmolzen war und auch in diesem Jahr nicht schmelzen würde.

Er kam an einem grau-weißen Bündel vorbei, das dicht an der Wasserlinie lag. Es war ein Mesonychid. Wie der Polarfuchs späterer Zeiten überwinterte er auf dem Boden. Jedoch hatte dieser Meso im Winter bei einem Kälteeinbruch sich in einem Schneesturm verirrt und war hier am Seeufer erfroren. Der Körper war schnell gefroren und schien sich perfekt erhalten zu haben. Doch wo er nun auftaute, machten die Bakterien und Insekten sich ans Werk: Noth stieg ein süßlicher Verwesungsgeruch in die Nase. Das halbgefrorene Fleisch würde ihm munden, und die salzigen Maden wären ein Leckerbissen. Aber der Durst war stärker als der Hunger.

Nahe dem flachen schlammigen Seeufer war das Eis dünn und rissig, und Noth roch offenes Wasser. Das grünliche Wasser wimmelte von Leben und war mit grauen Brocken der alten Eisdecke bedeckt. Noth tunkte die Schnauze ins Wasser und trank. Dadurch löste sich auch der größte Teil des zähen Schleims zwischen den Zähnen.

Er sah, dass Zusammenballungen durchsichtiger grauer Kügelchen im Wasser schwammen – der Laich der amphibischen Seebewohner, den sie so früh wie möglich abgelegt hatten. Und in der Nähe, in den Untiefen zu seinen Füßen, machte Noth winzige zuckende Wesen aus: die ersten Kaulquappen. Er fuhr mit der Hand durchs Wasser, schöpfte den Schleim ab und stopfte sich die glibbrige Masse in den Mund.

Dann wurde die Darmtätigkeit aktiviert, und wässriger Kot sammelte sich unter ihm.

Und dann brach das Eis mit einem lauten Knacken auf, und etwas kam an die Wasseroberfläche. Etwas Großes kam aus dem See. Mit großen Augen huschte Noth in die Deckung der nächsten Bäume.

Wie Noth war auch das Krokodil früh erwacht und von der Helligkeit des Tags aus dem Schlaf gerissen worden. Als es aus dem See kam, rutschten ihm Eisbrocken vom Rücken. Mit einer geschmeidigen Bewegung schnappte es den gefrorenen Meso. Eis splitterte, und Knochen knackten. Dann glitt das Kroko rückwärts ins Wasser und zog den Kadaver mühelos und fast geräuschlos mit.

Das Krokodil war hungrig.

Vor dem Kometen waren die größten Tiere in allen Ökologien der Erde Reptilien gewesen: die Plesiosaurier und Ichthyosaurier in den Meeren, die Dinosaurier an Land und die Krokodile im Süßwasser. Die Katastrophe hatte diese Familien ausgelöscht, und in ihren leeren Reichen sollten sie bald durch funktional gleichwertige Säugetiere ersetzt werden – alle außer den Krokodilen.

Die Lebensbedingungen in der Süßwasser-Umgebung waren schon immer schwierig gewesen. Während die Versorgung mit pflanzlichem Material an Land und im Meer räumlich und zeitlich geregelt war, waren Süßwasser-Umgebungen sehr variabel. Erosion, Abrasion, Verlandung, Überschwemmungen, Dürre und starke Schwankungen der Wasserqualität waren die Risiken.

Aber das Krokodil – und andere robuste Süßwasser-Arten wie Schildkröten – waren widerstandsfähig. Manche lernten, auf der Suche nach Wasser über Land zu gehen. Andere wichen ins Meer aus. Oder sie gruben sich metertief in den Schlick ein und warteten auf den nächsten Wolkenbruch. Und was die Nahrung betraf, lebten sie selbst während der größten Auslöschungen an Land und im Meer von den Nährstoffen, die von den Kadavern, mit denen das Land übersät war, in einem steten Strom in den Untergrund einsickerten.

Auf diese Art hatten die Krokodile über hundertfünfzig Millionen Jahre überlebt – Kometen- und Meteoriten-Einschläge, plötzliche Vergletscherungen, Änderungen des Meeresspiegels, tektonische Auffaltungen und Konkurrenz von aufeinander folgenden Tierreichen.

Und nach dieser ganzen Zeit hatten sie immer noch die Fähigkeit zu evolutionären Neuerungen. Die erste Zeit nach dem Kometeneinschlag waren die dominierenden Räuber an den Wasserläufen Verwandte der Krokodile mit langen Beinen und hufartigen Klauen gewesen. Sie waren ein Albtraum gewesen, schnelle Krokodile, die imstande gewesen waren, Tiere bis zur Größe kleiner Pferde zu jagen. Die Krokodile hatten sich sogar an die Lebensbedingungen hier am Pol angepasst, wo die Sonne monatelang nicht schien; sie verschliefen den Winter einfach.

Im Gegensatz zu den Dinosauriern und den Plesiosauriern wurden die Krokodile nicht von aufstrebenden Säugetieren aus ihren Süßwasser-Nischen vertrieben: weder jetzt noch in Zukunft.

Noth hatte den Meso-Kadaver verloren, aber die Stelle, wo er gelegen hatte, war mit Fleischfetzen und zerdrückten Maden bedeckt. Hungrig leckte er über den gefrorenen Boden.

Schließlich kam der Tag der Paarung.

Die Weibchen der Sippe versammelten sich in den Ästen einer großen Konifere. Sie aßen erste Früchte und führten dem Körper die Nährstoffe zu, die sie brauchten, um den Anstrengungen der Mutterschaft gewachsen zu sein. Die Weibchen wurden unauffällig von den Älteren angeleitet, darunter auch Groß und Größte. Rechts war ebenfalls bei ihnen. Sie hatte ihren ersten Winter überlebt. Sie nahm schnell an Gewicht zu, und als sie das zottige Winterfell abgeschüttelt hatte, entpuppte sie sich als eine kleine, aber gut gebaute Erwachsene, die zur Paarung bereit war.

Der Kaiser weilte in seinem Harem. Tapfer humpelnd ging er von einer zur andern, um sie zu besteigen. Größte hatte ihn schon zweimal rangelassen, und Rechts hatte er auch schon entjungfert, ohne dass sie sich ihm widersetzt hätte. Nun nahm er Groß. Sie hatte sich an einen tiefen Ast geklammert und vornüber gebeugt. Den Kopf hatte sie zwischen die Knie und den Schwanz in die Höhe gestreckt. Der Kaiser war hinter ihr. Er hatte ihr die Arme um die Taille geschlungen und stieß sie mit einem Tempo, aus dem Erschöpfung und Dringlichkeit sprachen.

Dies war der Tag, auf den der Kaiser das ganze Jahr hingearbeitet hatte; und nun war die Zeit gekommen, da er seine ganze Autorität und Energie in die Waagschale warf, um so viele Weibchen wie möglich zu decken.

Doch der Kaiser drohte schon schlappzumachen. Dabei war dieser Harem nur einer von mehreren im großen Territorium, über das er herrschte.

An diesem Ort, der so stark jahreszeitlichen Einflüssen unterworfen war, musste die Aufzucht der Jungen in einem sehr kurzen Zeitraum erfolgen. Deshalb wurde Nachwuchs gezeugt, wenn reichlich Nahrung vorhanden war und die werdenden Mütter genug Futter bekamen, um genügend Milch zu produzieren. Einem Weibchen, das sich außerhalb der Paarungszeit paarte, wäre es kaum vergönnt zu erleben, wie sein Nachwuchs den Eintritt ins Erwachsenenalter erlebte. Und ein Männchen, das die Gelegenheit verpasste, sich mit einem fruchtbaren Weibchen zu paaren, würde ein ganzes Jahr der Entbehrungen, Gefahren und des Mangels aushalten müssen, ehe es eine neue Chance bekam.

Für die Notharctus dauerte die Paarungszeit gerade einmal achtundvierzig Stunden. Und in dieser kurzen Zeit ging der Punk ab.

An diesen beiden Tagen, beim gleichzeitigen Eisprung aller Weibchen, war die Luft mit einer Pheromonwolke geschwängert und überall wimmelte es von Männchen, die einem schier unwiderstehlichen Drang folgten. Erektionen stachen aus dem Fell. Die Männchen hatten sich seit der Rückkehr der Sonne auf diesen Moment vorbereitet. Sie hatten ordentlich gefressen, um sich zu stärken, hatten spektakuläre Sprünge vollführt und Scheinkämpfe geführt – wie Athleten, die sich auf ein Turnier vorbereiteten. Der Kaiser vermochte sie sich unmöglich alle vom Leib zu halten, und die Konkurrenz wurde immer stärker. Heute stand die Hierarchie der Männchen auf der Kippe.

Der Stress für die Weibchen würde später kommen, bei der Schwangerschaft, wenn die schnell wachsenden Föten, und beim Stillen, wenn die Neugeborenen es der Mutter permanent abverlangten, energiereiche Nahrung zu suchen – und das zu einer Zeit, wo fast jedes ausgewachsene Weibchen stillte. Es war der hohe Preis der Reproduktion, der zur generellen Dominanz der Weibchen über die Männchen geführt hatte, und das war auch der Grund, weshalb die Weibchen immer das beste Futter bekamen.

Im ganzen Wald war es das Gleiche. Bei den Notharctus-Sippen fand die Paarungszeit gleichzeitig statt, wobei der Zeitpunkt von den chemischen Düften bestimmt wurde, die die Luft kilometerweit durchzogen. An den beiden Tagen war der Wald eine einzige Orgie, erfüllt vom Kreischen kämpfender Männchen, mit pheromongeladenen Weibchen und von heftigem Rammeln.

Noth verfolgte ein anderes junges Männchen, das er sich als Rivale vorstellte, und schnellte sich durch ein lichtes Koniferenwäldchen. Mit einem Arm schwang er an den dürren Ästen. Bei jedem Abschwung kam die Erde wie eine riesige Schüssel auf ihn zu, und totes Laub, frischer grüner Farn und die unansehnlichen Gestalten schnüffelnder Bodenbewohner stoben unter ihm davon.

Sein Kopf war vom Östrogengeruch benebelt. Er hatte schon eine Erektion, seit er heute Morgen aufgewacht war. Auch jetzt, während er sich von Baum zu Baum schwang, stach der Penis rosig und steif hervor. Er musste sich erst noch durch die dicht gedrängten Männchen kämpfen, um zu einem empfängnisbereiten Weibchen zu gelangen, und er hatte das Gefühl, dass ihm der Bauch platzen würde, wenn er nicht bald Erfolg hatte. Obwohl er sich vor Lust schier verzehrte, genoss er es, sich mit dem geschmeidigen Körper kraftvoll durch den Wald zu schwingen, an den er so gut angepasst war.

Nie zuvor hatte Noth sich so lebendig gefühlt.

Noth landete punktgenau auf dem Baum des Rivalen und packte die Äste mit exakt koordinierten Händen und Füßen. Doch sofort fiel Rivale über ihn her.

Sie standen sich aufrecht gegenüber. Die Penisse wiesen wie Spieße aufeinander. Noth ging mit aufgestelltem Schwanz auf den Rivalen zu, wobei er keckernd und belfernd die Genitalien an der Baumrinde rieb. Rivale erwiderte die Gesten. Das war ein ritualisiertes Aufeinandertreffen, bei dem jeder in einer Art Tanz auf die Bewegungen des jeweils anderen reagierte: Die ›Choreographie‹ umfasste Schwanz aufstellen, Genitalien reiben, Arme ausbreiten und sich mit Blicken töten.

Bald war die Luft von ihrem Gestank erfüllt. Sie kamen sich so nahe, dass Noth die Spitzen des gesträubten Fells des anderen spürte. Sein Gesicht wurde vom Speichel des Rivalen benetzt.

Rivale war etwa im gleichen Alter wie Noth und hatte die gleiche Größe. Er hatte sich der Sippe etwas früher als Noth und seine Schwester angeschlossen. Für ihn war Noth ein Eindringling in eine Sippe gewesen, die er schon als ›seine‹ betrachtete. Noth und Rivale waren sich – wie Brüder – zu ähnlich und zu nah, um etwas anderes zu sein als Rivalen.

Rivale war geringfügig größer und schwerer als Noth, weil er bei der Nahrungssuche im Frühling erfolgreicher gewesen war. Doch Noth hatte in diesem schwierigen Jahr eine innere Kraft entwickelt und hielt ihm stand.

Schließlich gab die Psychologie den Ausschlag. Rivale wurde plötzlich der Schneid abgekauft, und er gab die Drohgebärden auf. Er drehte Noth den Rücken zu und bot ihm in einer kurzen symbolischen Geste der Unterwerfung das rosige Hinterteil dar.

Noth stieß einen triumphierenden Ruf aus. Kurz rieb er die Handgelenke am Rücken des Rivalen, markierte den Sieg mit seinem Geruch und urinierte in einem Schwall auf ihn. Dann ließ er zu, dass Rivale sich auf dem Ast in Richtung eines Beerenfruchtstands trollte.

Rivale war dabei nicht zu Schaden gekommen. Er würde für eine Weile auf seinem Baum schmollen, vielleicht etwas fressen und sich für eine Weile aus dem Paarungs-Treiben heraushalten. Seine Chancen hatten sich aber nur für ein paar Stunden verschlechtert. Noths Urin hatte ihn kurzzeitig sterilisiert und sogar die Fähigkeit beeinträchtigt, die speziellen trillernden Rufe auszustoßen, mit denen die Männchen Weibchen anlockten.

Für Noth war das eine folgerichtige Strategie. Es war heute unmöglich für ein Männchen, alle Weibchen zu decken – und wenn es sich noch so sehr anstrengte. Er vermochte jedoch die Anzahl der konkurrierenden Männchen durch diese sensorische Einschüchterung zu verringern.

Nach der Niederlage des Rivalen zuckte Noths Penis von neuem; bald würde er die Befriedigung finden, nach der er sich sehnte. Mit schnellen, kräftigen Sprüngen bewegte er sich von Ast zu Ast durch den Wald zu der Stelle, wo die Weibchen sich versammelt hatten.

Aber er wusste noch nichts von dem wilden Kampf, der dort stattfand.

Der Kaiser ging noch immer im Harem um und beendete eine weitere Paarung. Mit wundem, schlaffem Penis streifte er zwischen den Weibchen umher und hieb und schnappte nach jedem Männchen, das in seine Reichweite kam.

Und plötzlich sah er sich Solo gegenüber.

Der alternde Kaiser richtete sich auf und fletschte die Zähne. Die Drüsen steigerten die Produktion seines starken Duftstoffs. Mit dem gesträubten Fell und der zuckenden Schnauze bot er einen beeindruckenden Anblick, mit dem er jedes andere Männchen eingeschüchtert hätte.

Jeden außer Solo.

Solo hatte in einer nicht weit entfernten Höhle einen lauschigen Winter mit einer Schar Weibchen verbracht. Gleich nachdem das Licht zurückgekehrt war, hatte er sich auf Futtersuche begeben und sich schnell so viel Masse angefressen, bis er wieder so stark war wie letztes Jahr zu seinen besten Zeiten.

Und er hatte die Streifzüge wieder aufgenommen. Allein heute hatte er schon im ganzen Wald ein halbes Dutzend Weibchen begattet. Und ihm stand der Sinn nach mehr – doch dazu musste er erst die Konkurrenz ausschalten.

Solo sprang den Kaiser an und rammte ihm die vernarbte Schnauze in den Bauch.

Der Kaiser fiel rücklings auf den Ast. Er wand sich und wäre vielleicht vom Baum gefallen, wenn die beweglichen Primaten-Hände nicht an der Rinde Halt gefunden hätten. Er war durch den plötzlichen körperlichen Angriff genauso schockiert wie verwundet. Außer Knüffen und Püffen von Weibchen, die ihren Anspruch auf die beste Nahrung geltend machten und gelegentlichen unbeabsichtigten Schlägen von anderen Männchen war er in seinem ganzen Leben noch von niemandem verletzt worden.

Und es war auch noch nicht vorbei.

Mit einem Sprung, der für ein Geschöpf seiner Größe geradezu elegant anmutete, sprang Solo auf den Kaiser. Er setzte sich dem älteren Männchen auf die Brust und drückte dem Kaiser die Rippen zusammen. Der Kaiser schrie auf. Er schnaufte und keuchte und schlug Solo auf den Rücken. Mit vollem Krafteinsatz hätte er den anderen vielleicht abgeschüttelt. Jemanden zu verletzen ging ihm jedoch gegen den Instinkt, und deshalb setzte er sich nur halbherzig zur Wehr.

Damit hatte er seine Chance vertan.

Solo beugte sich nach vorn und stieß dem Kaiser die Schnauze in die Genitalien. Er schob das Fell beiseite, das noch steif war vom Samen und der Vaginalflüssigkeit einiger Weibchen. Mit einer schnellen Bewegung biss er dem Kaiser in den Hodensack und riss einen Hoden heraus.

Der Kaiser heulte auf und schlug um sich. Blut schoss hervor und vermischte sich mit den anderen Flüssigkeiten im Fell.

Solo löste sich vom Kaiser und beförderte ihn mit einem gezielten Tritt vom Ast hinunter. Der Körper des älteren Männchens brach durch die unteren Laubschichten und fiel auf den Boden. Dann spie Solo den blutigen Hoden aus und ließ ihn auf den Waldboden fallen.

Solo machte sich über Rechts her, Noths Schwester. Sie war noch eins der jüngsten Weibchen. Er befingerte seinen schnell anschwellenden Penis und schickte sich an, sie zu nehmen.

Und plötzlich fiel Noth – jung, kraftvoll und geil – aus der Luft und landete vor Solos Füßen. Solo drehte sich wie ein Geschützturm zum neuen Herausforderer um.

Noth hatte nicht gewusst, dass Solo hier war. Aber er erinnerte sich an ihn. Er hatte weder eine Vorstellung von gestern und morgen noch eine zusammenhängende Erinnerung; sie war eher wie eine Galerie lebendiger Bilder auf der Grundlage visueller und Geruchs-Eindrücke. Jedoch löste Solos intensiver Gestank eine Bilderflut in ihm aus – bruchstückhafte und streiflichtartige Impressionen jenes schrecklichen Tages in einem anderen Teil des Waldes, des verzweifelten Geheuls seiner Mutter, als sie in eine Grube aus Zähnen stürzte.

Widerstreitende Impulse wallten in ihm auf. Er sollte sich in Positur werfen und kräftig stinken – oder er sollte dieser starken Kreatur eine Demutsgeste zeigen, wie Rivale sich ihm unterworfen hatte.

Doch keine der Alternativen schien auf Solo anwendbar zu sein. Er befolgte keine der ungeschriebenen Regeln, die die Gesellschaft der Notharctus zusammenhielt. Soeben hatte er das dominierende Männchen der Sippe verstümmelt. Solo würde sich mit einem symbolischen Sieg sicher nicht zufrieden geben. Solo würde ihn verwunden, wenn nicht gar töten wollen.

Und hier war Rechts, Noths einzige Verwandte, die im Laub zu Solos Füßen kauerte. Hier waren die Weibchen, mit denen er ein halbes Jahr zusammengelebt hatte und deren angeschwollene Vaginas ihn seit Tagen und Wochen voller Vorfreude mit Lust erfüllt hatten – und hier war dieses Ungeheuer, Solo, der alles zerstört hatte, mit dem er aufgewachsen war.

Er richtete sich auf und stieß ein Heulen aus.

Solo hielt erschrocken inne.

Noths Handgelenke und Genitalien juckten vor Moschus. Er warf sich für eine Sekunde in Positur, eine verkürzte Demonstration seiner Kraft und Jugend. Dann senkte er blindlings und ohne zu wissen, was er tat, den Kopf und stieß ihn Solo in den Bauch. Mit einem erstickten Schrei wurde Solo zurückgeworfen und fiel rücklings auf einen Blätterhaufen.

Wenn er sofort nachgesetzt hätte, dann hätte Noth mit diesem Überraschungsangriff vielleicht Erfolg gehabt. Aber er hatte noch nie in seinem Leben einen körperlichen Kampf ausgetragen. Und dann warf Solo sich mit den Instinkten eines erfahrenen Kämpfers herum und stieß Noth das Knie gegen die Schläfe. Noth fiel um und suchte instinktiv nach einem Halt. Eine schwere Masse krachte ihm auf den Rücken und drückte ihn gegen die Rinde. Und dann spürte North, wie Solos Schneidezähne sich ins weiche Fleisch im Nacken gruben. Er schrie auf vor Schmerz, krümmte sich und schlug um sich. Er vermochte Solo nicht abzuschütteln – aber durch die heftigen Bewegungen fielen beide vom Ast.

Schreiend brach Noth durch Schichten aus Blättern und Zweigen, während Solo ihm noch immer die Zähne in den Nacken geschlagen hatte.

Sie krachten auf den Boden, wobei der Fall durch die Schicht aus vermodertem Laub kaum gedämpft wurde. Immerhin wurde Noth Solo los, nachdem der ihm noch einmal in die Schulter gebissen hatte. Dann erging Solo sich seinerseits in Drohgebärden. Er stieß ein drohendes Knurren aus, richtete sich auf und schlug mit den kleinen Fäusten auf den Kompost zu seinen Füßen. Laubreste stoben auf und hüllten ihn in einer losen Wolke ein.

Es war ein Kampf zweier kleiner Kreaturen. Doch selbst viel größere Tiere, die furchtsam zuschauten, schreckten vor Solos Wildheit zurück.

Und es war ein ungleicher Kampf. Solo stapfte durch die sich herabsenkenden Laubreste auf Noth zu. Noth warf sich nicht in Positur, sondern sah Solo nur wie hypnotisiert an. Dann schaute er entsetzt auf seine Schulter. Die Haut hing in Fetzen, und das Fell war blutgetränkt.

Doch nun kam Solo ein massiger Leib entgegen geflogen. Es war der Kaiser. Obwohl ihm noch das Blut aus dem zerfetzten Hodensack floss, trat der große Notharctus Solo im Flug in den Rücken und schleuderte ihn bäuchlings zu Boden.

Diesmal zögerte Noth nicht. Er stürzte sich auf Solo und bearbeitete Rücken und Schultern mit Füßen, Händen und Schnauze. Der Kaiser schloss sich ihm an, und es kamen immer mehr Männchen herbei, bis Solo unter einer Schicht schreiender und unerfahrener Angreifer begraben war. Jedem Einzelnen von ihnen wäre Solo überlegen gewesen – nicht aber allen zusammen. Unter dem Hagel ungezielter Schläge vermochte er sich nicht einmal aufzurichten.

Schließlich wühlte er sich wie ein Taeniodont durch den Mulch auf dem Waldboden und entzog sich dem Zugriff der wütenden Meute. Als sie schließlich bemerkten, dass ihre Schläge und Tritte nur den Dreck oder die anderen trafen, hatte Solo sich schon davon geschleppt.

Zerschlagen und unter Schmerzen kletterte Noth wieder auf den Baum. Oben angekommen sah er, dass die Weibchen sich ungerührt kämmten und eingetrockneten Samen aus dem Haar um die Genitalien zupften, als ob der Kampf dort unten nie stattgefunden hätte. Der Kaiser saß still neben dem Weibchen Größte. Der Blutfluss war versiegt, aber mit dem Kopulieren hatte es nun ein Ende.

Und hier war Rivale, der Rechts deckte. Noth sah, dass seine Schwester das Gesicht im Brusthaar verborgen hatte und hörte, dass leise Lustschreie sich ihrer Kehle entrangen. Noth verspürte ein eigenartiges warmes Glühen. Er war nicht eifersüchtig auf die anderen Männchen wegen seiner Schwester; nicht einmal auf dieses Männchen, das er besiegt und das sich anscheinend sehr schnell wieder erholt hatte. Auf einer tiefen biochemischen Ebene begriff er, dass durch die Schwangerschaft seiner Schwester die Linie fortbestehen würde: der leuchtende ununterbrochene molekulare Strang, der – von Purga ausgehend – diesen von der polaren Sonne beschienenen Moment durchlief und sich in unvorstellbare Zukünfte erstrecken sollte.

In der Ferne hörte er ein Träten. Es war der Ruf eines Moeritheriums, der Matriarchin einer Herde, die langsam von Süden sich näherte. Mit der Rückkehr der Herden war es endlich wieder Sommer geworden. Im ganzen Wald ertönten hohe Stimmen: Das war der Gesang der Notharctus, ein Lied der Einsamkeit und des Wunders.

In ein paar Jahren würde Noths Leben vorbei sein. Bald würde auch seine Art verschwunden sein, und ihre Nachfahren würden eine neue Gestalt angenommen haben. Und bald, während die Erde sich nach dieser Mittsommer-Warmphase abkühlte, würde sogar der Polarwald schrumpfen und absterben. Doch fürs erste genoss Noth – blutig, keuchend und mit verschmutztem Fell – seinen Triumph, seinen Tag im Licht.

Das Weibchen Groß näherte sich ihm. Er trillerte leise. Mit einem Funkeln in den Augen krümmte sie den Rücken und bot sich ihm dar. Noth drang schnell in sie ein, und seine Welt versank in einem Freudentaumel.

KAPITEL 6 Die Überquerung Der Kongo, Westafrika, vor ca. 32 Millionen Jahren

I

Kurz bevor er schließlich ins Meer mündete, wälzte der mächtige Fluss sich träge zwischen Wänden aus üppigem Regenwald dahin. Er hatte viele Schleifen und Seitenarme, die vom Hauptstrom abgeschnitten waren und sich in sumpfige Abschnitte und Tümpel verwandelt hatten. Es war, als ob der Fluss nach der langen Reise erschöpft sei, auf der er das Herz eines Kontinenten entwässerte.

Und in diesem Spätsommer hatte es viel geregnet. Der Fluss führte Hochwasser und überschwemmte ein Land, dessen Grundwasserspiegel ohnehin dicht unter der Erdoberfläche lag. Das schmutzige Wasser transportierte erodiertes Gestein, Schlamm und Lebewesen. Flöße aus ineinander verhakten Ästen und Pflanzen trieben wie steuerlose Schiffe auf dem gewaltigen Strom – Relikte, die bereits tausende Kilometer von ihrem Ursprung entfernt waren.

Hoch über dem Wasser, im vielstimmigen Obergeschoss des Waldes, vollführten die Anthros ihre tägliche zerstörerische Prozession.

Sie waren wie Affen. Sie liefen über Äste, schwangen sich mit den kräftigen Armen von Ast zu Ast, pflückten Früchte, rissen Palmwedel ab und zogen Rinde ab, um an Insekten zu gelangen. Weibchen streiften in Gruppen umher und gingen ihrer Arbeit nach, wobei sie hin und wieder eine Pause einlegten und sich der Fellpflege widmeten. Da waren Mütter mit Babys, die sich an Rücken und Bauch klammerten. Sie wurden von Tanten-Gruppen unterstützt. Die Männchen, die größer waren und einen weiteren Aktionsradius hatten, bildeten lockere und steter Veränderung unterliegende Allianzen, während sie um Nahrung, Status und Zugang zu den Weibchen konkurrierten.

Mehr als dreißig Anthros arbeiteten hier. Sie waren schlaue und gute Jäger und markierten ihre Jagdrouten mit Exkrementen. Es herrschte ein fröhliches, lautstarkes Treiben, während die Mitglieder der Gruppe aßen, arbeiteten und die Kräfte maßen.

Streuner war im Moment allein und schwang sich von einem dicken Ast zum nächsten. Obwohl sie hoch über dem Boden war, hatte sie keine Angst zu fallen. Sie war hier in ihrem Element; ihr Körper und Geist waren hervorragend an die Bedingungen dieses undurchdringlichen Blätterdachs angepasst.

An der Küste, im Westen, gab es dichte Mangrovensümpfe. Doch hier im Binnenland war der alte Wald reichhaltig und vielgestaltig. Hier wuchsen mächtige Bäume mit ausladenden Wurzeln: Papayas, Cashews und Fächerpalmen. Die meisten Bäume trugen Früchte und waren reich an Harz und Ölen. Es war ein ausgesprochen günstiger Platz zum Leben. Aber er war auch das Relikt einer Welt, die dem Untergang geweiht war, denn die Welt wurde seit Noths Zeit von einer starken Abkühlung heimgesucht, und die einst weltumspannenden Wälder waren zu kleinen Inseln geschrumpft.

Streuner fand eine Palmnuss. Sie setzte sich auf einen Ast und inspizierte sie. Eine dicke grüne Raupe kroch über die Schale. Sie leckte die Raupe ab und kaute sie genüsslich.

Die Horde brach geräuschvoll durch die Baumwipfel um sie herum. Auch wenn sie allein war, wusste sie genau, wo die anderen alle steckten. In den langen Jahren seit Noths Zeit hatte die soziale Struktur der Primaten sich stetig weiter entwickelt: Für die Anthros waren ihre Artgenossen nunmehr interessanter als tote Gegenstände – sie waren die interessantesten Objekte in der Welt. Streuner war sich der übrigen Horde so bewusst, als ob sie wie eine Lampion-Reihe in den Baumkronen aufgehängt wäre und den Rest der Welt zu einem amorphen Grau verdunkelte.

Streuner gehörte keiner der Spezies an, die jemals von Menschen katalogisiert werden würde. Sie sah aus wie ein Kapuzineräffchen, der ›Leierkasten spielende‹ Affe, der eines Tages die Wälder Südafrikas durchstreifen würde, und hatte auch in etwa seine Größe. Sie wog nur ein paar Kilogramm und hatte ein dichtes schwarzes Fell mit weißen Zeichnungen an Schultern, Hals und im Gesicht, womit sie eben an einen Kapuzinermönch erinnerte. Arme und Beine waren gelenkig und symmetrisch, ganz im Gegensatz zu Noth: Dieser Körper-Bauplan war typisch für die Bewohner offener Baumkronen. Die Nase war flach und hatte kleine, seitlich ausgestellte Nasenlöcher, die für die Affen des späteren Südamerika typisch waren und nicht für die afrikanischen.

Sie sah aus wie ein Affe. Aber sie war kein Affe: Als entfernter Nachfahr von Noths Adapiden gehörte ihre Art zu einem Primatentyp mit der Bezeichnung Anthropoiden, den Vorläufern der Affen und Menschenaffen – diese große Aufspaltung in der Familie der Primaten sollte erst noch stattfinden.

Fast zwanzig Millionen Jahre nach dem Tod von Noth waren die Kämm-Krallen der Notharctus-Füße bei Streuner durch Fußnägel ersetzt worden. Sie hatte kleinere Augen als Noth und wegen der kürzeren Schnauze ein weites räumliches Blickfeld – und die Augen wurden durch eine feste Knochenhöhle geschützt. Noths Augen waren nur durch einen Knochenring geschützt worden, und seine Sicht wurde beim Kauen sogar durch die Backenmuskeln beeinträchtigt. Außerdem hatte Streuner viele der alten Nachtjagd-Merkmale verloren, über die Noth noch verfügt hatte. Der Sinnes-Schwerpunkt hatte sich vom Geruch zum Sehen verschoben.

Aus Rechts’ Enkeln war eine große Armee hervorgegangen. Sie hatte sich über die Alte Welt ausgebreitet und die dichten tropischen Wälder Asiens und Afrikas besiedelt. Auf der Wanderschaft hatten sie sich weiterentwickelt, diversifiziert und verändert. Die Linie der Anthropoiden aus der Alten Welt sollte jedoch mit Streuner abbrechen. Streuner konnte nicht wissen, dass sie ihre Mutter nie mehr wieder sehen sollte – und ihr Schicksal war weitaus seltsamer als alles, was ihre unmittelbaren Vorfahren erlebt hatten.

Durch das weiß gefleckte Fell wirkte Streuners Gesicht skizzenhaft, unfertig und irgendwie wehmütig. Aber sie hatte eine jugendliche Schönheit. Sie war drei Jahre alt und damit noch ein Jahr von der Menarche entfernt. Sie hatte den unabhängigen Geist einer jungen Frau und war noch nicht voll in die Hierarchien und Bündnisse der Horde integriert. Vielmehr wirkten bei ihr noch die solitären Instinkte der entfernten Vorfahren. Sie blieb gern für sich. Zumal die Gruppe im Moment keine sehr angenehme Gesellschaft war.

Die letzten paar Jahre waren eine Zeit des Überflusses gewesen, und die Horde hatte sich zahlenmäßig vergrößert. Ein Baby-Boom hatte stattgefunden, aus dem auch Streuner hervorgegangen war. Allerdings brachte das Wachstum auch Probleme mit sich. Einmal herrschte eine harte Konkurrenz um Nahrung. Jeden Tag gab es Streitigkeiten.

Und dann war da das Kämmen. In einer kleinen Gruppe war genug Zeit, um alle zu kämmen. Das unterstützte die Pflege von Beziehungen und die Festigung von Allianzen. Wurde die Gruppe jedoch zu groß, war dafür einfach keine Zeit mehr. Also bildeten sich Cliquen und Untergruppen heraus, wo man gegenseitige Fellpflege betrieb und die anderen ignorierte. Ein paar Cliquen gingen sogar schon tagsüber eigene Wege und kamen nur noch zum Schlafen zurück.

Irgendwann würde es die Gruppe zerreißen. Die Cliquen würden sich absondern, und die Gruppe würde sich auflösen. Jedoch mussten die neuen, kleineren Gruppen groß genug sein, um sich vor Räubern zu schützen – was auch der eigentliche Grund war, weshalb es am Tag überhaupt zur Gruppenbildung kam –, sodass es noch eine lange Zeit, vielleicht sogar Jahre dauern würde, bis eine Abspaltung vollzogen war. Das geschah allenthalben. Es war eine zwangsläufige Folge der wachsenden Primatengemeinschaften. Und es hatte ständige Reibereien zur Folge.

Deshalb war Streuner froh, dem ganzen Hickhack für eine Weile zu entrinnen.

Nachdem der Käfer gründlich zerkaut war, untersuchte Streuner die Palmnuss. Sie wusste, dass der Kern eine Delikatesse war, aber ihre Hände und Zähne waren zu schwach, um die Schale aufzubrechen. Also schlug sie die Schale gegen den Ast.

Dann wurde sie sich zweier heller Augen bewusst, die sie beobachteten. Sie gehörten einer schlanken rostroten Gestalt, die sich an einen Ast klammerte. Sie machte sich aber keine Sorgen. Das Männchen gehörte zu einem Primatentyp, der eng mit Streuners Art verwandt war. Er war jedoch kleiner, schlanker – und nicht annähernd so intelligent. Hinter ihm machte Streuner noch mehr Exemplare dieser Art aus, die sich an die Äste dieses und des nächsten Baums geklammert hatten und wie eine Kette sich durch die grün illuminierte Welt des Waldes zogen. Der Fremde wollte Streuner die Nuss nicht streitig machen und stellte schon gar keine Bedrohung für sie dar; der kleine Primat hatte es nur auf Streuners Reste abgesehen.

Streuner ernährte sich hauptsächlich von Früchten. Doch die Rostroten fraßen – wie ihre Adapiden-Vorfahren – vorwiegend Raupen und Insekten, die sie von den Ästen klaubten, und sie hatten spitze kleine Zähne, um die erbeuteten Insekten zu zerkleinern. Sie lebten in dichten mobilen Kolonien mit fünfzig und mehr Tieren. Dies bot ihnen Schutz gegen Räuber und andere Primaten: Selbst eine Rotte Anthros hätte Schwierigkeiten gehabt, sich einer dieser flinken, koordinierten Horden zu erwehren.

Streuner war jedoch viel intelligenter als jeder von diesen Roten.

Es würde noch ein paar Dutzend Jahrmillionen dauern, bis ein Primat etwas benutzte, das man als Werkzeug im eigentlichen Sinn zu bezeichnen vermochte. Streuners Intelligenz war weitgehend spezialisiert und dahingehend ausgeprägt, dass sie die Wechselfälle ihres Soziallebens zu bewältigen vermochte. Dennoch war Streuner intelligent genug, um die nähere Umwelt zu begreifen und sie so zu manipulieren, dass sie bekam, was sie wollte. Eine Nuss gegen einen Baum zu schlagen war kaum fortgeschrittene Technik, aber sie war trotzdem gefordert, ein paar Schritte voraus zu denken – der Ansatz eines viel größeren Einfallsreichtums, der erst nach langer Zeit zum Tragen kommen sollte. Und dieses Nussknacken war ein kognitiver Sprung, durch den die Roten ins Hintertreffen geraten waren. Was auch der Grund dafür war, dass sie sich hier versammelt hatten.

Streuner hörte ein Rascheln tief unter sich. Sie hielt sich am Ast fest und lugte ins grüne Zwielicht.

Sie sah die Pflanzenreste auf dem Waldboden und eine schemenhafte Gestalt, die mit raschelnden Federn und am Boden pickend zwischen den Bäumen hindurch lief. Es war ein flügelloser Vogel in der Art eines Kasuars. Und als sie den Weg zurückverfolgte, den der Vogel bis zur Mitte der Lichtung genommen hatte, erkannte Streuner etwas matt glänzendes Rundes.

Eier. Es waren zehn Stück, die im nachlässig gebauten Vogelnest lagen. Ihr Eidotter war so groß wie Streuners Kopf. In der Mittagsruhe und in Abwesenheit des Gefährten hatte der Vogel das Nest kurz unbeaufsichtigt gelassen und darauf gehofft, dass es unversehrt bliebe, während er seinen Hunger stillte. Er hatte aber das Pech, dass Streuners scharfe Augen das Nest so schnell entdeckten.

Streuner zögerte für einen Moment. Wenn sie das Gelege plünderte, ging sie ein Risiko ein. Durch das Nussknacken hatte sie schon so viel Zeit verloren, dass sie den Anschluss an die Horde zu verlieren drohte, und es wäre schlecht für sie, auf sich allein gestellt zu sein. Zumal der Vogel auch eine Bedrohung darstellte. Das staksende Ungeheuer war einer der letzten Vertreter einer zwanzig Millionen Jahre alten Dynastie. Nach dem Kometen waren die Landsäugetiere zunächst klein geblieben und hatten sich in den dichten Wäldern bedeckt gehalten. Manche Vögel waren jedoch richtig groß geworden, und flügellose Ungeheuer wie dieses hatten die Rolle des ›Räuberhauptmanns‹ angestrebt. Ohne die durch den Flug auferlegten Gewichtsbeschränkungen hatten sie einen schweren, muskulösen Körperbau und enorme Kräfte entwickelt und Schnäbel, die eine Wirbelsäule zu brechen vermochten. Aber sie waren zu spät gekommen: Je größer die Säugetier-Pflanzenfresser wurden, desto größer wurden auch die Säugetier-Fleischfresser, und mit denen vermochten die Vögel nicht zu konkurrieren.

Die Eier waren da, direkt unter Streuner. Sie brauchte nur zuzugreifen.

Wenn sie älter gewesen wäre und besser in die Gruppe integriert, hätte sie vielleicht eine andere Entscheidung getroffen. Doch nun kletterte sie an der rauen Baumrinde hinab auf den Boden, wobei ihr schon das Wasser im Mund zusammenlief. Es war diese eine Entscheidung, die die Weichen für ihr ganzes Leben stellte – und für das weitere Schicksal der großen Primaten-Familie.

Sie hatte die Reste des Nusskerns fallenlassen. Hinter ihr verlor der kleine Rote die Geduld und machte sich über die süßen Brocken her. Doch schon im nächsten Moment schwärmten seine Artgenossen über den Ast aus und raubten ihm die Beute.

Während sie den Baum hinabkletterte, scheuchte Streuner eine Schar Brüllaffen auf. Diese Primaten waren sehr klein und hatten Mähnen aus feinem, seidigem Haar und bizarre weiße Schnurrbärte. Sie wurden aufgeschreckt und verschwanden kreischend im dichten Laub – sie wirkten fast vogelartig mit den schnellen Bewegungen und dem dünnen hellen Fell.

Brüllaffen ernährten sich vom Harz der Bäume. Sie gewannen es, indem sie die unteren Zähne in die Baumrinde schlugen. Wenn sie sich satt gegessen hatten, urinierten sie in das ausgebissene Loch, um anderen den Appetit zu verderben. Es gab viele Arten dieser kleinen Geschöpfe, die sich jeweils auf das Harz eines bestimmten Baums spezialisiert hatten und sich durch ihre Haartracht unterschieden. Mit dem extravaganten Fell und den trillernden Rufen erfüllten sie die Baumwipfel mit Farbe, Leben und Lärm.

Auf dem Boden gab es noch eine weitere Primatenart. Es handelte sich um einen Dickbauch, ein einzelnes Männchen.

Es war viermal so groß wie Streuner, und der massige Leib war in ein dichtes schwarzes Fell gehüllt. Er saß reglos da, zupfte unablässig Blätter von einem Busch und steckte sie sich in sein großes Maul. Die Schnauze war rußgeschwärzt: Er hatte Holzkohle von einem vom Blitz gefällten Baum gefressen, die die Giftstoffe in seiner pflanzlichen Nahrung neutralisierte.

Als Streuner auf den Boden hinuntersprang, schaute er sie finster an, zog die Mundwinkel herunter und stieß ein Brüllen aus. Sie ließ nervös den Blick schweifen, in der Furcht, dass sein Gebrüll vielleicht die Aufmerksamkeit der sorglosen Vogelmutter auf sich gezogen hätte.

Streuner hatte vom Dickbauch nichts zu befürchten. Er hatte einen großen Magen mit einem Dünndarm, in dem die nährstoffarme Nahrung teilweise fermentiert wurde. Und damit die große organische Fabrik auch effektiv arbeitete, musste er Dreiviertel der Zeit reglos verharren. Streuner hörte das Rumoren des großen Magens. Das Geschöpf war aber erstaunlich sauber; angesichts seines Lebensstils hätte es so reinlich sein müssen wie eine Kanalratte. Als sie sich von seinem Revier entfernte, fiel der Dickbauch in ein verdrießliches Schweigen.

Die Waldlichtung war dicht bewachsen. Grasland war aber noch selten. In Ermangelung von Gras war der Bodenbewuchs nirgends höher als einen Meter und bestand aus kleinen Sträuchern und Büschen wie Aloe, Kakteen und Fettpflanzen. Am spektakulärsten waren große distelartige Pflanzen, die gerade Blütezeit hatten und psychedelisch gefärbte Blüten austrieben. Solche botanischen Wunder zierten die Landmassen dieses Erdzeitalters, aber es war ein Ensemble, das in menschlichen Zeiten ungewöhnlich war; es hatte Ähnlichkeit mit der Fynbos-Pflanzenwelt in Südafrika.

Um das Vogelnest zu erreichen, würde Streuner die Deckung der Bäume verlassen müssen. Und der offene Himmel wirkte sehr hell – hell und ausgewaschen –, und es lag ein eigenartiger Ozongeruch in der Luft. Sie hielt unbehaglich inne.

Sie hielt sich am Waldrand und versuchte sich an die Eier heranzupirschen.

Dabei durchquerte sie einen sumpfigen Abschnitt, einen Teil der Flutebene des mächtigen Stroms. Sie sah das Wasser: Es war mit vermoderter Vegetation übersät und schimmerte unter der hochstehenden Sonne. Hier, nicht weit vom Flussdelta entfernt, war sie in der Nähe des Meers. Gelegentliche Überschwemmungen und Hochwasser hatten den Boden mit Salz gesättigt, sodass dort kaum noch etwas wuchs.

Tiere bewegten sich über die Lichtung und strebten dem offenen Wasser entgegen. Im Unterholz äste eine Gruppe gazellenartiger Stenomylus. Die unruhigen Tiere hatten sich zusammengedrängt und ließen beim Fressen furchtsam den Blick schweifen.

Sie wurden von einer Cainotherium-Schar gefolgt, die kleinen langohrigen Antilopen glichen. Es streiften noch weitere hirschartige Tiere durch den Wald. Der Stenomylus war jedoch keine Gazelle, sondern eine Abart des Kamels – wie auch das Cainotherium mit dem seltsamen kaninchenartigen Kopf.

In der Nähe des Ufers hatte sich eine Familie großer Pflanzenfresser versammelt, die an Nashörner erinnerten. Nur dass es keine Rhinozerosse waren, und der traurige Abschwung der Oberlippen gab auch einen Hinweis auf ihre Abstammung: In Wirklichkeit waren sie Arsinoetheria, also Verwandte der Elefanten. Im Wasser selbst aalten sich zwei sich paarende Metamynodons, die Nilpferden sehr ähnlich waren. Watvögel wichen dem Liebesspiel vorsichtig aus. Die Metamynodons waren jedoch enger mit Nashörnern verwandt als die Arsinoetheria.

Wo Pflanzenfresser sich versammelten, waren auch Räuber und Aasfresser nicht weit. Sie taxierten sie, wie es ihre Art war. Den merkwürdigen Proto-Rhinozerossen und Kamel-Gazellen folgten in gebührendem Abstand Bärenhund-Rudel – Amphicyons, Räuber und Aasfresser zugleich, die wie Bären auf platten Füßen umherliefen.

So war das damals. Ein menschlicher Beobachter hätte sich im Fiebertraum gewähnt. Ein Bär wie ein Hund, ein Kamel wie eine Antilope – Gestalten, die in den Grundzügen vertraut waren und im Detail wie Vexierbilder anmuteten. Die großen Säugetier-Familien mussten erst noch den Platz finden, den sie später einmal einnehmen würden.

Und es gab auch in diesem Zeitalter einen ›Champion‹. Am Waldrand sah Streuner eine schemenhafte Bewegung zwischen den Bäumen, die von einem riesigen, trägen und bedrohlichen Wesen ausging. Das war ein Magistatherium, das an einen Bären erinnerte. Sogar auf allen vieren war es noch doppelt so groß wie ein aufgerichteter Kodiakbär. Die Reißzähne waren an der Wurzel fünf Zentimeter dick und doppelt so lang wie die eines Tyrannosaurus. Und wie der Tyrannosaurus jagte es aus dem Hinterhalt. Es war das größte Fleisch fressende Säugetier, das je an Land gelebt hatte, und es beherrschte die Wälder Afrikas. Aber die Schneidezähne, wichtige Werkzeuge eines Fleischfressers, waren im Gegensatz zu den Fleischfressern der Zukunft paarweise angeordnet. Deshalb bestand die Gefahr, dass sie ausgeschlagen wurden oder abbrachen. Dieser geringfügige ›Konstruktionsfehler‹ sollte schließlich zum Aussterben des Magistatheriums führen.

Derweil kreuzte der gezackte Rücken eines Krokodils im größten Teich. Ihm war diese Fremdartigkeit gleichgültig. Solang jemand dumm genug war, sich dem Reich des Krokodils zu nähern und solang dieser Jemand Fleisch hatte, das den Magen füllte und Knochen, die im Maul knirschten, hätte er auch als der fünfbeinige Grawunkel daherkommen können – sein Schicksal wäre von vornherein besiegelt.

Schließlich war Streuner nah genug am Nest. Sie brach aus der Deckung, wobei sie leere Blicke der grasenden Pflanzenfresser auf sich zog und machte sich über die Eier her.

Das Nest war teilweise mit herabgefallenen Farnwedeln bedeckt, sodass sie in deren Schutz ans Werk zu gehen vermochte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie hob das erste Ei auf – und stutzte. Mit den Händen strich sie über die glatte Eierschale, ohne einen Ansatzpunkt zum Aufreißen oder Aufbrechen zu finden. Sie drückte das Ei an die Brust, was genauso wenig zum Erfolg führte; die Schale war einfach zu dick. Es war auch kein Ast in der Nähe, an dem sie das Ei aufzuschlagen vermocht hätte. Nun versuchte sie, sich das ganze Ei in den Mund zu stecken und es mit den kräftigen Mahlzähnen zu knacken, aber das Ei passte nur zum Teil in den kleinen Mund.

Das Problem war, dass ihre Mutter immer die Eier für sie aufgeschlagen hatte. Ohne die Mutter war sie jedoch aufgeschmissen.

Das Licht am Himmel schien heller zu werden, und es kam ein Wind auf, der die Oberfläche der Teiche kräuselte und braune Blätter über den Boden wehte. Sie verspürte einen Anflug von Panik; sie hatte sich weit von ihrer Sippe entfernt. Sie ließ das Ei wieder ins Nest fallen und griff nach einem anderen.

Plötzlich stieg ihr der süßliche Geruch von Dotter in die Nase. Das Ei, das sie hatte fallenlassen, war auf die anderen gefallen und dabei zerbrochen. Sie stieß die Hände in die Trümmer und steckte das Gesicht in den süßen gelben Glibber. Bald kaute sie auf winzigen Knochen herum. Als sie jedoch ein weiteres Ei nahm, vermochte sie sich nicht mehr daran zu erinnern, wie sie das erste geöffnet hatte. Der ganze Versuch-und-Irrtum-Prozess ging von vorne los. Sie befingerte das Ei und versuchte hineinzubeißen.

Die Eier aufeinander fallen lassen – so hatte ihre Mutter sie geöffnet. Doch selbst wenn ihre Mutter hier gewesen wäre und ihr gezeigt hätte, wie sie es anstellen musste, hätte Streuner die Technik nicht erlernt. Streuner war nämlich nicht in der Lage, die Absichten anderer zu erkennen und vermochte auch keine Handlungen nachzuahmen. Psychologie hatte für die Anthros keine Geltung; jede Generation musste anhand elementarer Rohmaterialien und Situationen alles von Grund auf neu erlernen. Das hatte einen langsamen Lernfortschritt zur Folge. Trotzdem kam Streuner bald zu einem zweiten Ei.

Sie war so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass sie die Augen nicht bemerkte, die sie begierig musterten.

Bevor sie ein drittes Ei aufschlug, setzte der Regen ein. Er schien aus heiterem Himmel zu kommen – große Tropfen fielen aus einem wolkenlosen, sonnigen Himmel.

Ein starker Wind fegte über die Marschen. Watvögel schwangen sich in den Himmel und flohen vorm aufziehenden Unwetter gen Westen zum Meer. Die großen Pflanzenfresser schauten in stoischer Ruhe zum Himmel empor. Das Krokodil tauchte ab und wartete in den Tiefen seines trüben Reichs darauf, dass der Sturm sich wieder legte.

Und nun verdüsterten Wolken die Sonne, und Dunkelheit senkte sich wie ein Deckel herab. Im Osten, wo der Sturm sich zusammenbraute, ertönte Donnerhall. Es war ein Unwetter von einer Heftigkeit, wie es das Land nur ein paar Mal in einem Jahrzehnt heimsuchte.

Streuner kauerte sich in dem verwüsteten Nest zusammen. Das Fell klebte ihr schon am Körper. Die Regentropfen schlugen rings um sie in den Boden ein, prasselten auf die tote Vegetation und schlugen winzige Krater in den Lehm. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte die Stürme immer in der relativen Sicherheit der Bäume abgeritten, deren Laub das herabstürzende Wasser streute und dämpfte. Doch nun war sie dem Unwetter schutzlos ausgesetzt und wurde sich mit einem Mal bewusst, wie weit sie sich von der Sippe entfernt hatte. Wenn sie in diesem Moment von einem Räuber entdeckt worden wäre, hätte sie das vielleicht das Leben gekostet.

Aber wie der Zufall es wollte, wurde sie von einem Artgenossen entdeckt: von einem Anthro, einem großen Männchen. Es fiel vor ihr auf den aufgeweichten Boden und musterte sie reglos.

Sie wimmerte erschrocken und näherte sich ihm vorsichtig. Vielleicht war es eins von den Männchen, die ihre Sippe dominierten – die lockere, zerfallende Horde, die sie als eine Art multipler Vater betrachtete. Aber das war er nicht, wie sie schnell feststellte. Das Gesicht, in dem das vom Regen durchnässte Fell klebte, war fremdartig, und das schwarze Bauchfell war mit einem eigenartigen Muster aus weißen Tropfen gezeichnet, die beinahe wie Blut aussahen.

Dieses Männchen – Weißblut – war doppelt so groß wie sie und ein Fremder. Und Fremde verhießen nie etwas Gutes. Sie wich kreischend zurück.

Aber sie hatte zu spät reagiert. Er streckte die Hand aus und packte sie am Schlafittchen. Sie wehrte sich zappelnd, aber er hob sie mit einer solchen Leichtigkeit hoch, als ob sie eine Frucht wäre.

Dann schleppte er sie zurück in den Wald.

Dass Weißblut Streuner – ein jugendliches Weibchen, das noch dazu allein unterwegs war – entdeckt hatte, war ein ausgesprochener Glückstreffer für ihn gewesen. Er war ihr unauffällig gefolgt, wobei der Früchteesser sich wie ein routinierter Jäger bewegt hatte.

Und nun hatte der heftige Sturm ihm die Gelegenheit zum Zugriff geboten. Weißblut hatte nämlich selbst Probleme, und er glaubte, dass Streuner vielleicht ein Teil der Lösung wäre.

Wie ihre Vorfahren, die Notharctus, lebten Anthro-Weibchen in Gruppen, deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützten. Doch in diesem schlaraffenlandähnlichen Tropenwald ohne Jahreszeiten bestand keine Notwendigkeit, die Paarungszyklen zu synchronisieren. Das Leben war viel flexibler, wenn verschiedene Weibchen zu verschiedenen Zeiten einen Eisprung hatten.

Das ermöglichte es auch einer kleinen Gruppe Männchen, manchmal sogar einem einzelnen Männchen, einen Anspruch auf eine ganze Schar von Weibchen zu erheben. Im Gegensatz zum Notharctus-Kaiser musste ein Anthro-Männchen nämlich nicht versuchen, alle Weibchen innerhalb von achtundvierzig Stunden zu decken oder sich der schier unlösbaren Aufgabe zu stellen, andere Männchen abzuwehren. Stattdessen genügte es, wenn er Rivalen von der kleinen Anzahl Weibchen fernhielt, die zu einer bestimmten Zeit fruchtbar waren.

Trotz der überlegenen Körpergröße ›besaßen‹ die Anthro-Männchen weder die Weibchen noch dominierten sie sie übermäßig. Aber die Männchen, die durch eine genetische Loyalität an die Gruppen der Weibchen gebunden waren – in einer promiskuitiven Gruppe bestand immer die Möglichkeit, dass ein Neugeborenes von einem selbst war –, waren bestrebt, die Gruppe vor Außenseitern und Räubern zu schützen. Und die Weibchen für ihren Teil waren ganz zufrieden mit den lockeren männlichen Gemeinschaften, die sie wie Satelliten umkreisten. Die Männchen waren gelegentlich nützlich, offensichtlich notwendig und selten einmal lästig.

Doch seit einiger Zeit liefen die Dinge in Weißbluts Gruppe aus dem Ruder.

Zehn der dreiundzwanzig Weibchen der Sippe hatten zur gleichen Zeit einen Eisprung gehabt. Alsbald waren andere Männchen vom Geruch von Blut und Pheromonen angelockt worden. Und plötzlich gab es nicht mehr genug Weibchen für jeden. Die Lage war instabil geworden, und es hatte sich eine starke Konkurrenzsituation ergeben. Es bestand die Gefahr, dass die Gruppe ganz auseinanderbrach.

Also hatte Weißblut sich auf die Jagd nach Weibchen begeben. Halbwüchsige waren am begehrtesten: Sie waren noch so jung und klein, dass man sie leicht zu fangen vermochte und so dumm, sich von ihrer Sippe abzusondern. Natürlich bedeutete das auch, dass man noch ein Jahr oder länger warten musste, bevor man sich mit einem Kind wie Streuner zu paaren vermochte. Weißblut war aber bereit, zu warten: Sein Bewusstsein war schon so komplex, um heute zu handeln mit der Aussicht auf eine spätere Belohnung.

Für Weißblut war es eine ganz logische Situation. Doch für Streuner war es ein Albtraum.

Plötzlich schwangen sie sich rasant von Baum zu Baum und rannten über Äste. Weißblut hielt sie am Nackenfell fest. Ihr Gewicht schien ihn kaum zu bremsen. Streuner hatte noch nie so große Sprünge und weite Sätze gemacht: Ihre Mutter und die anderen Weibchen, die ohnehin sesshafter waren als die Männchen, hatten sich viel vorsichtiger bewegt. Und sie wurde über eine große Entfernung transportiert; sie roch lehmiges Wasser, als sie sich dem Flussufer näherten.

Und derweil prasselte der Regen hernieder, schoss durch die Blätter und verwandelte die Luft in einen trüben grauen Dunst. Ihr Fell war klitschnass, und Wasser rann ihr in die Augen und nahm ihr die Sicht. Tief unter ihnen floss Wasser über den aufgeweichten Boden – Rinnsale vereinigten sich zu Bächen, die rotbraunen Schlamm in den ohnehin schon angeschwollenen Fluss eintrugen. Es war, als ob Wald und Fluss miteinander verschmolzen und durch die Wucht des Sturms eins würden.

Ihre Panik verstärkte sich, und sie versuchte sich aus Weißbluts Griff zu befreien. Dabei handelte sie sich aber nur so harte Schläge auf den Hinterkopf ein, dass sie quiekte.

Schließlich erreichten sie Weißbluts Territorium. Der Großteil der Sippe, Männchen, Weibchen und Junge hatten sich auf einem einzigen Baum versammelt, einem niedrigen ausladenden Mango. Sie saßen wie Häufchen nassen Elends nebeneinander auf den Ästen. Als die Männchen aber sahen, was Weißblut da angebracht hatte, stießen sie Rufe aus und schlugen auf die Äste.

Weißblut warf Streuner achtlos in eine Gruppe Weibchen. Ein Weibchen betatschte Streuners Gesicht, Bauch und Genitalien. Streuner schlug ihre Hand weg und kreischte empört. Doch das Weibchen ließ sich davon nicht abhalten, und nun scharten sich noch weitere um sie und wollten die Neue in Augenschein nehmen. Diese Neugier war eine Mischung aus der üblichen Faszination der Anthros für alles Neue und eine Art Rivalität gegenüber diesem potenziellen Konkurrenten, einem neuen Rekruten in den ständig wechselnden Hierarchien.

Streuner war total verwirrt: durch die Blitze, die durch den purpurnen Himmel zuckten, den Regen, der ihr ins Gesicht prasselte, das Tosen des Wassers unter ihr, das durchnässte Fell und den ungewohnten Gestank der Weibchen und Jungen um sie herum. Die offenen rosigen Münder und tastenden Finger, die sie bedrängten, gaben ihr den Rest. Sie unternahm einen Fluchtversuch, machte einen Satz und baumelte kurz über dem Ast.

Und sie erblickte etwas Fremdartiges.

Zwei Indricotheria standen unter dem Baum. Diese großen Kreaturen mit der dreifachen Masse eines ausgewachsenen Elefanten waren eine Art ungehörntes Rhinozeros. Sie hatten lange, giraffenartige Beine und Hälse und eine elefantenartige Haut. Sie waren von einer gravitätischen Anmut und hatten wegen ihrer Größe keine natürlichen Feinde. Nun hoben sie die pferdeartigen Gesichter auf den dicken Hälsen und fraßen die nassen Blätter vom Baum ab.

Aber sie waren dennoch in Gefahr. Schlammiges Wasser strömte über den Erdboden und umspülte die Beine der Indricotheria, als ob der Baum und die Tiere selbst in einem Fluss stünden.

Schließlich brach in unmittelbarer Nähe der flachen Baumwurzeln eine lehmige Erdschicht vom Flussufer ab und glitt ins Wasser. Ein mächtiges Indricotherium trompetete und scharrte mit den elefantenartigen Füßen auf einem Boden, der sich plötzlich in einen rutschigen, tückischen Abhang verwandelt hatte – und dann ging es mit verdrehtem Hals und peitschendem Schwanz abwärts. Fünfzehn Tonnen Fleisch flogen durch die Luft. Es fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser und war im nächsten Moment verschwunden, mitgerissen vom alles verschlingenden Fluss.

Das zweite Indricotherium stieß ein trauriges Trompeten aus. Es war selbst in Bedrängnis, denn der Boden löste sich schon unter dem anbrandenden Wasser auf, und das Tier brachte sich stolpernd in Sicherheit.

Und dann geriet der Baum selbst in Gefahr. Die Wurzeln waren durch die plötzliche Überschwemmung freigelegt worden und hatten durch die Wucht, mit der der Fluss gegen das Ufer anbrandete, weiter an Halt verloren. Der Baum knarrte und erzitterte.

Und dann gaben die Wurzeln mit einem salvenartigen explosiven Krachen nach. Der Baum neigte sich dem Wasser entgegen. Wie Obst von einem geschüttelten Ast fielen Primaten in allen Größen vom Baum und stürzten schreiend ins schäumende Wasser.

Streuner klammerte sich heulend am Ast fest, als der Baum wie in einem Albtraum in den Fluss kippte.

Die ersten Minuten waren die schlimmsten.

In Ufernähe waren die Turbulenzen am stärksten, weil das Wasser zwischen der starken Strömung und der Reibung mit dem Land hin und her gerissen wurde. In diesem mächtigen Strudel war selbst der große Mangobaum nicht mehr als ein Zweig, der in einen Bach geworfen wurde. Er bäumte sich auf, knarrte und verwand sich. Erst fiel das Laub ins Wasser, und dann richteten die Wurzeln, deren Zwischenräume mit Schlamm und Geröll verstopft waren, sich wie eine Klaue gen Himmel. Streuner wurde durch die Luft geschleudert und fiel in schmutzigbraunes Wasser, das ihr in Mund und Nase drang. Dann kam sie wieder an die Wasseroberfläche.

Schließlich löste der Baum sich vom Chaos in der Nähe des Ufers und trieb in die Flussmitte, wo es schnell ruhiger wurde.

Streuner wurde wieder unter Wasser gedrückt. Durch das trübe Wasser schaute sie zu einer schimmernden Oberfläche hinauf, auf der Blätter und Zweige trieben. Mund und Hals füllten sich mit Wasser, und Panik überkam sie. Mit einem erstickten Schrei stieg sie durchs Blättergewirr dem Licht entgegen.

Sie brach durch die Wasseroberfläche. Licht, Lärm und der heftige Regen brandeten gegen ihre Sinne an. Sie zog sich aus dem Wasser und legte sich flach auf einen Ast.

Der Baum trieb mit der Krone voran flussabwärts. Das verrippte Wurzelgeflecht griff nach dem dräuenden, von Blitzen durchzuckten Himmel aus. Streuner hob den Kopf und hielt Ausschau nach den anderen Anthros. Es war nicht leicht, sie in der dunstigen Luft und im strömenden Regen auszumachen, so zerrupft und durchnässt wie sie waren. Aber sie erkannte Weißblut, das kräftige Männchen, das sie entführt hatte, zwei weitere Männchen und ein Weibchen mit einem Jungen, das sich irgendwie an ihrem Rücken festhielt – ein kleines, klitschnasses Fellbündel.

Obwohl sie noch genauso zerschlagen und halb ertrunken war wie zuvor, fühlte Streuner sich plötzlich besser. Wäre sie ganz allein gewesen, hätte sie sehr darunter gelitten; die Anwesenheit der anderen war tröstlich für sie. Dennoch gehörten diese anderen nicht zu ihrer Familie, nicht zu ihrer Sippe.

Es trieb noch mehr Vegetation im Wasser. Sie sammelte sich in der Mitte, wo der Fluss am tiefsten war. Da waren Bäume und Büsche, die zum Teil schon am Oberlauf des Kongo mitgerissen worden waren, tausende Kilometer entfernt in einem ganz anderen Land in der Mitte des Kontinents. Es waren auch Tiere dabei. Ein paar klammerten sich an die Äste wie die Anthros. Sie sah die zappelnden Leiber eines Pärchens der Rostroten und sogar einen Dickbauch, der auf einem Walnuss-Baum hockte. Der Dickbauch, ein Weibchen, hatte es sich gemütlich gemacht und ließ sich auch durch den Regen nicht die Laune verderben. Sie war schon wieder in ihre Gewohnheit verfallen, ständig Laub zu mampfen und brauchte nur noch zuzugreifen.

Aber nicht alle Tiere hatten die Reise in dieser Arche des Schreckens lebend überstanden. Eine ganze Familie dicker, schweineartiger Anthracotheria war ertrunken und steckte wie fleischige Früchte zwischen den Ästen einer zerbrochenen Palme. Und da war auch das Indricotherium, das vor der Entwurzelung des Mangos in den Fluss gestürzt war. Der Kadaver trieb mit wackelndem Hals und gespreizten Beinen im Wasser – auf ein Stück Treibgut reduziert wie die anderen.

Als der Fluss sich verbreiterte, wurde dieses Treibgut von den turbulenten Strömungen zu einer Art Floß aus Baumkronen und Wurzeln zusammen geschoben. Die Tiere starrten sich und den Fluss an, während ihr schwimmender Untersatz immer weiter trieb.

Streuner sah den dichten grünen Wald, der das flache Flussufer aus erodiertem Sandstein säumte. Die Bäume waren Mangobäume, Palmen und eine Art Bananenstauden. Äste hingen tief übers Wasser, und Lianen und Ranken schlängelten sich über die überwucherten Terrassen. Sie hielt Ausschau nach einem Ast, an dem sie sich emporzuschwingen und von hier zu entkommen vermochte. Aber sie war durch den reißenden Fluss vom Wald getrennt, und je länger das Pflanzen-Floß flussabwärts trieb, desto weiter traten diese verlockenden Ufer auseinander, und der vertraute Wald wich schließlich den Mangroven, die die Küstenregion dominierten.

Und der Regen wollte einfach nicht nachlassen. Er wurde sogar noch stärker. Schwere Tropfen fielen vom bleiernen Himmel und schlugen im Wasser Krater, die im Moment ihrer Entstehung auch schon wieder verschwanden. Ein weißes Rauschen dröhnte ihr in den Ohren, sodass sie das Gefühl hatte, in einer riesigen Blase aus Wasser eingeschlossen zu sein – Wasser unter sich und um sich herum – und nur diesen entwurzelten Mangobaum hatte, an dem sie sich festzuhalten vermochte. Stöhnend und ausgekühlt verschwand Streuner zwischen den Ästen des Mangobaums und kauerte sich dort einsam und allein zusammen. Sie wartete darauf, dass dieser Albtraum endlich verschwand und sie wieder in die ihr vertraute Welt mit Bäumen, Früchten und Anthros zurückversetzt wurde.

Das sollte jedoch nie geschehen.

Das Unwetter, so heftig es gewesen war, flaute rasch ab. Streuner sah fingerdünne Lichtstangen in den Blätter-Verhau dringen. Das Prasseln des Regens war verstummt und dem unheimlichen leisen Plätschern des Flusses gewichen.

Sie kroch zwischen den Ästen hervor und kletterte auf die Oberseite des Baums. Die Sonne war stark, als ob die Luft gereinigt worden wäre, und sie spürte, wie die Wärme tief ins Fell eindrang und es schnell trocknete. Für einen Moment genoss sie die Wärme und Trockenheit.

Jedoch gab es hier keinen Wald mehr: nur diesen Baum und seine entwurzelten Begleiter, die auf der graubraunen Wasseroberfläche trieben. Die Flussufer waren auch nicht mehr zu sehen. Ihr Blick ging bis zu einem messerscharfen Horizont – und sonst war der Baum nur von Wasser umgeben. Als sie den Weg zurückverfolgte, den das Floß genommen hatte, machte sie Land aus: eine grün-braune Linie, die den östlichen Horizont säumte.

Eine Linie, die zurückwich.

Das Pflanzen-Floß war ins Meer gespült worden, hinaus in den weiten Atlantik – mitsamt der Fracht aus Anthros, dem Dickbauch, den Rostroten und allen anderen.

II

Nach den Tagen von Noth hatte die Geometrie der rastlosen Welt sich stetig verändert und bestimmte weiterhin das Schicksal der Kreaturen, die die auseinanderdriftenden Kontinente bevölkerten.

Die beiden großen Risse, die den Untergang von Pangäa eingeleitet hatten – das ost-westliche Tethys-Meer und der nord-südliche Atlantik – schlossen respektive erweiterten sich. Afrika war auf Kollisionskurs mit Europa, derweil Indien nordwärts driftete und Asien rammte, wodurch der Himalaya aufgefaltet wurde. Doch die Berge waren kaum entstanden, als der Regen und die Gletscher sich ans Werk machten und das Gebirge durch Aushöhlung und Erosion wieder ins Meer spülten: Auf diesem turbulenten Planeten floss Gestein wie Wasser, und Gebirgszüge wurden traumgleich aufgefaltet und abgetragen. Die sich vereinigenden Kontinente schnürten den paradiesischen Fluss von Tethys ab. Reste dieses riesigen Meeres haben sich als Schwarzes und Kaspisches Meer sowie Aral-See und Mittelmeer in die Neuzeit hinübergerettet.

Als Tethys versiegte, setzte eine Dürre am Äquator ein. Einst hatte es Mangrovenwälder in der Sahara gegeben. Nun spannte sich im alten Bett von Tethys eine Halbwüsten-Vegetationszone um Nordamerika, das südliche Eurasien und das nördliche Afrika.

Inzwischen zerbrach auch die große Landbrücke, die den nördlichen Atlantik abgetrennt und von Nordamerika über Grönland und Großbritannien nach Nordeuropa sich erstreckt hatte. Nun ging der Atlantik ins Polarmeer über. Als die alte Ost-West-Passage geschlossen wurde, öffnete sich ein neuer Kanal von Süden nach Norden.

So änderten sich auch die Meeresströmungen.

Die Meere waren riesige Energiereservoirs – unruhig, instabil und ständig in Bewegung. Und die Meere wurden von Strömungen durchzogen, unsichtbaren Flüssen, gegen die jeder Fluss an Land ein bloßes Rinnsal war. Die Strömungen wurden durch die Sonnenwärme und die Erddrehung erzeugt; in den oberen paar Metern der Weltmeere war mehr Energie gespeichert als in der gesamten Atmosphäre.

Nun wurden die mächtigen äquatorialen Strömungen, die einst im Tethys-Meer vorgeherrscht hatten, unterbrochen. Zugleich prägten sich auch schon die Strömungen aus, die den sich verbreiternden Atlantik dominieren würden: ein Vorläufer des Golfstroms, ein mächtiger Fluss mit einer Breite von sechzig Kilometern und der dreihundertfachen Strömungsenergie des Amazonas floss von Süden nach Norden.

Diese Änderung der Zirkulationsmuster wirkte sich auch auf das Klima des Planeten aus. Die Äquatorialströmungen bewirkten nämlich eine Erwärmung, die interpolaren Nord-Süd-Strömungen hingegen eine Abkühlung der Erde.

Und zu allem Überfluss hatte Antarktika sich über den Südpol geschoben und wurde zum ersten Mal seit zweihundert Millionen Jahren von einer Eiskappe bedeckt. Gewaltige kalte, polare Meeresströmungen entstanden in den südlichen Gewässern und speisten die großen, nordwärts gerichteten Strömungen des Atlantiks.

Es hatte ein Paradigmenwechsel stattgefunden – der Beginn einer starken planetaren Abkühlung, die sich bis ins Zeitalter der Menschen und darüber hinaus fortsetzen sollte.

Auf dem ganzen Planeten zogen die alten Klimagürtel sich zum Äquator zurück. Tropische Vegetation überlebte nur in den Äquatorialbreiten. Im Norden erschien eine neue Art von Ökologie, eine gemäßigte Zone mit Mischwald aus Koniferen und Laubbäumen. Dieser Bereich bedeckte einen Teil der nördlichen Regionen und erstreckte sich von den Tropen über Nordamerika, Europa und Asien bis zur Arktis.

Der klimatische Kollaps löste ein neues Artensterben aus, das Paläobiologen später als den ›Großen Schnitt‹ bezeichneten. Es war ein lang anhaltendes, multiples Ereignis. In den Meeren wurde die Plankton-Population wiederholt dezimiert. Viele Gastropoden- und Muschelarten verschwanden.

Und an Land wurden die Säugetiere nach einer dreißig Millionen Jahre währenden Erfolgsgeschichte vom ersten Massensterben heimgesucht. Die Säugetierpopulation wurde um die Hälfte reduziert. Die exotischen Spezies aus Noths Tagen wurden dahingerafft. Dafür entwickelten sich neue, größere Pflanzenfresser mit kräftigen Mahlzähnen, die die grobe Vegetation zu zerkleinern vermochten, die für das jahreszeitlich geprägte Waldland typisch war. Zu Streuners Zeit durchstreiften bereits die ersten, mit Rüsseln und Stoßzähnen ausgestatteten Proboscidea die afrikanischen Ebenen. Mit dem Rüssel, dem an Flexibilität nur der Arm eines Tintenfischs gleichkam, stopfte das Tier sich die großen Futtermengen ins Maul, die es benötigte. Diese Deinotheria hatten kurze Rüssel und seltsam nach unten gebogene Stoßzähne, mit denen sie die Rinde von den Bäumen schälten. Im Gegensatz zu ihrem Vorfahren, dem Moeritherium, sahen sie aber aus wie Elefanten und wuchsen auch bald zur Größe der späteren afrikanischen Elefanten heran.

Und in dieser Zeit machten auch die Pferde einen großen Sprung. Die Nachkommen der ängstlichen Geschöpfe in Noths Wald hatten sich in viele Arten ausdifferenziert, die als Pflanzenfresser im Waldland lebten. Sie waren zum Teil so groß wie Gazellen und hatten kräftigere Zähne als ihre Vorfahren, sodass sie nun auch Blätter und nicht mehr nur weiche Früchte zu fressen vermochten. Eine andere Richtung waren Tiere mit längeren Beinen, die sich auf Gras als Nahrung spezialisierten. Die meisten Pferde hatten drei Zehen an Vorder- und Hinterfüßen, wobei die in der Ebene lebenden Läufer jedoch schon die seitlichen Zehen verloren und das ganze Gewicht auf den mittleren Zeh verlagerten. Doch in dem Maß, wie der Wald schrumpfte, verringerte sich auch seine Vielfalt, und bald würden viele Wald-Spezies verschwinden. Die Nagetiere diversifizierten sich mit dem Erscheinen der ersten Ziesel, Biber, Haselmäuse, Hamster und Eichhörnchen – und den ersten Ratten.

Die Primaten profitierten nicht von den veränderten Bedingungen. Ihr Lebensraum, die tropischen Wälder, war auf den Bereich der heutigen Tropen geschrumpft. Viele Primaten-Familien waren ausgestorben. Früchteesser wie Streuner harrten nur noch in den Regenwäldern Afrikas und Südasiens aus und lebten vom ganzjährigen Nahrungsangebot, das in diesen Wäldern noch vorhanden war. Als Streuner geboren wurde, existierten keine Primaten mehr nördlich der Tropen, und auf dem amerikanischen Doppelkontinent gab es seit dem Erscheinen der Nagetiere überhaupt keine mehr – keine einzige Art.

Das sollte sich aber bald ändern.

Das Meer um Streuner war eine stahlgraue Fläche, die mit der Trägheit von Quecksilber Wellen schlug. Streuner war an einem unbegreiflichen Ort, in einer elementaren zweidimensionalen Umwelt mit groben Konturen, die statisch und zugleich mit einer geheimnisvollen mahlstromartigen Bewegung erfüllt war. Der Unterschied zum Wald hätte nicht größer sein können.

Nervös kletterte sie über das Pflanzen-Floß. Jeden Moment rechnete sie damit, dass ein wilder Luft-Räuber ihr in den Kopf biss. Und sie spürte, wie das Floß unter ihr sich verwand, hörte, wie die lose verknüpften Bestandteile in der trägen Dünung des Meers raschelten. Es hatte den Anschein, dass das ganze Ding jeden Moment auseinander fiel.

Es waren nur noch sechs Anthros übrig: drei Männchen, zwei Weibchen – einschließlich Streuner – und das Baby, das sich schläfrig ans Fell seiner Mutter klammerte. Das waren die einzigen Überlebenden von Weißbluts Sippe.

Die Anthros saßen auf einem Astgewirr und beäugten sich gegenseitig. Es wurde Zeit, eine vorläufige Hierarchie zu bilden.

Für die beiden Weibchen waren die Prioritäten klar.

Das eine Weibchen, die Mutter, war ein über zehn Jahre altes, stämmiges Exemplar. Dieses Kind war ihr viertes, und - was sie nicht wusste – ihr einziger überlebender Nachkomme. Ihr auffälligstes Merkmal war ein kahler Fleck aus Narbengewebe an einer Schulter, wo ein Waldbrand ihr das Fell versengt hatte. Das Baby, das sich an Flecks Brust klammerte, war selbst für sein Alter zu klein – es war ein winziges Fellknäuel. Fleck, die Mutter, musterte Streuner abschätzig. Streuner war klein, jung und eine Fremde, nicht einmal eine entfernte Verwandte. Also drehte sie Streuner den Rücken zu und streichelte ihr Junges, Knäuel.

Streuner wusste, was sie zu tun hatte. Sie huschte über die Äste zu Fleck, grub ihr die Finger ins noch nasse Fell und glättete Verfilzungen und beseitigte Schmutzreste. Als sie Flecks Haut berührte, spürte sie Verhärtungen in der Muskulatur und traf Stellen, bei deren Berührung Fleck zusammenzuckte.

Bei der Massage durch Streuners kräftige Hände entspannte Fleck sich langsam. Wie allen anderen hatte auch Fleck die Vertreibung aus dem Wald und der Verlust der Familie stark zugesetzt. Und sie litt darunter, dass es sie in diese gähnende Leere verschlagen hatte. Es war, als ob sie unter der magischen Berührung Streuners für einen Moment vergaß, wo sie war. Selbst auf Knäuel, das Kind, schien der Kontakt der beiden Weibchen beruhigend zu wirken.

Streuner wurde durch die einfachen, sich wiederholenden Handgriffe des Kämmens und das soziale Band beruhigt, das sie zwischen sich und Fleck knüpfte.

Die Verhandlungen der Männchen waren da schon deftiger.

Weißblut wurde mit zwei jüngeren Männchen konfrontiert, bei denen es sich um Brüder handelte. Einer hatte ein besonderes brillenartiges Muster aus weißem Haar um die Augen, wodurch er ständig einen erstaunten Eindruck machte, und der andere war ein Linkshänder, sodass die Muskeln des linken Arms viel stärker entwickelt waren als die des rechten Arms.

Brille und Linkshänder waren jedoch jünger, kleiner und schwächer als Weißblut; im Wald wären sie keine Konkurrenz für ihn gewesen. Weißblut hatte aber seine Bundesgenossen verloren, und gemeinsam waren diese beiden ihm vielleicht doch überlegen.

Also warf er sich ohne zu zögern in Positur. Er stand unsicher auf zwei Beinen, brüllte und kreischte und warf mit Blättern. Dann drehte er sich um, spreizte die Beine und kotete durch das feuchte Fell.

Linkshänder wurde dadurch sofort eingeschüchtert. Er wich zurück und schlang die Arme um sich.

Brille ließ sich nicht so schnell den Schneid abkaufen und beantwortete Weißbluts Darbietung ebenfalls mit einem lauten Kreischen. Aber er war kleiner als Weißblut und ohne die Unterstützung seines Bruders dem älteren Männchen hoffnungslos unterlegen. Weißblut versetzte Brille Kopf- und Nackenschläge, worauf er zurückwich und auf den Rücken fiel. In einer Geste der Unterwerfung spreizte er Arme und Beine wie ein kleines Kind. Es war erst zu Ende, als Weißblut durch einen unvorsichtigen Schritt durchs Laub brach und ins kalte Wasser trat. Jaulend zog er das Bein zurück, setzte sich erschöpft hin und zog die Beine unter sich.

Aber er hatte sich behauptet. Die Brüder näherten sich ihm mit gesenkten Köpfen und in demütiger Haltung. Durch hektisches gegenseitiges Kämmen wurde die neue Hierarchie besiegelt, und die drei Männchen zupften sich gegenseitig Kotreste aus dem Fell.

Die Zweckgemeinschaften von Noth hatten Straßenbanden geglichen und waren im Grunde nur durch brutale Gewalt und Dominanz zusammengehalten worden, wobei die einzelnen Gruppenmitglieder sich kaum mehr als ihres Platzes in der Hierarchie bewusst waren. Inzwischen hatten die Vorzüge einer sozialen Lebensweise die Primaten-Gesellschaften jedoch geradezu barock verschnörkelt und die Entwicklung eines neuen Bewusstseins befördert.

Das Zusammenleben in einer Gruppe erforderte eine hohe soziale Kompetenz: Man musste wissen, wer wem gegenüber sich wie verhielt, wie die eigenen Handlungen damit zu vereinbaren waren und wen man wann das Fell zu kämmen hatte, um sich das Leben zu erleichtern. Je größer die Gruppe, desto zahlreicher die Beziehungen, die man verfolgen musste – und weil diese Beziehungen sich ständig änderten, brauchte man eine noch höhere Rechenkapazität, um das alles zu verarbeiten. Indem sie zuließen, dass ihr Gruppenleben ein solches Maß an Komplexität erreichte, nahm die Intelligenz der Primaten rasant zu.

Jedoch nicht bei allen Primaten.

Während dieses ganzen Zwischenfalls hatte Dickbauch auf dem Ast gesessen, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte, und ihn methodisch der Blätter beraubt. Sie interessierte sich nicht für die Händel und die haarige Fummelei der Anthros.

Dickbauch hatte sogar die Gesellschaft von Artgenossen gemieden. Sie hatte die anderen Weibchen ignoriert und sich nur mit Männchen eingelassen, wenn sie den Drang zur Paarung verspürte – was jetzt der Fall war. Wenn Anthro-Weibchen wie Fleck und Streuner brünstig waren, schwollen ihre Genitalien an. Bei einem Geschöpf, das fast die ganze Zeit auf dem Hintern saß, hätte das jedoch wenig genützt. Deshalb prangten an Dickbauchs Brust rosige Knospen, die zu langen Warzen mit einer unmissverständlichen Botschaft angeschwollen waren. Weil aber kein Dickbauch-Männchen in der Nähe war, verpuffte der Effekt nutzlos.

Nicht dass es Dickbauch viel ausgemacht hätte. Sie wusste genauso wenig wie die Anthros, wo sie war und was ihr zugestoßen war, aber das kümmerte sie auch nicht. Sie sah nur, dass der entwurzelte Baum genug Blätter trug, um sie über den Tag zu bringen. Aber sie vermochte sich nicht vorzustellen, dass morgen ein weiterer Tag war und dass die Vorräte irgendwann aufgebraucht sein könnten.

Die Anthros wurden jedenfalls schon hungrig; ihr Körper setzte die nährstoffarme Nahrung schnell um. Sie lösten die Kämm-Gruppen auf und schwärmten über die Äste des entwurzelten Mangobaums aus. Der Baum hatte die meisten Früchte sowie die Bewohner verloren, als er in den Fluss gestürzt war. Brille, einer der Brüder, entdeckte jedoch schnell einen Fruchtstand, der zwischen einem Ast und dem Baumstamm eingeklemmt war. Mit einem Ruf verständigte er die anderen.

Die neue kleine Gesellschaft arbeitete effizient. Es gelang Brille zwar, sich eine Frucht zu schnappen, doch dann wurde er von Weißblut verdrängt. Und Weißblut musste wiederum Fleck weichen. Obwohl sie nur etwa zwei Drittel der Größe von Weißblut hatte, war das an ihrer Brust hängende Junge so etwas wie ein Rangabzeichen. Weißblut nahm sich eine Frucht und ließ Fleck dann grummelnd den Vortritt.

Streuner und die Brüder wussten, dass sie erst dann an die Früchte herankommen würden, wenn die Stärkeren sich bedient hatten.

Allein ging sie vorsichtig und auf allen vieren zum Rand des Floßes, wo das Gewirr der Äste nicht mehr ganz so dicht war. Die zwei furchtsam aneinander geschmiegten Rostroten flohen bei ihrer Annäherung. Durchs Laub sah sie schmutzigbraunes, träge plätscherndes Wasser, auf dem Holzstücke und Blätter trieben. Das gestreute, glitzernde Sonnenlicht drang durch Lücken in der Baumkrone. Das auf den Wellen tanzende Licht war bezaubernd und einlullend.

Streuner war ebenso hungrig wie durstig. Sie tauchte vorsichtig die Hand ins Wasser – es war kühl – und schöpfte einen Schluck. Das Wasser war nur leicht salzig, denn selbst in dieser Entfernung vom Land verdünnte die starke Strömung des Flusses das Meerwasser noch. Je mehr sie trank, desto stärker wurde aber der Salzgeschmack, und sie spie den letzten Schluck aus.

Die hungrigen und gelangweilten Brüder kamen herbei, als sie trank. Sie hatte den Kopf zwischen die Blätter gesteckt, die Arme ausgestreckt und das Hinterteil in die Höhe gereckt. Sie beschnüffelten sie neugierig und rochen, dass sie noch sehr jung war – zu jung zum Paaren.

Als die Älteren fertig waren, fielen Streuner und die anderen über die Früchte her.

Wo sie erst einmal einen vollen Bauch hatten, kamen die Anthros zur Ruhe. Aber das zerbrechliche Floß war schon so weit aufs Meer hinausgetrieben, dass das Land nicht mehr zu sehen war. Die Anthros hatten schon einen Großteil der Früchte des Mangobaums verzehrt. Und der zufrieden mampfende Dickbauch hatte bereits das halbe Laub von den Ästen gefressen.

Und keiner von ihnen hatte das hellgraue Dreieck bemerkt, das nur ein paar Meter entfernt durchs Wasser schnitt.

Der Hai umkreiste das primitive, sich auflösende Floß. Er war vom Festmahl angelockt worden, das die ertrunkenen Waldbewohner abgegeben hatten, als sie ins Meer gespült wurden und hatte das Blut gerochen, das aus dem Kadaver des Indricotheriums sickerte. Und nun spürte er Bewegung in der Baumkrone, die auf dem Wasser trieb. Er umkreiste sie berechnend und geduldig.

Der Hai war nicht so intelligent wie die Landbewohner. Aber er war auch kein Primat, nicht einmal ein Wirbeltier. Sein Rückgrat bestand nicht aus Knochen, sondern aus zähem Knorpel, die dem Hai eine größere Beweglichkeit verliehen als höher entwickelten Fischen. Der Kiefer bestand auch aus Knorpeln, in die Zähne eingelassen waren. Sie waren wie Steakmesser gezackt und hervorragend zum Abscheren von Fleisch geeignet. Die lange Schnauze wirkte plump, teilte das Wasser aber mit der Präzision eines U-Boots und war mit einer Nase ausgestattet, die auch geringste Blutspuren witterte. Unter dem Maul befand sich ein Spezialorgan mit einer außerordentlichen Schwingungsempfindlichkeit, das die Bewegungen eines verletzten oder kranken Tieres über große Entfernungen zu registrieren vermochte. Hinter dem kleinen Kopf bestand der ganze Körper des Hais aus lauter Muskeln; er war konsequent auf Kraft und Geschwindigkeit ausgelegt und glich einem Rammbock.

Die Haie waren seit dreihundert Millionen Jahren die Herrscher der Meere. Sie hatten die großen Auslöschungen überlebt, bei denen ganze Familien von Land-Räubern weggefegt worden waren. Sie hatten sich auch nicht der Konkurrenz durch neue Tierklassen stellen müssen, die zum Teil viel jünger waren – wie die richtigen Fische. In diesem langen Zeitraum hatte der Körperbau der Haie sich kaum verändert, weil es einfach nicht notwendig war.

Der Hai war erbarmungslos. Er ließ sich auch nicht mit List ablenken und setzte den Angriff fort, solang die Sinne entsprechend stimuliert wurden. Er war eine aufs Töten spezialisierte Maschine.

Der Hai spürte die große Masse toten Fleischs, die in der Mitte des Floßes driftete. Und er hörte die Bewegungen lebendiger Tiere an der Oberseite. Das tote Ding konnte warten.

Der Zeitpunkt zum Angriff war gekommen. Der Hai griff frontal und mit aufgerissenem Maul an. Er hatte keine Augenlider. Um die Augen zu schützen, verdrehte er sie, sodass sie im letzten Moment vor dem Angriff weiß wurden.

Fleck war die erste, die die nahende Flosse bemerkte, den Körper wie ein Torpedo aufs Floß zu gleiten sah und in die weißen Augen schaute. Sie hatte ein solches Ding noch nie zuvor gesehen, doch der Instinkt sagte ihr, dass von dieser schlanken Gestalt Gefahr drohte. Sie rannte über die losen Blätter zur entgegen gesetzten Seite des Floßes.

Die Anthros gerieten in Panik. Die zwei Rostroten zirpten wie Vögel und huschten ziellos umher. Nur der Dickbauch blieb ungerührt auf seinem Ast hocken und schob sich wieder eine Handvoll Laub rein.

Die von der Mutter getrennte Knäuel reagierte nicht.

Fleck war entsetzt. Sie hatte eigentlich erwartet, dass ihr Kind ihr zur anderen Seite des Floßes folgen würde. Doch das Junge hatte die drohende Gefahr nicht erkannt. Eine Menschen-Mutter wäre in der Lage gewesen, sich in ihr Kind hineinzuversetzen und hätte gewusst, dass das Kind nicht alles wahrzunehmen vermochte, was sie wahrnahm. Zu einem Perspektivenwechsel dieser Art war Fleck aber nicht in der Lage. In dieser Hinsicht glich sie Noth und war selbst wie ein kleines Menschenkind; sie stellte sich vor, dass alle Geschöpfe in der Welt sahen, was sie sah und den gleichen Maximen folgten.

Der Hai brach mit der stumpfen Schnauze durch das lose Blattwerk. Für Streuner war dieses klaffende Maul, das unter der Welt hervorbrach, ein albtraumhafter Anblick. Sie stieß einen Schrei aus und rannte ziellos umher, ohne jedoch in der Lage zu sein, aus dem engen Raum des Floßes auszubrechen.

Das Kind hatte Glück. Als das Floß unter dem Angriff des Hais erbebte, flüchtete es sich in die Lücke zwischen einem Ast und dem Baumstamm. Seine Mutter sprang über das rotierende Floß, machte einen Satz über das Loch, das der Hai geschlagen hatte und schnappte sich das Kind.

Aber der Hai kehrte noch einmal zurück. Diesmal rammte er die keilförmige Schnauze zwischen zwei Baumstämme, die das Grundgerüst des Floßes bildeten. Einer der Rostroten fiel quiekend in die klaffende Lücke.

Das Maul des Hais tat sich wie eine Höhle vor ihm auf. Das Fünkchen Bewusstsein des Crowders wurde ausgelöscht. Der Hai war sich des kleinen Happens kaum bewusst, den er verschluckte. Er hatte gerade erst angefangen.

Weißblut sah den fetten, selbstgefälligen Dickbauch auf seinem laubbehängten Ast thronen. Diese lächerliche rote Schwellung prangte noch immer an ihrer Brust, obwohl sie durch das Wüten des Hais plötzlich direkt am Wasser saß. In diesem Moment unmittelbarer Gefahr schlossen sich neue Schaltkreise in Weißbluts einfallsreichem Gehirn. Es war eine logische Kette, durch die ihm ein Spitzenplatz in seiner Art gebührte. Jedoch war jede Anthro-Generation im Durchschnitt ohnehin etwas intelligenter als die letzte.

Weißblut machte einen Satz wie ein Kampfsportler und stieß Dickbauch die Füße in den Rücken. Sie fiel kopfüber ins Meer.

Auf dieses fette, zappelnde Geschöpf hatte der Hai gerade gewartet. Er packte die Beute genau in der Mitte. Der ganze Körper des Hais erzitterte, als er den Dickbauch durchschüttelte und mit den spitzen Zähnen einen Brocken aus der unglücklichen Kreatur herausriss. Dann wartete er in einer auseinanderdriftenden Wolke aus Blut, dass sein Opfer verblutete.

Der Dickbauch fasste es nicht, dass er plötzlich im Wasser lag und wurde im selben Moment von einem quälenden Schmerz überwältigt. Doch dann wurde ihr Gehirn mit Chemikalien geflutet, und die Zentren des funktionalen Bewusstseins wurden abgeschaltet. Sie verspürte eine Art Frieden in dieser blutigen Dunkelheit.

Weißblut saß keuchend über dem Schauplatz dieser Attacke. Vom Dickbauch war nichts mehr übrig außer einem Haufen dünnen, übel riechenden Kots und einer Handvoll zerstampfter Blätter. Allmählich schloss die Lücke im Floß sich wieder, als ob es sich selbst heilte. Die Anthros kauerten sich zusammen. Sie waren sogar zu mitgenommen, um sich zu kämmen.

Und die Sonne stieg am westlichen Himmel hinab – in der Richtung, in die sie hilflos trieben.

III

Die Tage und Nächte folgten endlos aufeinander. Es war nichts zu hören außer dem Knarren der Äste und dem leisen Plätschern der Wellen.

In den Nächten hing ein erdrückender Himmel über ihnen, vor dem Streuner sich am liebsten verkrochen hätte.

Doch im Licht des Tages, unter der grellen Sonne oder grauen Wolken, sah sie nichts außer dem Meer. Es gab weder Wald noch Land oder Hügel. Sie roch nichts außer Salz, und es drangen weder die Rufe von Vögeln oder Primaten noch das Trompeten von Pflanzenfressern an ihr Ohr. Das Wasser der Flussmündung hatte sich inzwischen mit dem Meerwasser vermischt, und selbst der Schutt, der vom schrecklichen Sturm ins Meer gespült worden war, hatte sich zerstreut und driftete hinterm Horizont seinem Schicksal entgegen.

Das Floß selbst war leer geworden.

Die Anthracothere-Kadaver, die in den Ästen des Mango-Baums festgesteckt hatten, waren längst verschwunden. Der letzte Rostrote war auch nicht mehr da. Vielleicht war er ins Meer gefallen. Das Indricotherium war angeschwollen, während die Bakterien in seinen Gedärmen sich nach draußen fraßen. Doch die unsichtbaren Münder des Meers hatten sich auch am Indricotherium zu schaffen gemacht und fraßen es von unten auf. Nachdem er immer mehr Fleisch verloren hatte, war der mächtige Kadaver schließlich zusammengefallen und ins Meer gerutscht.

Die Anthros hatten längst alle Früchte verzehrt.

Sie versuchten das Laub zu essen. Anfangs gewannen sie daraus wenigstens einen Mund voll Wasser, das für eine Weile den Durst stillte. Aber der entwurzelte Baum war tot, und die restlichen Blätter verschrumpelten bald. Und anders als der unglückliche Dickbauch vermochten die Anthros eine so grobe Nahrung auch nicht zu verdauen, und sie verloren in dem wässrigen Kot, den sie ausschieden, nur noch mehr Flüssigkeit.

Streuner war ein kleines Tier, das für ein Leben in der Sicherheit des Waldes geschaffen war, wo es Nahrung und Wasser im Überfluss gab. Im Gegensatz zu einem Menschen, dessen Körper dafür ausgelegt war, eine lange Zeit im Freien zu überleben, hatte sie nur sehr wenig Fett, das die Haupt-Brennstoffreserve eines Menschen ist. Streuners Zustand verschlechterte sich zusehends. Bald wurde ihr Speichel dick und schmeckte faulig. Die Zunge klebte am Gaumen fest. Sie hatte starke Schmerzen in Kopf und Hals, weil die trocknende Haut sich zusammenzog. Die Stimme wurde brüchig, und sie schien einen harten, schmerzenden Knoten im Mund zu haben, der einfach nicht verschwinden wollte, so oft sie auch schluckte. Sie und die anderen Anthros hätten aber noch mehr gelitten, wenn der bewölkte Himmel die grelle Sonne nicht meistens ausgeblendet hätte.

Manchmal träumte Streuner. Der tote Mangobaum erblühte plötzlich, die Wurzeln bohrten sich wie Primatenfinger in den harten Meeresboden, die Blätter ergrünten und wedelten wie kämmende Hände, und dicke Fruchtstände zierten den Baum. Sie pflückte die Früchte, öffnete sie sogar und tauchte das Gesicht ins klare Wasser, mit dem jede Schale seltsamerweise gefüllt war. Und dann kamen ihre Mutter und Schwestern, wohlgenährt und voller Spannkraft und kämmten sie.

Doch dann verschwand das Wasser, als ob es in der heißen Sonne verdunstete, und sie wurde gewahr, dass sie nur an einem Stück Rinde oder einer Handvoll trockener Blätter kaute.

Fleck hatte einen Eisprung.

Weißblut machte als Alpha-Männchen dieser kleinen verlorenen Gemeinschaft schnell seinen Anspruch geltend. Weil sie nichts anderes zu tun hatten und auch nirgends hinzugehen vermochten, kopulierten Weißblut und Fleck oft – manchmal zu oft, und dann handelte es sich nur um eine ›Trockenübung‹ mit ein paar mechanischen Stößen.

Normalerweise wären wahrscheinlich auch Rangniedere wie die Brüder imstande gewesen, sich in diesen frühen Tagen des Eisprungs mit Fleck zu paaren. Weißblut, der aus einer Vielzahl potentieller Partnerinnen zu wählen vermochte, hätte sie erst dann vertrieben, wenn der Gipfel von Flecks Fruchtbarkeit nahte und damit die beste Chance, sie zu schwängern.

Das wäre nämlich auch in Flecks Interesse gewesen. Mit der Schwellung wollte sie möglichst viele Männchen auf ihre Fruchtbarkeit aufmerksam machen. Einmal bewirkte die daraus resultierende Konkurrenz eine hohe Qualität der Bewerber, ohne dass sie sich die Mühe machen musste, den Besten auszusuchen. Und wenn alle Männchen der Gruppe zur gleichen Zeit sich mit ihr paarten, vermochte sich keins sicher zu sein, wer denn nun der Vater eines Babys war. Deshalb riskierte ein Männchen, das versucht war, ein Baby zu töten, um den Fruchtbarkeits-Zyklus eines Weibchens zu beschleunigen, die Ermordung seines eigenen Nachwuchses. Die Schwellung, mit der sie den Eisprung ›publik‹ machte, war für Fleck also eine Möglichkeit, die Männchen um sie herum mit minimalem Aufwand zu kontrollieren und zugleich das Risiko eines Kindsmords zu verringern.

Allerdings gab es auf diesem kleinen Floß nur ein ausgewachsenes Weibchen, das Weißblut mit niemandem teilen würde. Also saßen Brille und Linkshänder zu Statisten degradiert nebeneinander und kauten auf Blättern herum, während die erigierten Penisse aus dem Fell stachen. Sie mussten sich damit begnügen, Flecks prächtige Schwellung zu bewundern. Jedes Mal, wenn sie eine Annäherung an Fleck versuchten oder sie gar zaghaft zu kämmen versuchten, geriet Weißblut in Rage, erging sich in Drohgebärden und attackierte den Vorwitzigen.

Was Streuner betraf, so wäre sie Fleck als Fremde immer untergeordnet. Dennoch war sie in dieser Ausnahmesituation Fleck schnell so nahe gekommen wie ihren Schwestern.

Wenn Weißblut und Fleck kopulierten, nahm Streuner sich oft Knäuel an. Nach ein paar Tagen hatte Knäuel Streuner als eine Tante ehrenhalber akzeptiert. Das kleine Gesicht des Babys war kahl, und es hatte ein olivfarbenes Fell, mit dem es sich deutlich von der Mutter abhob; es war eine Farbe, die bei Streuner und sogar bei den Männchen einen Beschützerinstinkt weckte. Manchmal spielte Knäuel allein und kletterte tapsig über die verflochtenen Äste, doch viel lieber wollte sie sich an Streuners Brust oder Rücken klammern oder von ihr im Arm gehalten werden.

Die Aufgabe der Kinderaufzucht teilten die Anthros sich – obwohl normalerweise nur Verwandte als Betreuer zugelassen waren.

Anthro-Kinder wuchsen viel langsamer als die Jungen aus Noths Ära, weil die Entwicklung der Gehirne mehr Zeit in Anspruch nahm. Obwohl die Anthro-Kinder im Vergleich zu den Menschenkindern bei der Geburt schon gut entwickelt waren, waren sie doch hilflos, schwach und völlig von der Mutter abhängig. Es war, als ob Knäuel ein Frühchen wäre und das embryonale Wachstum außerhalb des Mutterleibs abschloss.

Dadurch stand Fleck unter großem Druck. Achtzehn Monate lang musste eine Anthro-Mutter die täglichen Überlebens-Anforderungen mit den Pflichten der Kinderaufzucht unter einen Hut bringen – und sie musste sich auch noch die Zeit nehmen, ihre Schwestern, Artgenossinnen und potenzielle Paarungsgefährten zu kämmen. Schon bevor sie auf dem Floß gestrandet war, hatten diese Pflichten Fleck über Gebühr strapaziert. Aber in der Gesellschaft der Weibchen um sie herum hatten sich immer wieder ›Tanten‹ und Kindermädchen gefunden, die ihr das Kind abgenommen und eine Ruhepause ermöglicht hatten. Streuners Hilfe entlastete Fleck, zumal Streuner auch ihre Freude daran hatte. Außerdem bereitete sie sich so auf ihre eigene Mutterrolle vor. Und sie hatte reichlich Zeit zum Kämmen.

Sie alle vermissten die Fellpflege. Das kam sie in diesem ozeanischen Gefängnis am schwersten an. Weißblut zeigte bereits Spuren von ›Überkämmung‹ durch seine zwei jungen Diener; Kopf und Nacken wiesen schon kahle Stellen auf. Deshalb freute Streuner sich, das Junge stundenlang zu verwöhnen, indem sie das Fell sanft mit den Fingern zupfte, kämmte und kitzelte.

Während die Tage ›ins Wasser‹ gingen, wurde das ständig hungrige und durstige Kind jedoch zusehends quengelig. Knäuel streifte übers Floß und giftete sogar die Männchen an. Manchmal bekam sie einen Wutanfall, wobei sie das Laub verwirbelte, ihre Mutter am Fell riss oder halsbrecherisch auf dem Floß umher rannte.

All das setzte Fleck nur noch mehr zu und reizte die anderen.

So ging das Tag für Tag. Die Anthros, die auf diesem Splitter der Trockenheit im Meer gefangen waren, gingen sich allmählich auf die Nerven. Wenn sie mehr Platz gehabt hätten, hätten sie sich dem lästigen Treiben des Kinds zu entziehen vermocht. Wenn sie mehr gewesen wären, hätte die Eifersucht der Jüngeren auf Weißblut keine Rolle gespielt; sie hätten leicht andere paarungsbereite Weibchen gefunden und die Spannung abgebaut, indem sie sich außerhalb von Weißbluts Sichtweite heimlich gepaart hätten.

Aber es gab eben keine größere Gruppe, in der sie Dampf abzulassen, und keine Büsche, in die sich zu schlagen vermocht hätten – und nichts zu essen außer trockenem Laub und nichts zu trinken außer salzigem Meerwasser.

Eines Tages spitzte die Lage sich zu.

Knäuel war wieder einmal ein richtiger Zorngickel. Sie tobte auf dem Floß umher, wobei sie dem geduldig wartenden Meer gefährlich nahe kam, zerrte an Blättern und Rinde und stieß kehlige Schreie aus. Sie war abgemagert, und das schmutzige Fell schlackerte ihr um den kleinen Körper.

Diesmal verscheuchten die Männchen sie jedoch nicht mit einem Klaps. Stattdessen musterten die drei sie mit einer Art Berechnung.

Schließlich sammelte Fleck Knäuel ein. Sie drückte das Kind an die Brust und säugte es, obwohl sie keine Milch mehr hatte.

Weißblut kam auf Fleck zu. Normalerweise näherte er sich ihr allein, doch diesmal wurde er von Brille, dem größeren der Brüder gefolgt. Der weiße Fellrand um die Augen glänzte in der grellen Sonne. Brille kämmte Fleck, und Weißblut setzte sich neben ihn. Allmählich rückten die Finger zu ihrem Bauch und den Genitalien vor. Das war ein eindeutiges Vorspiel zur Paarung.

Fleck zog sich mit einem erschrockenen Blick zurück. Knäuel klammerte sich noch immer an ihren Bauch. Weißblut streichelte ihr jedoch beruhigend den Rücken, bis sie sich setzte und die Annäherung von Brille wieder zuließ. Obwohl Brille ihm ständig nervöse Blicke zuwarf, griff Weißblut nicht ein.

Streuner, die es sich in einer Astgabel bequem gemacht hatte, starrte auf die Männchen. Ihr Verhalten erstaunte sie auf eine Art und Weise, wie Noth es nie zu empfinden vermocht hätte. Je komplexer das Bewusstsein der Primaten wurde, desto stärker schien – mit der einzigartigen Läuterung als Ursprung – eine Art Selbst-Bewusstsein von ihren immer sozialeren Nachkommen auszustrahlen. All das befähigte die Anthros, neue komplexe und subtile Bündnisse zu schließen und Hierarchien zu bilden – und neue Täuschungsmanöver zu inszenieren. Noth hatte ganz genau gewusst, wo sein Platz in der Hierarchie und den Bündnissen seiner Gesellschaft war. Die Anthros waren indes schon einen Schritt weiter: Streuner wusste, dass sie einen niedrigeren Rang innehatte als Fleck, aber sie kannte auch die relativen Positionen der anderen. Sie wusste, dass ein ranghohes Männchen wie Weißblut dieses Verhalten von Brille eigentlich nicht zulassen dürfte – und nicht nur das; er schien ihn sogar noch zu ermutigen, sich mit ›seinem‹ Weibchen zu paaren.

Schließlich stellte Brille sich hinter Fleck und legte ihr die Hände auf die Hüfte. Fleck schickte sich ins Unvermeidliche. Während sie Brille das rosige Hinterteil darbot, nahm sie das schläfrige Kind von der Brust und hielt es Streuner hin.

Und dann machte Weißblut einen Satz. Mit der Präzision des auf Bäumen lebenden Primaten, der er schließlich war, entriss Weißblut Fleck das Kind. Er packte das Kind im Genick und lief zu Linkshänder, schnell gefolgt von einem nervösen Brille.

Fleck schien von dem Vorgang überrascht. Sie starrte Weißblut an, wobei das Hinterteil noch dem verschwundenen Männchen entgegengereckt war.

Die Männchen hatten einen Kreis gebildet. Die pelzigen Rücken wirkten wie eine Wand. Streuner sah, wie Weißblut Knäuel wiegte, fast als ob er sie säugen wollte. Das Baby zappelte mit den Beinchen und schaute gurgelnd zu Weißblut auf. Dann legte Weißblut ihr die Hand auf den Kopf.

Plötzlich begriff Fleck. Sie heulte auf und machte einen Satz.

Aber die Brüder stellten sich ihr entgegen. Jedes dieser halbwüchsigen Männchen war größer als sie. Obwohl sie Bedenken hatten, sich einem ranghohen Weibchen gegenüber feindselig zu verhalten, wehrten sie sie mit Klapsen und Schreien leicht ab.

Weißblut schloss die Hand. Streuner hörte das Knacken von Knochen – ein Geräusch, als ob ein Dickbauch in ein knackiges Blatt bisse. Das Baby zuckte konvulsivisch und erschlaffte. Weißblut schaute für einen Moment auf den kleinen Körper und betrachtete das im Todeskampf verzerrte olivfarbene Gesicht mit einem wechselnden Gefühlsausdruck. Und dann fielen die Männchen über den winzigen Körper her. Ein Biss ins Genick, sodass der Kopf fast abgetrennt wurde; Weißblut zerrte an den Gliedmaßen, bis Knorpel rissen und Knochen knackten. Aber es war gar nicht einmal das Fleisch, auf das die Männchen es abgesehen hatten, sondern das Blut, das aus dem aufgerissenen Hals des Kinds floss. Sie tranken gierig die warme Flüssigkeit, bis Münder und Zähne sich hellrot gefärbt hatten.

Fleck heulte, warf sich in Drohpositur, tobte auf dem Floß herum, wobei sie an Ästen und Blättern zerrte, und schlug die Männchen auf den Rücken. Das Floß erzitterte und schwankte, sodass Streuner sich ängstlich an den Ast klammerte. Aber es war nicht mehr zu ändern.

Weißblut hatte ihr im Grunde auch nichts vorgemacht. Genauso wenig wie sein Altvorderer Noth vermochte er sich in andere hineinzuversetzen und war deshalb auch nicht in der Lage, falsche Maximen in ihre Köpfe zu pflanzen – jedenfalls nicht wirklich. Die Anthros hatten jedoch eine hohe soziale Intelligenz und verfügten über eine gute Problemlösungs-Kompetenz, wenn sie neuen Herausforderungen gegenüberstanden. Weißblut, der auf seine Art ein Genie war, hatte diese Facetten zu kombinieren und einen Plan zu entwickeln vermocht, Knäuel seiner Mutter erfolgreich zu entwenden.

Mit einem letzten heiseren Schrei warf Fleck sich gegen den Mangobaum und baute sich aus abgebrochenen Ästen eine Art Nest. Und noch immer labten die Männchen sich an ihrer Beute, begleitet von lautem Schmatzen und dem Knacken der Knochen zwischen den Zähnen.

Streuner, deren Kopf vom Gestank des Bluts erfüllt war, ging zum Rand des Floßes, wo tote Äste wie Finger im Wasser trieben.

Das trübe Meerwasser war wie eine dünne Suppe und voller Leben. Die oberen, von der Sonne durchdrungenen Schichten waren mit Algenplankton angereichert, einer kompakten mikroskopischen Ökologie. Das Plankton war wie ein Wald im Meer, wobei dieser Wald jedoch seines Überbaus aus Blättern, Zweigen, Ästen und Baumstämmen entkleidet war und nur noch die winzigen chlorophyllhaltigen Zellen der Baumkronen übrig waren, die in der reichen Nährlösung schwammen. Obwohl sich die ökologische Struktur des Planktons in einer halben Milliarde Jahren nicht verändert hatte, waren die Spezies in ihm gekommen und gegangen und der Variation und Auslöschung zum Opfer gefallen wie andere auch; genauso wie an Land wurden in diesem Wasserreich Spiele über viele Runden ausgetragen, wobei die Akteure immer wieder ausgewechselt wurden.

Eine Qualle trieb vorbei. Dieser Planktonfresser war ein durchsichtiger Sack, der sich träge ausdehnte und zusammenzog. Er war mit silbrigen fransenartigen Tentakeln besetzt, die Giftzellen enthielten, mit denen das Plankton gelähmt wurde.

Verglichen mit den meisten Tieren war die Qualle eine primitive Kreatur. Sie hatte eine simple radiale Symmetrie ohne Substanz und Gewebeorganisation. Und sie hatte nicht einmal Blut. Aber die Form war uralt. Einst war das Meer voller Geschöpfe gewesen, die der Qualle mehr oder weniger geglichen hatten. Sie hatten sich am Meeresboden verankert und das Meer in einen Wald brennender Tentakel verwandelt. Sie mussten auch gar nicht aktiv sein und wurden weder von Räubern noch von anderen hungrigen Kreaturen bedroht, weil die Luft nicht genug Sauerstoff enthalten hatte, um derart gefährliche Ungeheuer mit Energie zu versorgen.

Für Streuner war das Meer etwas Unbegreifliches. Wasser war für sie etwas, das in Teichen, Flüssen und Pflanzen-Kelchen vorkam – eine frische, salzfreie Flüssigkeit, die man trank, wenn das gefahrlos möglich war. Nichts in ihrer Erfahrung und in der neuronalen Programmierung hatte sie darauf vorbereitet, über einem weiten umgestülpten Himmel zu hängen, durch den so bizarre Kreaturen wie die Qualle trieben.

Und sie war durstig, schrecklich durstig. Sie tauchte die Hand in diese sämige Suppe und führte eine Hand voll Wasser zum Mund. Sie hatte ganz vergessen, dass sie das vor weniger als einer Stunde schon einmal getan hatte, und den bitteren Geschmack der Brühe hatte sie auch schon wieder vergessen.

Sie sah, dass die Männchen ihr Mahl beendet hatten und in der Hitze in eine Art Starre verfallen waren. Von Fleck war nicht mehr als ein Fuß mit gekrümmten Zehen zu sehen, der aus dem Nest ragte.

Vorsichtig ging Streuner zu der Stelle, wo sie das Baby geschlachtet hatten. Die Äste waren mit Blut verschmiert, das Anthro-Zungen abgeleckt hatten. Streuner durchsuchte gründlich das Laub. Vom Kind war nichts mehr übrig außer einem dünnen Fellfetzen und einer unversehrten kleinen Hand. Sie schnappte sich die Hand und zog sich so weit wie möglich von den anderen in eine Ecke des Floßes zurück.

Die Hand war schlaff und entspannt, als ob sie zu einem schlafenden Kind gehörte. Streuner strich sich damit kurz über die Brust und erinnerte sich daran, wie Knäuel an ihrem Fell gezupft hatte.

Doch Knäuel gab es nicht mehr.

Streuner biss dicht überm Knöchel in den Mittelfinger. Das weiche Fleisch reizte den trockenen Gaumen. Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung zog sie das Fleisch vom Knochen ab. So verfuhr sie auch mit den anderen Fingern und verspeiste dann das weiche Fleisch des Handballens. Als sie die Hand bis auf die Knochen abgenagt hatte und nur noch ein paar Knorpel- und Fleischfetzen daran hingen, zerbiss sie die winzigen Knochen und sog ein paar Tropfen Mark aus.

Dann warf sie den Rest ins endlose Meer. Sie sah, wie kleine silbrige Fische sich versammelten, ehe die Knochen noch in der Tiefe versanken.

Fleck blieb zwei Tage lang in ihrem Nest und rührte sich kaum. Die Männchen lagen reglos durcheinander und zupften sich gelegentlich am immer dünner werdenden Fell.

Streuner schlich schlapp um den Baum herum und suchte nach Linderung. Im Mund sammelte sich kein Speichel mehr. Die Zunge hatte sich zu einem gefühllosen, unbeweglichen Klumpen verhärtet und lag ihr wie ein Stein im Mund. Sie vermochte weder Rufe noch Schreie auszustoßen und brachte nur noch ein unartikuliertes Stöhnen hervor. Sie stocherte sogar im getrockneten Kot, den der Dickbauch abgesondert hatte, und suchte nach Feuchtigkeit oder vielleicht ein paar unverdauten Nusskernen. Der Dung des Pflanzenfressers war jedoch unergiebig und trocken. Erschöpft gab sie auf und dämmerte in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen vor sich hin.

Am dritten Tag nach Knäuels Tod begann Fleck sich wieder zu regen. Streuner beobachtete sie apathisch.

Fleck kroch auf allen vieren und taumelte benommen, weil der Flüssigkeitshaushalt nach der langen Ruhepause aus dem Lot geraten war – und Streuner sah, dass sie sich an den Bauch fasste. Sie war schwanger von Weißblut, und diese Schwangerschaft entzog dem ausgezehrten Körper auch noch die letzten Reserven. Sie rappelte sich aber wieder auf und näherte sich den Männchen.

Brille setzte sich bei Flecks Annäherung nervös auf, als ob er mit einem Angriff rechnete. Streuner sah, wie ihm die schwarz verfärbte Zunge aus dem Mund hing. Das Gesichtsfell war noch immer mit Knäuels Blut verschmiert.

Fleck setzte sich jedoch nur neben ihn und fuhr ihm mit den Fingern durchs Fell. Das Kämmen hatte aber nicht die übliche wohltuende Wirkung. Bei allen hatte das Fell sich gelichtet, und die Haut war mit Geschwüren und Wunden bedeckt, die nicht heilen wollten. Sie riss Narben auf und drückte auf Blutergüsse. Aber er ließ es dennoch geschehen und genoss die Zuwendung trotz der Schmerzen.

Und dann löste sie sich von ihm, drehte sich um und bot ihm das Hinterteil dar. Sehr attraktiv war sie in diesem Moment aber nicht. Das Fell war struppig, die Haut rissig, und die Schwellung im Genitalbereich hatte sich schon vor Tagen zurückgebildet. Trotzdem sprach Brille darauf an, als sie ihm das Hinterteil gegen den Oberkörper drückte, und alsbald stach eine dürre Erektion aus dem verfilzten Bauchfell.

Nun nahm Weißblut diese Missachtung der Hierarchie schließlich doch zur Kenntnis. Das war etwas anderes als sein eigenes Täuschungsmanöver; das vermochte er nicht zu dulden. Mit einem Ruck richtete er sich auf und stieß mit der geschwollenen Zunge ein unartikuliertes Brüllen aus. Brille wich zurück.

Plötzlich griff Fleck Weißblut an, rammte ihm den Kopf in die Brust und schlug ihn mit den Fäusten gegen die Schläfen. Er fiel erschrocken um. Dann lief Fleck zu den anderen Männchen zurück, präsentierte ihnen die Kehrseite und stieß heisere Rufe aus. Und dann stürzte sie sich wieder auf Weißblut.

In diesem Moment wurden neue Bündnisse geschlossen und Rangordnungen aufgehoben. Ohne sich auch nur anzuschauen, trafen die beiden Brüder eine schnelle Entscheidung und unterstützten Fleck beim Angriff auf Weißblut. Weißblut setzte sich zur Wehr und blockte die Schläge ab, mit denen sie ihn eindeckten.

Es war ein grotesker Kampf, der von vier so schwachen Kreaturen ausgefochten wurde. Die Schläge und Tritte waren kraftlos und wurden zeitlupenartig ausgeteilt. Und der Kampf fand in einer Stille statt, die nur von einem erschöpften und schmerzerfüllten Japsen unterbrochen wurde. Es war nichts von den Schreien und Rufen zu vernehmen, die eine Attacke von zwei ›Jungmannen‹ auf ein dominantes Männchen normalerweise begleitet hätten.

Und doch war dieser Kampf tödlich. Denn unter Flecks Führung drängten die beiden Brüder Weißblut Schritt für Schritt zum Rand des Floßes.

Es war Fleck, die den letzten Schlag führte: Mit einem heiseren Brüllen rammte sie Weißblut erneut den Kopf in den Bauch. Weißblut taumelte zurück und fiel durch das lose Geäst am Rand des Floßes ins Wasser. Er trieb rudernd und prustend im Wasser. Das Fell sog sich sofort voll und behinderte seine Bewegungen. Er schaute zum Floß zurück und winselte wie ein Kleinkind mit seiner schwarz verfärbten Zunge.

Brille und Linkshänder waren verwirrt. Sie hatten Weißblut nicht töten wollen; die wenigsten Rangkämpfe unter den Anthros endeten tödlich.

Streuner verspürte einen seltsamen Anflug von Bedauern. Es gab sowieso nur noch ein paar von ihnen. Der Instinkt sagte ihr, dass ein zu kleiner Pool potentieller Paarungs-Gefährten nicht gut sei. Doch für diese Bedenken war es nun zu spät.

Weißblut verließen schnell die Kräfte. Bald vermochte er Mund und Nase nicht mehr über Wasser zu halten, und er bewegte sich nicht mehr. Der Hai, angelockt vom Blut, das aus Weißbluts Wunden sickerte, verschlang den Körper mit einem Biss.

Danach wurde es noch schlimmer für sie. Während das leise knarrende Floß über die Weiten des Ozeans driftete und diese kleinen Kreaturen ihre letzten Reserven aufzehrten, konnte es nur schlimmer werden.

Streuners Gliedmaßen waren angeschwollen. Die gespannte Haut schmerzte ständig und riss schnell. Die Zunge quoll ihr aus dem Mund, als ob man ihr einen großen Klumpen Dung hineingestopft hätte. Die Augenlider waren aufgeplatzt, und sie hatte das Gefühl zu weinen; als sie aber das Fell berührte, sah sie, dass es Blut war, das aus den Augen tropfte.

Sie wurde bei lebendigem Leib mumifiziert.

Und eines Morgens hörte sie schließlich einen Schrei, hoch und leise wie der eines Vogels.

Sie schob das Laub weg, mit dem sie sich zugedeckt hatte, und setzte sich aufrecht hin. Die Welt wurde gelb, und sie hatte ein seltsames Klingeln im Ohr. Sie sah kaum noch etwas; das Blickfeld war verschwommen, und als sie blinzelte, verschaffte das den Augen keine Erleichterung. Der Körper vermochte keine Feuchtigkeit mehr abzugeben.

Trotzdem erkannte sie, dass zwei Anthros – Fleck und Brille – nebeneinander über einer dunklen zusammen gekrümmten Gestalt saßen. Vielleicht war es etwas zu essen. Unter Schmerzen kroch sie zu ihnen hinüber.

Es war Linkshänder, der mit gespreizten Gliedern flach am Boden lag.

Die sengende Sonnenhitze hatte ihm den Garaus gemacht. Das weiße Fell am Kopf und im Nacken war fast völlig verschwunden. Das Fleisch war an den Knochen verschmort. Streuner sah die Konturen des Schädels, der filigranen Handknochen, der Füße und des Beckens. Die nackte Haut hatte sich purpurn und grau verfärbt und war mit großen Blasen und Streifen überzogen. Die Lippen waren zu dünnen Strichen aus schwarzem Gewebe geschrumpft, sodass die Zähne und der rissige Gaumen zu sehen waren. Der Rest des Gesichts war ebenfalls schwarz und vertrocknet, als ob es verbrannt wäre. Das Fleisch um die Nase war verschrumpelt, sodass die kleinen, seitwärts gerichteten Nasenlöcher gedehnt wurden und die schwarze Innenseite der Nase nach außen gestülpt wurde. Die Lider waren auch geschrumpft, wodurch die Augen unablässig in die Sonne starrten. Die Bindehaut, die die Augen umspannte, hatte sich pechschwarz verfärbt. Bei der vergeblichen Suche nach Nahrung hatte er an der Rinde gekratzt und Hände und Füße aufgeschnitten. Aber es war kein Blut zu sehen; die Schnitte waren wie Kratzer in gegerbtem Leder.

Aber er war noch bei Bewusstsein und stieß raue, leise Schreie aus. Dann drehte er leicht den Kopf und spreizte die Finger der kräftigeren linken Hand.

Ohne Nahrung und im Bestreben, die lebenswichtigen Systeme so lang wie möglich am Laufen zu halten, hatte Linkshänders Körper sich selbst verzehrt. Als das Fett aufgebraucht war, wurden die Muskeln angegriffen. Dadurch waren wiederum die inneren Organe beschädigt worden, die schließlich den Dienst einstellten.

Doch in diesen letzten Momenten verspürte Linkshänder keinen Schmerz. Sogar das Hunger- und Durstgefühl war verschwunden.

Streuner schaute benommen und verwirrt zu. Es war, als ob sie ein lebendiges Skelett betrachtete.

Schließlich verstummten Linkshänders unheimliche Rufe. Die ausgestreckten Finger erstarrten in dieser finalen Geste.

Der geschrumpfte Magen rumorte, und ein letzter Rülpser entwich dem leblosen Mund.

Streuner schaute die anderen trübe an. Sie waren selbst nur noch Haut und Knochen, nicht viel besser dran als Linkshänder und kaum noch als Anthros zu erkennen. Sie unternahmen keine Anstrengungen mehr, sich zu kämmen oder überhaupt einen Kontakt herzustellen. Es war, als ob die Sonne alles ausgebrannt hätte, was sie zu Anthros machte und sie aller Errungenschaften beraubt hätte, die sie in dreißig Millionen Jahren der Evolution mühsam erworben hatten.

Streuner wandte sich ab und humpelte unter Schmerzen in die Deckung ihres Nests zurück.

Sie lag reglos da und bewegte sich nur, um den Schmerz der schwärenden Wunden zu lindern. Ihr Bewusstsein schien leer, bar jeder Neugierde. Sie existierte nur noch in einem reptilienartigen Dämmerzustand. Sie stopfte sich den Mund mit Rinde und trockenem Laub voll, aber die tote Materie kratzte nur am Gaumen.

Und sie dachte ständig an Linkshänders Leiche.

Sie stand langsam auf und ging zu Linkshänders Körper. Die Brust war gespalten – durch das Austrocknen der Haut hatte sich nach dem Tod eine Wunde geöffnet. Aber der Gestank war seltsamerweise gar nicht so schlimm. In dieser Wasserwüste lief der Verwesungsprozess, der Linkshänders Leiche im Wald schnell zersetzt hätte, nur sehr langsam ab. Die Mumifizierung, die schon zu Lebzeiten eingesetzt hatte, ging weiter.

Vorsichtig schob sie die Hand in die Wunde und berührte fast schon trockene Rippen. Sie zupfte am Brustfleisch. Es ließ sich leicht abziehen und brachte den Brustkorb zum Vorschein.

Es war kaum noch Muskelgewebe am Körper vorhanden. Auch kein Fett, nur Spuren einer durchscheinenden, klebrigen Substanz. Sie sah die Organe in Linkshänders Bauchhöhle: Herz, Leber und Nieren. Sie waren geschrumpft und sahen aus wie harte schwarze Früchte.

Ja, wie Früchte.

Streuner stieß die Hand in den Brustkorb. Er splitterte mit einem Knacken und brachte die fleischigen Früchte ans Licht.

Sie schloss die Hand um das schwarz verfärbte Herz. Es löste sich mit einem leisen Reißen.

Sie holte das Herz heraus und biss hinein, als sei es nicht exotischer als eine seltene Mangofrucht. Das Fleisch war mager, faserig und widersetzte sich den Zähnen, die nur noch lose im Kiefer steckten. Doch dann schlug sie die Zähne in das Organ und wurde mit etwas Flüssigkeit belohnt – Herzblut, das noch nicht eingetrocknet war.

Anstatt den Hunger zu lindern, war das Fleisch jedoch ein Appetithappen, der Streuners atavistische Fresslust erst richtig entfachte. Die Speichelbildung setzte wieder ein, und es wurden Verdauungssäfte in den schmerzenden Magen gepumpt. Sie erbrach die ersten Bissen ins Meer, ließ sich aber nicht irritieren und aß solang weiter, bis sie das feste, faserige Fleisch bei sich behielt.

Linkshänders milchig-weiße, trübe Augen starrten noch immer blicklos in die Sonne, die ihn umgebracht hatte, und die Finger der linken Hand waren noch immer ausgestreckt.

Fleck hatte sich wieder geregt und lief vorsichtig auf Streuner zu. Ihre Haut war ein straffer Überzug, an dem nur noch ein paar Büschel des einst so schönen schwarzen Fells klebten. Neugierig wühlte sie in Linkshänders offener Brust und holte die Leber heraus, die sie hastig verschlang.

Brille hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er nahm keinen Anteil am Schicksal seines Bruders und lag mit gespreizten Gliedmaßen auf der Seite. Er schien wie tot, aber Streuner erkannte eine unmerkliche Bewegung. Seine Brust hob und senkte sich langsam wie das Wogen des Meers: Er investierte die letzte Kraft in die Atmung.

Streuner ließ sich nun vom Instinkt leiten. Fleck war von Weißblut geschwängert worden, aber vielleicht hatte ihr Körper den Fötus auch zerstört und ihn genauso wie die Muskeln und das Fett verzehrt, um die Funktionsfähigkeit des Organismus aufrechtzuerhalten. Zwei Weibchen allein hatten keine Perspektive außer dem Tod. Also musste Brille, das letzte Männchen, am Leben erhalten werden.

Streuner kehrte zur Leiche zurück und entnahm ihm eine Niere, auch so ein schwarzes, verschrumpeltes Stück Fleisch.

Sie trug die Niere zu Brille und steckte sie ihm in den Mund. Schließlich regte er sich. Mit einer Bewegung so schwach wie die eines Kinds nahm er den Fleischklumpen und nagte ihn langsam an.

Dabei machte die Nahrung sie umso hungriger, weil ihr das Fett fehlte, das für die richtige Verdauung notwendig gewesen wäre. Dennoch kehrten die drei Überlebenden immer wieder zur Leiche zurück, räumten die Bauchhöhle aus und nagten das Fleisch von Gliedmaßen, Rippen, Becken und Rücken ab. Schließlich waren nur noch verstreute Knochen übrig – Knochen und ein Schädel mit Augäpfeln, die noch immer in die Sonne starrten.

Danach zogen die drei Anthros sich wieder in ihre Ecken zurück. Wenn sie Menschen gewesen wären, hätten sie nun – wo das Tabu, das Fleisch eines Artgenossen zu verzehren, gebrochen war – grausame Kalkulationen angestellt. Noch ein Toter hätte schließlich noch mehr Fleisch für die Überlebenden bedeutet und zugleich die Anzahl derjenigen verringert, mit denen man es teilen musste.

Es war vielleicht eine Gnade, dass die Anthros nicht so weit zu denken vermochten.

IV

Das Floß ruckte unter ihr. Die Bewegung war zu heftig, um vom trägen Wellengang des Meers verursacht worden zu sein. Aber sie war zu erschöpft, um noch Neugier zu empfinden und blieb reglos auf dem schwankenden Floß liegen. Äste pieksten ihr in den ausgemergelten Körper.

Sie verspürte ständig Schmerzen. Die Knochen fühlten sich an, als ob sie die Haut durchstoßen wollten, die nur noch ein einziges Geschwür war. Die ausgetrockneten Lider vermochte sie kaum noch zu schließen. Die Erinnerung glich einer mit optischen und akustischen Eindrücken angefüllten Rumpelkammer: das Gefühl, wie die kräftigen Finger ihrer Schwester sie kämmten, der vertraute Geruch der warmen Muttermilch, die begehrlichen Schreie der Männchen, die glaubten, sie können alle Weibchen haben. Und dann wurden die süßen Träume von mächtigen zuschnappenden Kiefern aus den Tiefen der Welt verschlungen…

Sie verspürte wieder einen Ruck, und das trockene Holz knarrte. Sie hörte das Geräusch sich brechender Wellen, das sich vom monotonen Plätschern der offenen See deutlich unterschied.

Vögel kreischten über ihr.

Sie schaute auf. Das waren die ersten Vögel, die sie sah, seitdem sie ins Meer gespült worden war. Sie waren schneeweiß und zogen hoch über ihr ihre Kreise.

Etwas bewegte sich auf ihrer Brust. Es fühlte sich wie leicht kratzende Finger an; vielleicht wollte jemand sie kämmen. Mit einer Kraftanstrengung hob sie den Kopf. Er wackelte, und die Kopfhaut spannte sich wie eine Maske. Die Zunge lag ihr wie ein Holzpflock im Mund. Sie hatte Schwierigkeiten, die blutenden Augen zu fokussieren.

Etwas krabbelte über sie: ein flaches orangefarbenes Ding mit vielen segmentierten Beinen und großen erhobenen Scheren. Sie stieß ein leises, heiseres Winseln aus und wischte mit dem Arm über die Brust. Die Krabbe verzog sich indigniert.

Trotz der von der Sonne geschwärzten Nase roch sie etwas Neues. Wasser. Nicht etwa die stinkende Brühe des Meers, sondern frisches Wasser.

Sie hob den Arm und zog an den Blättern. Sie war ein körperliches Wrack. Die platzenden Blasen und reißenden Narben verursachten höllische Schmerzen. Mit einer enormen Anstrengung gelang es ihr, sich aufrecht hinzusetzen und die Beine zu falten. Der Kopf wackelte haltlos auf dem Hals. Und es kostete sie noch mehr Energie, den Kopf zu heben und die geschundenen Augen zu benutzen.

Grün.

Sie sah Grün, einen dicken horizontalen Streifen, der sich von einem Horizont zum andern zog. Es war das erste Grün, das sie sah, seit die Blätter des Mangobaums sich zusammengerollt und braun verfärbt hatten. Nach einer so langer Zeit von Blau und Grau, mit nichts als Himmel und Wasser, erschien das Grün strahlend hell, so hell, dass sie schier geblendet wurde – es war wunderschön wie eine Verheißung. Schon der bloße Anblick schien sie wieder zu beleben.

Halb kriechend bewegte sie sich vorwärts. Das tote Laub des Mangobaums piekste und ritzte sie, aber es verursachte keine Blutung, nur Dutzende winziger Schmerzquellen.

Sie erreichte den Rand des Floßes. Kein Meer, kein Wasser. Sie sah einen schmalen grobkörnigen Sandstrand, der sich in einer leichten Steigung zu einem lichten Wald hinaufzog. Leuchtend blaue und orangefarbene Vögel flogen durch die Baumkronen und trillerten lieblich.

Ihren ersten Eindruck hätte man so zusammenzufassen vermocht: Ich bin wieder zuhause. Aber das war sie nicht.

Sie zog sich über die Äste und fiel in den Sand. Er war heiß, glühend heiß und brannte auf der nackten Haut. Sie richtete sich winselnd auf und humpelte – als sei sie stark gealtert – den Strand zum Wald hinauf.

Am Waldrand gab es einen Schatten spendenden Bewuchs aus niedrigen Farnen. Hohe Bäume ragten über ihr auf. An den Ästen hingen Trauben roter Früchte, die sie nicht kannte. Der Mund war zu trocken, um Speichel zu bilden, aber die Zunge schlug gegen die Zähne.

Sie schaute den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Mangobaum und das Pflanzen-Floß waren nur ein zerbrochenes und verrottetes, mit Algen bewachsenes Stück Treibholz, das an diese Küste gespült worden war. Sie sah die reglose Gestalt eines Anthros – Fleck oder Brille – auf dem löchrigen, salzverkrusteten Blätterdach liegen. Und hinter dem Floß brandete das ewige blaugraue Meer gegen das Land an. Es erstreckte sich, so weit das Auge reichte, bis zu einem Horizont von unheimlicher geometrischer Perfektion.

Plötzlich ertönten ein Krachen und das Rascheln von Laub. Streuner zuckte zurück.

Ein Riese brach aus dem Wald wie ein aus dem Unterholz rollender Panzer. Das große, gedrungene Geschöpf unter einer großen knöchernen Schale sah aus wie eine riesige Schildkröte oder vielleicht auch wie ein gepanzerter Elefant. Der mächtige armierte Körper ruhte auf vier stämmigen Beinen. Er wedelte mit einem Schwanz, der in einem stachligen Klöppel auslief. Und als der kleine Kopf sich ins Licht schob, blinzelten gepanzerte Augenlider. Diese riesige, an einen Ankylosaurier erinnernde Kreatur war ein Glyptodont. So etwas hatte Streuner in Afrika nie gesehen.

Freilich war das auch nicht Afrika.

Das gepanzerte Ungeheuer trollte sich. Vorsichtig folgte Streuner dem Glyptodont tiefer in den Wald. Sie kam zu einer Lichtung, die von mächtigen Bäumen eingefasst war. Der Boden war mit Aloe bewachsen. Streuner knabberte an einem Blatt. Es war saftig, aber bitter.

Sie ging weiter und sah den Schimmer eines stehenden Gewässers, das sich als flacher, mit Schilf überwucherter Süßwasserteich herausstellte. Am Ufer grasten zwei große Tiere. Sie weideten den Bewuchs am Rand des Teichs mit spatenförmigen Schnauzen ab.

Der Teich befand sich am Rand einer weiten Ebene. Und dort offenbarten sich nun noch größere Geheimnisse, die auf Streuner warteten. Die Kreaturen hätten Pferde sein können, Kamele, Hirsche und kleinere Tiere wie Schweine. Sie wurden von einer kleinen Familie Dinomyiden begleitet: plumpe, bärenartige Pflanzenfresser, die große Nagetiere und mit Haselmäusen und Ratten verwandt waren. Räuber gab es hier auch – diese Kreaturen jagten in Rudeln wie Hunde, waren aber Beuteltiere, die nur entfernt mit den Säugetier-Pendants verwandt waren, die anderswo existierten. Sie waren von einer abweichenden Evolution geformt und doch für eine ähnliche Funktion ausgelegt.

In einem grünen Schatten in Streuners Nähe drehte sich ein Kopf und erschreckte sie. Der Kopf hing herunter. Zwei schwarze Augen schauten sie trübe an. Über dem Kopf war ein großer Körper mit einem braunen Fell, der wiederum an Gliedmaßen hing, die einen Ast umklammert hielten. Das war ein Faultier, eine Art Megatherium.

Schließlich kroch Streuner vorsichtig zum Teich. Das grünliche Wasser war schlammig und warm. Als sie aber den Kopf hineintauchte, war es das Köstlichste, was sie je geschmeckt hatte. Sie trank in großen Schlucken. Bald hatte sie den geschrumpften Bauch voller Wasser, und ein quälender Schmerz durchzuckte sie, als ob es sie innerlich zerriss. Sie fiel schreiend um und spie fast alles aus, was sie getrunken hatte. Doch dann stieß sie das Gesicht erneut ins Wasser und trank wieder.

Dieser brackige Teich war eigentlich eine fünfzig Meter tiefe Sickergrube. Sie war entstanden, als das Grundwasser den Kalksteinboden auflöste. Es gab viele solcher Sickergruben in der Gegend, die an tiefen Spalten im Gestein angeordnet waren.

Aus der Luft betrachtet hätten die Sickergruben einen weiten Halbkreis mit einem Durchmesser von etwa hundertfünfzig Kilometern gebildet. Dieser Bogen von Sickergruben markierte eine Grenzverwerfung des uralten, längst zugeschütteten Chicxulub-Kraters, dessen Reste sich unter dem flachen Wasser und den Sedimenten des Golfs von Mexico erstreckten. Dies war die Halbinsel von Yucatan.

Streuners Floß, das von einem afrikanischen Fluss ins Meer gespült und von den Strömungen westwärts getrieben worden war, hatte den Atlantik überquert.

Nichts auf der Erde war wirklich isoliert.

Alles war durch die Strömungen der Meere miteinander verbunden, die zum Teil eine Geschwindigkeit von hundert Kilometern pro Tag erreichten. Die großen Strömungen waren wie Fließbänder, die Treibgut rund um die Welt trugen. In späteren Zeiten würden die Bewohner der Osterinseln amerikanische Redwood-Baumstämme verbrennen, die nach einer Reise von fünftausend Kilometern dort angelandet worden waren. Die Bewohner der Korallenatolle mitten im Pazifik würden Werkzeuge aus Steinen fertigen, die in den Wurzeln gestrandeter Bäume eingeklemmt waren.

Und auf dem Treibgut reisten Tiere. Manche Insekten ließen sich sogar auf dem Wasser selbst treiben. Andere Lebewesen schwammen: Westliche Strömungen trugen die Lederrücken-Schildkröten von ihren Futterplätzen nahe der Insel Ascension zu den Brutplätzen in der Karibik.

Und manche Tiere trieben auf Flößen über den Atlantik, wobei sie diese Seefahrt aber nicht bewusst und geplant unternahmen, sondern wegen der Launen des Schicksals, die auch Streuner zu spüren bekommen hatte.

Obwohl der Atlantik seit dem Auseinanderbrechen von Pangäa sich ständig verbreitert hatte, war er noch viel schmaler als zu Zeiten des Menschen: An der engsten Stelle war er nicht mehr als fünfhundert Kilometer breit. Das war keine unüberwindliche Entfernung – eine Überfahrt, die auch so zerbrechliche Waldbewohner wie Streuner mit etwas Glück zu überstehen vermochten. Solche Überquerungen waren zwar unwahrscheinlich, aber dennoch möglich in Anbetracht der Schubwirkung der mächtigen Ströme, der engen Meere und vielleicht noch mit Hilfe der Sturmwinde.

In so großen zeitlichen Maßstäben, in Zeiträumen von Jahrmillionen, überstieg das Wirken des Zufalls das menschliche Vorstellungsvermögen. Die Menschen sind mit einem subjektiven Risikobewusstsein und einer Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten ausgestattet, die für Lebewesen mit einer Lebensspanne von einem Jahrhundert ausgelegt ist. Ereignisse, die mit einer viel geringeren Häufigkeit eintreten – zum Beispiel Asteroideneinschläge –, werden im menschlichen Bewusstsein nicht in die Kategorie selten, sondern nie einsortiert. Aber die Einschläge geschahen dennoch und wären einem Lebewesen mit einer Lebensspanne von beispielsweise zehn Millionen Jahren gar nicht so unwahrscheinlich erschienen.

Im entsprechenden Zeitrahmen würden selbst so unwahrscheinliche Ereignisse wie Meeresüberquerungen von Afrika nach Südamerika unweigerlich stattfinden – immer wieder – und das Schicksal des Lebens bestimmen.

Und so verhielt es sich auch jetzt. In den Bäumen, die über Streuner aufragten, lebte kein einziger Primate – und nicht einmal auf dem ganzen Kontinent. Ihre entfernten Verwandten, andere Kinder von Purga, waren vor Millionen Jahren dem Konkurrenzdruck der Nagetiere unterlegen und ausgestorben.

So entstand an diesem Ort, wo eine Welt untergegangen war und wo unterschiedlich entwickelte Lebewesen durch unterschiedliche Wälder streiften, neues Leben, eine neue Linie von Purgas großer Familie. Von nur drei Überlebenden würde im Lauf der Zeit und durch das langsame, plastische Fließen ihres genetischen Materials ein ganzes Spektrum neuer Arten ausstrahlen.

Nach allem Ermessen würden die Affen in der Neuen Welt sich behaupten. Jedoch würden auf diesem dicht bevölkerten Dschungelkontinent Streuners Nachkommen einen ganz anderen Weg einschlagen als die Nachfahren ihrer Schwester in Afrika. Dort würden die Primaten unter dem nachhaltigen Einfluss des sich ändernden Klimas schnell neue Formen entwickeln. Dort würde Purgas Linie über die Menschenaffen schließlich in den Menschen münden. Selbst die späteren Affen, die Streuner so ähnlich waren, würden aus dem Wald ausschwärmen und sich Lebensräume in der Savanne, im Gebirge und sogar in der Wüste erschließen.

Hier war das anders. Auf einem einheitlichen Kontinent war die Versuchung zu groß, in den großen Regenwäldern zu bleiben.

Streuners Kinder würden niemals von den Bäumen herunterkommen. Sie würden auch nicht viel intelligenter werden, als sie jetzt schon waren. Und sie würden auch keine Rolle für das zukünftige Schicksal der Menschheit spielen, es sei denn als Haustiere, Fleischlieferanten oder Objekte wissenschaftlicher Neugier.

Doch all das lag noch weit in der Zukunft.

Streuner fühlte sich nach der kurzen Zeit im Wald und durch das Wasser, das sie getrunken hatte, schon viel besser. Sie schaute sich um. Im Unterholz sah sie einen roten Tupfer und stolperte in diese Richtung. Sie fand eine unbekannte, aber dicke und weiche Frucht. Sie biss hinein. Als sie das Fruchtfleisch kaute, spritzte Saft heraus und benetzte das Fell. Etwas so Köstliches und Süßes hatte sie noch nie gegessen.

KAPITEL 7 Die letzte Höhle Ellsworth Land, Antarktika, vor ca. 10 Millionen Jahren

Die Höhlengräber schlichen durchs harte, struppige Gras, das sich an die Dünen klammerte. Es waren ihrer sehr viele. Sie wuselten so dicht gedrängt durcheinander, dass sie wie ein wogender braungrauer Flokatiteppich anmuteten.

Graben machte ein dichtes Farndickicht auf einer kleinen Landzunge aus, die das Meer überblickte. Weil die jagende Meute dort nicht ganz so dicht schien, schlug sie diese Richtung ein. Im Schutz der Farne zerpflückte sie die Wedel mit ihren beweglichen fünffingrigen Händen und knabberte an den braunen Sporen.

Mit ihren drei Jahren war Graben schon einer der ältesten Höhlengräber. Sie war nur ein paar Zentimeter lang. Sie war dick und rund und mit einem dichten braunen Fell bedeckt, um die Körperwärme besser zu speichern. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Lemming. Aber sie war kein Lemming. Sie war ein Primat.

Von hier aus sah sie das Meer. Die Sonne hing tief am nördlichen Himmel über der endlosen Wasserwüste. Es war Herbst in der Arktis, und die Sonne verschwand schon für mehr als die Hälfte des Tages hinterm Horizont. Und weit vom Land entfernt hatte sich bereits Packeis gebildet. Graben sah, dass in Küstennähe Schichten aus matschigem grauem Eis entstanden, die sich auf dem Wasser kräuselten. Ihr Körper wusste, was das zu bedeuten hatte. Die von Licht erfüllten Tage des Sommers waren nur noch eine verschwommene Erinnerung; bald würde sie die Wintermonate in völliger Dunkelheit aushalten müssen.

Auf einer Packeisplatte sah sie einen Blutfleck, mit dem die schimmernde Oberfläche verschmiert war, und einen unidentifizierbaren Fleischhaufen. Kreischende Vögel kreisten in der Luft und warteten darauf, sich über den blutigen Kadaver herzumachen. Und ein langer, starker Schatten glitt durchs Wasser. Eine große Schnauze stach aus dem kalten Wasser, um sich ihren Anteil an der Beute zu holen.

Der Meeres-Fleischfresser war eine Amphibie und stammte von einer Art mit der Bezeichnung Koolasuchus ab. Das vier Meter lange Wesen sah aus wie ein monströser Raubfrosch. Der Frosch war ein Überbleibsel aus uralten Zeiten, als die Amphibien noch die Welt beherrscht hatten. In den tropischen Klimazonen hatten seine Vorfahren gegen die Krokodile den kürzeren gezogen, denen sie in Größe und Form stark ähnelten. Die großen Amphibien waren schon auf dem absteigenden Ast gewesen, als die ersten Dinosaurier auf der Erde auftauchten, doch im kalten Wasser der Polarregionen hatten sie sich behauptet.

Selbst in dieser Entfernung schauderte Graben in der Deckung des Farns.

Plötzlich raste eine kompakte gefiederte Gestalt über die Ebene der Tundra heran. Die durcheinander wuselnden Höhlenbauer stoben panisch auseinander, und Graben kauerte sich zusammen. Der Neuankömmling lief aufrecht auf langen, kräftigen Beinen. Die Hände, die vor dem Hintergrund des dichten weißen Gefieders kaum zu sehen waren, waren mit messerscharfen Klauen besetzt. Diese Kreatur rannte nun ins Wasser und schwamm zu der Eisscholle hinaus, wo sie sich mit der Amphibie um Brocken des Kadavers stritt, wie in späteren Zeiten Polarfüchse versuchten, Eisbären ihre Beute streitig zu machen.

Der weißgefiederte Räuber sah aus wie ein flügelloser Vogel. Der er aber nicht war. Er war ein Abkömmling der Velociraptoren aus der Kreidezeit.

Auf Antarktika gab es fünfzig Millionen Jahre nach dem Kometeneinschlag noch immer Dinosaurier.

Graben wandte sich von der blutigen Szene an der Küste ab und ging landeinwärts. Sie bewegte sich vorsichtig und blieb immer in Deckung. Hier und da sah sie weiße Federn, die der Raptor verloren hatte, als er zum Kadaver auf dem Eis gerannt war.

Schließlich erklomm sie die letzte Düne und schaute über die Landschaft.

Sie war eine große grün-braune Ebene, die hier und da vom Blau von Wasser durchsetzt war. Das Gras war noch immer dick, obwohl es sich schon zurückzog, und wo es noch nicht ganz verschwunden war, hatte es sich goldbraun verfärbt. Die meisten Blumen waren verblüht, weil es keine Insekten mehr gab, die sie anzulocken vermochten; an manchen Stellen hielten sich aber noch leuchtende, schöne Blumen wie Steinbrech. Um die schimmernden Süßwasserteiche versammelten sich Tiere zum Trinken. Aber die Teiche waren auch schon mit grauem Eis bedeckt.

Es war eine typische Tundra-Szene – ein Ausschnitt aus einem Landschaftsgürtel, der noch immer den Kontinent umspannte.

Und durch diese Tundra marschierten Dinosaurier.

Ein paar Kilometer im Südwesten erblickte Graben etwas, das wie eine dunkle Wolke aussah, die über den Boden zog. Es war eine Herde Muttas. Ihr Atem hing als Dampfwolken in der kühlen Luft. Sie waren Dinosaurier, große Pflanzenfresser. Aus der Ferne muteten sie wie Mammuts ohne Stoßzähne an. Aus der Nähe traten jedoch ihre klassischen Dinosaurier-Merkmale zutage: Die Hinterbeine waren kräftiger als die Vorderläufe, sie hatten dicke Schwänze, mit denen sie das Gleichgewicht hielten, und sie legten ein seltsam rastloses und nervöses Verhalten an den Tag, das eher an Vögel als an Säugetiere erinnerte – und manchmal stellten sie sich auch auf die Hinterbeine und bellten mit der Wildheit eines Tyrannosaurus.

Die Muttas stammten vom Muttaburrasaurus ab, stämmigen Pflanzenfressern aus dem Jura, die sich seinerzeit von Zikaden, Farnen und Koniferen ernährt hatten. Als die Kälte sich über Antarktika gelegt hatte, hatten die Muttas gelernt, von der kargen Vegetation der Tundra zu leben. Ihre Leiber waren kompakt und rund geworden und sie hatten sich einen dicken Mantel aus mehreren Lagen dunkelbrauner schuppiger Federn zugelegt. Mit der Zeit hatten sie sich in große Pflanzenfresser verwandelt, die in der Tundra umherwanderten: eine Rolle, die später und anderswo von Tieren wie Karibus, Moschusochsen und Mammuts übernommen wurde. Das traurige Trompeten, das sie mit aufblasbaren Hautsäcken auf den großen hornigen Schnauzen produzierten, hallte von den Eiswänden im Süden wider.

Einst waren die Muttas über den ganzen Kontinent gewandert und hatten den kurzen, aber üppigen Sommer ausgenutzt. Das vorrückende Eis hatte die Muttas jedoch dezimiert, und die restlichen Herden wanderten irgendwie verloren über den immer schmaleren Tundrastreifen zwischen Eis und Meer.

Diese Mutta-Herde wurde von einem einsamen Jäger verfolgt.

Stocksteif inspizierte der Zwerg-Allosaurier die Mutta-Herde. Er sah aus wie eine goldene gefiederte Statue. Der Allo war ein geschrumpftes Überbleibsel einer Familie von Tieren, die andernorts längst ausgestorben waren – er stammte in direkter Linie vom Jura-Löwen ab, der Stego getötet hatte. Die Herde hatte den Allos aber schon bemerkt und blieb dicht zusammen; die Jungen hatten sie in die Mitte genommen. Die Bewegungen des Allos waren träge, als ob er unter Drogen stünde. Er hatte eine erfolgreiche Jagdsaison hinter sich, und der Stoffwechsel schaltete mit dem eingelagerten Fett in der zunehmenden Kälte schon auf Sparflamme. Bald würde der Allo in der Art von Eisbären eine Winterhöhle in den Schnee graben.

Allo-Weibchen legten die Eier gegen Ende des Winters und brüteten sie in der Sicherheit des Schnees aus. Die Säugetiere von Antarktika freuten sich aber schon auf den Frühling, weil die Aussicht bestand, dass plötzlich eine Schar gefräßiger Allosaurier-Babys aus dem Schnee sprang und sich bei der Verfolgung ihrer ersten Mahlzeit selbst in die Haare geriet.

Plötzlich machte sich unter den Höhlengräbern Unruhe breit. Die kalte Brise von der Eiskappe trug einen intensiven Fleischgeruch heran. Eier.

Sie rannte so schnell sie konnte durch die Farne und das hohe Gras, ohne sich Gedanken um ihre Sicherheit zu machen.

Das Nest enthielt Dinosaurier-Eier: die Eier eines Mutta. Das war aber ein ungewöhnlicher Fund für diese Jahreszeit und noch dazu so weit von den Brutstätten der Muttas entfernt. Vielleicht waren diese Eier von einer kranken oder verletzten Mutter abgelegt worden. Es waren bereits Höhlengräber am Werk, und in der durcheinander wimmelnden Masse tummelten sich auch ein paar größere Steropodons: Die plumpen, schwarzhaarigen und irgendwie unfertig anmutenden Kreaturen stammten von Säugetieren ab, die den südlichen Kontinent seit dem Jura bevölkert hatten.

Graben gelang es, sich einen Weg ins Nest zu bahnen, ehe es völlig zerstört war. Bald waren Gesicht und Hände mit klebrigem Dotter verschmiert. Aber die Konkurrenz um die Eier geriet schnell zu einer heftigen Schlacht. Es gab in diesem Herbst Unmengen von Höhlengräbern in der Tundra, viel mehr als im letzten Jahr. Und Graben war intelligent genug, um diese Masse der Höhlengräber auf einer tiefen Ebene als zutiefst beunruhigend zu empfinden.

Es gab mehrere Ursachen für eine so starke Vermehrung. Die Höhlenbauer waren Teil eines komplexen ökologischen Kreislaufs der üppigen Natur, den Insekten, die von ihr lebten und den Fleischfressern, die sich wiederum von Insekten ernährten. In solchen Zeiten der Übervölkerung schwärmten Höhlengräber vom Instinkt getrieben über das grüne Land aus, um in leeren Gebieten neue Höhlen zu graben. Viele von ihnen fielen Räubern zum Opfer, aber das war der Lauf der Dinge – es überlebten immer noch genug.

Jedenfalls war das bisher immer so abgelaufen. Wo das Eis jedoch vorrückte und die Tundra schrumpfte, gab es keine Rückzugsmöglichkeiten mehr als in die ohnehin schon übervölkerten Gebiete. Deshalb wurden derartige Ansammlungen und Kämpfe zum Dauerzustand.

Das war natürlich schlecht für das Mutta, das diese Eier gelegt hatte. Die Muttas hatten die Eier auf dem Erdboden ausgebrütet, wie ihre Vorfahren es schon getan hatten. Jedoch wurden sie dadurch verwundbar für Räuber wie die Höhlengräber. Die Hauptursache für den Niedergang der Muttas war die zunehmende Konkurrenz um das Protein, das in ihren Eiern enthalten war. Große Pflanzen fressende Säugetiere wie Mammuts und Karibus hätten bessere Chancen gehabt, weil ihre Jungen in dieser entscheidenden Phase ihres Lebens sicherer waren. Aber die Muttas, die wie die anderen hier gestrandet waren, nachdem Antarktika von den anderen Kontinenten weggedriftet war, hatten in dieser Hinsicht keine Wahl.

Plötzlich stieß eine Klaue vom Himmel herab. Mit einem in über zweihundert Millionen Jahren geschärften Instinkt presste Graben sich an den Boden, während die Höhlengräber quiekend durcheinander liefen.

Die Klaue schnappte sich einen kleinen, halbwüchsigen Höhlengräber und steckte ihn in einen aufgerissenen Mund. Erneut zischte die Klaue durch die Luft. Diesmal griff sie jedoch ins Leere, denn die Säugetiere hatten sich bereits zerstreut. Und nach einer Weile hörte Graben unverkennbare Schmatzgeräusche, als ein Zackenschnabel ein Mutta-Embryo nach dem andern zerquetschte.

Dieser Räuber war eine Leaellynasaura. Er war ein Dinosaurier, der die Gestalt eines athletischen Huhns hatte. Die Leaellynasaurae vermochten keine großen Beutetiere zu jagen und betätigten sich deshalb als Aasfresser. Für diese Leaellynasaura wie für die Säugetiere war ein Mutta-Ei in dieser vorgerückten Zeit des Jahres eine seltene Delikatesse.

Während die Leaellynasaura fraß, versuchte Graben sich ganz ruhig zu verhalten, um nicht die Aufmerksamkeit des Killers zu erregen. Aber sie hatte Hunger. Es war nur ein kurzer, unergiebiger Sommer gewesen, und sie hatte nicht genug Fett anzusetzen vermocht, um die Widrigkeiten des Winters zu überstehen. Und nun fraß die Leaellynasaura die Eier – all ihre Eier.

Zorn und Verzweiflung gewannen schließlich die Oberhand über die Vorsicht. Sie stellte sich auf die Hinterbeine und zischte mit ausgebreiteten Pfoten.

Die Leaellynasaura, deren Mund mit Blut und Dotter verschmiert war, zuckte beim Anblick dieser Erscheinung erschrocken zurück. Doch dann sagte das kleine Reptilien-Bewusstsein ihr, dass dieses Ding keine Gefahr für eine Leaellynasaura bedeutete. Ganz im Gegenteil – dieses warme Fellknäuel war trotz der ungewöhnlichen Pose ein leckerer Happen, besser als Embryos und Eigelb.

Die Leaellynasaura öffnete den Mund und setzte zum Sprung an.

Graben ergriff die Flucht. Das Nest war verloren, und der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden.

Graben stammte in direkter Linie von Plesi ab, dem kleinen Carpolestiden, der ein paar Millionen Jahre nach dem Einschlag des Teufelsschweifs die sich erwärmende Welt bewohnt hatte. Plesis Nachkommen hatten sich über den ganzen Planeten ausgebreitet und waren über Landbrücken, Inseln und mit Flößen von einem Inselkontinent zum andern gewandert. Ein Zweig der alten Familie hatte zu einer Zeit, da der südlichste Kontinent sich noch nicht über dem Pol zentriert hatte, eine Landbrücke zwischen Südamerika und Antarktika überquert.

Und hier waren sie auf Dinosaurier gestoßen.

Selbst in der warmen Kreidezeit hatten die Dinosaurier von Antarktika die langen Monate der Polarnacht aushalten müssen. Deshalb hatten diese Überlebenden, die die globale Katastrophe überstanden hatten, auch den anschließenden Kometen-Winter gut überstanden, während ihre Zeitgenossen in den wärmeren Breiten untergegangen waren.

Die Kontinente – Bruchstücke des alten Superkontinents, der sich noch immer in Auflösung befand – waren jedoch immer weiter auseinandergedriftet. Antarktika hatte sich von den anderen Teilen des südlichen Pangäa getrennt und bald so weit von ihnen entfernt, dass keine Landbrücken und Floßpassagen mehr möglich waren. Und während die Welt sich vom Einschlag erholte, schlugen die Flora und Fauna von Antarktika eine einzigartige Entwicklung ein. Hier ging das uralte Spiel Dinosaurier gegen Säugetier in die Verlängerung – und hier mussten die Säugetiere wegen der Übermacht der Dinosaurier und dem strengen Regiment von Väterchen Frost noch immer in den erniedrigenden Nischen der Kreidezeit ausharren.

Doch dann war Antarktika am Südpol zur Ruhe gekommen, und die Eiskappe hatte sich langsam ausgebreitet.

Die Tage wurden immer kürzer, und die blutrote Sonne tauchte nur kurz überm Horizont auf. Der Boden gefror. Viele Pflanzenarten starben ab, und die Sporen warteten auf die Rückkehr der kurzen Sommerwärme.

Es fiel kaum Schnee. Streng genommen war der Kontinent großenteils eine Halbwüste: Das bisschen, was an Schnee fiel, kam als harte kristalline Flocken, die sich wie Gestein am Boden ablagerten, bis der Wind sie zu Bänken und Verwehungen zusammen trieb.

Der Schnee war trotz der geringen Menge lebenswichtig für die Höhlengräber.

Diejenigen, die den Sommer und Herbst überlebt hatten, gruben sich in die Schneeverwehungen ein und legten weit verzweigte Tunnelsysteme unter den verharschten oberen Schichten an. Die Tunnel waren Städte mit einem feuchten, milden Klima, deren Wände vom Durchgang vieler kleiner, warmer Körper gehärtet worden waren. Die Luft war vom Geruch warmen feuchten Fells erfüllt. Zwar war es in den Höhlen nicht eben warm, aber die Temperatur fiel auch nie unter den Gefrierpunkt.

Draußen flatterten Auroras durch den sternenklaren Winterhimmel.

Die Leaellynasaura, die Graben die Eier gestohlen hatte, gehörte zu einem überwiegend aus Geschwistern bestehenden Rudel. Sie hatten in einer Gruppe gejagt, die sich um ein dominierendes Brut-Paar geschart hatte. Ehe das Leaellynasaura-Rudel im Winter in die Kaltblütler-Starre fiel, drängte es sich zu einem wärmenden Haufen zusammen.

Die Leaellynasaurae stammten von kleinen, flinken Pflanzen fressenden Dinosauriern ab, die einst in großer Zahl im antarktischen Wald ausgeschwärmt waren. Damals hatten die Leaellynasaurae die Größe eines ausgewachsenen Menschen erreicht. Sie hatten große Augen, die gut an die Dunkelheit der polaren Wälder angepasst waren. Mit der großen Kälte waren die Leaellynasaurae aber klein und dick geworden und hatten sich als Isolierung ein schuppiges Gefieder zugelegt.

Und im Lauf der Jahrmillionen hatten sie auch ihre Vorliebe für Fleisch entdeckt, das mehr Kalorien lieferte.

Als die Temperatur weiter sank, fielen die Mitglieder des Rudels in Bewusstlosigkeit. Der Stoffwechsel wurde drastisch heruntergefahren und war gerade noch so aktiv, dass sie nicht erfroren. Das war eine uralte Strategie, die durch Jahrmillionen des Lebens in diesen Polarregionen entwickelt worden war und sich immer bewährt hatte.

Diesmal aber nicht. Dies war nämlich der kälteste Winter aller Zeiten. Und mitten im dicksten Winter wurde die Gruppe der Leaellynasaurae von einem Sturm überrascht. Der heftige Wind entzog ihnen zu viel Körperwärme. Eis bildete sich im Fleisch der Leaellynasaurae und zerstörte die Struktur der Zellen. Langsam senkten Erfrierungen sich wie kalte Dolche in die kleinen Körper.

Aber die Leaellynasaurae verspürten keinen Schmerz. Sie waren in einen bleiernen, traumlosen Reptilien-Schlaf versunken, der tiefer war als alles, was ein Säugetier je erleben würde, und er leitete unmerklich in den Tod über.

Jedes Jahr wurden die Sommer kürzer und der Wintereinbruch härter. Jedes Frühjahr schob sich die Eiskappe in der Mitte des Kontinents, einem lebensfeindlichen Ort, ein Stück weiter zum Rand vor. Einst hatte es hier Bäume gegeben: Koniferen, Baumfarne und die urtümlichen Podocarps mit schweren Fruchtständen an der Basis. Es war ein Wald gewesen, in dem Noth sich zu Hause gefühlt hätte. Doch nun existierten diese Bäume, die längst von der Kälte gefällt worden waren, nur noch als Kohlenflöze tief unter Grabens Füßen. Es war schon viele Millionen Jahre her, seit Grabens Vorfahren auf Bäume geklettert waren.

Die Primaten von Antarktika hatten sich an die Kälte angepasst. Und sie waren durch die Konkurrenz mit den Dinosauriern an die Wachstumsgrenze gestoßen. Aber sie entwickelten isolierende Schichten aus Fett und Fell, um die Körperwärme zu speichern. Grabens Füße wurden so gekühlt, dass nur ein geringer Temperaturunterschied zum Boden bestand und dadurch kaum Wärme verloren ging. Blut, das von den Füßen in den Körper hinaufgepumpt wurde, strömte durch Blutgefäße mit warmem Blut, das in Gegenrichtung floss. So wurde das abwärts fließende Blut gekühlt, ehe es die Füße erreichte. Das Fett in Beinen und Füßen war von besonderer Qualität: Es bestand aus kurzen Kohlenwasserstoff-Ketten mit einem niedrigen Schmelzpunkt, weil es sich sonst wie Butter im Kühlschrank verhärtet hätte. Und so weiter.

Trotz aller Kälteanpassungen war Graben aber immer noch ein Primat. Sie hatte noch die beweglichen Hände und starken Unterarme ihrer Vorfahren. Und obwohl sie ein viel kleineres Gehirn hatte als ihre Ahnen – in dieser kargen Landschaft war ein großes Gehirn ein teurer Luxus, und die Tiere waren nicht klüger als unbedingt notwendig –, war sie intelligenter als jeder Lemming.

Aber das Klima wurde immer kälter. Und jedes Jahr wurden die restlichen Tiere und Pflanzen in einem immer schmaleren Tundra-Streifen an der Küste zusammengedrängt.

Das Endspiel stand bevor.

Graben rang nach Luft.

In plötzlicher Panik scharrte sie im Schnee über sich und grub sich mit Händen, die eigentlich für das Erklimmen von Bäumen geschaffen waren, durch ein Dach aus Schnee.

Schließlich schob sie sich aus der Höhle in grelles Frühlingslicht. Ein Schwall miefiger Luft entwich hinter ihr und waberte in der Kälte – muffig und mit dem Geruch des Todes geschwängert.

Sie war ein zum Skelett abgemagertes Bündel mit Urin befleckter Haut und Fell in einer weiten unberührten Schneelandschaft. Die Sonne stand so hoch überm Horizont, um wie eine gelbe Laterne an einem purpur-blauen Himmel zu hängen. Der Frühling war also schon weit fortgeschritten. Aber nichts regte sich: keine Vögel, keine Raptoren und es brachen auch keine Allo-Babys aus den Winterhöhlen. Kein anderer Höhlengräber erschien im Schnee; kein einziger Artgenosse folgte ihr.

Sie arbeitete sich die Schneebank hinunter. Sie bewegte sich steif, denn die Gelenke schmerzten. Und sie hatte einen Heißhunger und eine völlig ausgedörrte Kehle. Durch den langen Winterschlaf hatte sie ungefähr ein Viertel der Körpermasse verloren. Und sie zitterte.

Das Zittern kündigte das Versagen der körpereigenen Kälteschutz-Systeme an. Es war die letzte Option, durch Muskelbewegungen Körperwärme zu erzeugen – und sie war auch extrem energieaufwändig. Das Zittern hätte eigentlich nicht sein dürfen.

Etwas stimmte nicht.

Sie erreichte den nackten Erdboden, der das Meer säumte. Der Boden war noch steinhart gefroren. Und trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit wuchs hier noch nichts; Sporen und Samen schlummerten noch immer unter der Erde.

Sie stieß auf eine Gruppe Leaellynasaurae. In der Kälte hatten sie die Glieder und Hälse ineinander verschlungen, sodass sie eine Art gefiederte Skulptur bildeten. Instinktiv presste sie sich in den Schnee.

Aber von den Leaellynasaurae ging keine Gefahr aus. Sie waren tot, in der finalen Umarmung erstarrt. Wenn Graben an ihnen gerührt hätte, wäre das Ensemble umgekippt und die gefrorenen Federn wären abgebrochen wie Eiszapfen.

Sie eilte weiter und überließ die Leaellynasaurae dem Todesschlaf.

Sie erreichte eine kleine Landzunge, von der aus man das Meer überblickte. An dieser Stelle hatte sie schon am Ende des letzten Sommers gestanden und aus der Deckung eines kleinen Farndickichts den Kampf zwischen einem Raptor und einem Frosch beobachtet. Doch nun waren selbst die Sporen des Farns im kahlen Boden eingeschlossen, und es gab nichts zu essen. Vor ihr erstreckte sich das Meer als eine nahtlose weiße Fläche bis zum Horizont. Sie verzagte angesichts der leblosen Geometrie: ein messerscharfer Horizont vor ihr, eine weiße Fläche unter ihr, eine leere blaue Kuppel über ihr.

Nur an der Küste wurde die Eintönigkeit aufgelockert. Hier hatte die anbrandende See das Eis gebrochen, und hier tummelte sich sogar jetzt noch Leben. Graben sah kleine Krustentiere durch die Wasseroberfläche brechen und sich am Plankton laben. Und Quallen, groß und klein, pulsierten in dieser Einöde – durchscheinende, ätherische und zarte Geschöpfe, die in der Dünung des Meeres schwebten.

Selbst hier, an den Extremen der Erde, wimmelte das Meer von Leben, wie es seit Urzeiten gewesen war. Aber es war nichts für Graben dabei.

In dem Maß, wie die globale Abkühlung andauerte, wurde die Umklammerung des Eises mit jedem Jahr stärker. Die einmalige Ökologie aus Tieren und Pflanzen, die auf diesem riesigen isolierten Floß gefangen war, hatte keine Ausweichmöglichkeiten. Und die Evolution vermochte den letztendlichen Sieg des Eises nicht aufzuhalten.

Es war ein grausames Auslöschungs-Ereignis, das vor den Blicken der Welt verborgen hier über Millionen Jahre sich hinzog. Eine komplette Biozönose starb den Kältetod. Nachdem die Tiere und Pflanzen alle verschwunden waren, dehnte die gewaltige Eiskappe im Herzen des Kontinents sich immer weiter aus und schickte Gletscher aus, die sich einen Weg durchs Gestein frästen, bis die leblose Abstraktion des Eises das Meer traf. Obwohl die tief begrabenen Fossilien und Kohlenflöze der Urzeit überdauern würden, blieb keine Spur zurück, aus der man auf die Existenz von Grabens Tundra-Welt und die einzigartigen Lebensformen, die sie bevölkert hatten, zu schließen vermocht hätte.

Mutlos wandte sie sich ab und lief auf der Suche nach Nahrung über den gefrorenen Boden.

KAPITEL 8 Bruchstücke Nordafrikanische Küste, vor ca. 5 Millionen Jahren

I

Im ersten Licht der Morgenröte wachte Capo in seinem Nest in der Baumkrone auf. Er gähnte herzhaft, wobei die dicken Gaumenzäpfchen zutage traten, und streckte die langen pelzigen Glieder. Dann nahm er die Hoden in die Hand und kratzte sie genüsslich.

Capo hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Schimpansen – aber es gab noch keine Schimpansen auf der Welt. Aber er war immerhin schon ein Menschenaffe. In den langen Jahren seit Streuners Tod hatten die aufblühenden Primaten-Familien sich diversifiziert, und Capos Linie hatte sich vor ungefähr zwanzig Millionen Jahren von den Affen abgespalten. Und doch hatten fünf Millionen Jahre vor dem Aufstieg der Menschen die Menschenaffen ihre beste Zeit schon hinter sich.

Capo schielte in den Himmel. Er war graublau und wolkenlos. Es würde wieder ein langer, heißer und sonniger Tag werden.

Und ein guter Tag. Er rieb sich nachdenklich den Penis. Er hatte die allmorgendliche stramme Erektion. Ein paar der aufmüpfigsten rangniederen Männchen waren vor wenigen Tagen in der Tiefe des Waldes verschwunden. Es dürfte Wochen dauern, bis sie wiederkamen; Wochen relativer Ruhe und Ordnung. Capo hätte also leichtes Spiel.

In der morgendlichen Stille trugen Rufe weit. Wie er so in Gedanken versunken lag, hörte er ein entferntes Brüllen wie das Grollen eines riesigen verwundeten Tiers. Es kam aus westlicher Richtung. Er lauschte für eine Weile, und ihm sträubten sich die Haare bei der Majestät des nicht enden wollenden, verwirrenden Donnerhalls. Der Laut kündete von enormer Macht. Aber der Verursacher war nicht präsent und nicht zu sehen. Der Laut war sein Leben lang im Hintergrund gewesen, unveränderlich und unbegreiflich – und weit genug entfernt, um ihn nicht zu kümmern.

Er verspürte ein nagendes Unbehagen, aber nicht etwa wegen des Geräuschs. Es war vielmehr eine vage Besorgnis, die ihn in solchen nachdenklichen Momenten überkam.

Capo war über vierzig Jahre alt. Am Körper trug er die Narben vieler Kämpfe und kahle Stellen von der endlosen Fellpflege. Er war alt genug und intelligent genug, um sich an viele Jahreszeiten zu erinnern, aber nicht etwa in einer linearen Abfolge, sondern in Streiflichtern und Splittern – wie lebendige Szenen, die man aus einem Film herausgeschnitten und zufällig aneinandergereiht hatte. Und auf einer tiefen Ebene wusste er, dass die Welt nicht mehr so war, wie sie in der Vergangenheit gewesen war. Die Dinge änderten sich, und nicht unbedingt zum Besseren.

Aber er vermochte daran nichts zu ändern.

Träge rollte er sich auf den Bauch. Das Nest war nur ein Gewirr aus dünnen geflochtenen Ästen, die durch sein Gewicht fixiert wurden. Durch die Lücken erkannte er die im Baum verstreute Sippe. Die Primaten nisteten wie Vögel. Mit einem leisen Grunzen entleerte er die Blase. Der Urin schoss gießkannenartig aus dem noch halb erigierten Penis und regnete auf den Baum hinab.

Er spritzte auf Blatt, eins der hochrangigen Weibchen, das auf dem Rücken geschlafen hatte. Ihr Kind klammerte sich am Bauchfell fest. Sie schreckte auf, wischte sich Urin aus dem Gesicht und gab ihren Protest durch einen Schrei kund.

Die Phase des Nachdenkens war vorbei, und die Erektion erschlaffte. Capo setzte sich auf und schwang sich aus dem Nest.

Zeit, an die Arbeit zu gehen. Als großes schwarzbraunes Fellknäuel brach er durch den Baum. Er riss Nester ein, knuffte und trat die Bewohner und führte sich dabei wie ein kreischender Hampelmann auf. Er machte weiter, bis er die Blätter des ganzen Baums zerzaust hatte und sicher war, dass niemand mehr schlief und sich der Präsenz des großen Capo nicht bewusst war.

Er legte eine schöne harte Landung mitten im Nest von Finger hin, einem kräftigen jüngeren Männchen mit einem wachen Verstand und geschickten Fingern. Finger rollte sich schnatternd zusammen und wollte Capo in einer Demutshaltung das Hinterteil entgegenstrecken. Doch der versetzte Finger nur einen gut gezielten Tritt in den Hintern, sodass er kreischend durchs Laub auf den Boden fiel. Es war höchste Zeit, dass Finger eine Lektion bekam; er war für Capos Geschmack nämlich zu fürwitzig geworden.

Schließlich erreichte Capo mit gesträubtem Fell und außer Atem den Erdboden. Er war am Rand einer kleinen Lichtung, in deren Mitte sich ein sumpfiger, verlandeter Teich befand. Er lief im Slalom um die Stämme der äußersten Baumreihe herum, schlug mit den Handflächen auf die Bäume, riss dünne Äste ab und schüttelte sie so heftig, dass das Laub um ihn herum niederging. Und die ganze Zeit kreischte und schrie er.

Finger hatte sich nach dem Sturz wieder aufgerappelt. Leicht humpelnd kroch er in den Schatten einer niedrigen Palme und erholte sich von der Züchtigung durch Capo. Andere Männchen hüpften liebesdienerisch und schreiend um ihn herum. Ein paar Weibchen waren auch schon auf. Sie gingen Capo aus dem Weg und ihren morgendlichen Verrichtungen nach.

Als er die Vorführung beendet hatte, machte Capo Heulen aus, ein Weibchen mit einer besonders schrillen Stimme. Sie hockte an einem Akazienstamm, riss Stücke aus einer Morchel heraus und stopfte sie sich in den Mund. Heulen war noch nicht geschlechtsreif, aber nicht mehr weit davon entfernt. Als Capo die enge Spalte ihres Geschlechts sah, bekam er sofort eine Erektion.

Das Fell war noch immer gesträubt, und er war auch noch etwas außer Atem. Trotzdem stolzierte er zu Heulen hinüber, hob sie an der Hüfte an und drang schnell in sie ein. Ihre Scheide war lustvoll eng, und Capos Gefolgsleute riefen und knurrten, trommelten auf den Boden und feuerten ihn an. Heulen wehrte sich nicht und änderte ihre Haltung, um ihn besser in sich aufzunehmen. Doch während er sie stieß, zupfte sie unbeteiligt weiter an der Morchel herum.

Capo zog sich aus Heulen zurück, bevor er ejakulierte: Dazu war es noch zu früh am Tag. Als Gnadenerweis drehte er seinen hockenden Unterlingen jedoch den Rücken zu und stieß eine Ladung Kot aus, die auf sie spritzte. Dann warf er sich mit verschränkten Armen flach ins Gras und ließ es zu, dass ein paar Günstlinge sich ihm näherten und mit der täglichen Fellpflege begannen.

Solcherart war der große Boss, das Alpha-Männchen, der capo di capi dieser Sippe – der Urahn der Menschheit, der Vorfahr von großen Männern wie Sokrates, Newton und Napoleon – gut in den Tag gestartet.

Sich den Bauch voll schlagen war die nächste Priorität.

Capo nahm einen seiner Untergebenen – Wedel, ein großes, sehniges und nervöses Geschöpf – ins Visier und malträtierte den Kopf der zusammengekauerten Kreatur mit einer Abfolge von Knüffen und Püffen.

Wedel verstand die Botschaft schnell. Er hatte den Auftrag, die Sippe bei der täglichen Suche nach Nahrung und Wasser anzuführen. Wie der Zufall es wollte, schlug er eine östliche Richtung ein, der aufgehenden Sonne entgegen und lief auf einem Pfad hin und her, der in diese Richtung führte. Sein Gang war eine Mischung aus einer ungelenken Fortbewegung auf den Knöcheln und aufrechten Sprints. Er drehte sich mit einem um Zustimmung heischenden Blick zu Capo um.

Für Capo war diese Richtung so gut wie jede andere. Er machte einen Satz, bei dem die großen Füße in den weichen Untergrund einsanken, und folgte Wedel. Der Rest der Sippe formierte sich schnell hinter ihm – Männchen und Weibchen gleichermaßen. Die Jungen klammerten sich an den Bäuchen ihrer Mütter fest.

Die Sippe streifte am Waldrand entlang und führte eine systematische Suche durch. Sie hatten es hauptsächlich auf Früchte abgesehen, obwohl sie auch Insekten und Fleisch nicht verschmähten, wenn welches verfügbar war. Die Männchen machten geräuschvoll Mätzchen und maßen die Kräfte. Die Weibchen verhielten sich ruhiger. Die Babys blieben bei ihren Müttern, doch die größeren Kinder tollten auch schon umher und balgten sich.

Auf den endlosen Streifzügen durch den Wald bewährte sich die Freundschaft der Weibchen. In Wirklichkeit waren nämlich die Weibchen das Fundament von Capos Gesellschaft. Die Weibchen bildeten Verwandtschafts-Gruppen und teilten miteinander die Nahrung, die sie fanden. In genetischer Hinsicht war das eine sinnvolle Praxis, denn die Tanten, Nichten und Schwestern hatten das gleiche Erbe. Und was die Männchen betraf, so gingen die überallhin, wohin auch die Weibchen gingen. Die Rangordnungskämpfe waren eine Art Show-Element, mit denen sie im Grunde keinen Beitrag für die Sippe leisteten.

Mit dem feuchten Penis, angenehm schmerzenden Fäusten und der Aussicht, bald etwas in den Magen zu bekommen, hätte Capo der glücklichste Affe auf der Welt sein müssen. Es war ein gutes Leben hier draußen im Wald. Und für Capo, den Rudelführer, konnte es kaum besser kommen. Trotzdem verspürte er noch immer ein leichtes Unbehagen.

Und Capos Stimmung hellte sich nicht auf, zumal die Nahrungsausbeute an diesem Morgen mager war. Sie mussten weiterziehen.

Im Wald begegneten sie anderen Tieren. Es gab Okapis – Giraffen mit kurzen Hälsen –, Zwergnilpferde und kleine Wald-Rüsseltiere. Es war eine alte Fauna, die sich in den Schutz des Waldes geflüchtet hatte. Und es gab auch noch andere Primaten. Sie kamen an einem Paar Riesen vorbei: mächtige, breitschultrige und silberhaarige Geschöpfe, die unverrückbar auf dem Boden saßen und sich von den Blättern ernährten, die sie von den Bäumen pflückten.

Sie waren wie die Dickbäuche aus Streuners Tagen. Capos Vorfahren hatten ein neues Gebiss entwickelt, um die aus Früchten bestehende Nahrung besser zu zerkleinern: Capo hatte große Schneidezähne, um kraftvoll in Früchte zu beißen, dafür aber kleine Mahlzähne. Das Gebiss dieser Pflanzenfresser war entgegengesetzt aufgebaut; Laub musste nicht großartig abgebissen, sondern gut zerkaut werden. Diese großen Tiere, die eng mit den Gigantopithecinen Asiens verwandt waren, wogen eine Tonne und gehörten zu den größten Primaten aller Zeiten. Aber die Riesen waren schon selten in Afrika.

Sie waren keine direkten Konkurrenten von Capos Sippe, denn die vermochte sich nicht von Blättern zu ernähren, weil ihnen die großen fermentierenden Mehrkammer-Mägen der Riesen fehlten. Dennoch missfiel es Capo, dass er einen Umweg machen musste, um diesen stummen und geduldigen, wie Statuen dasitzenden Kreaturen aus dem Weg zu gehen. Weil er andererseits auch nicht das Gesicht verlieren wollte, ging Capo auf den Knöcheln zum größeren der Riesen, einem Männchen, hin und warf sich in eine herausfordernde Pose. Er lief mit gesträubtem Fell im Kreis herum und trommelte auf den Boden. Der Pflanzenfresser schaute teilnahmslos und gelangweilt zu. Selbst im Sitzen überragte er Capo noch.

Nachdem er seine Ehre wiederhergestellt hatte, trollte Capo sich.

Es dauerte nicht lang, bis der morgendliche Marsch ein Ende fand und die Sippe aus dem Wald hinaustrat.

Und hier war auch der Grund von Capos Unbehagen. Dieses schrumpfende, halb überflutete Waldgebiet war keine so lauschige Heimat mehr, wie sie einmal gewesen war. Es war im Grunde nur noch eine Insel in einer offenen, weiten Welt.

Er schaute zwischen den Bäumen hindurch und warf einen Blick auf diese Welt, die sich gerade aus der nebligen Morgendämmerung schälte.

Dieses Waldgebiet lag mitten in einer weiten funkelnden Ebene. Es war eine Art Parklandschaft mit einer Mischung aus offenen grünen Flächen und Wäldchen. Der Wald bestand zum größten Teil aus Palmen und Akazien, aber es gab auch Mischwald mit Koniferen und Laubbäumen: Walnuss, Eiche, Ulme, Birke und Wacholder.

Was Streuner, Capos Urahnin, jedoch am meisten erstaunt hätte, wäre die Beschaffenheit des Bodenbewuchses gewesen, der sich über diese offenen grünen Flächen erstreckte. Es war Gras: ein robustes und widerstandsfähiges Gewächs, das sich nun in einem langsamen Triumphzug über die ganze Welt ausbreitete.

Und in der Ebene wimmelte es nur so von Seen, Teichen und Feuchtgebieten. Überall wallte Nebel auf, als die Wärme der Morgensonne die Luft mit Feuchtigkeit sättigte. Ein großer Fluss, der im südlichen Hochland entsprang, wand sich träge durch die Ebene. Die Ufer wurden von Flutebenen gesäumt, bei denen es sich zum Teil um Marschen und stehende Gewässer handelte. Das Land war wie ein voll gesogener Schwamm, aus dem das Wasser heraus quoll. Die Bäume starben zum Teil schon ab, und die Wurzeln wurden von Wasser umspült. Die Überreste des Waldes, der durch die stetige Abkühlung und die zunehmende Trockenheit ohnehin schon geschrumpft war, soffen ab.

Diese aufgeweichte Ebene erstreckte sich nach Norden, so weit Capos Auge reichte. Doch im Süden stieg das Land zu einem hohen Gebirgszug mit einer Kerbe an, durch die dieser mächtige Fluss strömte. Diesem Höhenzug war eine öde Ebene mit großen knochenweißen Salzseen vorgelagert, in denen zum Teil Tümpel standen.

Im Norden ertönte ein Bellen, und Capo drehte sich um. Die Tiere der Ebene gingen ihren Verrichtungen nach. In der Ferne sah Capo etwas, das wie eine Herde übergroßer Wildschweine aussah, die das lange Gras abweideten. Mit den geduckten grau-braunen Körpern sahen sie aus wie große Schnecken. Sie waren aber weder Schweine noch Nilpferde, sondern Anthracotheria, Relikte längst vergangener Zeiten.

Zwei mächtige Chalicotheria arbeiteten sich langsam über die Ebene vor und zupften mit den großen Tatzen an Büschen. Sie pflückten nur frische Triebe ab und steckten sie sich wie Pandas in den Mund. Das größere Tier, das Männchen, hatte eine Schulterhöhe von fast drei Metern. Sie hatten massige Körper und stämmige Hinterbeine, doch die Vorderbeine waren lang und erstaunlich grazil. Wegen der langen Krallen vermochten sie mit den Vorderfüßen aber nicht auf dem Boden aufzutreten und gingen stattdessen auf den Knöcheln. Sie sahen aus wie große kurzhaarige Gorillas, doch die Köpfe waren die von Pferden. Diese urtümlichen Kreaturen waren Verwandte der Pferde. Früher waren sie weit verbreitet gewesen, doch nun wurden die Sträucher, von denen sie sich ernährten, immer rarer. Diese Spezies war die letzte Art der Chalicotheria.

In der Nähe hörten die Menschenaffen ein stetiges lautes Rascheln. Vorsichtig lugten sie zwischen den Bäumen hindurch. Eine Familie einer Art Elefanten machte sich an den Bäumen am Waldrand zu schaffen. Mit dem Rüssel brachen sie Äste ab und stopften sie sich ins Maul. Die mächtigen Tiere waren Gomphotheria. Sie hatten vier Stoßzähne, wobei jeweils ein Paar aus dem Ober- und Unterkiefer ragte. Mit der Bestückung erinnerten ihre Gesichter an Gabelstapler.

Die Rufe der Gomphotheria trugen weit in der Morgenluft und hallten bis tief in den Infraschallbereich wider. Es waren unheimliche Laute. Diese speziellen Proboscidea waren Allesfresser. Sie waren kaum leichtfüßige Jäger, aber einem Fleisch fressenden Elefanten ging man trotzdem besser aus dem Weg.

Just in diesem Moment trat Wedel, das dürre Männchen, aus dem Schatten des Waldes hinaus ins lange Gras, das ihm bis zu den Schultern reichte. Das Gras wogte um ihn herum, und in der Brise pflanzten die Wellen sich über die weiten Felder fort.

Zögernd richtete Wedel sich auf. Für einen Moment stand er aufrecht da und schaute eine Welt außerhalb der Reichweite der Primaten – hinaus in eine grüne Leere, in der Tiere wanderten und Antilopen, Elefanten und Chalicotheria das im Überfluss vorhandene Gras abweideten.

Dann bekam er doch Angst vor der eigenen Courage, ließ sich wieder auf alle viere fallen und huschte in den schattigen Wald zurück.

Capo versetzte ihm einen derben Schlag auf den Kopf, weil er ein solches Risiko eingegangen war und führte die Sippe wieder in den Wald zurück.

Capo schwang sich auf der Suche nach Früchten und Blüten auf einen Akazienbaum. Capo erklomm ihn schnell. Er wandte einen gleitenden Stil an, bei dem er sich mit den Armen hochzog und mit den Füßen den Baumstamm umklammerte, um sich abzustützen.

Das war eine Leistung, zu der Streuner nicht imstande gewesen wäre – oder irgendein anderer Affe. Menschenaffen wie Capo hatten eine flache Brust, kurze Beine und lange Arme. Indem die Schulterblätter in den Rücken gewandert waren, hatten sie eine größere Beweglichkeit erlangt, die es Capo ermöglichte, mit den Händen über den Kopf zu greifen. Diese Ausstattung war erforderlich, um auf Bäume zu klettern. Wo Streuner den größten Teil des Lebens Äste entlanggelaufen war, war Capo ein Kletterer.

Und diese Neukonstruktion zum Klettern hatte noch einen Nebeneffekt, der in Capos langem, schlankem Körper augenfällig wurde. Durch die neue, senkrecht ausgelegte Knochenstruktur und das Gleichgewichtssystem hatte Capo schon die Anlagen zum aufrechten Gang. Manchmal versuchte er das auch schon auf einem Baum. Er hielt sich an Ästen fest, um das Gleichgewicht zu wahren und griff nach den höchsten Früchten. Und manchmal richtete seine Art sich auch im Freien auf, wie Wedel demonstriert hatte.

Durch die körperliche Umformung waren die Menschenaffen zugleich intelligenter geworden.

In diesen tropischen Gefilden trugen die Bäume selten gleichzeitig Früchte. Und wenn man einen Früchte tragenden Baum fand, musste man unter Umständen weit gehen, bis man zum nächsten gelangte. Deshalb mussten die Menschenaffen einen großen Teil des Tags darauf verwenden, nach den verstreuten Nahrungsquellen zu suchen. Sie gingen allein oder in kleinen Gruppen und sammelten sich dann wieder, um in den Nestern in den Baumkronen zu schlafen. Diese grundlegende Architektur der Nahrungssuche hatte ihr soziales Leben geprägt. Einmal mussten sie mit der Umwelt sehr vertraut sein, wenn sie die Nahrung finden wollten, die sie benötigten.

Und in Anbetracht ihrer Lebensweise waren die Bindungen unter ihnen lose. Sie lebten in ständig wechselnden Verbänden und gingen besondere Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft ein, auch wenn sie sich vielleicht wochenlang nicht sahen. Um sich in einer vielschichtigen, variablen und komplexen Gesellschaft zu orientieren, bedurfte es einer zunehmenden Intelligenz. Wie die Menschenaffen mit ihren Beziehungen jonglierten, erinnerte das an eine Seifenoper – aber es war ein sozialer Mahlstrom, der das sich entwickelnde Bewusstsein schulte.

Nach der richtungweisenden Spaltung der archaischen Anthropoiden-Familie in Menschenaffen und Affen hatten die Menschenaffen sich zu den dominierenden Primaten der Alten Welt entwickelt. Obwohl die schrumpfenden Klimazonen sie in die mittleren Breiten verwiesen hatten, fanden sie reichlich Platz in einem durchgehenden Waldgürtel, der sich um ganz Afrika spannte und sich von China über Eurasien zur Iberischen Halbinsel erstreckte. In diesem grünen Korridor waren die Menschenaffen aus Afrika eingewandert und hatten sich über die Wälder der Alten Welt verbreitet – sie hatten die Proboscidea auf ihrer Wanderung sozusagen begleitet.

Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung gab es über sechzig Menschenaffen-Spezies. Was ihre Körpergröße betraf, hatten sie zwischen einer Katze und einem jungen Elefanten rangiert. Die größten, wie die Riesen, waren Laubesser, die mittelgroßen – wie Capo – lebten von Früchten, und die kleinsten unter einem Kilo oder so waren wie ihre entfernten Vorfahren Insektenfresser: Je kleiner das Tier, desto schneller ist sein Stoffwechsel und desto höhere Ansprüche stellt es an die Qualität der Nahrung. Aber es gab Platz für alle. Es war ein Zeitalter der Menschenaffen gewesen, ein mächtiges anthropoides Reich.

Leider hatte es nicht allzu lang Bestand.

Durch die anhaltende Abkühlung und Austrocknung der Erde waren die einst breiten Waldgürtel zu isolierten Inseln geschrumpft. Durch die gekappten Wald-Verbindungen zwischen Afrika und Eurasien waren die asiatischen Menschenaffen-Populationen isoliert worden. Sie würden sich unabhängig von den Ereignissen in Afrika zum Orang-Utan und seinen Verwandten entwickeln. Die geschrumpften Lebensräume hatten eine Abnahme der Populationen bedingt. Die meisten Menschenaffen-Spezies waren bereits ausgestorben.

Und dann war ein neuer Konkurrent auf den Plan getreten.

Capo gelangte zum Blätterdickicht einer Akazie, von der er wusste, dass sie besonders eifrig Blüten trieb. Jedoch stellte er fest, dass die Äste bereits geplündert waren. Er schob sie auseinander und schaute in ein kleines, erschrockenes schwarzes Gesicht mit einem weißen Fellrand und einem grauen Wuschel auf dem Kopf. Es war ein Affe – wie eine Meerkatze –, dem Saft aus dem Mund tropfte. Er schaute Capo an, kreischte und verschwand blitzartig, ehe Capo zu reagieren vermochte.

Er ruhte sich für eine Weile aus und kratzte sich nachdenklich an der Backe.

Affen waren eine Plage. Ihr großer Vorteil war nämlich, dass sie unreife Früchte zu fressen vermochten. Ihr Körper produzierte ein Enzym, das die giftigen Chemikalien neutralisierte, mit denen die Bäume die Früchte schützten, bis die Samen keimfähig waren. Die Menschenaffen hatten dem nichts entgegenzusetzen. Daher waren die Affen in der Lage, die Bäume schon vor der Ankunft der Menschenaffen leer zu machen. Sie schwärmten sogar ins Grasland aus und ernährten sich von den nussartigen Samen, die es dort gab. Für die Menschenaffen waren die Affen eine genauso harte Konkurrenz, wie die Nagetiere immer gewesen waren.

Hoch über Capos Kopf bewegte sich eine schlanke Gestalt elegant von Ast zu Ast. Es war ein Gibbon. Er schwang sich durch die Baumwipfel und nutzte den Körper als Pendel, um kinetische Energie zu speichern. Dazu pendelte er wie ein Kind auf der Schaukel mit den Beinen, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.

Der Körper des Gibbons war eine Art Sonderausführung des ›Langarm-Flachbrust‹-Designs der Menschenaffen. Die Kugelgelenke von Schulter und Handgelenk hatten einen so hohen Freiheitsgrad, dass der Gibbon an den Armen hängend den Körper im Vollkreis zu drehen imstande war. Mit dem geringen Gewicht und der extremen Beweglichkeit vermochte der Gibbon an den äußersten Ästen der höchsten Bäume zu hängen und die Früchte zu erreichen, die sich an den dünnsten Zweigen befanden – und war zugleich vor den Räubern sicher, die auf Bäume kletterten. Durch die Fähigkeit, kopfüber von den Ästen zu hängen, gelangte der Gibbon sogar an Leckereien außerhalb der Reichweite von Menschenaffen, die zu schwer waren, um in solche Höhen zu klettern – und die sogar dem Zugriff der Affen entzogen waren, die nämlich nur auf den Ästen entlangliefen.

Capo schaute zum Gibbon empor. Er beneidete ihn um die Eleganz, Geschwindigkeit und Körperbeherrschung, die er nie erlangen würde. Doch so großartig der Gibbon auch war – er war nicht etwa die Krone der Menschenaffen, sondern ein ›Auslaufmodell‹, das den Konkurrenzkampf mit den Affen verloren hatte und dazu verurteilt war, sein Dasein in ökologischen Nischen zu fristen.

Enttäuscht und hungrig ging Capo weiter.

Schließlich stieß Capo auf eine andere Quelle seiner Leibspeisen, eine Gruppe Ölpalmen. Die Nüsse dieser Bäume hatten ein nahrhaftes, öliges Fleisch, das allerdings von einer besonders harten Schale umschlossen wurde. Damit war es dem Zugriff der meisten Tiere entzogen, sogar für die geschickten Finger der Affen. Nicht aber für Menschenaffen.

Capo ließ ein paar Dutzend Nüsse auf den Boden fallen, dann stieg er hinab. Er sammelte die Nüsse ein, trug sie zu einer ganz bestimmten Akazie und versteckte sie unter einem Haufen getrockneter Palmwedel.

Dann arbeitete er sich zum Waldrand vor, wo er seine Hammer-Steine gelagert hatte. Dabei handelte es sich um Kieselsteine, die formschlüssig in der Hand lagen. Er suchte sich einen aus und ging zum Nuss-Depot zurück.

Auf dem Rückweg kam er an der halbwüchsigen Heulen vorbei. Er spielte kurz mit dem Gedanken, sich wieder mit ihr zu paaren, doch wenn Capo sich einmal am Tag einem Weibchen widmete, war das Gunstbeweis genug.

Zumal ein Kind bei ihr war, ein merkwürdig aussehendes Männchen mit einer auffallend verlängerten Unterlippe: Elefant. Er war einer von Capos Söhnen. Er saß auf dem Boden und hielt sich laut stöhnend den Bauch. Vielleicht hatte er einen Wurm oder einen anderen Parasiten. Heulen stöhnte mit ihm, als ob der Schmerz sich auch auf ihren Körper übertragen hätte. Sie riss schnell Blätter ab und veranlasste das Junge, sie zu schlucken; das Laub enthielt Substanzen, die Parasiten austrieben.

Und dann erblickte er Finger und Wedel, die über den Waldboden schlichen. Capo hatte den Eindruck, dass die jungen Männchen etwas im Schilde führten. Und dann wurde er sich zornig bewusst, dass sie es auf seinen Laubhaufen abgesehen hatten.

Capo zügelte seine Ungeduld. Er setzte sich unter einen Baum, ließ den Hammer-Stein fallen und säuberte methodisch die Zwischenräume zwischen den Zehen. Er wusste, wenn er die Palmnüsse zu erreichen versuchte, würden die anderen eher da sein und sie klauen. Indem er sich nun mit seinen Füßen beschäftigte, machte er Wedel und Finger glauben, dass dort gar keine Nüsse versteckt seien.

Anders als Streuner vermochte Capo die Absichten von anderen zu erkennen. Und Capo wusste auch, dass seine Artgenossen wahrscheinlich andere Prämissen hatten als er und dass er mit seinen Handlungen die Prämissen anderer zu ändern vermochte. Es war eine Fähigkeit, die sogar ein begrenztes Maß an Empathie ermöglichte: Heulen hatte das Leid von Elefant wirklich geteilt. Aber sie ermöglichte auch raffinierte Methoden der Täuschung und des Verrats. Er war in gewisser Weise imstande, Gedanken zu lesen.

Diese neue Fähigkeit hatte ihn auf einer höheren Ebene selbstbewusst gemacht. Die beste Methode, die Gedanken eines anderen zu ergründen bestand darin, die eigenen Gedanken zu studieren: Wenn ich sähe, was sie sieht, und wenn ich glaubte, was sie tut, was würde ich tun…? Es war eine Innenansicht, eine Reflexion: die Geburt des Bewusstseins. Wenn Capo sein Gesicht im Spiegel gesehen hätte, dann hätte er gewusst, dass er selbst das war und nicht etwa ein Artgenosse in einem Fenster. Seine Art waren die ersten Tiere seit den Jägern von Pangäa, die dieses Intelligenzniveau erreicht hatte.

Schließlich entfernten Wedel und Finger sich von dem Blätterhaufen. Capo schnappte sich den Hammer-Stein, um die Palmnüsse zu knacken. Er würde den beiden später noch eine Tracht Prügel verabreichen – aus Prinzip. Sie würden nie verstehen, weshalb sie die Haue eigentlich bezogen.

Er schob das Laub beiseite, unter dem sein Lieblings-›Amboss‹ versteckt war: ein flacher, im Boden versenkter Stein. Um das Hinterteil zu schützen, breitete er etwas Laub auf dem feuchten Boden aus. Dann setzte er sich hin und zog die Beine an die Brust. Er legte eine Palmnuss auf den Amboss, hielt sie mit dem Mittel- und Zeigefinger fest und schlug mit dem Hammer zu, wobei er die Finger im letzten Moment wegzog. Die Nuss rollte unter dem Hammer und flutschte unbeschädigt weg; Capo hielt sie auf und versuchte es erneut. Es war eine knifflige Prozedur, die viel Geschick erforderte. Doch schon nach dem dritten Versuch hatte Capo die erste Nuss geknackt und aß die Kerne auf.

Siebenundzwanzig Millionen Jahre nach Streuner und ihrer Verfahrensweise, Nüsse gegen Äste zu schleudern, war dies der Stand der Technik auf der Erde.

Capo knackte der Reihe nach die Nüsse. Er verlor sich förmlich in dieser diffizilen Tätigkeit und verdrängte die diffusen Ängste, die ihm zu schaffen machten, aus dem Bewusstsein. Es war inzwischen Vormittag, und für eine Weile verspürte er Zufriedenheit. Das Wissen, dass er genug Nahrung beschafft hatte, um den Hunger zumindest für ein paar Stunden zu unterdrücken, befriedigte ihn.

Elefant kam vom intensiven Aroma der Nüsse angelockt herbei, um zu sehen, was hier los war. Das Magenproblem des Jungen war durch Heulens Kräutermedizin offensichtlich behoben worden – oder vielleicht hatte er auch nur simuliert, um Zuwendung zu erhalten –, und er hatte Hunger bekommen. Er sah Reste von Nussschalen um den Amboss und sogar ein paar Splitter der Kerne. Das Junge schnappte sich diese Reste und stopfte sie sich in den Mund.

Capo ließ ihn großmütig gewähren.

Nun kam Blatt mit dem Kind auf dem Rücken vorbei.

Capo ließ den Hammer-Stein fallen und griff nach Blatt. Er kämmte ihr den Bauch, eine Zuwendung, die sie sich gern gefallen ließ. Blatt, ein großes, sanftes Wesen, war eins seiner Lieblings-Weibchen. Überhaupt wurde sie von allen Männchen der Sippe begehrt, die sich darum stritten, sie kämmen zu dürfen.

Doch Capo begnügte sich nicht damit, sie zu kämmen. Bald schon stach sein Penis aus dem Fell, und mehr Kämmen würde Blatt nicht bekommen. Blatt hob vorsichtig das Junge vom Rücken und setzte es auf den Boden. Dann hob sie das Hinterteil und ließ Capo in sich eindringen. Während er sie stieß, hob sie das Hinterteil noch höher, sodass der Kopf nach unten gerichtet war und das Gewicht auf dem Schädel ruhte. Die Menschenaffen nahmen bei der Paarung oft diese Stellung ein. Auch hier kam Empathie zum Tragen: Sie verschafften sich gegenseitig Lustgewinn beim Kämmen und beim Kopulieren.

Capo und Blatt standen sich nah. Obwohl sie sich auch mit anderen paarten, verschwanden Capo und Blatt manchmal tagelang im Wald – die beiden ganz allein –, und auf solchen ›Lustreisen‹, die die sexuelle Intimität späterer Arten vorwegnahmen, hatte Blatt die meisten Kinder von Capo empfangen, einschließlich Elefant.

Was Capo und Blatt in solchen Momenten füreinander empfanden, war mit menschlicher Liebe natürlich nicht zu vergleichen. Jeder der Menschenaffen blieb im Gefängnis der Sprachlosigkeit eingesperrt; ihre ›Sprache‹ war noch nicht viel differenzierter als ein Schmerzensschrei. Aber sie waren dennoch weniger einsam als die meisten Geschöpfe auf dem Planeten – weniger einsam als alle, die jemals gelebt hatten.

Inzwischen beschäftigte Elefant sich mit Capos Werkzeugsatz. Er schlug Nuss gegen Kieselstein, Kieselstein gegen Amboss.

Capos Menschenaffen mussten von klein auf viel über ihre Umwelt lernen. Sie mussten lernen, Wasser und Nahrung zu suchen, die Werkzeuge zu benutzen, um an die Nahrung zu gelangen, und die simple Kräutermedizin anzuwenden. Diese Lebensweise war ihnen durch die Konkurrenz zu den Affen aufgezwungen worden: Sie mussten sich Nahrungsquellen erschließen, die die Affen nicht abzustauben vermochten, und das erforderte Intelligenz.

Aber es gab hier keine Schulung. Nicht dass Elefant nachzuvollziehen versucht hätte, was Capo getan hatte. Indem er aber experimentierte, nach dem Prinzip ›Versuch und Irrtum‹ verfuhr und die Werkzeuge benutzte, die die Erwachsenen liegengelassen hatten, würde Elefant – vom verlockenden Duft der Palmnüsse angetrieben – schließlich lernen, wie man Nüsse knackte.

Unablässig schlug er auf die Schalen ein, als sei er der erste Menschenaffe, der diesen Trick anwandte.

Capo schaukelte sich zu einem langsamen, heftigen Orgasmus auf – dem ersten heute. Er löste sich von Blatt und rollte sich mit einem eigentlich unbegründeten Stolz auf sich selbst auf den Rücken. Dann ließ er sich von ihr kämmen und das Fell säubern.

Plötzlich wurde sein Seelenfrieden jedoch durch eine Kakophonie im Wald gestört: laute Schreie, Trommeln und das Schaben großer Leiber, die Bäume hinaufkletterten und sich von Ast zu Ast schwangen.

Capo setzte sich auf. In dieser Welt empfahl es sich nicht, zu viel Aufregung zuzulassen, die er nicht selbst verursachte. Er sprang über einen Baumstumpf, trommelte auf einen Ast, gab Elefant routinemäßig eine Kopfnuss und lief dem Ursprung des Lärms entgegen.

Eine Gruppe junger Männchen jagte einen Affen.

Für Capos Augen sah er aus wie die kleine Meerkatzen-artige Kreatur, die er vor einiger Zeit beim Futtern der Akazienblüten gestört hatte. Nun hatte sie sich in der Krone einer jungen Palme zusammengekauert.

Die Jäger hatten sich um den Fuß des Baums aufgestellt und erklommen Bäume in der Nachbarschaft. Andere, darunter Wedel und Finger, hatten sich als Zuschauer bei diesem Spektakel eingefunden. Es waren diese Zuschauer, die den Lärm veranstalteten; die Jäger selbst bewegten sich lautlos im Verborgenen. Der Affe wurde durch den Lärm erschreckt und verlor die Orientierung.

Capo war unangenehm überrascht, als er sah, wer die Jäger waren. Es handelte sich nämlich um die frechen jungen Männchen, die vor kurzem zu einem Jagdausflug in einen anderen Teil des Waldes verschwunden waren. Ihr informeller Anführer, eine stämmige Kreatur mit dem Namen Felsbrocken, hatte Capo schon in der Vergangenheit durch seine Aufmüpfigkeit Scherereien gemacht, und Capo war über sein Verschwinden froh gewesen: Sollte er Dampf ablassen, ein paar Fehler machen und sich ruhig auch ein paar Blessuren einhandeln. Umso bereitwilliger würde er wieder Capos Autorität anerkennen.

Felsbrocken war aber nur für ein paar Tage weg gewesen, wo Capo von ein paar Wochen ausgegangen war. Und seinem aggressiven Verhalten nach zu urteilen war er durch den Ausflug keinen Deut ruhiger geworden.

Capo war auch wegen der Jagd beunruhigt. Sie machten normalerweise nur Jagd auf Affen, wenn andere Nahrung knapp wurde, zum Beispiel in Dürreperioden. Wieso jetzt?

Einer der kletternden Menschenaffen machte plötzlich einen Satz. Der schnatternde Affe sprang in die andere Richtung – und direkt in die Arme eines lauernden Jägers. Die zuschauenden Menschenaffen schrieen und bellten. Der Jäger wirbelte den Affen über sich herum und schleuderte ihn mit dem Kopf gegen einen Baumstamm. Die Schreie verstummten sofort. Dann warf der Jäger den Kadaver auf den Boden, wobei der zerschmetterte Kopf einen hellroten Fleck auf dem dunkelgrünen Waldboden hinterließ.

Nun war Capos Moment gekommen. Er sprang an Felsbrocken vorbei und stürzte sich auf den Körper. Er packte das noch warme Bündel, fasste es am Knöchel und riss das kleine Bein am Knie ab.

Zu seinem Erstaunen attackierte Felsbrocken ihn aber. Das stämmige Männchen sprang ihn an und rammte ihm die Füße in die Brust. Capo fiel um und streckte alle viere von sich. Er verspürte Schmerzen im Brustkorb und bekam für einen Moment keine Luft mehr. Felsbrocken hob die Affenkeule ostentativ auf und biss hinein. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Die Menschenaffen waren nun völlig aus dem Häuschen; sie schrien, trommelten und balgten sich.

Capo ignorierte die Schmerzen in der Brust und sprang mit Gebrüll auf. Das durfte er Felsbrocken diesmal nicht durchgehen lassen. Er kletterte auf die untersten Äste eines Baums, trommelte wild und schrie so laut, dass die Vögel gestört wurden, die hoch über ihm nisteten. Dann sprang er wieder auf den Boden. Er steigerte sich derart in Rage, dass das Fell sich sträubte und bekam eine stolze rosig-purpurne Erektion. Das war ein schöner Kontrapunkt, quasi sein Markenzeichen.

Felsbrocken ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Er warf sich selbst in Positur und schwang das Affenbein wie einen Knüppel. Sein Stampfen, Springen und Trommeln war genauso beeindruckend wie Capos Vorführung.

Capo wusste, dass er diese Auseinandersetzung unbedingt für sich entscheiden musste. Wenn er nun klein beigab, verlor er angesichts Felsbrockens Kreis blutrünstiger Jäger vielleicht nicht nur seinen Status, sondern auch gleich das Leben.

Mit einer Beweglichkeit, die man ihm bei seinem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte, machte er einen Satz, schlug Felsbrocken nieder und setzte sich auf seine Brust. Dann deckte er Felsbrockens Kopf und Oberkörper mit harten Schlägen ein. Felsbrocken wehrte sich zwar. Doch außer der Jugend war Capo im Vorteil und warf Überraschungsmoment, Erfahrung und Autorität in die Waagschale. Felsbrocken war unter Capo eingeklemmt und vermochte die kräftigen Arme und Beine nicht richtig zum Einsatz zu bringen.

Capo sah, dass er den Kampf in den Augen der restlichen Horde allmählich für sich entschied, was genauso wichtig war wie der Sieg über Felsbrocken. Die Gefolgsleute des jungen Männchens schienen zwischen den Bäumen verschwunden zu sein, und die Erregungsschreie und Anfeuerungsrufe, die Capo hörte, schienen nun ihm zu gelten.

Doch selbst während er Felsbrocken niederrang, wurde der intelligente Capo durch etwas abgelenkt.

Er dachte an die sterbenden Bäume, die er vom Rand der Waldinsel aus gesehen hatte, an die schnelle Rückkehr von Felsbrocken und seiner Truppe, an ihren offensichtlichen Hunger und den Jagdtrieb.

Felsbrocken hatte keinen anderen Platz gefunden. Das Wäldchen schrumpfte. Es war immer kleiner geworden, solange er sich erinnerte, und nun vermochte man die Augen nicht mehr davor zu verschließen. Es gab nicht mehr genug Platz für sie. Wenn er die Gruppe hier zu behalten versuchte, würden wegen der Konkurrenz um die schwindenden Ressourcen die Spannungen unter ihnen unerträglich werden.

Sie würden weiterziehen müssen.

Schließlich gab Felsbrocken auf. Er erschlaffte unter Capo, umfasste das Hinterteil des älteren Männchens und streichelte ihm sogar kurz den noch immer erigierten Penis – Gesten der Unterwerfung. Um ihm seinen Standpunkt nachhaltig klarzumachen, bearbeitete Capo noch für eine Weile Felsbrockens Kopf. Dann stieg er vom geschlagenen jungen Männchen herunter. Mit immer noch gesträubtem Fell schlug er sich in die Büsche, wo er ungeniert humpeln und die schmerzende Brust massieren durfte, ohne dass die anderen ihm das als Schwäche auslegten.

Hinter ihm fielen die anderen über die Meerkatze her. Ihre Mägen vermochten Fleisch nicht gut zu verdauen; sie würden später den Kot nach halb verdauten Fleischbrocken durchsuchen und sie nochmals essen. Das Verdauungssystem bedurfte der Verbesserung, wenn die Nachkommen dieser Geschöpfe in der Savanne überleben wollten.

II

Seit Streuners Zeiten hatte Gras die Welt verändert. Die epochale Abkühlung der Erde dauerte an. Je mehr Wasser in der antarktischen Eiskappe gebunden wurde, desto weiter sank der Meeresspiegel, und Binnenmeere schrumpften oder wurden vom Ozean getrennt. Und in dem Maß, wie die kontinentalen Landmassen die Meere verdrängten, vermochten sie immer weniger als Puffer für die klimatischen Wärme- und Kälteextreme zu dienen. Das verwitternde Gestein zog Kohlendioxid aus der Luft und verringerte ihre Fähigkeit, die Sonnenwärme zu speichern. Der Planet hatte durch die Abkühlung und Austrocknung einen Rückkopplungs-Mechanismus in Gang gesetzt, der den Trend zur Trockenheit und Abkühlung weiter verstärkte.

Inzwischen entstanden durch tektonische Kollisionen neue Gebirgszüge: die Anden in Südamerika und der Himalaja in Asien. Diese neuen Auffaltungen warfen riesige Regen-Schatten über die Kontinente; in einem solchen Schatten sollte bald die Wüste Sahara entstehen. In der neuen Trockenheit schoben große Laubwald-Gebiete sich von Süden und Norden auf den Äquator zu.

Und das Grasland breitete sich aus.

Gräser, die in großen Mengen auftraten und durch vom Wind verwehte Pollen bestäubt wurden, waren der ideale Bewuchs für die neuen offenen und trockenen Zonen. Gräser vermochten auch bei dem sporadischen Regen zu existieren, der nun fiel, wogegen die meisten Bäume, deren Wurzeln immer tiefer in den Boden reichten, in der Trockenheit keine Chance hatten. Das eigentliche Geheimnis der Gräser lag jedoch in den Halmen. Die Blätter der meisten Pflanzen entwickelten sich aus Schösslingen. Anders beim Gras: Die Grashalme sprossen aus unterirdischen Stielen. Also vermochte Gras sich auch dann zu regenerieren, wenn ein hungriges Tier es bis auf den Boden abgefressen hatte.

Diese Qualitäten hatten es dem Gras ermöglicht, eine ganze Welt zu übernehmen und sie zu ernähren.

Die neuen Gras weidenden Pflanzenfresser entwickelten spezialisierte Wiederkäuer-Mägen, um das Grasfutter über lange Zeiträume zu verdauen und ihm alle Nährstoffe zu entziehen. Außerdem bildeten sie Zähne aus, die dem Schmirgeleffekt der Quarzkörnchen in den Grashalmen zu widerstehen vermochten. Viele Pflanzenfresser begaben sich wegen der jahreszeitlich unterschiedlichen Regenfälle auf Wanderschaft. Diese neuen Säugetiere waren größer als ihre urzeitlichen Vorfahren, schlank und langbeinig mit spezialisierten Füßen und einer reduzierten Zehenanzahl, um große Entfernungen zu gehen und zu rennen. Inzwischen waren auch viele neue Nagetierarten wie Wühlmäuse und Feldmäuse entstanden, die sich von Grassamen zu ernähren vermochten.

Und es kamen neue Fleischfresser auf, die für die Jagd auf die Herden der großen Pflanzenfresser ausgestattet waren. Die Regeln des alten Spiels hatten sich jedoch geändert. In der schlechten Deckung des Graslandes machten die Räuber die Beute schon aus großer Entfernung aus – und umgekehrt. So starteten Räuber und Beute ein Stoffwechsel-Wettrüsten, bei dem der Schwerpunkt auf Geschwindigkeit und Ausdauer lag; sie entwickelten noch längere Beine und schnellere Reaktionen.

Eine neue Art von Landschaft entstand, vor allem an den Ostküsten der Kontinente, die vom überwiegenden Westwind und dem Regen geschützt waren, den er brachte. Es handelte sich um offene, mit Gras bewachsene Ebenen, die durch vereinzelte Büsche und Bäume charakterisiert wurden. Und die Tiere, die sich an die neue Vegetation anpassten, wurden mit einer garantierten Futterquelle belohnt, die sich über hunderte Kilometer erstreckte.

Durch die Spezialisierung und die Stabilität des Graslands wurden die Pflanzenfresser jedoch auf die Gräser beschränkt und die Räuber auf ihre Beute, sodass eine enge gegenseitige Abhängigkeit entstand. In dieser Periode unterschieden Hirsche, Kühe, Schweine, Hunde und Kaninchen sich kaum noch von ihren Pendants des Menschenzeitalters, das fünf Millionen Jahre später einsetzen sollte. Dennoch hätten viele Tiere erstaunlich groß angemutet; allerdings wurden sie später von kleineren und schnelleren Verwandten verdrängt.

Inzwischen hatte die Eröffnung der Landbrücken, die durch den sinkenden Meeresspiegel entstanden, eine große Tier-Wanderung ausgelöst. Drei Arten von Elefanten – das Deinotherium (fraß Laub von den Bäumen), das Gomphotherium (fraß einfach alles) und das Mastodon (ein Weidetier) – wanderten von Afrika nach Asien ein. Begleitet wurden sie von Menschenaffen, Capos Verwandten. Aus der Gegenrichtung kamen Nagetiere und Insektenfresser, Katzen, Rhinozerosse, Maushirsche, Schweine sowie urtümliche Giraffen- und Antilopenarten.

Es gab auch ein paar Exoten, vor allem auf den Inseln und den isolierten Kontinenten. In Südamerika gediehen die größten Nagetiere, die jemals gelebt hatten; es existierte beispielsweise eine Meerschweinchen-Art so groß wie ein Nilpferd. In Australien hatten Kängurus ihr Debüt gegeben. Und in Nordamerika, Europa und Asien tauchten Tiere auf, die später als tropisch bezeichnet wurden. So suhlten sich zum Beispiel Nilpferde und Elefanten in der Flutebene der breiten und sumpfigen Themse. Die Welt hatte sich seit Noths Zeiten stark abgekühlt, aber deswegen war sie noch nicht kalt; die tiefste Kälte sollte erst noch kommen.

Aber die Austrocknung schritt voran. Bald hatte der alte Flickenteppich aus Grasland und Waldland, in dem eine große Vielfalt von Tieren zu leben vermochte, sich in die äquatorialen Zonen Afrikas zurückgezogen; andernorts ging das Grasland in Halbwüste, Savannen, Steppen und Pampas über. Unter diesen rauen Bedingungen mit dem verringerten Nahrungsangebot starben viele Arten aus.

Bei diesem gewaltigen evolutionären Drama führte das ständig wechselnde Erdklima Regie – und die Tiere und Pflanzen waren den Launen des unsichtbaren Regisseurs hilflos ausgeliefert.

Am nächsten Morgen wurde es nichts aus dem genüsslichen An-den-Eiern-Kratzen. Nach dem Aufwachen setzte Capo sich auf und stieß wegen der Verletzungen und Prellungen vom Vortag einen leisen Schmerzensschrei aus. Dann entleerte er in einer schnellen Bewegung Blase und Darm, ohne das protestierende Geschnatter unter sich zu beachten.

Er sprang aus dem Nest und kletterte den Baum hinunter. Wie tags zuvor krachte er mit Gebrüll in die Nester der Sippe und weckte sie mit Tritten und Schlägen. An diesem Tag war Capo aber nicht an einer Demonstration seiner Macht interessiert; an diesem Morgen ging es ihm nicht um Dominanz, sondern um Führung.

Sein Entschluss hatte noch immer Bestand. Die Sippe musste weiterziehen. Wohin sie gehen sollten, war freilich kein Element seiner planlosen Entscheidungsfindung vom gestrigen Tag. Was ihm jedoch deutlich im Bewusstsein war, war der gestrige Zwischenfall, der Kampf mit Felsbrocken und das Gefühl, dass dieses kleine Waldgebiet übervölkert war.

Die Sippe versammelte sich auf dem Erdboden. Es waren über vierzig Mitglieder, einschließlich der Kleinkinder, die sich an Bauch oder Rücken ihrer Mütter klammerten. Sie waren verschlafen, unruhig und kratzten und streckten sich. Capo hatte sie kaum versammelt, da zerstreuten sie sich natürlich schon wieder. Sie zupften an Grasbüscheln und Moos auf dem Boden und pflückten tief hängende Feigen und andere Früchte. Selbst unter den Männchen spürte er Reserviertheit, Rivalität und Ressentiments; vielleicht widersetzten sie sich ihm, nur um sich in den endlosen Machtkämpfen selbst zu profilieren. Und was die Weibchen betraf, so folgten die trotz Capos Imponiergehabe eigenen Gesetzen.

Wie sollte er eine solche Horde überhaupt irgendwohin führen?

Sein Gehirn war eine hoch entwickelte Maschine, die in erster Linie zu dem Zweck entwickelt worden war, komplexe soziale Situationen zu handhaben. Und er verfügte über ein gutes, angeborenes Verständnis seiner Umwelt. Er hatte die überlebensnotwendigen Ressourcen und ihre Standorte in einer Art Datenbank im Kopf abgespeichert. Er verstand sich sogar auf nautische Kopplung und vermochte leicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu berechnen. Es war sein Umweltbewusstsein, das die Besorgnis wegen des schrumpfenden Waldgebiets verursacht hatte.

Jedoch war sein Bewusstsein, im Gegensatz zu einem Menschen, nicht ständig aktiv. Das Bewusstsein schaltete sich quasi in Intervallen zu. Er war sich seiner Gedanken, seiner selbst nur dann bewusst, wenn er an andere in der Sippe dachte – weil das nämlich der primäre Zweck des Bewusstseins war, das Denken anderer zu beeinflussen. In Bezug auf andere Lebensbereiche wie Nahrungssuche oder auch Werkzeugbenutzung hatte er dieses Bewusstsein nicht: Das waren unbewusste Handlungen, die wie das Atmen oder die Bein- und Armarbeit beim Klettern ohne das Zutun des Bewusstsein abliefen. Sein Denken war nicht vernetzt wie das eines Menschen, sondern ein ›Schubladendenken‹.

Er hatte allerdings Schwierigkeiten, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenzusetzen: die Gefahr, die vom schrumpfenden Wald ausging und wie er seine Sippe führen sollte. Dennoch empfand er die Gefahr als höchst real, und alle Instinkte schrien ihn an, von hier zu verschwinden. Die Sippe musste ihm folgen. Das war zwingend notwendig; er wusste es in jeder Faser seines Seins. Wenn sie hier blieben, würden sie sicher sterben.

Also stieß er ein Gebrüll aus, um das Blut in Wallung zu bringen, und lieferte die Vorstellung seines Lebens ab. Er rannte vor der Sippe auf und ab und schlug, knuffte und trat seine Artgenossen. Dann riss er Äste von den Bäumen und schwang sie über dem Kopf, um noch größer zu wirken. Er sprang und schwang sich über Äste und Baumstämme, trommelte wild auf den Boden und – als eine ultimative Bekräftigung des gestrigen Siegs – warf er Felsbrocken auf den Boden und setzte sich mit dem rosettenartigen Anus auf das Gesicht des jüngeren Männchens. Es war ein großartiges Spektakel und übertraf fast alles, was er in jüngeren Jahren gebracht hatte. Männchen jubelten, Weibchen zuckten zurück und Babys schrien, und Capo gestattete sich einen Anflug von Stolz auf seine Leistung.

Und dann versuchte er, sie zum Waldrand zu führen. Er ging zurück, schüttelte Äste und lief hin und her.

Sie starrten ihn nur an. Plötzlich verhielt er sich wie ein unterwürfiges junges Männchen. Also setzte er sich noch mal in Szene, trommelte, sprang und schrie, und dann bedeutete er ihnen erneut, ihm zu folgen.

Schließlich regte sich einer von ihnen. Es war Wedel, das dürre junge Männchen. Er machte ein paar zögerliche Schritte auf den Knöcheln. Capo reagierte mit einem frohen Schrei, warf sich auf Wedel und belohnte ihn mit einem intensiven Kämmen. Nun kamen noch mehr herbei: Finger und ein paar ›Jungmannen‹, die auch gern gekämmt werden wollten. Capo bemerkte jedoch, dass Felsbrocken Wedel unauffällig in den Hintern trat.

Und dann kam zu Capos großer Erleichterung Blatt mit ihrem Kind auf dem Rücken an. Sie lief gemessen, wenn auch etwas steif auf den Knöcheln. Nachdem dieses hochrangige Weibchen den Anfang gemacht hatte, kamen weitere, darunter Heulen, das fast geschlechtsreife Weibchen.

Doch nicht alle Weibchen folgten ihr – und auch nicht alle Männchen. Felsbrocken blieb unter einem Baum sitzen; die Beine hatte er ostentativ unter sich verschränkt. Andere Männchen scharten sich um ihn. Capo machte ihnen eine fürchterliche Szene. Doch sie drängten sich zusammen und kämmten sich gegenseitig, als ob Capo überhaupt nicht mehr existierte. Das war ein bewusster Affront. Wenn er seine Position aufrechterhalten wollte, musste Capo diese rebellische Rotte zerstreuen und vielleicht noch einmal gegen Felsbrocken antreten.

Doch dann gab er, fast zu seiner eigenen Verwunderung, den Versuch auf und trat keuchend zurück.

Im Herzen wusste er nämlich, dass er sie verloren hatte, dass er sie zu hart ran genommen hatte und dass die Sippe sich auflöste. Diejenigen, die ihm folgten, würden mit ihm ihrem Schicksal entgegengehen – ein Schicksal, von dem er nicht die geringste Vorstellung hatte. Diejenigen, die zurückblieben, mussten auf ihr Glück vertrauen.

Ohne sich umzudrehen, lief er schnell aus der Mitte des Waldes dem Tageslicht entgegen; allerdings vermochte er der Versuchung nicht zu widerstehen, sich mit einem letzten feuchten Furz in Richtung der Rebellen zu verabschieden.

Schließlich blieben etwa die Hälfte der Männchen und der größere Teil der Weibchen zurück. Damit hatte Capo einen Großteil seiner Macht eingebüßt. Als er dem hellen Licht der Ebene entgegenging, hörte er den Jubel und das Geheul der Männchen. Der Kampf um die neue Hierarchie hatte bereits begonnen.

Am Waldrand, am Rand der Leere, machte Capo eine Pause.

Wie am Vortag fraßen Gomphotheria an den beschädigten, halb ertrunkenen Bäumen. Im Norden erstreckte sich die grasbedeckte, mit schimmernden Seen und Marschen durchsetzte Ebene bis zum diesigen Horizont. Pflanzenfresser-Herden zogen wie Schemen dahin. Im Süden, in einer Entfernung von etwa einem Kilometer, schimmerte der Boden weiß wie Knochen. Die Durchquerung der Salzpfanne würde sich schwierig gestalten. Capo sah aber, dass das Land zu einem grünen Plateau anstieg, wo – so schien es jedenfalls für seine schlechten Augen, die an die kurzen Entfernungen des Waldes angepasst waren – ein dicker Teppich aus Wald das Gestein überzog.

Also nach Süden, durch das trockene Land zum neuen Wald auf dem Plateau. Ohne sich zu vergewissern, dass die anderen ihm folgten, ging er auf Knöcheln und Füßen weiter und schob sich durch schulterhohes Gras, das um ihn herum wogte.

Das Land stieg an und wurde immer trockener.

Es gab hier auch ein paar Bäume, aber das waren nur Krüppelkiefern, die sich an den trockenen Boden klammerten und weder die tröstliche Dichte noch die Feuchtigkeit des Waldes boten. Also hatten sie hier kaum Schutz vor der Mittagssonne. Capo war bald außer Atem. Er wurde im dicken Fell förmlich gegrillt, und Knöchel und Füße waren wund gelaufen. Er vermochte nicht zu schwitzen, und die Gangart auf den Knöcheln, die für die Bewegung in der komplexen Umgebung des dichten Waldes geeignet war, erwies sich hier als ineffizient.

Außerdem wurde Capo, ein Geschöpf des Waldes, durch diese endlose Weite eingeschüchtert. Er stieß einen leisen Ruf aus und hätte sich am liebsten zusammengekauert, die Arme um den Kopf geschlungen oder sich auf den nächsten Baum geflüchtet.

Es gab auch Tiere zu sehen, die über die trockene Ebene verstreut waren: Es gab Hirsche, ein paar Hunde-Spezies und eine Familie von Wühltieren wie Stachelschweine. Die großen Tiere waren eher selten, doch dafür flohen jede Menge kleinerer Tiere vor dem anrückenden Capo: Eidechsen, Nagetiere und sogar primitive Kaninchen.

Die etwa zwanzig Mitglieder der Sippe, die sich ihm angeschlossen hatten, quälten sich hinter ihm die Steigung hinauf. Sie kamen nur langsam voran, weil sie immer wieder Rast machten, um zu essen, zu trinken, sich zu kämmen, zu spielen und sich zu streiten. Diese Wanderung glich eher einem gemütlichen Spaziergang von Kindern, die sich leicht ablenken ließen. Aber es lag auch nicht in Capos Absicht, sie zur Eile zu treiben. Sie konnten halt nicht aus ihrer Haut.

Capo erklomm einen flachen, erodierten Hügel. Von dort ließ er den Blick über die feuchte, glitzernde Landschaft mit der Waldinsel und den äsenden Pflanzenfressern schweifen. Doch als er dann nach Süden schaute, sah er die große Trockenheit vor ihnen liegen. Es war ein breites Hochtal mit vereinzelten dürren Bäumen und spärlicher Vegetation. Die Trockenheit war durch einen geologischen Unfall bedingt, der das Tal in einer großen unterirdischen Felsschüssel ohne Quellen eingebettet hatte und vom Regen abschottete.

Beim Anblick dieser endlosen Weite wollte er schier verzagen. Aber er musste sie dennoch durchqueren.

Und weil er hier nicht mehr im Wald war, der den Schall dämpfte, hörte er auch wieder dieses mysteriöse Brüllen aus dem Westen. Das entfernte Geräusch klang wie der stöhnende Schrei eines riesigen, gequälten und zornigen Tiers oder wie die donnernden Hufe einer riesigen Herde Pflanzenfresser. Als er jedoch gen Westen schaute, sah er weder Staubwolken noch einen Strom schwarzer Tierleiber. Da war nur das Brüllen, das ihn sein Leben lang begleitet hatte.

Er schickte sich an, den felsigen Abhang in südlicher Richtung hinab zu steigen.

Der Boden wurde kahl. Es klammerten sich zwar noch immer Bäume ans Leben und trieben spiralige Wurzeln in Bodenspalten. Doch diese Bäumchen waren verkrüppelt und hatten stachlige Blätter, um ihr Wasser zu schützen. Er blieb unter einem dieser Bäume stehen. Die Äste und das Laub spendeten ihm praktisch keinen Schatten. Der Baum trug auch keine Früchte, und die Blätter, die er abzupfte, lagen ihm scharf und trocken im Mund. Dann versuchte er, eine kleine mausartige Kreatur mit langen Hinterbeinen zu fangen; bei der Vorstellung, in diesen weichen feuchten Körper zu beißen und die kleinen Knochen zu zermalmen, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Auf diesem steinigen Boden verhielt er sich jedoch ungeschickt und machte Lärm, sodass das Mauswesen ihm leicht entkam.

Nun änderte der Untergrund sich wieder und verwandelte sich in einen Abhang aus Geröll. Er breitete sich vor ihm aus und führte wie eine Straße in die Tiefen des trockenen Tals. Das Fortkommen wurde immer beschwerlicher; Capo geriet auf dem Geröll ins Rutschen und stürzte. Überhitzt, durstig, hungrig und verängstigt schrie er seinen Protest heraus, warf mit Geröll um sich, trampelte darauf herum und wirbelte es mit den Füßen auf. Aber das Land ließ sich von Capos Mätzchen nicht beeindrucken.

Derweil beobachtete das Chasma die Horde Anthropoiden, die sich den unebenen, tückischen Abhang hinunterquälte.

Solche Kreaturen hatte sie noch nie gesehen. Mit dem kalten Kalkül eines Räubers stellte sie Berechnungen bezüglich Schnelligkeit, Stärke und Fleischausbeute der potentiellen Beute an und kategorisierte sie. Hier war einer, der verwundet schien und leicht hinkte; hier war ein Junges, das sich an die Brust der Mutter klammerte; hier war ein Halbwüchsiger, der sich leichtsinnigerweise von der Horde entfernte.

Dieses Chasmaporthetes war eigentlich eine Art Hyäne. Dennoch sah die langbeinige, schlanke Gestalt eher wie ein Leopard aus, auch wenn sie nicht ganz so geschmeidig und schnell war wie die richtigen Katzen; ihre Art musste sich an die Bedingungen des im Entstehen begriffenen Graslands anpassen. Doch in diesem öden Tal hatte sie ein großes Revier. Sie war der ›Räuberhauptmann‹ und gut ausgestattet für ihr schreckliches Werk.

Für sie waren die Menschenaffen eine neue Beute in der Savanne. Sie wartete. Die Augen glühten wie eingefangene Sterne.

Schließlich gab Capo erschöpft auf und ließ sich auf den Boden fallen. Einer nach dem andern schlossen die Mitglieder seiner Horde zu ihm auf. Als sie schließlich alle vereinigt waren, ging die Sonne bereits unter. Sie setzte den Himmel in Brand und warf lange, dunkle Schatten auf den Boden dieser geröllübersäten Schüssel.

Eine Art dumpfer Unentschiedenheit tobte in Capo. Sie durften nicht hier im freien Gelände bleiben; sein Körper sehnte sich danach, auf einen Baum zu klettern und aus den Ästen ein behagliches, warmes und sicheres Nest zu bauen. Jedoch gab es hier weder Bäume noch Sicherheit. Auf der anderen Seite konnten sie das Tal auch nicht im Dunklen durchqueren. Und sie hatten alle Hunger und Durst und waren erschöpft.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Also tat er gar nichts.

Die Horde zerstreute sich. Jeder folgte seinen eigenen Instinkten. Finger hob einen runden faustgroßen Stein auf, vielleicht in der Hoffnung, ihn irgendwann als Nussknacker zu verwenden. Doch dann kroch ein Skorpion unter dem Stein hervor, und Finger floh mit einem Schrei.

Wedel saß allein mit dem Rücken zum Rest der Horde und war in irgendeine Beschäftigung versunken. Capo schlich sich so leise wie möglich auf dem Geröll an.

Wedel hatte einen Termitenhügel gefunden. Er saß davor und stocherte unbeholfen mit Stöcken darin herum. Bei Capos Anblick kauerte er sich kreischend zusammen. Capo versetzte ihm die obligatorischen festen Schläge auf Kopf und Schultern, mit denen Wedel ohnehin schon gerechnet hatte. Er hätte seinen Fund den anderen nämlich durch einen Ruf anzeigen sollen.

Capo riss einen Strauch auseinander. Die Zweige waren dürr und krumm, und als er einen Zweig entlaubte, indem er ihn durch den Mund zog, rissen die harten stachligen Blätter ihm fast die Lippen auf. Aber das musste genügen. Er setzte sich neben Wedel. Dann steckte er den Zweig in einen Riss im Termitenhügel und schraubte ihn tief hinein. Ideal war das nicht; der Stock war zu kurz und krumm, um ein optimales Ergebnis zu erzielen, aber etwas anderes hatte er nicht. Er drehte den Stock und wartete geduldig. Dann zog er ihn Zentimeter um Zentimeter heraus. Am Stock klebten Termiten-Soldaten, die ausgeschwärmt waren, um die Kolonie vor diesem Eindringling zu schützen. Capo achtete darauf, dass er diese Fracht nicht abstreifte. Dann zog er sich den Stecken durch den Mund und genoss einen Mundvoll süßes feuchtes Fleisch.

Als die anderen sahen, was dort vorging, scharten sie sich um Capo, und die Älteren fertigten auch Stöcke zum Stochern an. Alsbald etablierte sich eine Hackordnung, die durch Tritte, Schläge, Schreie und ›taktisches‹ Kämmen gefestigt wurde. Die ranghöheren Männchen und Weibchen versammelten sich gleichberechtigt um den Hügel, während die Jungen, die ohnehin nicht begriffen, was hier los war, ausgeschlossen wurden. Capo kümmerte das aber nicht. Er konzentrierte sich nur darauf, die Stellung am Hügel zu halten und labte sich an den Termiten.

Die Termiten waren uralte Geschöpfe, deren komplexe Gesellschaft das Ergebnis einer eigenen langen Entwicklungsgeschichte war. Dieser Hügel war schon alt und aus Lehm errichtet worden, der sich hier abgelagert hatte, als vereinzelte Wolkenbrüche das Tal zeitweise überflutet hatten. Der steinharte Panzer schützte die Termiten vor den Zudringlichkeiten der meisten Tiere – nicht aber vor diesen Menschenaffen.

Capos Werkzeugeinsatz – die Termiten-Angelruten, die Hammer-Steine, die Blätter, die er zu Schwämmen zerkaute, um Wasser aus Hohlräumen zu ziehen, und sogar die kleinen zahnstocherartigen Stöckchen, mit denen er manchmal Zahnpflege betrieb – schien auf einem hohen Niveau zu erfolgen. Er wusste, was er erreichen wollte, und er wusste auch, welche Art Werkzeug er brauchte, um es zu erreichen. Er merkte sich den Lagerort der Lieblingswerkzeuge wie die Hammer-Steine und entschied, welches Werkzeug für welchen Zweck am besten geeignet war – zum Beispiel musste er in Abhängigkeit von der Schlaghöhe das Gewicht des Hammers kalkulieren. Und er begnügte sich nicht damit, einen handlichen Stein zu benutzen, den er irgendwo gefunden hatte; er änderte die Werkzeuge auch, wie diese Termiten-Angelrute.

Dennoch war er nicht mit einem menschlichen Handwerker zu vergleichen. Die Änderungen, die er vornahm, waren gering: Die nach Gebrauch weggeworfenen Werkzeuge wären nur schwer von den Erzeugnissen der unbeseelten Welt zu unterscheiden gewesen. Die Handlungen, mit denen er die Werkzeuge fertigte, entstammten dem normalen Repertoire wie Beißen, Entlauben und Steine werfen. Niemand hatte wirklich neue Abläufe erfunden, wie das mit Lehm werfen eines Töpfers oder die Feinmotorik eines Holzschnitzers. Er benutzte ein Werkzeug – und nur eins – für einen ganz bestimmten Zweck. Es kam ihm nie in den Sinn, dass man eine Termiten-Angelrute auch als Zahnstocher verwenden könne. Wenn er einmal ein funktionierendes Design gefunden hatte, verbesserte er die Werkzeuge nicht mehr. Und selbst wenn er – durch einen unwahrscheinlichen Zufall – im Lauf seines Lebens ein neues Werkzeug entwickelt hätte, dann hätte dieses Werkzeug, und wäre es noch so gut gewesen, sich nur sehr langsam in seiner Gemeinschaft durchgesetzt. Es hätte vielleicht sogar Generationen gedauert. Die Lehre, also das Konzept, dass man den Bewusstseins-Inhalt von jemand anders durch Ausprobieren und Vorführung zu formen vermochte, musste erst noch entdeckt werden.

Deshalb war Capos Werkzeugsatz extrem beschränkt und sehr konservativ. Schon vor fünf Millionen Jahren hatten Capos Vorfahren, Geschöpfe einer anderen Art, Werkzeuge benutzt, die seinen kaum nachstanden. Er war sich nicht einmal der Tatsache bewusst, dass er überhaupt Werkzeug benutzte.

Und doch war Capo, der fleißig arbeitete, der wusste, was er wollte, der das geeignete Material auswählte, um sein Ziel zu erreichen und der die Welt um sich herum neu erschuf und formte, der bislang Klügste in der langen Ahnenreihe seit Purga. Es war, als ob ein Feuer in seinen Augen, im Bewusstsein und in den Händen schwelte – ein Feuer, das bald hell auflodern würde.

Als die Sonne hinterm Horizont verschwand und es dunkel wurde im Tal, drängten die Menschenaffen sich zusammen. Missmutig stießen, schubsten und schlugen sie sich und schrien sich gegenseitig an. Sie gehörten nicht hierher. Sie hatten keine Waffen, mit denen sie sich zu verteidigen und kein Feuer, mit dem sie die Tiere abzuschrecken vermochten. Sie hatten nicht einmal den Instinkt, sich ab Sonnenuntergang, wo die Stunde der Räuber schlug, ruhig zu verhalten. Alles, was sie hatten, war der gegenseitige Schutz und die große Anzahl – die Hoffnung, dass es einen anderen erwischte und nicht mich.

Capo vergewisserte sich, dass er im Mittelpunkt der Horde war, umgeben von den kräftigen Leibern der anderen Erwachsenen.

Das junge Männchen namens Elefant hatte keinen allzu großen Selbsterhaltungstrieb. Und seine Mutter, die irgendwo in der Menge steckte, war zu sehr mit ihrem jüngsten Kind, einem Weibchen beschäftigt. Elefant spielte im Moment eine Nebenrolle. Er hatte das Pech, im falschen Alter zu sein: Er war schon zu alt, um von den Erwachsenen beschützt zu werden und noch zu jung, um sich einen Platz in der sicheren Mitte zu erkämpfen.

Er wurde an den Rand der Horde gedrängt und versuchte sich dort einzurichten. Er fand einen Platz in der Nähe von Finger, einem Cousin. Im Gegensatz zu den weichen Nestern, an die er gewöhnt war, war der Boden hier hart und trocken; dennoch gelang es ihm, eine flache Mulde auszuheben. Er schmiegte sich mit dem Bauch an Fingers Rücken.

Er war noch so jung, dass er sich nicht einmal der Gefahr bewusst war, in der er schwebte. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.

Später, es war schon dunkel, wurde er durch ein leises Zwicken an der Schulter geweckt. Es war fast sanft, als ob er gekämmt würde. Er regte sich etwas und kuschelte sich noch enger an Fingers Rücken. Doch dann spürte er einen heißen Atem auf der Wange, hörte ein schnurrendes Grollen wie ein Felsbrocken, der einen Abhang hinunterkullerte, und roch einen Atem, der nach Fleisch stank. Er war sofort hellwach. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schrie auf und krümmte sich.

Die Schulter war aufgerissen und schmerzte. Er wurde rückwärts geschleift wie ein Ast, der von einem Baum abgerissen wurde. Er erhaschte einen letzten Blick auf die Horde. Alle waren aufgewacht, schrien panisch und fielen bei ihren Fluchtversuchen übereinander. Dann wirbelte der Sternenhimmel über ihm, und er wurde so hart auf den Boden geschleudert, dass ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde.

Eine schlanke Gestalt, deren Silhouette sich gegen den blau-schwarzen Himmel abzeichnete, beugte sich über ihn. Er spürte, wie eine muskulöse Brust sich fast liebevoll an ihn schmiegte. Da waren ein Fell mit einem Brandgeruch, ein nach Blut riechender Atem und zwei gelbe Augen, die über ihm leuchteten.

Dann wurde er gebissen – in die Beine und die Niere. Es waren scharfe, fast skalpellartige Stiche, und er wand sich unter dem feurigen Schmerz. Er wälzte sich kreischend herum und versuchte zu fliehen. Aber die Beine versagten den Dienst, denn die Sehnen waren durchtrennt. Nun spürte er wieder dieses Zwicken am Hals. Er wurde von dem Fellding aufgehoben und spürte, wie spitze Zähne sich ihm ins Fleisch gruben. Zuerst wehrte er sich und scharrte mit den Händen im Geröll, doch dadurch rissen die Wunden am Hals nur weiter auf, und der Schmerz wurde stärker.

Er gab auf. Er hing schlaff im Maul der Chasma und schlug mit dem Kopf und den verletzten Beinen auf den unebenen Boden. Die Gedanken verflüchtigten sich. Er hörte nicht mehr die lauten Schreie der Horde. Er war nun allein, allein mit dem Schmerz, dem metallischen Geruch seines eigenen Bluts und den stetigen Schritten der auf Samtpfoten einher schreitenden Chasma.

Vielleicht war er auch für eine Weile bewusstlos.

Er fiel auf den Boden. Er fiel nicht hart, aber alle Wunden schmerzten. Winselnd versuchte er sich hochzustemmen. Der Boden war mit Geröll übersät wie der Ort, von dem er gekommen war, war aber mit Fellbüscheln bedeckt und stank nach Chasmas.

Und nun sprangen in der Dunkelheit kleine schwarze Gestalten um ihn herum. Sie bewegten sich schnell, aber auch etwas tapsig. Er spürte Schnurrhaare über sein Fell streichen und spitze Zähnchen in den Fußknöcheln und Handgelenken. Das waren Chasma-Junge. Er stieß einen trotzigen Schrei aus und schlug blindlings um sich. Dabei erwischte er ein warmes kleines Bündel, das jaulend von den Füßen gerissen wurde.

Ein kurzes bellendes Brüllen ertönte: Das war die Chasma-Mutter. In plötzlicher Panik versuchte er davon zu kriechen.

Die Jungen kläfften aufgeregt, als sie die kurze Verfolgungsjagd beendet hatten. Und nun fraßen sie ihn ernstlich an und schlugen ihm die Zähne in den Rücken, das Gesäß und den Bauch. Er rollte sich auf den Rücken, zog die Beine an die Brust und schlug in die Luft. Aber die Jungen waren ebenso schnell wie zornig und hartnäckig; bald hatte einer ihm die Zähne in die Backe geschlagen und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an ihn, um ihm das Gesicht aufzureißen.

Mit einem neuerlichen Brüllen verscheuchte die Mutter die Jungen. Wieder versuchte Elefant zu fliehen. Wieder holten die Jungen ihn ein und brachten ihm ein Dutzend weitere kleine, aber schwächende Wunden bei.

Ohne die Jungen hätte das Chasma kurzen Prozess mit Elefant gemacht. Doch sie wollte ihnen die Gelegenheit geben, zu üben, eine Beute zu jagen und zu erlegen. Wenn sie älter wären, würden sie ihre Beute selbst zur Strecke bringen und zerfleischen; später würde die Mutter ihre Beute fast unverletzt wieder laufen lassen und die Jungen auf sie ansetzen. Das war eine Art praxisbezogenes Lernen, hatte aber genauso wenig mit menschlicher Ausbildung zu tun wie bei den Menschenaffen: Es war ein angeborenes Verhalten, das diese kluge Fleischfresser-Spezies entwickelt hatte, um die Jungen mit den Fertigkeiten auszustatten, die sie für die Jagd brauchten.

Während der ›Unterricht‹ weiterging, war Elefant noch bei Bewusstsein. Ein Funken Entsetzen und Sehnsucht, der in einer zerfetzten Hülle aus Blut, Fleisch und Gewebe eingebettet war. Das älteste Junge knabberte seine Zunge an, die ihm aus dem zerstörten Mund hing.

Aber die Jungen waren noch zu klein, um Elefant allein den Garaus zu machen.

Schließlich griff die Mutter ein. Das Letzte, was Elefant hörte, als ihr Maul sich um seinen Kopf schloss – er spürte spitze Zähne am Kopfumfang wie eine Dornenkrone –, war dieses entfernte schnurrende Grollen.

Am nächsten Morgen wussten alle, dass es Elefant erwischt hatte.

Capo schaute fasziniert auf den mit Haaren übersäten Geröllabschnitt, wo Elefant kurz Widerstand geleistet hatte, auf die Linie aus blutigen Pfotenabdrücken, die schon eingetrocknet und braun verfärbt waren und in der Ferne verschwanden. Er verspürte ein vages Bedauern beim Verlust von Elefant. Es verwirrte ihn, dass er diesen unbeholfenen Jungen nie mehr wieder sehen würde, der sich beim Kämmen und Knacken von Palmnüssen so ungeschickt angestellt hatte.

Doch der Tag war noch nicht vorbei, als nur Elefants Mutter sich noch an ihn erinnerte. Und wenn sie irgendwann starb, würde niemand mehr wissen, dass er jemals gelebt hatte. Er würde im großen Dunkel verschwinden, das all seine Vorfahren verschlungen hatte.

Elefant hatte den Preis für das Überleben der Horde gezahlt. Capo verspürte eine kalte Erleichterung. Ohne zu zögern bewegte Capo sich den Anhang hinunter und betrat die Salzebene. Er verzichtete sogar auf die Aufforderung an die Horde, ihm zu folgen.

III

Am nächsten Tag mussten sie das Salz durchqueren. Unter einem ausgewaschenen, blauweißen Himmel erstreckte die Pfanne sich fast bis zum Horizont, wo Capo Hügel, Wald und Feuchtgebiete ausmachte. Es war, als ob diese graue Schicht ein Makel wäre, mit dem die Welt behaftet war.

Die Salzschicht, die harten grauen Lehm bedeckte, war dünn. Aber sie hatte eine Textur und war hier und da mit weiten konzentrischen Kreisen markiert, die um zentrale Knoten zentriert waren. An einer Stelle war das Salz von einer unterirdischen Quelle zu großen Blöcken aufgeworfen worden, über die die Menschenaffen hinwegklettern mussten.

Aber es wuchs nichts im Salz. Es gab nicht einmal irgendwelche Spuren. Und es regte sich nichts außer den Menschenaffen: weder Kaninchen noch Nagetiere, nicht einmal Insekten. Der Wind strich stöhnend über diese tote Landschaft, ohne dass sich ihm Bäume, Büsche oder Gräser entgegengestellt hätten, die er zum Rauschen anzuregen vermocht hätte.

Dennoch musste Capo weitergehen, denn er hatte keine andere Wahl.

Es dauerte Stunden, die Salzpfanne zu durchqueren. Doch schließlich merkte Capo, dem schon die Füße und Hände wehtaten, dass er eine Steigung erklomm. Auf dem Kamm des Höhenzugs war ein Waldgürtel – auch wenn der Wald dicht war und nicht sehr einladend wirkte.

Capo hielt inne und musterte den Wald. Er war überhitzt und Beine und Füße bluteten aus einem Dutzend kleiner Wunden. Dann gab er sich einen Ruck und drang ins grüne Dämmerlicht des Waldes ein.

Der Boden war unter einem Gewirr aus Wurzeln, Ästen, Moos und Laub verborgen. Überall wuchs büschelweise wilder Sellerie. Obwohl es gegen Mittag war, war die Luft hier kühl und feucht. Es war diesig wie bei einem Morgennebel. Die Bäume waren glitschig, und die Flechten und das Moos hinterließen lästige grüne Streifen auf den Handflächen. Die Feuchtigkeit schien sogar durchs Fell zu dringen. Nach der trockenen Salzpfanne genoss er jedoch das tröstliche grüne Geflecht um sich herum und verschlang die Blätter, Früchte und Pilze, derer er habhaft wurde. Und er fühlte sich vor Räubern sicher. Es gab sicherlich nichts, was der hungrigen, müden Horde in diesem grünen Wald gefährlich zu werden vermochte.

Plötzlich sah er direkt vor sich massige schwarzbraune Gestalten. Sie waren durch den grünen Schleier aber nur schemenhaft zu sehen. Er erstarrte.

Ein mächtiger Arm, der dicker war als Capos Schenkel, griff nach einem Ast. Muskeln arbeiteten in einer massigen Schulter, und der Ast wurde mit der gleichen Leichtigkeit zerbrochen, mit der Capo einen Zweig abbrach, um die Zähne zu reinigen. Große Finger rissen Blätter von den Ästen und stopften sie in ein riesiges Maul. Der Kopf arbeitete, als das große Tier kaute: Muskelstränge wirkten auf Kopf und Kiefer gleichzeitig.

Diese Kreatur war ein Menschenaffen-Männchen, wie Capo eins war – aber es war doch nicht wie Capo. Das große Männchen betrachtete die seltsamen, struppigen kleinen Menschenaffen ohne Neugier. Es wirkte mächtig und bedrohlich. Aber es bewegte sich nicht. Das Männchen und ein kleiner Clan aus Weibchen und Kindern saßen nur herum und fraßen das Laub und den wilden Sellerie, der den Waldboden bedeckte.

Das war ein Gorilla: ein entfernter Verwandter von Capo. Seine Art hatte sich schon vor einer Million Jahren von der Hauptlinie der Menschenaffen abgespalten. Diese Trennung war erfolgt, als der Wald sich gelichtet und die in ihm lebenden Populationen isoliert hatte. Nachdem sie in die Gipfelregionen zurückgedrängt worden waren, hatten diese Menschenaffen ihre Ernährung auf Blätter umgestellt, die selbst hier im Überfluss vorhanden waren, und waren so groß geworden, dass sie der Kälte zu widerstehen vermochten. Zugleich hatten sie sich eine eigentümliche Grazie bewahrt und waren in der Lage, sich lautlos durch diesen dichten Wald zu bewegen.

Obwohl Gorilla-Populationen sich später wieder an die Bedingungen im Tiefland anpassten und lernten, auf Bäume zu klettern und sich von Früchten zu ernähren, hatten sie ihren evolutionären Sinn im Grunde schon erfüllt. Sie hatten sich auf ihre jeweiligen Umgebungen spezialisiert und gelernt, sich Nahrungsquellen zu erschließen, die so gut geschützt waren – mit Widerhaken, Stacheln und Dornen –, dass niemand sonst sich dafür interessierte. Sie aßen sogar Nesseln. Dafür hatten sie ein raffiniertes Verfahren entwickelt, bei dem sie Blätter von einem Stiel abrissen, die scharfen Blattränder umklappten und das ganze Paket in den Mund steckten.

Wie sie im idyllischen Bergwald saßen und genüsslich ihre Blätter aßen, würden sie fast unverändert bis ins Menschenzeitalter überleben, wo sie schließlich vom großen Sterben dahingerafft werden sollten.

Als er sich vergewissert hatte, dass die Gorillas keine Gefahr bedeuteten, verzog Capo sich und führte die anderen weiter durch den Wald.

Schließlich trat Capo auf der anderen Seite aus dem Wald heraus.

Sie hatten das trockene Tiefland-Becken überwunden. Als er in südlicher Richtung über das Plateau schaute, das er erreicht hatte, erblickte er ein geröllübersätes Tal, das zu einem tiefer gelegenen Gelände abfiel. Und dort, jenseits des Tals, sah er auch das Land, in das er seine Hoffnung gesetzt hatte: Es lag höher als die Ebene, von der er ausgezogen war, aber mit reichlich Wasser gesegnet. Das Gebiet war mit schimmernden Seen durchsetzt, mit grünem Gras überzogen und mit Waldinseln gesprenkelt. Die schemenhaften Gestalten einer Herde Pflanzenfresser – Proboscidea vielleicht –, die majestätisch über die üppige Ebene wanderten.

Mit Triumphgeheul sprang er über Felsbrocken, trommelte auf den steinigen Boden und schiss explosiv, wobei er die Felsen mit seinem Gestank imprägnierte.

Die Begeisterung von Capos Horde hielt sich jedoch in Grenzen. Alle hatten Hunger und einen brennenden Durst. Capo war selbst erschöpft. Aber er führte trotzdem einen Freudentanz auf; er gehorchte einem gesunden Instinkt, dass jeder Erfolg, und sei er noch so klein, gefeiert werden müsse.

Nun hatte er jedoch eine solche Höhe erreicht, dass dieses ferne Dauer-Grollen aus dem Westen lauter geworden war. Mit verhaltener Neugier drehte Capo sich um und schaute in diese Richtung.

Von dieser hohen Warte aus vermochte er weit zu blicken. In der Ferne machte er eine Turbulenz aus, eine weiße Verwirbelung. Sie schien wie eine wallende Wolke überm Erdboden zu schweben. In Wirklichkeit sah er eine Art Luftspiegelung, ein weit entferntes Bild, das durch die Brechung der sich erwärmenden Luft direkt vor ihm zu stehen schien. Die wallende Wolke war indes real.

Was er da sah, war die Straße von Gibraltar, wo der mächtigste Wasserfall der Geschichte – mit der Energie und dem Volumen von tausend Niagarafällen – kaskadenartig über Klippen stürzte und sich in ein leeres Meeresbecken ergoss. Einst hatte die Ebene, aus der Capo emporgestiegen war, zwei Kilometer tief unter dem Meeresspiegel gelegen. Sie war der Boden des ausgetrockneten Mittelmeers.

Capo war in dem Becken geboren worden, das zwischen den Küsten Afrikas im Süden und der iberischen Halbinsel im Norden lag. Er war auch nicht weit von dem Punkt entfernt, wo ein schlauer Dinosaurier namens Lauscher vor langer Zeit an der Küste von Pangäa gestanden und aufs weite Tethys-Meer hinausgeschaut hatte. Nun hatte Capo das Bassin verlassen und befand sich in Afrika. Doch wenn Lauscher die Geburt von Tethys geschaut hatte, war Capo in gewisser Weise Augenzeuge seines Todes. Als der Meeresspiegel absank, war dieses letzte Fragment von Tethys vor Gibraltar gestaut worden. Das eingeschlossene Meer war verdunstet und hinterließ ein stellenweise fünf Kilometer tiefes Becken, das mit Salzpfannen durchsetzt war.

Durch die Klimaschwankungen stieg der Meeresspiegel aber wieder an, und das Wasser des Atlantiks durchbrach die Barriere von Gibraltar. Nun wurde das Meer wieder aufgefüllt. Capo musste jedoch nicht befürchten, dass eine riesige Flutwelle aus Westen über ihm zusammenschlug, denn nicht einmal tausend Niagarafälle vermochten ein Meer über Nacht aufzufüllen. Das durch die Meerenge von Gibraltar strömende Wasser flutete das Becken allmählich und erschuf mächtige Flüsse. Der alte Meeresboden verwandelte sich in feuchtes Marschland, wo die Vegetation langsam abstarb. Schließlich vereinigten die Flüsse sich und bedeckten den ganzen Boden.

Doch nach jeder Auffüllung sank der Meeresspiegel, und das Mittelmeer verdunstete wieder. Das geschah fünfzehn Mal in einer Million Jahren, der zeitlichen Klammer für Capos kurzes Leben. Der Meeresboden des Mittelmeers erlangte durch die aufeinander folgenden Austrocknungen eine komplexe Geologie mit einer Sandwichstruktur aus Schlamm und Salzpfannen.

Diese Strukturen hatten maßgebliche Auswirkungen auf das Gebiet, in dem Capo lebte – und auf seine Art. Vor der Austrocknung war die Sahara-Region dicht bewaldet und wasserreich gewesen und hatte vielen Affenarten eine Heimat geboten. Durch die Klimapumpe der Austrocknungen und den immer längeren Regenschatten, den der entfernte Himalaja warf, wurde die Sahara jedoch immer trockener. Die alten Wälder starben ab. Und mit ihnen zersplitterten die Affen-Gemeinschaften, wobei jede Teil-Population sich auf eine Reise zu einem neuen evolutionären Schicksal begab – oder in den Untergang.

Aber das Rumoren und Gibraltar waren zu weit entfernt, um irgendeine Bedeutung für Capo zu haben. Er wandte sich ab und stolperte zur Ebene hinab.

Schließlich überschritt er die Grenze zwischen nacktem Gestein und Vegetation. Er genoss das weiche grüne Gras unter den Knöcheln, während er sich zügig fortbewegte. Auch die anderen, die ihm folgten, freuten sich über den Kontrast zum harten leblosen Fels. Sie rollten sich auf dem Boden, streckten sich aus und wickelten sich in die langen Gräser.

Aber noch hatten sie die neue Heimat nicht erreicht. Ein ein paar hundert Meter breiter Abschnitt offener Savanne, mit Dornbüschen bewachsen, trennte sie vom nächsten Wald – und in der Ebene tat sich etwas.

Ein Rudel Hyänen fraß an einem Kadaver. Bei der massigen runden Form hatte es sich vielleicht um ein junges Gomphotherium gehandelt, das einem Chasma zum Opfer gefallen war. Die Hyänen schnappten nacheinander und knurrten sich gegenseitig an, während sie sich über das Fleisch hermachten. Sie hatten die Köpfe in den Bauch der Kreatur gesteckt, und die schlanken Leiber krümmten sich gierig beim Fressen.

Wedel und Finger schlossen zum im Gras kauernden Capo auf. Sie stießen leise Rufe aus, kämmten Capo mechanisch den Rücken und entfernten Staub und Steinchen. Die jüngeren Männchen respektierten seine Autorität noch. Aber Capo spürte ihre Ungeduld. Wie der Rest der Horde waren auch sie nach der unheimlichen Wanderung durch das offene Gelände erschöpft, durstig und hungrig und sehnten sich nach dem Schutz und dem Nahrungsangebot der Bäume. Und das untergrub Capos Autorität über sie. Die Spannung zwischen den drei Männchen war mit Händen zu greifen.

Aber es war eine Konfrontation, die fast lautlos ablief, denn die drei durften ihre Anwesenheit den Hyänen nicht verraten.

Während Capo noch zögerte, ergriff Wedel die Initiative und machte einen, zwei vorsichtige Schritte. Wegen dieses Ungehorsams versetzte Capo ihm einen derben Schlag gegen den Hinterkopf. Wedel fletschte aber nur die Zähne und entzog sich Capos Reichweite.

Die hohen Gräser wogten träge bei Wedels Durchgang, als ob er durch ein Meer aus Vegetation schwämme. Und nun stellte Wedel sich auf die Hinterbeine und schob sich mit Kopf, Schultern und Oberkörper übers Gras, um besser zu sehen. Er war ein schlanker aufrechter Schemen, der wie ein Schössling wirkte.

Die Hyänen waren noch immer mit ihrer fetten Beute zugange. Wedel duckte sich wieder im Gras und setzte den Weg fort.

Schließlich erreichte er die nächste Baumgruppe. Mit einer Mischung aus Verärgerung und Erleichterung sah Capo ihn eine hohe Palme erklimmen. Beine und Arme arbeiteten synchron wie Teile einer gut geölten Maschine. Als Wedel die Palme erklommen hatte, teilte er es den anderen mit einem leisen Ruf mit. Dann pflückte er Nüsse von der Palme und warf sie auf den Boden.

Einer nach dem andern eilten die Menschenaffen unter der Führung von Finger und dem Alpha-Weibchen Blatt durchs Gras auf das Wäldchen zu.

Sie wurden nicht von den Hyänen bedrängt, obwohl einige der Aasfresser die verwundbaren Menschenaffen witterten. Sie hatten das Glück, dass in den blutigen Kalkulationen der kleinen Hyänen-Hirne die Verlockung des unmittelbar verfügbaren Fleisches stärker war als die Versuchung, diese staubigen und zerfleddert wirkenden Primaten anzugreifen.

Capo versuchte das Beste daraus zu machen. Er knuffte und schlug die anderen Männchen, als ob die ganze Sache seine Idee gewesen wäre und er sie auf dieser kurzen Wanderung führte. Die Männchen ließen sich das gefallen, aber er spürte dennoch eine Anspannung bei ihnen, einen subtilen Mangel an Respekt, der ihm Unbehagen bereitete.

Beim Betreten des Waldes schwärmten die Menschenaffen aus.

Capo schob sich durch eine Reihe schlanker junger Bäume und stieß auf einen verlandeten See: eine türkisfarbene Wasseroberfläche, die vom tröstlichen Grün-Braun des Waldes eingerahmt wurde. Er lief zum Ufer, tauchte die Schnauze in die kühle Flüssigkeit und trank.

Als die Menschenaffen den See erreichten, wateten ein paar aufrecht hinein, bis sie hüfthoch im Wasser standen. Dann schöpften sie mit den Händen blaugrüne Algen aus dem Wasser und schluckten sie hinunter: Diese Art der Nahrungsaufnahme war auch einer der Vorzüge des aufrechten Gangs. Ein paar Junge tauchten unter und säuberten das staubverkrustete Fell; dabei kreischten und spritzten sie wie verrückt. Eine Vogelschar, die friedlich in der Mitte des Sees getrieben war, wurde aufgeschreckt und schwang sich mit einem lauten Rauschen in die Lüfte.

Ein paar der jüngeren Männchen hatten sich am Seeufer versammelt, darunter auch Wedel und Finger. Wedel hatte einen Kieselstein gefunden, den er vielleicht als Hammer-Stein zu verwenden mochte, und spielte mit ihm herum. Hin und wieder warfen die Männchen Capo verstohlene Blicke zu. Ihre Körpersprache kündigte eine Verschwörung an.

Capo schürzte die Lippen und spuckte eine Erdbeere aus.

Er hatte eine sehr hohe soziale Intelligenz und wusste, was die jüngeren Männchen gerade dachten. Er hatte sie zwar in Sicherheit gebracht, aber das genügte nicht: Dass er vor der Überwindung dieser letzten grasbewachsenen Hürde gezögert hatte, hatte bei den anderen keinen guten Eindruck gemacht. Um seine Autorität wiederherzustellen, musste er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Er konnte zum Beispiel ein paar Äste abreißen und am Seeufer entlang stolzieren; das Laub, das Wasser und das Licht wären eine eindrucksvolle Kulisse. Dann würde er schwere Kämpfe bestehen müssen…

Aber vielleicht war jetzt noch nicht die Zeit dafür.

Er beobachtete, wie Mütter vorsichtig ihre Kinder badeten und junge Männchen spielerisch miteinander rangen, während Gliedmaßen und Haut sich von der Hitze und Trockenheit der Salzpfanne erholten. Das hatte noch Zeit – sollten sie sich erst einmal von der Wanderung erholen, ehe sie wieder zur Tagesordnung übergingen.

Zumal er sich im Moment auch nicht in der Lage fühlte, sich auf eine neue Auseinandersetzung einzulassen. Die Glieder schmerzten ihn, die Haut war wund und mit Kratzern und Rissen übersät, und der Magen, der an eine stetige Versorgung mit Nahrung und Wasser gewöhnt war, knurrte wegen der unregelmäßigen Nahrungsaufnahme. Er war müde. Er rieb sich die Augen, gähnte und gestattete sich einen explosiven Rülpser. Capo fand, dass der Ernst des Lebens noch für eine Weile warten konnte. Erst einmal musste er sich ausruhen.

Mit dieser Entschuldigung wandte er sich vom Wasser ab und lief in den Wald.

Er fand einen Kapokbaum, der mit dicken reifen Früchten behängt war. Jedoch war der Kapok mit langen, spitzen Dornen bewehrt, um die Früchte zu schützen. Also riss er zwei glatte Äste vom Baum ab, legte sie sich unter die Füße und umklammerte die Äste mit den Zehen. Dann erklomm er mit den Ästen unter den Füßen den Baum und ging über die Dornen hinweg, als ob sie gar nicht existierten. Das Klettern verlieh ihm neue Spannkraft – dafür war er geschaffen; von ihm aus hätte er in seinem ganzen Leben keinen Fuß mehr auf den Boden setzen müssen.

Als er einen dichten Fruchtstand erreicht hatte, riss er wieder einen Ast ab und legte ihn über die Dornen. Dann setzte er sich darauf und langte zu.

Von hier aus sah er, dass der Wald sich um den Seitenarm eines Flusses zog, der durch diese vegetationsreiche Sahara nach Süden ins Landesinnere strömte. In der Zukunft würde diese Nil-Arterie durch tektonische Verschiebungen ihren Lauf ändern und nach Süden umgeleitet werden, sodass sie die Sahara nicht mehr durchquerte. Schließlich würde der Fluss in Westafrika in die Bucht von Benin münden – die Menschen würden ihn ›Niger‹ nennen: Selbst Flüsse wurden von der Zeit geformt, während wie im Traum das Land sich hob und senkte, während Berge aufgetürmt und abgetragen wurden.

Fürs Erste führte dieser Fluss jedoch als ein grüner Korridor ins Landesinnere. Die Horde konnte diesem Weg in den Wald folgen und würde sich dabei immer weiter von der Küste entfernen…

Ein durchdringender Schrei hallte durch den Wald. Es war ein Schrei mit einer einzigen Bedeutung: Hier lauert Gefahr. Capo spie einen Mund voll Früchte aus und kletterte hastig auf den Boden.

Bevor er den See noch erreichte, hatte er das Problem bereits erfasst. Er vermochte sie zu riechen. Und bei genauerem Hinsehen erkannte er auch die Spuren, die sie bei ihrem Durchzug hinterlassen hatten: Schalenfetzen von Früchten, die auch unter diesem Kapok lagen, und Anzeichen von Nestern hoch in den großen Bäumen.

Andere.

Sie sprangen von den Bäumen und brachen aus dem Unterholz. Es waren viele, erstaunlich viele – fünfzig bis sechzig, mehr als Capos Sippe jemals umfasst hatte. Die Männchen kamen ans Ufer. Sie warfen sich mit gesträubtem Fell in wilde Posen, trommelten auf Wurzeln und Äste und sprangen auf den untersten Ästen der Bäume umher.

Da hatten sie so viel auf sich genommen, um hierher zu gelangen und mussten nun feststellen, dass dieser Wald schon besetzt war. Capo wurde das Herz schwer – er hatte versagt.

Doch Capos Horde reagierte. Obwohl sie schwach und das Fell zu nass war, um sich zu sträuben, warfen die Männchen und sogar ein paar Weibchen sich dennoch in Positur. Capo stellte sich geschwind vor seine Horde und warf sich auch in Pose, wobei er seine ganze lange Erfahrung bemühte, um eine möglichst spektakuläre und einschüchternde Show zu bieten.

Die beiden Horden nahmen frontal Aufstellung und bildeten zwei Mauern aus kreischenden und herumhampelnden Menschenaffen. Sie gehörten derselben Spezies an und waren äußerlich auch nicht voneinander zu unterscheiden. Aber sie rochen die Unterschiede: auf der einen Seite den subtilen, vertrauten ›Stallgeruch‹, auf der anderen den Gestank von Fremden. Diese Posen kündeten von einem echten Fremdenhass und transportierten eine unmissverständliche Bedrohung. Das war die Kehrseite der sozialen Bindungen dieser klugen Tiere: Wenn man in eine Gruppe eingebunden war, dann waren alle anderen Feinde, nur weil sie nicht dazu gehörten.

Capo hatte Angst. Ihm wurde nämlich schnell bewusst, dass diese anderen nicht daran dachten, nachzugeben. Stattdessen wurde ihr Gehampel immer wilder, und das große Alpha-Männchen marschierte zielstrebig auf seine Gruppe zu.

Capo wusste, was nun kommen würde. Ein ›totaler‹ Krieg würde es zwar nicht werden. Die Stärksten würde es zuerst erwischen, die Männchen und die hochrangigsten Weibchen, und die Kinder würden vielleicht einen zarten Happen für diese Fremden abgeben. Einer nach dem andern. Es würde ein langsames blutiges Sterben geben, das erst mit dem Tod des Letzten endete. Ein derart systematisches Gemetzel war ein neuer Schrecken für die Welt, ein Schrecken, den von allen Tieren der Erde nur die Menschenaffen zu ersinnen und inszenieren vermochten.

Capo wusste, dass sie hier nicht zu bleiben vermochten. Vielleicht konnten sie weitergehen und die Wanderung über die Ebene fortsetzen; vielleicht würde es Capo doch noch gelingen, seine Horde in einen leeren Wald zu führen, wo sie in Sicherheit waren.

Doch im tiefsten Innern wusste er intuitiv die Wahrheit. In dieser Welt der schrumpfenden Wälder hatten die überlebenden Tiere sich schon in den restlichen Inseln der alten Vegetation zusammengedrängt. Und das war auch der Grund, weshalb die anderen einen so harten Abwehrkampf führten. Sie waren schon zu viele für dieses schrumpfende Wäldchen und hatten selbst keine Ausweichmöglichkeiten mehr.

Hier war ihres Bleibens nicht länger. Sie hatten keine andere Wahl, als zu gehen.

Mit vielen Kratzfüßen und ausgiebigem Astgefuchtel inszenierte er den subtilen Tanz, mit dem er ausdrückte, dass er seine Horde von diesem Ort wegführen wollte, zum Waldrand und zur Savanne zurück. Ein paar Weibchen taten es ihm gleich. Blatt und andere, die von diesen wilden Fremden eingeschüchtert waren und die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannt hatten, sammelten die Kinder ein und traten den Rückzug an. Selbst Wedel, eins der rebellischen jungen Männchen, machte verwirrt kehrt.

Finger wollte das aber nicht akzeptieren.

Er hatte mit einem Hammer-Stein auf eine Luftwurzel geschlagen und seinen Beitrag zum Tohuwabohu geleistet. Nun wandte er sich von den anderen ab und stürzte sich mit einem Hechtsprung auf Capo. Er trat Capo in den Rücken, warf ihn zu Boden und bearbeitete den Kopf des Anführers mit den Fäusten. Dann rollte er sich weg und stürzte sich mit dem gleichen Zorn aufs größte der gegnerischen Männchen. Plötzlich kippte der ohnehin schon schrille Lärm zur Kakophonie, und die Luft wurde vom Gestank nach Blut und in Panik abgesondertem Kot erfüllt.

Capo rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Der Kopf schmerzte. Die anderen Männchen zogen sich mit Gebrüll und Geschrei zurück.

Finger erging es freilich schlecht. Es war ihm zwar gelungen, das große Männchen zu Boden zu werfen. Doch nun stürzten die anderen sich ins Getümmel und nahmen Finger in die Mangel. Sie zerrten ihn von seinem Gegner weg und nahmen ihn in einen Klammergriff, als ob er ein gefangener Affe wäre; er blutete schon aus vielen Bisswunden. Und dann warfen sie ihn auf den Boden. Seine Schreie wurden bald zu einem in Blut erstickten Gurgeln, und Capo hörte das grässliche Reißen von Fleisch, das Knacken von Knochen und das Reißen von Bändern.

Fingers Attacke war indes eine Art Lackmustest gewesen. Wenn jemand diese anderen hätte angreifen müssen, dann wäre es Capo gewesen. Capo wusste, dass er schon verloren hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, wenn er diesen Tag überlebte: Wenn die anderen ihn nicht töteten, dann würden es seine ehemaligen Untergebenen tun.

Trotz der Schande und Niederlage nahm Capo den Sammel-Tanz wieder auf und versuchte seine Horde zum Mitkommen zu bewegen. Mehr vermochte er nicht zu tun.

Doch nicht einmal jetzt reagierten alle. Ein paar spien ihm ihre Angst und Trotz ins Gesicht und schlugen sich in die Büsche, um auf eigene Faust durchzukommen. Er würde sie nie wieder sehen.

Das junge Weibchen Heulen schaute ihre Horde mit vor Angst geweiteten Augen an – und wechselte dann die Seiten. Sie würde zwar Prügel von den anderen Weibchen beziehen, aber vielleicht war sie für die Männchen so attraktiv, dass sie am Leben bleiben durfte. Vor allem dann, wenn sie bei den harten Paarungen, die sie würde erdulden müssen, schnell schwanger wurde.

Diejenigen, die Capo die Treue hielten, setzten sich schließlich in Bewegung und gingen zum Waldrand zurück – doch erst, als Wedel auf Capos Tanz antwortete.

Capo verstand natürlich. Sie folgten Wedel, nicht Capo.

Sie kehrten zum Waldrand zurück, ohne dass sie verfolgt wurden; zumindest fürs Erste nicht. Betrübt und voller Ungewissheit pflückten sie Blätter und Früchte ab.

Es kam Capo schwer an, wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen zu sein. Er bemerkte den blutigen Kadaver des jungen Gomphotheriums, der noch immer dalag. Er sonderte sich von den anderen ab, kletterte auf einen Baum und baute sich ein provisorisches Nest.

Wo Finger nun tot war, wusste er nicht, wer ihm als größter Herausforderer erwachsen würde.

Wedel vielleicht? Möglicherweise vermochte Capo aber eine starke Position zu behaupten, indem er sich mit einem anderen Männchen gegen die anderen verbündete. Er war vielleicht nicht mehr der Ober-Boss, doch hätte er als Königsmacher eine zentrale Stellung inne und würde auch weiterhin die Privilegien der Macht genießen – vor allem Paarungs-Privilegien. Und vielleicht gelang es ihm sogar, auf diese Weise auf Umwegen wieder an die Spitze zu gelangen. Der schlaue Kerl dachte sogar noch weiter und erwog wechselnde Bündnisse und Intrigen…

Seine Gedanken lösten sich auf. Er wurde von der Reise überwältigt, die er gemacht hatte, und von der brutalen Enttäuschung, die an ihrem Ende auf ihn gewartet hatte. Plötzlich schien nichts mehr eine Rolle zu spielen, nicht einmal die raffinierten Machtspiele, mit denen er in der Vergangenheit so viel erreicht hatte.

Die anderen schienen seine Stimmung zu spüren. Sie mieden seine Gesellschaft, kämmten ihn nicht mehr und schauten ihn nicht einmal mehr an. Seine Niederlage war durch den Tod von Finger zwar hinausgezögert worden, aber sie war dennoch unvermeidlich. Capos Werk war vollbracht, sein Leben fast vorbei. Sein Imponiergehabe hatte er abgelegt.

Doch dann kam Blatt zu ihm. Sie legte sich neben ihm ins Nest und kämmte ihn sanft, wie sie es getan hatte, als sie beide jung gewesen waren. Plötzlich war die Welt wieder schön und voller Möglichkeiten.

Wedel hatte kein Interesse an Capo, weder auf die eine noch auf die andere Art. Er hatte etwas anderes im Sinn.

Auf den Knöcheln ging er ein paar Schritte hinaus ins von der Sonne beschienene Grün. Wie immer war er unsicher auf den Füßen. Jedoch hatte er durch den langen Hals eine Plattform, von der aus er das Land sondierte und Räuber und andere Gefahren zu erkennen vermochte.

Wedel duckte sich wieder ins Gras und pirschte sich vorsichtig an den Kadaver des Gomphotheriums heran. Die Hyänen hatten ganze Arbeit geleistet. Der Körper sah aus, als sei er explodiert: Gliedmaßen und Rippen waren auf dem Boden verstreut, blutige Knochen glänzten, ein fleischloser Kopf schaute ihn aus leeren Augenhöhlen anklagend an, und zerbrochene und angenagte spatenartige Stoßzähne lagen herum. Er durchwühlte die Hautfetzen und von den Hyänen übrig gelassene Fleischbrocken, aber die Ausbeute war gering. Die ›Putztruppen‹ der Savanne hatten das Fleisch des Rüsseltiers effizient verwertet. Die Hyänen hatten sogar die weichen Rippen geknackt. Doch dann fand er einen langen, dicken Schenkelknochen, der in einem großen Klumpen auslief. Er war unversehrt. Versuchsweise klopfte er mit einem anderen Knochen dagegen – er klang hohl.

Im Schmutz fand er einen Stein, der gerade in die Faust passte. Er hob den Stein und schlug damit auf den Knochen. Der Knochen splitterte, und leckeres Mark quoll heraus. Das war eine Ressource, die dem Zugriff der Hyänen-Zähne und Aasgeier-Schnäbel entzogen war – aber nicht für Wedel. Er hob den Knochen und schlürfte gierig das Mark.

Die anderen, die Capo und seine Horde aus dem Wald vertrieben hatten, würden dort bleiben und sich mit dem begnügen, was sie hatten. Aus solchen Horden sollten sich schließlich die Schimpansen entwickeln, die sich kaum von dieser urzeitlichen Art unterschieden. Sie würden nicht nur überleben, sondern sogar einen Aufschwung nehmen: Obwohl die Wüste sich ausbreitete und die Wälder zu einem Gürtel um den Äquator schrumpften, würden die großen Flüsse den Schimpansen Korridore eröffnen, durch die sie ins Herz von Afrika wanderten.

Die Nachfahren von Capos Horde gingen jedoch einem ganz anderen Schicksal entgegen. Dieses Häuflein Menschenaffen, das durch das Verschwinden des Waldes heimatlos geworden war, würde einen Weg finden, hier draußen zu überleben. Der Abschied von einer Ökologie, an die sie sich über Jahrmillionen angepasst hatten, fiel ihnen aber schwer: Solang die Menschenaffen nicht über große Entfernungen zu gehen und zu rennen vermochten, solange sie nicht zu schwitzen und solange sie nicht einmal Fleisch zu verdauen vermochten, würden noch sehr viele sterben. Aber ein paar würden überleben: nur ein paar, aber das genügte schon.

Wedel hatte das Mark ausgesaugt. Aber es warteten noch viel mehr Knochen darauf, geknackt zu werden. Er schaute zur Horde zurück und rief sie herbei.

Dann drehte er sich wieder zur Savanne um. Er war ein Zweibeiner, Werkzeugnutzer, Fleischfresser, Fremdenfeind, dabei hierarchisch, kämpferisch und wettbewerbsorientiert – alles Eigenschaften, die er im Wald erworben hatte. Und zugleich verfügte er über die besten Qualitäten seiner Vorfahren: Purgas Zähigkeit, Noths Elan, Streuners Mut, sogar Capos Weitblick. Erfüllt mit den Möglichkeiten der Zukunft und dem Erbe der Vergangenheit ließ das aufrecht stehende junge Männchen den Blick über die Savanne schweifen.

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