DREI Nachfahren

KAPITEL 17 Ein langer Schatten Ort und Zeit unbekannt

I

Aus einem Kälteschlaf zu erwachen war etwas ganz anders, als wenn man im eigenen Bett neben seiner Frau aufwachte. Es war eher so, als sei man in einen großen Bottich mit einer klebrigen Flüssigkeit geworfen worden und würde allmählich wieder auftauchen.

Doch nun riss der Nebel auf, und ein sich vergrößernder Kreis aus Licht zentrierte sich um ein verschwommenes Gesicht. Das Gesicht gehörte zu Ahmed, dem Splot – dem Chefpiloten – und nicht dem Kommandierenden Offizier. Das war für Snowy das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte.

»Alles in Ordnung? Bist du in Ordnung?«, fragte Ahmed. Bevor er die Injektion bekam, hatte Snowy verschiedene Reaktionen auf den Weckruf geprobt. Er lächelte und hob den Mittelfinger der rechten Hand. »Jede Landung, nach der man noch auf eigenen Beinen zu gehen vermag, ist eine gute Landung.« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen; sein Mund war völlig ausgedörrt.

»Noch gehst du aber nicht, Klugscheißer«, sagte Ahmed grimmig.

»Wo ist Barking?« Robert Madd, der mit einem der weniger originellen Spitznamen der Royal Navy gesegnet war, war der Kommandierende Offizier der Einheit.

»Später«, sagte Ahmed. Er trat zurück und gab Snowy den Blick auf die Metallwände der Grube frei. Dann warf er ein Proviantpäckchen aufs Bett. »Stehen Sie auf. Helfen sie mir bei den anderen.«

Snowy – Robert Wayne Snow, Alter einunddreißig Jahre – war ein Leutnant in der British Royal Navy, wodurch er zumindest geneigt war, den seltsamen Befehl zu befolgen. Also setzte er sich mühsam auf.

Die Grube war ein schlachtschiffgrauer Zylinder; die Wände waren kahl bis auf die Instrumente und Sensorkonsolen. Das Licht kam von Strom sparenden Leuchtkörpern, die alles in ein fahles Licht tauchten. Die Instrumente waren alle tot, die Bildschirme schwarz. Es war wie im Innern eines Öltanks. Der Raum war mit Kojen angefüllt, mit zwanzig aufeinander gestellten Pritschen. Kunststoffpanzer lagen auf den Betten. Ahmed ging im Raum umher, öffnete die Panzer der Reihe nach und schloss die meisten wieder.

Snowy war splitternackt, aber er fror nicht. Er nahm das Proviantpäckchen an sich. Es war ein durchsichtiger Beutel mit vakuumverpackten Bananen, Schokolade und anderen Leckereien. Er riss ihn mit dem einzigen Werkzeug auf, das er hatte: mit den Zähnen. Der Beutel platzte auf, und die Luft entwich. Er ließ den Inhalt aufs Bett fallen und stopfte sich eine Banane in den Mund. Er fühlte sich, als hätte er gerade einen Marathonlauf absolviert. Er hatte schon zweimal zu Ausbildungsund Auswertungszwecken im Kälteschlaf gelegen; jeweils eine Woche lang. Es war eine Besonderheit des Vorgangs, dass man dabei nicht fror, sondern nur mit einem Heißhunger aufwachte: Das lag daran, dass der Körper langsam seine Speicher leerte, um sich am Leben zu erhalten; das sagten jedenfalls die Medicos.

Doch etwas stimmte nicht mit der Koje. Er sah die Stelle, wo er gelegen hatte – sein Körper hatte einen deutlichen Abdruck hinterlassen, wie die grässliche Szene in Psycho, wo die tote Mutter im Bett gelegen hatte. Er drückte auf die Matratze. Sie war klumpig und hart. Und die Laken, auf denen er gelegen hatte, zerfielen schon bei der ersten Berührung – als seien sie Bandagierungen einer Mumie.

Furcht stieg in ihm auf.

Ahmed half gerade einem Mädchen aus einer der oberen Kojen. Ihr Name war June, was ihr natürlich den Spitznamen Mond eingetragen hatte. Sie war hübsch, ob sie nun Kleider anhatte oder nicht; doch wo sie nun nackt war, wirkte sie zerbrechlich, sogar kränklich, und Snowy verspürte nur noch den Impuls, ihr zu helfen, als sie unbeholfen aus der Koje stieg. Sie zuckte zurück, als ihr nackter Körper das Metall streifte.

Wo Moon nun wach war, wurde Snowy verlegen. Er griff unter seine Koje und suchte nach den Kleidern.

… Doch der Boden schien geneigt sein. Er richtete sich auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, aber der kahle Boden schien noch immer geneigt, und die eigentlich senkrecht stehenden Kojen standen schräg. Nicht gut, sagte Snowy sich. Dass dieser Hundert-Tonnen-Bunker gekippt war, verhieß nichts Gutes.

Er griff wieder unters Bett. Der Pappkarton, der seine Kleidung enthalten hatte, war verschwunden. Die Kleidung war noch da und lag auf einem Haufen. Doch als er nach ihnen griff, zerfielen die Kleidungsstücke genauso wie die Laken auf dem Bett.

»Vergiss es«, rief Ahmed. »Zieh die Fliegerkombi an. Sie scheinen überdauert zu haben.«

»Überdauert?«

»Es wird wohl daran liegen, dass sie aus Synthetik sind.«

Snowy tat wie geheißen. Die Stiefel waren ebenfalls noch unversehrt, wie sich herausstellte; sie bestanden nämlich aus einem unverwüstlichen Kunststoff. Aber er hatte keine Strümpfe mehr, was vielleicht zu einem Problem werden würde.

Snowy fütterte Mond mit dem Inhalt ihres Proviant-Päckchens, während Ahmed den Rundgang fortsetzte.

Die Erwachten versammelten sich im Kreis und setzten sich auf die untersten Kojen. Aber es waren nur fünf von ihnen, fünf von zwanzig, die hier eingelagert worden waren. Die fünf waren Snowy, Ahmed, Sidewise, das Mädchen Moon und ein junger Pilot namens Bonner.

Zuerst futterten sie schweigend Bananen und Schokolade und tranken Wasser. Snowy wusste, dass das eine gute Idee war. Wenn man sich unversehens in einer neuen Situation befand, empfahl es sich, sich erst einmal hinzusetzen, zuzuhören und nachzudenken und sich dann an die neue Lage anzupassen.

Snowy hatte Ahmed erneut nach dem Kommandierenden Offizier gefragt. Ahmed zeigte ihn ihm. Barking Maddens Körper war geschrumpft und verschrumpelt, buchstäblich mumifiziert; das Skelett war nur noch mit zähem Fleisch bespannt. Der Rest, die anderen vierzehn, sahen genauso aus.

Sidewise konnte natürlich den Mund nicht halten. Sidewise war ein Luftwaffenoffizier. Er war ein dünner Mann mit einer intensiven Ausstrahlung und verdankte seinen Spitznamen der Angewohnheit, sich im Krebsgang zu bewegen, wann immer er auf eine Tanzfläche gelangte. Nun ließ er den Blick über die kleine Gruppe schweifen. »Verdammter Mist«, sagte er zu Snowy. »So viel zu den Sicherheitstoleranzen.«

»Klappe halten«, sagte Ahmed schroff.

»Wann war denn nun der Weckruf?«, fragte Bonner Ahmed.

»Es gab gar keinen«, sagte Ahmed.

»Wenn es keinen Weckruf gab, was hat uns dann geweckt?«

Ahmed zuckte die Achseln. »Vielleicht hat die Grube eine automatische Zeitschaltung. Oder wir sind durch einen technischen Defekt geweckt worden.«

Bonner war ein gut aussehender junger Mann, obwohl er durch eine der gentechnisch fabrizierten Seuchen die gesamte Körperbehaarung verloren hatte. Er strich sich mit der Hand über den kahlen Kopf. Er hatte einen leichten walisischen Akzent. »Vielleicht haben wir es auch übertrieben. Die Grube war eigentlich als Cryolager für Samen, Tierembryos und solchen Kram vorgesehen. Als Rückversicherung gegen das Massensterben. Aber nicht für Menschen…«

»Und schon gar nicht für Menschen wie dich, Bonner«, sagte Snowy. »Vielleicht hast du mit deinen Fürzen die Dichtungen zerfetzt.«

Dieser derbe Humor schien die Gruppe zu entspannen, wie Snowy gehofft hatte.

»Diese Grube war ursprünglich für Elefantenembryos oder was auch immer erbaut worden, aber sie war auch für die Benutzung durch Menschen zugelassen. Wir alle haben uns doch die Vorträge über die Sicherheitsparameter und Zuverlässigkeit der Systeme angehört.«

»Sicher«, sagte Sidewise. »Aber jedes System wird einmal versagen, egal wie gut es gebaut wurde. Das ist nur eine Frage der Zeit.« Das brachte sie zum Schweigen. »Hat jemand auf die Uhr geschaut?«, fragte Sidewise.

Die meisten Instrumente der Grube waren tot. Aber es hatte auch noch eine mechanische Uhr gegeben, die von der thermischen Energie der tief verwurzelten Pflanzen angetrieben wurde. Bevor sie in den Kälteschlaf gefallen waren, hatten sie sich alle mit der Arbeitsweise der Uhr vertraut gemacht – die Zähne bestanden aus Diamant, der praktisch unverwüstlich war, das Ziffernblatt umspannte den gewaltigen Zeitraum von fünfzig Jahren und so weiter. Mit dieser nicht allzu subtilen psychologischen Maßnahme hatte man sie vergewissert, dass – wie lange sie auch hier draußen in der Erde lagen, was auch immer aus der Außenwelt werden würde, was auch immer sonst in der Grube versagen würde – sie immer wissen würden, wie spät es war.

Doch nun sah Snowy, dass die Uhrzeiger vom Anschlag blockiert wurden.

Snowy dachte an seine Frau Clara. Sie war schwanger gewesen, als er sich in den Kälteschlaf hatte versetzen lassen. Fünfzig Jahre? Das Kind wäre längst geboren, aufgewachsen und hatte schon eigene Kinder. Vielleicht sogar schon Enkelkinder. Nein. Er wies diesen Gedanken von sich. Das ergab keinen Sinn; man vermochte kein menschliches Leben zu führen, wenn eine Lücke von fünfzig Jahren darin klaffte.

Und Sidewise redete immer noch. »Mindestens fünfzig Jahre«, sagte er gnadenlos. »Was glaubt ihr wohl, wie lange es gedauert hat, bis Barkings Körper so mumifiziert wurde und unsere ganze Kleidung verrottet ist?« Das war das Problem mit Sidewise, sagte Snowy sich. Er hatte keine Hemmungen, das zu sagen, woran alle anderen nicht einmal zu denken wagten.

»Genug«, blaffte Ahmed. Er war ein kleiner, kräftiger und kompakter Mann. »Barking ist tot. Nun übernehme ich als Dienstältester hier das Kommando.« Er schaute sie finster an. »Hat jemand ein Problem damit?«

Moon und Bonner schienen sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen zu haben. Sidewise lächelte eigentümlich, als würde er ein Geheimnis hüten, das er nicht mit ihnen teilen wollte.

Snowy zuckte die Achseln. Er wusste, dass Ahmed als ein watch chief gedient hatte, das Marine-Äquivalent eines Stabsfeldwebels. Snowy hielt ihn für kompetent, auch für klug, aber für unerfahren. Und er war sogar so unbeliebt, dass man ihm nicht einmal einen Spitznamen verpasst hatte. Aber es gab niemanden, der besser qualifiziert gewesen wäre, unabhängig von seinem Rang. »Ich schlage vor, dass Sie den Laden übernehmen, Sir.«

Ahmed schaute ihn dankbar an. »In Ordnung. Die Lage ist die: Wir sind nicht geweckt worden. Es besteht überhaupt kein Kontakt zur Außenwelt. Ich vermag nicht einmal zu sagen, wann wir überhaupt zum letzten Mal Kontakt hatten. Dazu sind zu viele Systeme heruntergefahren.«

»Dann wissen wir also nicht, was draußen vorgeht«, sagte Moon.

»Sagen Sie uns, was wir tun sollen«, sagte Snowy.

»Wir werden von hier verschwinden. Wir brauchen keine Schutzausrüstung. Es sind noch genügend Außensensoren intakt, um uns das zu sagen.«

Das war eine Erleichterung, sagte Snowy sich. Er hätte sich nämlich sehr ungern auf den Schutz durch seinen ABC-Anzug verlassen – atomar-biologisch-chemisch –, falls er dem gleichen massiven Alterungsprozess unterlegen wäre wie ihre andere Bekleidung.

Ahmed zog einen Stahlbehälter unter jeder Koje hervor. Darin befanden sich Pistolen, Walther PPKs, die in mit Öl gefüllten Plastikbeuteln verpackt waren. »Ich habe schon eine überprüft. Wir können sie draußen testen.« Dann gab er die Waffen aus.

Snowy riss den Beutel auf, wischte die Pistole an den zerfallenden Laken ab und steckte sie sich in den Gürtel. Die Masse hatte etwas Beruhigendes. Dann durchsuchte er die Überlebens-Ausrüstung: Helm, Rettungsweste, kugelsichere Weste – eine Pilotenausrüstung. Die Kunststoffbauteile schienen unversehrt, aber die Textil- und Gummiteile waren marode. Er suchte sich das aus, was er glaubte brauchen zu können. Schweren Herzens ließ er seinen Helm zurück, den bewährten Kopfschutz, auch wenn es ein Blauhelm der Vereinten Nationen war. Er bezweifelte aber, dass er heute in ein Flugzeug steigen würde.

Sie versammelten sich am Ausgang. Die Bunkertür war schwer, hatte abgerundete Kanten, war luftdicht und wurde mit einem Stellrad bedient; sie glich einem U-Boot-Schott. Ahmed erbrach die Dichtung.

Sie haben alle die Hosen voll, erkannte Snowy, auch wenn keiner es vor den anderen zeigen wollte.

»Was glaubt ihr, was wir draußen vorfinden werden?«, flüsterte Sidewise. »Russen? Chinesen? Bombenkrater, Kinder mit zwei Köpfen? Leute mit Affenmasken wie beim Planeten der Affen?«

»Halt die Schnauze, Side, du Spinner!«

Mit Brachialgewalt drehte Ahmed das Rad. Die letzte Dichtung zerbrach mit einem Knacken. Die Tür schwang zurück. Grünes Licht flutete herein.

Cryobiologie war inzwischen eine etablierte Branche.

Der Schlüssel zu ihrer Nutzung bestand darin, dass tief unterhalb des Gefrierpunkts von Wasser Moleküle die hohe Geschwindigkeit verringerten, die chemische Reaktion überhaupt erst ermöglichte. So vermochte man Blutkonserven für ein Jahrzehnt und länger zu lagern. Man vermochte Hornhaut, Organ- und Nervengewebe einzufrieren, aufzutauen und wieder zu verwenden. Man vermochte sogar Embryonen einzufrieren. Doch die Kälte war ein zweischneidiges Schwert; sich ausdehnende Eiskristalle hatten nämlich die unangenehme Eigenschaft, Zellwände zu zerstören. Deshalb injizierten die Medicos Frostschutzmittel wie Glycerol und Dimethyl-Sulfoxid ins Gewebe.

Das Einfrieren und die Wiederbelebung von einem komplexen und ausdifferenzierten Organismus – zum Beispiel eines hundert Kilogramm schweren blasphemischen Marinefliegers – stellte freilich eine ganz andere Hausforderung dar. In Snowys Körper gab es viele unterschiedliche Zellarten, von denen jede ein anderes Einfrier-Auftau-Profil erforderte. Schließlich hatte man es mit einem gentechnischen Kniff hinbekommen. Snowys Zellen waren in die Lage versetzt worden, einen natürlichen Frostschutz zu produzieren – Glykoproteine. Diesen Trick hatte man den Kaltwasserfischen abgeschaut, sodass das Einfrieren auf der Ebene der Zellen selbst reguliert wurde.

Offensichtlich hatte es funktioniert. Snowy hatte den Vorgang lebend und unbeschadet überstanden. Nach einer halben Stunde war er fast wieder der Alte.

Natürlich hatte er sich nach dem Auftauen auf einen Kampf eingestellt.

Offiziell stand diese Einheit unter dem Befehl von UNPRO-FOR, der Schutztruppe der Vereinten Nationen. Doch jeder wusste, dass das nur eine Tarnung war. Die Strategie war als ›Aussaat der Drachenzähne‹ bekannt geworden. Als nach Rabaul die Gefahr eines globalen Konflikts akut wurde, hatte man neue Formen der Abschreckung ersonnen. Der Grundgedanke war, dass jede Macht vor einer Invasion zurückschrecken würde, wenn sie wusste, dass der Boden mit Gruppen hervorragend ausgebildeter Soldaten durchsetzt war, die frisch, voll ausgerüstet und bereit waren, den Kampf aufzunehmen. Aus diesem zerstreuten Zähnen sollte der Drache auferstehen. Das war zumindest die Theorie.

Es gab natürlich Rückschläge. Der Kälteschlafprozess selbst umfaßte das Risiko von Verletzung oder Tod (aber ein geringes, nicht einmal fünfundsiebzig Prozent…). Und man wusste auch nie, wo man stationiert werden würde; das Einfrieren hatte nämlich in großen zentralen Depots stattgefunden, von wo die bewusstlosen Soldaten zu ausgewählten Standorten im ganzen Land und sogar ins Ausland verfrachtet wurden. Snowy hatte jedoch gewusst, dass seine Einheit aus Marinefliegern zusammenbleiben würde, was überaus tröstlich war.

Zumal es schlimmere Aufträge gab. Der Einsatz war auf zwei Jahre befristet. Er war jedenfalls ungefährlicher, als auf einem Flugzeugträger in einem der Brennpunkte der Welt stationiert zu werden, in der Adria, in der Ostsee oder im südchinesischen Meer. Alles in allem war es zwar seltsam, aber auch nur ein Auftrag wie jeder andere.

Snowy hatte ihn gern angenommen, auch wenn es bedeutete, dass er von seiner Frau getrennt wurde. Er hatte erwartet, gesund und glücklich aus der ganzen Sache hervorzugehen und obendrein noch als reicher Mann wegen des angesammelten Solds, den er in dieser Zeit nicht auszugeben vermochte. Es bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass er nach dem Aufwachen hätte kämpfen müssen. Aber dafür war er schließlich ausgebildet worden. Und selbst dann hätte er erwartet, in einem Hightech-Krieg aufzutauchen, eine Befehlskette und intakte Strukturen vorzufinden und ein Flugzeug. Aus diesem Grund hatte man die Piloten überhaupt erst eingepökelt. Er hatte aber nicht erwartet, dass sie nach dem Öffnen der Tür von jeder Befehlskette abgeschnitten wären und von den Bedingungen draußen gar nichts wussten – nicht einmal, wo sie waren. Doch genau das war nun die Lage.

Snowy übernahm die Führung und trat durch die Luke.

Jenseits der Luke war eine Treppe in den Beton gefräst. Die Treppe führte zu einem Rechteck aus hellgrünem Licht hinauf: Laub und Ausschnitte eines blauweißen Himmels darüber. Ein Wald?

Der Beton der Treppe war – sofern er noch freilag – an den Stellen braun gefärbt, wo das Geländer verrostet und abgebrochen war. Und als Snowy das Gewicht zu nah an die Kante einer Stufe verlagerte, zerbröselte der Beton. Die Stufen selbst waren unter einem Gewirr aus Moos, Laub und Schutt aller Art kaum zu sehen. Snowy wollte das Zeug zuerst beseitigen und stellte dann fest, dass es aus einer Mulchschicht auf dem Beton wuchs.

Also ignorierte er das Gewirr und ging unverdrossen die Treppe hinauf.

Schließlich stand er auf dem laubbedeckten Erdboden. Er schnaufte angestrengt. Offenbar hatte der Kälteschlaf ihn doch stärker ausgezehrt, als er erwartet hätte. Die anderen folgten ihm der Reihe nach und klopften sich Laub, Moos und Mulch von der Kombination.

Der Wald bestand aus hohen Bäumen, deren tief hängende Äste dicht mit Blättern besetzt waren. Eichen vielleicht. Es ging ein Wind, der Snowy warme Luft ins Gesicht fächelte. Es schien später Frühling oder Frühsommer zu sein. Die Luft roch frisch, nach nichts anderem als Wald und Natur pur.

Die Grube war in den Boden versenkt und halb durch einen großen Betondeckel verborgen. Doch der Deckel war nun schräg angehoben, gesprungen und Pflanzen wuchsen aus der Oberfläche.

Ahmed trug einen kleinen schwarzen Tornister. Es war ein Funkgerät, das wie die Pistolen in Öl gelagert gewesen war. Nun schaltete er es ein, zog die Antenne aus und ging auf der Lichtung umher.

Moon und Bonner wirkten sehr jung und ängstlich, verloren im grünen Zwielicht.

Sidewise kam zu Snowy. Verdrießlich trat er gegen den Betonpanzer. »Es ist erstaunlich, dass die Stromversorgung nach dieser Zeit noch funktioniert.«

»Als ob wir gerade aus Tschernobyl gekrochen wären«, sagte Snowy.

»Ich glaube nicht, dass Tschernobyl überhaupt noch ein Problem ist.«

»Was?«

»Snow, was glaubst du, wie lang wir in diesem Loch gesteckt haben?«

»Mehr als fünfzig Jahre?«, riet Snowy.

Sidewise grunzte. »Schau dich doch mal um, Kumpel. Diese Bäume sind Eichen. Und schau dir das an.« Er führte Snowy zu einem umgestürzten Baum. Der Baum war vielleicht einen Meter überm Boden abgebrochen. Der umgestürzte Baumstamm war fast auf ganzer Länge mit Grün überwuchert, und dicke tellerartige Pilze klebten wie ins Holz gerammte Scheiben an der Oberseite. »Snow«, sagte Sidewise, »du bist von einem alten Wald umgeben. Das sind alte Bäume. Dieser hier ist aus Altersschwäche umgestürzt und nicht gefällt worden. Komm schon, Snow. Du erinnerst dich doch noch an die Ökologiekurse während der Ausbildung? Was passiert, wenn eine Waldlichtung sich selbst überlassen wird?«

Die Gräser und Kräuter wären die ersten, die den leeren Raum kolonisierten. Nach etwa einem Jahr würden Kiefern- und Birkenschösslinge und andere Laubbäume aus den im Boden verbliebenen Samen und aus Baumstümpfen sprießen. Und wenn es erst einmal einen gewissen Frostschutz gab, würden Fichten und Walnussbäume Fuß fassen. In dem Maß, wie die Bedingungen sich änderten, würden verschiedene Arten um Licht und Raum konkurrieren. Nach vielleicht fünfzig Jahren, wenn der sich erholende Wald dunkler wurde, würden die Gräser am Boden Nachtschattengewächsen wie Himbeeren und Moosen weichen. Und dann erst würden die Eichen zurückkehren.

Snowy hatte sich in der Schule, während der Ausbildung und auch später, nur wenig für diese Materie interessiert. Dieser Ökokram war nämlich so deprimierend, nichts als Verlustlisten von Tierarten. Aber – wie lange?

Sidewise stocherte auf dem am Boden liegen Baumstamm herum. »Schau dir diese Bryophyten an – die Moose und das Lebermoos – und die Flechten, Pilze und Insektenlöcher… in unsrer Zeit war der Anblick eines toten Baumstamms so selten wie ein Wolf, musst du wissen.«

»In unsrer Zeit?«

Ahmed hatte seine Wanderung über die Lichtung beendet. »Nichts«, sagte er. »Keinen Piep auf irgendeiner Frequenz. Nicht einmal GPS.«

»Vielleicht ist das Gerät ausgeschaltet«, sagte Moon.

Ahmed drückte einen grünen Knopf am Gerät. »Der Selbsttest war erfolgreich.«

»Was sollen wir nun tun?«, fragte Bonner.

Ahmed straffte sich. »Wie sichern unser Überleben. Wir verlassen diesen verdammten Wald. Und suchen jemanden, dem wir Meldung machen.«

Snowy nickte. »Welche Richtung?«

»Die Karten«, sagte Bonner plötzlich.

Sie besannen sich wieder auf ihre Ausbildung und eilten zur Grube zurück.

Die Gruben waren draußen mit Landkarten-Depots versehen worden, für den Fall, dass ein Trupp wieder belebt wurde, ohne von außen Anweisungen und Orientierungshilfen zu erhalten. Die Karten hätten sich wettergeschützt in Kästen an der Außenseite der Grube befinden müssen. Außerdem hatten den Karten spezifische Anweisungen beigelegen. Snowy wusste, dass sie sich alle gleich viel wohler fühlen würden, wenn sie eine Handreichung bekamen und vielleicht sogar einen Hinweis auf die aktuelle Lage.

Doch so gründlich sie auch suchten, sie fanden nicht einmal eine Spur der Kartenbehälter. Da war nichts außer einer mürben, zerbröselnden Betonwand, die von Moosen und Gräsern überwuchert wurde.

Sidewise half bei der Suche, doch Snowy sah, dass er nicht bei der Sache war. Er hatte gewusst, dass die Karten nicht mehr da sein würden. Snowy begann sich vor Sidewise zu fürchten, weil er einen so großen Vorsprung im Spiel hatte; und er wollte auch gar nicht wissen, was Sidewise bereits wusste.

Sie gaben die Suche nach den Karten auf. Dennoch versuchte Ahmed, die Disziplin aufrechtzuerhalten und Entscheidungen zu treffen, und Snowy bewunderte ihn dafür. Ahmed sog prüfend die Luft ein, ließ den Blick schweifen und streckte dann den Arm aus. »Das Land steigt in dieser Richtung an. Also werden wir diese Richtung einschlagen. Wenn wir Glück haben, werden wir aus diesem Wald herauskommen. Einverstanden?«

Die Antwort war ein allgemeines Achselzucken und Kopfnicken.

II

Es gab nicht viel aus der Grube mitzunehmen außer dem, was sie bei den Toten fanden: Sie suchten alle Waffen und die ganze Munition zusammen, überschüssige Kleidung und Rationspäckchen. Dann funktionierten sie die nicht benötigten Fliegerkombis zu Rucksäcken um und verluden die Ausrüstung.

Sie marschierten in die Richtung los, die Ahmed bestimmt hatte. Die Sonne schien unterzugehen, und das bedeutete nach Snowys Dafürhalten, dass sie sich in grob nördlicher Richtung bewegten. Falls sich nicht auch die Himmelsrichtungen in all den Jahren verändert hatten, in denen sie in der Grube eingeschlossen waren.

Der Wald wurde von den mächtigen Eichen beherrscht, dazwischen wuchsen andere Arten wie Platanen, Ahorn und Koniferen. Snowy hatte den Eindruck, dass es viele Vögel gab, vor allem Stare, und dann sah er ein Gestöber aus grünen und gelben Schwingen an der Sonne vorbeiziehen. Gelegentlich sahen sie auch andere Tiere – Kaninchen, Eichhörnchen, kleine scheue Rehe und sogar etwas, das wie ein Wolf aussah –, wobei sie jedes Mal nervös zur Waffe griffen.

Nach vielleicht einer Stunde kamen sie zu einem runden Loch in der Erde. Es war voll Schutt, doch offensichtlich von Menschen ausgehoben. Diese Spur menschlichen Wirkens erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie versammelten sich um das Loch und tranken Wasser aus den kleinen Flaschen, die sie bei sich hatten.

»Hast du diese grünen Vögel gesehen?«, wandte Snowy sich an Sidewise. »Sie sahen aus wie…«

»Wellensittiche. Die Nachkommen entflogener Haustiere. Wieso nicht? Es gibt wahrscheinlich auch Wellensittiche und Papageien. Ein paar von diesen hirschartigen Tieren schienen Muntjaks zu sein. Vielleicht aus Zoos. Sogar die Bäume sehen zum Teil wie Importe aus, zum Beispiel wie diese türkische Eiche hier. Wie hieß es doch noch: Wenn man das Gleichgewicht der Natur erst einmal stört und fremde Arten einführt, ist dies nicht mehr rückgängig zu machen.«

»Ich habe einen Wolf gesehen«, sagte Snowy.

»Bist du auch sicher, dass es ein Wolf war?«, fragte Sidewise. »War es für einen Wolf nicht zu klein und zu schnell?«

Im Nachhinein betrachtet mußte er Sidewise Recht geben. Es war doch kleiner gewesen, eher wie ein Nagetier.

»In Ordnung, ihr beiden Intelligenzbestien«, sagte Bonner, »was ist nun mit diesem Loch im Boden? Hier wurde ein Baum ausgerissen, und zwar vorsätzlich.«

»Vielleicht«, sagte Sidewise kalt. »Löcher im Boden halten sich aber für eine lange Zeit. Man findet heute noch Löcher, die Jäger und Sammler vor zehntausend Jahren gegraben haben. Nun wissen wir zumindest, dass noch keine neue Eiszeit stattgefunden hat.«

Ahmed schaute ihn finster an. »Du hebst nicht gerade die Moral, Sidewise.«

»Und was ist mit meiner Moral?«, gab Sidewise zurück. »Es hat doch keinen Sinn, etwas zu ignorieren, das so offensichtlich wie nur irgendetwas ist.«

Es trat ein Moment angespannter Stille ein. Plötzlich warf Snowy einen streiflichtartigen Blick in Sidewise’s Vergangenheit, eine Vergangenheit, über die er nie sprach: Das hochintelligente Schulkind, das die anderen düpierte und von seinen Klassenkameraden doch immer wieder auf ihr Niveau heruntergezogen wurde.

»Gehen wir weiter«, sagte Bonner verdrießlich. Ahmed nickte und übernahm wieder die Führung.

Bald kamen sie zu etwas, das wie eine Spur aussah. Es war nur ein gewundenes Band auf der Erde, das kaum als solches wahrzunehmen war. Doch war die Vegetation hier etwas lichter, und Snowy spürte, dass er anders als bisher nicht mehr mit den Füßen in den Boden einsank. Also ein Pfad – und sicher eine menschliche und keine tierische Spur, wenn der Boden so verdichtet war.

Sie sagten nichts. Niemand wollte, dass Sidewise diesen Hoffnungsschimmer durch eine weitere Bemerkung zunichte machte. Dann folgten sie im Gänsemarsch der Spur und gingen zügig die flache Anhöhe hinauf.

Snowy fühlte sich jetzt schon erschöpft und ausgelaugt.

Er wurde sich bewusst, dass er gar nicht mehr an seine Frau dachte, an seine Freunde zuhause und an das Leben, das für immer verschwunden zu sein schien. Dazu war die Situation viel zu fremdartig. Und er sehnte sich ironischerweise wieder nach der heimeligen Sicherheit des Kälteschlafbetts mit dem schützenden Panzer und den summenden Maschinen. Hier draußen fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller. Die PPK bot ihm auch nicht allzu viel Schutz, und als die Dunkelheit sich über diesen seltsamen, umgemodelten Ort legte, wurde er sich erst richtig bewusst, in welcher Gefahr sie vielleicht schwebten.

Wir müssen unbedingt ein paar Antworten finden, sagte er sich.

Nach vielleicht einer weiteren Stunde dünnten die Bäume sich aus, und erleichtert stellte Snowy fest, dass er sich auf offenem Feld bewegte. Aber er sah trotzdem noch nicht viel. Er stand am Fuß einer breiten, flachen Erhebung, deren Gipfel hinter dem nahen Horizont verschwand. Er sah, dass der Erdboden aus Kalksandstein bestand und mit einer dünnen, stark erodierten Humusschicht bedeckt war. Außer Heidekraut wuchs hier nichts, und kahle Felsbrocken ragten aus dem Boden.

Der klare Himmel wurde nur von hohen Federwolken getrübt. Die untergehende Sonne warf lange Schatten. Sie stand so tief, dass Snowy eigentlich erwartet hätte, schon das durch die Asche von Rabaul verursachte Lichtspiel des Sonnenuntergangs zu sehen. Aber der westliche Himmel war nicht gerötet; die Sonne schien noch immer hell und weiß. Hatte die Asche sich schon verflüchtigt?

»Spuren! Fahrzeugspuren!«, rief Moon, wies nach rechts unten und machte Freudensprünge.

Sie rannten auf die Spur zu, wobei die improvisierten Rucksäcke auf dem Rücken auf und nieder hopsten.

Sie hatte Recht. Die Spuren waren unübersehbar. Sie stammten von einer Art Geländefahrzeug und zogen sich im rechten Winkel zu ihnen die Anhöhe hinunter.

Plötzlich herrschte Hochstimmung. »Dann ist also jemand in der Nähe«, sagte Bonner grinsend. »Gott sei Dank.«

»In Ordnung«, sagte Ahmed. »Wir haben nun die Wahl: Wir gehen weiter bergauf und suchen nach einem Aussichtspunkt. Oder wir folgen den Spuren bergab, bis wir auf eine Straße stoßen.«

Ersteres wäre wahrscheinlich die klügere Wahl gewesen, sagte Snowy sich. Doch unter diesen Umständen wollten sie die Spuren menschlicher Aktivität nicht wieder verlieren. Also marschierten sie bergab und folgten der doppelten Spur.

Sidewise gesellte sich zu Snowy. »Das ist doch Unfug«, murmelte er.

»Side…«

»Sieh doch hin. Das sind Fahrzeugspuren, na schön. Aber sie haben sich in Rinnen verwandelt. Schau dort drüben – da haben sie bis aufs Urgestein eingeschnitten. Snow, in einem solchen Gelände, oberhalb der Baumgrenze, dauert es unter Umständen Jahrhunderte, bis die Humusschicht und die Vegetation sich wieder regeneriert haben, wenn sie erst einmal beschädigt wurden. Jahrhunderte.«

Snowy starrte ihn an. Sein schmales Gesicht war grau im schwindenden Licht. »Diese Spuren sehen aber ganz frisch aus, als ob erst gestern jemand vorbeigekommen wäre.«

»Ich sage dir aber, sie könnten auch hundert Jahre alt sein. Ich weiß es nicht, verdammt.« Er sah so aus, als ob er für eine Zigarette sterben würde.

Die Spuren zogen sich die Anhöhe hinab und führten sie schließlich in ein breites Tal, das vom silbernen Band eines Flusses durchzogen wurde. Dann bogen die Spuren vom Gelände auf etwas ab, bei dem es sich eindeutig um eine Straße handelte, die der Flanke des Tals folgte – ein schöner flacher Sims, der fast parallel zu den Konturen des Tals verlief.

Mit Erleichterung betrat die Gruppe die Straße und schickte sich an, ihr durchs Tal ins Flachland zu folgen. Trotz der Müdigkeit waren sie guter Dinge.

Doch Snowy sah, dass die Straße sich in einem schlechten Zustand befand. Sie war überwuchert. Der Asphalt war zwar noch vorhanden – er sah ihn als schwarze Bruchstücke im Grün –, aber er war durchs Alter rissig und mürbe geworden. Pflanzen und Pilze waren durch die Oberfläche gebrochen, und manchmal musste er sogar durch ein Dickicht aus Birken- und Espenschösslingen stapfen. Die Piste hatte weniger Ähnlichkeit mit einer befestigten Straße als mit einem spärlich bewachsenen Bergrücken.

Sidewise ging wieder neben ihm. »Was glaubst du, wo wir sind?«

Sie alle waren in den grundlegenden geographischen Merkmalen Europas und Nordamerikas unterwiesen worden. »Das Tal ist nicht vergletschert«, sagte Snowy nach einer Weile. »Sollten wir also in Europa sein, dann wären wir nicht allzu weit nördlich. Südengland vielleicht. Oder Frankreich.«

»Aber diese Straße wird schon lange nicht mehr instand gehalten. Und schau mal dort unten.« Er deutete auf eine Linie aus kahlem Gestein, die in die andere Seite des Tals gefräst war.

»Na und?«

»Siehst du, wie gerade diese Linie ist? Ich glaube, dass dieses Tal früher einmal überflutet war. Verdammt. An der Wasseroberfläche findet eine starke Erosion statt – dann erhält man solche horizontalen Einschnitte –, denn wenn das Wasser sich erst einmal einen Weg gebahnt hat, fließt es schnell…«

»Und was soll das, verdammt noch mal, heißen?«

»Das werden wir schon noch sehen«, sagte Sidewise grimmig.

Und nachdem sie noch eine halbe Stunde marschiert waren, sahen sie es auch.

Sie kamen um eine Biegung des Tals, und da war es. Eine Abzweigung dieser Straße verlief tatsächlich zum Damm und musste auf seiner Krone zur entgegen gesetzten Talseite geführt haben.

Doch nun existierte die Talsperre nicht mehr. Snowy machte die stark korrodierten und überwucherten Anleger aus, die noch immer am Ufer standen. Von der eigentlichen Staumauer, der mächtigen gewölbten Mauer, den Fluttoren und den Maschinen, die den Fluss einst gebändigt hatten, war nichts mehr übrig außer bogenförmigen Konturen auf dem Talboden, einer Art Wehr, das den darüber hinwegströmenden Fluss kaum beeinträchtigte.

»Vielleicht hat jemand den Damm gesprengt«, sagte Moon.

Sidewise schüttelte den Kopf. »Nichts währt ewig. Es gibt immer Risse und Schwachstellen, durch die das Wasser einsickert. Und wenn man sie nicht abdichtet, werden die Lecks immer größer, bis…« Er verstummte. »Das ist alles nur eine Frage der Zeit«, endete er lahm.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Bonner. »Gottverdammte Scheiße.«

Snowy hatte den Eindruck, dass sie alle sich der harten Realität stellten. Nicht einmal Sidewise musste noch mit einer entsprechenden Bemerkung dazu beitragen.

Ahmed ging noch ein paar Schritte weiter und ließ den Blick durchs Tal schweifen. Er war ein Pilot und hatte, wie sie alle, gute Augen. »Ich glaube, dort unten liegt eine Stadt«, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung.

Vielleicht, sagte Snowy sich. Es war ein grünlichgrauer Farbtupfer. Er sah aber keine Bewegung, keine Reflexe von Autoglas oder Fensterscheiben, keinen aufsteigenden Rauch, keine Lichter. Aber wohin hätten sie sonst gehen sollen.

Bevor sie die höheren Regionen verließen, feuerte Ahmed noch ein paar Leuchtraketen ab, die er aus dem Bunker mitgenommen hatte. Es erfolgte keine Reaktion.

Sie folgten Ahmed, der mit weiten, federnden Schritten auf der grasüberwachsenen Straße auf die Stadt zuging. Das Tageslicht erlosch. Kein einziges Licht leuchtete in der Stadt auf, während sie auf sie zumarschierten; sie war ein Ort der Dunkelheit und Stille.

An manchen Stellen hatte das Flussufer sich in Marschland zurückverwandelt, und flache, begrünte Hügel markierten den Standort einstiger Gebäude. Andernorts wurden die Ufer von Holunder und schlanken Weiden gesäumt, von alten Weiden, wie Snowy widerstrebend zur Kenntnis nahm, und aus der dahinter liegenden Flutebene wuchs ein Wald aus Pappeln und Eschen. Und dahinter sah er wiederum Ausläufer des Eichenwalds, die sich über die flachen Hügel zogen.

Schon lange bevor sie das Stadtzentrum erreichten, mussten sie die überwucherte Straße verlassen, weil sie im über die Ufer getretenen Fluss verschwand. Weiter draußen im Fluss machte Snowy Formen und Konturen dicht unter der Wasseroberfläche aus.

»Wenn man an einem Fluss baut«, sagte Moon bedächtig, »wird das Land in Ufernähe trockengelegt. Richtig? Und wenn man die Stadt aufgibt, steigt der Grundwasserspiegel wieder an, weil kein Wasser mehr für Industrie und Haushalte abgepumpt wird. Und dann wird das Gebiet überschwemmt.«

Niemand sagte etwas. Sie gingen weiter am morastigen Ufer des Flusses entlang. Schließlich erreichten sie die Stadt. Das Straßennetz war noch vorhanden, ein annähernd rechteckiges Gitter, das über niedrige Hügel gelegt worden war. Aber die Straßen waren in einem genauso schlechten Zustand wie diejenige, der sie hierher gefolgt waren. Die Gebäude selbst waren nur noch unterschiedlich hohe, mit Vegetation überwucherte Erhebungen, von denen die meisten nicht mehr als hüfthoch waren. Der ganze Ort sah aus wie ein verwilderter Friedhof. Snowy sagte sich, dass sie, wenn sie im Wald an diesen grün überwucherten Schutthalden vorbei gegangen wären, diese für natürliche Formationen gehalten hätten, für Produkte des seelenlosen Waltens der Natur. Selbst die Vegetation unterschied sich kaum vom freien Gelände außerhalb der Stadt. Es waren nur die Muster, die einem sagten, dass dieser Ort einst von Menschen geplant und angelegt worden war.

Hier und da stachen jedoch größere Fragmente aus dem überschwappenden Grün. Da war ein großer runder Hügel, der einen ebensolchen grünen Überzug aufwies wie die anderen. Snowy fragte sich, ob das vielleicht eine Bastion war, das Fundament einer der Burgen, mit denen die Normannen im elften Jahrhundert die Eroberung Englands gesichert hatten. Wenn ja, hatte diese Burg als eine von wenigen überdauert. Sie stießen auf eine zu Stummeln verkürzte Säulenreihe, die so aussahen, als ob sie mit Marmor verkleidet gewesen wären. Sie hatten vielleicht eine Bank oder ein Rathaus geziert.

Und da lag eine Statue auf dem Rücken. Das mit Flechten übersäte und bis zur Unkenntlichkeit verwitterte Gesicht schaute aus einem grünen Meer zum Himmel hinauf. Und dann sah Snowy, dass die Statue Brandspuren aufwies. Er suchte nach einem Datum, fand aber keins.

Als er im Grünzeug wühlte, das andere anonyme Hügel bedeckte, stieß er auf weitere verbrannte, rußige und versengte Relikte. Die Stadt war also erst niedergebrannt worden und dann verfallen. Dies war der Schauplatz der Tragödie, eine mit Vegetation kaschierte Walstatt. Er fragte sich, wie tief er wohl graben müsste, bevor er auf Knochen stieß.

Sie kamen auf eine vergleichsweise offene Fläche. Dies musste ein zentraler Platz gewesen sein, vielleicht der Marktplatz. Ahmed befahl zu halten. In den langen Schatten des Abends hatte die zerstörte Stadt eine gespenstische Atmosphäre; sie wirkte weder natürlich noch menschlich und spottete jeder Beschreibung.

Ein kleines, rattenartiges Geschöpf huschte an Snowy vorbei. Die Füßchen patschten auf dem mürben Asphalt, und dann verschwand es im grünen Dickicht jenseits des Platzes. Es sah aus wie eine Maus. Und auf seiner Spur sah Snowy die Silhouette eines Hasen, der sich blitzartig umdrehte und davon hoppelte.

»Mäuse und Hasen«, sagt er zu Sidewise. »Ich glaubte, wir würden Katzen und Hunde sehen.«

Sidewise zuckte die Achseln; er hatte ein verschwitztes und schmutziges Gesicht. »Die Menschen sind verschwunden, nicht wahr? Die Zivilisation ist zusammengebrochen. Katzen und Hunde waren verweichlicht und domestiziert, denn die genetischen Variationen waren aus ihnen herausgezüchtet worden. Sie hätten ohne uns nicht lang zu überleben vermocht.«

»Ich hätte aber schon geglaubt, dass gerade die Katzen überleben würden. Sogar Katzenkinder gehen doch schon auf die Jagd.«

»Wildkatzen waren perfekte Tötungsmaschinen. Aber die Hauskatzen hatten kleinere Zähne, Kiefer und Gehirne als ihre wilden Vorfahren, weil alte Damen sie so putzig fanden.« Sidewise zwinkerte. »Ich hatte immer gewusst, dass die Katzen uns nur etwas vormachten. Sie waren gar nicht so zäh. Nur frech.«

»Wo sind eigentlich die Autos?«, fragte Moon. »Ich meine, ich sehe die Gebäude beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig ist. Aber wo sind die Autos geblieben?«

»Wenn du im Grünzeug gräbst, wirst du vielleicht noch ein paar rostige Metallteile oder Kunststoffsplitter finden.« Sidewise schaute Ahmed finster an. »Willst du mir schon wieder vorwerfen, dass ich die Moral untergrabe? Ich weise nur auf etwas hin, das selbst ein Blinder mit einem Krückstock sieht.«

»Damit können wir uns auch später noch befassen«, sagte Ahmed mit einer Ruhe, die Snowy imponierte. »Was wir nun zu tun haben, ist auch offensichtlich.«

Snowy nickte. »Wir müssen einen Unterschlupf finden.«

Bonner stieg auf einen flachen Hügel, der vielleicht einmal eine Mauer gewesen war und wies gen Westen. »Diese Richtung. Ich sehe Mauern. Ich meine, stehende Mauern. Etwas, das noch halbwegs intakt aussieht.«

Mit einem irrationalen Funken Hoffnung schaute Snowy in die angegebene Richtung. Er sah, dass es sich um eine Kirche handelte. Eine mittelalterliche Kirche. Er erkannte die hohen, schmalen Fenster und das Tor. Aber das Tor und das Dach waren längst verschwunden, sodass das offene Gebäude den Elementen ausgesetzt war. Er spürte Enttäuschung – und zugleich einen Anflug von Bewunderung.

Sidewise schien seine Gedanken zu erraten. »Wenn man schon baut, dann sollte man aus Steinen bauen.«

»Was glaubst du, wo wir sind? England, Frankreich?«

Sidewise zuckte die Achseln. »Ich kenne mich mit Kirchen nicht so aus.«

Ahmed hob seinen Rucksack auf. »In Ordnung. Das Dach fehlt, also werden wir uns behelfen müssen. Bonner, Snowy, ihr kommt mit mir – wir suchen Holz. Und wir werden ein Feuer machen müssen. Moon, Sidewise, darum kümmert ihr euch.« Er ließ den Blick über ihre Gesichter schweifen, die wie Münzen in der Dämmerung schimmerten. Dies wäre das erste Mal seit dem Aufwachen, dass sie sich aus den Augen verloren, und selbst Snowy verspürte einen Anflug von Unsicherheit. »Geht aber nicht so weit«, sagte Ahmed. »Außer uns ist niemand hier, sodass wir auch von niemandem Hilfe erwarten können. Falls doch etwas passiert – irgendetwas –, ruft oder gebt einen Schuss ab, und dann kommen die anderen zu Hilfe. In Ordnung?«

Sie nickten und murmelten etwas vor sich hin. Und dann verschwanden sie in der Dunkelheit, um ihre Aufträge auszuführen.

Das Innere der Kirche war auch ein grünes Biotop. An einem Ende war ein Hügel, bei dem es sich vielleicht um den Altar gehandelt hatte, aber es gab keine Spur von Kirchenbänken oder Kruzifixen, Gebetsbüchern oder Kerzen. An Stelle des Dachs klaffte eine große Lücke; kein Stück war mehr von der hölzernen Konstruktion übrig, die einst diese massiven Wände überspannt haben musste.

Sie errichteten Unterstände, bauten Lager aus Zweigen und deckten sich mit Blättern ab. Angenehm würde diese Nacht nicht werden, aber auch nicht so schlimm wie das Überlebenstraining, das sie alle absolviert hatten.

Sie verpflegten sich aus den Rationspäckchen und mampften getrocknete Bananen und Dosenfleisch. Die Früchte des Waldes verschmähten sie. Da spielte auch ein wenig Aberglaube mit hinein, sagte Snowy sich, indem sie so lang wie möglich an den Relikten der Vergangenheit festhalten wollten, bevor sie sich dieser neuen Gegenwart aussetzten. Aber es war schon richtig, es langsam angehen zu lassen. Dass Ahmed sie gewähren ließ, bewies seine psychologische Kompetenz. Langfristig würden sie sich sowieso umstellen müssen.

Sie waren alle recht erschöpft nach dem langen Marsch, den sie gleich nach dem Verlassen der Grube absolviert hatten. Snowy fragte sich, wie sie sich bewährt hätten, wenn sie wirklich hätten kämpfen müssen; vielleicht hätte diese Strategie überhaupt nicht so funktioniert, wie die Planer es sich vorgestellt hatten. Und allen machten die Füße zu schaffen – sie waren mit Blasen übersät und schmerzten. Das lag daran, dass sie keine Strümpfe trugen. Snowy befürchtete, dass sie ihre beschränkten Vorräte an Salben zu schnell aufbrauchen würden. Morgen würden sie sich etwas einfallen lassen müssen.

Aber es war dennoch tröstlich, sich in diesen Überresten menschlicher Architektur einzurichten, als ob sie sich noch immer im Schoss der Zivilisation befänden, aus dem sie hervor gekrochen waren. Trotzdem würde das Feuer die ganze Nacht brennen müssen.

Zu seiner Erleichterung war Snowy zu müde, um sich noch großartig den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem vermochte er nicht einzuschlafen.

Er rollte sich unruhig auf den Rücken. Die Nacht war warm – zu verdammt warm für einen englischen Frühling; vielleicht hatte das Klima sich geändert, und der Treibhauseffekt war außer Kontrolle geraten. Der Himmel, der von den Umfassungsmauern eingerahmt wurde, war mit Sternen übersät, die hier und da von Wolken verhüllt wurden. Die Mondsichel war zu schmal, um die Sterne auszublenden; das gütige Antlitz des Monds, das über seine Kindheit gewacht hatte, schien unverändert. Er hatte sich bei den Übungen in der Wüste zu Orientierungszwecken etwas mit Astronomie befasst. Er ordnete die Sternbilder zu. Da war Kassiopeia, nur dass die vertraute W-Form nun um einen sechsten Stern erweitert worden war. Ein heißer junger Stern, der vielleicht geboren worden war, nachdem er in die Grube gefahren war. Was für eine seltsame Vorstellung.

»Ich sehe den Mars nicht«, flüsterte Sidewise in der Dunkelheit.

Snowy erschrak; er hatte geglaubt, dass Sidewise schon schlafen würde. »Was?«

Sidewise wies gen Himmel, wobei sein Arm als Silhouette sich abzeichnete. »Venus. Jupiter. Saturn, glaube ich. Wo ist aber der Mars?«

»Vielleicht ist er schon untergegangen.«

»Vielleicht. Vielleicht ist aber auch etwas anderes mit ihm passiert.«

»Erzähl nicht so einen Scheiß, Side.«

Sidewise erwiderte nichts darauf.

»Ich habe einmal römische Ruinen gesehen«, flüsterte Snowy. »Den Hadrian-Wall. Der sah genauso aus. Alles war überwuchert, und selbst der Mörtel war verrottet.«

»Das war aber ein ganz anderer Maßstab«, murmelte Sidewise. »Selbst aus der Perspektive Roms. Wir hingegen hatten eine globale Zivilisation, eine überfüllte Welt. Alles war vernetzt.«

»Was, glaubst du, ist geschehen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht dieser verdammte Vulkan. Eine Hungersnot. Oder eine Seuche. Überall Flüchtlinge. Und dann Krieg, vermute ich. Ich bin froh, dass ich das nicht erlebt habe.«

»Maul halten, ihr beiden«, murmelte Ahmed.

Snowy setzte sich auf. Er schaute durch einen leeren Fensterrahmen in der Kirchenmauer. Aber er sah nichts. Das Land lag in völliger Dunkelheit, und es leuchtete kein einziges Licht. Vielleicht war es überall so dunkel wie hier. Vielleicht war ihr Feuer das einzige Licht in ganz England – oder auf dem ganzen verdammten Planeten. Das war eine erschreckende, unglaubliche und zugleich unakzeptable Vorstellung. Vielleicht kam Sidewise damit klar, Snowy bestimmt nicht.

Irgendein Tier heulte draußen in der Nacht.

Er warf noch etwas Holz ins Feuer und grub sich tiefer in seinen Blätterhaufen.

Sidewise hatte Recht gehabt. Der Mars war nicht mehr da.

Die Replikatoren, Ian Maughans Robotsonden hatten überlebt. Das Programm war eine Vorstufe zur menschlichen Kolonisierung des Planeten. Die replizierenden Roboter hätten die Anweisung erhalten sollen, Unterkünfte für menschliche Astronauten zu bauen, Fahrzeuge und Computer, Luft und Wasser zu synthetisieren und Nahrungsmittel für sie anzubauen.

Doch die Menschen kamen nicht. Sie erteilten nicht einmal mehr Befehle.

Damit hatten die replizierenden Roboter allerdings kein Problem. Wie sollten sie auch? Solange man ihnen nichts anderes sagte, bestand ihr einziger Zweck im Replizieren. Nichts anders zählte, nicht einmal das seltsame Schweigen von der blauen Welt am Himmel.

Und sie replizierten auf Teufel komm raus.

Viele Modifikationen wurden erprobt, integriert und auch verworfen. Es dauerte nicht lang, bis eine durchgreifend bessere Konstruktion entstand.

Die Replikatoren integrierten die Fertigungskomponenten nun in ihre Körper. Die neue Art sah aus wie führerlose Zugmaschinen, die sich durch den roten Staub wälzten. Jede wog ungefähr eine Tonne. Und jede brauchte ein Jahr, um eine Kopie von sich anzufertigen – eine viel kürzere Reproduktionszeit als zuvor, weil sie nun dorthin zu fahren vermochten, wo die Ressourcen waren.

Nach einem Jahr hatte die Anzahl des neuen Replikator-Typs sich verdoppelt. Und ein Jahr später hatte wieder jede Maschine eine Kopie von sich produziert, sodass die ursprüngliche Anzahl sich bereits vervierfacht hatte. Und im darauf folgenden Jahr waren es schon achtmal so viele. Und so weiter.

Das Wachstum verlief exponentiell. Und das Resultat war vorhersehbar.

Innerhalb eines Jahrhunderts hatten die Fabrikroboter sich über den gesamten Mars ausgebreitet, vom Äquator bis zu den Polen, vom Gipfel des Mons Olympus bis in die Tiefen des Hellas-Kraters. Ein paar von ihnen wurden in Konflikte wegen Ressourcen verwickelt: Es wurden langsame, logische und mechanische Kriege geführt. Andere legten Gruben an, um die tieferen Bodenschätze des Mars auszubeuten. Wenn man in die Tiefe ging, waren noch immer viele Ressourcen vorhanden – zumindest für eine Weile.

Die Minen wurden immer tiefer vorgetrieben. An manchen Stellen brach sogar schon die Kruste ein. Aber sie gruben immer weiter. Der Mars war eine kalte, harte Welt, deren Inneres vorwiegend aus Gestein bestand. Das unterstützte das Vortreiben von Stollen und Schächten. Jedoch stießen die immer tiefer grabenden Replikatoren auch auf neue Bedingungen, an die sich anpassen mussten. Dazu waren sie natürlich in der Lage.

Trotzdem stellte die Penetration des Mantels sie vor gewisse technische Herausforderungen. Der Vorstoß in den Kern war ebenfalls nicht unproblematisch.

Der Mars wog hundert Trillionen mal so viel wie ein Selbstfahr-Replikator. Dennoch war es eine geringe Masse angesichts der Formel ›Verdopplung-pro-Generation‹. Wegen der ständigen Konflikte war die Wachstumsrate suboptimal. Nichtsdestoweniger war der Mars schon nach ein paar hundert Generation von der Bildfläche verschwunden, und seine ganze Substanz steckte nun in den glitzernden Leibern der Replikatoren.

Nachdem sie den ganzen Planeten in Kopien ihrer selbst umgewandelt hatten, schwärmten die Replikatoren mit Sonnensegeln, Fusionstriebwerken und sogar mit primitiven Antimaterie-Triebwerken auf der Suche nach Rohstoffen im Sonnensystem aus.

Am nächsten Tag durchstreifen sie die Landschaft um die Stadt. Snowy sah Vögel, Eichhörnchen, Mäuse, Kaninchen und Ratten. Das war aber auch fast schon alles. Vögel schien es auch nicht mehr allzu viele zu geben. Das Land war still, als ob alle Lebewesen aufgesammelt und weggeschafft worden wären.

Aber die Ratten waren zum Teil große Brocken. Und dann waren da noch die Ratten-Wölfe, die er jedenfalls gesehen zu haben glaubte. Was auch immer sie waren, sie flohen bei seiner Annäherung.

Nagetiere hatten immer schon mit Primaten konkurriert, sagte Sidewise sich. Selbst auf dem Gipfel der technischen Zivilisation war es den Menschen lediglich gelungen, die Nagetiere einigermaßen außer Sichtweite und von der Nahrung fern zu halten. Und wo die Menschen nun von der Bildfläche verschwunden waren, erlebten die Ratten offensichtlich eine Blütezeit.

Die Jagd war aber einfach. Snowy legte versuchsweise ein paar Schlingen aus. Und es funktionierte. Die Hasen und Mäuse waren richtig zutraulich. Das war aber auch ein schlechtes Zeichen, denn bei näherer Überlegung bedeutete es, dass sie schon seit einiger Zeit keine Menschen mehr gesehen hatten.

Am Ende des zweiten Tages sagte Ahmed ihnen, dass sie sich in der Kirchenruine im Kreis auf verwitterte schwarze Steinblöcke setzen sollten.

Snowy war sich der subtilen Veränderungen bewusst, die in der Gruppe stattgefunden hatten. Moon senkte den Blick und vermied es, den anderen in die Augen zu schauen. Bonner, Ahmed und Sidewise musterten sich gegenseitig und Snowy mit Berechnung.

Ahmed hielt ein leeres Rationspäckchen in die Höhe. »Hier können wir nicht bleiben. Wir brauchen einen Plan.«

Bonner schüttelte den Kopf. »Das Wichtigste ist, dass wir andere Menschen finden.«

»Wir müssen uns der Realität stellen«, sagte Sidewise. »Es gibt keine anderen Menschen mehr – wir sind auf uns allein gestellt. Wir haben bisher niemanden gesehen. Und wir haben auch keinerlei Anzeichen dafür gesehen, dass irgendjemand sich in letzter Zeit in dieser Gegend aufgehalten hätte.«

»Keine Kondensstreifen«, sagte Ahmed und wies zum Himmel. »Das Funkgerät ist tot, auf allen Frequenzen. Die Satelliten sind ausgefallen. Irgendetwas Schlimmes ist passiert.«

Moon lachte humorlos. »Das kannst du laut sagen.«

»Wir wissen nicht, was letztlich passiert ist. Als es zu Ende ging, muss aber das Chaos ausgebrochen sein. Wir haben keinen Kampfauftrag erhalten. Man hat uns vermutlich ganz vergessen. Bis wir durch einen Zufall wieder belebt wurden.«

»Wie lang, Sidewise?« Snowy musste sich förmlich zu dieser Frage zwingen.

Sidewise rieb sich die Nase. »Schwer zu sagen. Wenn wir eine Sternkarte hätten, dann könnten wir es an Hand der veränderten Position der Sterne ermitteln. In Ermangelung einer solchen müssen wir uns am Reifegrad des Eichenwaldes orientieren.«

»Du bist doch wirklich ein verdammtes Arschloch«, blaffte Bonner. »Wie verdammt lang? Fünfzig Jahre, sechzig…«

»Nicht weniger als tausend Jahre«, sagte Sidewise mit gepresster Stimme. »Vielleicht noch mehr. Wahrscheinlich sogar mehr.«

Sie schwiegen. Das mussten sie erst einmal verdauen. Und Snowy schloss die Augen und stellte sich vor, dass er vom Deck eines Flugzeugträgers in die Dunkelheit fiel.

Tausend Jahre. Und doch bedeutete es auch nicht mehr als die Kluft von fünfzig Jahren, die ihn, wie er gedacht hatte, von seiner Frau trennte. Vielleicht sogar noch weniger, denn es war einfach unvorstellbar.

»Das ist vielleicht eine schöne Zukunft«, sagte Bonner mürrisch. »Keine Autos mit Düsenantrieb. Keine Sternen-Schiffe, keine Städte auf dem Mond. Nur diesen Scheiß.«

»Wir müssen davon ausgehen«, sagte Ahmed, »dass wir hier niemanden mehr finden werden. Dass wir allein sind. Auf dieser Grundlage müssen wir planen.«

»Die Zivilisation ist zusammengebrochen, alle sind tot, und wir sind tausend Jahre in der Zukunft gestrandet«, sagte Sidewise schnaubend. »Wozu brauchen wir da noch einen Plan7

»Der Fluss ist wahrscheinlich sauber«, sagte Snowy. »Die Fabriken müssen schon vor Jahrhunderten den Betrieb eingestellt haben.«

Ahmed nickte ihm dankbar zu. »Gut. Wenigstens haben wir eine Lebensgrundlage. Wir können fischen, und wir können jagen; wir werden gleich morgen damit anfangen. Sidewise, wieso benutzt du deinen Kopf nicht einmal für etwas Nützliches und machst dir Gedanken übers Fischen? Ich erwarte Vorschläge, wie wir Angelleinen, Netze und weiß der Geier was improvisieren. Snowy, du hast den gleichen Auftrag für die Jagd. Und dann werden wir uns einen Ort zum Leben suchen müssen. Vielleicht einen Bauernhof. Macht euch Gedanken darüber, wie wir den Boden roden und Weizen aussäen.« Er schaute zum Himmel hinauf. »Was glaubt ihr, welche Jahreszeit wir haben? Frühsommer? Um dieses Jahr noch eine Ernte einzufahren, sind wir zu spät dran. Aber im nächsten Frühling…«

»Wo willst du denn hier noch Weizen finden?«, fragte Sidewise schroff. »Weißt du, was passiert, wenn man ein Kornfeld sich selbst überlässt? Die Ähren fallen ab und verrotten. Kultivierter Weizen hatte uns gebraucht, um zu überleben. Und wenn man Kühe ein paar Tage lang nicht melkt, dann gehen sie ein, weil die Euter platzen…«

»Ganz ruhig«, sagte Snowy.

»Ich will damit nur sagen, dass ihr, wenn ihr eine Farm bewirtschaften wollt, ganz von vorn anfangen müsst. Ihr müsst euch um den ganzen verdammten Kram kümmern, den ein landwirtschaftlicher Betrieb so mit sich bringt.«

Ahmed nickte. »Wir, Side. Nicht ihr. Wir. Wir sitzen nämlich alle im selben Boot. In Ordnung. Wir wissen nun, was wir zu tun haben. Und in der Zwischenzeit betätigten wir uns als Jäger und Sammler. Wir leben vom Land, wie es unsere Vorfahren getan haben.«

Moon befingerte ihre Kleidung. »Die Klamotten werden aber auch nicht ewig halten. Wir werden neue Kleidung anfertigen müssen. Und die Waffen werden uns auch nicht mehr viel nützen, wenn die Munition verbraucht ist.«

»Vielleicht können wir Munition nachfertigen«, sagte Bonner.

Sidewise lachte. »Da fallen mir jetzt aber nur Steinäxte ein.«

»Ich weiß gar nicht, wie man eine abgefuckte Steinaxt anfertigt«, knurrte Bonner.

»Ich auch nicht, wo du es sagst«, sagte Sidewise nachdenklich. »Und wisst ihr was? Ich wette, dass es auch keine diesbezüglichen Lehrbücher mehr gibt. Das gesammelte Wissen, das mühsam zusammengetragen wurde, seit wir nackig als Homo erectus in Afrika umher gerannt sind, ist futsch.«

»Dann werden wir noch mal von vorn anfangen müssen«, sagte Ahmed bestimmt.

Bonner musterte ihn. »Und wieso?«

Ahmed schaute zum Himmel empor. »Wir schulden es unseren Kindern.«

»Vier Adams und eine Eva«, sagte Sidewise.

Es trat ein längeres Schweigen ein. Moon stand da wie eine Statue. Sie hatte einen harten Blick. Snowy fiel auf, dass ihre Hand über der PPK schwebte.

Ahmed stand auf. »In die Zukunft können wir aber immer noch schauen. Nun geht es erstmal darum, dass wir etwas in den Bauch bekommen.« Er klatschte in die Hände. »Packen wir’s an!«

Sie zerstreuten sich. Die Mondsichel ging schon auf. Sie hing wie ein Knochensplitter am blauen Himmel.

»Na«, sagte Sidewise zu Snowy, als sie aufbrachen, »wie findest du denn das Leben der Zukunft?«

»Wie im Urlaub«, sagte Snowy bitter. »Als ob ich Urlaub machen würde.«

III

Etwa fünf Kilometer vom Basislager entfernt versuchte Snowy ein Feuer zu machen.

Er war in einem Gelände, das einmal ein Feld gewesen sein musste. Es waren noch immer Überreste einer mürben Steinmauer zu sehen, die ein breites Rechteck eingrenzte. Doch nach tausend Jahren fügte das Feld sich wieder fast nahtlos in die Landschaft ein und wurde von ganzjährigen Kräutern, Gräsern, Sträuchern und Laubbaum-Schösslingen überwuchert.

Er hatte ein Holzbrett von der Länge seines Unterarms angefertigt und ein Loch in die flache Seite gebohrt. Er hatte ein Rundholz, einen Stock mit einem angespitzten Ende; einen Schlagstein, der genau in die Hand passte und einen Bogen, den er aus einem Ast und einem Schnürsenkel angefertigt hatte. Ein Stück Rinde unter der Kerbe sollte die Glut auffangen, die er entfachen wollte. In der Nähe hatte er ein kleines Nest aus trockener Rinde, Blättern und Gras gebaut, das als Nahrung für die Flammen dienen sollte. Er kniete sich aufs rechte Knie und stellte den linken Fuß aufs Holzbrett. Dann spannte er die Sehne und setzte das Rundholz ein. Er schmierte das Loch mit etwas Ohrenschmalz und setzte das stumpfe Ende des Rundholzes in die Vertiefung des Holzbretts; das spitze Ende steckte er ins steinerne Widerlager. Dann drückte er leicht auf den Stein und schob zugleich den Bogen hin und her, sodass sich das Rundholz mit zunehmendem Druck und Geschwindigkeit drehte. Er warte darauf, dass Rauch aufstieg und ein Feuer in Gang gesetzt wurde.

Snowy wusste, dass er älter aussah, als er war. Er trug das Haar nun lang und hatte es mit einem Stück Draht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihm wuchs auch ein Bart, obwohl er ihn alle paar Tage mit einem Messer stutzte. Seine Haut war zäh wie Leder, und er hatte Falten um Augen und Mund. Ich bin schließlich auch älter geworden, sagte er sich. Ganze tausend Jahre älter. Dann sollte ich auch so aussehen.

Es war kaum zu glauben, dass sie erst vor einem Monat aus der Grube gestiegen waren.

Sie hätten aber noch nicht auf diese primitive Art und Weise Feuer machen müssen. Sie hatten immer noch genug wasserdichte Streichholzschachteln und einen Vorrat von Trioxan-Päckchen, einer leichten chemischen Wärmequelle, die vorzugsweise vom Militär genutzt wurde. Doch Snowy dachte schon an den Tag, wenn die Ausrüstung, die sie aus der Grube mitgenommen hatten, verschlissen und verbraucht war. Er ›schummelte‹ aber. Er hatte nämlich sein tausend Jahre altes Schweizer Messer benutzt, um den Bogen und das Holzbrett anzufertigen; später würde er es mit einem Steinmesser versuchen müssen. Doch alles zu seiner Zeit.

Dieses alte Feld befand sich in der Nähe eines Ausläufers des großen Eichenwaldes, der, so weit sie sie erkundet hatten, die Landschaft dieses nach-menschlichen Englands dominierte – vorausgesetzt, dass es überhaupt England war. Es zog sich über eine leichte Anhöhe hinweg. Im Westen, etwas tiefer gelegen, hatte sich ein See gebildet. Snowy sah Überreste von Mauern, die unter der Wasseroberfläche verschwanden. Der See war mit Schilf, Seerosen und Unkraut überwuchert, und auf der Oberfläche sah er den schleimigen graugrünen Schimmer von Algen. Eutrophie, sagte Sidewise sich: Noch immer sickerten künstliche Nährstoffe, vor allem Phosphor, aus dem Boden in den See, und überstimulierten die Ökologie. Snowy vermochte kaum zu glauben, dass die Gülle, die die längst toten Bauern in ihr Land gepumpt hatten, noch immer die Umwelt verseuchte, aber es schien wohl so zu sein.

Die Landschaft mutete verwunschen an. Stille umfing ihn. Er hörte nicht einmal Vogelstimmen.

Manche Tiere – Hasen, Kaninchen und Moorhühner – hatten das Land schnell zurückerobert, nachdem die Menschen die Jagd, Ungeziefervertilgung und Land- und Forstwirtschaft eingestellt hatten. Größere Säugetiere vermehrten sich aber so langsam, dass die Erholung länger gedauert haben musste. Es schien jedoch verschiedene Arten von Damwild zu geben, und Snowy hatte sogar Schweine in den Wäldern gesichtet. Große Räuber hatten sie indes nicht gesehen. Selbst Füchse schienen selten zu sein. Es gab auch keine Raubvögel mehr, außer ein paar angriffslustig wirkende Stare. Sidewise sagte, dass nach dem Zusammenbruch ihrer Nahrungskette die spezialisierten Räuber ausgestorben seien. In Afrika gab es wahrscheinlich keine Raubkatzen und Affen mehr, sagte er, selbst wenn sie sich durch Flucht dem Verzehr durch die letzten verbliebenen, verhungernden Menschen entzogen hatten.

Vielleicht, sagte Snowy sich. Aber er machte sich auch Gedanken wegen der Ratten.

Das Gleichgewicht würde sich langfristig wieder einstellen. Variationen, Adaption und natürliche Auslese würden schon dafür sorgen; die alten Nischen würden von der einen oder anderen Art wieder besiedelt werden. Aber die neue Gemeinschaft hätte dann vielleicht nichts mit der alten gemein. Und weil die Säugetierarten im Durchschnitt nur für ein paar Millionen Jahre existiert hatten, sagte Sidewise, würde es auch wieder Millionen Jahre dauern – zehn, vielleicht zwanzig, zwanzig Millionen Jahre –, bevor die Welt wieder in alter Herrlichkeit erblüht war. Selbst wenn die Menschen eine Renaissance erlebten und zum Beispiel für fünf Millionen Jahre überdauerten, würden sie trotzdem keine Welt mehr sehen, wie Snowy sie als Kind gekannt hatte.

Snowy war nicht sehr naturverbunden. Dennoch war diese Vorstellung zutiefst beunruhigend. Die Situation, in der er sich befand, mutete ihn absolut irreal an.

Es stieg noch kein Rauch auf – das verdammte Feuer war noch immer nicht in Gang gekommen. Er schob den Bogen weiter hin und her.

Das größte Problem beim Feuermachen bestand darin, dass er zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Er vermisste seine Freunde, die Kameradschaft bei der Truppe. Er vermisste seine Arbeit und sogar die Routinetätigkeiten – die Routine vielleicht sogar am meisten, weil sie seinem Leben eine Struktur gegeben hatte, die nun fehlte.

Er wurde sich bewusst, dass er die Geräusche vermisste, obwohl dieser Verlust sich eher unterschwellig bemerkbar machte: Es fehlten Fernsehen, Radio und so weiter, eben die ganze Geräuschkulisse der modernen Welt. Wenn in der Neuen Welt etwas ihn in den Wahnsinn treiben würde, dann wäre es wohl die Stille, sagte er sich, die bedrückende, unmenschliche Stille einer stummen Welt. Er schauderte bei der Vorstellung, wie es in den letzten Tagen gewesen sein musste, als die Maschinen ausfielen, die Leuchtreklamen, die Neonröhren und Bildschirme flackerten und schließlich erloschen.

Und er vermisste Clara. Natürlich vermisste er sie. Er hatte sein Kind nie kennen gelernt und seinen Sohn oder seine Tochter nie gesehen.

Anfangs war er von Schuldgefühlen geplagt worden: Er fühlte sich schuldig, weil er noch lebte, wo so viele im Jenseits verschwunden waren, fühlte sich schuldig, weil er nichts für Clara zu tun vermochte, fühlte sich schuldig, weil er aß und trank und seinen menschlichen Verrichtungen nachging, während alle anderen, die er jemals gekannt hatte, tot waren. Doch diese Befindlichkeit schwächte sich bald gnädigerweise ab. Er war immer schon mit einem Mangel an Phantasie gesegnet gewesen, wie Sidewise einmal konstatiert hatte.

Oder vielleicht war es auch mehr als das.

Im klaren Licht dieser neuen Zeit schien es nämlich, als ob sein altes Leben im überfüllten, muffigen England des einundzwanzigsten Jahrhunderts nunmehr ein Traum war. Als ob er mit dem Grün verschmölze…

Plötzlich hörte er ein Rascheln im hüfthohen Gestrüpp, vielleicht ein Dutzend Schritte entfernt. Er drehte sich in diese Richtung und spähte und lauschte. Ein einziger, mit Samen behafteter Grashalm wiegte sich träge. Er hatte dort drüben eine Schlinge ausgelegt. Schlich da etwas durchs Unterholz, eine rundliche Schulter, ein helles, stechendes Auge?

Er legte den Bogen und das Rundholz weg, stand auf, streckte sich und ging scheinbar ziellos auf die Stelle zu, wo er den Schemen gesehen hatte. Er nahm den Bogen vom Rücken, zog einen Pfeil aus dem Kaninchenfell-Köcher und legte ihn sorgfältig auf die Sehne.

Da rührte sich nichts im Gestrüpp – doch als er es fast schon erreicht hatte, stob plötzlich ein Schemen auf und floh vor ihm. Ganz kurz sah er einen fahlen Leib mit braunen, langen Gliedmaßen. Ein Fuchs? Aber es war groß, größer als alles, was er bisher gesehen hatte. Dann sah er das Wesen zu Boden stürzen.

Ohne zu zögern rannte er darauf zu, stellte ihm den Stiefel auf den Rücken und zielte mit dem Bogen auf seinen Kopf. Das Tier rollte sich herum. Es schrie wie eine Katze und schlug die Hände vors Gesicht.

… Er senkte den Bogen. Hände. Es hatte Hände wie ein Mensch oder wie ein Affe.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er ließ den Bogen fallen. Er kniete sich über das Tier, klemmte den Körper zwischen den Beinen ein und packte es an den Handgelenken. Es war dünn und geschmeidig, aber auch sehr kräftig: Er musste seine ganze Kraft aufbieten, um ihm die Hände vom Gesicht wegzuziehen. Das Tier spie und zischte ihn an.

Aber sein Gesicht – nein, ihr Gesicht – war nicht das eines Menschenaffen oder Affen. Es war ganz eindeutig ein menschliches Gesicht.

Für eine Weile saß Snowy verblüfft auf dem Mädchen.

Es war nackt. Der Körper war mit einem flaumigen Pelz aus orangebraunen Haaren bewachsen. Das dunklere Haupthaar war ein Gewirr aus schmutzigen Locken, die so aussahen, als seien sie noch nie geschnitten worden. Es war nicht groß, aber es hatte Brüste, hängende kleine Beutel mit harten Warzen, die aus der Behaarung stachen. Und unter dem dunklen Schamhaar-Dreieck war eine Schmiere, bei der es sich vielleicht um Menstruationsblut handelte. Und es hatte Schwangerschaftsstreifen.

Und nicht nur das, dieses Weibchen stank auch noch wie ein nasser Fuchs.

Aber es war nicht das Gesicht eines Affen. Die Nase war zwar klein, aber vorspringend. Es hatte einen kleinen Mund und ein spitzes Kinn mit einem Grübchen. Die Stirn über den blauen Augen war glatt. Sie war höchstens etwas niedriger als seine.

Trotz des haarigen Körpers wirkte sie menschlich. Aber der Blick war – umwölkt, furchtsam und verwirrt.

Er hatte einen Frosch im Hals. »Sprichst du Englisch?«, fragte er sie.

Die Frau kreischte auf und schlug um sich.

Und plötzlich hatte Snowy eine prächtige Erektion. Verdammte Scheiße, sagte er sich. Schnell rollte er sich von ihr herunter und griff nach Bogen und Messer.

Die Frau vermochte nicht aufzustehen. Mit dem rechten Fuß hatte sie sich in seiner Schlinge verfangen. Sie kroch über den feuchten Boden und bedeckte den Fuß. Dann wiegte sie sich mit einem leisen Singsang. Sie hatte offensichtlich eine Heidenangst.

Snowys Anflug von Lust war verflogen. Nun sah sie doch aus wie ein Schimpanse mit ihren Gesten und der kreatürlichen Angst, obwohl ihr Körper sich wie der einer Frau unter ihm angefühlt hatte (Clara, verzeih mir, aber es ist schon so lang her…). Die Kotspuren an den Beinen, und die Urinpfütze an der Stelle, wo sie gelegen hatte, stießen ihn nur noch mehr ab.

Er kramte in einer Tasche der Fliegerkombi und holte den Rest des Rationspäckchens heraus. Es enthielt noch eine Handvoll Nüsse, einen Rest Dosenfleisch und ein Stück getrocknete Banane. Er entnahm die Banane und ein paar Nüsse und hielt sie ihr hin.

Sie schreckte so weit zurück, wie die Schnur der Schlinge es zuließ.

Er versuchte ihr die Sache schmackhaft zu machen, steckte sich selbst ein paar Nüsse in den Mund und kaute sie mit gespielter Verzückung und übertrieben genießerisch. »Gut. Sehr gut.«

Aber sie nahm ihm die Nahrung trotzdem nicht aus der Hand. Ein Reh oder Kaninchen würde das freilich auch nicht tun, sagte er sich. Also legte er die Sachen zwischen ihnen auf den Boden und zog sich zurück.

Sie schnappte sich ein paar Nüsse und stopfte sie in den Mund. Und die Bananen kaute sie, als ob sie den Geschmack bis zur Neige auskosten wollte, ehe sie sie schließlich hinunterschluckte. Wahrscheinlich hatte sie noch nie etwas so Süßes gegessen, sagte er sich.

Oder vielleicht war sie auch nur kurz vorm Verhungern. Er hatte die Falle schon vor ein paar Tagen ausgelegt; sie lag wahrscheinlich schon seit achtundvierzig Stunden hier. Die Fäkalien und die verfilzte, verschmutzte Beinbehaarung waren auch ein Indiz dafür.

Während sie aß, untersuchte er den Fuß, der sich in der Schlinge verfangen hatte. Es waren eine einfache Schleifen-Schlinge, in der Kaninchen und Hasen sich mit dem Kopf verfangen sollten. Beim Versuch, sich zu befreien, hatte die Schlinge sich noch enger zugezogen – was an sich auch beabsichtigt war –, sodass sie tief ins Bein eingeschnitten und eine böse, blutige Wunde verursacht hatte. Er glaubte sogar, das Weiße des Knochens zu sehen.

Was nun? Er konnte sie betäuben und zum Basislager zurückbringen. Doch war sie kein Beutetier wie ein Kaninchen oder Hase – sie war auch kein wissenschaftlich interessantes Exemplar wie der große, fast flugunfähige Sittich, den Sidewise erbeutet hatte, als er am Ufer eines stillen Teichs umhergestakst war. Dies war ein Mensch, wie auch immer er aussah. Und dann erinnerte er sich wieder an diese Schwangerschaftsstreifen, die ihm sagten, dass sie mindestens ein Kind hatte, das irgendwo auf sie wartete.

»Bin ich tausend verdammte Jahre weit gereist, nur um dein Leben zu ruinieren, wie ich meins ruiniert habe? Das glaube ich, verdammt noch mal, nicht«, murmelte er. »Ich bitte um Entschuldigung.« Und dann sprang er auf sie.

Es geriet wieder zu einem Ringkampf. Er drückte sie auf den Boden, sodass sie mit dem Gesicht nach unten lag und die Arme unter ihr eingeklemmt waren. Dann setzte er sich auf ihren Rücken, durchtrennte mit dem Schweizer Messer die Schlinge und zog sie aus der blutigen Wunde, in die sie so tief eingeschnitten hatte. Nun griff er auf seine wertvollen Vorräte zurück und befreite die Wunde mit einer antiseptischen Flüssigkeit von Schmutz, geronnenem Blut und Eiter, wobei er sogar noch Haare herausziehen musste. Zum Schluss behandelte er sie noch mit einer medizinischen Dichtmasse und Salbe. Vielleicht würde sie das Zeug solang drauflassen, bis die Wunde desinfiziert war.

In dem Moment, wo er sie losließ, war sie auch schon weg. Er sah nur noch eine aufrechte, schlanke Gestalt durchs hohe Gras auf die Bäume zuhuschen; obwohl sie humpelte, war sie immer noch verdammt schnell.

Es war schon später Nachmittag. In der Dunkelheit sollten sie sich nicht allein von der Basis entfernen: Das hatte Ahmed ihnen ausdrücklich befohlen. Am liebsten wäre er der Frau in die grünen Mysterien des Waldes gefolgt. Aber er wusste, dass er das nicht tun durfte. Bedauernd sammelte er seine Ausrüstung zusammen und machte sich auf den Rückweg zum Basislager.

Snowy war der Letzte, der an jenem Abend wieder zur Gruppe stieß.

Sie hatten beschlossen, sich in der Nähe eines Sees niederzulassen, der ein paar Kilometer von der zerstörten Stadt entfernt war. Der Ort lag im Windschatten eines gedrungenen, kegelförmigen Hügels – er war offensichtlich künstlichen Ursprungs, vielleicht ein Hügelgrab aus der Eisenzeit oder vielleicht auch nur eine Müllkippe.

Ahmed versammelte sie um den Stumpf eines umgestürzten Baums, auf dem er fast wie ein König thronte. Snowy wollte den anderen von seiner aufregenden Begegnung erzählen. Aber sie waren nicht in der richtigen Stimmung dafür. Also setzte er sich nur hin.

Moon hatte sich im Verlauf der Zeit immer mehr in sich zurückgezogen; nun saß sie Ahmed im Schneidersitz gegenüber und hatte den Blick abgewandt. Dennoch stand sie wie immer im Mittelpunkt und war das Objekt stiller Begierde. Sidewise markierte wieder den geistesabwesenden Träumer, aber er saß Moon gegenüber, und Snowy sah, wie sein Blick über ihre Hüften und die Wade streifte, die überm Stiefel hervorblitzte. Ahmed selbst saß in erhöhter Position neben dem Mädchen auf dem Baumstumpf, als ob sie ihm gehörte.

Bonner war derjenige, der aus seiner Begierde für Moon kein Hehl machte. Er saß verlegen und verkrampft da; im Gesicht hatte er ein Tarnmuster aus Lehm. Er sah selbst wie ein Tier aus, sagte Snowy sich, und schien nur mit größter Mühe noch einen Rest von Disziplin wahren zu können.

Snowy sah, dass die Gruppe zerfiel und auseinanderdriftete – breite Verwerfungslinien zogen sich durch das vorher eng geknüpfte Beziehungsgeflecht. Sie hatten kaum noch etwas mit der ängstlichen Gruppe der Marineflieger gemeinsam, die sich in jener ersten Nacht in der zerstörten Kirche zusammengedrängt und die Rationen gefuttert hatte. Sie würden sich vielleicht gegenseitig wegen Moon umbringen, falls Moon sie nicht vorher tötete.

Und Ahmed, ihr Anführer, war sich dessen nicht einmal bewusst. Er lächelte sogar. »Ich habe mir Gedanken über die Zukunft gemacht«, sagte er.

Sidewise stieß ein dumpfes Stöhnen aus.

»Ich meine, über die fernere Zukunft«, sagte Ahmed. »Über die nächsten paar Monate hinaus, sogar über die nächsten paar Jahre. Auch wenn wir den nächsten Winter überstehen, es werden harte Zeiten für unsre Kinder.«

Bei der Erwähnung der Kinder warf Snowy einen Blick auf Moon. Sie schaute auf ihre verschränkten Hände.

Ahmed sagte, dass in der Phase der Industrialisierung – und vor allem während der letzten paar verrückten Jahrzehnte – die Menschheit alle verfügbaren fossilen Brennstoffe verfeuert hatte: Kohle, Erdgas und Öl. »Die fossilen Brennstoffe entstehen wahrscheinlich schon wieder neu. Das wissen wir. Aber es dauert sehr lange. Das Zeug, das wir in ein paar hundert Jahren verbrannt haben, benötigte vierhundertfünfzig Millionen Jahre zu seiner Entstehung. Aber es wird trotzdem genug Brennstoff für unsere Nachfahren geben«, sagte er. »Torf. Torf entsteht, wenn Sumpfmoose, Seggengräser und andere Pflanzen sich unter Sauerstoffausschluss in Feuchtgebieten zersetzten. Stimmt’s? Und in manchen Teilen der Welt wurde bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Torf als Brennmaterial gestochen.«

»In Irland«, sagte Sidewise. »Und in Skandinavien. Aber nicht hier.«

»Dann gehen wir eben nach Irland oder nach Skandinavien. Oder vielleicht finden wir ihn auch hier. Die Bedingungen haben sich nämlich grundlegend verändert, seitdem wir in den Kälteschlaf gegangen sind. Und überhaupt, wenn wir keinen Torf finden, dann werden wir eben etwas anderes finden. Uns gehört schließlich die ganze Welt.« Er tippte sich an die Schläfe. »Und wir haben noch immer unsre Intelligenz und unsren Einfallsreichtum.«

»Um Gottes willen«, platzte Sidewise heraus. »Ahmed, hast du es immer noch nicht begriffen? Wir sind nicht mehr als ein Haufen Ausgestoßener – Ausgestoßene in der Zeit. Um Himmels willen, Mensch, wir haben nur eine einzige Gebärmutter bei uns.«

»Meine Gebärmutter«, sagte Moon nun, ohne aufzuschauen. »Meine Gebärmutter. Du verdammter Wichser.«

»Sumpfeisen«, sagte Ahmed ungerührt.

Sie schauten ihn verständnislos an.

»In Sümpfen und Marschen entsteht Eisenoxid«, sagte Ahmed. »Wenn eisenhaltiges Grundwasser mit der Luft in Berührung kommt – nun, dann rostet es. Richtig, Sidewise? Die Wikinger hatten sich das schon zunutze gemacht. Wieso nicht auch wir…?«

Während sie die Diskussion fortführten, richtete Snowy den Blick aufs dämmerige Grün des nahen Walds. Sidewise hat Recht, sagte er sich. Wir sind durch einen Zufall hierher verschlagen worden, wie eine Art Echo. Wir werden genauso verrotten und vom Grün verschlungen werden wie die zerstörten Gebäude, und unsre Knochen werden mit den Milliarden anderer bleichen, die schon im Erdboden begraben sind. Und es wird auch kein Hahn nach uns krähen. Wenn er es nicht zuvor schon im tiefsten Innern gewusst hatte, so war er spätestens nach der Begegnung mit dem Affen-Mädchen davon überzeugt. Sie ist die Zukunft, sagte er sich; das sprachlose Kind der Wildnis.

Als sie auseinander gingen, nahm Snowy Sidewise auf die Seite und erzählte ihm von der wilden Frau.

»Hast du sie gefickt?«, fragte Sidewise sofort.

Snowy runzelte angeekelt die Stirn. »Nein. Mir war zwar danach – er stand mir förmlich bis zur Kinnlade –, aber als ich sie mir dann genauer ansah, ist es mir gleich wieder vergangen.«

Sidewise klopfte ihm auf die Schulter. »Deswegen müssen dir aber keine Zweifel an deiner Manneskraft kommen, Kumpel. Weena war wahrscheinlich nur nicht die Richtige für dich.«

»Weena?«

»Ein alter literarische Bezug. Aber egal. Hör zu. Ganz egal, was El Presidente da drüben sagt, wir sollten mehr über diese Wesen herausfinden. Es gibt viel Wichtigeres, als Torf zu stechen. Wir müssen herausfinden, wie sie leben, wenn wir überleben wollen… Geh zu deiner Freundin, Snowy. Und frag sie, ob sie sich mit uns beiden verabreden will.«

Nach ein paar Tagen, ehe Ahmed seine Pläne zum Wiederaufbau der Zivilisation noch umzusetzen vermochte, wurde er krank. Er musste in seinem Verschlag bleiben und sich von den anderen mit Nahrung und Wasser versorgen lassen.

Sidewise glaubte, dass er sich eine Quecksilbervergiftung zugezogen hatte, die von der Müllhalde herrührte. Quecksilber war seit Jahrhunderten für die Herstellung von allen möglichen Dingen verwendet worden, für Hüte und Spiegel, für Insektenvernichtungsmittel und Arzneien gegen Syphilis. Der Erdboden war wahrscheinlich damit gesättigt, und selbst jetzt, nach tausend Jahren, sickerte das Zeugs noch immer über verschiedene Kanäle in den See, wo es sich über die Nahrungskette in höchster Konzentration in den Fischen und den ›Endverbrauchern‹, den Menschen, ablagerte.

Für Sidewise entbehrte das alles nicht einer gewissen Ironie: dass Ahmed, der große Planer – derjenige, der von ihnen allen am längsten an den expansionistischen Träumen des längst vergangenen einundzwanzigsten Jahrhunderts festgehalten hatte –, dass ausgerechnet er an einer Dosis des Gifts erkrankt war, dem langlebigen Vermächtnis jenes zerstörerischen Zeitalters.

Snowy focht das nicht an. Es gab viel interessantere Dinge auf der Welt als alles, was Ahmed sagte oder tat.

Zum Beispiel Weena und ihre haarigen Gesellen aus dem Wald.

Snowy und Sidewise hatten unweit der Stelle, wo Snowy die erste Begegnung mit dem Affenmädchen gehabt hatte, eine Art Unterstand gebaut: eine Hütte, die aufwändig mit Gras und Laub getarnt worden war.

Snowy schaute auf Sidewise, der sich im Schatten der Hütte ausgestreckt hatte. In der Hitze dieses un-englischen Sommers hatten sie beide sich aller überflüssigen Kleidung entledigt und trugen nur noch Shorts, einen Ausrüstungs-Gürtel und Stiefel. Sidewise hatte sich eine perfekte Einzelkämpfer-Tarnung verpasst. Er war nach dem erst vor ein paar Wochen erfolgten Auszug aus der Grube nicht mehr wieder zu erkennen.

»Dort«, zischte Sidewise.

Schlanke graubraune Gestalten, zwei, drei, vier an der Zahl, lösten sich aus dem Schatten am Waldrand und wagten sich ein paar Schritte ins Freie hinaus. Die schlanken und aufrechten Gestalten waren nackt, aber sie trugen etwas in den Händen: wohl die üblichen primitiven Steinhämmer und Messer. Sie stellten sich in einem lockeren Kreis mit dem Rücken zueinander auf und schauten sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um.

Sidewise wäre allerdings nicht Sidewise gewesen, wenn er sich keine Geschichte über den Ursprung dieser kleinen haarigen Leute zurechtgelegt hätte. »Schmuddelkinder«, sagte er. »Wer hat es am längsten in den niedergehenden Städten ausgehalten? Die Schmuddelkinder, die immer schon in der Kanalisation hausten und von Abfällen lebten. Es hat vielleicht Jahre gedauert, bevor sie überhaupt bemerkten, dass etwas sich verändert hatte…«

Nun rannten die Haarigen über die Wiese auf eine am Boden liegende Gestalt zu. Es war ein Hirsch, ein großer Bock, den Snowy und Sidewise mit einer Schleuder erlegt und in der Hoffnung hier abgelegt hatten, die Haarigen aus der Deckung des Waldes zu locken. Die Haarigen scharten sich um den Kadaver. Dann machten sie sich daran, die Hinterläufe vom Körper abzusäbeln. Und während sie stumm arbeiteten, hielt einer Wache und sicherte in alle Richtungen.

»So machen sie das also«, murmelte Snowy. »Sie nehmen die Beine – siehst du?«

»Schnell und unkompliziert«, sagte Sidewise. »So ziemlich die einfachste Art der Fleischerei: Man hacke ein Bein ab und bringe es in den Schutz des Walds, bevor etwas mit längeren Zähnen kommt und einem die Beute streitig macht. Sie arbeiten koordiniert, auch wenn sie dabei nicht sprechen. Siehst du, wie die Wachen sich abwechseln? Sie sind Gruppen-Jäger. Oder zumindest Aasfresser, Ausputzer.«

Snowy fragte sich, weshalb sie so vorsichtig waren, wenn Sidewise Recht hatte und keine großen Räuber in der Nähe waren.

»Sie sehen menschlich aus, aber sie verhalten sich nicht so«, flüsterte Snowy. »Weißt du, was ich meine? Sie verhalten sich nicht wie eine Patrouille. Sie spähen eher wie Katzen oder Vögel.«

Sidewise grunzte. »Diese Schmuddelkinder hatten weder Kultur noch Schule gekannt. Sie waren in der Kanalisation zuhause. Vielleicht haben sie deswegen auch das Reden eingestellt. Vielleicht, weil in der Kanalisation die Tarnung durch Schweigen wichtiger war als Sprache.«

»Sie haben die Sprache verloren?«

»Wieso denn nicht? Es verlieren doch auch ständig Vögel die Fähigkeit zu fliegen. Intelligenz kostet etwas. Selbst ein Spatzenhirn wie deins, Snowy, ist aufwändig; es entzieht dem Körper viel Energie. Vielleicht ist dies eine Welt, wo es weniger auf Intelligenz ankommt als auf die Fähigkeit, schnell zu laufen oder gut zu sehen. Es hat wahrscheinlich nicht viel dazugehört, um die Sprache abzuschalten und sogar das Bewusstsein. Und nun kann das Gehirn schrumpfen. Warte noch hunderttausend Jahre, und sie werden wieder aussehen wie Australopithecinen.«

Snowy schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer geglaubt, die Menschen der Zukunft hätten große Wasserköpfe und keine Schwänze mehr.«

Sidewise schaute ihn im Dämmerlicht des Unterstands an. »Die Intelligenz hat uns nicht immer zum Vorteil gereicht, nicht wahr?«, fragte er säuerlich. Er schaute auf die Haarigen und rieb sich das Gesicht. »Da kommt man doch schon ins Grübeln, wenn man die so sieht. Die Zivilisation war nur ein Zwischenspiel. Am Anfang hätte man die Weichen noch zu stellen vermocht: das Ruder herumreißen und die Welt wieder aufbauen. Nun ist die Chance vertan, und wir sind in dieses Stadium zurückgeworfen worden: Wir leben wieder wie Tiere, als ein Tier von vielen in der Ökologie. Eine primitive, unmittelbare Existenz.«

Sie schauten noch eine Weile zu, wie die haarigen, nackten Leute dem toten Hirsch die Beine ausrissen und in den Schutz des Waldes schleppten, wobei sie zusammenarbeiteten und gleichzeitig sich stritten.

Dann kehrten sie ins Basislager zurück.

Wo Bonner Amok lief. Denn Moon war verschwunden.

»Wo, zum Teufel, ist sie?«

Moon hatte sich eine eigene Hütte errichtet, die solider gebaut und geschützter war als die der anderen. Snowy hatte sich immer gesagt, dass sie die Tür bestimmt mit einem Vorhängeschloss gesichert hätte, wenn sie denn eins gehabt hätte. Nun war alles weg – der Rucksack, den Moon aus der Fliegerkombi angefertigt hatte, die Werkzeuge und Kleidung, der hölzerne Kamm und ihr wertvoller Vorrat an auswaschbaren Tampons.

Bonner durchwühlte die Überreste und zertrümmerte die Wände der Hütte. Er war nackt bis auf fadenscheinige Shorts. Mit den starken Muskeln und dem lehmverschmierten Haar, Gesicht und Oberkörper hatte er kaum noch eine Ähnlichkeit mit dem schüchternen jungen Piloten, dessen Snowy sich angenommen hatte, als sie sich auf dem Flug zu einem Flugzeugträger in der Adria zum ersten Mal begegnet waren.

Ahmed kam aus seiner Hütte; er war in eine versilberte Überlebensdecke gewickelt? »Was ist denn hier los?«

»Sie ist weg. Sie ist einfach abgehauen!«, tobte Bonner.

Sidewise trat vor. »Wir sehen selbst, dass sie verschwunden ist, du Trottel.«

Bonner wollte ihm einen wuchtigen Schlag versetzen. Sidewise gelang es, sich vor der Faust des jungen Piloten wegzuducken, aber er wurde trotzdem an der Schläfe gestreift und zu Boden geworfen.

Snowy rannte zu Bonner und packte ihn von hinten an den Armen. »Um Himmels willen, Bonner, immer mit der Ruhe!«

»Dieser Eierkopf hat sie gefickt. Die ganze Zeit hat er sie gefickt.«

Ahmed wirkte konsterniert, wozu er auch allen Grund hatte, sagte Snowy sich; wenn Moon verschwunden und mit ihr ihre einzige Hoffnung auf Fortpflanzung verflogen war, dann waren seine grandiosen Pläne Makulatur, bevor er sie auch nur ansatzweise in die Praxis umgesetzt hatte. »Aber wieso hätte sie überhaupt verschwinden sollen?«, stöhnte er. »Wieso ist sie allein weg? Was hat das denn für einen Sinn?«

»Was hat das alles überhaupt noch für einen Sinn?«, fragte Snowy. »Wir werden eh alle hier umkommen. Es war von vornherein aussichtslos, Splot. Alles Sumpfeisen der Welt hätte daran nichts geändert.«

Sidewise rang sich ein Grinsen ab. »Ich glaube nicht, dass Bonner sich in diesem Augenblick Sorgen über das Schicksal der Menschheit macht. Nicht wahr, Bonner? Es stinkt ihm doch nur, dass die einzige Pussy auf der Welt verschwunden ist, ohne dass sie ihn auch nur ein einziges Mal rangelassen hätte.«

Bonner holte wieder aus, doch diesmal fiel Snowy ihm gleich in den Arm.

Ahmed schleppte sich hustend in seine Hütte zurück.

Nachdem eine relative Ruhe wiederhergestellt war, ging Snowy zum Gestell, wo sie eine Reihe gehäuteter Kaninchen aufgehängt hatten und bereitete eine Mahlzeit zu.

Bevor das erste Kaninchenragout überm Feuer brutzelte, hatte Bonner schon seinen Rucksack gepackt. Da stand er nun im Abendlicht und wandte sich an Sidewise und Snowy. »Ich verpiss mich«, sagte er.

Sidewise nickte. »Du willst Moon suchen?«

»Was glaubst du wohl, du Scheißkerl.«

»Ich glaube, sie hatte eine gute Ausbildung. Sie wird schwer aufzuspüren sein.«

»Ich werde es schon schaffen«, knurrte Bonner.

»Warte bis morgen«, riet Snowy ihm. »Iss erst mal was. Du begibst dich in der Dunkelheit nur unnötig in Gefahr.«

Doch Bonners Großhirn schien endgültig deaktiviert worden zu sein. Er schaute die beiden hinter seiner Schlammmaske finster an; er wirkte total angespannt. Dann stapfte er davon, wobei der große Rucksack auf dem Rücken auf und nieder hopste.

Sidewise legte noch mehr Fleisch aufs Feuer. »Den haben wir zum letzten Mal gesehen.«

»Glaubst du, dass er Moon finden wird?«

»Nicht, wenn sie ihn kommen sieht.« Sidewise schaute nachdenklich. »Und wenn er sie zwingen will, wird sie ihn töten. Das traue ich ihr zu.«

Das Kaninchen war fast gar. Snowy nahm es vom Feuer und portionierte es auf ihren selbst geschnitzten Holztellern. Wo Bonner und Moon nun nicht mehr da waren, teilte er es in drei Portionen auf.

Er und Sidewise schauten die drei Portionen für eine Weile an. Ahmed war in seiner Hütte. Aus den Augen, aus dem Sinn. Snowy nahm den dritten Teller und verteilte das Fleisch auf die beiden anderen Teller. »Wenn es Ahmed wieder besser geht, soll er sich selbst etwas zu essen machen. Wenn nicht, können wir auch nichts für ihn tun.«

Dann taten sie sich am Kaninchen gütlich.

»Ich werde morgen aufbrechen«, sagte Snowy schließlich.

Sidewise nahm es schweigend zur Kenntnis.

»Und was ist mit dir? Wohin wirst du gehen?«

»Ich glaube, ich werde eine Forschungsreise unternehmen«, sagte Sidewise. »Ich werde mir die Städte ansehen. London und Paris, falls ich es schaffe, den Kanal zu überqueren. Ich will wissen, was geschehen ist. Es wird aber nicht mehr viel übrig sein. Und der Rest wird wohl so aussehen wie die Ruinen des römischen Reiches.«

»Keines Menschen Auge wird je wieder so etwas schauen«, sagte Snowy.

»Das ist wohl wahr.«

»Und was dann?«, fragte Snowy zögernd. »Ich meine, wenn wir älter werden. Und schwächer.«

»Ich glaube nicht, dass das ein Problem sein wird«, sagte Sidewise lakonisch. »Die einzige Herausforderung wird darin bestehen, sich auszusuchen, wie man abtreten will. Es gilt sicherzustellen, dass man wenigstens das unter Kontrolle hat.«

»Nachdem man alles gesehen hat, was man sehen will.«

»Was auch immer das ist.« Er lächelte. »Vielleicht gibt es in Paris noch ein paar Fensterscheiben, die ich einwerfen kann. Und ich würde auch gern mal tausend Jahre alten Cognac süffeln. Das würde mir gefallen.«

»Nur dass es niemanden mehr gibt, dem man etwas davon erzählen kann«, gab Snowy zu bedenken.

»Das haben wir doch schon die ganze Zeit gewusst«, sagte Sidewise scharf. »Seit dem Moment, als wir aus der Grube in diesen alten Eichenwald gegangen sind. Es war damals schon offensichtlich.«

»Für dich vielleicht«, sagte Snowy.

Sidewise fasste sich an die Schläfe, wo sich nach Bonners Schlag ein Bluterguss gebildet hatte. »Mein Gehirn arbeitet ohne Unterlass. Und produziert eine sinnlose Schlussfolgerung nach der anderen. Und keine macht einen verdammten Unterschied, keine einzige.

Hör zu. Lass uns einen Pakt schließen. Wir werden einen Treffpunkt ausmachen, an dem wir uns jedes Jahr zu treffen versuchen. Wir werden es vielleicht nicht jedes Mal schaffen, aber dann können wir zumindest eine Botschaft oder so etwas hinterlassen.«

Sie einigten sich auf Stonehenge im Hochland der Salisbury Piain, ein Ort, der sicher noch unverändert war. Als Zeitpunkt legten sie die Sommersonnenwende fest, der mit dem präzisen Zeitgefühl, das Ahmed ihnen vermittelt hatte, leicht einzuhalten war. Das war eine gute Idee. Irgendwie war es eine tröstliche Vorstellung für Snowy, dass seine Zukunft wenigstens ein bisschen strukturiert wäre.

Als sie mit dem Essen fertig waren, war es dunkel. Es war nicht kalt, doch Snowy holte sich trotzdem eine Decke aus geflochtener Rinde und legte sie sich um die Schultern.

»Hey, Side. Ob er nicht doch Recht hatte?«

»Wer denn?«

»Bonner. Hast du Moon wirklich gevögelt?«

»Aber sicher habe ich sie gevögelt.«

»Du Schmecklecker. Ich hatte ja keine Ahnung. Aber wieso gerade du?«

»Atavistische Triebe, Kumpel. Ich glaube, sie war für meine überdurchschnittliche Intelligenz empfänglich.«

»Dann ist unser großes Gehirn wenigstens für etwas gut«, sinnierte Snowy.

»O ja. Dafür war es immer gut. Wahrscheinlich war es von vornherein nur dafür gedacht. Alles andere war nur Beiwerk.«

»Du alter Schmecklecker.«

IV

Snowy folgte den Affenmenschen.

Er lebte nicht so, wie sie lebten. Er benutzte weiterhin seine Schlingen, um Tiere bis zur Größe von Schweinen und kleinen Hirschen zu fangen, und er benutzte Messer und Feuer und Unterstände zum Schutz und zur Jagd. Aber er ging dorthin, wohin sie auch gingen.

Sie unternahmen erstaunlich ausgedehnte Wanderungen durch die großen Wälder, die Südengland bedeckten, Wälder, die die Ruinen von Städten und Kathedralen überwucherten, von Palästen und Parks. Er macht sich Sorgen, wenn er Weena aus den Augen verlor und war froh, wenn er sie wieder fand. Allmählich lernte er alle Mitglieder der kleinen Gruppe kennen. Er gab ihnen Namen, wie Grandpa und Shorty und Doc, und er verfolgte ihr Leben mit allen Höhen und Tiefen, als ob es sich um eine kleine Seifenoper handelte.

Sie fürchten sich vor den Ratten, den großen Viechern, den Ratten-Wölfen, die in Rudeln zu jagen schienen. Das fand er schnell heraus.

Er fragte sich, wie er wohl auf sie wirkte. Sie waren sich seiner offensichtlich bewusst, aber er gesellte sich nicht zu ihnen oder machte ihnen die Nahrung streitig, die sie sammelten. Deshalb beachteten sie ihn auch nicht weiter. Er war wie ein Geist, sagte er sich, ein Geist aus einer verschwundenen Vergangenheit, der diese neuen Leute verfolgte.

Nach ein paar Monaten, als der lange Sommer dieser Zeit schließlich zu Ende ging, kamen sie an einen Strand. Snowy wähnte sich irgendwo an der Küste von Sussex in Südengland.

Die Haarigen suchten am Waldrand nach Nahrung und ignorierten Snowy wie gewöhnlich.

Snowy wanderte am Strand entlang. Der Wald erstreckte sich bis hinunter zur Küste, als ob er sich auf einer tropischen Insel befände und nicht in England. Dann setzte er sich hin und schaute auf die Brandung.

Er ließ eine Hand voll feinen, goldenen Sands durch die Finger rieseln. Der Sand enthielt aber auch schwarze Körner und orange, grüne und blaue Partikel. Das bunte Zeug musste Plastik sein. Und das schwarze Zeug sah aus wie Ruß – Ruß von Rabaul, dem Killer-Vulkan, oder von den Bränden, die über die Welt hinweggefegt waren, als alles den Bach hinunterging.

Es ist alles weg, sagte er sich staunend. Es ist wirklich alles weg. Der Sand war ein Indiz. Mondgestein, Kathedralen und Fußballstadien, Büchereien, Museen und Gemälde, Straßen, Städte und Dörfer. Shakespeare, Mozart und Einstein, Buddha, Mohammed und Jesus, Löwen und Elefanten, Pferde und Gorillas und der Rest der Menagerie der Ausrottung – alles zerstört, zerstreut und zermahlen und in diesem rußigen Sand vermischt, der ihm durch die Finger rieselte.

Die Haarigen verschwanden. Er sah ihre schlanken Gestalten im Wald untertauchen.

Er stand auf, klopfte sich den Sand von den Händen, hängte sich den Rucksack über den Rücken und folgte ihnen.

KAPITEL 18 Das Königreich der Ratten Ostafrika, ca. 30 Millionen Jahre in der Zukunft

I

Der Asteroid hatte früher den Namen Eros getragen.

Eros hatte seine eigene kleine Geographie. Die Oberfläche war mit Einschlagkratern übersät, mit Schutt und Trümmern und seltsamen Pools sehr feinen bläulichen Staubs, der vom gnadenlosen Sonnenlicht elektrisch aufgeladen wurde. Er war dreimal so lang wie breit und sah aus wie Manhattan Island, das in den Weltraum geschleudert worden war.

Eros war so alt wie der Teufelsschweif. Wie der Chicxulub-Komet war auch er ein Überbleibsel aus der Entstehung des Sonnensystems selbst. Doch im Gegensatz zum Kometen war der Asteroid im Bereich des inneren Systems entstanden, genauer gesagt: innerhalb des Jupiter-Orbits. In der Frühzeit des Sonnensystems hatten chaotische Verhältnisse geherrscht, als die jungen Asteroiden auf ihren erratischen Orbits ineinander gekracht waren. Die meisten waren zu Staubwolken zertrümmert, in den großen Schlund des Jupiter geschleudert worden oder ins überfüllte und gefährliche innere System. Die Überlebenden liefen in deutlich reduzierten Schwärmen auf ordentlichen Orbits um die immer heller strahlende Sonne.

Doch selbst jetzt oszillierten die Asteroiden-Orbits noch wie angeschlagene Saiten unter dem geisterhaften Zug der Gravitation.

Sie tauchte zögernd ins Tageslicht auf.

Sie hatte wieder schlecht geträumt. Sie war benommen, und die Glieder waren steif. Durchs primitive Dach des Baumwipfel-Nests sah sie das Grün der höheren Baumkronen und Ausschnitte des hellblauen tropischen Himmels. Wie die Unterlage unter ihrem Körper war das Dach nur ein Geflecht aus kleinen Ästen, Zweigen und Laub, das sie in den letzten Stunden vor der Dunkelheit hastig hergerichtet hatte. Und das sie auch bald wieder aufgeben würde.

Sie lag auf dem Rücken, den rechten Arm wie ein Kissen unter den Kopf geschoben, und die Beine an den Bauch gezogen. Ihr nackter Körper war mit einem goldenen Haarflaum bedeckt. Im Alter von fünfzehn Jahren war sie in der Blüte ihres Lebens. Schwangerschaftsstreifen am Bauch und die kleinen Brüste zeigten, dass sie schon ein Kind geboren hatte. Ihre schlafverkrusteten Augen waren groß, schwarz und wachsam: Ausweis einer langsamen Rückanpassung ans nachtaktive Leben. Hinter den Augen ging die flache Stirn in eine kleine Gehirnschale über, deren sanfte Wölbung von einem dunklen lockigen Haarschopf kaschiert wurde.

Ein Teil von ihr schlief nie tief und fest, egal wie gemütlich die Nester auch waren. Im Traum wurde sie immer von den Tiefen unter ihr geängstigt, in die sie vielleicht stürzte. Weil die Baumwipfel der einzig sichere Ort für ihre Leute waren, ergab das zwar keinen Sinn, aber so war es nun einmal. Die Leute würden noch einige Zeit brauchen, um in den Bäumen wieder richtig heimisch zu werden.

Erschwerend kam hinzu, dass ihr bisher einziges Kind von dieser grünen Tiefe unter ihr verschlungen worden war, als es an ihrem regennassen Pelz den Halt verloren hatte und der kleine Körper hinab gestürzt war.

Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Die Leute sprachen gar nicht mehr miteinander. Die Zeiten des endlosen Geredes waren lang vorbei, der Kehlkopf und die kognitiven Kapazitäten eines geschwätzigen Volks waren abgelegt worden, denn sie wurden für ein Leben in den Bäumen nicht gebraucht.

Sie hatte nicht einmal einen Namen. Doch vielleicht schlummerte irgendwo tief in ihr noch eine Erinnerung an andere, längst vergangene Zeiten. Also nennen wir sie Erinnerung.

Sie hörte ein Rascheln in den Laubschicht unter sich, das Geräusch von Fruchtschalen, die durch die Blätter fielen und die ersten zögerlichen, erstickten Rufe der Männchen.

Sie rollte sich auf den Bauch und presste das Gesicht ins Bett aus Zweigen. Sie machte schemenhaft die Kolonie aus, eine dunkle Masse, die in den tieferen Schichten des Blattwerks hing wie ein hölzernes U-Boot, das irgendwie in den Bäumen aufgehängt worden war. Die Kolonie erwachte zum Leben, und überall bewegten, arbeiteten und zankten sich schlanke Gestalten. Man begann wieder mit den alltäglichen Verrichtungen. Und es war nicht ratsam, zu spät zu kommen.

Erinnerung stand auf und brach aus dem Nest, wie ein Vogel aus dem Ei schlüpft. Nachdem sie sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter aufgerichtet hatte, schwenkte sie den kleinen Kopf und ließ den Blick durch ihre Welt schweifen.

Der Wald war eine Rhapsodie in Grün. Die Kronen der höchsten Bäume bildeten ein Dach hoch über ihrem Standort. Im Norden, Westen und Osten vermochte Erinnerung jenseits der Bäume ein blaues Glitzern auszumachen. Das vom Meer reflektierte Licht hatte sie immer schon fasziniert. Und obwohl sie die südliche Küste nicht zu erkennen vermochte, hatte sie trotzdem das intuitiv richtige Gefühl, dass das Meer sich dort fortsetzte, und das Land wie ein breiter Gürtel umschloss: Sie wusste, dass sie auf einer großen Insel lebte. Aber das Meer war nicht von Belang, denn es war zu weit entfernt, als dass sie davon betroffen gewesen wäre.

Dieses besonders dichte Waldstück war aus einer Spalte gesprossen, die tief ins Urgestein einschnitt. Dieser von massiven Gesteinswänden geschützte und von Bächen, die durch die Schlucht verliefen, gespeiste Ort wimmelte nur so von Leben, obwohl es hier und da auch kahle Stellen gab, die von Borametz-Bäumen und ihren Parasiten, einer neuen Lebensform, erobert worden waren.

Die Schlucht war aber nicht natürlichen Ursprungs. Sie war von langer Zeit aus dem Urgestein gesprengt worden und stellte ein Resultat menschlicher Straßenbautätigkeit dar.

Die Erosion hatte aber ihren Tribut gefordert: Als die Entwässerungsgräben und Abwasserkanäle nicht mehr instand gehalten wurden, waren die Wände kollabiert. Trotzdem hätte ein aufmerksamer Geologe eine feine dunkle Schicht im Sandstein entdeckt, die am Grund der Schlucht sich abgelagert hatte. Dabei handelte es sich um halb zersetztes Bitumen, eine Schicht, die hie und da noch Fragmente von Fahrzeugen enthielt, die einst hier entlang gefahren waren.

Selbst jetzt hinterließen die Menschen noch ihre Spuren.

Ein Schatten, von der tief stehenden Sonne geworfen, huschte lautlos über die raschelnden Blätter hinweg. Es war natürlich ein Vogel gewesen. Die Räuber in den oberen Etagen waren schon wach, hielten sich aber bedeckt.

Mit einem letzten Blick auf das ruinierte Nest, das mit Kot, Haaren und Urin besudelt war und das sie schon in ein paar Minuten vergessen haben würde, machte sie sich an den Abstieg.

Als der tropische Tag anbrach, waren die Leute schon zwischen den Bäumen ausgeschwärmt und machten sich auf die mühsame Suche nach Früchten, unter der Baumrinde lebenden Insekten und Wasserreservoirs in Blütenkelchen.

Erinnerung hatte aber keine Lust dazu; sie blieb zurück und schaute den anderen zu.

Es gab Männchen und Weibchen gleichermaßen, wobei ein paar Weibchen Kinder mit sich herumtrugen. Die Männchen machten Mätzchen, stießen aggressive Rufe aus und ergingen sich in Drohgebärden. Das war etwas, das sich im Lauf der Zeit nicht geändert hatte: Die Struktur der Primaten-Gesellschaft war noch immer die gleiche, eine Macho-Hierarchie, die einem Netzwerk duldsamer weiblicher Clans übergeordnet war.

In diesen mittleren Schichten des Waldes wuchsen die größeren Bäume über die Kronen der kleineren hinaus. An diesem Ort, der weder allzu tief noch allzu hoch war, waren die Leute vor den oben und unten lauernden Gefahren relativ sicher. Und hier, umgeben von den hohen, schlanken Stämmen der großen Bäume, hatten sie ihre Kolonie errichtet.

Es war eine etwa zehn Meter durchmessende Kugel. Die dicke Wand bestand aus zusammengepressten Zweigen und Laub. Die Blätter waren durch Kauen weich gemacht worden, bevor man sie in die Ritzen des Gebildes gestopft hatte. Das Ganze war dann fest in den Gabeln der robusten Äste des Baums verankert worden, in dem es über Generationen hinweg gebaut worden war. Und es war bewohnt: Ein stetiger Strom aus Kot und Urin floss am Baumstamm hinab, und auch andere Flüssigkeiten tropften aus den Öffnungen, mit denen die Basis der Kolonie perforiert war.

Diese Kugel aus Speichel und Zweigen war die anspruchsvollste Konstruktion, zu der die Menschenabkömmlinge überhaupt in der Lage waren. Aber sie war das Resultat des Instinkts, nicht des Bewusstseins. Bewusste Planung lag ihr genauso wenig zugrunde wie einem Vogelnest oder einem Termitenhügel.

Erinnerung sah kleine Gesichter, die furchtsam durch Lücken in der primitiven Wand der Kolonie lugten. Sie erinnerte sich an die Zeit, die sie mit ihrem Kind in diesen feuchten, übel riechenden Wänden verbracht hatte. Der eigentliche Zweck der Kolonie bestand nämlich darin, die verwundbarsten Mitglieder der Gemeinschaft vor den Räubern des Waldes zu schützen: Nachts versammelten die Jungen, die Alten und die Kranken sich in ihren Wänden. Doch nur die kleinsten Kinder und ihre Mütter durften auch tagsüber in ihrem Schutz verweilen, während der Rest sich ins Freie hinauswagte, um Nahrung zu sammeln.

Und als das vom Blätterdach gefilterte Sonnenlicht auf die Kolonie fiel, funkelten die Wände. Ins Geflecht aus Zweigen und Blättern waren helle Steine eingebettet, die man vom Waldboden aufgesammelt hatte. Es waren sogar Glassplitter darunter. Im Lauf von Jahrmillionen wurde Glas instabil und milchig, während sich winzige Kristalle daran bildeten. Trotzdem hatten diese Splitter ihre Form behalten – Reste von Windschutzscheiben, Heckleuchten und Flaschen, die nun die Wände dieses formlosen Bauwerks zierten.

Es sah zwar aus wie eine Zierde, aber es war keine. Das Glas und die glitzernden Steine dienten der Verteidigung. Selbst jetzt noch vermochten diese Leute durch Gebäude Räuber abzuhalten – sie wurden von den tief verwurzelten Instinkten verjagt, die sie in der Zeit der gefährlichsten Killer entwickelt hatten, die jemals auf der Erde gelebt hatten. Also imitierten die Menschenabkömmlinge Strukturen ihrer Vorfahren, ohne dass sie sich auch nur vorzustellen vermochten, was sie da imitierten.

Einst waren die Bäume natürlich das Reich von Primaten gewesen, wo sie ohne Furcht vor Räubern umherzustreifen vermochten. Affen und Menschenaffen hatten keine Festungen aus Laub und Zweigen gebraucht. Die Zeiten hatten sich geändert.

Ein junges Männchen zischte die herumlungernde Erinnerung an. Er hatte einen seltsamen weißen Fleck auf dem Rückenpelz, sodass er fast wie ein Kaninchen aussah. Sie erriet seine Gedanken: Er glaubte, dass sie es auf die Rinde abgesehen hatte, die er mit seiner Mutter und den Geschwistern bearbeitete. Obwohl die Leute lang nicht mehr so intelligent wie ihre Vorfahren waren, vermochte Erinnerung immer noch die Überzeugung und Absichten anderer zu erkennen.

Weiß-Flecks Rudel war heute jedoch geschwächt. Seit Erinnerung sie zuletzt gesehen hatte, war ihr ältester Sohn verschwunden. Er hatte sich vielleicht auf die Suche nach einer anderen Kolonie gemacht, die irgendwo in den grünen Tiefen des Walds hing. Oder vielleicht war er auch tot. In der Art und Weise, wie sie über die Schulter ins Leere schauten und Platz für ein großes Männchen ließen, das nie mehr kommen würde, zeigten die Familienangehörigen, dass sie sich über den Verlust eines der ihren sehr wohl im Klaren waren. Doch bald würde die Erinnerung verblassen und der Bruder im Nebel der Vergangenheit verschwinden, verloren wie alle Menschenkinder seit der Errichtung des letzten Grabsteins.

Erinnerung würde nie erfahren, was aus dem anderen Sohn geworden war. Dies war kein Zeitalter der Information. Heute tauschten die Leute sich nicht mehr aus. Sie wusste nur das mit Sicherheit, was sie mit eigenen Augen sah.

Trotzdem war das eine Gelegenheit für Erinnerung. Sie hätte dieser geschwächten Gruppe wahrscheinlich einen Platz auf ihrem Baumstamm abzutrotzen vermocht. Doch sie hatte schlecht geschlafen und fühlte sich schwach und rastlos. Von dieser Befindlichkeit wurde sie seit dem Verlust ihres Kindes geplagt. Der Tod des Kindes lag nun schon über ein Jahr zurück, doch der Schmerz war noch so frisch, und das Ereignis in ihrem kaleidoskopartigen, unstrukturierten Bewusstsein noch so präsent, als ob es erst gestern gewesen wäre. Wie all ihre Artgenossen war Erinnerung kein Geschöpf zielgerichteter Planung, sondern impulsiver Handlungen. Und heute verspürte sie nicht den Impuls, von diesen sich zankenden Leuten das Privileg eines Platzes auf ihrem überfüllten Ast zu erkämpfen oder auf der Suche nach Insekten Rinde abzuschälen.

Sie wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch das Astgewirr.

Während sie sich von Ast zu Ast schwang und kletterte, fühlte sie sich ein wenig besser. Die steifen Muskeln wurden schnell geschmeidiger, und sie hatte das Gefühl, richtig wach zu werden. Sie vergaß sogar für kurze Zeit den Verlust ihres Kindes. Sie war noch immer jung – ihre Art erreichte oft ein Lebensalter von fünfundzwanzig oder sogar dreißig Jahren. Und lang nachdem ein entfernter Vorfahr verwirrt aus einer Kanalisation ins ergrünende Tageslicht gekrochen war, war ihr Körper gut an ihre Lebensweise angepasst, auch wenn sie ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen war.

Als sie nun mit affenartiger Geschwindigkeit durch den Wald huschte, kam eine Art Freude in ihr auf. Wieso auch nicht? Der Verlust war groß, aber das machte keinen Unterschied für Erinnerung. Der kurze Moment im Licht war hier und jetzt, und den wollte sie auch auskosten. Während sie sich durchs Zwielicht des Walds schwang, bleckte sie die Zähne und stieß ein lautes Lachen aus. Das war ein Reflex, den die Kinder der Menschheit nie verloren hatten, obwohl auf dem heilenden Antlitz der Erde schon dreißig Millionen Sommer aufgeflackert und wieder vergangen waren.

Erinnerungs tropischer Wald war Teil eines großen Gürtels, der sich um den Äquator zog, ein Gürtel, der nur von Meeren und Bergen durchbrochen wurde. Die Wälder waren üppig, obwohl es nach dem zügellosen Kahlschlag der Menschen Jahrtausende gedauert hatte, bis sie etwas vom früheren Reichtum zurück gewonnen hatten.

Die neu entstandene, von Wald geprägte Welt hatte wenig Lebensraum für die Nachfahren der Menschheit gelassen. Also hatten Erinnerungs Vorfahren den Erdboden verlassen und sich wieder ins grüne Reich der Baumwipfel hinauf geschwungenen. Doch es hatte hier schon Primaten gegeben: Affen, deren Vorfahren den verhungernden Menschen in den letzten Tagen entkommen waren, Überlebende des großen Auslöschungs-Ereignisses. Zuerst waren die Menschenabkömmlinge unbeholfener als die Affen. Aber sie waren noch immer intelligent, zumindest halbwegs – und sie waren verzweifelt. Bald hatten sie das Werk der Vernichtung vollendet, das ihre Vorväter nicht erledigt hatten.

Danach hatten sie sich vermehrt. Aber der Druck, der sie vom Erdboden vertrieben hatte, wirkte weiter auf sie.

Erinnerung wusste von alledem natürlich nichts, und doch hatte sie ein molekulares Gedächtnis, eine ununterbrochene, ›durchgezogene‹ Linie eines genetischen Erbes, die sich bis zu den verschwundenen Leuten erstreckte, die die Straße aus dem Gestein gesprengt hatten – und noch viel weiter zurück in noch viel entferntere Zeiten, als Geschöpfe, die Erinnerung glichen, auf Bäume geklettert waren, die diesen Bäumen glichen.

Sie verharrte auf einem Ast, der mit großen roten Früchten beladen war. Sie duckte sich auf dem Ast und machte sich über die Früchte her. Sie schälte sie, schlürfte den fruchtigen Inhalt und ließ die Schalen in die Dunkelheit unter sich fallen. Doch während sie aß, saß sie mit dem Rücken zum Baumstamm, spähte furchtsam in den Schatten und machte schnelle und hektische Bewegungen.

Trotz ihrer Wachsamkeit wurde sie von einer Schale aufgeschreckt, die sie am Hinterkopf traf.

Sie presste sich gegen den Baumstamm und schaute auf. Nun sah sie, dass die Äste über ihr mit etwas Schwerem behängt waren, das wie Früchte aussah. Dicke, dunkle Gebilde hingen herab. Doch diese ›Früchte‹ waren Arme und Beine, Köpfe und funkelnde Augen und geschickte Hände, die sie mit Schalen, Rindenstücken und Zweigen bewarfen. Sie hatten wahrscheinlich auf der Lauer gelegen, als sie sich näherte und dann lautlos Stellung bezogen. Nun bewarfen sie sie sogar mit warmen Kotfladen.

Und dann ging das Geschnatter los. Es war ein lautes, unartikuliertes Geschnatter, das ihr in den Ohren hallte und ihr die Orientierung raubte – was auch beabsichtigt war. Sie kauerte sich in der Astgabel zusammen und presste die Hände auf die Ohren.

Die Schnatternden Leute waren Verwandte von Erinnerungs Art. Sie waren auch einmal Menschen gewesen. Aber die Schnatternden lebten anderes. Sie waren gemeinschaftliche Jäger. Sie alle, von den kaum entwöhnten Jungen aufwärts, arbeiteten mit einer kalten, instinktiven Disziplin, um Beute zur Strecke zu bringen oder Räuber zu bekämpfen. Die Strategie funktionierte auch: Erinnerung hatte schon einige von ihrer Art vor dieser Baum-Armee fallen sehen.

Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensweise wären die zwei Arten von Menschenabkömmlingen bis vor ein paar Millionen Jahren noch in der Lage gewesen, sich zu kreuzen; obwohl der Nachwuchs dann unfruchtbar gewesen wäre. Inzwischen war das jedoch unmöglich. Es war eine Speziation eingetreten, eine von vielen. Für die Schnatternden Leute war Erinnerung keine Verwandte mehr, sondern eine potenzielle Bedrohung – oder eine Mahlzeit.

Sie war abgeschnitten. Jeder Ast schien von einem der Schnatternden besetzt sein. Sie vermochte nicht an ihnen vorbeizukommen und sich in den Schutz eines anderen Baums zu flüchten. Es gab nur einen Ausweg: Sie musste von diesem Baum hinunterklettern und über den Erdboden laufen.

Sie zögerte nicht. Sie rutschte vom Baum hinunter, wobei sie sich über weite Strecken fallen ließ und auf ihre Reflexe vertrauend sich kurz an Ästen festhielt, um den Fall zu bremsen. So gelangte sie in die dunkleren Bereiche über dem Waldboden.

Zuerst verfolgten die Schnatternden sie noch und deckten sie mit einem Hagel aus Früchten und Kot ein, der gegen die Rinde klatschte. Sie hörte, wie sie vom Baum ausschwärmten, auf dem sie sie umzingelt hatten und ihren nutzlosen Triumph herausschnatterten und schrien.

Schließlich hatte sie den Boden erreicht. Sie peilte einen ein paar Hundert Meter entfernten Baum an, der vielleicht so weit von den Schnatternden entfernt war, dass sie über ihn sicher wieder unters Blätterdach zu gelangen vermochte.

Sie richtete sich auf und ging mit großen, wachsamen Augen weiter.

Erinnerung hatte schmale Hüften und lange Beine, Relikte aus der Zeit, als die auf dem Boden lebenden Savannen-Affen auf zwei Beinen gegangen waren. Sie war jedoch aufrechter, als die Schimpansen es je gewesen waren, sogar aufrechter als Capos Leute. Doch selbst beim aufrechten Gang waren die Beine leicht gebogen und der Kopf nach vorn gereckt. Die Schultern waren schmal, die Arme lang und kräftig, und die Füße waren lang und mit beweglichen Zehen besetzt – eine gute Ausstattung fürs Klettern, Festklammern und Springen. Das Leben auf den Bäumen hatte ihre Art geformt: Die Selektion hatte auf uralte Muster zurückgegriffen, die zwar stark modifiziert waren, in den Grundzügen jedoch unverändert.

Sie fühlte sich unwohl auf dem Boden. Wenn sie nach oben schaute, sah sie Schichten aus Blattwerk und Bäume, die um die Leben spendende Energie der Sonne wetteiferten und kaum einen Lichtstrahl durchließen. Es war, als ob sie auf eine andere Welt geschaut hätte, eine dreidimensionale Stadt.

Der Waldboden war ein dunkler, feuchter Ort. Büsche, Kräuter und Pilze wuchsen im ewigen Dämmerlicht. Obwohl Blätter und anderer Abfall in einem steten, langsamen Regen von den grünen Galerien herabrieselten, war der Boden nur mit einer dünnen Schicht bedeckt: Die Ameisen und Termiten, deren Hügel wie verwitterte Monumente auf dem Boden herumstanden, sorgten dafür, dass der Schutt nicht überhand nahm.

Sie kam zu einem großen Pilz, blieb stehen und stopfte sich das leckere weiße Fleisch in den Mund. Sie hatte an diesem Tag fast noch nichts gegessen und auf der Flucht vor den Schnatternden viel Energie verbraucht.

Hinter einer Gruppe dürrer Schösslinge schlich etwas durch die Schatten: große Gestalten, die grunzten und im Dreck schnüffelten. Erinnerung ging hinter dem Pilz in Deckung.

Die Kreaturen traten aus dem Schatten, und ihre trüben Silhouetten zeichnen sich im graugrünen Zwielicht ab. Sie hatten massige, behaarte Leiber, plumpe Köpfe und kurze Rüssel, mit denen sie den Boden aufscharrten und Laub und Früchte von den unteren Ästen der Bäume pflückten. Mit einer Schulterhöhe von zwei Metern wirkten sie wie Waldelefanten, obwohl sie keine Stoßzähne hatten.

Die kleinen spitzen Ohren und seltsamen geringelten Schwänze verrieten die Herkunft dieser Pflanzenfresser. Das waren Schweine, die von einer der Spezies abstammten, die die Menschheit domestiziert hatte, um die große Vernichtung zu überleben. Und die nun diese effiziente Gestalt angenommen hatten. Die letzten echten Elefanten waren zusammen mit den Menschen untergegangen.

Noch mehr große, haarige Kreaturen wuchteten sich in Erinnerungs Blickfeld. Sie hatten auch eine elefantenartige Gestalt und die gleiche Größe und Form wie die Schweine. Doch wo die Schweine Rüssel, aber keine Stoßzähne hatten, hatten diese Tiere keine Rüssel, sondern geschwungene Hörner vorm Gesicht, die dem Zweck dienten, den die Stoßzähne der Elefanten einst erfüllt hatten – den Erdboden umpflügen und Wurzeln und Knollen ausgraben. Diese Tiere waren aggressiver als die Schweine und entstammten einem anderen ›Generalisten‹ und Überlebenskünstler menschlicher Bauernhöfe, den Ziegen.

Die beiden Arten von Pflanzenfressern, Schweins- und Ziegen-Elefanten, pflügten den Boden um. Sie waren so verschieden, dass sie sich keine Konkurrenz machten, und schauten hochmütig über die Präsenz der jeweils anderen hinweg. Erinnerung blieb in Deckung und wartete auf eine Gelegenheit, sich von diesen mutierten Abkömmlingen einstiger Nutztiere abzusetzen.

Und dann spürte sie einen Atem im Nacken: einen warmen Hauch und den eitrigen Gestank von Fleisch.

Instinktiv hechtete sie vorwärts. Sie ignorierte die elefantenartigen Schweine und Ziegen und rannte, bis sie einen Baumstamm erreichte. Sie erklomm ihn und klammerte sich an der schorfigen Rinde fest. Sie zögerte keinen einzigen Moment, wandte nicht einmal den Kopf, um zu schauen, was sich da an sie herangeschlichen hatte.

Aber sie nahm es flüchtig wahr. Es war eine Kreatur von der Größe eines Leoparden mit roten Augen, langen Gliedmaßen, beweglichen Pfoten und kräftigen Schneidezähnen.

Sie wusste, was das war. Es war eine Ratte. Wenn man eine Ratte auch nur roch, rannte man sofort davon.

Aber die Ratte folgte ihr.

Um ihre kletternde Beute zu verfolgen, hatte die Art der Ratten-Leoparden auch das Klettern erlernt. Der Ratten-Leopard hatte Klauen mit beweglichen Fingern, um Äste zu packen, Vorderläufe, die er weit zu spreizen vermochte, um von Ast zu Ast zu springen und sogar einen Greifschwanz. Er war kein so guter Kletterer wie die besten Primaten, zum Beispiel Erinnerung. Noch nicht. Aber er musste auch gar nicht der Beste sein. Er musste nur besser sein als der Schlechteste, der Schwächste und der Kränkste – und mehr Glück haben als ein Pechvogel.

Und so stieg Erinnerung immer höher ins fahle Grün des oberen Blattwerks empor, wobei sie den stechenden Schmerz in der Lunge und in den Armen ignorierte. Bald wurde sie vom Licht geblendet. Sie erreichte die obersten Baumkronen. Aber sie kletterte immer weiter, denn sie hatte keine andere Wahl.

Bis sie ins offene Tageslicht platzte.

Sie taumelte fast, so plötzlich war sie aus dem Grün gebrochen. Sie klammerte sich an einen dünnen Ast, der bedenklich unter ihr schwankte; er war mit grünen Blättern besetzt, die in Sonnenlicht gebadet wurden.

Sie saß auf einem der obersten Äste des hohen Baums. Die Baumwipfel waren eine grüne Decke, die sich bis zum Meer erstreckte. Doch sie machte auch die felsige Erhebung der Schlucht aus, in der ihr dichtes Waldstück wuchs – die uralte Straße ihrer Vorfahren. Sie war am Ende des Wegs angelangt. Sie schnaufte erschöpft und zitterte am ganzen Leib; sie vermochte sich nur noch an diesen dünnen Ast zu klammern. Die Sonne brannte heiß auf sie herab. Im Gegensatz zu ihrem fernen Vorfahren war sie nicht für offenes Gelände geschaffen: Ihre Art hatte die Fähigkeit zu schwitzen verloren.

Wenigstens verfolgte die Ratte sie nicht mehr. Sie glaubte, ihre blutunterlaufenen, funkelnden Augen gesehen zu haben, bevor sie wieder im Zwielicht des Walds verschwand.

Für einen Moment gab sie sich dem Überschwang hin. Sie warf den Kopf zurück und stieß einen Freudenschrei aus.

Vielleicht hatte sie sich damit verraten.

Sie spürte zuerst einen Lufthauch. Dann hörte sie ein fast metallisches Rascheln von Federn, und ein Schatten stieß auf sie herab.

Klauen bohrten sich ihr tief in die Schultern. Der Schmerz drohte sie sofort zu überwältigen – und er wurde noch schlimmer, als sie von diesen Klauen emporgehoben wurde, wobei ihr ganzes Gewicht an der aufgerissenen Schulter hing. Sie flog. Sie sah, wie das Land unter ihr wirbelte, Ausschnitte des Walds, Fetzen von grünem Grasland und braunen Borametz-Hainen, die von einer zerklüfteten, erodierten vulkanischen Landschaft unterlegt wurden, und diesen Gürtel aus schimmerndem Meer im Hintergrund.

In Erinnerungs Welt gab es sowohl am Boden als auch am Himmel wilde Räuber, die einen wie rote Mäuler umzingelten und nur darauf warteten, den kleinsten Fehler zu ahnden. Sie war vom Regen in die Taufe geraten.

Der Vogel war wie eine Kreuzung zwischen einer Eule und einem Adler; er hatte einen gelben Schnabel und runde, nach vorn gerichtete Augen, die für Vorstöße ins Dämmerlicht der Baumkronen angepasst waren. Aber er war weder eine Eule noch ein Adler. Dieser grausame Killer stammte vielmehr von den Finken ab, die auch weit verbreitete Generalisten und Überlebenskünstler nach der menschlichen Katastrophe waren.

Der Fink flog mit ihr auf einen Komplex vulkanischer Erhebungen zu, die erodierten Kerne uralter Vulkane. Der mit Schutt übersäte Boden war mit Gras bewachsen und mit vereinzelten braunen Borametz-Hainen durchsetzt. Und auf hohen Felsvorsprüngen erhaschte Erinnerung einen Blick auf Nester: Nester voller rosiger, klaffender Münder.

Sie wusste, was geschehen würde, falls der Fink sie in sein Nest trug.

Sie setzte sich schreiend zur Wehr und schlug dem Vogel mit den Fäusten gegen die Beine und in den Bauch. Während des Kampfes rissen die Schultern weiter auf, in die die Klauen sich gegraben hatten, und Blut strömte an ihr herab. Doch sie ignorierte die Wellen quälenden Schmerzes.

Der Fink kreischte zornig und schlug mit den Schwingen; die öligen Federn trafen sie am Kopf und Rücken. Sie roch den metallischen Gestank des blutverkrusteten großen Schnabels. Aber sie war ein zu großer Brocken, selbst für diesen riesigen Vogel. Hominide und Vogel waren in einen Luftkampf verwickelt, wobei der Vogel ständig an Höhe verlor. Dann schlug sie die Zähne ins weiche Fleisch über den schuppigen Klauen des Vogels. Der Vogel kreischte und verkrampfte sich. Die Klauen öffneten sich.

… Und sie fiel in plötzliche Stille. Das einzige Geräusch war ihr stoßweise gehender Atem und der pfeifende Luftstrom. Sie sah den Vogel noch als wirbelnden Schatten über sich, der schnell zurückfiel. Sie streckte die Hände nach Ästen oder Zweigen aus, aber da war nichts, woran sie sich festzuhalten vermochte.

Wo ihr schlimmster Albtraum des Falls nun Wirklichkeit geworden war, fürchtete sie sich eigenartigerweise nicht mehr. Sie harrte der Dinge, die da kommen würden.

Sie krachte in einen Baum. Blätter und Zweige peitschten sie, als sie durch den Wipfel brach. Doch das Blattwerk bremste sie ab, und schließlich landete sie auf dem mit Gras bewachsenen Boden. Sie war zwar zerschlagen und derangiert, aber nicht ernstlich verletzt. Für eine Weile vermochte sie sich nicht zu bewegen.

Bei einem Menschen hätte der Schock tiefer gesessen. Wer war für diese Pechsträhne verantwortlich? Die Ratte, der Raubvogel, ein Feind, der mich verfluchte hatte, oder ein bösartiger Gott? Wieso war dies geschehen? Wieso gerade ich? Doch Erinnerung stellte sich solche Fragen nicht. Für Erinnerung war das Leben nicht etwas, das man zu kontrollieren vermochte. Das Leben war lediglich eine Abfolge zufälliger und sinnloser Episoden.

So stellte sich die Situation nun dar für die Leute. Man lebte nicht lang. Man hatte keine Möglichkeit, die Welt um sich herum zu formen. Die Gedanken kreisten um das Hier und Heute: ums Atmen, um die nächste Mahlzeit, um die Flucht vorm nächsten Räuber, dem man über den Weg lief.

Man musste die Dinge einfach auf sich zukommen lassen.

Als sie wieder zu Atem gekommen war, rollte sie sich auf alle viere und huschte in den Schatten des Baums, der ihren Fall gebremst hatte.

II

Erinnerungs Zeit hätte man als das Zeitalter des Atlantiks bezeichnen können.

Seit dem Untergang der Menschheit hatte der chtonische Tanz der Kontinente sich fortgesetzt. Das große Meer, das vor über zweihundert Millionen Jahren als ein Riss in Pangäa entstanden war, wurde in dem Maß breiter, wie neuer Meeresboden entlang der Linie des mittelozeanischen Bergrückens hervorquoll. Der amerikanische Doppelkontinent war in westlicher Richtung abgedriftet, und Südamerika hatte sich vom Norden wieder gelöst und seine unterbrochene Karriere als Inselkontinent wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit war die Ansammlung von Kontinenten um Asien nach Osten gedriftet, sodass der Pazifik sich langsam schloss. Alaska hatte sich mit Asien vereinigt, und die Beringstraßen-Brücke, die während der Eiszeiten wiederholt entstanden und zerbrochen war, wurde wiederhergestellt.

Es hatten gewaltige, lang anhaltende Zusammenstöße stattgefunden. Australien war so weit nach Norden gewandert, bis es Asien gerammt hatte, und Afrika war mit Südeuropa zusammengestoßen. Es war, als ob die Kontinente sich in der nördlichen Hemisphäre zusammendrängten und den Süden bis aufs einsame, eisige Antarktika sich selbst überließen. Und Afrika selbst war auch auseinander gebrochen, als die klaffende Wunde des uralten Rift Valley sich vertieft hatte.

Wo die Kontinente sich trafen, entstanden neue Gebirgszüge. An der Stelle des einstigen Mittelmeers ragte nun eine mächtige Bergkette auf, die sich nach Osten bis zum Himalaja erstreckte. Damit gehörte das uralte Tethys-Meer endgültig der Vergangenheit an. Die Spuren des antiken Roms waren getilgt worden: Die Gebeine von Kaisern und Philosophen gleichermaßen waren zermahlen, pulverisiert und mit dem Erdreich vermengt worden. Doch wo Berge entstanden, wurden andere abgetragen. Der Himalaja war bis zur Unkenntlichkeit erodiert und eröffnete neue Wanderwege zwischen Indien und Asien.

Nichts von alledem, was die Menschheit in ihrer ebenso kurzen wie blutigen Geschichte zustande gebracht hatte, hatte in dieser lang währenden geografischen Umwälzung Bestand.

Inzwischen hatte die sich selbst überlassene Erde eine Reihe physikalischer, chemischer, biologischer und geologischer Heilungsmechanismen entwickelt, um sich von den verheerenden Eingriffen der menschlichen Bewohner zu erholen. Luftschadstoffe waren vom Sonnenlicht zerlegt und aufgelöst worden. Sumpferz hatte einen großen Teil der Metallabfälle absorbiert. Die Vegetation hatte aufgegebene Kulturlandschaften zurückerobert, Wurzeln hatten Beton und Asphalt aufgebrochen, und Gräben und Kanäle waren überwuchert worden. Erosion durch Wind und Wasser hatten den endgültigen Zusammenbruch der letzten Gebäude herbeigeführt und alles zu Sand pulverisiert.

Und die unerbittlichen Prozesse der Variation und Selektion hatten sich angeschickt, eine entleerte Welt wieder aufzufüllen.

Die Sonne stieg höher. Obwohl Erinnerung an diesem Tag schon so viel erlebt hatte, war es immer noch nicht Mittag.

Sie war auf einer grasbewachsenen Ebene mit ein paar Gruppen von Bäumen und Sträuchern und einem braunen Borametz-Hain, der neuen Baumart, gestrandet. Im Hintergrund erhoben sich purpurne vulkanische Hügel. Hier, im Regenschatten dieser Erhebungen, fiel Regen nur selten und unregelmäßig. Der Erdboden war ausgetrocknet; unter solchen Bedingungen vermochten Bäume keine Wurzeln zu schlagen, sodass die Gräser ihre alte Herrschaft fortsetzen… fast. Es entwickelten sich sogar Pflanzen-Gemeinschaften. Und den Gräsern waren mit den Borametz-Hainen neue Konkurrenten erwachsen.

Der Baum, der ihren Sturz gebremst hatte, trug keine Früchte und klammerte sich im trockenen Boden dieses Graslands ans Leben. Es gab hier nichts zu essen, nichts außer Skorpionen und Käfern, die unter den Steinen lebten. An denen tat sie sich gütlich.

Sie machte in der flimmernden Hitze einen Waldstreifen aus, der sich über diese fernen purpurnen Hügel zog. Vage wurde sie sich bewusst, dass sie, falls sie dorthin zu gelangen vermochte, in Sicherheit wäre und vielleicht Nahrung fand – vielleicht sogar Leute von ihrer Art.

Doch der Wald war weit entfernt. Erinnerungs Urgroßmütter hätten dieses Stück offener Savanne leicht überquert. Nicht so Erinnerung. Sie war ein schlechter Läufer. Und wie Capo, ein schimpansenartiger Menschenaffe aus einer anderen Zeit, hatte ihre Art sich wieder eine starke Körperbehaarung zugelegt und das Schwitzen verlernt.

Also saß sie ohne einen Plan da und wartete darauf, dass etwas geschah.

Plötzlich fegte ein schlanker Kopf aus dem ausgewaschen Himmel. Erinnerung schnatterte panisch und ging hinter dem Baumstamm in Deckung. Sie sah schwarze runde Augen, die vor Erstaunen geweitet in einem schmalen, pelzbedeckten Gesicht saßen, zwei lange Ohren und einen eleganten Hals. Es war der Kopf eines Kaninchens – nur dass er so groß war wie der einer Gazelle.

Die Kaninchen-Gazelle gelangte offensichtlich zu dem Schluss, dass der geduckte Hominide keine besondere Gefahr für sie darstellte. Sie weidete weiter das spärliche Gras ab, das im Schatten des Baums wuchs.

Vorsichtig kroch Erinnerung vorwärts.

Nun sah sie, dass ihr Besucher zu einer Herde gehörte, die sich über die Ebene verteilt hatte und genüsslich das Gras abfraß. Sie waren groß, zum Teil doppelt so groß wie sie. Die schlanken, eleganten Tiere sahen aus wie Gazellen, stammten in Wirklichkeit aber von Kaninchen ab, was ihre langen Ohren und weißen Stummelschwänze eindeutig bezeugten.

Die Beine dieser Tiere glichen ebenfalls denen von Gazellen. Die geraden Vorderläufe konnten arretiert werden, um dem Tier einen sicheren Stand zu verleihen. In der Mitte der Hinterläufe hatten diese Kaninchen jedoch zurück gebogene Gelenke, bei denen es sich um Knöchel handelte. Die untere Hälfte des Beins glich einem verlängerten Fuß, der auf zwei hufartigen Zehen ruhte, und das Knie befand sich oben in der Nähe des Rumpfs und war im Fell verborgen. Mit den in Sprinter-Manier angewinkelten Hinterläufen waren die Kaninchen-Gazellen ständig fluchtbereit, worauf es in ihrem Leben hauptsächlich ankam. Während sie grasten, streiften die Jungen um die Füße ihrer Eltern; die Herde blieb dicht beisammen, und es verging keine Sekunde, wo nicht wenigstens eins der erwachsenen Tiere den Blick hätte umher schweifen lassen.

Der Grund hierfür wurde bald offensichtlich. Einer der größeren Böcke schreckte auf und floh. Der Rest der Herde folgte sofort als wirbelnde Schemen in einer Staubwolke.

Eine schlanke schwarze Gestalt schoss aus der Deckung einer Felswand. Es war eine Katze, diesmal jedoch eine mit dem gestreckten, kräftigen Leib eines Leoparden. Der Ratten-Leopard verschwand im Staub und jagte der Kaninchen-Herde hinterher.

Dann kehrte wieder Stille ein. Für eine Weile regte sich nichts auf der Ebene, rein gar nichts außer der flimmernden Luft. Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Doch die Hitze ließ nicht nach, und Durst schnürte Erinnerung die Kehle zu.

Sie kroch aus ihrem Versteck. Ihr überaus menschliches Gesicht mit der geraden Nase, dem kleinen Mund und dem Kinn verzog sich im hellen Licht des Nachmittags. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und sog die Luft ein. Sie hörte ein Träten und das Klappern von Stoßzähnen, das von Osten zu kommen schien – der Sonne abgewandt. Und sie roch Wasser.

Sie schlug diese Richtung ein. Sie lief im Zickzack, rannte von einer Deckung zur nächsten und legte immer wieder einen Zwischenspurt auf allen vieren ein. Diese Tochter der Menschheit rannte wie ein Schimpanse.

Schließlich erklomm sie einen flachen Felsvorsprung aus erodiertem Sandstein. Und blickte auf einen See. Er wurde von Bächen gespeist, die sich von entfernten Hügeln herabschlängelten, doch sie sah auch, dass der See mit Schilf überwuchert war und von einer breiten Schlammpfanne eingerahmt wurde. Sie fand Schutz im Schatten einer Akazie, ließ den Blick schweifen und suchte nach einer Möglichkeit, ans Wasser zu gelangen.

Hier hatten sich, einer alten Gewohnheit folgend, die Pflanzenfresser zum Trinken versammelt.

Sie sah noch mehr Kaninchen. Da waren die scheuen gazellenartigen Geschöpfe von der Art, die sie zuvor schon erblickt hatte. Aber es gab auch schwere, bisonartige Exemplare – und kleinere Kreaturen, die ihnen zwischen den Füßen umherhüpften und -liefen. Doch nicht alle Spezies hatten sich von der Lebensweise ihrer Vorfahren verabschiedet. Es gab noch kleinere Pflanzenfresser, vor allem in den Wäldern, wo wie eh und je kleines Getier umherwuselte.

Warzenschweine schnüffelten und schnaubten am schlammigen Ufer des Sees; sie schienen sich im Lauf der Zeit überhaupt nicht verändert zu haben. Wenn keine Notwendigkeit zur Anpassung bestand, war die Natur konservativ. Und dann machte Erinnerung riesige, träge Kreaturen aus, die gemächlich durchs flache Wasser stapften. Sie waren mit den Ziegen verwandt, denen sie im Wald begegnet war, doch das waren Riesen mit säulenartigen Beinen und Hörnern, die wie Mammutstoßzähne gekrümmt waren. Sie hatten keine Rüssel – keiner dieser Wiederkäuer hatte diesen besonderen anatomischen Trick entwickelt, doch dafür hatten sie lange Hälse wie Giraffen, mit denen sie an die saftigen Blätter niedriger Äste gelangten oder Wasser aus dem See pumpten.

Eine Herde andersartiger Ziegen-Abkömmlinge stand knietief im Wasser. Die Tiere hatten Schwimmhäute zwischen den Hufen, die ein Einsinken im weichen Schlick und Sand verhinderten. Sie hatten breite Schnäbel aus Horn, mit denen sie die Pflanzen am Seeufer abgrasten. Diese Ziegen, die friedlich an der Vegetation des Seeufers knabberten, hatten große Ähnlichkeit mit den Hadrosauriern, den lang verschwundenen entengeschnäbelten Dinosaurieren.

Und genauso wie die Hadrosaurier die vielgestaltigste Gruppe von Dinosauriern gewesen waren, bevor der Komet einschlug, so ermöglichte diese Wiederentdeckung einer uralten Strategie eine neue Ausstrahlung. Es tummelten sich schon viele Spezies der entengeschnäbelten Ziegen, die sich nur durch Nuancen in der Form der Hörner, Größe und Nahrungsvorlieben unterschieden, an den Wasserläufen der tropischen Regionen der Welt und andernorts.

Zugleich wurde diese Szene, wo verhältnismäßig friedliche Pflanzenfresser den Durst löschten, von Räubern belauert, die die Vegetarier gierig beäugten – das war alles schon einmal da gewesen.

Hätte man diese Szene mit halb geschlossenen Augen betrachtet, wäre die Vorstellung gar nicht einmal abwegig gewesen, dass die von Menschen ausgerotteten Tiere wiederauferstanden wären. In dieser neuen Savanne waren die altbekannten Rollen jedoch von neuen Darstellern übernommen worden, die von Wesen abstammten, die das menschliche Ausrottungs-Ereignis überlebt hatten, und von denjenigen, die allen menschlichen Ausrottungs-Versuchen widerstanden hatten: Kleintiere, vor allem die Generalisten – Stare, Finken, Kaninchen – und Nagetiere wie Ratten und Mäuse. Nur dass Kaninchen sich in Gazellen und Ratten sich in Leoparden verwandelt hatten. Die Veränderungen waren subtil: eine nervöse Unruhe bei den Kaninchen und ruckartige, eckige Bewegungen bei den Ratten, denen die geschmeidige Eleganz der Katzen fehlte.

Plötzlich kam Unruhe auf, und es ertönte ein Krachen wie von splitternden Knochen. Zwei der großen Ziegen-Elefantenbullen waren aneinander geraten. Ihre Köpfe wackelten und schwankten auf langen giraffenartigen Hälsen, und die vor den Gesichtern gekrümmten Hörner wurden gekreuzt wie bizarre Krummschwerter.

Erinnerung kauerte sich in den Schatten der Akazien. Als die durch den Kampf beunruhigten Pflanzenfresser sich um sie herum in Bewegung setzten, war sie hier nicht mehr sicher. Es bestand die Gefahr, dass dieser Baum in kurzer Zeit zertrümmert und gefressen wurde.

Und nun machten die aufmerksamen Räuber sich die Verwirrung zunutze.

Ein Rudel von ihnen brach aus der Deckung. Die schlanken, fuchsartigen Geschöpfe mit langen, kräftigen Schenkeln und dick gepolsterten Füßen glichen eher noch Ratten. Sie blieben dicht zusammen und bewegten sich in einer keilförmigen Formation, um einen älteren Ziegen-Elefanten vom Rest der Herde zu trennen. Der große Bulle, dessen mächtige Stoßzähne von lebenslangen Kämpfen gesplittert und verschrammt waren, bellte zornig und ängstlich zugleich und rannte los. Die Ratten nahmen im engen Verbund die Verfolgung auf.

Diese Ratten-Derivate waren wie Hunde, aber sie waren keine Hunde. Die charakteristischen Nagetier-Schneidezähne waren von Zähnen, die für die Zerkleinerung von Samen und Insekten ausgelegt waren, in spitze Klingen umgewandelt worden. Die hinteren Mahlzähne glichen Scheren und waren gut zum Zerkleinern von Fleisch geeignet. Und sie blieben enger zusammen, als ein Hunderudel es je getan hätte – sie wirkten eher wie eine fließende, kraftvolle Einheit. Doch wie bei einem Hunderudel bestand ihre Strategie darin, den Ziegen-Elefanten bis zur Erschöpfung zu hetzen.

Bald waren die Beute und ihre Jäger außer Sicht. Die Ziegen-Elefanten widmeten sich wieder dem Saufen und Kämpfen. Obwohl ein paar von ihnen den Kopf zu der Stelle drehten, wo der alte Bulle gestanden hatte: Sie waren sich bewusst, dass er fehlte.

Erinnerung nutzte die Gelegenheit und kroch vorwärts.

Das Wasser war von einer Schaumschicht überzogen. Aber sie schöpfte es trotzdem mit den Händen und ließ es sich in den Mund laufen; Handflächen und Finger wurden mit einer feinen grünen Schleimschicht überzogen.

Im Wasser beobachteten zwei gelbe Augen sie mit kühler Berechnung. Es war natürlich ein Krokodil. Diese uralten Überlebenskünstler hatten die menschliche Apokalypse abgeritten, wie sie schon so viele zuvor überstanden hatten: Sie hatten von der ekligen braunen Nahrungskette des sterbenden Landes gelebt und während der Trockenheit sich in den Schlamm eingegraben. Bisher war es keinem Tier – weder Schweinen noch Kaninchen oder Primaten, weder Fischen noch Vögeln, weder Reptilien noch Amphibien und noch nicht einmal den Nagetieren – gelungen, die Krokodile aus ihrem nassen Reich zu vertreiben.

Erinnerung schauderte und zog sich von der Wasserlinie zurück.

Und nun kam ein neuer Räuber über die Klippe auf den See zu. Wieder ging Erinnerung in Deckung und wurde von den mächtigen, trägen Leibern einer Herde Entenschnabel-Ziegen abgeschirmt.

Dieser Räuber glich eher einem Nagetier, einer Art Maus. Ähnlichkeit mit einem Hund oder einer Katze hatte er jedenfalls nicht. Er kam zur Wasserlinie und richte sich auf den kräftigen Hinterbeinen auf. Die Pflanzenfresser am Wasser wichen ängstlich zurück. Aber der Maus-Jäger hatte gar kein Interesse an den Kreaturen, die sich vor ihm tummelten. Mit einer geradezu huldvollen Geste tauchte er das Furcht erregende Maul ins Wasser und trank. Dann ging er wieder aufs trockene Land zurück und zupfte mit kleinen, filigran wirkenden Händen am Gras, als ob er seine Festigkeit prüfen wollte.

Er sah aus wie die Fleisch fressenden Dinosaurier der Kreidezeit. Er hatte kurze Ärmchen, einen kräftigen Schwanz, mit dem er auch das Gleichgewicht hielt, und die Hinterbeine waren Hochleistungs-Maschinen aus Muskeln und Knochen. Die Schneidezähne hatten sich in lange Dolche verwandelt, die durch Stöße des schweren Kopfes zu gefährlichen Waffen wurden. Der Maus-Raptor war ein Landhai – wie ein Tyrannosaurier – mit einem neu entdeckten und zu tödlicher Perfektion fortentwickelten Körperbauplan. Zugleich hatte diese überhebliche Kreatur jedoch die kleinen Ohren und den braunen Pelz der kleinen Nagetiere beibehalten, von denen es abstammte.

Der Maus-Raptor schien mit dem Wasser und dem Gras zufrieden. Er quiekte, spie aus und schlug mit dem Schwanz auf den Boden. In der Ferne ertönt als Antwort eine Reihe von Rufen, trommelnden Schlägen und Schreien.

Noch mehr Maus-Raptoren näherten sich dem See. Sie schwärmten übers Terrain aus und sogen die Luft ein. Ein paar Junge rannten den Erwachsenen zwischen den Füßen herum, balgten sich und knabberten sich mit der uralten, spielerischen Neugier von Räubern an.

Als sie sich versammelt hatten, drehten die erwachsenen Maus-Raptoren sich um, rissen die Mäuler auf und stießen ein synchronisiertes Heulen aus. Als Antwort trottete eine Herde andersartiger Tiere zum Wasser.

Es waren große Geschöpfe, so groß wie Ziegen-Elefanten. Sie drängten sich nervös zusammen und rempelten sich gegenseitig an. Und während sie anscheinend unter der Führung der Mäuse-Raptoren zum Wasser stolperten, fraßen sie noch schnell das Gras zu ihren Füßen ab.

Ihre Körper waren mit einem schütteren Fell bedeckt. Die Köpfe hatten Kämme und die Schädel waren so geformt, dass sie als Verankerung für die mächtigen Wangenmuskeln dienten, die wiederum die starken Unterkiefer betätigten. Die Köpfe sahen aus wie die von robusten Pithecinen. Die eng an den massigen Schädeln anliegenden Ohren waren groß und geädert und glichen Kühlrippen. Sie dienten dem Zweck, überschüssige Hitze von den großen Körpern abzuführen. Und die kräftigen Hinterbeine, auf denen sie sich aufzurichten vermochten, hatten zugleich die eigentümliche Krümmung der Kaninchen-Gazellen: Beine, die allzeit fluchtbereit waren.

Es waren hässliche Karikaturen von Elefanten. Und sie hatten sich nicht aus Ziegen und Schweinen entwickelt. Aus nach vorn gerichteten, großen dunklen Augen unter dicken Brauenwülsten schauten sie verwirrt und ängstlich in die Welt. Sie gingen auf allen vieren, wobei sie sich aber auf den Knöcheln abstützten; eine Körperhaltung, die man einst als Knöchel-Gang bezeichnet hatte.

Wie bei Erinnerung waren auch ihre Vorfahren Menschen gewesen.

Erinnerung wartete, bis die großen, trägen Tiere die Tränke erreicht hatten. Sie schubsten sich gegenseitig an und entfalteten die Ohren in der sich abkühlenden Luft des Nachmittags. Dann kroch sie davon.

Es hatte Millionen Jahre gedauert, bis die Renaissance des Lebens abgeschlossen war.

Heute zog sich im Norden von Erinnerungs tropischem Wald ein Band aus klimatisch gemäßigtem Waldland und Grasland um die Erde, das sich von Europa-Afrika über Asien bis nach Nordamerika erstreckte. Hier huschten noch mehr Kaninchen-Arten durchs kühle Blattwerk, während Tiere wie Igel und Schweine im Unterholz wühlten. Auf den Bäumen lebten Vögel, Eichhörnchen und jede Menge Fledermäuse. Diese vielgestaltige Gruppe von Säugetieren hatte sich vermehrt und eine beachtliche Formenvielfalt ausgeprägt – nun gab es nachtaktive Flugtiere, die gar keine Augen mehr hatten und andere, die gelernt hatten, mit den Vögeln ums reichhaltige Nahrungsangebot des Tages zu konkurrieren.

Noch weiter nördlich wuchsen Koniferenwälder, immergrüne Bäume, deren stachlige Blätter auch den letzten Rest von Sonnenlicht auffingen. Pflanzen fressende Tiere ernährten sich im Sommer von jungen Trieben und Nadeln und für den Rest des Jahres von Rinde, Moosen und Flechten. Viele von ihnen waren Ziegen. Weit verbreitet waren die an Hadrosaurier erinnernden Entenschnabel-Lebensformen. Zu den Räubern gehörten die allgegenwärtigen Mäuse und Ratten, aber es gab auch Fleisch fressende Eichhörnchen und große Raubvögel, die den Pterosauriern der sauerstoffreichen Kreidezeit-Luft nachzueifern versuchten.

An der nördlichen Peripherie der Kontinente hatte sich ein Tundra-Gürtel ausgebildet. Hier fraßen die Nachfahren von Schweinen und Ziegen im Sommer das spärliche Blattwerk ab und scharten sich im Winter zu dichten Gruppen zusammen. Wie die verschwundenen Mammuts waren einige dieser Kreaturen immer größer geworden, um die Wärme besser zu speichern, bis sie sich schließlich zu häusergroßen Fleischbrocken entwickelt hatten. Die räuberischen Ratten der Tundra hatten ihre Schneidezähne in große Klingen verwandelt, mit denen sie diese dicken Fell- und Fettschichten zu durchdringen vermochten. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den Säbelzahntigern früherer Zeiten. Es gab sogar Populationen von Wander-Fledermäusen, die gelernt hatten, sich von den riesigen Insektenschwärmen zu ernähren, die der kurze Tundra-Frühling hervorbrachte.

Natürlich würde keine dieser Spezies jemals einen von Menschen vergebenen Namen tragen.

Diese letzte Auferstehung des Lebens unterschied sich jedoch in einem Punkt grundlegend vom letzten großen Trauma nach Chicxulub. Die Nagetiere hatten sich damals erst ein paar Dutzend Jahrmillionen nach dem Einschlag des Kometen entwickelt. Als nun der Tag der Wiederauferstehung kam, waren die Nager schon da.

Nagetiere waren formidable Konkurrenten. Sie wurden mit Nage-Schneidezähnen geboren. Diese Zähne waren tief in starken Kiefern verwurzelt: Einst hatten Ratten sich sogar durch Beton zu beissen vermocht. Diese Zähne ermöglichten es ihnen, so harte und zähe Nahrung zu fressen, die für andere Säugetiere ungeeignet war. Aber die Nagetiere verfügten auch über eine erstaunliche Fähigkeit zur Vermehrung und Anpassung. Nagetiere lebten kurz und pflanzten sich jung fort. Selbst bei den Riesen-Spezies wie den Ratten-Leoparden hatten die Weibchen nur kurze Tragzeiten und produzierten große Würfe. Viele dieser Jungen starben zwar, doch jedes einzelne dieser toten Babys war Rohmaterial für die gnadenlosen Prozesse der Adaption und Selektion.

In den leeren Räumen, die wieder aufzufüllen waren, entwickelten die Nagetiere sich schnell. In der großen Wiederauferstehung nach dem Verschwinden der Menschheit waren die Nagetiere die großen Gewinner gewesen. Man konnte die Erde alsbald – zumindest auf dem Land – als ein Königreich der Ratten bezeichnen.

All das hatte den Raum für die Nachkommen der Menschen stark eingeschränkt.

Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der wilden und frechen Nager hatten die Menschenabkömmlinge die Strategie der überlegenen Intelligenz, die ihnen einen solchen Erfolg und zugleich große Katastrophen beschert hatte, aufgegeben. Sie hatten sich zurückgezogen, schützende Nischen gesucht und passive Strategien entwickelt. Manche waren zu kleinen, scheuen und schnell sich vermehrenden Läufern geworden. Sie waren wie Ungeziefer. Manche Gruppen gruben sich sogar in den Boden ein. Erinnerungs Leute hatten sich wieder auf die Bäume der Vorfahren zurückgezogen, doch nun stellten die Ratten ihnen selbst in diesem uralten Schutzraum nach.

Die elefantenartigen Menschen hatten einen anderen Ansatz gewählt: Sie waren so massig geworden, dass sie durch ihre schiere Größe geschützt waren. Allerdings war das auch kein voller Erfolg gewesen. Das sah man an der Konstruktion der gazellenartigen Hinterbeine. Elefanten waren keine schnellen Läufer gewesen, aber das hatten sie auch gar nicht nötig gehabt; in ihrer Zeit hatte nämlich kein Räuber existiert, der es mit einem ausgewachsenen Rüsseltier aufzunehmen vermocht hätte. Unter dem Ansturm der räuberischen Nagetier-Familien hatten die elefantenartigen Menschenabkömmlinge sich jedoch die Fähigkeit zur Flucht bewahren müssen.

Doch nicht einmal das hatte ausgereicht.

Die Maus-Raptoren waren Sozialwesen. Ihr soziales Gefüge war tief verwurzelt und reichte bis zu den Kolonie-Strukturen der Murmeltiere und Präriehunde zurück, die in hierarchischen ›Städten‹ mit Millionen von Tieren gelebt hatten. Sie unternahmen Streifzüge auf der Suche nach Beute und Wasser. Sie stellten Wachen auf. Sie jagten im Verbund. Und sie kommunizierten: Die Erwachsenen verständigten sich mit Schreien, Quieken und Trommelschlägen ihrer kräftigen Schwänze, die weit reichende Erschütterungen durch den Boden schickten.

Die Sozialfähigkeit dieser Raptoren machte sie als Räuber so effektiv, dass die Menschenabkömmlinge ihnen einfach nichts entgegenzusetzen hatten. Die Anzahl der großen Pflanzenfresser war stetig geschrumpft.

Aber das war freilich auch schlecht für die Raptoren. Und so hatten im Lauf der Zeit die Elefantenartigen und die Maus-Raptoren eine Art Symbiose entwickelt. Die Maus-Raptoren lernten, die Herden der tumben Elefantenartigen zu schützen. Ihre Anwesenheit schreckte andere Räuber ab. Durch ihr Verhalten und Signale warnten sie die Elefantenartigen vor Gefahren, zum Beispiel vor Feuer. Sie lernten es, sie zu Wasserstellen und guten Weidegründen zu führen.

Alles, was die Raptoren im Gegenzug verlangten, war ein Anteil am Fleisch.

Die Elefantenartigen ließen das alles über sich ergehen. Sie hatten auch keine andere Wahl. Schließlich hatte die Selektion die Elefantenartigen so geformt, dass sie den neuen Bedingungen entsprachen. Wenn die Raptoren die anderen Räuber für einen verjagten, wozu brauchte man dann noch Schnelligkeit? Und wenn sie einem das Denken abnahmen, wozu brauchte man dann noch Intelligenz?

In dem Maß, wie ihre Körper größer geworden waren, war das Gehirn dieser Menschenabkömmlinge geschrumpft, und sie hatten sich der Bürde des Denkens entledigt. Sie glichen nun Hühnern, deren Gehirn zugunsten größerer Mägen und eines effektiveren Verdauungssystems geopfert worden war. Das war aber gar nicht mal so schlecht, wenn man sich erst daran gewöhnt hatte. Unter der unwissentlichen Führung der Maus-Raptoren war ihre Anzahl sogar wieder angestiegen. Es war gar nicht so schlecht, so lang man wegschaute, wenn einem die Eltern, Geschwister oder die eigenen Kinder genommen wurden.

Es war eigentlich kein schlechtes Leben, von Nagetieren wie von Hirten behütet – und verzehrt zu werden.

Die Dämmerung setzte ein. Erinnerung fand einen anderen Akazienhain und kroch vorsichtig in die Äste des höchsten Baums. Das musste genügen. Wenigstens war sie vom Erdboden weg.

Als das Licht erlosch, erschienen die Sterne – aber es war ein überfüllter Himmel. Die Sonne, die ihre endlosen Kreise durch die Galaxie zog, lief nun durch einen Fetzen aus interstellarem Staub und Gas, einen Fetzen, der so groß war, dass er Lichtjahre umspannte. Menschliche Astronomen hatten das schon kommen sehen. Er war die Vorhut einer riesigen Blase, die von einer uralten Supernova-Explosion ins Gas geblasen worden war, und ihr Zentrum war eine Region der Sternentstehung. Und so war der neue Himmel spektakulär und voller heller, heißer neuer Sterne.

Jedoch gab es niemanden auf der Erde, der dieses Bild zu deuten vermocht hätte. Erinnerung verbrachte eine schlaflose Nacht und lauschte dem Quieken, den Trommelschlägen und dem Brüllen der Räuber, derweil namenlose Sternbilder über den Himmel zogen.

III

Die ersten paar Hundert Asteroiden, die die Astronomen entdeckten, waren in ihrem ordentlichen Gürtel zwischen Mars und Jupiter umgelaufen und hatten einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Erde eingehalten. Diese Weltraum-Felsbrocken waren eine Kuriosität gewesen und nur eine theoretische Hausforderung für diejenigen, die den Ursprung des Sonnensystems studierten.

Die Entdeckung von Eros war freilich ein Schock gewesen.

Man stellte fest, dass er innerhalb des Mars-Orbits umlief – im erdnächsten Punkt betrug der Abstand zur Erde weniger als ein Viertel der größten Annäherung zwischen Mars und Erde. Später wurden noch mehr Asteroiden gefunden, die den Orbit der Erde sogar schnitten und dadurch Kandidaten für eine eventuelle Kollision mit dem Planeten wurden.

Eros, dieser erste Irrläufer, war nie vergessen worden. Solange die Menschen sich mit solchen Dingen beschäftigten, war der Asteroid eine Art stummer Held seiner Art und ›prominenter‹ als jeder andere.

Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war Eros das Ziel der ersten Raumsonde, die in einen Orbit um einen Asteroiden gehen sollte. Die Sonde wurde NEAR genannt, was für Erdnahes Asteroiden-Rendezvous stand. Am Ende der Mission hätte die Sonde sanft auf der Oberfläche des uralten Asteroiden landen sollen. Diese ersten Astronomen hatten dem Asteroiden den romantischen Namen des griechischen Gottes der Liebe gegeben. Es war in aller Munde gewesen, als die Sonde NEAR den Ziel-Asteroiden ›geküsst‹ hatte, und die Medien hatten erwartungsgemäß besonders betont, dass der Kontakt kurz vorm Valentinstag stattgefunden hatte.

In Anbetracht der Umstände hätte der Name des Asteroiden jedoch nicht unpassender sein können.

Man war für lange Zeit der Ansicht gewesen, dass Eros mit seinem exzentrischen Orbit, der sich im Wesentlichen innerhalb des Mars-Orbits bewegte, keine Gefahr für die Erde darstellte. Ein Zusammenstoß mit dem Mars erschien viel wahrscheinlicher.

Doch nun war der Mars verschwunden.

Und über lange Zeiträume, in denen er auf die subtilen Einflüsse der Anziehungskraft der Planeten reagierte und in dem Maß, wie seine eigenen komplexen, intrinsischen und dynamischen Instabilitäten sich auswirkten, änderte der Asteroid seine Bahn. Eine Million Jahre nach dem Untergang der Menschheit hatte er sich der Erde angenähert – sehr nahe, so nah, dass er mit dem bloßem Auge zu sehen gewesen wäre, falls jemand hingeschaut hätte.

Und neunundzwanzig Millionen Jahre später kam er noch näher.

Erinnerung wurde auf dem Akazienbaum von Juckreiz geplagt. Sie kratzte sich das Fell und suchte nach den Läusen und Wanzen, die sich am Blut labten oder Eier unter der Haut ablegten. Aber es gab auch Stellen, an die sie nicht herankam – zum Beispiel der Rücken, und natürlich tummelten die Parasiten sich dort am ungestörtesten.

Dadurch wurde sie schmerzlich an ihre Einsamkeit erinnert. In dem Maß, wie die Sprache verschwand, hatte die Angewohnheit der Fellpflege sich wieder etabliert und die alte Funktion als sozialer Kitt übernommen. (Zumal sie ohnehin nie ganz verschwunden war.) Erinnerung war aber nicht mehr gekämmt worden, seit sie sich zum letzten Mal schlafen gelegt und sich zusammen mit ihrer Mutter ins Nest gekuschelt hatte.

Überhitzt, vom Juckreiz geplagt, hungrig, durstig und einsam wartete Erinnerung in ihrem Akazienhain, bis die Sonne wieder hoch am Himmel stand.

Dann kletterte sie vom Baum herunter.

Die Elefanten-Leute und ihre Nagetier-Hirten waren verschwunden. Im leeren, staubigen Grasland regte sich fast nichts. Die Stille war so drückend wie die Hitze. Durch das staubige Flimmern sah sie im Osten einen dunklen Fleck, bei dem es sich vielleicht um eine Herde von elefantenartigen Schweinen oder Ziegen handelte oder vielleicht um Hominide. Im Westen nahm sie Bewegung wahr, ein braunes Fell. Vielleicht war es eine Räuber-Ratte mit ihren Jungen.

Im Norden, wo die purpurnen Berge dräuten, sah sie diesen dunkelgrünen Klecks. Sie verspürte nur den einzigen Impuls: sich in den Schutz des Walds zu flüchten.

Nackt und mit leeren Händen lief sie über die Ebene und ließ sich hin und wieder auf alle viere fallen, um einen Teil des Gewichts auf die Knöchel zu verlagern. Sie war eine winzige Gestalt, die eine weite, kahle Landschaft durchquerte und nur vom Schatten unter ihren Füßen begleitet wurde.

Sie fand kein Wasser und nichts zu essen außer ein paar Büscheln des spärlichen Grases. Der Durst setzte ihr immer mehr zu, und die Stille wurde immer drückender. Bald erschien ihr Leben nur noch aus diesem Marsch zu bestehen, als ob die Erinnerungen an ein Leben im Grünen und die Familie so bedeutungslos wären wie ihre Träume vom Fallen.

Sie wurde sich bewusst, dass sie einen flachen Abhang in eine große, Kilometer durchmessende Senke hinab stieg. Vor dieser großen Mulde hielt sie inne.

Ein Tal war in die Mitte der Senke eingeschnitten – ein Tal, das einst von einem Fluss gefräst worden war –, doch selbst von hier aus sah sie, dass das Tal trocken war. Die Vegetation unterschied sich von der in der Ebene hinter ihr. Es gab hier keine Bäume, nur ein paar Büsche und vereinzelte grüne Grastupfer. Dafür gab es hier jede Menge rauschender violetter Blätter.

Ein gesundes Misstrauen gegenüber allem Neuen war nie verkehrt. Jedoch lag diese Senke mitten in ihrem Weg und schnitt sie vom bewaldeten Abhang ab, der noch weit entfernt war. Sie sah, dass es hier keine Tiere gab, weder Pflanzenfresser noch pirschende Räuber.

Also ging sie vorsichtig und wachsam weiter.

Der violett-purpurne Gürtel entpuppte sich als Blumen, die in dichten Gruppen inmitten dünner fahler Grashalme wuchsen – ein paar waren so hoch, dass sie ihr bis zur Hüfte reicht. Sie ging weiter, bis sie überall von kräftigem Purpur umgeben war. Doch auch hier gab es kein Wasser.

Einst hatte hier eine Stadt gestanden. Doch selbst jetzt, lang nach dem Untergang der Stadt, war der Erdboden noch so verseucht, dass nur metalltolerante Pflanzen zu überleben vermochten – zum Beispiel die Kupfer-Blumen mit den violetten Blüten.

Schließlich wurden die purpurnen Blumen wieder lichter. Im Herzen dieses seltsamen Orts kam sie zu einem flachen Flussufer. Das Flussbett war trocken und nur mit Staubverwehungen gefüllt: Geologische Verschiebungen hatten vor schon langer Zeit das Wasser umgeleitet, das diese Rinne gefräst hatte. Erinnerung stieg das erodierte Ufer hinunter und grub im Staub, doch auch hier gab es keine Feuchtigkeit.

Nachdem sie die flache Senke wieder verlassen hatte, dauerte es nicht lang, bis Erinnerung aufs nächste Hindernis stieß.

Es gab hier Bäume, knorrige, zäh wirkende Bäume, sowie Termiten- und Ameisenhügel, die wie Statuen über eine ansonsten trockene und leblose Ebene verstreut waren. Es war kein Wald – dafür standen die Bäume nicht dicht genug zusammen –, sondern es glich eher einem Garten, wo man einen großen Abstand zwischen den einzelnen Bäumen gelassen und sie mit Termitenhügeln und Ameisennestern umgeben hatte. Das waren Borametz-Bäume, die neue Art. Der Garten weckte ein tiefes, instinktives Gefühl des Unbehagens in Erinnerung. Im tiefsten Innern wusste sie, dass dies nicht die Art von Landschaft war, in der die Hominiden sich entwickelt hatten.

Und diese fremdartige Landschaft aus Bäumen und Termitenhügeln war wieder eine Barriere auf ihrem Weg; sie erstreckte sich so weit nach links und rechts, wie das Auge reichte. Und als die Sonne sich dem Horizont entgegensenkte, wurden Durst und Hunger schier unerträglich.

Zögernd ging sie weiter.

Etwas kitzelte sie am Fuß. Sie schrie auf und sprang zurück.

Sie war in eine doppelte Ameisen-Kolonne getreten. Die Tiere liefen auf einer Spur zwischen einem Nest – dessen Löcher sie im Boden sah – und den Wurzeln eines Baums hin und her. Sie bückte sich und fuhr mit den Händen über die Ameisen. Dabei wirbelte sie zwar mehr Staub als Insekten auf, aber es gelang ihr trotzdem, sich ein paar Ameisen in den Mund zu stecken und kaute die knusprigen Leckereien. Immer mehr emsige Ameisen liefen ihr um die Füße herum, ohne das Schicksal ihrer Kameraden zur Kenntnis zu nehmen.

Der Baum, der das Ziel dieser Ameisen darstellte, war nichts Besonderes: Er war klein und hatte einen dicken, knorrigen Stamm und Äste, die mit kleinen roten Blättern behangen waren, sowie breite Luftwurzeln, die sich über den Boden ausbreiteten, bevor sie wie stochernde Finger darin verschwanden.

Erinnerung ging zum Borametz-Baum hin und musterte ihn skeptisch. Es hingen keine Früchte an den tiefen Ästen. Dafür wuchs etwas daran, das wie hartschalige Nüsse aussah, in Klumpen am Fuß des Stamms in der Nähe der Wurzeln. Aber es gab nur ein paar Nüsse, weniger als ein Dutzend. Sie versuchte sie abzureißen, aber sie hingen zu fest für ihre Finger, und die Schalen waren zu hart für ihre Zähne. Sie riss ein paar Blätter ab und kaute sie versuchsweise. Sie waren bitter und trocken.

Sie gab es auf, ließ die letzten Blätter fallen und lief zu einer verheißungsvolleren Nahrungsquelle. Der nächste Termitenhügel war so groß wie sie, ein hoher Kegel aus getrocknetem Lehm. Sie ging zum Baum zurück und suchte nach einem Zweig. Sie hatte früher schon Termiten gefischt, obwohl sie nicht so gut war wie seinerzeit Capo. Sie war nicht einmal so geschickt, wie Schimpansen es im Zeitalter der Menschen gewesen waren. Aber es gelang ihr vielleicht doch, genug von den wimmelnden Leckereien hervorzuholen, um den Hunger zu lindern…

Sie erhaschte einen Blick auf einen vorstoßenden Kopf mit Schneidezähnen, die wie Messerklingen durch die Luft säbelten. Eine Ratte. Sie machte einen Satz und griff nach den Ästen des Borametz. Die Äste waren dünn, verworren und schwer zu greifen. Aber sie schaffte es trotzdem, denn das war die einzige Deckung, die sie hatte.

Es war ein Maus-Raptor: einer von der Kolonie, die die elefantenartigen Menschenabkömmlinge zum See geführt hatten. Der Raptor stieß vor Wut einen schrillen Schrei aus, richtete sich auf den kräftigen Hinterbeinen auf, schnitt mit den blutverschmierten Schneidezähnen durchs untere Blattwerk und rannte mit dem massiven Schädel gegen den Stamm des Borametz.

Der junge, rastlose und neugierige Raptor hatte noch nie diese Art von Tier gejagt. Erinnerung so weit zu verfolgen war ein schönes Spiel gewesen. Doch nun hatte der Raptor genug gespielt und wollte wissen, wie sie schmeckte.

Die schorfige Rinde des Borametz scheuerte schmerzhaft an ihrem Körper. Die Äste hingen zu hoch für den Raptor. Doch unter der Wucht des großen Kopfes erzitterte der ganze Baum, und Erinnerung wusste, dass sie früher oder später wie eine reife Frucht herunterfallen würde. Sie geriet in Panik und wand sich durch die Äste, um sich möglichst weit vom Raptor zu entfernen.

Aber die dünnen Äste des Borametz brachen leicht. Sie hatten sich so entwickelt, um Vögel, Fledermäuse und kletternde Säugetiere davon abzuhalten, sich hier häuslich einzurichten.

Der Ast unter ihr brach plötzlich ab. Sie fiel herunter und schlug auf dem Boden auf – und dann brach der Boden in einer Staubwolke unter ihr ein.

Erschrocken fiel sie eine Körperlänge tiefer und kam dann hart auf. Sie lag benommen auf dem Rücken. Sie schaute zu einem Ausschnitt des Himmels und zum Kopf des Raptors empor, der von einem gezackten, eingebrochenen Dach aus festgestampfter Erde eingerahmt wurde.

Und dann gab die Fläche unter ihr nach. Sie stürzte wieder in einer mit Erdreich durchsetzten Staubwolke ab. Dann kam sie eine Etage tiefer wieder hart auf. Geröll fiel ihr ins Gesicht und verstopfte Mund, Nase und Augen.

Es roch nach Milch: nach einer Mischung aus Urin, Fäkalien und Milch. Etwas kroch über Erinnerungs Bauch – es war klein, aber schwer, warm und haarlos. Sie griff blindlings danach. Und spürte, dass sie einen nackten, glitschigen und feuchten Körper umklammerte. Arme und Beine schlugen schwach auf sie ein. Es war, als ob sie ein nacktes Baby gehalten hätte.

Doch nun berührte eine dieser kleinen Hände ihre Brust, und Klauen schlitzten die Haut auf. Sie schrie auf und schleuderte die Kreatur weg. Sie hörte, wie sie mit einem dumpfen Schlag aufkam und in der Dunkelheit wegrutschte.

Aber sie waren überall – sie hörte ihre schabenden und schleifenden Geräusche in der Dunkelheit und sah sie im trüben Licht.

Maulwurf-Leute. So wirkten sie auf sie. Sie hatten eine lose, fleischige Haut, die ihnen in Falten um den Hals und den Körper hing. Sie waren unbehaart: Die Köpfe waren kahl, die rosige Kopfhaut runzlig, und sie hatten weder Augenlider noch Augenbrauen. Die Ohren waren klein und rudimentär, und die Nasen waren wie Schnauzen geformt. Sie hatten Schnurrhaare. Und sie hatten keine Augen: Die Höhlen, in denen die Augen einst gelegen hatten, waren nur noch mit Hautschichten bespannt.

Sie hatten Arme und Beine, Rümpfe und Köpfe von Menschen. Aber sie waren alle klein; keiner von ihnen war größer als ein Kind ihrer Art – und trotzdem waren viele von ihnen Erwachsene. Sie sah Brüste und funktionale Penisse an diesen kleinen Leibern.

Blind oder nicht, sie waren lichtscheu. Sie zogen sich zurück und verschwanden in Tunnels, die in die Erde gegraben waren. Ihre Fingernägel waren schaufelartige Klauen, die fürs Graben geschaffen waren. Eine Berührung dieser Klauen hatte schon gereicht, um tiefe Einschnitte in ihrer Schulter zu hinterlassen.

Sie war in einem Nest, in einem Nest von Leuten, die wie Würmer wimmelten und sich eingruben. Sie schrie auf, denn diese karikaturartigen Menschenabkömmlinge jagten ihr einen großen Schreck ein, einen Schreck, den sie nicht verstand, und sie versuchte wieder ans Licht zu gelangen.

Und schaute direkt in die Augen des Maus-Raptoren. Er zischte und setzte zum Sprung an.

Sie ließ sich in einen leeren Tunnel fallen.

Die Wände waren vom Durchgang unzähliger wimmelnder Körper verdichtet und glatt geschliffen, und ihr stach wieder der typische Gestank nach Milch und Urin in die Nase. Die Tunnels waren von den Maulwurf-Leuten mit ihren schlanken, kleinen Leibern geformt worden und zu eng für Erinnerung. Sie musste kriechen und sich mit Armen und Beinen vorarbeiten, die bald stark schmerzten. Es war ein klaustrophobischer Alptraum.

Aber da war Licht. Enge Kamine schlängelten sich an die Erdoberfläche. Die schmalen, verwinkelten Schächte sollten Luft durchlassen und zugleich Räuber ausschließen. Und es fiel auch genug Licht hindurch, um ihr zumindest einen gewissen Eindruck davon zu vermitteln, worin sie sich überhaupt bewegte.

In Tunnels, die in alle Richtungen abzweigten – ein ganzes Netzwerk. Sie hörte hallende Räume unter und neben sich, Kammern, Tunnels und Alkoven, die scheinbar bis in die Unendlichkeit sich verzweigten. Sie glaubte, hin und wieder einen Blick auf die Maulwurf-Leute zu erhaschen – zappelnde Gliedmaßen, zurückweichende Rümpfe oder abgedeckte, blind starrende Augenhöhlen.

Furcht und Verzweiflung überkamen sie. Aber sie hatte keine andere Wahl, als weiter zu kriechen.

Plötzlich brach sie durch eine dünne Wand und fiel in eine überfüllte Kammer. Babys schwärmten sofort über sie aus und bissen und kratzten sie.

Diese große Kammer war voller Kinder, kleinen Ausgaben der Erwachsenen, die sie zuerst gesehen hatte. Es stank hier erbärmlich nach Blut, Kot, Milch und Erbrochenem.

Sie schob die Babys weg. Fast alle waren Weibchen. Ihre weichen, warmen kleinen Körper waren fast noch ekliger als die der Erwachsenen. Sie drehte sich um und versuchte zum Tunnel zurück zu kriechen, durch den sie gefallen war.

Doch nun quollen Erwachsene aus dem Tunnel. Diese Neuankömmlinge wichen nicht zurück wie die ersten, denen sie begegnet war. Diese Maulwurf-Leute waren Soldaten und gekommen, um die Kinderstube vor dem Eindringling zu schützen.

Der erste Soldat sprang sie mit ausgefahren Grabklauen an. Erinnerung hob den Arm, um den Hals zu schützen. Unter dem geringen Gewicht des Maulwurf-Wesens fiel sie wieder auf den Haufen wimmelnder Kinder.

Der Soldat war ein Erwachsener, ein Weibchen. Aber ihre Brüste waren kaum ausgeprägt, und ihre Vagina war unentwickelt. Sie war steril. Trotzdem kämpfte sie so wild, als ob ihre eigenen Kinder in Gefahr wären und wand sich, biss und kratzte.

Erinnerung hätte dem Angriff der Soldaten vielleicht nicht allzu lang standzuhalten vermocht, doch dann gelang ihr ein Glückstreffer. Sie versetzte dem Soldaten einen Tritt direkt unters Brustbein. Die kleine Kreatur wurde zurückgeschleudert und stieß mit den Leuten hinter ihr zusammen, worauf sich eine zuckende Masse aus Gliedmaßen und Klauen bildete.

Erinnerung machte auf der anderen Seite der Kammer die Konturen einer Tunnelöffnung aus und lief in diese Richtung. Sie stapfte auf allen vieren durch wimmernde Kinder.

Doch dann nahmen die Soldaten die Verfolgung wieder auf. Sie quetschte sich durch die Tunnels und nahm die erstbesten Abzweigungen. Sie wusste nicht, ob sie sich in Richtung der Erdoberfläche oder noch tiefer ins Erdinnere bewegte. Doch im Moment zählte nur, dass sie den Verfolgern entkam.

Sie brach – fiel – durch eine weitere Wand und landete auf einer harten Unterlage, wie auf einem Steinhaufen. Nein, das waren keine Steine, sondern Nüsse, große schwere Nüsse, die Nüsse des Borametz-Baums. Sie taumelte weiter und stieß auf einen großen Haufen aus Samen und Wurzeln. Sie war in einer Vorratskammer gelandet.

Und da kamen auch schon die Soldaten; sie schwärmten schnüffelnd aus.

Sie eilte zur anderen Seite der Kammer und duckte sich hinter einem Haufen großer Samen an die Wand. Sie schleuderte den Soldaten mit aller Kraft Nüsse entgegen. Der Angriff brach zusammen, als die vorderste Linie zurückwich und mit den Nachfolgenden zusammenstieß. Sie ergriffen vor diesem Nüsse schleudernden Dämon die Flucht.

Doch nicht alle Soldaten zogen sich zurück. Ein paar blieben in der Tunnelöffnung stehen und zischten und spien sie an.

Erinnerung, erschöpft und zerschlagen wie sie war, focht das aber nicht an. Sie vermochte nicht von hier zu verschwinden – aber die Soldaten vermochten auch nicht an sie heranzukommen. Sie stellte das Werfen mit den Nüssen ein.

Sie roch Feuchtigkeit. Sie fand eine Stelle in der dünnen Wand hinter sich, aus der eine dünne Baumwurzel ragte. Sie hatte die Wurzel abgerissen, und nun sickerte ein wässriger Saft heraus. Sie steckte sich die Wurzel in den Mund und sog den Saft aus. Die süße Flüssigkeit benetzte ihre ausgedörrte Kehle. Und dann fand sie ein paar Knollen unter dem Haufen Nüsse. Sie biss ins süße Fleisch und linderte den Hunger.

Sie legte sich hin und drückte sich schwere Nüsse an die Brust. Bald störte sie das Zischen der machtlosen Soldaten auch nicht mehr als das Geräusch eines entfernten Gewitters. Sie war so erschöpft, dass sie einnickte.

Und dann hörte sie Bewegung in der Kammer, ein Scharren und Schaben. Vorsichtig steckte sie den Kopf über die Barriere aus Nüssen. Sie sah Maulwurf-Leute in der Kammer herumlaufen, aber keine Soldaten. Sie schienen vergessen zu haben, dass sie überhaupt hier war. Sie hoben Nüsse auf und schafften sie aus der Kammer in den Tunneleingang. Erinnerung hatte keine Ahnung, was sie da machten. Sie hatte nicht einmal die geistige Kapazität, um die Frage überhaupt zu formulieren. Es kam nur darauf an, dass sie keine Bedrohung mehr für sie darstellten.

Sie sank wieder in ihr improvisiertes Nest, knabberte noch ein bisschen an der Knolle, dann schlief sie ein.

Die Maulwurf-Leute hatten sich wegen der Trockenheit dieses Orts unter die Erde verkrochen – deshalb und wegen der Jäger. Wenn man sich in den Boden eingrub, war man sogar vor Ratten sicher.

Natürlich hatten sie dafür einen Preis zahlen müssen. Die Leute waren mit jeder Generation etwas mehr geschrumpft, um sich besser im wachsenden Tunnelkomplex bewegen zu können. Und mit der Zeit waren die Körper durch die Beschränkungen des Lebens im Untergrund geformt worden: Sie verloren die nutzlosen Augen, die Fingernägel worden zu Grabklauen und die Körperbehaarung wurde durch Schnurrhaare ersetzt, die aus länglichen Schnauzen sprossen und ihnen dabei halfen, ihren Weg im Dunklen zu finden.

Die Trockenheit hatte Kooperation befördert.

Die Maulwurf-Leute lebten von Wurzeln und Knollen, in der Erde vergrabenen Schätzen. In der Trockenheit wurden die Knollen groß, wuchsen aber in weiten Abständen. Das war besser so für die Pflanzen, weil große Knollen nicht so schnell austrockneten. Eine einzelne Maulwurfs-Person, die aufs Geradewohl gegraben hätte, wäre wahrscheinlich längst verhungert, bevor sie auf die dünn gesäten Schätze gestoßen wäre. Wenn man aber bereit war, seinen Fund zu teilen, dann erhöhten sich die Erfolgsaussichten für die Gruppe als Ganzes, wenn viele Kolonie-Mitglieder in allen Richtungen gruben.

Alle Menschenabkömmlinge waren Sozialwesen wie ihre Vorfahren, und sie spezialisierten sich in dem Maß, wie sie diese Sozialität entwickelt hatten. Diese Maulwurf-Leute hatten die Sozialität sozusagen auf die Spitze getrieben. Sie lebten wie in einem Insekten-Kollektiv, wie Ameisen, Bienen oder Termiten. Oder vielleicht waren sie auch wie nackte Maulwurfs-Ratten, die eigenartigen, in Stöcken lebenden Nagetiere, die einst Somalia, Kenia und Äthiopien verseucht hatten und längst ausgerottet worden waren.

Dies war ein Stock. Hier waltete kein Bewusstsein. Es war aber auch gar kein Bewusstsein notwendig. Die globale Organisation des Stocks war die Summe der Interaktionen seiner Mitglieder.

Die meisten Bewohner der Kolonie waren Weibchen, aber nur ein paar von diesen Weibchen waren fruchtbar. Diese ›Königinnen‹ hatten die Kinder produziert, über die Erinnerung in der Kinderstube gestolpert war. Der Rest der Weibchen war steril; sie hatten nicht einmal die Pubertät erreicht und widmeten ihr Leben der Aufzucht nicht ihres eigenen Nachwuchses, sondern der Kinder ihrer Schwestern und Cousinen.

In genetischer Hinsicht ergab das natürlich einen Sinn. Sonst hätte sich es auch gar nicht so ergeben. Die Kolonie war eine große Familie, die durch Inzucht zusammengehalten wurde. Indem man den Bestand der Kolonie sicherte, stellte man auch sicher, dass sein genetisches Erbe weitergegeben wurde, wenn auch nicht direkt durch eigenen Nachwuchs. Wenn man steril war, war das die einzige Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben.

Aber das war nicht das einzige Opfer. In dem Maß, wie die Körper dieser Kolonie-Bewohner geschrumpft waren, waren auch die Gehirne geschrumpft. Man brauchte kein Gehirn mehr. Der Stock kümmerte sich um einen, genauso wie die Maus-Raptoren sich um die Elefanten-Leute kümmerten, die sie in Herden hielten und verzehrten. Man vermochte die Energie des Körpers sinnvoller zu nutzen, als ein unnötiges Gehirn damit zu befeuern.

Und mit der Zeit verzichteten die Maulwurf-Leute sogar auf die wertvollste aller Säugetier-Erbschaften: auf die Warmblütigkeit. Weil sie ihre Bauten kaum verließen, brauchten die Maulwurf-Leute keine so aufwändige Stoffwechsel-Maschinerie – zumal ein kaltblütiger Späher weniger Nahrung brauchte als ein warmblütiger. In ein paar Millionen Jahren würden diese Maulwurf-Leute wie Eidechsen ausschwärmen und in Konkurrenz zu den Reptilien und Amphibien treten, die die MikroÖkologie seit jeher bewohnten.

Und so huschten die Maulwurf-Leute ängstlich, unwissend und mit zuckenden Schnurrhaaren durch die mit Speichel zementierten Gänge. Doch im Schlaf rollten sie mit den zugewachsenen rudimentären Augen, während sie von seltsam offenen Ebenen träumten, auf denen sie frei und ungehindert umherstreiften.

Erinnerung verlor jegliches Zeitgefühl. Im stickig heißen Gefängnis der Kammer schlief sie, aß Wurzeln und Knollen und sog Wasser aus den Baumwurzeln. Die Maulwurf-Leute ließen sie in Ruhe. Sie war schon seit Tagen hier, ohne an etwas zu denken und andere Bedürfnisse zu verspüren außer zu essen, Kot und Urin abzusondern und zu schlafen.

Trotzdem wurde sie schließlich unruhig. Sie wachte auf und schaute sich verschlafen um.

Im trüben, diffusen Licht sah sie, dass Maulwurf-Leute die Kammer betraten und sie durch einen engen Schacht im Dach wieder verließen. Sie bewegten sich in einer Linie. Die schlackernde Haut warf Falten, wenn sich aneinander drückten, die Schnurrhaare zuckten und die klauenbesetzten Hände krabbelten.

Obwohl der Maus-Raptor und andere Gefahren im Hinterkopf präsent waren, sehnte Erinnerung sich danach, wieder nach draußen zu kommen – nach dem Tageslicht, nach frischer Luft, nach Grün.

Sie wartete, bis die Maulwurf-Leute vorbei geklettert waren. Dann stieg sie über den Haufen Nüsse und quetsche sich durch die schmale Bresche im Dach.

Es war eine Art Kamin, der zu einem Spalt purpurschwarzen Himmels hinaufführte. Der Anblick des Himmels trieb sie an, und sie quetschte sich immer höher durch den engen, zerklüfteten Kamin. Mit Händen und Füßen, Knien und Ellbogen arbeitete sie sich durch den Dreck und presste Brust und Hüften durch Lücken, die viel zu klein für sie zu sein schienen.

Schließlich steckte sie den Kopf über die Erde. Sie atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein und fühlte sich gleich viel besser. Aber die Luft war kalt. Die knorrigen Konturen der Borametz-Bäume verstellten ihr den Blick auf den Sternenhimmel. Es war Nacht, die Zeit, wo die Maulwurf-Leute sich bevorzugt an die Oberfläche wagten. Sie schob die Arme aus dem Loch, legte die Hände auf den Boden und stemmte sich mit der Kraft eines Baumkletterers hoch, wobei sie den Körper aus dem Kamin zog wie einen Korken aus der Flasche.

Die Maulwurf-Leute waren überall; sie rannten auf Hinterbeinen und Knöcheln umher, schnüffelten, schlurften und wuselten durcheinander. Aber ihre Bewegungen waren dennoch geordnet. Sie gingen in Kolonnen, die sich um die Termitenhügel und Ameisennester schlängelten, zwischen den Borametz-Bäumen und den Ausstiegslöchern hin und her. Sie rissen die Nüsse ab, die in Klumpen an den Baumwurzeln wuchsen, Nüsse, die manchmal so groß waren wie der Kopf eines Maulwurfwesens. Aber sie schienen sie nicht zu knacken, um ans Fleisch zu gelangen. Sie brachten sie nicht einmal in die unterirdischen Lager. Vielmehr holten sie noch Nüsse aus den unterirdischen Depots herauf, wie sie nun sah.

Sie brachten die Nüsse zum Rand des Borametz-Hains. Dort hoben Arbeiter kleine Gruben im Boden aus – wobei sie das spärliche Gras ausrissen –, in denen die Nüsse dann abgelegt und vergraben wurden.

Jeder Borametz war der Mittelpunkt einer symbiotischen Gemeinschaft von Insekten und Tieren.

Symbiose zwischen Pflanzen und anderen Organismen war uralt: Die blühenden Pflanzen und die sozialen Insekten hatten sich quasi Hand in Hand entwickelt, wobei die einen die Bedürfnisse der jeweils anderen erfüllten. Und es waren die sozialen Insekten, die Ameisen und Termiten, die als Erste von den reproduktiven Strategien der neuen Baum-Art kooptiert worden waren.

Jede Symbiose war eine Art von Geschäft. Die Pfleger, ob Insekten oder Säugetiere, lösten die Samen der Borametz-Bäume vom Stamm oberhalb der Wurzeln ab, aber sie verzehrten sie nicht, sondern lagerten sie ein. Und wenn die Bedingungen günstig waren, transportierten sie sie zu einem Ort, der zur Bepflanzung geeignet war – in der Regel an der Peripherie eines schon existierenden Hains, wo es kaum Konkurrenz durch etablierte Bäume oder Gräser gab. Und so wuchs der Wald. Als Lohn für ihre Mühen bekamen die Pfleger Wasser: Wasser, das die außergewöhnlich langen Wurzeln des Borametz selbst in den trockensten Gebieten aus tiefen Grundwasserschichten heraufholten.

Es war für die Maulwurf-Leute mit ihrer kooperativen Gesellschaft und den noch immer beweglichen Primaten-Händen und Gehirnen nicht schwer gewesen, die Termiten und Ameisen zu imitieren und die Borametz-Bäume selbst zu hegen. Zumal sie wegen ihrer größeren Körper auch ein größeres Gewicht zu tragen vermochten als Insekten, was die Entwicklung neuer Borametz-Arten mit größeren Samen zur Folge gehabt hatte.

Für den Borametz war es eine Frage der Effizienz. Der Borametz musste viel weniger Energie in jeden erfolgreichen Setzling investieren als seine Konkurrenten. Also war es eine reproduktive Strategie, die dem Borametz das Überleben ermöglichte, wo andere Spezies keinen Erfolg hatten. Und während ihre Pfleger die Samen fleißig von den Gärten auf die Wiese hinaustrugen, breiteten die Borametz-Arten sich sogar im Grasland aus. Schließlich – über fünfzig Millionen Jahre nach dem Triumph der Gräser –, gelang den Bäumen die Revanche.

Die Borametz-Bäume verkörperten die erste pflanzliche Revolution, seit die blühenden Pflanzen in den Tagen vor Chicxulub aufgekommen waren. Und in den kommenden Zeitaltern sollte diese neue pflanzliche Revolution – wie schon das Erscheinen der ersten Pflanzen an Land es den Tieren ermöglicht hatte, das Meer zu verlassen, wie die Evolution der blühenden Pflanzen, wie der Aufstieg der Gräser – durchgreifende Auswirkungen auf alle Lebensformen haben.

Während Erinnerung noch immer außer Atem auf dem Boden saß und dem merkwürdige Treiben der Maulwurf-Leute zuschaute, hörte sie allzu bekannte schleichende Schritte und einen schrecklich zischenden Atem. Sie drehte langsam den Kopf, um sich nicht zu verraten.

Es war der junge Maus-Raptor, derselbe, der seine Herde von Elefanten-Leuten verlassen hatte, um sie zu jagen. Er stand über einer Reihe von Maulwurf-Leuten, die zwischen dem Baum und der Pflanzung hin und her huschten und sich der Gefahr nicht bewusst waren, in der sie schwebten.

Es war, als ob der Raptor Rache übte. Nur ein paar Nagetiere vermochten die dicke Schale der Borametz-Nüsse zu knacken. Je weiter der Borametz sich verbreitete, desto stärker waren die Samen fressenden Arten, denen dieser Raptor entsprungen war – zusammen mit Vögeln und anderen Spezies –, von einem schwindenden Nahrungsangebot, von schrumpfenden Revieren und in manchen Fällen sogar vom Aussterben bedroht.

Der Raptor traf seine Wahl. Er bückte sich, wobei er sich mit dem langen Schwanz abstützte, und schnappte sich eine verwirrte Maulwurfs-Frau. Der Raptor drehte sie auf den Rücken und strich ihr fast zärtlich über den Bauch.

Die Maulwurfs-Frau wehrte sich schwach. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von der Kolonie abgeschnitten und vom subtilen sozialen Druck befreit. Es war, als ob sie plötzlich aus einem Meer aus Blut und Milch an die Oberfläche gestiegen wäre, und sie verspürte kreatürliche Angst – zum ersten und auch zum letzten Mal. Dann stieß der Kopf des Raptors herab.

Ihre Kameraden eilten an den Füßen des Killers vorbei, ohne dass der Fluss merklich unterbrochen worden wäre.

Der Maus-Raptor drehte sich um. Die kleinen Ohren zuckten. Und er starrte direkt auf Erinnerung.

Ohne zu zögern stürzte sie sich wieder ins Loch im Boden.

Erinnerung blieb noch für ein paar Tage in der Speisekammer. Aber sie vermochte sich nicht mehr im stickigen Mief einzurichten, der sie umgeben hatte.

Am Ende war es der Wahnsinn der Maulwurf-Leute, der sie vertrieb.

Selbst für dieses trockene Gebiet war der Sommer sehr trocken gewesen. Die Suche nach den Knollen und Wurzeln, von denen die Maulwurf-Leute lebten, gestaltete sich immer schwieriger. Die Vorräte in der Kammer schwanden dahin und wurden der Not gehorchend durch andere Pflanzen ersetzt, wie die violetten Blätter der Kupferblumen. Diese Nahrung enthielt jedoch Giftstoffe, die sich im Blutkreislauf der Maulwurf-Leute akkumulierten.

Schließlich brach alles zusammen.

Wieder wurde Erinnerung von Maulwurf-Leuten geweckt, die durch die fast leere Speisekammer liefen. Doch diesmal stiegen sie nicht in ordentlichen Kolonnen durch die Kamine aus. Stattdessen rannten sie wie verrückt umher und drängten alle auf einmal aus der Kammer. Sie konnten es kaum erwarten, an die Oberfläche zu gelangen und rissen dabei das Dach ein.

Erinnerung wich den blindlings um sich schlagenden Krallen aus und folgte ihnen vorsichtig nach oben. Diesmal tauchte sie in Tageslicht ein.

Überall um sie herum schwärmten die Maulwurf-Leute aus. Es waren unzählige, die durcheinander wuselten – wie ein Teppich aus zuckenden Fleischbrocken. Die Luft wurde vom Gestank nach Milch erfüllt und vom Geräusch, mit dem die Leiber aneinanderschabten. Es waren viel mehr, als die Kolonie Mitglieder gehabt hatte: Viele Stöcke hatten sich geleert, als die vergiftete, halb berauschte Population von einer Aufwallung kollektiven Wahnsinns gepackt wurde.

Und die Räuber zeigten schon Interesse. Erinnerung sah einen sich anschleichenden Ratten-Leoparden und ein Rudel hundeartiger Mäuseabkömmlinge, derweil über ihr Raubvögel in den Sturzflug gingen.

Das alles war eine Reaktion auf die Verknappung der Nahrung. Die überfüllten Bauten der Maulwurf-Leute hatten sich geleert, als sie auf der Suche nach etwas Essbarem blindlings ausschwärmten. Im Rauschzustand vermochten sie sich aber nicht mehr vor Gefahren zu schützen. Der größte Teil dieser Horde würde heute sterben, hauptsächlich in den Mäulern von Räubern. Der langfristige Bestand der Stöcke war dadurch aber nicht gefährdet. Die Kolonien hatten noch genug fruchtbare Mitglieder, um zu überleben. Zumal es auch eine positive Seite hatte, dass die Population in der Dürreperiode reduziert wurde. Die Maulwurf-Leute vermehrten sich schnell, und wenn das Nahrungsangebot sich wieder vergrößerte, würden auch die leeren Bauten und Speisekammern sich bald wieder füllen.

Die Gene würden weitergegeben: Nur darauf kam es an. Selbst dieser periodische Wahnsinn war Teil des größeren Plans. Dennoch würden heute viele ausgelöscht werden.

Während die Räuber sich an den gedeckten Tisch setzten und die Luft vom Knacken von Knochen und Knorpeln, den Schreien der Sterbenden und dem Gestank von Blut erfüllt war, schlich Erinnerung von diesem Ort des Wahnsinns und Tods davon und nahm die durch eine lange Zwangspause unterbrochene Wanderung zu den fernen purpurnen Hügeln wieder auf.

IV

Schließlich kam Erinnerung zu einer großen Bucht, wo das Meer tief ins Land hinein reichte.

Sie kletterte eine erodierte Sandsteinklippe hinab. Einst hatte dieses Gelände sich unter dem Meer befunden, und Sedimente hatten sich über Jahrmillionen abgelagert. Nun war das Land aus dem Meer emporgestiegen, und Flüsse und Bäche hatten breite Gräben in den freigelegten Meeresboden gefräst. Dabei waren tiefe, kompakte Schichten zum Vorschein gekommen, in denen zum Teil – zwischen dicken Sandsteinschichten eingeklemmt – Reste von Schiffswracks und Schutt von untergegangenen Städten eingebettet waren.

Erinnerung erkannte diesen Strand wieder. Sie lief am oberen Rand entlang und hielt sich in der Deckung von Steinen und Dünengräsern. Der Sand piekste sie an Füßen und Knöcheln und setzte sich im Fell fest. Dies war ein junger Strand, und es ragten noch immer zerklüftete Kanten aus dem Sand, die noch zu neu waren, als dass sie schon erodiert worden wären.

Sie kam zu einem Bach, der von den Felsen zum Meer hinunterplätscherte. Wo das Wasser sich in den Sand ergoss, klammerte sich eine kleine Baumgruppe an den Hang. Sie duckte sich, führte den Mund zum Wasser und trank in großen Schlucken. Dann lief sie in den Bach und versuchte Sand, Flöhe und Läuse aus dem Fell zu waschen.

Anschließend kroch sie in den Schatten der Bäume. Es gab hier keine Früchte, aber im kalten und feuchten, laubübersäten Boden tummelten sich viele Insekten, die sie sich in den Mund stopfte.

Vor ihr plätscherte das Meer leise an den Strand, und das Wasser leuchtete im Widerschein der hohen Sonne. Das Meer bedeutete ihr nichts, aber sein entfernter Schimmer hatte sie immer schon angezogen, und sie empfand es als durchaus angenehm, hier zu sein.

Zumal das Meer der Retter ihrer Art war.

Das von tektonischen Kräften auseinander gezerrte afrikanische Rift Valley war schließlich zu einem breiten Riss im Gefüge des Kontinents geworden. Das Meer war eingedrungen, und ganz Ostafrika war vom Hauptkontinent abgeschert worden wie einst Madagaskar und isoliert in den Indischen Ozean abgedriftet. So langsam hatte dieser gewaltige Prozess stattgefunden, dass die kurzlebigen Wesen, die auf der neuen Insel lebten, kaum etwas davon mitbekommen hatten.

Nach dem Untergang der Menschheit hatte es auf dem ganzen Planeten Taschen mit Überlebenden gegeben. Und fast überall waren sie im Konkurrenzkampf gegen die Nagetiere unterlegen. Nur hier, auf diesem Bruchstück von Afrika, hatte ein geologischer Zufall die Menschenabkömmlinge gerettet. So hatten sie Zeit, einen Weg zu finden, den gnadenlosen Ansturm der Nagetiere zu überstehen.

Dieser Ort, Ostafrika, war einst die Wiege der Menschheit gewesen. Nun war er die letzte Zuflucht ihrer letzten Kinder.

Erinnerung sah eine Bewegung im Wasser. Vorsichtig zog sie sich in den Schatten zurück.

Es war eine große schwarze, schlanke und kräftige Gestalt, die zielstrebig durchs Meer schwamm. Sie schien zu rollen, und eine Flosse, die irgendwie an den Flügel eines Vogels erinnerte, ragte in die Luft. Erinnerung machte einen bauchigen Kopf mit einem breiten siebartigen Schnabel aus, der aus dem Wasser stach. Mit einem lauten Prusten schoss Wasser aus zwei Nasenlöchern, die sich an der Oberseite des Schnabels befanden, das in der Luft zerstäubt wurde. Dann krümmte der Körper sich und verschwand in der Tiefe. Sie erhaschte einen letzten Blick auf einen Schwanz, und dann war die Kreatur verschwunden. Trotz des massigen Leibs hatte sie das Wasser kaum aufgewühlt.

Im ›Kielwasser‹ dieses Riesen sprangen kleinere, aber auch kräftige Leiber aus dem Wasser – drei, vier, fünf an der Zahl. Sie beschrieben elegante Bögen, tauchten ins Meer ein und stiegen immer wieder aus dem Wasser empor. Die Körper hatten die Gestalt von Fischen, aber diese delfinartigen Geschöpfe waren offensichtlich keine Fische. Sie waren mit Vogel-Schnäbeln ausgerüstet, die sich zu langen orangefarbenen Greifzangen verjüngten.

Die ›Delfine‹ wurden von anderen Wesen gefolgt, die in gleicher Weise über die Meeresoberfläche schnellten. Doch bei diesen viel kleineren Geschöpfen handelte es sich wirklich um Fische. Die feuchten Schuppen glitzerten, und flügelartige Flossen an den Seiten der goldenen Körper flatterten, als sie die kurzen, ruckartigen Flüge übers Wasser vollführten.

Der ›Wal‹ war kein echter Wal, wie auch die ›Delfine‹ keine Delfine waren. Diese großen Meeressäugetiere waren bereits vor dem Menschen ausgestorben. Diese Wesen stammten von Vögeln ab, und zwar von den Kormoranen der Galapagos-Inseln im Pazifik, die von widrigen Winden vom südamerikanischen Festland dorthin verschlagen worden waren. Sie hatten das Fliegen verlernt und sich zum Meer hin orientiert. Die Flügel ihrer Nachfahren waren zu Flossen geworden, die Füße zu Schwanzflossen, und die Schnäbel hatten sich in spezialisierte Instrumente verwandelt – Greifer und Siebe –, um Nahrung aus dem Meer zu schöpfen. Ein paar ›Delfin‹-Spezies hatten sogar die Zähne ihrer Reptilien-Urahnen nachgebildet: Der genetische Entwurf für die Zähne hatte zweihundert Millionen Jahre im Genom der Vögel geschlummert und auf den Tag gewartet, an dem er reaktiviert wurde.

Über einen Zeitraum von dreißig Millionen Jahren – unmerklich langsam nach menschlichen Maßstäben – waren Adaption und Selektion durchaus in der Lage, einen Kormoran in einen Wal, einen Delfin oder in eine Robbe umzuwandeln.

Und all die schwimmenden Vögel, die Erinnerung sah, waren indirekte Nachkommen von Joan Useb.

Vor Erinnerungs Augen stieß eine delfinartige Kreatur aus dem Wasser mitten in die Wolke der fliegenden Fische hinein. Die Fische stoben mit blitzschnellen Schlägen der Flossen-Flügel auseinander, doch der Schnabel des ›Delfins‹ schloss sich noch um ein paar von ihnen, ehe der schlanke Leib wieder im Wasser versank.

Die Sonne machte sich an den langen Abstieg zum Meer. Erinnerung stand auf, klopfte sich den Sand aus dem Fell und setzte den vorsichtigen Knöchel-Gang am Strand entlang fort. Doch dann wurde sie von irgendetwas über sich abgelenkt. Mit der Befürchtung, dass es sich um einen Raubvogel handelte, schaute sie zum Himmel empor. Es war ein Licht – wie ein Stern, nur dass der Himmel noch viel zu hell für Sterne war. Sie sah, wie das Licht durchs Himmelszelt glitt.

Das Licht am Himmel war Eros.

NEAR, die kleine, längst tote Sonde, war für dreißig Millionen Jahre mit dem Ziel-Asteroiden durch die Weiten jenseits des Mars geflogen. Die exponierten Teile waren stark korrodiert, und die Metallwände waren durch den Dauerbeschuss von Mikrometeoriten auf die Dicke von Papier reduziert worden. Bei der Berührung einer behandschuhten menschlichen Hand wäre sie zerfallen wie eine Skulptur aus Staub.

Doch hatte NEAR bislang als eins der letzten Artefakte der Menschheit überlebt. Wenn Eros den erratischen Tanz um die Sonne fortgesetzt hätte, dann hätte NEAR vielleicht noch länger überdauert. Doch diese Chance sollte die Sonde nicht bekommen.

Der Durchgang des Asteroiden durch die Atmosphäre würde gnädig schnell erfolgen. Die fragile Sonde würde bei der Rückkehr zum Planeten, auf dem sie entstanden war, in Sekundenbruchteilen verdampfen, bevor der Himmelskörper, den sie so lang begleitet hatte, selbst zerstört werden würde.

Die evolutionären Laboratorien der Erde waren schon oft durch gewaltige Eingriffe von außen in Gang gesetzt worden. Und sie würden erneut die Arbeit aufnehmen: Von neuem würden die Prozesse der Variation und Selektion die Abkömmlinge der Überlebenden so umformen, dass sie die zerstörten ökologischen Systeme auszufüllen vermochten.

Jedoch war das Leben nicht unbegrenzt anpassungsfähig.

Auf Erinnerungs Erde gab es unter den neuen Spezies viele ›Novitäten‹. Und doch waren sie alle Variationen alter Themen. Die neuen Tiere waren allesamt anhand des uralten Vierfüßer-Bauplans erschaffen worden, dem Erbe der ersten nach Luft schnappenden Fische, die aus dem Schlick gekrochen waren. Und als Kreaturen mit einer Wirbelsäule waren sie alle Teil eines Phylums – ein riesiges Reich des Lebens.

Der erste Triumph des mehrzelligen Lebens war die so genannte Kambrium-Explosion gewesen, die etwa fünfhundert Millionen Jahre vor der Entstehung der Menschheit erfolgt war. In einem Ausbruch genetischer Innovation waren sage und schreibe hundert Phyla erschaffen worden: Jedes Phylum umfasste eine signifikante Gruppe von Spezies, die jeweils einen Entwurf eines Körper-Bauplans repräsentierten. Alle mit einem Rückgrat ausgestatteten Lebewesen gehörten zum Phylum der Chordaten. Die Arthropoden, das zahlenmäßig größte Phylum, umfasste Wesen wie Insekten, Tausendfüßler, Spinnen und Krabben. Und so weiter. Dreißig Phyla hatten den ersten Kataklysmus überstanden.

Seitdem waren Arten entstanden und vergangen, und das Leben hatte immer wieder Katastrophen und Aufschwünge erlebt. Es war jedoch kein einziges neues Phylum mehr entstanden, kein einziges – nicht einmal nach dem Pangäa-Auslöschungsereignis, dem bisher größten Aderlass. Und selbst zum Zeitpunkt dieses urzeitlichen Ereignisses war die Fähigkeit des Lebens zur Erneuerung schon stark eingeschränkt.

Der Stoff des Lebens war wie Knetmasse, die seelenlosen Prozesse der Variation und Selektion waren erfinderisch. Aber nicht unendlich erfinderisch. Die Fähigkeiten nahmen mit der Zeit ab.

Es war eine Frage der DNA. Im Zeitablauf hatte die molekulare Software, die die Entwicklung von Lebewesen steuerte, sich nämlich selbst verändert und war kompakter, robuster und kontrollierter geworden. Es war, als ob jedes Genom immer wieder eine ›Modellpflege‹ erfahren hätte, wobei jedes Mal Gen-Müll und Defekte aussortiert und die Kohärenz des Ganzen verbessert wurden – doch zugleich nahm das Potenzial für wesentliche Veränderungen immer mehr ab. Das uralte, durch die ›Innenrevision‹ der Genome erstarrte Leben war zu keinen großen Neuerungen mehr fähig.

Diese Selbstbeschränkung war eine verpasste Chance. Und das Leben vermochte auch nicht mehr allzu viele Hammerschläge einzustecken.

Das Licht am Himmel war seltsam. Jedoch kam Erinnerung nach einer instinktiven Kalkulation zu dem Schluss, dass keine Bedrohung von ihm ausging. Aber da irrte sie sich. Purga, die den Teufelsschweif in ähnlicher Weise über sich hatte hinweg ziehen sehen, hätte ihr das sagen können.

Noch bevor die Sonne den Horizont berührte, erreichte sie den Wald im Windschatten der vulkanischen Berge und hatte nach vielen Tagen endlich ihr Ziel erreicht. Erinnerung schaute zu den hohen Bäumen vor sich auf und zum Blätterdach, das dem Himmel entgegenstrebte. Sie glaubte, schlanke Gestalten dort herumklettern zu sehen, und diese schemenhaften Klumpen waren vielleicht Nester.

Das waren nicht ihre Leute. Aber es waren Leute, und vielleicht waren sie wie sie.

Sie sprang vom Boden hoch und kletterte ins tröstliche Grün der Baumwipfel hinauf.

Etwas flog an ihrem Kopf vorbei. Es war ein fliegender Fisch, der vom Meer kam. Sie sah, wie er mit kräftigen Schlägen der Flossen-Flügel zwischen den Bäumen hindurch flog und sich unbeholfen in einem Nest niederließ, wobei er pfeifend Luft in eine primitive Lunge sog.

KAPITEL 19 Eine sehr ferne Zukunft Montana, Zentrales Neu-Pangäa, ca. 500 Millionen Jahre in der Zukunft

I

Ultima grub missmutig im Schmutz und hoffte darauf, einen Skorpion oder Käfer zu finden. Sie war ein orangefarbenes Fellknäuel auf der rostroten Oberfläche.

Es war dies eine flache, trockene Ebene aus rotem Gestein und Sand. Es war, als ob das Land mit einer riesigen Klinge abgeschabt und das Urgestein vom Wind mit einer kupfernen Patina überzogen worden wäre. Einst hatten Berge sich im Westen erhoben, purpurgraue Kegel, an denen das vom eintönig flachen Land ermüdete Auge sich festzuhalten vermocht hätte. Doch der Wind hatte schon vor langer Zeit die Berge abgetragen und weiträumig verstreute Felsbrocken auf den Ebenen hinterlassen, die ihrerseits auch erodiert und spurlos verschwunden waren.

Eine halbe Milliarde Jahre nach dem Tod des letzten echten Menschen war ein neuer Superkontinent entstanden. Er wurde von einer Wüste dominiert, die so rot war wie das Herz des alten Australien und glich einem riesigen Schild, das am blauen Antlitz der Erde befestigt war. Auf diesem Neu-Pangäa gab es weder natürliche Hindernisse noch Seen oder Bergketten. Heute war es ganz egal, wohin man ging, ob vom Pol zum Äquator oder von Ost nach West. Es sah überall gleich aus. Und der Staub war auch überall. Selbst die Luft war mit rotem Staub geschwängert, der von den regelmäßigen Sandstürmen aufgewirbelt wurde und den Himmel in eine milchig-trübe Kuppel verwandelte. Diese Welt hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Mars als mit der Erde.

Aber die Sonne war eine große lodernde Scheibe, die Hitze und Licht auf die Erde schleuderte. Sie war viel heller als in der Vergangenheit. Jeder menschliche Beobachter hätte sich im Vorhof der Hölle gewähnt.

Unter dem grellen Licht lastete die Hitze Tag und Nacht auf dem Land. Es gab keine Geräusche außer dem Wind und dem Schaben der paar Lebewesen; nichts deutete darauf hin, dass es jemals anders ausgesehen hätte auf diesem roten Planeten. Das Land fühlte sich leer an; es war eine riesige Arena hallender Stille, eine Bühne, von der die Darsteller abgetreten waren.

Tief unter dem Staub, in dem Ultima wühlte, lag – unter den Ablagerungen einer halben Milliarde Jahren, unter dem Salz und Sandstein von Neu-Pangäa – das Gebiet, das man als Montana gekannt hatte. Ultima war nicht oberhalb von Hell Creek, wo die Knochen von Joan Usebs Mutter in den Schichten, die sie so sorgfältig durchsucht hatte, sich schließlich mit denen der Dinosaurier und urzeitlichen Säugetieren vereinigt hatten.

Ultima wusste nichts von ihrem besonderen Platz in der Geschichte und verstand ihn noch viel weniger. Sie gehörte nämlich zu den Letzten ihrer Art.

Ultima ging nach Hause. Ihr Zuhause war eine Grube im harten Gestein. Sie bot ein wenig Schutz vorm Wind. Hier fristeten Ultima und ihre Art ihr Dasein.

Die Grube mutete künstlich an. Der Boden war glatt, und die terrassierten Wände waren steil. Die Grube war nämlich ein Steinbruch, den menschliche Wesen vor einer halben Milliarde Jahren angelegt und tief ins Urgestein getrieben hatten. Selbst nach dieser langen Zeit, nachdem Berge entstanden und vergangen waren, war der Steinbruch noch fast unversehrt – ein stummer Zeuge menschlicher Tatkraft.

Vereinzelte Bäume wuchsen auf dem Boden der Grube. Sie standen majestätisch da, wie Wächter und wurden von Termiten-Kolonien umringt, deren Hügel sich überall auftürmten. Es waren kleine, hässliche Bäume, die der Zeit trotzten. Hier lebte kaum etwas außer den Leuten und unzähligen winzigen Kreaturen, die im Staub wühlten.

Als Ultima die Wände der Grube hinunterstieg, drehte der Wind und wehte nun aus Westen, aus der Richtung des Binnenmeers. Allmählich stieg die Luftfeuchtigkeit an. Und schließlich türmten sich über den abgetragenen Bergen im Westen dunkle Gewitterwolken auf.

Ultima schaute in den Himmel. Seit Ultimas Lebzeiten hatte es hier noch nicht geregnet. Die meisten Wolken, die vom fernen Meer kamen, hatten sich längst abgeregnet, bevor sie einen Ort wie diesen im Innern des Superkontinents erreichten. Es bedurfte schon eines sehr starken Sturms, um in diese endlosen Weiten der trockenen Ebene einzubrechen – eines ›Jahrhundert-Sturms‹. Und genau ein solcher Sturm zog nun auf. Man spürte es, dass etwas nicht stimmte – es lag in der Luft.

Die Leute eilten zu ihrem Baum zurück und flüchteten sich in den Schutz der Äste. Für ihre Begriffe eilten sie, aber sie bewegten sich dennoch mit einer behäbigen Trägheit, als ob sie durch die flimmernde Luft wateten.

Ultima sah mit ihren zehn Jahren aus wie ein kleiner Affe. Sie hatte lange Gliedmaßen, einen dünnen Rumpf und schmale Schultern: Selbst jetzt, bei diesen entfernten Nachfahren der Menschen, hatte der grundlegende Bauplan der Primaten noch Bestand. Der schlanke Leib war mit einem dichten roten Fell überzogen, das so rot war wie der Sand. Sie hatte einen kleinen Kopf mit einem dicken Brauenwulst und einem beweglichen, ausdrucksstarken Gesicht – es war ein erstaunlich menschliches Gesicht. Kleine Hautlappen in der Art von Augenlidern bedeckten Augen, Nase, Anus und Vagina, um die wertvolle Feuchtigkeit zu speichern. Sie hatte eine hohe Stirn, fast als ob ihre Art wieder das große Gehirn des Menschen-Zeitalters ausgeprägt hätte, doch dahinter befand sich nur poröser Knochen mit einem Verbund aus Nebenhöhlen, die als Kühlsystem fürs Gehirn fungierten.

Und obwohl sie schon ausgewachsen war, hatte sie einen kindlichen Körper. Ultima war in funktionaler Hinsicht eine Frau – die Leute gebaren immer noch –, aber es gab keine Männer mehr, und das Geschlecht war ohne Bedeutung. Sie hatte keine Brüste, nicht einmal Brustwarzen. Dieser Tage wurde keine Muttermilch mehr gebraucht, genauso wenig wie die komplexen Strukturen eines großen Gehirns. Der Baum sorgte für sie.

Und sie war kein zweibeiniges Wesen. Das sah man an der Art und Weise, wie sie zum Baum lief: Arme und Beine waren zum Hangeln und Klettern gemacht und die Füße zum Greifen – nicht für den aufrechten Gang. Diese experimentelle Art der Fortbewegung war schon vor langer Zeit ad acta gelegt worden. Im Vergleich zu ihren Ahnen war sie langsam und träge, wie alle ihrer Art.

Am Baum hielt Ultima Ausschau nach ihrer Tochter.

Der blättrige Kokon des Kindes schmiegte sich in eine tiefe Astgabel. Das kleine Mädchen war sicher in weiche weiße Daunen gebettet; orangefarbene Haarsträhnen fielen ihm über die gewölbte Stirn. Während der Saft des Baums durch den fahlen Strang der Bauch-Wurzel strömte, die in ihrem Magen mündete, regte das Kind sich und brabbelte etwas vor sich hin. Es hatte den kleinen Daumen in den Mund gesteckt und träumte grüne Träume.

… Etwas stimmte nicht. Ultima war zwar keine begnadete Analytikerin, aber auf ihre Instinkte konnte sie sich verlassen. Sie strich über den zottigen roten Pelz am Bauch des Kindes und strich das flauschige baumwollartige Futter des Kokons glatt. Das kleine Mädchen wimmerte und drehte sich im Schlaf um. Ultima konnte machen, was sie wollte, dieses unbehagliche Gefühl wollte einfach nicht weichen. Nervös richtete sie den Kokon her.

Der Wind schwoll an wie ein machtvoller Atem.

Ultima stieg höher ins schützende Geäst des Baums. Hastig wickelte sie sich in ihren Kokon und schloss den Blatt-Ver-schluss. Die Blätter waren dick und zäh, wie Platten einer ledernen Rüstung. Die anderen Leute taten es ihr nach und richteten sich auf den Ästen ein, sodass es aussah, als ob der Baum plötzlich große schwarze Früchte triebe.

Die Wolken jagten über den Himmel und hielten die sengende Hitze einer allzu heißen Sonne zurück. Ultima schaute zum Himmel hinauf. Neugier war keine verbreitete Regung mehr, wo die Welt über weite Spannen von Zeit und Raum mehr oder weniger unverändert war. Doch heute war ein anderer Tag. Sie hatte die Luft noch nie so feucht, schwer und drückend empfunden und noch nie so dräuend schwarze Wolken gesehen.

Und im letzten Moment, ehe das Unwetter losbrach, sah sie flüchtig etwas anderes.

Auf dieser vom Zahn der Zeit abgenagten Ebene lag eine Sphäre. Sie war doppelt so groß wie sie. Sie war weder blau wie der Abendhimmel noch rostrot wie der Erdboden oder die Farbe des Sands wie die meisten Kreaturen auf der Welt. Stattdessen war sie eine schillernde Mischung aus Purpur und Schwarz, den Farben der Nacht.

An diesem seltsamen Tag war hier etwas Außergewöhnliches erschienen. Sie schaute mit offenem Mund hin, ohne zu begreifen, was sie da sah. Aber sie spürte, dass dieses Ding nicht von ihrer Welt war. In dieser Beziehung hatte sie Recht.

Nun blitzte es, und sie vergrub wimmernd das Gesicht im Grün. Die Blätter schlossen sich um sie und hüllten sie ein. In der Wärme und Dunkelheit wurde die Luft angenehm feucht. Als jedoch die Bauch-Wurzel nach der ventilartigen Öffnung im Bauch, direkt unter dem Nabel tastete, schob sie sie weg. Sie suchte hier nur Schutz und hatte dem Baum heute nichts zu geben.

Und dann brach der Sturm los.

Wind und Staub kamen wie eine rote Wand von Westen angerast. Vertrocknete Pflanzen wurden zerrissen. Selbst die verstreuten, majestätischen Bäume wurden geschüttelt und verloren Äste. Leute und andere Symbionten wurden zu ihrem Entsetzen aus den Kokons gerissen und davon gewirbelt.

Die ersten Regentropfen, die wie Geschosse aufschlugen, kündigten einen apokalyptischen Wolkenbruch an. Der Regen war so stark, dass er sogar die steinharten Oberflächen der uralten Termitenhügel angriff. Es gab nichts, was das Wasser aufzunehmen vermocht hätte, kein Gras, um den Erdboden festzuhalten. Nach ein paar Minuten schoss Wasser durch jede ausgetrocknete Rinne und durch jedes Flussbett. Eine große schlammige Flutwelle ergoss sich in den Steinbruch. Das von der Erde rot gefärbte Wasser toste in Strudeln um die Baumwurzeln.

Doch der Regen hörte auch so schnell wieder auf, wie er begonnen hatte. Die Wolken stoben tiefer ins Innere des Superkontinents. Nichts in Ultimas Erfahrungsschatz hatte sie auf einen so sintflutartigen Regen vorbereitet. Doch der Baum verstand das Ereignis auf seine gemächliche pflanzliche Art.

Während Ultima sich noch geschockt im Kokon in einer embryonalen Haltung zusammenkrümmte, spürte sie, wie die lederartige Haut um sie herum pulsierte. Am liebsten wäre sie hier in der feuchten Dunkelheit geblieben, statt sich der schrecklichen Wirklichkeit jenseits dieser Schutzhülle zu stellen. Aber der Baum vermittelte ihr ein Gefühl des Unbehagens und der Unruhe. Er wollte, dass sie ihn verließ und sich an die Arbeit machte.

Sie setzte sich mit dem Rücken an die Wand des Kokons und drückte dagegen. Die Blätter lösten sich mit einem feuchten Schmatzen voneinander. Sie fiel vom Baum und landete im Schlamm.

Überall um sie herum fielen die Leute vom Baum. Sie machten ein paar versuchsweise Schritte auf den Knöcheln. Der Schlamm fühlte sich seltsam an: Es war ein schweres, klebriges rotes Zeug, das an Beinen, Füßen und Händen haftete.

Die höllische Sonne kam wieder hervor, und der Schlamm trocknete auch schon wieder. Das Wasser verdunstete, und der Boden backte wieder fest zusammen. Doch für diese paar Minuten war der Boden eine quirlige Arena von Geräuschen und Bewegung gewesen. Mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit wuchsen Ranken, Blätter und sogar Blumen aus dem Schlamm. Sie waren Samen entsprossen, die für ein Jahrhundert im Boden geschlummert hatten. Bald platzen Samensäcke auf. Wie winziges Schrapnell wurden neue Samen in die Luft geschossen. Ganze Fortpflanzungszyklen wurden in Minuten abgeschlossen.

Insekten kamen aus ihren eingekapselten Verstecken hervor und tanzten und paarten sich über den Tümpeln, die bald wieder verdunsten sollten. Auf dem Erdboden tummelten sich noch mehr Insekten wie Ameisen, Skorpione, Schaben, Käfer und ihre stark abgewandelten Nachfolge-Spezies. Viele Ameisen waren Pflanzenfresser, und Ultima sah, wie sie sich in Kolonnen zwischen den erblühenden Pflanzen hin- und herbewegten und Baumaterial für ihre Nester transportierten.

Und es gab unzählige kleine Echsen. Sie waren kaum zu sehen, so gut war die Tarnung der rötlichen Haut im Sand. Sie schwärmten zur Jagd aus. Bei ein paar erschöpfte die Jagd-Strategie sich darin, sich mit offenen Mäulern neben den Ameisen-Kolonnen zu postieren und darauf zu warten, dass ihnen ein paar unvorsichtige Insekten in die Falle gingen.

Eine kleine, kompakte kaktusartige Pflanze, eine stachelbewehrte Kugel mit lederartiger Haut, zog die oberen Wurzeln aus dem Boden und koppelte sich von einem tief verzweigten Wurzelsystem ab. Auf Wurzeln, die wie ungelenke Beine schwankten, wankte das Gewächs aufs noch immer fließende Wasser zu. Dort angekommen sank die Pflanze wie mit einem Seufzer in den Schlamm. Sofort lösten die Hilfs-Wurzeln, die die Fortbewegung ermöglicht hatten, sich auf, und neue Wurzeln bohrten sich in den feuchten Boden.

Überall taten die Leute sich an den plötzlich aufgetauchten Pflanzen, Reptilien, Amphibien und Insekten gütlich. Es waren hauptsächlich Erwachsene: Kinder waren selten in diesen entbehrungsreichen Zeiten. Der Baum achtete darauf.

Ultima, die noch nie zuvor ein Unwetter erlebt hatte, schaute sich das alles fassungslos an.

Eine froschartige Kreatur brach aus dem Boden. Sie hüpfte und stolperte zum nächsten schlammigen Tümpel und platschte hinein. Dann lockte sie mit einem lauten Quaken die Weibchen an, die sich ebenfalls aus der Erde stemmten. Bald war der Tümpel ein Pfuhl sich paarender Amphibien. Ultima schnappte sich einen der Frösche. Er war wie ein schleimiger Wasserbeutel. Sie steckte ihn sich in den Mund. Kurz spürte sie seine Kälte und das auf der Zunge hämmernde Herz, als sei er enttäuscht darüber, dass das jahrhundertelange Warten im Kokon aus hartem Schlamm nun ein so unrühmliches Ende nahm. Dann biss sie zu, und köstliches Wasser und salziges Blut spritzte ihr in den Mund.

Doch die Tümpel trockneten schon wieder aus, und das Wasser verdunstete auf der zusammen gebackenen Erde. Aus dem Froschlaich waren schon kleine Kaulquappen geschlüpft, und die schnell sich entwickelnden Quappen fraßen Algen, kleine Krabben und sich gegenseitig. Dann schwärmten sie im Wasser hinter ihren Eltern aus – und wurden von Armadas kleiner hungriger Eidechsen abgefangen. Doch die jungen Frösche gruben sich bereits im Schlamm ein und bauten sich mit Schleim beschichtete Kammern, in denen sie die Jahrzehnte bis zum nächsten Regen aussaßen: Die Haut würde sich verhärten, und der Stoffwechsel würde in den Ruhezustand heruntergefahren.

Die Leute entfernten sich wieder von den Brutstätten. Ein paar trugen die schweren Samen des Baums, Kapseln, die so groß waren wie ihre Köpfe. Wie für die Frösche war dieser seltsame Tag auch für den Baum die alle hundert Jahre wiederkehrende Gelegenheit, die Samen der nächsten Generation von den Armeen seiner Symbionten eingraben zu lassen.

Ultima sah, dass Kaktus eine kleine, flinke Eidechse mit einem kurzen, als Fettspeicher dienenden Schwanz jagte.

Kaktus war etwa zur gleichen Zeit wie Ultima geboren worden, und sie waren zusammen aufgewachsen und hatten durch Teilen, Wetteifern und Kämpfe die Welt kennen gelernt. Kaktus war klein und rund – ungewöhnlich für ihre Leute, die im Allgemeinen dünn und langgliedrig waren, um die Körperwärme besser abzuführen – und sie war reizbar. Insofern glich sie wirklich einem Kaktus. Kaktus war eine Art Gefährtin oder sogar eine Schwester, aber sie war nicht Ultimas Freundin. Man musste in der Lage sein, den Standpunkt eines anderen zu erkennen, um ihn als Freund einzustufen, und diese Fähigkeit hatten die Leute schon lang verloren. Sie hatten dieser Tage keine Freunde mehr – keinen Freund außer dem Baum.

Ultima wollte Kaktus folgen. Aber sie wurde abgelenkt. Plötzlich sehnte sie sich nach Salz. Das war die Botschaft des Baums an sie, die in der organischen Chemie gesteckt hatte, von der sie während des Aufenthalts im Baum gezehrt hatte. Der Baum brauchte Salz. Und es war ihre Aufgabe, welches zu finden. Sie erinnerte sich daran, dass es ein paar hundert Meter entfernt ein Salzbett gab und wurde unwiderstehlich dorthin gezogen.

Doch in dieser Richtung stand die Sphäre, diese geheimnisvolle Kugel aus Schwarz und Purpur, die lautlos über der flirrenden Landschaft hing.

Sie zögerte und wurde zwischen zwei Impulsen hin und her gerissen. Sie wusste, dass die Sphäre fehl am Platz war. Die hohe Intelligenz der Menschen hatte sich längst verflüchtigt, aber die Leute hatten sich ein profundes Verständnis des Lands, seiner Geographie und Ressourcen bewahrt: Man musste schon ein ausgeprägtes Gespür haben, wenn man Nahrung und Wasser in dieser knochentrockenen Landschaft finden wollte. Deshalb war ihr bewusst, dass die Sphäre nicht hierher gehörte. Aber in dieser Richtung war auch das Salz.

Trotz des Unbehagens ging sie los.

Das Salzvorkommen befand sich irgendwo am Fuß der Sphäre. Sie sah, dass Schlamm gegen die seltsam glänzende Oberfläche geschwappt war. Sie versuchte die Sphäre zu ignorieren und scharrte im Dreck.

Salz gab es reichlich. Als vor hundert Millionen Jahren die Kontinente sich in ihrem Reigen zu diesem neuen Pangäa vereinigt hatten, war über dem größten Teil von Nordamerika ein Binnenmeer entstanden. Schließlich war es zu ein paar verstreuten Salzseen geschrumpft. Das Meer hatte jedoch eine riesige Salzablagerung hinterlassen, eine schimmernde Ebene, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt hatte. Das Salzbett war mit Schutt bedeckt worden, der von den Resten der erodierenden Berge heruntergespült wurde und lag nun unter metertiefem rotem Sand begraben. Aber es war noch da.

Nach kurzer Zeit hatte sie ein armtiefes Loch gegraben und holte mit den Händen Erde herauf, die mit grauweißem Salz durchsetzt war. Sie kaute die Erde, bis die Salzkristalle sich im Mund aufgelöst hatten und spie den Sand aus. Als sie das Salz zwecks späterer Übertragung an den Baum im Bauch gespeichert hatte, wurde Ultima von der Zwanghaftigkeit befreit.

Und wurde sich wieder der Sphäre bewusst. Sie hatte die ursprüngliche Position verändert. Und sie schwebte nun über dem Boden; sie sah einen Fingerbreit Licht darunter.

Sie näherte sich der Sphäre auf den Hinterfüßen und Knöcheln, wobei die Augen vor Neugier trübe leuchteten. Sie hatte keine große Angst. Es gab wenig Abwechslung in ihrer Wüstenwelt. Aber auch wenig Gefahr. In einer platten Landschaft fiel es Räubern schwer, sich auch nur an das langsamste und leichtsinnigste Opfer anzuschleichen.

Mit einem Finger berührte sie zögernd die Oberfläche der Sphäre. Sie war weder warm noch kalt. Sie war glatt, glatter als alles, was sie je zuvor berührt hatte. Die Härchen auf der Hand sträubten sich, als ob sie statisch geladen wären. Und sie roch etwas, den Geruch der Wüste selbst – einen versengten, verbrannten und trockenen Geruch.

Der Geruch nach verschmortem Metall war das Resultat der Exposition gegenüber dem Vakuum: ein Vermächtnis des Weltraums.

Einer nach dem andern kehrten die Leute vom Sammeln zum Baum zurück, kletterten auf die Äste und wickelten sich in die Blätter.

Ultima zog die lederartigen Blätter um den Körper. Die Bauch-Wurzel kroch auf sie zu, suchte das Ventil im Bauch und schob sich hinein wie eine neu angeschlossene Nabelschnur. Als die salzige Flüssigkeit in den Baum strömte, wurde Ultima mit einem Gefühl der Sicherheit, des Friedens und der Rechtschaffenheit belohnt. Diese Stimmung wurde von Chemikalien im Baumsaft induziert, den sie im Gegenzug für ihr Blut erhielt, doch war es deshalb nicht weniger tröstlich. Damit wurde sie unmittelbar dafür belohnt, dass sie den Baum ernährte, und die langfristige Belohnung war das Leben selbst. Der Baum beherzigte das Prinzip von Geben und Nehmen. Menschenabkömmlinge und Baum verhielten sich nicht wie Parasiten zueinander. Sie bildeten eine echte Symbiose.

Aber etwas stimmte nicht. Ultima verspürte ein Unbehagen, ohne dass sie dieses Gefühl zu artikulieren vermocht hätte.

Obwohl der warme Saft sie mit grüner Schläfrigkeit einlullte, musste sie ständig daran denken, wie das Kind im Kokon gelegen hatte, mit dem Daumen im Mund und der vor ihm zusammengerollten Bauch-Wurzel. Etwas hatte nicht gestimmt. Jeder Instinkt sagte ihr das.

Der Saft pulsierte stärker im Bauch, und einschläfernde Chemikalien wurden ausgeschüttet. Mit dieser starken Dosis wollte der Baum sie dazu bewegen, hier in der Sicherheit des Kokons zu bleiben. Aber sie wurde das Gefühl einfach nicht los, dass etwas nicht stimmte.

Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und stemmte sich mit Schultern und Beinen gegen den Kokon. Er platzte auf, und sie fiel auf den Boden.

Sie wurde von Licht und Wärme überwältigt. Obwohl die Sonne schon tief stand, war es immer noch heller Tag. Im Innern des Kokons verstrich die Zeit in einem anderen Takt – nach einem Takt, den der Baum vorgab. Aber der Boden war hart und staubig. Außer ein paar Regenrinnen hatte es den Anschein, als ob das Unwetter nie stattgefunden hätte.

Es war niemand zu sehen. Alle Kokons waren geschlossen – alle außer einem. Kaktus schaute zu ihr herab; ihr kleiner Kopf lugte aus dem halbgeschlossenen Kokon. Die verspielt wirkende Kaktus schlüpfte zwischen den Blättern hervor und ließ sich neben Ultima auf den Boden fallen.

Ultimas Unbehagen steigerte sich.

Sie lief um den Fuß des Baums herum und stellte fest, dass der Kokon ihres Babys noch in der Astgabel war. Er war aber dicht versiegelt und ließ sich auch nicht öffnen, als sie es versuchte. Kaktus gesellte sich zu ihr, als ob das alles ein Spiel wäre. Die beiden gruben die Finger in die Nahtstellen zwischen den versiegelten Blättern und versuchten sie angestrengt grunzend aufzubrechen.

Früher wäre eine Person auf die Idee gekommen, die Kapsel mithilfe eines Werkzeugs zu öffnen. Aber das war einmal. Es gab keine Werkzeugfertigung mehr, und alle Artefakte der Menschen waren längst verrottet, außer ein paar Pithecinen-Steinäxten, die in tiefen Erdschichten begraben waren. Und Ultima und Kaktus waren mit der Lösung ungewöhnlicher Probleme überfordert, weil die Routine auf ihrer monotonen Welt kaum jemals unterbrochen wurde.

Schließlich öffnete der Kokon sich mit einem Schmatzen.

Ultimas Baby war noch immer ins weiße baumwollartige Material eingehüllt, mit dem der Kokon ausgekleidet war. Doch Ultima sah auf den ersten Blick, dass die ›Baumwolle‹ sich verdickt hatte. Sie hatte sich ums Gesicht des Babys geschlossen, und Tentakel schoben sich in Mund, Nase, Augen und Ohren.

Kaktus wich mit einem Ausdruck des Ekels zurück.

Beide wussten, was das bedeutete. Sie hatten es zuvor schon gesehen. Der Baum tötete Ultimas Baby.

Ein neues Pangäa.

Hundert Millionen Jahre, nachdem Erinnerung in ein namenloses Grab gefahren war, hatte der amerikanische Doppelkontinent sich wieder nach Osten bewegt. Während der Atlantik sich schloss, driftete Afrika nordwärts über den Äquator und drückte Eurasien infolgedessen noch weiter nach Norden. Derweil verschob Antarktika sich auch nach Norden und stieß mit Australien zusammen, worauf diese neue Formation sich ins östliche Eurasien hineinschob. So wurde der neue Superkontinent geboren. Im Innern, weit von der mäßigenden Wirkung der Meere entfernt, stellten sich extreme Bedingungen ein – höllisch heiße und trockene Sommer und mörderisch kalte Winter.

Alle Bewegungshindernisse waren abgebaut worden. Es fiel der Startschuss für alle Pflanzen und Tiere, sich in alle Richtungen auszubreiten. Das war eine Parallele zur großen globalen Vermischung, die die Menschen während ihrer ein paar tausend Jahre währenden Herrschaft über den Planeten erzwungen hatten – und wie damals war eine vereinte Welt zugleich auch eine verarmte Welt. Es war in schneller Folge zum Massensterben gekommen.

Und im Zeitablauf wurde es immer schlimmer.

Beim neuen Superkontinent setzte sofort die Alterung ein. Die tektonischen Kollisionen hatten neue Gebirge aufgefaltet, und während sie wieder erodierten, reicherte der Schutt die Ebenen mit chemischen Nährstoffen wie Phosphor an. Jedoch fanden keine neuen Gebirgsentstehungs-Ereignisse mehr statt, keine neue Auffaltungen. Die letzten Berge wurden abgetragen. In den Erdboden einsickerndes Regenwasser und Grundwasser wuschen die letzten Nährstoffe aus, und als die weg waren, entstanden keine neuen mehr.

Neuer roter Sandstein wurde gebildet: rostrot, so rot wie die leblosen Wüsten des Mars einst gewesen waren – die Signatur der Leblosigkeit, von Erosion und Wind, von Hitze und Kälte. Der Superkontinent wurde zu einer weiten roten Ebene, die sich über Tausende von Kilometern erstreckte und nur von den verwitterten Stümpfen der letzten Berge aufgelockert wurde.

Gleichzeitig wurden durch den sinkenden Meeresspiegel die flachen Kontinentalschelfe freigelegt. Während sie austrockneten, verwitterten sie auch schon und entzogen der Luft Sauerstoff. Auf dem Land starben viele Tiere den Erstickungstod. Und als in den Weltmeeren der vom Pol zum Äquator verlaufende Temperatur-Gradient abflachte, wurden auch die Meeresströmungen abgewürgt. Das Wasser stand ab.

Zu Land und zu Wasser starben die Spezies aus wie Laub, das im Herbst von den Bäumen fiel.

In einer austrocknenden Welt waren die alten Stratageme der Konkurrenz und der Antagonismus Räuber-Beute nicht mehr brauchbar. Die Welt hatte nicht mehr die Energie, komplexe Nahrungsketten und -pyramiden aufrechtzuerhalten.

Stattdessen hatte das Leben auf ältere Strategien zurückgegriffen.

Das Teilen war so alt wie das Leben selbst. Sogar die Zellen von Ultimas Körper waren das Ergebnis von Zusammenschlüssen primitiverer Formen. Die ältesten Bakterien waren einfache Lebewesen gewesen, die vom Schwefel und der Wärme der höllischen frühen Erde lebten. Für sie war das Erscheinen von Cyanobakterien – den ersten Photosynthese-Treibenden, die Kohlendioxid mit Hilfe von Sonnenlicht in Kohlenhydrate und Sauerstoff umwandelten – eine Katastrophe, denn reaktionsfreudiger Sauerstoff war für sie ein tödliches Gift.

Die Überlebenden siegten durch Kooperation. Ein Schwefel-Fresser verschmolz mit einer anderen primitiven Lebensform, einem frei lebenden Schwimmer. Später wurde ein Sauerstoff atmendes Bakterium in den Verband integriert. Die dreiteilige Entität – Schwimmer, Schwefel-Liebhaber und Sauerstoff-Atmer – erlangten die Fähigkeit der Reproduktion durch Zellteilung und vermochten Nahrungspartikel einzulagern. In einer vierten Absorption lagerten ein paar wachsende Komplexe grüne Photosynthese-Bakterien ein. Das Ergebnis waren schwimmende grüne Algen, die Vorfahren aller Pflanzenzellen.

Im Verlauf der Evolution war oft geteilt worden, sogar genetisches Material. Selbst die Menschen und ihre Abkömmlinge, bis hin zu Ultima, waren wie Kolonien aus kooperativen Wesen, von den hilfreichen Bakterien im Magen-Darm-Trakt, die Nahrung verwerteten bis zu den vor Äonen integrierten Mitochondrien, den ›Kraftwerken‹ der Zellen.

Und daran hatte sich bis jetzt auch nichts geändert. Joan Usebs Intuition hatte sie nicht getrogen: Auf die eine oder andere Art hatte die Zukunft der Menschen in der Kooperation gelegen, miteinander und mit den Lebewesen um sie herum. Doch diesen finalen Ausdruck der Kooperation hätte nicht einmal sie vorherzusehen vermocht.

Der Baum, ein entfernter Spross des Borametz aus Erinnerungs Zeit, hatte die Prinzipien der Kooperation und des Teilens quasi auf die Spitze getrieben. Nun vermochte der Baum nicht mehr ohne die Termiten und anderen Insekten zu überleben, die Nährstoffe zu den tiefen Wurzeln beförderten und auch nicht ohne die pelzigen Säugetiere mit den klaren Augen, die ihm Wasser, Nahrung und Salz brachten und seine Samen einpflanzten. Sogar die Blätter gehörten streng genommen zu einer anderen Pflanze, die auf ihm lebte und sich von seinem Saft ernährte.

Andererseits hätten die Symbionten, einschließlich der Menschenabkömmlinge, aber auch nicht ohne die Feuchtigkeit des Baums zu überleben vermocht. Die zähen Blätter schützten sie vor Räubern, vor der sengenden Hitze und sogar vor den Jahrhundert-Stürmen. Der Saft wurde über die Bauch-Wurzeln eingespeist, über die der Baum im Gegenzug Nährstoffe bezog: Babys wurden nicht gestillt, sondern in der Obhut des Baums durch diese pflanzlichen Nabelschnüre ernährt. Der aus dem tiefsten Grundwasser gewonnene Saft half ihnen auch über die schlimmsten superkontinentalen Trockenzeiten hinweg – und weil der Saft mit entsprechenden Chemikalien angereichert war, heilte er auch Wunden und Krankheiten.

Und der Baum war sogar an der menschlichen Reproduktion beteiligt.

Es gab noch immer Sex, aber nur eingeschlechtlichen Sex, weil es nur noch ein Geschlecht gab. Sex diente nur noch dem Knüpfen und der Festigung sozialer Bande und dem Vergnügen. Die Leute brauchten keinen Sex zur Vermehrung mehr, nicht einmal zum Vermischen genetischen Materials. Der Baum kümmerte sich darum. Er reicherte seinen Saft mit Körperflüssigkeiten eines ›Elters‹ an, vermischte sie und ließ sie im mächtigen Stamm zirkulieren und injizierte sie dann in jemand anders.

Die Leute gebaren aber noch. Ultima selbst hatte das Kind geboren, das nun in seiner pflanzlichen Wiege lag. Dieses Erbe, diese Bindung zwischen Mutter und Kind hatte sich als zu elementar erwiesen, um sie aufzugeben. Aber man fütterte sein Kind nicht mehr, weder an der Brust noch sonst wie. Alles, was man seinem Kind geben musste, war Zuwendung und Liebe. Man zog es nicht mehr auf. Das übernahm der Baum mit den organischen Mechanismen in den blättrigen Kokons.

Natürlich fand noch immer eine gewisse Auslese statt. Nur die Individuen, die gut mit dem Baum und miteinander zusammenarbeiteten, wurden integriert und durften zum zirkulierenden Strom von Keim-Material beitragen. Die Kranken, die Schwachen und die Behinderten wurden mit pflanzlicher Erbarmungslosigkeit ausgestoßen.

Eine so starke Annäherung der Biologien von Flora und Fauna wäre früher unwahrscheinlich erschienen. Doch im Lauf der Zeit vermochten Adaption und Selektion einen vierflossigen Lungenfisch durchaus in einen Dinosaurier zu verwandeln oder in einen Menschen, ein Pferd, einen Elefanten oder in eine Fledermaus – und sogar wieder zurück in einen Wal, eine fischartige Kreatur. Da war es eine vergleichsweise leichte Übung, Menschen und Bäume über eine schlauchartige Verbindung aneinanderzukoppeln.

In den Mythen der verschwundenen Menschheit war dieses neue Arrangement schon ansatzweise vorweggenommen worden. Die mittelalterliche Legende vom Lamm des Schafsgewächses hatte vom Borametz gehandelt, einem Baum, dessen Früchte winzige Lämmer enthielten. Die Legenden der Menschheit waren nun vergessen, aber die Sage vom Borametz, der Tier und Pflanze vereinte, fand in diesen letzten Tagen einen eigentümlichen Widerhall.

Aber auch dafür hatte man wie immer einen Preis zahlen müssen. Die komplexe Symbiose mit dem Baum hatte die Menschenabkömmlinge in eine Art Stasis versetzt. Mit der Zeit hatten die Körper von Ultimas Art sich auf die Hitze und Trockenheit spezialisiert, vereinfacht und einen höheren Wirkungsgrad entwickelt. Nachdem die entscheidende Verknüpfung erst einmal hergestellt war, hatten Baum und Leute sich so gut aneinander angepasst, dass keine Seite mehr imstande war, diese Verbindung kurzfristig zu lösen.

Seit die schlangenartigen Schnüre sich in den Bauch der Menschenabkömmlinge gesenkt hatten und seit die Leute sich erstmals in den Schutz der Borametz-Blätter geflüchtet hatten, waren zweihundert Millionen Jahre vergangen, von denen kein Chronist kündete.

Doch selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, waren die symbiotischen Bindungen noch schwach im Vergleich zu älteren Kräften.

Auf seine gemächliche pflanzliche Art war der Baum zu dem Schluss gelangt, dass die Leute sich im Moment kein Baby mehr zu leisten vermochten. Ultimas Kind wurde wieder absorbiert und seine Substanz in den Baum zurückgeführt.

Das war eine uralte Kalkukation: In schweren Zeiten zahlte es sich aus, die verwundbaren Jungen zu opfern und die ausgereiften Individuen am Leben zu erhalten, die in besseren Zeiten wieder Nachwuchs bekommen würden.

Aber das Kind war fast schon alt genug, sich selbst zu ernähren. Es fehlte nicht mehr viel, und es wäre lebensfähig gewesen. Und es war Ultimas Baby: Das erste, das sie bekommen hatte und vielleicht auch das einzige, das sie je bekommen durfte. Es war ein Widerstreit uralter Instinkte. Und das war ein Versagen der Adaption, dieser Konflikt der Instinkte.

Es war ein urzeitliches Kalkül, eine alte Geschichte, die von unzähligen Großmüttern an unzählige Generationen weitergegeben worden war. Doch für Ultima, hier am Ende der Zeit, war dieses Dilemma so schmerzlich, als ob es eben erst im Höllenfeuer geschmiedet worden wäre.

Es dauerte eine Weile, bis die Entscheidung fiel. Und am Ende war die Bindung zwischen Mutter und Kind stärker als die Bande zwischen Symbionten. Sie stieß die Hände in die baumwollartige Substanz und riss ihr Kind aus dem Kokon. Sie zog die Bauch-Wurzel heraus und die weißen Fasern aus Mund und Nase. Das Kind öffnete mit einem schmatzenden Geräusch den Mund und drehte den Kopf in alle Richtungen…

Kaktus schaute erstaunt zu. Ultima stand keuchend und mit offenem Mund da.

Was nun? Ultima stand mit dem Baby im Arm da. Sie hatte sich dem Baum widersetzt, dem sie ihr Leben verdankte, und war nun auf sich allein gestellt – ohne durch Instinkt oder Erfahrung auf diese neue Situation vorbereitet worden zu sein. Aber der Baum hatte versucht, ihr Baby zu töten. Sie hatte keine Wahl gehabt.

Sie trat einen Schritt vom Baum zurück. Dann noch einen. Und wieder einen.

Bis sie rannte, an der Stelle vorbei rannte, wo sie nach dem Salz gegraben hatte – die Sphäre war verschwunden und nur noch eine vage Erinnerung –, und sie rannte immer weiter mit dem Baby im Arm, bis sie zu den Wänden des Steinbruchs kam, die sie blitzschnell erklomm.

Sie schaute nach unten in die Grube, deren Boden mit den geduckten stummen Gestalten der Borametz-Bäume durchsetzt war. Und da kam Kaktus mit einem trotzigen Grinsen angerannt.

II

Das Land war kahl. Es gab ein paar verkrüppelte Bäume und Büsche mit steinharter Rinde und nadelspitzen Blättern, außerdem Kakteen, die so klein und hart wie Kieselsteine und mit langen, giftigen Stacheln gespickt waren. Diese Pflanzen schützten ihre Wasservorräte und hatten sich buchstäblich eingeigelt; Ultima und Kaktus würden nur im äußersten Notfall das Risiko eingehen, die Verteidigung zu durchbrechen.

Man musste aufpassen, wohin man die Füße und Hände setzte.

Es gab Löcher im roten Wüstenboden. Sie leuchteten in einem kräftigen Rot und sahen irgendwie aus wie Blumen; sie hoben sich kaum gegen den roten Erdboden ab und fielen eigentlich nur wegen der dunklen Knoten in der Mitte auf. Leichtsinnige Eidechsen und Amphibien, und hin und wieder sogar ein Säugetier liefen in diese gut getarnten Fallen – und entkamen ihnen auch nicht mehr, weil diese Löcher nämlich Münder waren.

Diese tödlichen Mäuler gehörten Kreaturen, die in engen Bauten unter der Erdoberfläche lebten. Bei den haarlosen und augenlosen Wesen mit Beinen, die zu flossenartigen Stummeln mit Grabklauen verkürzt worden waren, handelte es sich um Nagetiere. Sie gehörten zu den letzten Nachfahren der Abstammungslinien, die einst den Planeten beherrscht hatten.

Dieses offene Terrain ohne jede Deckung begünstigte keine großen Räuber, und die Überlebenden hatten neue Strategien entwickeln müssen. Diese wühlenden Ratten-Mäuler hatten die Umtriebigkeit und das Sozialverhalten ihrer Vorfahren längst verloren und fristeten ihr Dasein nun in Erdlöchern. Die von den Klima-Exzessen abgeschirmten Ratten-Mäuler hatten einen langsamen Metabolismus und sehr kleine Gehirne, und sie verließen die Bauten nur, wenn sie den Drang zur Paarung verspürten. Sie stellten kaum Ansprüche ans Leben und waren auf ihre Weise zufrieden.

So schlauen Geschöpfen wie Ultima und Kaktus fiel es aber nicht schwer, den Ratten-Mäulern auszuweichen. Seite an Seite gingen die Gefährtinnen weiter.

Sie kamen zu einer schmalen Rinne; sie war fast völlig mit Geröll verstopft, das das Regenwasser hier abgelagert hatte. Aber es floss immer noch ein Rinnsal salzigen Wassers. Ultima und Kaktus gingen in die Hocke, wobei Ultima das Baby abschirmte, und dann tauchten sie das Gesicht ins Wasser und tranken dankbar.

Ultima fand etwas Grünes in der Feuchtigkeit. Es war eine Art Blatt – länglich, dunkel und leicht gewölbt. Die Form war uralt und sogar zu primitiv, um auf die Idee zu kommen, dem Licht entgegen zu streben. Es handelte sich um den Abkömmling eines Lebermooses, das sich im Lauf der Zeit kaum verändert hatte. Es war eine fast unveränderte Kopie einer der ersten Pflanzen, die das Land kolonisiert hatten – ein Land, das sich nicht allzu sehr von diesem unwirtlichen Ort unterschieden hatte. Die Geschichte hatte sich wiederholt, und das Lebermoos hatte einen Lebensraum gefunden. Neugierig zupfte Ultima das Blatt vom Stein, an dem es haftete. Sie kaute es – es schmeckte wachsartig und klebrig –, küsste ihr Kind und fütterte es mit dem Blatt. Das Baby schlürfte es mit einem saugenden Geräusch und rollte dabei die kleinen Augen.

In der Nähe eines dieser kieselsteinartigen Kakteen erspähte Ultima einen Käfer mit einem silbernen Rücken, der versuchte, ein Dungkügelchen durch eine schmale Spalte zu schieben. Ultima spielte kurz mit dem Gedanken, sich den Käfer zu schnappen.

Als der Käfer in den Schatten des Kaktus eintauchte, schoss eine kleine rote Gestalt aus der Dunkelheit. Es war eine Eidechse, kürzer als Ultimas kleiner Finger, und der Kopf war noch kleiner als der Käfer selbst. Trotzdem schloss die Eidechse die Kiefer ums Hinterteil des sich mühenden Käfers. Ultima hörte ein leises Knirschen: Der Käfer wedelte mit den Beinen und Antennen, vermochte aber nicht loszukommen. Nach dem Energieausbruch breitete die Eidechse segelartige Lappen am Hals und an den Beinen aus. Durch die Kühlflächen wirkte die Eidechse gleich doppelt so groß wie zuvor, aber durch die rote Farbe war sie trotzdem gut im Staub Pangäas getarnt. Vor Überhitzung geschützt schickte sie sich nun an, dem Käfer die salzigen Lebenssäfte aus dem Panzer zu saugen.

Doch dieser Genuss war der Eidechse nicht vergönnt. Wie aus dem Nichts kam ein Vogel zum Schauplatz gerannt. Das Wesen hatte ein schwarzes Gefieder und darunter verborgene rudimentäre Flügel – es war flugunfähig. Ohne zu zögern und mit tödlicher Präzision stürzte der Vogel sich auf die Eidechse und öffnete einen gelben Schnabel voller winziger Zähne. Die Eidechse ließ den Käfer los, faltete die Kühlflächen zusammen und versuchte sich unter den Kaktus zu flüchten. Doch der Vogel hatte das Reptil schon an einem Bein gepackt und zog es zurück ins Licht, wobei er den kleinen Körper heftig durchschüttelte.

Der verstümmelte Käfer schleppte sich davon, nur um von Kaktus’ kleiner Pfote aufgehoben und zum Mund geführt zu werden.

Es gab viele Vögel in der Gegend; diese uralte Linie war nämlich viel zu anpassungsfähig, um nicht auch in dieser lebensfeindlichen, umgemodelten Welt einen Platz zu finden. Aber es gab dieser Tage kaum noch fliegende Vögel. Wozu sollten sie noch fliegen, wenn es kein Flugziel gab, das nicht genauso aussah wie das hier? Also hatten die Vögel den Flugbetrieb eingestellt und in der großen Einöde viele Formen ausgeprägt.

Nun schossen noch mehr Eidechsen unter dem Kaktus hervor, die durch den Angriff des Vogels aufgeschreckt worden waren. Es waren ihrer viele, und alle waren sie kleiner als das Sonnensegel, das der Vogel sich geschnappt hatte – sie waren sogar kleiner als Ultimas Fingernagel. Sie waren so winzig, dass sie die Kieselsteine und Rinnen im Boden wie Berge und Täler überwinden mussten, sah Ultima. Die aus dem Schlaf gerissenen Kreaturen huschten in alle Richtungen und suchten Deckung unter den Felsbrocken und Steinen.

Ultima schaute fasziniert zu.

In dem Maß, wie Pangäa verdorrte, waren die größeren Spezies ausgestorben. In der Wüstenei des Superkontinents gab es keinen Unterschlupf für ein Lebewesen von Ultimas Größe und schon gar nicht für eine Gazelle oder einen Löwen. Im größten Maßstab war das uralte ›Räuber und Beute‹-Spiel ausgespielt.

Doch im kleineren Maßstab fasste eine neue Ökologie Fuß. Unter Ultimas Füßen waren Ritzen im Stein und Trichter im Sand, es waren Löcher in Borametz-Bäumen und im Wurzelgeflecht. Noch in der flachsten Landschaft gab es eine Topographie, wo man sich vor Räubern zu verbergen oder in den Hinterhalt zu legen vermochte – oder auch nur sich einzugraben und vor der Welt zu verstecken, falls man klein genug war.

Wenn die Welt der kleinen Maßstäbe auch noch viele Möglichkeiten bot, so war sie aber auch eine Welt, auf der warmblütige Arten keine Zukunft hatten.

Alle Warmblütigen mussten eine hohe Körpertemperatur aufrechterhalten. Doch es gab eine Grenze, bis zu der man sich eine isolierende Behaarung und Fett zulegen konnte, ohne dass man zu einem bewegungsunfähigen Fettklops wurde. Und die Pulsfrequenz ließ sich auch nicht beliebig erhöhen. Die letzten der schrumpfenden Maulwurf-Leute waren bis zu einer Größe von einem Zentimeter geschrumpft und hatten eine Herzfrequenz wie ein hochtouriger Wankel-Motor entwickelt. Jedoch gab es unterhalb dieser Dimension immer noch genug Raum und Lebensmöglichkeiten.

Nur dass diese Nischen schon von Insekten, Reptilien und Amphibien besetzt waren. Die kleinen Kaltblütler verbargen sich vor der Hitze der Sonne und der Kälte der Nacht unter Steinen und im Schatten von Bäumen und Kakteen. Selbst in einer Handvoll Erdreich fand man heute winzige, perfekt modellierte Abkömmlinge von Fröschen, Lurchen und Schlangen – und sogar die unverwüstlichen Krokodile. Es gab winzige Lungenfische, silbrige kleine Kreaturen, die sich ans Landleben angepasst hatten, als die Binnengewässer austrockneten. Dieser größte Kontinent aller Zeiten wurde von den kleinsten Tieren aller Zeiten bewohnt.

Ohne die Unterstützung des Baums hätten so große, warmblütige Säugetiere wie Ultimas Leute nie so lang zu überleben vermocht. Sie waren wie Relikte aus früheren Zeiten und waren in dieser kargen Umwelt fehl am Platz. Als die Erde sich immer mehr erwärmte und austrocknete, schrumpften auch die Baum basierten Gemeinschaften und starben eine nach der anderen ab. Aber sie hielten noch immer die Stellung – genauso wie Ultima, das letzte Glied in einer Kette, die sich nun über hundert Millionen Generationen bis zu Purga selbst zurückerstreckte und in die noch tiefere Vergangenheit hinter ihr.

Ultima und Kaktus beobachteten die winzigen, im Schmutz krabbelnden Wesen. Dann fielen sie mit Geschrei über die Eidechsen her. Die meisten waren so klein, dass sie ihnen durch die Finger schlüpften – wenn man die Hand um sie schloss, sah man sie auf der anderen Seite gleich wieder entweichen –, und selbst wenn Ultima sich einen in den Mund zu stecken vermochte, war das eher etwas für den ›hohlen Zahn‹.

Die Eidechsen waren aber nicht nur zum Essen gut. Sie spielten. Selbst heute vermochte man noch Spaß zu haben. In der Stille von Neu-Pangäa hallten ihre Rufe und Schreie jedoch von den kahlen Felsen wider, und sie waren die einzigen Lebewesen weit und breit.

Der Sonnenuntergang kam schnell.

Durch den Regen war der Staub aus der Luft gewaschen worden. Als die Sonne den Horizont berührte, fiel Dunkelheit übers flache Land. Kleine Erhebungen, Dünen und Felsbrocken warfen meterlange Schatten. Das Licht am Himmel wechselte von Blau zu Purpur und färbte sich im Zenit schnell schwarz. Es war wie ein Sonnenuntergang auf einem luftlosen Mond.

Ultima und Kaktus nahmen das Baby in die Mitte und kuschelten sich aneinander. Jede Nacht ihres Lebens hatte Ultima in der pflanzlichen Umarmung des Baums verbracht. Nun griffen die Schatten wie Finger von Raptoren nach ihr.

Als die Temperatur sank, kam jedoch Ultimas Adaption an die Wüste zum Tragen.

Ihr Körper war noch immer warm. Tagsüber speicherte er Wärme in den Fettschichten und im Gewebe. In der Kälte der Nacht vermochte der Körper dann einen Großteil der Wärme an die Umgebung abzustrahlen. Ohne diesen Kühlungs-Trick hätte sie die Wärme durch Schwitzen abgeben müssen und hätte dadurch wiederum Wasser verbraucht, das zu vergeuden sie sich nicht leisten konnte. Kaktus und Ultima atmeten tief und langsam. So wurde bei jedem Atemzug der Sauerstoff voll ausgenutzt und der Wasserverlust minimiert. Ultimas Körper synthetisierte bereits Wasser aus den Kohlehydraten in der Nahrung, die sie gegessen hatte. Am nächsten Morgen würde sie mehr Wasser in den körpereigenen Reservoirs haben als an diesem Abend.

Trotz dieser erstaunlichen physiologischen Fähigkeiten blieb den beiden aber nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle die Nacht auszusitzen, langsam zu atmen und in eine Art Trance zu fallen, während die Körperfunktionen in den Ruhezustand heruntergefahren wurden.

Derweil entfaltete sich über ihnen ein spektakulärer Himmel.

Ultima sah die Galaxis aus einer Perspektive, die einem Logenplatz gleichkam. Die großen, mit stecknadelkopfgroßen saphirblauen Jungsternen und rubinroten Nebeln verzierten Spiralarme umspannten den Himmel wie helle Korridore. In der Mitte der Scheibe war der galaktische Kern, eine wie Eidotter anmutende Ausbuchtung aus gelb-orangen Sternen. Das Licht hatte fünfundzwanzigtausend Jahre gebraucht, um vom überfüllten Kern hierher zur Erde zu reisen.

Zu Zeiten des Menschen war die Sonne in den Körper der großen flachen Scheibe eingebettet gewesen, sodass man die Galaxis im Profil gesehen hatte; ihre flammende Glorie war von den Staubwolken verschleiert worden, von denen die Scheibe übersät war. Doch nun war die Sonne auf ihrem langsamen Orbit um den Kern aus der Ebene der Galaxis hinausgewandert. Verglichen mit den paar tausend Lampen, die den Himmel der Menschen markiert hatten, war dies wie ein Blick auf die Lichter einer ausgedehnten Stadt.

Ultima wollte schier verzagen.

Ein heller Haken erschien am Himmel. Das war natürlich der Mond, der sich in dieser Nacht als Halbmond darstellte. Das gütige Antlitz, das lang vor der Geburt des Menschen schon auf die Erde herabgeschaut hatte, war über eine halbe Milliarde Jahre praktisch unverändert geblieben. Und doch schien diese schmale Mondsichel heller über dem neuen Superkontinent als über dem wohnlicheren Land der Vergangenheit. Denn der Mond leuchtete durch reflektiertes Sonnenlicht, und die Sonne war heller geworden.

Hätte Ultima gewusst, wo sie hinschauen musste, hätte sie vielleicht am Himmel neben der Scheibe der Galaxis eine trübe Schliere ausgemacht, die in klaren Nächten gut zu sehen war. Diese ferne Schliere war die als Andromeda bekannte Galaxis mit der doppelten Größe der Milchstraße. Sie war noch immer eine Million Lichtjahre von der Milchstraße entfernt; doch in Zeiten des Menschen hatte die Entfernung das Doppelte betragen, und selbst damals war sie schon mit dem bloßen Auge zu sehen gewesen.

Andromeda und die Milchstraße steuerten auf eine Kollision zu, die in noch einmal einer halben Milliarde Jahren erfolgen würde. Die beiden großen Sternensysteme würden einander durchdringen wie sich vermischende Wolken, wobei unmittelbare Zusammenstöße zwischen Sternen eher die Ausnahme sein würden. Aber es würde eine Initialzündung für die Entstehung von Sternen erfolgen, und eine Explosion von Energie würde die Scheiben beider Galaxien mit harter Strahlung überschütten. Es würde eine bemerkenswerte, aber tödliche Lightshow stattfinden.

Doch zu diesem Zeitpunkt würde es auf der Erde nicht mehr viel geben, was von der Katastrophe noch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Denn das Auflodern der Sonne würde bereits vorher den Untergang allen Lebens auf der Erde einleiten.

Der Morgen brach so abrupt an wie immer. Eidechsen und Insekten verschwanden schnell in den Ritzen und Spalten, wo sie den Tag verschlafen würden, um auf den Abend zu warten.

Das Baby wimmerte. Sein Pelz war zu Büscheln verklebt, und die Stelle, wo die Bauch-Wurzel angeschlossen gewesen war, schien sich entzündet zu haben. Das Kind tat weiter sein Unbehagen kund, bis Ultima etwas Lebermoos vorgekaut hatte und es ihm einflößte. Kaktus war auch unleidlich und zupfte sich Schmutz und eingetrocknete Kotreste aus dem Fell.

An diesem Morgen schien es doch keine so gute Idee mehr zu sein, sich so fern der Heimat hier im Niemandsland herumzutreiben. Doch während sie das Baby hielt, wurde Ultima sich bewusst, dass sie dem Baum fernbleiben musste – entweder das, oder sie würde das Kind verlieren. Sie klammerte sich an diese eine unumstößliche Tatsache.

Ultima und Kaktus setzten die ziellose Wanderung durch die Landschaft fort und entfernten sich immer weiter vom Steinbruch. Wie tags zuvor aßen sie das, was sie gerade fanden -Wasser fanden sie allerdings nicht –, und sie gingen den Ratten-Mäulern und anderen Gefahren aus dem Weg.

Und irgendwann nachmittags, als die Sonne sich schon wieder an den Abstieg vom Himmel begeben hatte, sah Ultima plötzlich die Sphäre wieder.

Sie hatte vergessen, dass sie überhaupt existierte. Und es kam ihr auch nicht in den Sinn, sich zu fragen, wie ein so großes Gebilde von dort, vom Steinbruch wohl hierher gekommen war.

Kaktus zeigte an der Sphäre gar kein Interesse, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht essbar war. Sie ging missmutig weiter und zupfte sich rote Staubkörner aus dem Pelz.

Mit dem schlafenden Baby im Arm ging Ultima zur Sphäre mit der purpurschwarzen Hülle. Sie beschnüffelte sie und leckte diesmal auch daran. Wieder stieg dieser seltsame Ozon-Geruch ihr in die Nase. Sie verharrte irgendwie unschlüssig. Doch die Sphäre rührte sich nicht.

Plötzlich stieß Kaktus ein Geheul aus und trommelte auf den Boden. Ultima wirbelte herum und ging zugleich in die Hocke. Kaktus’ linkes Bein war irgendwie eingeklemmt, und Blut schoss aus dem Fuß – und Ultima hörte das Brechen von Knochen, als ob das Bein der armen Kaktus von einem großen Maul zermalmt würde.

Aber da war kein Maul zu sehen.

Kaktus wurde weder von Zähnen noch von Klauen malträtiert. Doch wie aus dem Nichts erschienen Schnitte in ihrer Brust und im Torso, aus denen Blut tropfte. Sie wehrte sich noch immer. Sie ließ die Fäuste fliegen und versuchte sogar zu beißen. Sie landete auch Treffer – Ultima hörte ein Klatschen, als die Fäuste auf Fleisch trafen und sah, wie die Luft über Kaktus sich stellenweise veilchenblau verfärbte. Und das Blut zeichnete die Konturen des Angreifers mit roten Spritzern nach. Ultima erkannte einen langen, zylindrischen Torso, Stummelbeine und ein großes, schnappendes Maul.

Kaktus verlor den Kampf. Ihre Beine und der Oberkörper gerieten unter die schimmernde Masse. Sie drehte sich zu Ultima um und streckte die Hand aus.

Ultima verspürte einen instinktiven Widerstreit. Es wäre vielleicht etwas anderes gewesen, wenn sie sich vorzustellen vermocht hätte, wie Kaktus sich fühlte und ihre Todesangst nachempfunden hätte. Jedoch war Ultima dazu nicht in der Lage; Empathie war mit der Menschheit verschwunden, wie so vieles andere auch.

Sie hatte zu lang gezögert.

Die schemenhafte Masse richtete sich auf und brach über Kaktus herein. Ein Blutschwall schoss ihr aus dem Mund.

Ultimas Schock verflog. Mit einem entsetzten Quieken drehte sie sich um und drückte das Kind an die Brust. Mit den Füßen und der freien Hand stob sie über den staubigen Grund. Sie rannte immer weiter, bis sie einen erodierten roten Felsvorsprung erreichte.

Sie warf sich auf den Boden und schaute zurück. Kaktus rührte sich nicht mehr. Ultima sah nichts mehr von dem riesigen transparenten Ding, das sie getötet hatte. Dafür waren wie aus dem Nichts neue Kreaturen aufgetaucht. Sie sahen aus wie Frösche mit breiten Leibern, lederartiger Amphibienhaut, mit Klauen besetzten Zehen-Füßen und großen Mäulern mit nadelspitzen Zähnen zum Reißen und Stechen. Einer hatte bereits Kaktus’ Brust geöffnet und labte sich an den noch immer warmen inneren Organen.

Der unsichtbare Räuber hatte seine Arbeit erledigt. Er lag erschöpft in einer Lache von Kaktus’ Blut. Er war sogar zu schlapp zum Fressen und ließ sich von seinen gierigen Sprösslingen füttern. Man sah, wie das Fleisch von den Zähnen zerkleinert und durch den Schlund in den Magen transportiert wurde, wo es durch Verdauungsprozesse absorbiert und umgewandelt wurde.

In einer leeren und verwitterten Welt war die fehlende Deckung fatal. In einer Landschaft so flach wie ein Bügelbrett vermochte man einfach keinen tonnenschweren Salamander zu verstecken, selbst wenn man ihm einen roten Anstrich verpasst hätte wie das Gestein. Deshalb waren die meisten großen Tiere im Wettbewerb mit ihren kleineren Verwandten unterlegen und bald verschwunden.

Doch diese Kreaturen hatten eine neuartige Strategie angewandt: die ultimative Tarnung. Die Umstellung hatte Dutzende Jahrmillionen gedauert.

Unsichtbarkeit – oder zumindest Transparenz – war eine Strategie, die in früheren Zeiten schon manche Fische angewandt hatten. Es handelte sich um einen transparenten Ersatz für die meisten körpereigenen Biochemikalien. So musste zum Beispiel ein Ersatz für Hämoglobin gefunden werden, den roten Blutfarbstoff, der den lebenswichtigen Sauerstoff durch den Körper transportierte.

Natürlich gelang es keinem Landbewohner, sich wirklich unsichtbar zu machen. Selbst in diesen trockenen Zeiten waren die Tiere im Grunde genommen Wasserbeutel. Wären sie von Wasser umgeben gewesen – wie diese lang ausgestorbenen Fische –, hätten sie allerdings einen Zustand annähernder Unsichtbarkeit zu erreichen vermocht. Das Licht bewegte sich jedoch verschieden durch Luft und Wasser; an der Luft hatten die Endzeit-›Unsichtbaren‹ Ähnlichkeit mit großen Wassersäcken, die auf dem Boden lagen.

Trotzdem funktionierte es ganz gut. Solang man sich ruhig verhielt, war man kaum wahrzunehmen – höchstens als ein dunstiger Schemen oder ein schwaches Wabern, das man leicht mit vor Hitze flimmernder Luft verwechseln konnte. Man vermochte sich an einen Felsen zu schmiegen, sodass man der Beute nur die unschärfsten Konturen darbot. Und der transparente Pelz, der an Glasfaserstränge erinnerte, spiegelte die Hintergrundfarbe wider, was zur weiteren Verwirrung der Beute beitrug.

Dennoch hatten nur wenige Spezies sich diese Strategie zu Eigen gemacht, weil Unsichtbarkeit auch ihre Nachteile hatte.

Ein unsichtbares Lebewesen war zugleich blind. Eine transparente Netzhaut vermochte kein Licht aufzufangen. Das größte Manko war aber die stark verringerte Effizienz der Biochemie solcher Lebewesen, was durch die Verwendung transparenter Substanzen bedingt war. Und es gab nicht einmal für die innersten Körperteile Schutz vorm grellen Licht, der Wärme und ultravioletten Strahlung der Sonne und vor der kosmischen Strahlung, die den Planeten trotz des schützenden Magnetfelds immer bombardiert hatte. Die Organe der Unsichtbaren waren transparent, aber auch nicht so durchlässig, um die schädliche Strahlung durchzulassen.

Kaktus’ Mörder war schon im Todeskampf, und bald würden die Krebsherde, die sich im transparenten Magen-Darm-Trakt entwickelten, ihn umbringen. Und er war neoten – er würde sterben, ohne jemals in die Pubertät eingetreten zu sein. Niemand von der unsichtbaren Art hatte so lang gelebt, um für Nachwuchs zu sorgen – freilich hätten sie wegen des Strahlungsgeschädigten Erbguts auch gar keinen lebensfähigen Nachwuchs hervorzubringen vermocht.

Diese schwächlichen, von Geburt hilflosen Kreaturen waren schon todgeweiht, ehe sie aus dem Ei schlüpften.

Aber darauf kam es nicht an; jedenfalls nicht unter dem genetischen Aspekt, denn die Familie profitierte davon.

Diese amphibische Spezies hatte einen Kompromiss geschlossen. Die meisten ihrer Jungen wurden geboren wie eh und je. Doch eins von zehn wurde unsichtbar geboren. Wie die sterilen Arbeiter in einem Stock lebten die Unsichtbaren ein kurzes, schmerzhaftes Leben und starben jung – für einen einzigen Zweck: Nahrung für ihre Geschwister zu beschaffen. Durch sie – durch ihre Nachkommen, nicht durch seine – würde das genetische Erbe des Unsichtbaren weitergegeben.

Es war eine teure Strategie. Aber es war besser, einen von zehn in jeder Generation einem kurzen, qualvollen Leben zu überantworten, als das Aussterben der ganzen Art zu riskieren.

Durch die Nahrung im Magen und die Exkremente im Darm verriet ein Unsichtbarer sich natürlich trotzdem. Wenn er Hunger hatte, ließen die Geschwister ihn also hungern, bis er alle Exkremente ausgeschieden hatte und wieder schön transparent war. Und dann schickten sie ihn unter der tödlichen Sonne wieder hinaus und hofften, dass er ihnen noch eine Mahlzeit beschaffte, eher er endgültig den Geist aufgab.

Die Sphäre hatte diese Vorgänge beobachtet.

Die Sphäre war ein lebendiges Ding und doch keins. Sie war ein Artefakt und wiederum keins. Die Sphäre hatte keinen Namen für sich selbst oder ihre Art. Und doch hatte sie ein Bewusstsein.

Sie gehörte zu einer Horde, die in einem großen Gürtel der Kolonisation, der sich um die Galaxis spannte, zwischen den Sternen ausschwärmte. Und nun war die Sphäre zu dieser zerstörten Welt gekommen, um nach Antworten zu suchen.

Die Erinnerung reichte weit zurück. Für die Art der Sphäre war Identität etwas Amorphes, das man aufspaltete, teilte und durch Komponenten und Baupläne weitergab. Die Sphäre vermochte sich über Tausende von Generationen zurückzuerinnern… und dann verlor die Spur der Erinnerung sich im Nebel der Zeit. Die sich replizierenden Horden hatten vergessen, woher sie kamen.

Auf ihre Art wollte die Sphäre es wissen. Wie war dieser Sterne umspannende Roboter-Schwarm entstanden? War er das Ergebnis eines spontanen Entstehungsprozesses, auf irgendeinem Asteroiden aus mechanischen und elektronischen Bauteilen? Oder hatte es einen Konstrukteur gegeben – jemand anders, der die Erzeuger dieser schwärmenden Massen zum Leben erweckt hatte?

Seit einer Million Jahren hatte die Sphäre die Verteilung der Replikatoren in der Galaxis studiert. Das war nicht leicht, weil die Scheibe seit der Entstehung ihrer Art schon zwei Umdrehungen vollführt hatte, wobei die Sterne die robotischen Kolonisten wie Zentrifugen über den ganzen Himmel verstreut hatten. Mathematische Modelle hatten diese Umdrehungen rückgängig machen und die Sterne wieder am ursprünglichen Ort positionieren sollen, um die halb vergessene Expansion der Replikatoren zu rekonstruieren.

Und schließlich hatte es die Sphäre in dieses System und zu dieser Welt verschlagen, die sie – unter anderem – für den Ursprung hielt. Sie hatte eine Welt mit organischer Chemie gefunden und Lebewesen, die auf ihre Art ganz interessant waren. Aber es war eine sterbende Welt, die von ihrer Sonne überhitzt wurde, und das Leben war auf die Ränder eines Wüstenkontinents beschränkt. Es gab keine Anzeichen organisierter Intelligenz.

… Und doch schien es der Sphäre, als ob das uralte Gestein des Superkontinents hier und da mit Einschnitten, Rinnen und großen Löchern markiert war. Einst hatte hier Intelligenz gewaltet – vielleicht. Wenn ja, war sie diesen räudigen, kriechenden Kreaturen aber abhanden gekommen.

Die Sphäre verkörperte eine neue Ordnung des Lebens. Und zugleich war sie wie ein Kind, das seinen unbekannten Vater suchte. Die letzten Spuren der alten Konstruktionspläne der Mars-Roboter, die von längst toten NASA-Ingenieuren in Computer-Labors in Kalifornien und Südengland konzipiert worden waren und sich seitdem ständig verändert hatten, waren verloren. Es schien angemessen, dass dieses größte und seltsamste Vermächtnis der Menschheit rein zufällig entstanden war – und dass ihre Urheber ihrem Schicksal gefolgt waren.

Es gab hier nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Mit dem Äquivalent eines Seufzens schwang die Sphäre sich zu den Sternen empor. Die kleine Welt fiel hinter ihr zurück.

Ultima kauerte sich im Schmutz zusammen, bis die Aasfresser-Geschwister das Fressen beendet hatten. Dann drückte sie ihr Baby an sich und stolperte davon, ohne das Verschwinden der Sphäre auch nur zu bemerken.

III

Ultima entfernte sich in westlicher Richtung vom Borametz-Steinbruch.

Nachts schmiegte sie sich mit ihrem Kind in Spalten im Gestein und versuchte die Geborgenheit des Kokons des Baums zu simulieren. Sie aß, was sie gerade fand – halb vertrocknete Kröten und im Schlamm vergrabene Frösche, Eidechsen, Skorpione und das Fleisch und die Wurzeln von Kakteen. Sie fütterte das Kind mit einem vorgekauten Brei aus Fleisch und Pflanzen. Aber das Kind spuckte das Zeug wieder aus. Es vermisste noch immer die Bauch-Wurzel und quengelte herum.

Ultima wanderte immer weiter.

Sie folgte keiner Strategie außer der, in Bewegung zu bleiben und ihr Kind aus den chemischen Fängen des Baums zu befreien. Alles Weitere würde sich finden. Wäre sie intellektuell dazu in der Lage gewesen, dann hätte sie vielleicht darauf gehofft, auf andere Leute zu stoßen und einen Ort zu finden, an dem sie zu bleiben vermochte – vielleicht sogar eine Gemeinschaft, die unabhängig von den Bäumen lebte.

Das wäre indes eine trügerische Hoffnung gewesen, denn es gab auf der ganzen Erde keine derartigen Gemeinschaften mehr. Sie wusste es nicht, aber sie war gestrandet.

Das Land stieg an. Ultima ging in grobkörnigem Sand und Kieseln.

Nach einem halben Tag kam sie zu einem Ort mit flachen, glatten Hügeln. Sie sah, dass diese erodierten Stümpfe sich kilometerweit nach Norden und Süden hinzogen, bis zum staubigen Horizont und darüber hinaus. Sie ging durch die Überreste einer hohen Bergkette, die beim Zusammenstoß der Kontinente aufgefaltet worden war. Doch die staubigen Winde von Neu-Pangäa hatten die Berge längst zu diesen kümmerlichen Kuppen abgeschmirgelt.

Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Spuren, begleitet von den Schleifspuren der Knöchel und den Stellen, an denen sie angehalten hatte, um zu essen, ihre Notdurft zu verrichten oder zu schlafen. Das waren die einzigen Spuren in diesen stillen Hügeln.

Zwei Tage brauchte sie für die Überquerung der Berge.

Dann fiel das Land wieder ab.

In der Ebene war die Vegetation etwas reichhaltiger, zum Beispiel stachlige Bäume mit krummen Ästen und Büscheln nadelartiger Blätter wie stachelige Pinien. Um die Wurzeln huschten ein paar Mäuse – robuste Überlebende der Nagetiere, die mit jedem Tropfen Wasser geizten – und unzählige Eidechsen und Insekten. Sie jagte winzige Wesen wie Geckos und Leguane und tat sich an ihrem Fleisch gütlich. Auf diesem lockeren Untergrund musste Ultima aber vorsichtig sein und nach Ratten-Mäulern und der glibberigen unsichtbaren Masse eines im Hinterhalt liegenden Jägers Ausschau halten.

Das Land fiel immer tiefer ab, und der Blick gen Westen weitete sich. Sie sah eine große Ebene. Hinter einer Art Küstensaum war das Land weiß, weiß wie Knochen, und es erstreckte sich wie ein Laken zu einem messerscharfen, geometrisch präzisen Horizont. Ein schwacher Wind blies ihr ins Gesicht. Er trug schon den Geruch von Salz mit sich. Nichts regte sich, so weit das Auge reichte.

Sie hatte einen Rest des austrocknenden Binnenmeers erreicht. Es gab noch immer Wasser hier draußen – es dauerte sehr lang, bis so ein Meer ausgetrocknet war –, aber der enge Wasserstreifen war so salzhaltig, dass dort kein Leben gedieh, und wurde von diesem weißen Salzsee eingerahmt, der sich bis zum Horizont erstreckte.

Ultima drückte das Baby an sich und setzte den Abstieg fort.

Sie erreichte die Ausläufer des Salzsees. Parallele Bänder markierten den früheren Küstenverlauf. Sie schöpfte ein wenig Salz, leckte daran und spie das bittere Zeug sofort wieder aus. Es gab hier auch Vegetation, die im salzigen Boden zu leben vermochte, zum Beispiel kleine gelbe Stachelbüsche, die wie die Stechpalmen, Honeysweet und Wolfsmilch aussahen, die einst in den kalifornischen Wüsten ums Überleben gekämpft hatten. Versuchsweise brach sie einen Stechpalmenzweig ab und kaute die Blätter, aber sie waren zu trocken. Frustriert warf sie den Zweig weg.

Und dann sah sie die Fußspuren.

Neugierig stellte sie ihre Füße in die flachen Abdrücke im Boden. Hier waren Zehen gewesen, dort eine Schleifspur, die vielleicht von einem aufgestützten Knöchel stammte. Die Spuren mussten schon alt sein. Der Schlamm war steinhart gebacken, und sie selbst hinterließ keine Abdrücke.

Die Spur zog sich schnurgerade über die Salzpfanne bis zum leeren Horizont. Sie folgte ihr ein paar Schritte. Aber das Salz war hart, verharscht und heiß, und als es in die kleinen Schnittwunden und Kratzer an Händen und Füßen gelangte, brannte es höllisch.

Die Spur lief nicht zurück. Wer auch immer sie gezogen hatte, war nicht wiedergekehrt. Vielleicht hatte der unbekannte Wanderer ganz Nordamerika durchquert, um zum Meer zu gelangen: Es gab schließlich keine Hindernisse mehr.

Sie wusste, dass sie der Spur nicht zu folgen vermochte, die sich in diesem toten Meer verlor.

Und es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wenn sie ihr gefolgt wäre. Dies war Neu-Pangäa. Wohin auch immer sie gegangen wäre, sie hätte nur den gleichen roten Boden und die gleiche sengende Hitze gefunden.

Sie blieb für den Rest des Tages an diesem trostlosen stillen Strand. Die untergehende Sonne schwoll an, die Scheibe flackerte, und das grelle Licht verwandelte die Salzebene in ein ausgewaschenes Rosa.

Dies war die letzte weite Reise, die ein Exemplar ihrer uralten, mobilen Abstammungslinie jemals unternahm. Und nun war die Reise zu Ende. Dieser sonnendurchglühte tote Strand war der Endpunkt. Für die Kinder der Menschheit gab es nichts mehr zu erforschen.

Als das Licht erlosch, machte sie kehrt und ging den Hang hinauf. Sie schaute nicht zurück.

In den Jahren nach Ultimas Tod drehte die Erde sich immer langsamer; der Reigen mit dem zurückweichenden Mond neigte sich dem Ende zu.

Und die Sonne loderte immer heller in ihrem vom Wasserstoff befeuerten Furor.

Die Sonne war ein Fusionsofen. Doch nun wurde der Kern der Sonne mit Helium-Asche verstopft, und die umliegenden Schichten stürzten in den Kern: Die Sonne schrumpfte. Und durch diesen Kollaps wurde die Sonne heißer. Nicht viel – alle hundert Millionen Jahre nur um etwa ein Prozent –, aber das genügte schon.

Für die meiste Zeit der Erdgeschichte hatte das Leben sich vor der stetigen Erwärmung zu schützen vermocht. Der lebende Planet hatte mittels seines ›Blutkreislaufs‹ – den Flüssen und Meeren, der Atmosphäre und der Tektonik sowie den Interaktionen von Myriaden Organismen – Schadstoffe beseitigt und Nährstoffe deponiert, wo sie gebraucht wurden. Die Temperatur wurde von Kohlendioxid geregelt, einem wichtigen Treibhausgas und dem Rohstoff für die pflanzliche Photosynthese. Dies war eine Rückkopplungs-Schleife. Je wärmer es wurde, desto mehr Kohlendioxid wurde vom verwitternden Gestein absorbiert, sodass der Treibhauseffekt reduziert und die Temperatur heruntergeregelt wurde.

Doch je heißer die Sonne wurde, desto mehr Kohlendioxid wurde im Gestein gebunden und desto weniger stand den Pflanzen zur Verfügung.

Fünfzig Millionen Jahre nach Ultimas Tod brach die Photosynthese zusammen. Die Pflanzen verwelkten: Gräser, Blumen, Bäume und Farne – alles weg. Und die Lebewesen, die von ihnen lebten, starben auch. Große Königreiche des Lebens implodierten. Erst vergingen die Säugetiere – die Nagetiere hatten bis zuletzt ausgeharrt – und dann die Reptilien. Anschließend waren die höheren Pflanzen verschwunden, gefolgt von den Pilzen und Schleimpflanzen, Geißeltierchen und Algen. Es war, als ob die Evolution in dieser Endzeit sich umgekehrt und die hart erkämpfte Vielfalt des Lebens aufgegeben hätte.

Schließlich vermochten unter einer flammenden Sonne nur noch Hitze liebende Bakterien zu überleben. Viele von ihnen stammten mit geringfügigen Änderungen von den frühsten Lebensformen ab, den primitiven Methanatmern, die existiert hatten, bevor sich giftiger Sauerstoff in der Atmosphäre breit gemacht hatte. Für sie war das wie in den guten alten Zeiten vor der Photosynthese: Die trockenen Ebenen des letzten Superkontinents wurden für kurze Zeit mit bunten Farben verziert, mit Purpur- und Rottönen, die wie Flaggen über die Felsen drapiert waren.

Doch die Hitze wurde immer unerträglicher. Das Wasser verdampfte, bis irgendwann ganze Meere in der Atmosphäre hingen. Schließlich erreichten die mächtigen Wolken die Stratosphäre, die oberste Schicht der Atmosphäre. Hier wurden die Wassermoleküle vom Ultraviolett der Sonne in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten. Der Wasserstoff verflüchtigte sich im Weltraum und verhinderte, dass sich neuerlich Wasser bildete. Es war, als ob ein Ventil geöffnet worden wäre. Das Wasser der Erde versickerte im Weltall.

Nach dem Verschwinden des Wassers wurde es so heiß, dass das Kohlendioxid aus dem Gestein ausgetrieben wurde. Unter einer Luft mit der Dichte von Wasser heizten die ausgetrockneten Meeresböden sich derart auf, dass man Blei auf ihnen zu schmelzen vermocht hätte. Das war selbst für die Hitze liebenden Bakterien zu viel. Es war das letzte Massensterben von allen.

Jedoch hatten die Bakterien im glutheißen Boden dehydrierte Sporen hinterlassen. In diesen gehärteten, fast unverwüstlichen Hüllen ritten die schlafenden Bakterien die Jahre ab.

Es gab immer noch Erschütterungen, als hin und wieder Asteroiden und Kometen auf dem sonnendurchglühten Land einschlugen – alles Ereignisse im Chicxulub-Maßstab. Nur dass sie natürlich keine Todesopfer mehr forderten. Aber der Erdboden wurde eingedellt und schleuderte beim Zurückschnellen riesige Gesteinsmengen ins All.

Ein Teil dieses Materials, und zwar von den Rändern der Einschlagzonen, war nicht beschädigt worden – und wurde deshalb unsterilisiert ins All befördert. So verließen die Bakteriensporen die Erde.

Sie drifteten unter dem sanften, aber nachhaltigen Druck des Sonnenlichts von der Erde weg und formierten sich zu einer riesigen diffusen Wolke um die Sonne. Die in den Sporen zystenartig eingeschlossenen Bakterien waren praktisch unsterblich. Und sie waren ausdauernde interplanetare Reisende. Die Bakterien hatten ihre DNA-Stränge mit kleinen Proteinen beschichtet, die die Wendelstruktur versteiften und vor chemischen Angriffen schützten. Wenn eine Spore keimte, vermochte sie zur Reparatur von DNA-Schäden spezialisierte Enzyme zu mobilisieren.

Die Sonne setzte derweil mit ihren Planeten, Kometen und der Sporen-Wolke die endlose Umkreisung des Herzens der Galaxis fort.

Schließlich driftete die Sonne in eine dichte Molekül-Wolke. Es war ein Ort, wo Sterne geboren wurden. Der Himmel war hier überfüllt und wimmelte von gleißenden jungen Sternen. Die lodernde heiße Sonne mit den Planeten-Ruinen glich einer verbitterten alten Frau, die einen Kreißsaal betrat.

Hin und wieder stieß eine der von der Sonne getriebenen Sporen jedoch auf ein interstellares Staubkorn, das mit organischen Molekülen und Wassereis angereichert war.

Die harte Strahlung naher Supernovae schlug eine Bresche in die Wolke. Eine neue Sonne wurde geboren und ein neues Planetensystem aus gasgefüllten Riesen und harten steinigen Welten. Kometen fielen auf die Oberfläche der neuen Gesteinsplaneten, so wie damals die Erde durch Einschläge befruchtet worden war.

Und in manchen dieser Kometen waren irdische Bakterien. Nur ein paar. Aber es brauchte auch nur ein paar.

Die Sonne alterte weiter. Sie blähte sich zu einer monströsen, rot glühenden Kugel auf. Die Erde tangierte die diffuse Peripherie der angeschwollenen Sonne wie eine Mücke, die einen Elefanten umschwirrte. Der sterbende Stern verbrannte alles, was er hatte. Im Endstadium loderte die Hülle aus Gas und Staub auf, die die Sonne umspannte. Das Sonnensystem wurde zu einem planetaren Nebel, einer in phantastischen Farben schillernden Sphäre, die über Lichtjahre zu sehen war.

Diese großen Zuckungen markierten den Untergang der Erde. Doch auf einem neuen Planeten eines neuen Sterns war der Nebel nur eine Lichtshow am Himmel. Was zählte, war das Hier und Jetzt, die Meere und das Land, wo neue Ökosysteme entstanden, wo die Lebewesen durch Veränderung ihrer Gestalt auf Veränderungen der Umwelt reagierten und wo Variation und Selektion blindlings immer komplexere Organismen formten.

Das Leben war immer schon ein Glücksspiel gewesen. Und nun hatte es Mittel und Wege gefunden, sogar dem ultimativen Auslöschungs-Ereignis ein Schnippchen zu schlagen. In neuen Meeren und in einem unbekannten Land hatte die Evolution wieder begonnen.

Aber es entstand keine neue Menschheit.

Die erschöpfte und staubbedeckte Ultima, deren Körper von unzähligen kleinen Kratzern, Prellungen und Einstichen übersät war, humpelte mit ihrem Kind im Arm zum Zentrum des uralten Steinbruchs.

Das Land wirkte wie platt gehämmert, und die Sonne dräute wie eine riesige glühende Faust über ihm. Auf den ersten Blick gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass auf dieser Wüsten-Welt überhaupt noch Leben existierte.

Sie näherte sich dem Baum. Sie sah die großen schwarzen Gebilde der eingekapselten Leute am Baum hängen. Er stand stumm und starr da; weder tadelte er sie wegen des ›unerlaubten Entfernens‹ noch verzieh er ihr.

Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie suchte eine Kugel aus Blättern. Vorsichtig drückte sie die Blätter auseinander und formte sie zu einer provisorischen Wiege. Dann legte sie das Baby vorsichtig hinein.

Das Baby zappelte gurgelnd. Es fühlte sich wohl hier in den Blättern und war froh, wieder zurück im Baum zu sein. Und Ultima sah, wie sich die Wurzel wieder in die Öffnung im Bauch des Kindes schob. Und weiße Tentakel wuchsen aus den Poren der weichen Blätter und strebten auf Mund, Nase, Ohren und Augen des Babys zu.

Es würde keinen Schmerz verspüren. Dieses Wissen und diesen Trost hatte der Baum Ultima immerhin gewährt. Sie strich dem Baby ein letztes Mal über die pelzige Wange. Dann schob sie ohne Bedauern die Blätter zusammen und versiegelte sie.

Sie erklomm den Baum und fand ihren eigenen behaglichen Kokon. Dann kuschelte sie sich hinein und legte ordentlich die großen lederartigen Blätter um sich herum. Hier würde sie auf bessere Zeiten warten: auf einen Tag, der wie ein Wunder kühler und feuchter war als alle anderen, auf eine Zeit, wo der Baum imstande war, Ultima aus seiner schützenden Umarmung zu entlassen und sie wieder in die Welt hinauszuschicken – und ihr vielleicht sogar den Keim für eine neue Generation in den Bauch zu pflanzen.

Aber es sollte keine Befruchtung mehr geben, keine Geburt und kein zum Tode verurteiltes Kind.

Einer nach dem andern würden die Kokons schrumpfen und die grün verpackten Bewohner würden wieder von der Masse des Borametz absorbiert werden, und am Ende würde der Borametz nach vielen tausend Jahren natürlich selbst vergehen, nachdem er bis zum bitteren Ende durchgehalten hatte. Der leuchtende molekulare Strang – der von Purga ausgehend über unzählige Generationen von Lebewesen sich erstreckt hatte, die aus primitiven Anfängen sogar den Sprung auf eine andere Welt geschafft und dann wieder tief gestürzt waren – riss nun, als die letzte von Purgas Enkeltöchtern mit einer Situation konfrontiert wurde, die sie nicht zu bewältigen vermochte.

Ultima war die letzte Mutter gewesen. Sie vermochte nicht einmal ihr eigenes Kind zu retten. Aber sie hatte ihren Seelenfrieden gefunden.

Sie strich über die Bauch-Wurzel und half ihr dabei, den Weg in ihren Bauch zu finden. Die anästhesierenden und heilenden Chemikalien beruhigten den schmerzenden Körper und schlossen die Blessuren. Und als psychotrophe pflanzliche Substanzen die lebendige Erinnerung an ihr verlorenes Baby wegspülten, wurde sie mit einem scheinbar immerwährenden grünen Frieden erfüllt.

Es war eigentlich kein schlechtes Ende für eine so lange Geschichte.

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