Michael Wireman starrte den Soldaten mit vor Aufregung verschwommenem Bück an. Seine Sinne waren aufs äußerste geschärft. Er hörte sein eigenes Blut durch die Adern rauschen. Wäre er im Dschungel gewesen, kein Feind hätte sich heimlich anschleichen können, kein Schatten hätte sich in seinem Blickbereich unbemerkt bewegt. Er hatte den Mund leicht geöffnet, um die Lungen mit genügend Sauerstoff zu versorgen, den sein jagendes Blut verlangte.
Auf dem polierten Boden machte er einen geräuschlosen Schritt nach vorn. Hier raschelte kein trockenes Laub unter seinen Füßen, hier knisterten keine Zweige.
Michael Wireman tauchte hinter dem Soldaten auf, drehte ihn mit einer Hand an der Schulter herum und schlug zu.
Der junge Mann brach zusammen und fiel mit verzerrtem Gesicht in Michael Wiremans Arme. Dieser schaute rasch nach allen Richtungen und begann dann automatisch, den Soldaten in einen Abstellraum zu schleppen.
Die Uniform war noch warm, als Michael Wireman sie anzog. Aber der ehemalige Träger dieser Uniform schien tot zu sein. Benommen stand Michael da, mit verkrampften Händen und schweißbedecktem Gesicht.
Als er sich wieder gefaßt hatte, zog er die ihm unbekannte Pistole aus der Halfter und betrachtete sie neugierig. Bislang hatte er nur die Standardwaffen der C.S.O. kennengelernt.
Es schien eine Projektilwaffe zu sein; ob mit Sprengstoff angetrieben öder mit komprimiertem Treibstoff, war nicht sofort zu erkennen. Um die Kammer des Schwerkaliber-Laufs war anscheinend ein Schieber. Dann war da eine einfache Sperrklinken-Sicherung. Er entsicherte die Waffe und versuchte, den Schieber zu bewegen. Er wollte ihn vorschieben, aber das ging nicht. Er zog ihn zurück, wobei sich der Lauf ein wenig rührte. Er zog fester, und der Schieber ließ sich gegen eine Federkraft zurückziehen. Es stellte sich heraus, daß der Lauf unter einer halbzylindrischen Muffe hing und zurückklappte, während der Schieber zurückgezogen wurde. Als er die Endstellung erreicht hatte, löste sich eine Patrone aus der Kammer und fiel zu Boden. Eine weitere Patrone wurde im Magazin hochgedrückt. Michael Wireman ließ den Schieber langsam nach vor gleiten. Durch diese übertriebene Vorsicht verklemmte sich natürlich die Patrone in der Kammer und der Schieber ging nicht zu.
Ein Schweißtropfen fiel in die offene Kammer. Michael Wireman verwischte ihn unbeholfen und zerrte am Schieber, aber der Mechanismus hatte sich verklemmt. Der Konstrukteur dieser Pistole hatte wahrscheinlich absichtlich versucht, die Waffe so zu entwerfen, daß nur ein geschulter Mann sie bedienen konnte.
Michael Wireman biß die Zähne zusammen, steckte den linken Zeigefinger in die Kammer und drückte die Patrone zurecht. In diesem Augenblick sprang der Schieber vor. Er zog ihn wieder zurück — diesmal schnell, stieß die vorher verklemmt gewesene Patrone aus und steckte die Pistole zurück in das Halfter. Den verletzten Finger steckte er in den Mund. Die ganze Pistole war blutverschmiert, und einige Tropfen sah man am Boden. Er hatte sehr darauf geachtet, die Uniform nicht fleckig zu machen, aber irgendwie mußte er den Finger nun bandagieren.
Er suchte und fand schließlich ein sauberes Tuch, riß einen Streifen davon ab, band ihn um die Fingerspitze und verknüpfte ihn so schön wie möglich. Aber es sah doch wie ein Flickwerk aus, und er hatte keine Zeit, es nochmals besser zu versuchen. Der Arzt konnte jeden Augenblick Alarm geben, eine Wachablösung könnte fällig sein und vieles dergleichen mehr.
Er schaute auf den überwältigten Soldaten. Die Freude, endlich etwas unternehmen zu können, hatte ihn bis hierher getrieben und ihn jetzt verlassen. Aber hier konnte er nicht ewig bleiben. Er öffnete die Tür, trat auf den leeren Gang hinaus, ballte die Hand mit dem verletzten Finger zur Faust, um den blutigen Verband zu verstecken, und ging auf den Aufzug zu.
Der Garagenlift war automatisch und leer. Die Bedienungsvorschrift stand nur in der feindlichen Sprache. Das hat sicherlich etwas zu bedeuten, dachte Michael Wireman, aber der Grund wurde ihm nicht sofort klar. Erst ein wenig später glaubte er herausgefunden zu haben, daß Zivilisten nicht in die Garage durften.
Vielleicht war das gar nicht so schlecht. Die Wagenschlüssel in seiner Tasche waren Beweis dafür, daß der Arzt bevorzugt behandelt wurde. Allerdings könnte es auch sein, daß Militär unten war.
O Gott! dachte Michael Wireman seufzend, ist das alles schrecklich kompliziert!
Der Aufzug hielt, die Tür öffnete sich automatisch. Vor ihm stand ein Pult und dahinter saß ein gelangweilter Korporal: ein grauhaariger, müde aussehender Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und einem fetten Doppelkinn. Er schaute auf: »Nun?«
Hinter dem Korporal erstreckte sich die Hauptgarage mit einem Fassungsraum von etwa fünfzig Fahrzeugen. Etwa die Hälfte waren Privatautos; der Rest, in einer eigenen Abteilung, bestand aus Militärwagen, leichten Lastkraftwagen und ähnlichem. Mechaniker in graugelben Overalls arbeiteten an verschiedenen Fahrzeugen.
Michael Wireman stieg aus, die Hand in der Hosentasche vergraben. »Hole Doktor Hobarts Wagen«, sagte er. »Er wünscht ihn vors Haus.« Würde ein feindlicher Soldat sich mit Angelegenheiten eines bevorzugten Erdenbürgers befassen? Michael Wireman zog die Schlüssel hervor und hielt sie dem Korporal entgegen.
Er hielt sie in der linken, blutigen Hand, Blutflecken waren an seiner Uniformhose, rund um die Tasche.
Darauf hatte er ganz vergessen, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sich auszudenken, was er sagen würde, welchen Gesichtsausdruck er aufsetzen sollte.
Wie vom Donner gerührt starrte der Soldat auf die blutige Hand. »Um Himmels willen, was ist mit Ihnen geschehen?« fragte er.
»Ich habe mich verletzt«, antwortete Michael Wireman teilnahmslos, während seine Hand langsam herunterfiel. Er schien jede Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Er taumelte beinah. Aber das Gehirn arbeitete fieberhaft.
Der Soldat hatte sich bald erholt und langte schon nach den Knöpfen, die sich am Pult befanden, während die andere Hand zur Pistole fuhr.
»Mit dieser Pistole«, sagte Michael Wireman, sie flach in der Hand haltend, den Finger jedoch nicht direkt am Abzug. »Sehen Sie, wie verschmiert sie ist?« Der Lauf war geradewegs auf den Bauch des Korporals gerichtet.
Dieser starrte wie gebannt auf die Pistole. Seine Hände verharrten bewegungslos. Michael Wireman machte nicht den Fehler, ihn vor eine eindeutige Situation zu stellen. Hätte er ihm klipp und klar erklärt, er wäre ein entsprungener Häftling, der Korporal hätte bedenkenlos Alarm gegeben, trotz der Pistole in Wiremans Hand.
»Ziemlich dumm von mir, wie?« Er hielt die Pistole noch immer auf ihn gerichtet und zwar so, daß niemand mehr gesehen hätte, als daß ein Mann dem andern etwas anbietet.
»Aber sie funktioniert wieder«, fuhr Michael Wireman fort. »Herrjeh, Korp«, sagte er dann offensichtlich geschwätzig. »Sind Sie nicht schon bald pensionsreif? Mann, wird das ein Leben! Den ganzen Tag zu Hause sitzen und Bier trinken; nichts zu tun, als die Pension zu kassieren.«
Er hatte den Korporal hypnotisiert. Fasziniert starrte ihn dieser an und wußte nicht, was er von ihm halten sollte, spürte aber trotzdem die Drohung. Natürlich konnte das auch seiner Einbildung entsprungen sein. Er wollte weder wie ein Esel dastehen, noch wollte er sterben, sollte sich sein Gefühl als richtig herausstellen.
»Sagen Sie«, meinte Wireman. »Ich war noch nie hier. Welcher dieser Wagen gehört Hobart? Möchte ihn nicht warten lassen, wissen Sie?« Die Pistole steckte er nicht zurück.
Es gelang dem Korporal nicht, seine Stirn außer Schußbereich zu bringen, und er wußte, was ihm eine falsche Bewegung eintragen würde. Er war allein und würde bald in Pension gehen. »Es ist jener dort hinten«, sagte er und deutete auf die geparkten Privatwagen.
»Welcher, Korp?«
Der Korporal gab jede Hoffnung auf. »Folgen Sie mir«, sagte er, vorsichtig aufstehend. »Ich werde Sie hinbringen.«
»Ach, Korp«, sagte Michael Wireman, »das ist aber nett von Ihnen. Ich meine, daß Sie mir einen Teil Ihrer kostbaren Zeit widmen. Sie sind sicher sehr beschäftigt. Sie werden, zum Beispiel, wohl kaum Zeit haben, mit einem dieser Mechaniker da zu sprechen, wenn wir an ihnen vorbeikommen, wie?«
Der Korporal schüttelte den Kopf.
Michael Wireman lächelte. Er studierte das Halfter des Korporals. Es hatte eine Klappe und einen Verschluß. Man konnte also ruhig sagen, daß er unbewaffnet war. Nur ein Mensch, der den Vorteil hatte, unerwartet anzugreifen, könnte die Pistole schnell genug herausziehen und auf den Feind richten. Sehr wenige der auf der Erde stationierten feindlichen Soldaten waren genügend kampferprobt, um eine solche rasche Bewegung ausführen zu können.
Eine Saite vibrierte irgendwo in Michael Wiremans Gehirn. Die starke Anspannung hatte sie zum Klingen gebracht: Sie würden ihn hinrichten, wenn sie ihn zu fassen bekämen.
Er fühlte sich wie ein Mörder. Vor der Tat hatte alles so korrekt ausgesehen: Hier steht der Feind zwischen dir und der Sicherheit. Scharf ihn aus dem Weg. Aber jetzt war es vollbracht, und Michael Wireman würde lange brauchen, um darüber hinwegzukommen.
Er mochte die Fremden. Diejenigen, mit denen er persönlich zu tun gehabt hatte, waren ihm lieber als Franz Hammil. Hätte man ihm nicht als Kind eingetrichtert, diese Fremden seien rohe Vandalen, vielleicht wären sie ihm jetzt unsympathischer. Hätte man nicht, vor dem Krieg, auf der Erde Ähnliches über sie propagiert, vielleicht hätte man die Besatzung nicht so ohne weiteres hingenommen.
Die einfache, natürliche Tatsache war, daß die Fremden sich als intelligent und freundlich herausstellten; der Kontrast mit den blutrünstigen Monstren der Kriegspropaganda war zu groß.
Hätte man der Bevölkerung, und damit Michael Wireman, beigebracht, daß auch freundliche Menschen die Freiheit rauben können, und daß Freiheit wichtiger sei als Sicherheit, vielleicht wäre alles anders gekommen.
Was Michael Wireman jetzt noch weitertrieb, war der Drang, vor der Gefahr zu fliehen: ein Drang, den jeder Übeltäter verspürt. In diesem Augenblick hatte er keine Ideale und politischen Ziele. Er lief und zermarterte sein Gehirn nach einem Ausweg um den andern — nicht um seiner Überzeugung willen, sondern um sein Leben zu retten.
Der Korporal war beim Wagen des Arztes stehengeblieben. »Hier«, sagte er.
Michael Wireman nickte. »In Ordnung, öffnen Sie die Tür.« Sie standen nun inmitten von Wagen, und die Möglichkeit, daß jemand etwas Verdächtiges bemerken könnte, war sehr gering.
Der Korporal gehorchte und trat dann auf einen Wink mit der Pistole zurück, während Michael Wireman in den Wagen schaute und die Steuerung zu ergründen suchte. Sie schien einfach zu sein. Michael Wireman nickte wieder. »Gut«, sagte er, »drehen Sie sich um.«
Der Korporal wußte, was kommen würde. Er drehte sich um und begann zu laufen. Michael Wireman mußte vier rasche, große große Sprünge machen, bevor er ihn erreichen und mit dem Pistolengriff betäuben konnte.
Das Geräusch ihrer eilenden Schritte war deutlich vernehmbar gewesen. Michael Wireman duckte sich mit einsatzbereiter Pistole. Dann lachte er schallend: »Passen Sie auf! Stolpern Sie nicht wieder über Ihre großen, ungeschickten Füße.«
Hatte einer der Mechaniker den Lärm gehört, so ging er daraufhin wieder beruhigt an seine Arbeit zurück. Michael Wireman stieg in den Wagen des Arztes und drehte den Zündschlüssel. Durch die Windschutzscheibe sah er einen gelangweilten Soldaten vor dem Pult des Korporals stehen. Wahrscheinlich brauchte er eine Erlaubnis, in die Garage gehen zu dürfen. Dann drückte er auf den Anlasser.
Während er der Rampe zufuhr, die zur Straße hinaufführte, kam der Alarm. Ein Mißklang von Glocken erfüllte die Garage und vermutlich das ganze Gebäude. Vielleicht hatte Hobart ihn jetzt ausgelöst.
Michael Wireman trat blindlings aufs Gaspedal und verdrehte das Lenkrad zu stark, als er auf die Rampe fuhr. Der Wagen raste die Wand entlang mit quietschenden Reifen und splitterndem Lack. Michael Wireman prallte mit dem Kopf gegen einen Pfosten, fiel dann wieder aufs Lenkrad, umklammerte dieses verzweifelt mit verwundetem Schädel und zerschundener Brust, bis er den Wagen endlich wieder unter Kontrolle hatte. Die ganze linke Seite war eingedrückt, die vordere Stoßstange schnitt unerbittlich in die Reifen. So arbeitete sich der Wagen der Straße zu.
Erschüttert, verwirrt und blutend kämpfte er sich mit dem Wagen durch ein offenstehendes Tor. Rufe ertönten hinter ihm, aber niemand schoß. Natürlich, die Mechaniker hatten ja keine Waffen, und der Soldat, der geduldig vor dem Pult des Korporals wartete, war auch unbewaffnet, außer er war im Dienst.
Der Wagen mühte sich die Straße hinunter, einen Chromstreifen nachschleifend. Michael Wireman konnte ihn nicht beschleunigen, obwohl er das Gaspedal ganz durchdrückte. Als er bei der nächsten Kreuzung bei dichtem Verkehr einbog, befreite sich der vordere linke Reifen einen Augenblick lang und der Wagen schoß jäh vorwärts, wobei es ihm den Kopf zurückwarf. Als er dann den Wagen geradeaus lenkte, wurde der Reifen wieder erfaßt. Bebend verlangsamte der Wagen seine Geschwindigkeit auf etwa vierzig Kilometer pro Stunde und schleuderte Michael Wireman wieder nach vorn. Das Lenkrad war aus Weichplastik, brach ihm aber dennoch das Nasenbein.
Jetzt hörte er den ersten Schuß, abgefeuert vom Verkehrspolizisten auf der Kreuzung, der die Lage instinktiv erfaßt hatte. Der Schuß war in die Luft abgegeben worden, eine Warnung also, aber Michael Wireman konnte das ja nicht wissen. Mit verkrampften Gesichtsausdruck, vor sich rote Punkte sehend, fuhr er in ein enges Gäßchen. Nicht einmal diesen Fremden war es gelungen, Philadelphia vollkommen neu aufzubauen. Zwischen den kahlen Mauern durchfahrend, öffnete er die Tür auf der rechten Seite, mit seiner beinah hilflosen linken Hand steuernd, den linken Fuß am Gaspedal, rutschte er hinüber und suchte verzweifelt nach einem Spalt zwischen den Gebäuden — nach irgendeinem Fluchtweg.
Er sah ihn, den Spalt zwischen einem alten Haus und der grünbemalten Bretterwand um den Baugrund eines neuen. Er sprang aus dem fahrenden Wagen, der anschließend eine Gebäudewand streifte und dann irgendwo anprallte. Damit hoffte er, seine Verfolger um eine, vielleicht sogar um zwei oder drei Minuten aufhalten zu können.
Er rollte über den schmalen Gehsteig, bis er sich am Pfosten einer Parkverbotstafel eine Rippe brach. Atemringend zwang er sich hoch und taumelte in den willkommenen Spalt.
Er hielt sich aufrecht, indem er sich ständig mit der rechten Hand an den Brettern stützte. So brachte er sich mühsam weiter und hoffte, nochmals irgendwo hineinschlüpfen zu können. Nie hatte er geglaubt, mit dem Wagen aus der Stadt zu kommen. Nie hatte er erwartet, damit weiter als ein paar Häuserblocks fahren zu können, aber er hatte gehofft, er würde genügend Zeit haben, seine weitere Flucht zu planen.
Jetzt brauchte er schnellstens Unterschlupf — nicht nur für kurze Zeit, sondern für Tage. Jetzt war er wieder nahe daran aufzugeben.
Der Schutz bot sich ihm von selbst an. Er kam zu einem düsteren, winzigen abfallüberladenen Hof. Einige Stufen führten hinauf zu einer teilweise offenstehenden Tür. Darüber stand in matten Lettern:
»Mrs. Lemmon’s Teashop. Konditorei.«
Auf den schmutzigen Holzstufen, einen Teller Milch für die hungrige Katze abstellend, stand eine ältliche Frau und riß die Augen auf. Sie starrte auf diese Erscheinung, die von einem anderen Universum kommen mußte, und wußte nicht, wie sie reagieren sollte.
»Du lieber Himmel!« rief sie aus. »Was ist? Was geht da vor?«
Michael Wireman sah keine andere Möglichkeit, als ihr die Wahrheit zu sagen. Würde er sich als feindlicher Soldat ausgeben, so hätte sie ihn nach wenigen Minuten durchschaut.
»Ich bin ein freier Erdenbürger«, keuchte er. »Aus dem feindlichen Hauptquartier entflohen!«
»Freier Erdenbürger! Ein Rebell!«Ihre Züge drückten Verachtung aus. »Schauen Sie, daß Sie weiterkommen, fort von hier!«
Aber irgend jemand kam bereits hinter ihm her. Michael Wireman konnte das Klappern von Schuhsohlen hören. Im nächsten Augenblick mußte er um die Ecke biegen.
Michael Wireman wollte nach seiner Pistole langen, wurde aber plötzlich schwindelig, konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, den verwundeten Kopf zurückgeworfen, die wäßrigen Augen hoffnungslos auf die Frau gerichtet.
»O Gott! Sie sind ja verletzt!« schrie sie. »Was hat man Ihnen angetan?«
Michael Wiremans Wangen waren über und über blutig. Hautstellen waren nur dort zu sehen, wo Tränen Furchen hineingewaschen hatten. »Feind — Feind —« keuchte er. »Verhörten mich — Folterten … Schlugen mich … Brach aus …«
»Sie armer Junge!« rief die Frau aus. »Diese Brut! Hier — Schnell! Gehen Sie hinein. Verstecken Sie sich im Keller.« Sie zog ihn hinauf, so gut sie konnte, und schob ihn zur Tür. Michael Wireman stolperte dankbar hinein.
Mrs. Lemmon beugte sich aufmerksam über den Teller Milch, zwang sich, nicht auf das aufgeregte Pochen ihres Herzens zu achten. Lockend begann sie die erschrockene Katze zu rufen: »Mutz, Mutz, da komm her! Mutz, Mutz …« Sie seufzte tief auf vor Erleichterung — sie glaubte, das tun zu müssen —, als das Tier hinter der Kiste hervorkam, wo es Schutz gesucht hatte. Der anfängliche Schock war bereits von einer rosigen Vorstellung abgelöst worden. Genauso erging es ihren Heldinnen in den Unterhaltungsromanen.
Sicherlich, diese gewährten hübschen, jungen feindlichen Offizieren Unterschlupf, die von centaurischen Agenten verfolgt wurden. Aber sie war so ausgehungert nach einem Erlebnis, das auch nur die geringste Ähnlichkeit mit diesen Erzählungen hatte, daß sie jetzt aus Angst, eine solche Gelegenheit könnte nie wiederkommen, vollkommen bereit war, das Umgekehrte zu tun. Den Jungen verraten zu haben, hätte ihr einen ruhmvollen Augenblick eingetragen, das ist wahr. Ihn zu beschützen, bedeutete jedoch, ein Verschwörer zu sein, tagelang, ja vielleicht wochenlang! Der Gedanke daran, welche Vergeltung nach diesen Wochen kommen würde, beeinflußte ihre augenblicklichen Entschlüsse überhaupt nicht.
Mrs. Lemmon stand noch immer vorgebeugt, zur leckenden Katze sprechend, als der feindliche Soldat mit schußbereitem Gewehr in den Hof stürmte.
Er gehörte dem MP-Überfallkommando an und war genau nach Plan von einem der verschiedenen strategischen Punkte der Stadt ausgesandt worden. Es ist wahr, seit Jahren schon war nichts vorgefallen, aber dieses Kommando bestand aus zähen, stets streng disziplinierten Veteranen, die nur sehr wenig mit den Erdenbewohnern verkehrten. Dieser Mann war typisch hart, typisch entschlossen. Er wußte, daß es seine Aufgabe war, ohne Rücksicht auf eigene Verluste den Verbrecher aufzuspüren. Mit einem Sprung war er mitten im Hof, duckte sich, hob das Gewehr, bereit auf den ersten Menschen zu feuern, der sich bewegte.
Die Katze jaulte auf und lief wieder weg. Entrüstet richtete sich die Frau auf, wodurch sie beinah das Feuer auf sich gezogen hätte. Michael Wireman, in derselben Situation, hätte wahrscheinlich schießen müssen.
Der Soldat warf einen prüfenden Blick in die Runde. Hätte er irgendeinen Grund gehabt anzunehmen, daß sich der Gesuchte hier versteckthielt, oder wäre das im ersten oder zweiten Jahr der Besatzung passiert, so hätte er genauer nachgesehen. Aber jetzt tat er es nicht. »Fast hätte ich Sie erschossen, wissen Sie das?« brummte er zur harmlosen Frau und lief weiter.
Mit nassen, zusammengekniffenen Augen schaute Mrs. Lemmon ihm nach. Es schien ihr, als hätte sie es bereits immer gewußt, daß diese Fremden schlecht waren.