6

Da war ein kleiner Waschraum — ein schmutziger, rostfleckiger, unangenehm riechender Platz — vor dem unordentlichen Keller. Michael Wireman ging zum Waschbecken und wischte und zog mit zusammengepreßten Lippen die klebrige Kruste von den Wangen und der Stirn. Wie er nun sah, war die Stirnwunde so groß, daß sie wohl oder übel genäht werden mußte. Um die Augen hatte er enorme, blutunterlaufene Quetschungen erlitten. Das gebrochene Nasenbein schmerzte.

Er starrte sich im stellenweise blinden Spiegel an. Mein Gott, dachte er, was habe ich mir da angetan? Weshalb?

Gäbe es Gerechtigkeit auf dieser Welt, dachte er, so dürfte ich jetzt nicht hier in relativer Sicherheit sein. Die Frau hätte mich nicht einlassen dürfen, der Garagen-Korporal hätte in der Lage sein müssen, mich gefangenzunehmen, und, was am wichtigsten ist, der junge feindliche Wachsoldat hätte nicht sterben dürfen.

Welch unvorstellbare Regeln herrschten in einem Universum, in dem ein Mann mit gutem Willen und edlen Vorsätzen zum Mörder werden konnte? Wer hatte entschieden, daß Michael Wiremans Flucht das Leben eines anderen Menschen wert war?

Es schien Michael Wireman nur zu gerecht, daß er durch beinahe untragbare Qualen gestraft werden sollte. Gierig war er auf den Korridor gestürzt, wie ein Räuber, und das kam ihm jetzt so niederträchtig vor, so selbstsüchtig, daß er es mit einer vernünftigen Welt nicht in Einklang bringen konnte.

Was hatte ihn dazu berechtigt, ein intelligentes menschliches Wesen zu überfallen? Er hatte ihm Leben und Schicksal geraubt. Und wofür? Damit Michael Wireman noch eine Weile frei herumlaufen konnte? Wer war Michael Wireman, daß er diese Art von Preis verdiente? Und diese Art der Verdammnis?

Beklommenen Herzens durchsuchte er die dürftigen Erste-Hilfe-Vorräte im Schrank. Er wußte, daß die Fremden in Kürze ihre Bemühungen um seine sofortige Gefangennahme einstellen und folgern würden, daß er Unterschlupf gefunden hatte. Sie würden mit der langsamen, systematischen Suche anfangen, die ihn unweigerlich früher oder später zutage bringen mußte, wenn er so nahe dem Hauptquartier blieb, von wo aus die Suche starten würde.

Was nun? schrie es in seinen Gedanken. Wo machte ich den ersten Fehler in dieser Kette schrecklicher Irrtümer?

Ein weniger leidenschaftlicher, stabilerer Mensch als Michael Wireman hätte es nach und nach herausbekommen. Einem weniger analytischen Menschen wäre es gleichgültig gewesen. Beinahe jeder Mensch, außer Michael Wireman, wäre zu irgendeiner Lösung gelangt, oder hätte geglaubt, keine zu brauchen. Aber alle diese Menschen wären nie in die Lage gekommen, in der Michael Wireman sich jetzt befand.

Dort unten im Waschraum war Michael Wireman nahe daran, sich zu ergeben. Er hätte es tun können, und die Welt hätte nichts davon erfahren. Es gab sicher Tausende von Menschen, die im Lauf der Weltgeschichte auf solche Augenblicke gestoßen waren und sie größtenteils mit lebenslanger Passivität bezahlt hatten.

Automatisch begann er sich zu verarzten. Er stopfte Watte in die Nasenlöcher und verband den verletzten Finger. Dann bepinselte er die Ränder der blutenden Stirnwunde mit Jod und klebte rasch ein Heftpflaster darüber. Es war das beste, was er tun konnte, aber das Pflaster löste sich immer wieder. Wiederholt trocknete er die Haut ab und legte den Verband so schnell wie möglich an, so daß es ihm schließlich doch gelang, etwas Haltbares zustandezubringen. Es schaute sehr laienhaft aus, aber jetzt konnte er wenigstens sein Gesicht reinigen. Unversorgt war nur noch die zerbrochene Rippe. Er zog gerade das fleckige Uniformhemd aus, als er schüchternes Klopfen an der Tür hörte.

»Ja?« Seine näselnde Stimme überraschte ihn.

»Sind Sie es, da drinnen?« fragte die Frau durch die Tür. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Was sollte er mit der Frau machen? Wie lange konnte man sich auf sie verlassen?

»Kann ich Ihnen helfen?«

Hilfe? Daran hatte er gar nicht gedacht. Er fühlte sich noch immer vollkommen allein. »Ach ja, haben Sie bitte irgendwo eine Rolle Heftpflaster?«

»Eine Schachtel mit Bandagen steht im Arzneien-Schrank«, schlug sie vor.

»Die taugen leider nicht.« Er öffnete die Waschraumtür, und sie trat hastig zurück. »Ich glaube, ich habe eine gebrochene Rippe.«

»Oh! O Gott!«

Ihre theatralischen Reaktionen kamen ihm verdächtig vor. Was würde sie unternehmen? Ihn einige Zeit hierbehalten und dann gegen eine Belohnung ausliefern?

Ihre Augen leuchteten auf. »Ich werde in die Drogerie gehen und welches kaufen! Sie ist gar nicht weit weg.«

»Nein!« kam es automatisch und heftig aus ihm heraus. »Sie werden —« Er unterbrach sich. »Haben Sie ein Isolierband?«

»O ja! Das ist nämlich ein sehr altes Gebäude. Sie werden es bald abreißen. Die Rohre sind ständig undicht. Ich hole es.«

»Danke.« In diesem Augenblick wollte er sie auf keinen Fall daran erinnern, daß sie sich in einer gesetzeswidrigen Lage befand. Man würde natürlich die Drogerien nach Käufern von Verbandzeug befragen; sicherlich hatten sie Blutspuren im Autowrack gefunden.

Die Frau ging schnell fort, noch ehe er sich im klaren war, ob er sie überhaupt aus seinem Blickfeld lassen durfte.

Sobald sie gegangen war, fühlte er sich wieder allein. In diesem muffigen, kleinen Raum, in dem man ihn ohne weiteres hätte niederschießen können, wurde ihm bewußt, daß sein Leben von einer Frau abhing, die vollkommen unzuverlässig war und die außerhalb seiner Kontrolle stand.

Der Gedanke erschreckte ihn nicht. Er war nur entrüstet: über den Zustand der Welt, in der ein Leben Laune und Hysterie preisgegeben war, in der Lügen Leben retten und Wahrheiten Leben zerstören konnten.

Die Frau klopfte wieder zaghaft an der Tür. »Ich — ich habe es gefunden. Sind Sie noch da?«

»Ja.« Er öffnete die Tür und nahm das Band. »Würden Sie mir bitte helfen?« Er hob die Arme und sie begann schüchtern, das Band fest um seine bläuliche Brust zu wickeln, während er sich langsam drehte.

Da es wichtig für ihn war, diese Person so gut wie möglich zu kennen, studierte er sorgfältig ihr Gesicht. Er sah einen zu symmetrischen Rougefleck auf jeder Wange, den Lippenstift auf den welken Lippen, Puder über der trockenen, runzeligen Haut. Ihr Haar war bläulich getönt worden, und das überraschte ihn. Aber nachdem alles andere an ihr sorgfältig konventionell aussah, nahm er an, daß dies wahrscheinlich bei den Frauen auf der Erde üblich war.

Sie waren ja jetzt abhängig voneinander. Aber er war besser ausgerüstet, vor der feindlichen Gerechtigkeit zu fliehen als sie. Deshalb fühlte er sich für sie verantwortlich.

Während dieser ganzen Zeit hatte er sich ständig langsam gedreht und sie betrachtet, wenn er ihr zugewandt stand. Nie hatte er bemerkt, daß sie ihn angeschaut hätte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt seinen Quetschungen: sie tat übertrieben schreckerfüllt, wie in einem billigen Drama. Er überlegte, ob in einem Winkel ihrer Gedanken nicht die Vorstellung einer versteckten Kamera nistete, die jede ihrer Bewegungen aufnehmen könnte. Diese theatralischen Manieren verbargen fast zur Gänze die tatsächlich empfundene Übelkeit. Aber sicher tat sie das alles unbewußt.

Das Band war aus. Er blieb stehen und preßte das letzte Ende nieder. Er spannte die Brust, um den Sitz des Isolierbandes zu prüfen. Seine Augen starrten noch immer auf die Frau, mit den Gedanken war er aber schon ganz woanders.

Waren seine Schlußfolgerungen richtig, so wurde dieses Universum nicht logisch regiert. Wenn er »logisch« zu sich sagte, so meinte er damit den Triumph des Rechtes über das Unrecht, die Belohnung von Treue und guten Taten, die Existenz wahrer Gerechtigkeit irgendwo in der Maschinerie des Universums. Einer Gerechtigkeit, die allen das gab, was sie verdienten.

Er überlegte, wieso jene intelligenten, reifen Menschen die Vorstellung in ihm wach werden ließen, daß Erfolg ein vorbereiteter Lohn war und daß Gerechtigkeit den Zahnrädern irgendeines metaphysischen Verkaufsautomaten gleichkam, der, gespeist mit dem richtigen Betrag von Mut, Treue und Güte, die verdiente Belohnung auswerfen würde.

Es fiel ihm nicht ein, daß ein geschlagenes Volk an die Wiederherstellung vergangener Herrlichkeiten glaubte, wenn schon nicht für sich selbst, so doch für seine Kinder. Die Menschheit wird nie »genug« schreien, sondern auf die große Gegenrevolution von morgen warten, die sie schon hinter dem Horizont sieht, und die kommen muß, so sicher wie das Morgengrauen.

Michael Wireman überlegte das alles ganz genau, als er viel älter war, aber in diesem Keller hatte er nicht die Zeit dazu. Er fühlte, welch große Veränderungen in ihm vorgingen. Aber wie ein Mensch, dem sich unerwartet ein großartiges Feuerwerk darbietet, war er so gefangengenommen von den aufsteigenden Raketen und zischenden Geräuschen, daß er nicht nachdachte, wie man wohl das Sprengpulver hergestellt hatte. Er konnte sich auch nicht lange genug losreißen, um die Entstehung der Zündschnur zu verfolgen, die in dunklen Jahren gewunden wurde.

Er erinnerte sich dort unten im Keller lediglich an seine Mutter, die ihm Geschichten aus Märchenbüchern vorgelesen und ihm über die gute alte Zeit auf der Erde erzählt hatte.

Das alles brachte ihn so durcheinander, daß er ein finsteres Gesicht machte, als wäre er schrecklich zornig.

»Oh!« sagte Mrs. Lemmon erschrocken. »Sie sind nicht so jung wie ich dachte.« Verwirrt stammelte sie: »Ich meine, ich dachte, Sie wären ein Knabe …«

Das verdutzte ihn. Wie die meisten Menschen hatte auch er eine Vorstellung von sich, die mit seiner tatsächlichen Erscheinung nur beiläufig übereinstimmte, die aber sehr viel zur Einschätzung der eigenen Persönlichkeit beitrug.

Er erinnerte sich, zum Beispiel, an alle Gesichter, als hätte er zu ihnen aufgeschaut, obwohl er tatsächlich größer als vier Fünftel der Leute war, mit denen er zusammenkam. Ähnlich verhielt es sich mit seinem Gesicht, das er als Karikatur sah: mit großen runden Ohren und dem spitzen Kinn, während Nase, Augen und Mund im Hintergrund verschwanden. Ohne diese beiden eindrucksvollen Merkmale hätte er sich wahrscheinlich schon lange einen Bart, eine charakteristische Pfeife oder irgendeine andere Etikette zugelegt — nicht als Handelsmarke für andere, sondern als Erkennungsmerkmal für sich selbst.

Sich nun sagen lassen zu müssen von dieser Frau …

»Verzeihen Sie, wie heißen Sie nur?« fragte er.

»Nun — nun, Mrs. Evelyn Lemmon.«

»Danke.« Sich nun von dieser Frau, Mrs. Lemmon, sagen lassen zu müssen, daß sie an seinen Ohren und an seinem Kinn gesehen hatte, daß er nicht der Knabe war, für den sie ihn gehalten hatte, war ein Schock. Außer, sein Gesicht wies mehr als nur das auf?

Was hatte sie gesehen? Vielleicht war es die verärgerte, finstere Miene gewesen. Und war das ein Ausdruck, den Kinder ihrer Meinung nach nicht haben konnten? Sogar die jüngsten Kinder schauen finster und werden zornig. Aber vielleicht nicht ganz genau so?

Nun gut. Das klang vernünftig. Also war ein erwachsener Mensch zum Unterschied vom jugendlichen Jemand, der herausgefunden hatte, daß aus irgendeinem Grund alles, was man ihm als Kind über die Welt erzählt hatte, ein Pack Lügen war. Und dieser spezielle Zorn, zusammengesetzt aus Entrüstung und Enttäuschung, gehärtet durch die demütigende Erinnerung an all die dummen, auf diesen Lügen aufgebauten Taten: war es der, der sich in die Gesichter erwachsener Menschen eingegraben hatte und ihnen einen Ausdruck verlieh, Reife genannt? War dieser Zorn die unausgesprochene Losung für alle, die die unwahre Welt der Kindheit verließen?

Mrs. Lemmon hatte ihn die ganze Zeit über angeschaut, während der er sie ignorierte. Sie wurde immer unsicherer und auch ungeduldig. »Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«

»Wie? Ach so — nein, noch nicht, nein«, sagte er geistesabwesend. Er hatte keinen Plan. Er war beschäftigt.

Für einen anders veranlagten Menschen wäre dieses Thema nun zu Ende gewesen. Er hätte vielleicht gefühlt, daß da nichts anderes zu machen war, als sich in dieser Welt, wie sie auch sein mochte, niederzulassen und das Beste daraus zu machen. Oder er wäre zur Erkenntnis gekommen, daß irgendwo eine böse Macht existiert, die die Welt vom guten Weg abgebracht hatte. Dann hätte er ausziehen können, um so viel wie möglich dieses Bösen zu zerstören oder sich dagegen zu wappnen.

Jeder, der sich so weit vorgetastet hatte, konnte sehen, wie falsch und ungerecht diese Welt war, und hätte angenommen, ein wenig besser als seine Mitmenschen zu sein. Denn offensichtlich wäre die Welt nicht so, hätten sie dasselbe auch gesehen.

Nur ein Mensch wie Michael Wireman kam nicht zu diesem Schluß, denn er hatte keinen Grund zu glauben, er wäre besser als seine Mitmenschen. Da gab es eine Menge gegenteiliger Beweise. Hatte er es gesehen, so sicherlich auch beinahe jeder andere.

Daraus konnte er also nur schließen, daß sie zu spät erkannt hatten, auf welch erbärmlicher Grundlage ihre Reife ruhte. Sie hatten sich in der jahrelangen Gewohnheit selbst gefangen, in ihren engen, eingezäunten Leben, aus denen es kein Entrinnen gab. Denn das Leben war schon zu weit fortgeschritten, die Gelegenheiten waren dahin, noch ehe man sie wahrgenommen hatte, man befand sich zu lange schon auf dem falschen Weg.

Sie konnten daher nur bangen, daß in den Kindern so viel Hoffnung, so hoher Idealismus stecke, daß weder Sorgen noch Schicksalsschläge sie brechen würden.

Michael Wireman atmete tief auf. Er war auf seine Weise dem Übel auf die Spur gekommen. Überrascht und auch erfreut stellte er fest, daß es ihm gelungen war, eine Kette aus durchwegs logischen Gliedern zusammenzustellen.

Von Kompliziertheit war er zu Klarheit gekommen.

Nun, dachte er, jeder ist genauso wie ich!

Er lächelte Mrs. Lemmon warm an und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mrs. Lemmon. Ich heiße Michael Wireman. Sieht aus, als müßten wir uns jetzt gegenseitig helfen.«


* * *

»Wireman …«, sagte sie nachdenklich. Dann fuhr sie mit den Handrücken zum Mund. »Oh!«

Offensichtlich hatte sie den Namen erkannt. Sie hatte keine Ahnung, daß er tatsächlich mit jenem Wireman verwandt war, den sie vor fünfundzwanzig Jahren gewählt hatte. Aber in diesem wahren Abenteuer, das sie da erlebte, konnte es keinesfalls ein Zufall sein, denn nach den Regeln ihrer Romane mußte eine Verwandtschaft bestehen.

Michael Wireman konnte ihre Gedanken natürlich nicht lesen. Er sah lediglich, daß er erkannt worden war, daß sie schwankte und nicht wußte, was sie tun sollte. Er mußte sie ablenken. Gut wäre ja zu wissen, was draußen vorging. Aber wie sollte er Mrs. Lemmon an sich binden, damit sie nicht sofort zum Feind lief, sobald sie aus seinen Augen war?

»Ach, würden Sie bitte mal hinaufgehen und schauen, ob keine Blutspuren zu Ihrer Tür führen?« meinte er.

Er hatte jetzt nicht mehr Recht als vor seinen Überlegungen, frei herumzulaufen, aber wenn die Welt voller Menschen war, die ebenfalls Dinge getan hatten, die sie bereuten, und die trotzdem weiterlebten, dann war er noch nicht bereit aufzugeben.

Mrs. Lemmon errötete schuldbewußt, verärgert über ihre momentane Unentschlossenheit. »Natürlich«, sagte sie mit entschuldigendem Blick auf seine Bandagen. »Ich bin bald zurück.« Sie eilte die Kellertreppe hinauf.

Michael Wireman beobachtete sie und machte sich gar keine Sorgen mehr um ihre Rückkehr. Er wußte, sie würde zurückkommen. Eigentlich war ihm alles gelungen, was er vorgehabt hatte. Obwohl er nicht genau verstand, wieso es so einfach gehen konnte, war doch dankbar, daß es möglich gewesen war. Offensichtlich gab er ihr etwas, wonach sie hungerte, was einen wesentlichen, leeren Teil ihres Lebens ausfüllte.

Es stimmte ihn traurig, daran zu denken, daß jedes menschliche Wesen so unzufrieden mit allem sein könnte, daß sogar ein Mann in Michael Wiremans Lage willkommen war. Er wäre aber kein Mensch gewesen, hätte er sich zur gleichen Zeit nicht gefreut.

Aber was nun? Wohin konnte er gehen, und wenn er ging, was sollte aus Mrs. Lemmon werden?

Sachte schlüpfte er wieder ins Hemd. Er mußte nachdenken und einen für beide Teile zufriedenstellenden Plan formulieren. Aber welche Mittel hatte er?

Und wohin sollte er gehen? Welche Möglichkeiten gab es noch?

Er hob kaum den Kopf, als Mrs. Lemmon zurückkam.

»Alles in Ordnung«, sagte sie atemlos. »War nichts zu sehen.«

»Danke«, sagte er. »Was machen die Fremden?«

»Sehen konnte ich nichts«, sagte sie, »aber ich hörte Pfiffe und Menschen die Straßen entlanglaufen. Und eine ganze Anzahl Streifenwagen fuhr mit Sirenengeheul vorbei.«

Er horchte. »Ja, das kann ich hören«, bestätigte er und bemerkte überrascht, daß sie sofort verärgert dreinschaute, als hätte er ihr einen Verweis gegeben, seine kostbare Zeit nicht mit ohnedies vernehmbaren Vorgängen zu beanspruchen. Aber so deutlich vernehmbar war das nun auch wieder nicht. Das Geräusch war hier unten so schwach zu hören, daß es einem anderweitig beschäftigten Menschen ohne weiteres entgehen konnte.

Er konnte sie doch nicht ständig mit langen Erklärungen beruhigen. So viel Zeit hatte er nicht. Sie schien ihre Haltung jedoch bald zu bereuen. Offensichtlich sah sie immer nachher ihre eigenen Unzulänglichkeiten ein, sowohl die tatsächlichen als auch die eingebildeten. Wie sehr sie mir doch ähnlich ist! dachte er.

Was vorhin Theorie gewesen war über die Menschen der Welt im allgemeinen, sah er nun praktisch angewandt am Individuum.

Er verstand Mrs. Lemmon jetzt besser. Wenn er sie jeweils so behandelte, wie er sich selbst behandelt hätte, und so viel von ihr erwartete wie von sich selbst, so würden sie wahrscheinlich gut miteinander auskommen.

»Ich weiß nicht, was all dieser Lärm bedeutet«, sagte sie vorfühlend.

»Sie werden Kontrollpunkte errichten, glaube ich«, antwortete er zerstreut, die verschiedenen Möglichkeiten erwägend. »Zuerst werden sie die Straßen absperren und dann jeden Häuserblock umstellen, so daß sie in Ruhe suchen können, ohne befürchten zu müssen, daß der Gesuchte hinter ihren Rücken hinausschlüpft.«

Das war alles nur Theorie für ihn, und er konnte vollkommen unberührt darüber sprechen. In diesem Augenblick entsprach er ganz Mrs. Lemmons Romanhelden: die entspannte Nachdenklichkeit, das abstrakte Theoretisieren, die Beherrschung militärischer Prinzipien.

Sein zur Schau getragenes Wissen war nicht echter als das eines Berufsschauspielers, der aus einem Manuskript liest. Und was ein Kontrollpunkt wirklich war, wußte er genauso wenig wie Mrs. Lemmon.

Echt waren nur er und Mrs. Lemmon, die mit ihm hier in der Patsche aß.

Michael Wireman schaute sie an und sah, daß sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, so geblendet, daß es jetzt gar nichts mehr ausmachte, wie er aussah oder welche Gewohnheiten er hatte.

Es war erfreulich, sogar erheiternd, das Objekt so großer Hochachtung zu sein, und wieder eine Enthüllung. Aber er hatte seine Kapazität erschöpft, alles bis ins Detail zu analysieren. Er war müde, verletzt und hatte Angst. Daß sie so viel von ihm erwartete, bedeutete eine weitere Bürde für ihn.

Er mußte von hier herauskommen, bevor sich das Netz um ihn zusammenzog. Und wollte er Mrs. Lemmon vor jeder Strafe bewahren, so blieb nur eins übrig: sie mitzunehmen.

Soweit war alles klar. Er mußte Philadelphia verlassen und Mrs. Lemmon in seinen Plänen berücksichtigen. Er fragte sie nicht, ob sie bereit war, mit ihm zu kommen. Es war so das Beste für sie.

Hätte er Zeit gehabt zu erforschen, warum sie sogar willig ihren Laden verlassen, ihren Platz in der Gemeinschaft, all die Bindungen des gewohnten Lebens aufgeben wollte, so wäre er draufgekommen, daß sie schon lange Witwe war und vom mageren Einkommen lebte, das sich aus einer Rente und den Erträgnissen des Geschäftes zusammensetzte; daß sie schon jahrelang von der Angst verfolgt wurde, noch nicht gestorben zu sein, wenn der unvermeidliche Wiederaufbau Philadelphias ihr Laden und Haus nehmen würde, in dem sie dreißig Jahre lang gewohnt hatte. Ihr Alptraum war, dann weiterleben zu müssen, ohne die vertrauten Dinge um sich, in irgendeinem Haus, das sie Heim nennen würde. Mit der Ablösung für den Laden würde sie natürlich versuchen, den Rest ihres Lebens auf die Art der Siebzigjährigen zu verbringen: bei Spaziergängen, Kartenspielen, in Florida, während sie viel lieber alles beim alten hätte.

Deshalb wollte sie von vorn anfangen, wenn schon nicht von dem Anfang, so doch von irgendeinem Anfang. Sie wollte von selbst gehen und nicht hinausgeworfen werden, sie wollte selbst handeln und nicht von anderen dazu genötigt werden — so gut sie es eben vermochte.

Einmal sagte sie zu Michael Wireman: »Ich habe gewußt, daß es wirklich Menschen wie Sie gibt, und deshalb diese zurechtgemachten Romane über Menschen wie Sie gelesen.« Erst viel später erkannte er den Sinn dieser scheuen Erklärung.

Michael Wireman hatte jetzt keine Zeit mehr nachzudenken, da er handeln mußte. Er konnte sich nicht länger den Luxus leisten, darauf zu warten, daß ihm andere Freiheit oder Tod brachten.


* * *

»Aber wie sollen wir entkommen?« fragte Mrs. Lemmon zitternd.

»Ich weiß …« Beinahe hätte er gesagt: »Ich weiß nicht.« Aber das hätte ihr Vertrauen in ihn erschüttert, was für beide nicht gut gewesen wäre.

Und ist das der einzige Grund? dachte er. Bin ich nicht vielleicht eitel darauf, ihr Führer zu sein?

Das erinnerte ihn an Franz Hammil und war etwas zum Nachdenken, nicht jetzt, aber später, zum Nachdenken und Prüfen. Am Anfang gäbe es bestimmt eine Menge Zweifel, die zu beseitigen er jedes gesprochene Wort und jede Tat auf ihren Gehalt an Egoismus würde untersuchen müssen. Vorläufig jedoch sagte er zu sich: »Glaube nicht, daß es unmöglich sein wird.«

Aber wie sollte er mit ihr fliehen, und wie einen Plan zurechtlegen, ohne ihr zu zeigen, daß Ideen nicht wie Blitze in seinem Gehirn aufzuckten, wie sie es von ihm erwartete?

Das brachte ihn auf einen neuen und originellen Trick. »Betrachten wir einmal die Situation«, sagte er mit freundlicher Pedanterie, als nähme er sich absichtlich Zeit, sie zu unterrichten. Dankbar sah er, wie sie entzückt nickte.

»Nun denn, nachdem wir damit rechnen können, daß die Fremden in diesen Belangen gründlich erfahren sind, bedeutet ›Flucht‹ buchstäblich das Verlassen der Nachbarschaft und der Stadt. Um das tun zu können brauchen wir ein Transportmittel.«

»Mein Lieferwagen!« rief Mrs. Lemmon erfreut. »Einige meiner Kunden wohnen weiter weg. Der Junge fährt die Route jeden Morgen und stellt den Wagen dann vor dem Geschäft ab, während er zu Mittag ißt. Der Wagen ist jetzt da.«

Michael Wireman nickte. »Sehr gut. Nun, was hält uns davon ab, einfach hinaufzugehen und wegzufahren? Die Kontrollpunkte.«

Ganz klar. »Wonach halten die Soldaten dort Ausschau? Nach einem schwerverletzten Mann, der wahrscheinlich noch die gestohlene Uniform trägt.« Andere Kleider wären zwar auch kein Paß, aber die Uniform wäre das Todesurteil. Michael Wireman schaute um sich. Welche Kleidungsstücke gab es in einer Konditorei?

»Haben Sie Angestellte?« fragte er.

»Zwei Mädchen.«

»Und einen Fahrer?«

»Nein.«

»Koch?«

»Den Konditor …«

»Stellen Sie die Arbeitskleidung?«

»Ja.«

»Ich brauche eine.«

»Oh, aber sie wäre Ihnen viel zu groß!«

Wie ließe sich das ändern? Einnähen würde nicht viel helfen — und dann wäre sie auch ganz sauber und sähe gar nicht gebraucht aus. Ins Vertrauen konnte er den Mann nicht ziehen, denn zu viele Eingeweihte könnten schaden. Zu viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei.

Aber er brauchte andere Kleider; da mußte die frische Arbeitskleidung des Konditors eben auch recht sein.

»Wir werden sehen«, sagte er in einem Ton, als wüßte er es bereits, übersah jedoch nicht den leisen Zweifel in Mrs. Lemmons Gesicht. »Nun — der kritische Punkt wird meine körperliche Verfassung sein, richtig?«

Sie nickte, während er überlegte, wie es weitergehen sollte. Er konnte doch nicht die Nase verdecken, oder den Rest seines Gesichts.

»Nun, mein körperlicher Zustand, was wissen sie darüber? Sie …« Und hier, vielleicht, kam ihm der einzige blitzartige Einfall während des ganzen Gedankengangs. »Sie wissen, daß meine Verletzungen einige Stunden alt sind. Neue Unglücksfälle werden sie daher nicht überprüfen.« Michael Wireman war ehrlich überrascht, wie viel durch einfaches Zerlegen einer Situation gewonnen werden konnte.

»Folgendes wird passieren: Sie, Mrs. Lemmon, werden auf die Straße laufen und um Hilfe rufen. In Ihrer Backstube wird es vorher angemessenen Lärm und Rauch geben, Ihr Ofen wird danach aussehen, als wäre er explodiert. Soldaten vom nächsten Kontrollpunkt werden kommen, oder, was wahrscheinlicher ist, ein Polizist. Bewußtlos in der Küche liegend, werden sie mich finden, in der größtenteils verbrannten Kleidung des Konditors. Den echten Konditor werden sie nicht zu sehen bekommen — der wird hier unten sein. Nötigenfalls mit einem Knebel im Mund. Und sie werden weder Feuer noch ernsthaften Schaden vorfinden, so daß sie also keinen Grund haben werden, das Zimmer auszuräumen und nach weiteren Gefahrenmomenten zu untersuchen. Aber mir wird die Ofentür ausgerechnet ins Gesicht und auf die Brust gefallen sein, und sie werden mich ins Spital bringen müssen.

Nun …« Bis jetzt war alles recht gut gegangen. Plötzlich jedoch mußte er aufhören, um einige Informationen einzuholen.

»Geben die Fremden Identitätskarten an die allgemeine Bevölkerung aus oder nur an ihre Verwaltungsangestellten? Etwas mit einer Personenbeschreibung, einer Fotografie, Fingerabdrücken und Amtssiegel?«

»Früher — früher war es üblich. Aber seit der letzten Ausgabe sind schon Jahre vergangen. Viele haben diese Karten bereits verloren und keinen Ersatz dafür erhalten. Auch neue werden nicht mehr ausgestellt.«

»Gut. Dann werde ich also die Brieftasche des Konditors bei mir haben, in der kein I-Ausweis sein wird, sondern nur die Sozialversicherungskarte und seine anderen nützlichen Papiere.

Man wird einen Rettungswagen rufen. Fahren Sie hinterher, damit Sie im Spital alles arrangieren und die nötigen Formulare unterschreiben können. Passen Sie auf, daß nur Sie mit den maßgebenden Leuten sprechen, die mit der Ambulanz kommen, und daß keiner Ihrer Angestellten den Mann genau sehen kann, den die Sanitäter aus der Küche tragen. Auf dem Weg zum Krankenhaus kaufen Sie mir bitte Zivilkleider, die Sie in eine Tasche stecken und mir aufs Zimmer bringen lassen. Veranlassen Sie, daß ich ein Privatzimmer bekomme.«

Plötzlich lächelte er, denn er wurde sich bewußt, daß er sie mit seinen rasch aufeinanderfolgenden Anordnungen förmlich überschüttete. »Glauben Sie, daß Sie das alles schaffen werden? Gut!

Nun. Sobald sie meine Knochen in Ordnung gebracht und mir die Wunde genäht haben, werde ich um meine Entlassung bitten. Ich möchte einen ganz korrekten Entlassungsschein vom Krankenhaus. Sie könnten Verdacht schöpfen, würde ich einfach verschwinden. Ich sehe keinen Grund, warum sie mir Vollnarkose geben sollten, und so müßte ich bald fertig sein.

Sollte ich aber über Nacht dort bleiben, würde das die Angelegenheit komplizieren — natürlich nicht, wenn Ihr echter Konditor nicht herauskommt. Glauben Sie, daß Sie ihn hier unten so lange einsperren können? Jedes Mittel ist recht, solange es hilft.«

»Ja — ich — natürlich. Sicherlich.«

»Gut. Warten Sie vor dem Spital noch eine halbe Stunde, nachdem man Ihnen gesagt hat, daß meine Verletzungen versorgt sind. Warten Sie auf der linken Seite des Gebäudes. Parken Sie auf der ersten Straße links. Sehen Sie mich nicht, so fahren Sie hierher zurück. Vergewissern Sie sich, daß der Konditor noch im Keller ist und kommen Sie dann morgens wieder zum Krankenhaus. Versuchen Sie nicht, mich telefonisch zu erreichen. Warten Sie einfach und machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde kommen.« Er erachtete es für unnötig, einen Alternativ-Plan für sich zurechtzulegen, für den Fall, daß im Krankenhaus nicht alles glatt ginge.

»Bin ich bis etwa neun Uhr dreißig noch nicht draußen, steigen Sie in den Wagen und fahren in die Berge. Die Freiheitskämpfer werden Ihnen nicht sehr zusagen, aber in etwa zwei Wochen werden andere Leute kommen, die Sie recht zivilisiert finden werden.«

Das C.S.O.-Bündnis mit Hammil. Michael Wireman verzog den Mund. Welche Welt würde Hammil aus der Erde machen?

Es würde einige planlose Kämpfe geben. Newsted und Ladislas würden Hammil in Aktion bringen, aber sie könnten nicht mehr aus ihm herausholen, als da war. Der Feind wußte, was er zu erwarten hatte. Zwei Kämpfe, vielleicht, und Hammil wäre geschlagen, die Freiheitskämpfer wären wieder einmal zerstreut, und die C.S.O. würde abziehen.

Welche Welt würde Hammil aus der Erde machen?

Eine gefestigte feindliche Welt, mit starken Besatzungstruppen und laufenden Kontrollen der Loyalität des Volkes. Und was würde aus Mrs. Lemmon werden?

»Aber — aber wohin werden wir fahren, wenn alles in Ordnung geht?« fragte Mrs. Lemmon.

»Wohin?« Nun ja — wohin, und was tun? »Nun«, sagte er seufzend, »ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit als die Berge, nicht wahr?«

In Gedanken versunken wandte er seinen Blick von Mrs. Lemmon ab. Er erinnerte sich, daß er erst heute morgen Hobart vorgeschwärmt hatte, wie leicht es wäre, Hammil zu stürzen. War es wirklich so einfach? Die ganze Welt? Zu planen, zur rechten Zeit am rechten Platz zu stehen, richtig zu handeln und alles würde in Ordnung kommen? Warum dann die ganze Aufregung?


* * *

Morgens kam er aus dem Krankenhaus, in der Hand die leere Tasche, bekleidet mit dem schlechtsitzenden Arbeitsanzug, den Mrs. Lemmon gekauft hatte. Er schlenderte die Straße hinunter, bis er zum Lieferwagen kam. Sie saß drinnen, nervös an den Lippen kauend und übernächtig aussehend.

Hinter einer Maske fachmännisch angelegten Verbandes lächelte er sie an. »Nun, fahren wir, Tante Evelyn«, sagte er fröhlich. »Auf zu meiner Kusine Francis nach Stroudsburg, wo ich mich vom Unfall erholen werde.«

Es war ein wunderbarer Morgen. Der Sonnenschein und seine gute Laune würden sich bald auf sie auswirken. Offensichtlich war alles sehr anstrengend für sie gewesen und sie brauchte jede nur mögliche Unterstützung von seiner Seite. »Soll ich fahren? Dieser Wagen hat keine Servo-Steuerung, nicht wahr?« Er setzte sich hinters Lenkrad und studierte sorgfältig die Instrumente, bevor er startete.

»Der Konditor wartet unten im Keller bis Mittag«, sagte sie mit müder aber stolzer Stimme. »Dann wird er sich von seinen Fesseln befreien — ich lockerte ihm die Knoten — und mich als Verräterin anzeigen. Er bat mich, Ihnen auszurichten, Sie mögen sich seiner erinnern, wenn Sie nach Philadelphia zurückkommen.«

»Das haben Sie ausgezeichnet gemacht«, sagte er dankbar. Er war überrascht und erfreut, daß sie alles so sauber erledigt hatte; abgesehen davon, daß sie die Zeit zu knapp bemessen hatte. Er hätte sich sonst Sorgen um den Konditor gemacht, der da gefesselt und geknebelt weiß Gott wann entdeckt worden wäre.

»Aber was erzählten sie ihm denn, um Himmels willen, daß er so zu uns hält? Schließlich fiel ich ja rücklings über ihn her, versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf, und er wachte erst wieder zum Bündel verschnürt dort unten im Keller auf …«

»Ich klärte ihn über Sie auf«, sagte Mrs. Lemmon einfach. »Daß Sie in die Berge fahren und dort alles organisieren, daß Sie dann zurückkommen und die Fremden hinauswerfen würden. Das werden Sie doch tun, nicht wahr? Verdienen die Fremden das nicht, nach alledem, was sie Ihnen angetan haben?«

Michael Wireman blinzelte. Es fiel ihm nicht ein, daß für Mrs. Lemmon die Fäden der Handlung ganz selbstverständlich von A nach B liefen, daß Ungerechtigkeit immer bestraft würde. Und angenommen er tat, was er nun tun mußte, könnte es sich je als falsch herausstellen? Hatte sich ihre Erfahrung als Abenteuerroman-Verehrerin nicht bereits als lohnend erwiesen?

»Etwas Ähnliches«, sagte er, die breite Straße hinunterfahrend, die später in den Highway münden würde, der in die Berge führte. Erstaunlich, wie viel sie sich zusammengereimt hatte, aus der bloßen Begegnung mit ihm und den wenigen Worten, die er ihr gesagt hatte. Und wie nahe der Wahrheit sie gekommen war!

»Ich wußte es!« rief Mrs. Lemmon aus, so stolz auf sich selbst wie auf ihn. »Von dem Augenblick an, da ich Sie sah. Ich sagte zu mir: ‚Das ist ein starker Mann. Der weiß, was er tut!’«

Das war so offenkundig lächerlich, daß Michael Wireman sich vor Verlegenheit krümmte. Er dachte nach, wie er ihr diese Illusion rauben könnte. Freiwillig alles zum Scheitern bringen, nur um ihr die Augen zu öffnen? Da blieb lediglich die Möglichkeit, ihr sein Leben des langen und breiten zu erklären, wie er es sah. Vielleicht konnte er auch einen einfachen Mechanismus ersinnen, irgendeine Phrase oder Geste, die eine Illusion zerstören würde, noch ehe sie sich ausgebreitet hatte.

Da er jedoch noch nicht soweit war, saß er einfach sinnend da, verärgert über sie, weil sie nicht fähig war, ihn zu durchschauen, während er sich so gut kannte.

Es ist wirklich so einfach, dachte er. Alle, die in dieser Welt leben, wissen, daß man sich mit ihr abfinden muß, um überhaupt existieren zu können, aber sie lieben sie nicht. Kommt jedoch einer, der sich zur rechten Zeit am rechten Platz befindet, um die Welt zu ändern, um ihnen allen Besseres zu bieten — nichts Perfektes, natürlich, aber Besseres — dann liegt es an jenem, das zu tun.

So einfach war das. Ein Glied reihte sich an das andere.

Michael Wireman fuhr und fuhr …

Niemand hätte ihn jetzt aufhalten können, denn er war dabei, die Gelegenheit zu ergreifen, die Welt zu ändern.

Niemand hätte ihm jetzt Angst einjagen können, denn er hatte ergründet, was er wirklich war, und es gesehen; er hatte die Welt ergründet, und sie verstanden.

Als er älter geworden war und ihm noch viele Dinge anders vorkamen, fragte er sich, ob er sich und die Welt wirklich verstanden hätte, oder ob es nur Überzeugung gewesen wäre. Aber seine Art, die Dinge zu betrachten, hatte sich ja als erfolgreich herausgestellt.

Und so schloß er lächelnd und achselzuckend, daß es jetzt ohnedies zu spät für eine Änderung sei, wie immer die Wahrheit auch aussehen mochte.

Загрузка...