Entsteht aber ein Schaden draus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.
MOSES, 5. BUCH, 21, 23/24/25
I.
Am Hafen stand eine Reihe silberblauer Busse zum Empfang der Kinder bereit. Die offizielle Begrüßung war bald vorbei. Die Kinder wurden in die Busse verladen, und die Kolonne verließ, eskortiert von britischen Panzerfahrzeugen, eilig das Hafengelände. Karen schob ihr Fenster hoch und rief Kitty etwas zu, doch Kitty konnte in dem Lärm nichts verstehen. Die Busse fuhren davon, und die Menge verlief sich. Nach fünfzehn Minuten lag der Hafen, bis auf einige Hafenarbeiter und ein paar britische Posten, leer und ausgestorben da.
Kitty stand an der Reling der Exodus, bewegungslos und wie gelähmt durch die Fremdheit der Welt, in der sie plötzlich allein war. Sie konnte kaum begreifen, wo sie eigentlich war. Sie richtete ihren Blick auf Haifa. Es war schön, wie alle Städte, die rings um eine Bucht auf der Anhöhe liegen. In der Nähe des Hafens befand sich das arabische Viertel, ein Gewirr dicht zusammengedrängter Gebäude. Die jüdischen Häuser lagen über den langen Hang des Karmelberges verstreut. Links, unmittelbar außerhalb der Stadt, sah Kitty den Umriß der riesigen Raffinerie, die Endstation der Rohrleitungen, die das Öl von den Bohrfeldern bei Mossul heranbrachten. Auf dem Dock einer Werft in der Nähe sah sie ein Dutzend baufälliger, überalterter Schiffe der Aliyah Bet, denen es wie der Exodus gelungen war, Palästina zu erreichen.
Kitty wurde durch Seew, David und Joab aus ihren Gedanken gerissen; sie kamen, um sich zu verabschieden. Sie bedankten sich bei ihr und gaben der Hoffnung Ausdruck, sie wiederzusehen. Dann war Kitty allein.
»Eine hübsche Stadt, nicht wahr?«
Kitty drehte sich um. Hinter ihr stand Ari ben Kanaan. »Wir richten es immer so ein«, sagte er, »daß die Leute, die als Gäste Palästina besuchen, in Haifa ankommen. Dadurch bekommen sie gleich einen guten Eindruck.«
»Wohin kommen die Kinder?« fragte Kitty.
»Sie werden auf ein halbes Dutzend verschiedener Jugend-Aliyah-Lager verteilt. Einige dieser Lager befinden sich in Kibbuzim. Andere Jugendzentren haben ihr eigenes Dorf. Ich werde Ihnen in ein paar Tagen sagen können, in welchem Lager Karen ist.«
»Danke.«
»Und was sind Ihre eigenen Pläne, Kitty?«
Sie lachte halb ironisch und halb verlegen. »Das habe ich mich gerade eben auch gefragt, und außerdem noch alles mögliche andere. Ich bin fremd hier, Mr. Ben Kanaan; im Augenblick komme ich mir ein bißchen komisch vor und weiß gar nicht, wieso ich eigentlich hier bin. Aber keine Sorge, ich habe schließlich ein ordentliches Handwerk gelernt. Gute Kinderpflegerinnen werden überall gebraucht. Ich finde schon irgendwo eine Stelle.«
»Wollen Sie mir erlauben, Ihnen behilflich zu sein?«
»Sie werden vermutlich sehr viel zu tun haben. Ich komme schon allein zurecht.«
»Also, jetzt hören Sie mal zu. Ich glaube, die Jugend-Aliyah wäre genau das Richtige für Sie. Die Leiterin ist eine gute Freundin von mir. Ich werde es in die Wege leiten, daß Sie sich in Jerusalem einmal mit ihr unterhalten können.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen.«
»Unsinn, das ist schließlich das mindeste. Falls es Ihnen möglich sein sollte, meine Gesellschaft ein paar Tage zu ertragen, wird es mir ein Vergnügen sein, Sie mit dem Wagen nach Jerusalem zu fahren. Ich muß zunächst nach Tel Aviv, wo ich dienstlich etwas zu erledigen habe; doch das macht nichts. Ich kann bei der Gelegenheit die Verabredung für Sie treffen.«
»Ich möchte nicht, daß Sie sich dazu verpflichtet fühlen.« »Ich tue es, weil ich es gern möchte«, sagte Ari.
Kitty hätte gern einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Es machte sie wirklich nervös, allein in einem fremden Land zu sein. Sie lächelte und dankte ihm.
»Also gut«, sagte Ari. »Wir werden heute nacht in Haifa bleiben müssen — wegen der Sperrstunde. Packen Sie einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten für die nächsten paar Tage. Wenn Sie zuviel bei sich haben, werden die Engländer alle fünf Minuten Ihre Koffer kontrollieren. Ihre übrigen Sachen werde ich beim Zoll plombieren und verwahren lassen.«
Nachdem beim Zoll alles erledigt war, besorgte Ari ein Taxi und fuhr mit Kitty in den jüdischen Teil von Haifa, der sich an den Hängen des Karmelberges hinaufzog. Nicht weit vom Gipfel hielten sie bei einer kleinen Pension, die in einem Pinienhain lag. Ari meinte:
»Es ist besser, hier oben zu wohnen. Ich kenne allzu viele Leute, und ich hätte keinen Augenblick Ruhe, wenn wir im Zentrum der Stadt geblieben wären. Und jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus. Ich fahre in die Stadt hinunter und versuche, einen Wagen zu organisieren. Bis zum Abendessen bin ich wieder da.«
Am Abend ging Ari mit Kitty in ein Restaurant, das auf dem Gipfel des Karmelberges lag und von dem aus man einen Blick auf die gesamte Umgebung hatte. Die Aussicht war atemberaubend. Der ganze Hang war mit Bäumen bewachsen, unter denen halb verborgen Villen und Wohnhäuser lagen. Die meisten waren aus bräunlichem Gestein und sehr modern gebaut. Die riesige Ölraffinerie war von hier oben aus nur ein kleiner Farbfleck, und als es dunkel wurde, zog sich eine goldene Kette von Lampen die Kurven der Straße entlang, die vom Hadar Ha-Karmel zum Arabischen Viertel in der Nähe des Hafens hinunterführte.
Kitty fand es sehr aufregend und sehr angenehm, daß Ari ihr gegenüber plötzlich so aufmerksam war. Sie war erstaunt, wie modern der jüdische Teil von Haifa war. Diese Stadt war viel moderner als Athen oder Saloniki! Und sie fühlte sich auch gar nicht mehr so fremd, als der Kellner und ein halbes Dutzend Leute, die Ari kannten und für einen Augenblick bei ihrem Tisch stehenblieben, sie auf Englisch ansprachen.
Als sie nach dem Essen einen Brandy tranken und Kitty schweigend die Aussicht genoß, sagte Ari:
»Finden Sie es noch immer so sonderbar, daß Sie hier sind?« »Sehr sonderbar. Das Ganze erscheint mir völlig unwirklich.«
»Sie werden feststellen, daß wir durchaus zivilisierte Leute sind und daß ich sogar geradezu charmant sein kann — jedenfalls gelegentlich. Dabei fällt mir ein, daß ich Ihnen noch gar nicht richtig gedankt habe.«
»Das ist auch gar nicht nötig. Sie bedanken sich auf eine sehr nette Weise, indem Sie mit mir hierhergegangen sind. Ich kann mich nur an einen Ort auf der Welt besinnen, wo es ebenso schön ist wie hier.«
»Das ist sicherlich San Franzisko, nicht wahr?«
»Kennen Sie denn San Franzisko, Ari?«
»Nein. Aber alle Amerikaner sagen, daß Haifa sie an San Franzisko erinnert.«
Es war inzwischen völlig dunkel geworden, und überall am Hang des Karmelberges brannten die Lampen. Ein kleines Orchester spielte leichte Tafelmusik. Ari schenkte Kitty noch einen Brandy ein, und sie tranken einander zu.
Plötzlich brach die Musik ab. Die Unterhaltung verstummte Ein Lastwagen brauste heran, hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Restaurant. Englische Soldaten sprangen ab und bildeten rings um das Lokal eine Absperrung. Sechs Soldaten, angeführt von einem Captain, kamen herein und sahen sich um. Sie gingen von Tisch zu Tisch und verlangten die Ausweise zu sehen.
»Das ist nur das übliche«, sagte Ari leise. »Daran gewöhnt man sich hier bald.«
Der Captain, der die Leitung des Kommandos hatte, blieb stehen, sah zu Ari hin und kam an den Tisch heran. »Tatsächlich, Ari ben Kanaan«, sagte er sarkastisch. »Wir haben Ihr Foto lange nicht auf unseren Fahndungstafeln gehabt. Wie ich höre, haben Sie inzwischen anderswo Unheil angerichtet.«
»'n Abend, Sergeant«, sagte Ari. »Ich würde Sie gern vorstellen, wenn ich bloß auf Ihren Namen käme.«
Der Captain lächelte mit schmalen Lippen. »Nun, ich habe jedenfalls Ihren Namen nicht vergessen. Wir passen sehr genau auf Sie auf, Ben Kanaan. Ihre alte Zelle im Gefängnis von Akko wartet auf Sie. Wer weiß, vielleicht ist der Hohe Kommissar diesmal auch bereit, Ihnen statt dessen einen Strick zu geben.« Der Captain grüßte ironisch und ging weiter.
»Wirklich eine reizende Art, jemanden in Palästina willkommen zu heißen«, sagte Kitty. »Ein widerlicher Bursche.«
Ari beugte sich dicht zu Kitty und sprach leise in ihr Ohr. »Das ist Captain Allan Bridges. Er ist einer der besten Freunde, den die Hagana hat. Er informiert uns über jede wichtige Bewegung der Araber oder der Engländer im Gebiet von Haifa. Das eben war alles nur Theater.«
Kitty schüttelte verblüfft den Kopf. Die Patrouille ging hinaus und nahm zwei Juden mit, deren Ausweise nicht in Ordnung zu sein schienen. Um die Engländer zu ärgern, spielte das Orchester eine Strophe von »God save the King«.
Der Lastwagen fuhr wieder los, und im nächsten Augenblick war es, als sei überhaupt nichts geschehen. Doch Kitty war noch leicht durch die Plötzlichkeit benommen, mit der sich alles abgespielt hatte, und sie war über die Ruhe erstaunt, mit der es die Leute hingenommen hatten.
»Man gewöhnt sich nach einer Weile daran, in einer gespannten Atmosphäre zu leben«, sagte Ari, dem Kittys Reaktion nicht entgangen war. »Auch Sie werden sich daran gewöhnen. Wir befinden uns hier in einem Land, das voll von aufgeregten und erbitterten Leuten ist. Wenn Sie eine Zeitlang hier gelebt haben, werden Sie gar nicht mehr wissen, was Sie anfangen sollen, wenn ausnahmsweise mal eine Woche lang alles friedlich und ruhig ist. Machen Sie sich nichts daraus, daß Sie gerade einen Augenblick erwischt haben, wo —«
Ari kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Die Druckwelle einer Detonation lief durch das Restaurant, ließ die Scheiben klirren und fegte da und dort Teller und Gläser von den Tischen. Im nächsten Augenblick sahen sie, wie eine riesige gelbrote Feuerkugel in den Himmel stieg, gefolgt von einer Reihe weiterer Explosionen, die das Gebäude bis zu den Grundmauern erschütterten.
»Die Raffinerie!« rief jemand, und ein anderer: »Das waren die Makkabäer! Sie haben die Raffinerie in die Luft gehen lassen!«
Ari ergriff Kitty hastig bei der Hand. »Kommen Sie, wir wollen hier verschwinden. In zehn Minuten wird das ganze Karmel-Tal von britischen Soldaten wimmeln.«
Innerhalb von Sekunden leerte sich das Lokal. Ari führte Kitty rasch nach draußen. Unten bei der Raffinerie brannte das Erdöl. Die ganze Stadt war vom Sirenengeheul eiliger Löschzüge und britischer Überfallwagen erfüllt.
Kitty lag die halbe Nacht wach und versuchte, mit den so plötzlichen und so gewaltsamen Ereignissen fertigzuwerden, die sie miterlebt hatte. Sie war froh, daß Ari bei ihr gewesen war. Ob sie sich daran gewöhnen würde, in einem Lande zu leben, wo derartige Zustände herrschten? Sie war zu verwirrt, um darüber nachzudenken, doch im Augenblick kam es ihr so vor, als sei ihr Entschluß, nach Palästina zu fahren, ein schwerer Fehler gewesen.
Am nächsten Morgen brannte die Erdölraffinerie noch immer. Über dem ganzen Gebiet von Haifa lag dichter, dunkler Rauch. Die Vermutung, daß der Anschlag gegen die Raffinerie ein Terrorakt der Makkabäer gewesen war, bestätigte sich. Die Gruppe, die die Aktion durchgeführt hatte, war von Ben Mosche — Sohn des Moses — angeführt worden, einem Mann, der ursprünglich Professor an der Hebräischen Universität gewesen war, bevor er sich den Makkabäern angeschlossen hatte und dort zu Akibas Stellvertreter aufgestiegen war. Außerdem wurde bekannt, daß gleichzeitig mit der Sprengung der Raffinerie ein zweites Kommando der Makkabäer in einem anderen Teil von Palästina einen Überfall auf den Flugplatz Lydda unternommen und dabei Spitfire-Jäger im Werte von sechs Millionen Dollar am Boden zerstört hatte. Mit dieser Doppelaktion hatten die Makkabäer der Exodus auf ihre Weise den Willkommensgruß entboten.
Ari war es gelungen, einen kleinen Wagen aufzutreiben, einen Fiat, Baujahr 1939. Die Fahrt nach Tel Aviv dauerte unter normalen Verhältnissen nur ein paar Stunden. Da er es jedoch noch nie erlebt hatte, daß die Verhältnisse normal waren, schlug er Kitty vor, schon frühmorgens von Haifa loszufahren. Sie fuhren den Hang des Karmelberges hinunter und dann die Straße an der Küste von Samaria entlang. Kitty war beeindruckt davon, wie grün und fruchtbar die Felder der Kibbuzim am Rande des Meeres dalagen. Ihr frisches Grün wurde durch den Gegensatz zu dem toten Braun der Berge und dem stumpfen Glast der Sonne noch leuchtender. Kurz hinter Haifa trafen sie auf die erste Straßensperre. Ari hatte Kitty darauf vorbereitet. Sie beobachtete ihn dabei von der Seite. Er machte ein Gesicht, als störte es ihn überhaupt nicht, obwohl ihn viele der englischen Kontrollposten kannten und zu ärgern versuchten, indem sie ihn daran erinnerten, daß er nur vorübergehend amnestiert war.
Ari verließ die Hauptstraße und fuhr zu den Ruinen der alten Hafenstadt Caesarea. Man hatte ihnen in der Pension Brote mitgegeben, und sie setzten sich auf die uralte Mole und aßen. Ari zeigte Kitty Sdot Yam — die Fischersiedlung, in der Joab Yarkoni zu Haus war —, und er zeigte ihr, wie die Araber ihre Stadt aus Ruinen erbaut hatten, die teils aus der Zeit der Römer, teils aus der Zeit der Kreuzritter stammten. Die Araber, erklärte er ihr, seien Fachleute darin, sich der zivilisatorischen Leistungen anderer Völker zu bedienen. In ganz Palästina hätten sie im Verlauf von tausend Jahren nur eine einzige völlig neue Stadt errichtet.
Dann fuhren sie in südlicher Richtung weiter nach Tel Aviv. Auf der Straße war wenig Verkehr. Von Zeit zu Zeit begegneten sie einem Bus, der entweder nur Araber oder nur Juden beförderte, oder einem der überall anzutreffenden Eselskarren. Gelegentlich überholte sie eine britische Wagenkolonne, die mit gellenden Sirenen eilig vorbeifuhr. Sie kamen durch Landstriche, die von Arabern bewohnt waren, und Kitty fiel auf, wie anders die Ortschaften und Felder hier aussahen. Auf den Feldern arbeiteten Frauen, und der Boden war voller Steine und unfruchtbar. Am Rand der Straße gingen Araberinnen, vermummt und durch lange Gewänder behindert, und mit schweren Lasten, die sie auf den Köpfen balancierten. Die Kaffeehäuser an der Straße waren voll von Männern, die träge herumsaßen oder am Boden lagen und Puff spielten. Hinter Sichren Yakow kamen sie an dem ersten Teggart-Fort vorbei, einem finster wirkenden, von Stacheldraht umgebenen Bauwerk. Ein Stück weiter, bei Chedera, kamen sie an dem nächsten Fort vorbei, und dann schienen die Teggart-Forts bei jedem Ort und jeder Straßenkreuzung aufzutauchen.
Hinter Chedera, in der Ebene von Scharon, war das Land noch grüner und fruchtbarer. Sie fuhren zwischen australischen Eukalyptusbäumen entlang, die sich zu riesigen Bogengängen über ihnen wölbten.
»Alles, was Sie hier sehen, war vor fünfundzwanzig Jahren noch wüst und öde«, sagte Ari.
Am Nachmittag erreichten sie Tel Aviv — den Frühlingshügel. Die Stadt erhob sich am Rande des Mittelmeeres in so strahlendem Weiß, daß es den Augen fast wehtat. Ari fuhr durch breite, mit Bäumen gesäumte Boulevards, vorbei an langen Reihen hypermoderner Appartementhäuser. Die Stadt war erfüllt von geschäftigem Leben und Treiben. Kitty fand Tel Aviv vom ersten Augenblick an wunderbar. Ari hielt vor dem Gat-Rimon-Hotel, das in der Hayarkon-Straße, direkt am Meer, lag.
Am späten Nachmittag öffneten alle Geschäfte wieder, die während der Zeit der mittäglichen Siesta geschlossen hatten. Ari und Kitty bummelten durch die Allenby-Straße. Kitty wollte etwas Geld einwechseln, ein paar Sachen kaufen und ihre Neugier befriedigen. Hinter dem Mograbi-Platz lag ein kleiner Laden neben dem andern, und die Straße war erfüllt von dem Lärm der Busse und Autos und dem Gewühl der Menschen. Kitty mußte sich jedes Schaufenster ansehen. Sie kamen an einem Dutzend Buchhandlungen vorbei, und Kitty blieb jedesmal stehen, um sich die Buchtitel in hebräischer Schrift anzusehen, die sie nicht entziffern konnte. Sie gingen weiter und weiter, bis sie das Geschäftsviertel hinter sich gelassen hatten und am Rothschild-Boulevard waren. Hier lag der ältere Teil der Stadt, aus der Zeit, als Tel Aviv sich sozusagen als ein Vorort der Stadt Jaffa zu entwickeln begonnen hatte. Je näher sie der arabischen Stadt Jaffa kamen, desto baufälliger und verkommener wurden die Häuser und Läden. Während sie die Straße entlanggingen, die die beiden Städte miteinander verband, hatte Kitty das Gefühl, daß sich die Zeit zurückdrehte. Mit jedem Schritt wurde die Umgebung schmutziger und übelriechender, und die Läden kleiner und schäbiger. Im Bogen gingen sie zurück nach Tel Aviv und gelangten zu einem Markt, auf dem Juden und Araber ihre Waren feilboten. Auf der engen Straße drängten sich feilschende Menschen um einzelne Stände. Sie kehrten auf der anderen Seite der Allenby-Straße zurück, überquerten wieder den Mograbi-Platz und bogen in die Ben-Yehuda-Straße ein. Auch sie war eine breite, mit Bäumen bestandene Straße, und hier lag ein Boulevard-Café neben dem anderen. Jedes dieser Cafés hatte seine eigene Note und sein ganz bestimmtes Publikum. In dem einen trafen sich die Anwälte, in einem anderen die Sozialisten; hier die Künstler und dort die Geschäftsleute, und es gab auch ein Café, in dem vorwiegend ältere, pensionierte Leute saßen, die Schach spielten. Und alle Cafés auf der Ben-Yehuda-Straße waren voll von Leuten, die sich teils angeregt und teils aufgeregt unterhielten.
Die Straßenhändler, die die vielen vierseitigen Zeitungen verkauften, riefen in hebräischer Sprache laut die neuesten Meldungen aus: die Überfälle der Makkabäer auf den Flugplatz von Lydda und die Raffinerie bei Haifa, und die Ankunft der Exodus. Auf den Bürgersteigen bewegte sich ein ununterbrochener Strom von Menschen. Orientalen in östlichen Gewändern kamen vorbei und gepflegte Frauen in den neuesten Modellen aus einem Dutzend verschiedener europäischer Länder. Die meisten Passanten waren Einheimische in Khakihosen und weißen Hemden mit offenen Kragen. Um den Hals trugen sie dünne Kettchen, mit einem Davidstern oder irgendeinem anderen hebräischen Anhänger, und die meisten hatten den Schnurrbart, das Abzeichen derer, die im Lande geboren waren. Es waren rauhe Menschen. Viele von ihnen trugen den blauen Kittel der Kibbuzbewohner und gingen in Sandalen. Die in Palästina geborenen Frauen waren groß, trugen einfache Kleider oder Hosen. Sie stellten einen herausfordernden Stolz zur Schau, der sich selbst in ihrem Gang ausdrückte.
Plötzlich wurde es auf der Ben-Yehuda-Straße still. Es war die gleiche plötzliche Stille, wie Kitty sie am Abend zuvor in dem Restaurant in Haifa erlebt hatte. Auf der Mitte der Straße kam langsam ein gepanzerter britischer Lautsprecherwagen angefahren. Oben auf dem Wagen standen englische Soldaten mit zusammengepreßten Lippen hinter Maschinengewehren.
ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN! ACHTUNG! BETRIFFT ALLE JUDEN! DER
KOMMANDIERENDE GENERAL HAT EINE SPERRSTUNDE VERHÄNGT. ALLE JUDEN MÜSSEN BEI ANBRUCH DER DUNKELHEIT VON DER STRASSE VERSCHWUNDEN SEIN!
Die Mitteilung wurde von den Passanten mit Applaus und Gelächter quittiert.
»Paß auf, Tommy«, rief jemand. »Die nächste Querstraße ist vermint.«
Als die englischen Wagen verschwunden waren, nahm das Leben auf der Ben-Yehuda-Straße sehr bald wieder seinen normalen Verlauf.
»Bitte bringen Sie mich zum Hotel zurück«, sagte Kitty.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, in einem Monat werden Sie soweit sein, daß Sie gar nicht mehr ohne Aufregung leben können.«
»Ich werde mich nie daran gewöhnen, Ari.«
Sie gingen zum Hotel zurück, bepackt mit dem, was Kitty eingekauft hatte. In der kleinen, ruhigen Bar tranken sie einen Cocktail, und danach aßen sie zu Abend auf der Terrasse, von der man einen wunderbaren Blick auf das Meer hatte.
»Ich danke Ihnen für einen wunderschönen Tag«, sagte Kitty.
»Trotz britischer Patrouillen und Straßensperren.«
»Sie müssen mich nachher entschuldigen«, sagte Ari. »Ich muß nach dem Essen für eine Weile fort.«
»Und was ist mit der Sperrstunde?«
»Das betrifft nur Juden«, sagte Ari.
Ari verabschiedete sich von Kitty und fuhr mit dem Wagen zu dem Vorort Ramat Gan — dem »Hügelgarten«. Im Gegensatz zu den Reihenhäusern von Tel Aviv lagen hier einzelne Villen in schönen Gärten. Ari parkte, stieg aus und ging über eine halbe Stunde zu Fuß, um sicher zu sein, daß er nicht beschattet wurde.
Er kam zur Montefiorestraße 22, einer großen Villa, die einem Dr. Y. Tamir gehörte. Auf sein Klopfen hin erschien Dr. Tamir selbst an der Tür, begrüßte Ari mit einem herzlichen Händedruck und führte ihn hinunter in den Keller, in dem sich das Hauptquartier der Hagana befand.
Hier standen Kisten mit Waffen und Munition und eine Druckerpresse, auf der Flugblätter in arabischer Sprache gedruckt wurden, mit der Aufforderung an die Araber, ruhig zu bleiben und den Frieden zu wahren. In einem anderen Teil des Kellergeschosses sprach ein Mädchen auf Arabisch die gleiche Aufforderung auf Tonband. Die Bandaufnahme sollte später von dem fahrbaren Geheimsender Kol Israel — »Stimme Israels« — gesendet werden. Zu den Aufgaben des geheimen Hauptquartiers gehörte unter anderem auch die Herstellung von Handgranaten und die Lagerung von Maschinenpistolen.
Diese vielseitige Aktivität hörte schlagartig auf, als Dr. Tamir mit Ari erschien. Alles drängte sich um Ari, man gratulierte ihm zu seinem Erfolg mit der Exodus und richtete von allen Seiten ungeduldige Fragen an ihn.
»Später«, sagte Dr. Tamir abwehrend, »später!«
»Ich muß zu Avidan«, sagte Ari.
Vorbei an den übereinander gestapelten Kisten mit Gewehren bahnte er sich den Weg zu der Tür eines abgesonderten Büros und klopfte an.
»Ja?«
Ari öffnete die Tür und stand vor dem kahlköpfigen, vierschrötigen Mann, der die illegale Armee befehligte. Avidan hob den Blick von den Schriftstücken, die auf seinem wackligen Schreibtisch lagen, und begann zu strahlen. »Ari!« rief er. »Schalom!« Er sprang auf, umarmte Ari, drückte ihn auf einen Stuhl, machte die Tür zu und schlug ihm mit seiner mächtigen Pranke herzhaft auf die Schulter. »Fein, daß du wieder da bist, Ari! Du hast es den Engländern ordentlich gegeben! Und wo sind die andern?«
»Ich habe sie nach Hause geschickt.«
»Das ist gut. Sie haben ein paar Tage Urlaub verdient. Nimm auch ein paar Tage frei.«
Das war ein eindrucksvolles Lob aus dem Munde von Avidan, der seit fünfundzwanzig Jahren nicht einen einzigen dienstfreien Tag für sich beansprucht hatte.
»Was ist das für ein Mädchen, mit dem du gekommen bist?«
»Eine arabische Spionin. Sei doch nicht so neugierig.«
»Gehört sie zu unseren Freunden?«
»Nein.«
»Schade. Eine echt amerikanische Christin, die auf unserer Seite steht, wäre sehr vorteilhaft für uns.«
»Nein, sie ist einfach eine nette Frau, die sich die Juden ungefähr so wie Tiere im Zoo ansieht. Ich bringe sie morgen nach Jerusalem, wo sie sich mit Harriet Salzmann trifft, um mit ihr zu besprechen, ob es bei der Jugend-Aliyah einen Job für sie gibt.«
»Irgendwie persönlich interessiert?«
»Herrgott noch mal, nein. Und jetzt richte deine jüdische Wißbegier bitte auf etwas anderes.«
Die Luft im Raum war stickig. Avidan holte ein großes blaues Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Glatze. »Einen prächtigen Empfang haben uns die Makkabäer gestern bereitet«, sagte Ari. »Wie ich höre, wird die Raffinerie eine Woche lang weiterbrennen. Die Produktion ist im Eimer.«
Avidan schüttelte den Kopf. »Was sie gestern gemacht haben, war gut — wie aber steht es mit vorgestern, und was wird übermorgen sein? Auf jede ihrer nützlichen Aktionen kommen drei, die schädlich sind. Jedesmal, wenn sie ihre Zuflucht zur Brutalität oder zum wahllosen Mord nehmen, hat der gesamte Jischuw darunter zu leiden. Wir sind es, die für die Aktionen der Makkabäer geradestehen müssen. Morgen werden General Haven-Hurst und der Hohe Kommissar beim Jischuw-Zentralrat aufkreuzen. Sie werden bei Ben Gurion mit der Faust auf den Tisch schlagen und verlangen, daß wir die Hagana einsetzen, um weitere Aktionen der Makkabäer zu verhindern. Du kannst mir glauben, ich weiß manchmal wirklich nicht mehr aus und ein. Bisher haben die Engländer die Hagana noch einigermaßen in Ruhe gelassen, doch ich fürchte, wenn die Makkabäer so weitermachen ... Sie sind sogar dazu übergegangen, Banken zu überfallen, um die Arbeit ihrer Organisation zu finanzieren.«
»Britische Banken, will ich hoffen«, sagte Ari. Er steckte sich eine Zigarette an, stand auf und ging in dem engen Büroraum auf und ab. »Vielleicht wäre es wirklich an der Zeit, daß auch die Hagana ein paar wirkungsvolle Sabotageakte unternimmt.«
»Nein — damit würden wir das Weiterbestehen der Hagana aufs Spiel setzen, und das dürfen wir einfach nicht. Wir müssen da sein zum Schutz für alle Juden. Illegale Einwanderung — das ist in der gegenwärtigen Situation die beste Methode des Kampfes gegen die Engländer. Ein solches Unternehmen wie diese Sache mit der Exodus ist wichtiger, als zehn Raffinerien in die Luft zu sprengen.« »Doch eines Tages müssen wir aktiv werden, Avidan. Entweder haben wir eine Armee oder wir haben keine.«
Avidan nahm einige Schriftstücke von seinem Schreibtisch und hielt sie Ari hin. Ari nahm und las: ORDER OF BATTLE, 6TH AIRBORNE DIVISION.
Ari sah Avidan an: »Die Engländer haben drei Brigaden Fallschirmjäger in Palästina?«
»Lies weiter.«
ROYAL ARMORED CORPS WITH KING'S OWN HUSSARS, 53RD WORCESTERSHIRE, 249TH AIRBORNE PARK, DRAGOON GUARDS, ROYAL LANCERS, QUEEN'S ROYAL EAST SURREY, MIDDLESEX, GORDON HIGHLANDERS, ULSTER RIFLES, HERTFORDSHIRE REGIMENT — die Liste der in Palästina stationierten britischen Truppen nahm kein Ende. Ari warf das Schriftstück auf Avidans Schreibtisch. »Gegen wen wollen die Engländer hier eigentlich antreten — gegen die Russen?« »Begreifst du es jetzt, Ari? Tag für Tag spreche ich die Sache mit einigen jungen Heißspornen vom Palmach durch. Warum unternehmen wir nichts? fragen sie mich. Warum kommen wir nicht heraus aus unserem Versteck und treten an zum Kampf? — Meinst du vielleicht, es macht mir Spaß, hier in diesem Keller zu sitzen? Hör zu, Ari — die Engländer haben zwanzig Prozent ihrer kämpfenden Truppe in Palästina. Hunderttausend Soldaten, die Arabische Legion in Jordanien nicht mitgerechnet. Sicher, die Makkabäer rennen herum, knallen, machen Lärm, setzen sich in Szene und werfen uns vor, wir trauten uns nicht heraus.« Avidan schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich bemühe mich, bei Gott, eine Armee zu organisieren. Aber wir haben noch nicht einmal zehntausend Gewehre, um damit zu schießen, und wenn die Hagana erledigt ist, dann sind wir alle miteinander erledigt.«
Avidan kam um den Schreibtisch herum. »Sieh mal, Ari — die Makkabäer mit ihren paar tausend Hitzköpfen sind beweglich, können zuschlagen und sich wieder unsichtbar verkriechen. Wir aber, wir müssen mit Gewehr bei Fuß auf der Stelle treten, und dabei müssen wir auch bleiben. Wir können uns nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen. Und wir können es uns auch nicht leisten, Haven-Hurst ernstlich zu reizen. Auf je fünf Juden in Palästina kommt ein englischer Soldat.«
Ari nahm erneut die Liste der britischen Streitkräfte vom Schreibtisch und studierte sie schweigend.
»Von Tag zu Tag treiben es die Engländer ärger mit ihren Razzien, Straßensperren, Haussuchungen und Verhaftungen«, sagte Avidan. »Die Araber massieren ihre Streitkräfte, und die Engländer tun, als merkten sie nichts davon.«
Ari nickte nachdenklich. Dann sagte er. »Und wohin gehe ich jetzt?«
»Ich habe nicht die Absicht, dir einen neuen Auftrag zu erteilen, vorläufig jedenfalls nicht. Fahr nach Haus, ruh dich ein paar Tage aus und melde dich dann beim Palmach im Kibbuz Ejn Or. Ich möchte, daß du alle Siedlungen in Galiläa inspizierst, um festzustellen, wie stark unsere Verteidigung ist. Wir möchten gern wissen, was wir voraussichtlich halten können — und was wir verlieren werden.«
»Ich habe dich noch nie so reden gehört wie heute, Avidan.«
»Die Situation war auch noch nie so kritisch wie im Augenblick. Die Araber haben es sogar abgelehnt, sich in London mit uns an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln.«
Ari ging zur Tür.
»Grüße Barak und Sara von mir«, sagte Avidan, »und sage Jordana, sie soll nicht über die Stränge schlagen, wenn David ben Ami jetzt wieder im Land ist. Ich werde ihn und die anderen Jungens auch nach Ejn Or schicken.«
»Ich bin morgen in Jerusalem«, sagte Ari. »Kann ich dort irgend etwas für dich erledigen?«
»Ja, sei so gut und organisiere mir zehntausend Soldaten mit Fronterfahrung — und die dazugehörigen Waffen, um sie auszurüsten.« »Schalom, Avidan.«
»Schalom, Ari. Schön, daß du wieder da bist.«
Ari fuhr nach Tel Aviv zurück, und seine Stimmung war düster. Normalerweise arbeitete er wie eine Maschine. Gefühle waren Luxus in seiner Situation. Er war tüchtig und mutig, manchmal hatte er Erfolg, manchmal nicht. Doch zuweilen geschah es, daß Ari ben Kanaan die Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte vor sich sah, und dann tat ihm das Herz weh. Die Exodus, die Raffinerie von Haifa, ein Überfall hier, eine Sprengung dort. Menschen ließen ihr Leben bei dem Versuch, fünfzig Gewehre hereinzuschmuggeln. Menschen wurden gehängt, weil sie hundert verzweifelte Überlebende des Hitlerregimes illegal ins Land gebracht hatten. Er war ein kleiner Mann, der gegen einen Riesen kämpfte. Und im Augenblick wünschte er, ebenso wie David ben Ami an das plötzliche und wunderbare Eingreifen einer göttlichen Macht glauben zu können. Doch dazu war Ari zu sehr Realist.
Kitty Fremont wartete in der kleinen Bar am Ende der Halle auf Aris Rückkehr. Er war ihr gegenüber so aufmerksam gewesen, daß sie noch nicht schlafen gehen wollte. Sie wartete auf ihn, um mit ihm noch ein bißchen zu reden und vorm Schlafengehen noch einen Drink mit ihm zu nehmen. Sie sah, wie er durch die Halle zum Portier ging, um sich seinen Zimmerschlüssel geben zu lassen.
»Ari!« rief sie.
Sein Gesicht hatte den gleichen Ausdruck tiefer Konzentration wie damals in Zypern, da sie ihn zum erstenmal gesehen hatte.
Sie winkte ihm zu, doch er schien sie weder zu sehen noch zu hören. Er sah in ihre Richtung, doch sein Blick ging durch sie hindurch, und er stieg stumm die Treppe hinauf.
II.
Zwei Busse, in denen fünfzig der Kinder von der Exodus saßen, fuhren an dem Ruinenberg von Chazor vorbei und in das Hule-Tal hinein. Auf der ganzen Fahrt von Haifa durch das Land Galiläa hatten sich die jugendlichen Reisenden gegenseitig mit lautem Jubel auf alles aufmerksam gemacht, was es im Gelobten Land zu sehen gab.
»Dov!« rief Karen. »Ist das nicht alles wunderbar?«
Dov brummte nur, was offenbar heißen sollte, daß er deshalb keine Veranlassung sehe, einen solchen Lärm zu machen.
Sie fuhren weit in das Hule-Tal hinein, bis nach Yad El. Hier zweigte von der großen Straße eine Nebenstraße ab, die in das Gebirge an der libanesischen Grenze hinaufführte. Die Kinder sahen das Richtungsschild mit der Aufschrift Gan Dafna. Alle konnten es vor neugieriger Spannung kaum noch aushalten. Nur Dov Landau blieb weiterhin stumm und düster. Die Busse nahmen die Steigungen, und bald konnten die Reisenden das ganze Hule-Tal vor sich sehen, in dem sich wie Teppiche die grünen Felder der Kibbuzim und Moschawim erstreckten. Sie fuhren langsamer, als sie auf halbem Weg zur Höhe das Araberdorf Abu Yesha erreichten. Hier war nichts von der Gleichgültigkeit oder Feindlichkeit, wie sie die Kinder in den anderen Araberdörfern bemerkt hatten. Die Bewohner von Abu Yesha winkten ihnen freundlich zu.
Hinter Abu Yesha kamen sie an einer Markierung vorbei, auf der angegeben war, daß man sich hier sechshundert Meter über dem Meeresspiegel befand. Dann ging es noch ein Stück weiter hinauf zu dem Jugend-Aliyah-Dorf Gan Dafna — »Garten der Dafna«. In der Mitte der Siedlung hielten sie vor einer Grünfläche, die rund hundert Meter lang und fünfzig Meter breit war. Ringsum lagen die Verwaltungsgebäude, und von diesem Mittelpunkt erstreckte sich das übrige Dorf mit seinen Häuschen nach allen vier Richtungen. Überall waren Rasenflächen mit Blumenbeeten, Büschen und Bäumen. Als die Kinder von der Exodus aus den Autobussen ausstiegen, wurden sie vom Orchester des Jugenddorfes mit einem festlichen Begrüßungsmarsch empfangen.
In der Mitte des Rasens stand eine lebensgroße Statue von Dafna, dem Mädchen, nach dem das Jugenddorf benannt war: Eine Bronzefigur mit einem Gewehr in der Hand, die ins Hule-Tal hinunter sah, ganz so wie Dafna an jenem Tage in Hamischmar, als die Araber sie ermordet hatten.
Neben der Statue stand Dr. Liebermann, der Gründer und Leiter des Jugenddorfes, ein kleiner Mann mit einem leichten Buckel, der eine große Pfeife rauchte, während er die Neuen willkommen hieß. Er erzählte ihnen in kurzen Worten, daß er 1934 Deutschland verlassen und 1940 Gan Dafna gegründet habe, auf dem Stück Land, das Kammal, der damalige Muktar von Abu Yesha, großzügig der Jugend-Aliyah zur Verfügung gestellt hatte. Dann begrüßte Dr. Liebermann jeden einzelnen der fünfzig Jugendlichen in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen mit ein paar persönlichen Worten. Als Karen ihn ansah, kam es ihr vor, als habe sie ihn irgendwo schon einmal gesehen. In seiner äußeren Erscheinung und in seiner ganzen Art erinnerte er sie an die Professoren in Köln. — Doch das war so lange her, und sie war damals noch sehr jung gewesen.
Dann wurde jedes Kind von einem Mitglied des Jugenddorfes in Empfang genommen.
»Bist du Karen Clement?«
»Ja.«
»Ich bin Yona«, sagte eine ägyptische Jüdin, die etwas älter als Karen war. »Wir beide wohnen zusammen. Komm, ich will dir unser Zimmer zeigen. Es wird dir hier bei uns gefallen.«
Karen rief Dov zu, daß sie sich später treffen wollten, und ging dann mit Yona, an den Verwaltungsgebäuden und den Schulräumen vorbei, zu dem Teil der Siedlung, wo kleine Bungalows zwischen Büschen und Sträuchern standen. »Wir haben es gut«, sagte Yona. »Wir bekommen diese Einzelhäuschen, weil wir zu den älteren Jahrgängen gehören.«
Karen blieb einen Augenblick verwundert vor dem Bungalow stehen. Dann ging sie mit Yona hinein. Die Einrichtung war sehr einfach, doch für Karen war es das schönste Zimmer, das sie je im Leben gesehen hatte. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl — und das alles für sie, für sie ganz allein.
Es wurde Abend, ehe Karen einen freien Augenblick hatte. Nach dem Abendessen sollte für die Neuen im Freilufttheater eine Begrüßungsaufführung stattfinden.
Karen traf Dov auf der Grünfläche, nicht weit von der Dafna-Statue. Seit vielen Wochen hätte sie zum erstenmal wieder gern getanzt. Die Luft war so frisch, und das ganze Jugenddorf war einfach wunderbar! Karen trug olivfarbene lange Hosen, einen hochgeschlossenen Farmerkittel und neue Sandalen. »Oh, Dov!« rief sie. »Das ist der herrlichste Tag meines ganzen Lebens! Yona ist ein reizendes Mädchen. Sie hat mir gesagt, Dr. Liebermann sei der netteste Mensch, den man sich überhaupt vorstellen kann.« Sie ließ sich ins Gras fallen, sah nach oben in den Himmel und seufzte. Dov stand neben ihr und sagte kein Wort. Sie setzte sich und zog ihn bei der Hand.
»Laß das«, sagte er.
Doch Karen ließ nicht locker, und Dov setzte sich schließlich neben sie. Er wurde verlegen, als sie seine Hand drückte und ihren Kopf auf seine Schulter legte. »Freu dich doch auch, Dov«, sagte sie. »Bitte sei froh und glücklich.«
Er zuckte die Schulter und rückte von ihr weg.
»Bitte sei glücklich.«
»Wen geht das etwas an?«
»Mich«, sagte Karen. »Weil du mich etwas angehst.«
»Kümmere dich lieber um dich selber.«
»Das tue ich außerdem.« Sie kniete vor ihm und ergriff seine Schultern. »Hast du dein Zimmer gesehen und dein Bett? Wie lange ist es her, seit du in einem solchen Zimmer gewohnt hast?« Dov wurde rot und sah zu Boden. »Denk doch nur, Dov!« sagte Karen. »Kein Flüchtlingslager mehr, kein Internierungslager mit Stacheldraht, nie mehr auf ein illegales Schiff. Wir sind zu Hause, Dov, und es ist sogar noch schöner, als ich es mir ausgemalt hatte.« Dov stand langsam auf und drehte ihr den Rücken zu. »Für dich mag das hier gut und richtig sein. Aber ich habe andere Pläne.« »Denk bitte nicht mehr daran«, sagte sie.
Das Orchester begann zu spielen. »Es wird Zeit, daß wir zum Theater gehen«, sagte Karen.
Als Ari und Kitty Tel Aviv wieder verlassen hatten und an dem riesigen britischen Lager bei Sarafand vorbeifuhren, bekam Kitty erneut die Spannung zu spüren, die in Palästina in der Luft lag. Auf dem Wege nach Jerusalem durch die rein arabische Stadt Ramie bemerkte Kitty, wie die Araber sie mit feindlichen Blicken musterten. Ari dagegen schien weder die Araber noch Kittys Gegenwart wahrzunehmen. Er hatte den ganzen Tag kaum drei Worte mit ihr gesprochen.
Kurz hinter Ramie begann Bab el Wad, eine Straße, die in Windungen hinauf in die Berge von Judäa führt. Auf den Hängen der Schluchten rechts und links der Straße wuchsen junge Waldungen, die von den Juden angepflanzt worden waren. Terrassen aus alter Zeit ragten aus dem kahlen Erdreich heraus, wie die Rippen eines verhungerten Hundes. Einstmals hatten hier in den Bergen Hunderttausende von Menschen gelebt und auf diesen Terrassen ihre Nahrung gefunden. Heute war der Boden völlig verwittert und unfruchtbar. Auf den Gipfeln der Berge lagen, eng zusammengedrängt, die weißen Hütten der Araberdörfer.
Höher und höher fuhren sie hinauf, und ihre Spannung wurde immer größer. Jetzt erschienen in der Ferne über dem Horizont als undeutlicher Umriß die Zinnen von Jerusalem, und Kitty verspürte eine sonderbare Erregung.
Sie kamen in die von den Juden erbaute Neustadt und fuhren durch die Jaffa-Straße auf die alte Stadtmauer zu. Vor dem Jaffa-Tor bog Ari in die King-David-Avenue ein und hielt wenige Augenblicke später vor dem großen Gebäude, dem berühmten King-David-Hotel. Kitty stieg aus und schnappte nach Luft, als sie sah, daß der rechte Flügel des Hotels zerstört war.
»Dort befand sich früher das britische Hauptquartier«, sagte Ari. »Doch die Makkabäer haben alles gründlich verändert.«
Kitty kam als erste zum Essen herunter. Sie nahm auf der Terrasse hinter dem Hotel Platz, von der aus man über ein kleines Tal hinweg die alte Stadtmauer erblickte.
Als Ari etwas später auf die Terrasse herauskam, blieb er wie angewurzelt stehen. Kitty sah wunderbar aus. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie hatte ein sehr elegantes Cocktail-Kleid an, dazu einen Hut mit breitem Rand und weiße Handschuhe. Er fühlte sich plötzlich sehr weit von ihr entfernt. Sie sah ganz so aus wie alle die reizvollen, gutangezogenen Frauen in Rom, Paris und Berlin, die zu einer Welt gehörten, die ihm fremd und auch nicht ganz verständlich war. Zwischen den beiden Frauen Kitty und Dafna war ein himmelweiter Unterschied. Doch sie war schön, wunderschön.
Er kam an ihren Tisch und setzte sich. »Ich habe eben mit Harriet Salzmann telefoniert«, sagte er. »Wir sollen gleich nach dem Essen zu ihr kommen.«
»Danke«, sagte Kitty. »Ich finde es sehr aufregend, in Jerusalem zu sein.«
»Ja, diese Stadt hat eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Jeder, der zum erstenmal hierherkommt, ist fasziniert. Denken Sie zum Beispiel an David ben Ami. Ihn läßt Jerusalem überhaupt nicht mehr los. Er hat übrigens die Absicht, mit Ihnen morgen durch die Altstadt zu gehen, wenn der Sabbat beginnt.«
»Ich finde es reizend von ihm, daß er sich um mich kümmern will.«
Ari sah sie aufmerksam an. Aus der Nähe erschien sie ihm noch schöner als vorhin. Er sah beiseite, winkte einen Kellner heran, bestellte und starrte dann vor sich hin. Kitty hatte allmählich das Gefühl, daß sich Ari eine Verpflichtung aufgeladen hatte, die er möglichst bald hinter sich bringen wollte. Zehn Minuten lang sagte keiner von beiden ein Wort. Kitty stocherte in ihrem Salat.
»Bin ich Ihnen sehr lästig?« fragte sie schließlich.
»Nein«, sagte er. »Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«
»Seit Sie gestern abend von Ihrer Verabredung zurückgekommen sind, haben Sie sich benommen, als ob ich gar nicht existieren würde.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Kitty«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, ich bin heute ein sehr schlechter Gesellschafter gewesen.«
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung?«
»Eine ganze Menge ist nicht in Ordnung — aber das hat nichts mit Ihnen oder mit mir und meinem schlechten Benehmen zu tun. Und jetzt möchte ich Ihnen gern ein bißchen über Harriet Salzmann erzählen. Sie ist Amerikanerin. Sie muß inzwischen weit über Achtzig sein. Wenn wir hier beim Jischuw Leute heiligsprächen, dann wäre sie unsere erste Heilige. Sehen Sie den Berg dort jenseits der Altstadt?«
»Da drüben?«
»Das ist der Skopusberg. Die Gebäude, die Sie da oben sehen, sind das modernste medizinische Zentrum im Nahen Osten. Das Geld dafür stammt von der Zionistischen Frauenbewegung in Amerika, die Harriet nach dem ersten Weltkrieg organisiert hat. Die meisten Krankenhäuser in Palästina sind von der Hadassa — so heißt die Organisation, die Harriet ins Leben gerufen hat — finanziert und errichtet worden.«
»Sie scheint eine sehr bemerkenswerte Frau zu sein.«
»Ja, allerdings. Als Hitler an die Macht kam, hat Harriet die Jugend-Aliyah geschaffen. Tausende von Jugendlichen verdanken ihr das Leben. Die Jugend-Aliyah unterhält in Palästina Dutzende von Jugendzentren. Sie werden sich sehr gut mit Harriet verstehen.« »Wieso vermuten Sie das?«
»Sehen Sie, kein Jude, der eine Zeitlang in Palästina gelebt hat, kann von hier fortgehen, ohne sein Herz hier zu lassen. Ich glaube, bei den Amerikanern ist es genauso. Harriet lebt nun schon seit vielen Jahren hier, doch ihr Herz ist zu einem sehr großen Teil immer noch in Amerika.«
Das kleine Orchester, das zum Essen gespielt hatte, brach ab. Stille breitete sich über Jerusalem. Aus der Altstadt konnte man den leisen Ruf eines mohammedanischen Muezzin hören, der von seinem Minarett aus die Gläubigen zum Gebet aufrief. Danach wurde es erneut still, so still und lautlos, wie Kitty es noch nie erlebt hatte.
Das Glockenspiel in dem YMCA-Turm auf der anderen Seite der Straße begann zu ertönen, und die Melodie erfüllte die Berge und die Täler. Dann wurde es wieder still, noch stiller als zuvor. Das Leben schien den Atem anzuhalten, die Zeit schien für einen Augenblick stillzustehen.
»Wie wunderbar«, sagte Kitty.
»Augenblicke dieser Art sind in unserer Gegenwart selten«, sagte Ari. »Leider ist diese friedliche Stille trügerisch.«
In diesem Augenblick entdeckte er einen Mann mit olivfarbenem Teint, der an der Tür zur Terrasse stand. Ari erkannte Bar Israel, den Verbindungsmann der Makkabäer. Bar Israel nickte Ari zu und verschwand.
»Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?« sagte Ari. Er ging in die Halle, stellte sich an den Zigarettenstand, kaufte ein Päckchen Zigaretten und blätterte dann scheinbar in Gedanken versunken in einer Zeitschrift. Bar Israel kam heran und blieb neben ihm stehen.
»Ihr Onkel Akiba ist in Jerusalem«, sagte Bar Israel leise. »Er wünscht Sie zu sehen.«
»Ich muß zu der Zionistischen Siedlungsgesellschaft, doch das dauert nicht lange, und dann bin ich frei.«
»Ich erwarte Sie im Russischen Viertel«, sagte Bar Israel und verschwand.
Die King-Georg-Avenue war ein breiter Boulevard in der Neustadt, an dem Verwaltungsgebäude, Schulen und Kirchen lagen. An einer Ecke der King-Georg-Avenue stand ein großes, vierstöckiges, ausladendes Bauwerk, in dem die Zionistische Siedlungsgesellschaft ihren Sitz hatte. Eine lange Auffahrt führte zum Haupteingang. »Schalom, Ari«, rief Harriet Salzmann und kam mit einer Beweglichkeit hinter ihrem Schreibtisch hervor, die ihre Jahre Lügen strafte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte Ari die Arme um den Hals und küßte ihn herzhaft auf die Wangen. »Oh, wie hast du es den Burschen auf Zypern gegeben. Bist ein feiner Kerl.« Dann wandte sich die alte Frau an Kitty, die bei der Tür stehengeblieben war.
»Und das ist also Katherine Fremont. Sie sind sehr schön, mein Kind.«
»Danke, Mrs. Salzmann.«
»Sagen Sie bloß nicht Mrs. Salzmann zu mir. Das tun nur Engländer und Araber. Ich komme mir ganz alt vor, wenn ich es höre. Und jetzt setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich lasse uns einen Tee bringen. Oder wollen Sie vielleicht lieber Kaffee trinken?«
»Lieber Tee.«
»Da kannst du es mal sehen, Ari — so sieht eine Amerikanerin aus.« In Harriets hellen Augen blitzte der Schalk, und sie machte eine großartige Geste, um zu bekunden, wie schön und attraktiv sie Kitty fand.
»Ich bin überzeugt«, sagte Ari, »daß nicht alle Amerikanerinnen so gut aussehen wie Kitty und.. .«
»Hören Sie auf damit, Sie beide. Ich werde ganz verlegen.«
»Ihr beiden Mädchen braucht mich ja wohl nicht«, sagte Ari. »Ich habe noch einiges zu erledigen, und das mache ich am besten gleich. Sagen Sie, Kitty, falls ich nicht rechtzeitig zurück bin, um Sie abzuholen — würde es Ihnen etwas ausmachen, sich ein Taxi zu nehmen und allein zum Hotel zurückzufahren?«
»Nun geh schon«, sagte Harriet. »Kitty und ich werden gemeinsam in meiner Wohnung zu Abend essen. Dich brauchen wir überhaupt nicht.«
Ari lächelte und ging.
»Er ist ein feiner Kerl«, sagte Harriet Salzmann. »Es gibt bei uns eine ganze Menge solcher Burschen wie Ari. Sie arbeiten zu schwer, und sie sterben zu jung.« Sie zündete sich eine Zigarette an und hielt Kitty das Päckchen hin. »Aus welcher Ecke kommen Sie eigentlich?«
»Indiana.«
»Und ich aus San Franzisko.«
»Eine wunderschöne Stadt«, sagte Kitty. »Ich war einmal mit meinem Mann dort. Ich habe mir immer gewünscht, irgendwann mal wieder hinzukommen.«
»Das wünsche ich mir auch«, sagte die alte Frau. »Es scheint, als würde meine Sehnsucht nach den Staaten von Jahr zu Jahr größer. Seit fünfzehn Jahren war ich immer wieder fest entschlossen, für eine Weile nach San Franzisko zurückzugehen, doch die Arbeit hier hört überhaupt nicht auf. All die armen kleinen Wesen, die hierherkommen. Doch allmählich werde ich krank vor Heimweh. Vermutlich ein Zeichen von Senilität.«
»Kaum.«
»Es ist eine gute Sache, Jude zu sein und für die Wiedergeburt einer jüdischen Nation zu arbeiten — doch es ist auch sehr gut, Amerikanerin zu sein. Vergessen Sie das bitte nie, meine Liebe. Übrigens war ich schon die ganze Zeit, seit die Sache mit der Exodus losging, sehr gespannt darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen, Katherine Fremont, und ich muß Ihnen gestehen, daß ich außerordentlich überrascht bin — und mich überrascht so leicht nichts.«
»Ich befürchte, die Zeitungen haben ein übertrieben romantisches Bild von mir entstehen lassen.«
Bei all ihrer entwaffnenden Freundlichkeit war Harriet Salzmann zugleich durchaus wach und kritisch, und obwohl sich Kitty völlig entspannt und behaglich fühlte, war sie sich darüber klar, daß ihr Gegenüber sie sehr genau unter die Lupe nahm. Sie tranken Tee und schwätzten über dies und das, größtenteils über Amerika. Harriet wurde dabei ganz melancholisch.
»Nächstes Jahr fahre ich hin«, sagte sie. »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen. Vielleicht fahre ich in die Staaten, um Gelder für unsere Zwecke aufzutreiben. Wir machen häufig solche Werbefeldzüge. Wissen Sie, daß wir von den amerikanischen Juden mehr bekommen, als alle Amerikaner insgesamt für das Rote Kreuz stiften? Doch wozu langweile ich Sie eigentlich mit diesen Dingen. Und Sie wollen also jetzt hier bei uns arbeiten?«
»Leider habe ich meine Zeugnisse nicht bei mir.«
»Die brauchen Sie hier auch gar nicht. Wir wissen genau über Sie Bescheid.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, wir haben ein halbes Dutzend Berichte über Sie bei unseren Akten.«
»Ich weiß nicht, ob ich geschmeichelt oder beleidigt sein soll.« »Seien Sie bitte nicht beleidigt. Das ist nun einmal so in dieser Zeit und in diesem Land. Über alle, die zu uns kommen, müssen wir genau Bescheid wissen. Sie werden feststellen, daß wir hier wirklich eine sehr kleine Gemeinschaft sind und daß es kaum etwas gibt, was nicht an meine alten Ohren dringt. Tatsächlich hatte ich gerade, ehe Sie heute nachmittag hierherkamen, unsere Berichte über Sie gelesen, und ich habe mich dabei gefragt, was Sie eigentlich zu uns geführt hat.«
»Ich bin Kinderpflegerin und weiß, daß Sie Kinderpflegerinnen brauchen.«
Harriet Salzmann schüttelte den Kopf. »Aus diesem Grund kommen keine Außenseiter zu uns. Da muß noch etwas anderes sein. Sind Sie Ari ben Kanaans wegen nach Palästina gekommen?«
»Nein — obwohl ich natürlich etwas für ihn übrig habe.«
»Hundert Frauen haben etwas für ihn übrig. Nur sind Sie zufällig gerade die Frau, für die er etwas übrig hat.«
»Das glaube ich nicht, Harriet.«
»Wirklich nicht? Nun, das freut mich, Katherine. Es ist ein weiter Weg von Yad El bis nach Indiana. Er ist ein Sabre, und nur eine Sabre könnte ihn wirklich verstehen.«
»Sabre?«
»So nennen wir die, die hier im Lande geboren sind. Sabre ist die Frucht eines Kaktus, der überall in Palästina wild wächst. Diese Frucht hat eine harte Schale — doch innen ist sie zart und süß.«
»Das scheint mir eine gute Beschreibung.«
»Ari und die anderen Sabres haben keine Vorstellung, was es bedeutet, in Amerika zu leben — genausowenig wie Sie eine Vorstellung davon haben, wie Aris Leben ausgesehen hat.«
Harriet Salzmann machte eine kurze Pause. Dann sagte sie: »Erlauben Sie mir, ganz offen zu sein. Wenn einer, der kein Jude ist, zu uns kommt, dann kommt er als Freund. Sie gehören nicht zu uns, und Sie kommen auch nicht als Freund. Sie sind eine schöne, wunderschöne Amerikanerin, die völlig verwirrt durch diese sonderbaren Leute ist, die man Juden nennt. Wie kommt es also, daß Sie hier sind?«
»Das ist gar nicht so schwer zu erklären. Ich habe eine große Zuneigung zu einem jungen Mädchen gefaßt, das auf der Exodus hierhergekommen ist. Wir hatten uns schon vorher in Caraolos kennengelernt. Ich habe Angst, der Versuch dieses Mädchens, seinen Vater wiederzufinden, könnte unter Umständen sehr unglücklich ausgehen. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, ihren Vater zu finden, dann möchte ich sie gern adoptieren und nach Amerika mitnehmen.«
»Also, so ist das. Nun, Sie haben mir eine ehrliche Auskunft gegeben, und jetzt wollen wir sachlich miteinander reden. In einem unserer Jugenddörfer im Norden von Galiläa ist die Stelle der Chefpflegerin zu besetzen. Der Ort ist wunderschön gelegen. Der Leiter des Dorfes ist einer meiner ältesten und besten Freunde, Dr. Ernst Liebermann. Das Dorf heißt Gan Dafna. Wir haben dort vierhundert Kinder untergebracht; die meisten von ihnen waren im Konzentrationslager. Sie brauchen dringend jemanden, der sich ihrer annimmt. Ich würde mich freuen, wenn Sie bereit wären, diesen Posten zu übernehmen. Die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen sind sehr gut.«
»Ich — ich wüßte gern —«
»Wo Karen Hansen ist?«
»Woher wissen Sie?«
»Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir hier in einem Dorf sind. Ja, Karen ist in Gan Dafna.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Bedanken Sie sich bei Ari. Er war es, der das alles arrangiert hat. Er wird Sie mit dem Wagen hinbringen. Gan Dafna ist ganz in der Nähe der Siedlung, in der er zu Hause ist.«
Die alte Frau stellte ihre Teetasse hin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Darf ich Ihnen einen letzten gutgemeinten Rat geben?«
»Aber natürlich.«
»Ich habe seit 1933 mit Waisenkindern zusammengearbeitet. Die Zuneigung, die diese Kinder für Palästina entwickeln, ist etwas, das für Sie möglicherweise sehr schwer zu begreifen ist. Wenn die Kinder hier erst einmal die Luft der Freiheit geatmet haben, wenn sie erst einmal von dieser ganz sonderbaren Liebe zu diesem Lande erfüllt sind, dann ist es für sie außerordentlich schwer, wieder von hier fortzugehen, und wenn sie es dennoch tun, dann gelingt es ihnen meist nicht mehr, sich anderswo einzugewöhnen. Sie lieben dieses Land heiß und leidenschaftlich. Die Amerikaner nehmen in Amerika so viele Dinge für selbstverständlich. Hier erwachen die Menschen jeden Morgen zweifelnd und gespannt — und wissen nicht, ob ihnen alles, wofür sie ihren Schweiß und ihr Blut eingesetzt haben, nicht wieder abgenommen wird. Der Gedanke an ihre Heimat ist Tag und Nacht in ihnen lebendig. Palästina ist der Mittelpunkt ihres Lebens, der eigentliche Sinn ihrer Existenz.« »Wollen Sie damit sagen, daß es mir wahrscheinlich nicht gelingen wird, das Mädchen zu überreden, mit mir nach Amerika zu gehen?« »Ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, was Sie bei diesem Versuch alles gegen sich haben.«
Es klopfte an der Tür, Harriet Salzmann sagte: »Herein«, und David ben Ami trat ein.
»Schalom, Harriet. Schalom, Kitty. Ich hörte von Ari, daß ich Sie hier finden würde. Störe ich auch nicht?«
»Nein«, sagte Harriet. »Wir haben schon alles besprochen, was wir zu besprechen hatten. Katherine geht nach Gan Dafna.«
»Na großartig. Ich hatte gedacht, es wäre nicht schlecht, mit Kitty durch Me'a Schäarim zu gehen, wenn der Sabbat beginnt.«
»Das ist eine sehr gute Idee, David«, sagte Harriet.
»Dann gehen wir am besten gleich. Kommen Sie mit, Harriet?« »Diese alten Knochen wollt ihr durch die Stadt schleppen? Das laßt mal schön bleiben. In zwei Stunden liefern Sie Katherine bei mir zum Essen ab.«
Kitty stand auf, gab Harriet Salzmann die Hand, dankte ihr und drehte sich dann zu David um. David stand da und starrte sie an.
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung, David?« fragte Kitty.
»Ich habe Sie noch nie so angezogen gesehen. Sie sehen wunderbar aus.« Er sah verlegen an sich herunter. »Ich weiß gar nicht, ob ich gut genug angezogen bin, um mit Ihnen durch die Stadt zu gehen.« »Aber Unsinn. Ich habe mich nur schick gemacht, weil ich bei meiner neuen Chefin Eindruck schinden wollte.«
»Schalom, Kinder«, sagte Harriet. »Bis nachher.«
Kitty war sehr froh, daß David sie abgeholt hatte. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wohler als mit irgendeinem der anderen Juden. Sie verließen das Gebäude der Zionistischen Siedlungsgesellschaft und überquerten die Straße der Propheten. Kitty nahm seinen Arm. Es schien, als sei David derjenige, der die Stadt besichtigte. Alles, was es in Jerusalem zu sehen gab, entdeckte er ganz neu und freute sich wie ein Kind. »Es ist so schön, wieder hier zu sein«, sagte er. »Wie finden Sie meine Heimatstadt?«
»Gibt es dafür überhaupt Worte? Ich finde, alles ist überwältigend und ein bißchen unheimlich.«
»Ja, genauso ist mir Jerusalem auch immer vorgekommen, schon seit ich ein kleiner Junge war. Diese Stadt ist für mich jedesmal wieder faszinierend und verwirrend.«
»Ich finde es reizend von Ihnen, daß Sie Zeit für mich haben, nachdem Sie so lange nicht zu Hause waren.«
»Wir sind noch nicht alle versammelt«, sagte David. »Ich habe sechs Brüder, müssen Sie wissen. Die meisten von ihnen sind beim Palmach. Ich bin das Nesthäkchen, und deshalb versammelt sich jetzt natürlich die ganze Familie — bis auf einen meiner Brüder. Den werde ich später allein besuchen müssen.«
»Ist er krank?«
»Nein, er ist bei den Makkabäern. Mein Vater erlaubt nicht, daß er unser Haus betritt. Er ist bei Ben Mosche, einem der führenden Männer der Makkabäer. Früher war Ben Mosche mein Professor an der Hebräischen Universität.« David blieb stehen und zeigte hinüber zum Skopusberg, der sich jenseits des Kidron-Tales erhob. »Da, das ist die Universität.«
»Sie fehlt Ihnen sehr, Ihre Universität, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Doch eines Tages wird es mir möglich sein, wieder dort zu arbeiten.«
Es wurde dunkel, ein heiseres Horn ertönte, und durch die Straßen tönte der Ruf: »Sabbat! Sabbat!«
In ganz Jerusalem war der Klang des jahrtausendealten Horns zu hören. David setzte eine kleine Kappe auf und führte Kitty zur Me'a Schäarim — der Straße der hundert Tore, in der die orthodoxen Juden wohnten.
»Hier in Me'a Schäarim können Sie in den Synagogen Männer sehen, die auf die verschiedenste Art und Weise beten. Von den Yemeniten beten einige mit einer schwingenden Bewegung des Oberkörpers, als ob sie auf einem Kamel ritten. Auf diese Weise rächen sich die Juden dafür, daß es ihnen früher verboten war, auf Kamelen zu reiten, weil es nicht anging, daß der Kopf eines Juden den eines Muselmanns überragte.«
»Das ist mir neu.«
»Oder die Nachkommen der spanischen Juden. In der Zeit der Inquisition waren die spanischen Juden, wenn sie nicht den Tod erleiden wollten, gezwungen, den katholischen Glauben anzunehmen. Sie sagten die lateinischen Gebete mit lauter Stimme, doch am Ende eines jeden Satzes beteten sie unhörbar Worte eines hebräischen Gebetes. Deshalb beten sie noch heute am Ende eines jeden Satzes einige Worte schweigend.«
Kitty war sprachlos, als sie in die Straße der hundert Tore einbogen. An beiden Seiten zogen sich zweistöckige Häuser entlang, die alle reich verzierte schmiedeeiserne Gitter vor ihren Balkonen hatten.
Die Männer trugen Bärte und lange Locken, pelzverbrämte Hüte und lange Kaftane aus schwarzem Satin. Man sah Yemeniten in arabischer Kleidung, Kurden, Leute aus Buchara und Perser in bunten Seidengewändern. Alle kamen aus dem rituellen Bad und gingen mit raschen, schwingenden Schritten.
Die Straße leerte sich bald, und alle begaben sich in die Synagogen. Die Synagogen waren meist klein und lagen dicht nebeneinander. Kitty warf durch die vergitterten Fenster einen Blick ins Innere.
Was für seltsame Räume — und was für eigenartige Leute. Kitty sah Männer, die sich klagend und seufzend um das Sefer Thora drängten. Sie sah die milden, verklärten Gesichter der Yemeniten, die mit untergeschlagenen Beinen auf Kissen hockten und mit leiser Stimme beteten. Sie sah alte Männer, die mit dem Oberkörper hin und her schwangen, während sie aus alten, vergilbten Büchern pausenlos und monoton hebräische Gebete zitierten. Wie anders war das alles als in Tel Aviv, und wie weit waren die Menschen hier von den gutaussehenden männlichen und weiblichen Bewohnern dieser neuen jüdischen Stadt entfernt.
»Es gibt bei uns alle möglichen Arten von Juden«, sagte David ben Ami. »Ich wollte Ihnen das hier zeigen, weil ich wußte, daß es Ari nicht tun würde. Er und viele von denen, die im Lande geboren sind, verachten diese alten strenggläubigen Juden. Sie bearbeiten den Boden nicht und lehnen es ab, Waffen zu tragen. Sie sind reaktionär und verhalten sich ablehnend gegen das, was wir aufzubauen versuchen. Und doch, wenn man wie ich längere Zeit hier in Jerusalem gelebt hat, dann lernt man, auch ihnen gegenüber tolerant zu sein, und man begreift, wie schrecklich die Zustände gewesen sein müssen, die Menschen in einen derartigen religiösen Fanatismus treiben konnten.«
Ari ben Kanaan stand im Russischen Viertel in der Nähe der Griechischen Kirche und wartete. Es wurde dunkel. Plötzlich tauchte Bar Israel auf. Ari folgte ihm in eine Nebenstraße, wo ein Taxi hielt. Sie stiegen ein, und Bar Israel brachte ein großes schwarzes Taschentuch zum Vorschein.
»Muß ich das über mich ergehen lassen?«
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Ari, aber Befehl ist Befehl.«
Ari wurden die Augen verbunden. Dann mußte er sich auf den Boden des Wagens legen. Er wurde mit einer Decke zugedeckt. Länger als eine Viertelstunde fuhr das Taxi kreuz und quer, um Ari zu verwirren. Schließlich hielt es an. Ari wurde rasch in ein Haus und in einen Raum geführt; dann durfte er die Binde vor den Augen wieder abnehmen.
Der Raum war leer bis auf einen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Tisch stand eine brennende Kerze, außerdem eine Flasche Brandy und zwei Gläser. Es dauerte eine Weile, bis sich Aris Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Vor ihm an der anderen Seite des Tisches stand sein Onkel Akiba. Sein Bart und sein Haar waren schneeweiß geworden. Er stand gebeugt, und sein Gesicht war voller Falten. Ari ging langsam zu ihm hin und blieb vor ihm stehen. »Onkel Akiba«, sagte er.
»Ari, mein Junge.«
Die beiden umarmten sich, und nur mit Gewalt erwehrte sich der alte Mann seiner Rührung. Akiba nahm die Kerze hoch, hielt sie nahe an Aris Gesicht und lächelte. »Gut siehst du aus, Ari. Du hast deine Sache in Zypern großartig gemacht.«
»Danke, Onkel Akiba.«
»Wie ich höre, bist du mit einem Mädchen hergekommen.«
»Ja, mit einer Amerikanerin, die uns geholfen hat. Sie ist eigentlich kein Freund unserer Sache. Und wie geht es dir, Onkel Akiba?« Akiba zog die Schultern hoch. »So gut, wie man das von einem alten Mann erwarten kann, der sich verborgen halten muß. Es ist lange her, seit ich dich das letztemal gesehen habe, Ari — allzulange. Über zwei Jahre. Es war schön, damals, als Jordana an der Universität studierte. Sie war jede Woche einmal bei mir. Sie muß inzwischen fast Zwanzig sein. Und wie geht es ihr? Ist sie immer noch in diesen Jungen verliebt?«
»Du meinst David ben Ami? Ja, die beiden lieben sich sehr. David war mit mir in Zypern. Er ist eine der größten Hoffnungen unter unseren jungen Leuten.«
»Sein Bruder ist Makkabäer, wie du vielleicht weißt. Und Ben Mosche war sein Lehrer auf der Universität. Vielleicht kann ich ihn einmal kennenlernen.«
»Selbstverständlich.«
»Wie ich höre, ist Jordana beim Palmach.«
»Ja, sie hat die Leitung des Kinderheimes in Gan Dafna, und sie arbeitet bei dem fahrbaren Geheimsender, wenn er von unserer Gegend aus Aufrufe an die arabische Bevölkerung richtet.«
»Dann muß sie oft nach Ejn Or kommen.«
»Ja.« »Hat sie — hat sie jemals erzählt, wie es dort jetzt aussieht?«
»Ejn Or ist so schön, wie es immer war.«
»Vielleicht kann ich es eines Tages einmal wiedersehen.« Akiba setzte sich an den Tisch und schenkte mit unsicherer Hand für sich und Ari ein. Ari nahm ein Glas, und sie stießen miteinander an.
»Le Chajim«, sagte Ari.
»Le Chajim.«
»Ich war gestern bei Avidan, Onkel Akiba. Er zeigte mir die Liste der in Palästina stationierten britischen Streitkräfte. Haben eure Leute diese Liste gesehen?«
»Wir haben gute Freunde beim Britischen Intelligence Service«, sagte Akiba.
Dann stand er auf und fing an, langsam im Raum auf und ab zu gehen. »Haven-Hurst möchte meine Organisation am liebsten ausradieren. Die Engländer lassen es sich etwas kosten, die Makkabäer zu vernichten. Sie foltern unsere Gefangenen, sie hängen sie auf; alle unsere führenden Leute haben sie des Landes verwiesen. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, daß die Makkabäer die einzigen sind, die den Mut haben, den Engländern den Kampf anzusagen — nein, wir müssen außerdem auch noch gegen Verräter unter unseren eigenen Leuten kämpfen. O ja, Ari! Wir wissen sehr genau, daß uns die Hagana verraten und verkauft hat.«
»Das ist nicht wahr, Onkel Akiba!«
»Es ist wahr!«
»Nein! Erst heute war Haven-Hurst beim Jiwusch-Zentralrat und hat verlangt, daß die Hagana gegen die Makkabäer vorgehen soll, doch der Zentralrat hat dieses Ansinnen erneut abgelehnt.«
Akiba ging rascher auf und ab, und sein Zorn stieg. »Was glaubst du wohl, woher die Engländer ihre Informationen bekommen, wenn nicht von der Hagana? Diese Feiglinge beim Zentralrat überlassen es den Makkabäern, zu bluten und zu sterben. Diese Memmen verraten und verkaufen uns!«
»Ich bin nicht bereit, Onkel, mir das länger anzuhören. Die meisten von uns in der Hagana und im Palmach brennen darauf, zu kämpfen. Immer wieder verlangt man von uns, Zurückhaltung zu üben, bis wir nahe daran sind, zu platzen, aber wir können schließlich nicht alles, was wir mühsam aufgebaut haben, gefährden und zerstören.«
»Aber wir, wir zerstören, nicht wahr? Nun sag es schon!«
Ari biß die Zähne zusammen und schwieg. Der alte Mann sprach noch eine Weile zornig weiter, dann brach er plötzlich ab, blieb stehen und ließ die Arme sinken. »Ich bin ein Meister darin, einen Streit anzufangen, wenn ich es gar nicht möchte.«
»Schon gut, Onkel.«
»Es tut mir leid, Ari. Da, trink noch einen Schluck, bitte.«
»Danke, ich möchte nicht mehr.«
Akiba wandte sich ab und fragte leise: »Wie geht es meinem Bruder?«
»Als ich ihn das letztemal sah, ging es ihm gut«, sagte Ari. »Er wird nach London fahren, um an den neuen Verhandlungen teilzunehmen.«
»Ja, der gute Barak. Reden wird er. Er wird reden bis zum Ende.« Akiba fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fragte dann zögernd: »Weiß er eigentlich, daß du mich mit Jordana und Sara gelegentlich besuchst?«
»Doch, ich denke schon.«
Akiba sah seinen Neffen an. Seinem Gesicht war der Kummer anzusehen, der ihn bewegte. »Hat Barak — hat mein Bruder jemals danach gefragt, wie es mir geht?«
»Nein.«
Akiba lachte kurz und bitter, ließ sich auf den Stuhl fallen und schenkte sich noch einen Brandy ein. »Wie sonderbar ist das alles«, sagte er. »Ich war immer derjenige, der böse war, und Barak war immer der, der sich wieder vertrug. Höre, Ari — ich werde alt, sehr alt und sehr müde. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch machen werde, ein Jahr vielleicht, oder vielleicht auch noch zwei. Was wir einander angetan haben, ist durch nichts wiedergutzumachen. Aber — er muß es über sich gewinnen, dieses feindliche Schweigen zu beenden. Er muß mir verzeihen, Ari, um unseres Vaters willen.«
III.
Am nächsten Morgen fuhren Ari und Kitty von Jerusalem aus nach Norden weiter, in das Land Galiläa. Sie fuhren durch arabische Ortschaften, die außerhalb der Zeit zu liegen schienen, und kamen in das fruchtbare Jesreel-Tal, aus dessen sumpfigen Böden die Juden das beste Ackerland im ganzen Nahen Osten gemacht hatten. Als die Straße aus dem Jesreel-Tal dann in Windungen wieder aufwärts nach Nazareth führte, war es, als ob sie sich aus der Gegenwart in die Vergangenheit bewegt hätten. Auf der einen Seite des Berges lagen die grünen Felder des Jesreel-Gebietes, und auf der anderen die kahlen, trockenen und unfruchtbaren Böden der Araber. Nazareth war nicht viel anders, als es Jesus vorgefunden haben mußte.
Ari parkte im Zentrum der Stadt. Er schlug einen Schwarm arabischer Bettler in die Flucht, doch ein kleiner Junge war nicht zu vertreiben.
»Brauchen Sie einen Führer?«
»Nein.«
»Möchten Sie Andenken kaufen? Ich habe Holz vom heiligen Kreuz, Stoff vom Leichentuch.«
»Hau ab.«
»Aktfotos?«
Ari versuchte, den Jungen loszuwerden, doch der ließ nicht locker und hielt Ari am Hosenbein fest. »Oder vielleicht wollen Sie meine Schwester haben? Sie ist noch Jungfrau.«
Ari warf dem Jungen ein Geldstück zu. »Paß auf unseren Wagen auf.«
Nazareth stank. Die Straßen lagen voller Mist. Man begegnete blinden Bettlern und barfüßigen, zerlumpten und verdreckten Kindern. Überall wimmelte es von Fliegen. Kitty hielt sich ängstlich an Aris Arm fest, während sie sich mühsam einen Weg durch die Bazare bahnten und zu der Stelle gingen, von der behauptet wurde, daß dort die Küche der Maria und die Werkstatt des Zimmermannes Joseph gewesen sei.
Als sie von Nazareth weiterfuhren, sagte Kitty: »Welch gräßlicher Ort.«
»Immerhin sind uns dort die Araber freundlich gesinnt«, sagte Ari. »Sie sind Christen.«
»Das mag sein«, sagte Kitty, »aber es sind Christen, die allzu lange nicht gebadet haben.«
Kitty versuchte, die Fülle der neuen Eindrücke zu verarbeiten, die die letzten paar Tage gebracht hatten. Es war ein so kleines Land, doch jeder Fußbreit des Bodens war getränkt mit dem Blut oder dem Ruhm der Vergangenheit. Bald war man von der Heiligkeit des Ortes ergriffen, und bald wieder schlug die Ergriffenheit in Entsetzen und Befremden um. Einige der heiligen Stätten ließen sie ehrfürchtig verstummen, und andere ließen sie so unberührt, als sähen sie einem Mummenschanz zu. Die wehklagenden, inbrünstig betenden Juden von Me'a Schäarim — und die brennende Raffinerie von Haifa. Die provozierend selbstsicheren »Sabres« von Tel Aviv — und die bäuerliche Bevölkerung des Jesreel-Gebietes. Das Alte und das Neue auf engem Raum zusammengedrängt. Wohin man sah, überall Widersprüche und Gegensätze.
Es war schon fast Abend, als sie Yad El erreichten. Ari hielt vor einem kleinen, mit vielen Blumen geschmückten Haus. Die Haustür öffnete sich, und Sara ben Kanaan kam eilig herangelaufen. »Ari! Ari!« rief sie und umarmte ihren Sohn.
»Schalom, Ima.«
»Ari, Ari, Ari —«
»Nun, weine doch nicht, Ima — nicht weinen.«
Jetzt erschien die mächtige Gestalt Barak ben Kanaans, der eilig herankam und Ari in seine Arme schloß.
»Schalom, Aba, Schalom!«
Der alte Riese schlug seinem Sohn auf den Rücken und sagte immer wieder: »Gut siehst du aus, Ari, gut siehst du aus.«
Sara musterte das Gesicht ihres Sohnes. »Müde ist er. Siehst du denn gar nicht, Barak, wie abgespannt und erschöpft er ist?«
»Nein, Ima«, sagte Ari, »mir geht es prima. Übrigens, ich habe jemanden mitgebracht. Darf ich vorstellen — Mrs. Katherine Fremont. Sie wird ab morgen in Gan Dafna arbeiten.«
»Sie also sind Katherine Fremont«, sagte Barak und nahm ihre Hand in seine beiden mächtigen Pranken. »Willkommen in Yad El.«
»Nein, Ari, was bist du für ein dummer Kerl«, sagte seine Mutter. »Warum hast du nicht angerufen und uns gesagt, daß du Mrs. Fremont mitbringst? Aber kommen Sie, kommen Sie herein — machen Sie es sich bequem, ziehen Sie sich um, inzwischen werde ich ein bißchen was zu essen machen, und Sie werden sich wohler fühlen. Du bist so ein dummer Kerl, Ari.« Sara legte den Arm um Kitty und führte sie zum Haus. »Barak! Bring den Koffer von Mrs. Fremont herein.«
Jordana bat Kanaan stand in dem Freilichttheater vor der Schar der neu angekommenen Kinder von der Exodus. Sie war groß und stand fest und aufrecht auf langen, gutgeformten Beinen. Mit ihrem roten Haar, das ihr offen auf den Rücken herabhing, war sie von auffallender Schönheit. Sie war neunzehn Jahre alt und seit ihrem Abgang von der Universität beim Palmach. Man hatte sie nach Gan Dafna abkommandiert, damit sie dort die Leitung der Gruppe übernehme, in der alle Angehörigen des Jugenddorfes über Vierzehn militärisch ausgebildet wurden. Gan Dafna war außerdem eines der wichtigsten heimlichen Waffenlager. Von hier aus wurden die Waffen in die Siedlungen des Hule-Gebietes geschmuggelt. Jordana arbeitete auch bei dem Geheimsender, wenn er im Hule-Gebiet stationiert war. Sie wohnte in Gan Dafna und schlief in ihrem Büro.
»Ich bin Jordana bat Kanaan«, erklärte sie den Kindern von der Exodus. »Ich bin euer Gadna-Kommandeur. Ihr werdet in den nächsten Wochen lernen, Spionage zu treiben, Nachrichten zu übermitteln und Waffen zu reinigen. Ihr werdet lernen, mit diesen Waffen zu schießen, mit Stöcken zu fechten, und wir werden auch mehrere Geländemärsche machen. Ihr seid jetzt in Palästina, und ihr braucht euch von nun an nie mehr zu ducken oder zu fürchten, weil ihr Juden seid. Wir werden hart arbeiten, denn Erez Israel braucht euch.«
Als Jordana einige Zeit später in das Verwaltungsgebäude kam, wurde sie zum Telefon gerufen. Am Apparat war ihre Mutter, die ihr Aris Ankunft mitteilte.
Jordana rannte in den Pferdestall, holte den weißen Araberhengst ihres Vaters heraus, saß auf und galoppierte ohne Sattel die Straße entlang, auf Abu Yesha zu, daß ihr rotes Haar im Wind wehte.
Sie sprengte durch die Hauptstraße des Araberdorfes, wo sich ein Dutzend Leute eiligst in Sicherheit brachte. Die Männer, die vor dem Kaffeehaus saßen, sahen ihr giftig nach. Welche Unverschämtheit besaß diese rothaarige Hure! Sie wagte es, in kurzen Hosen durch die Straßen ihres Ortes zu reiten! Ein Glück für sie, daß sie Baraks Tochter und Aris Schwester war!
Ari nahm Kitty bei der Hand und führte sie nach draußen. »Kommen Sie«, sagte er, »ich möchte Ihnen unsere Farm zeigen, bevor es dunkel wird.«
»Haben Sie auch genug zu essen bekommen, Mrs. Fremont?«
»Mehr als genug.«
»Und sind Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden?«
»Danke, ich finde alles ganz wunderbar, Mrs. Ben Kanaan.«
»Also, bleibt nicht zu lange. Wenn Jordana kommt, wollen wir zu Abend essen.«
Sara und Barak sahen den beiden nach, als sie zusammen fortgingen, und dann sah Sara Barak an. »Sie ist sehr schön«, sagte sie. »Aber eine Frau für unseren Ari?«
»Hör endlich auf, eine jiddische Mamme zu sein. Dauernd machst du Heiratspläne für Ari«, sagte Barak.
»Was redest du denn da, Barak? Hast du nicht gesehen, wie er sie ansieht? Kennst du deinen eigenen Sohn noch immer nicht?«
Ari ging mit Kitty durch Saras Garten zu einem niedrigen Gartenzaun. Er stellte den Fuß auf die Querleiste und sah hinaus über die Felder von Yad El. Die Wassersprüher drehten sich und verbreiteten feuchte Kühle, während die Blätter der Obstbäume sacht in der abendlichen Brise bebten. Die Luft war erfüllt vom Duft der Winterrosen, die in Saras Garten blühten.
Kitty sah Ari an, wie er dastand und auf sein Land sah. Zum erstenmal in der ganzen Zeit, seit sie Ari ben Kanaan kannte, schien er innerlich ruhig und entspannt zu sein.
»Natürlich nicht mit Ihrem Indiana zu vergleichen«, sagte Ari.
»Oh«, sagte Kitty, »es macht sich.«
»Na ja, schließlich brauchtet ihr ja auch keinen Sumpf zu entwässern, um Indiana darauf zu errichten.« Ari hatte eine ganze Menge auf dem Herzen. Er hätte Kitty gern gesagt, wie sehr er sich danach sehnte, nach Haus zu kommen, um als Landwirt seinen Grund und Boden bearbeiten zu können. Er hätte sie gern gebeten, zu begreifen, was es für die Juden bedeutete, so ein Stück Land zu besitzen. Kitty stand neben ihm über den Zaun gelehnt und bewunderte die Leistung, die Yad El darstellte. Sie sah wunderbar aus. Ari hätte sie sehr gern in die Arme genommen, doch er tat und sagte nichts. Schweigend gingen beide am Zaun entlang, bis sie zu den Wirtschaftsgebäuden kamen, wo sie das Gackern der Hühner und das Schnattern einer Gans begrüßte. Er machte das Gatter auf. Die obere Angel war gebrochen.
»Das muß ausgebessert werden«, sagte er. »Alles mögliche muß hier bei uns ausgebessert werden. Ich bin dauernd unterwegs, und Jordana ist auch nicht zu Hause. Mein Vater muß so oft verreisen, um an Konferenzen teilzunehmen. Ich fürchte, das Anwesen der Familie Ben Kanaan ist eine Sache geworden, um die sich die Gemeinschaft wird kümmern müssen. Aber eines Tages werden wir alle wieder zu Hause sein, und dann sollen Sie etwas kennenlernen, etwas, das sich wirklich sehen lassen kann.«
Sie gingen an der Scheune, dem Hühnerhaus und dem Geräteschuppen vorbei bis an den Rand der Felder. Ari zeigte mit der Hand auf die Berge in der Nähe der libanesischen Grenze. »Von hier aus können Sie Gan Dafna sehen«, sagte er.
»Die weißen Häuser da?«
»Nein, das ist Abu Yesha, ein Araberdorf. Gan Dafna liegt rechts davon, ein Stück höher, auf dem Plateau mit den Bäumen.«
»Ja, jetzt sehe ich es. Mein Gott, das liegt ja wirklich in den Wolken. Und was ist das für ein Gebäude, das dahinter auf dem Gipfel des Berges liegt?«
»Das ist Fort Esther, eine britische Grenzbefestigung. Aber kommen Sie, ich muß Ihnen noch etwas zeigen.«
Sie gingen in der sinkenden Dämmerung durch die Felder. Die untergehende Sonne ließ die Hänge der Berge in seltsamen Farben erglühen. Am Ende der Felder kamen sie zu einer Waldung und zu einem Fluß, dessen Wasser dem Hule-See zuströmten.
»Von diesem Fluß singen eure Farbigen in Amerika sehr schöne Spirituals.«
»Ist das der Jordan?«
»Ja.«
Ari kam dicht an Kitty heran, und beide sahen sich ernst und feierlich an. »Gefällt es Ihnen?« fragte Ari. »Und mögen Sie meine Eltern?«
Kitty nickte wortlos. Sie wartete darauf, daß Ari sie in seine Arme nahm. Seine Hände berührten ihre Schultern.
»Ari! Ari! Ari!« rief jemand laut in ihrer Nähe. Ari ließ Kitty los und drehte sich um. Ein Reiter kam im Galopp auf sie zu, direkt aus der untergehenden roten Sonne.
»Jordana!« rief Ari.
Sie zügelte das schäumende Pferd, warf beide Arme hoch, stieß einen Freudenschrei aus, sprang ab und warf sich mit solchem Schwung auf Ari, daß beide zu Boden stürzten. Jordana bedeckte Aris Gesicht mit Küssen.
»Hör auf!« rief er abwehrend.
»Ari! Ich küss' dich tot!«
Jordana kitzelte ihn, und beide rollten wie Ringkämpfer am Boden herum. Schließlich mußte Ari sie auf den Rücken legen und festhalten. Kitty betrachtete fröhlich das Schauspiel der Geschwister. Doch dann bemerkte Jordana plötzlich, daß jemand zusah, und ihre Miene wurde ernst. Ari, der Kitty in der Freude fast vergessen hatte, lächelte verlegen, gab Jordana die Hand und half ihr auf die Beine. »Meine überspannte Schwester. Ich vermute, sie hat mich mit David ben Ami verwechselt.«
»Guten Tag, Jordana«, sagte Kitty. »Mir ist, als kenne ich Sie schon; so viel hat mir David von Ihnen erzählt.«
»Und Sie sind Katherine Fremont. Ich habe von Ihnen auch schon gehört.«
Die beiden gaben sich die Hand, doch die Begrüßung war kühl, und Kitty wußte nicht was sie davon halten sollte. Jordana wandte sich rasch ab, nahm ihr Pferd beim Zügel und führte es zum Haus, während Ari und Kitty hinterherkamen.
Jordana sah über die Schulter zurück und fragte Ari: »Weißt du was von David?«
»Er ist für ein paar Tage in Jerusalem. Er bat mich, dir auszurichten, daß er dich heute abend anrufen würde. Er wird gegen Ende der Woche herkommen, falls du es nicht vorziehst, ihn in Jerusalem zu treffen.«
»Ich kann nicht fort, jetzt, da diese Neuen nach Gan Dafna gekommen sind.«
»Ja«, sagte Ari und blinzelte Kitty dabei zu, »da fällt mir eben ein — ich war in Tel Aviv bei Avidan. Er sagte da irgendwas — was war es eigentlich noch —, richtig, daß David nach Ejn Or zur Brigade Galiläa versetzt werden sollte.«
Jordana drehte sich um. Ihre blauen Augen wurden groß, und sie war einen Augenblick lang unfähig, etwas zu sagen. »Ari, ist das wirklich wahr? Oder machst du dich über mich lustig?«
Ari zog die Schultern hoch und sagte nur: »Dumme Gans.«
»Du Scheusal! Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Ich wußte nicht, daß es so wichtig war.«
Jordana war drauf und dran, sich erneut auf Ari zu stürzen und wieder einen Ringkampf mit ihm anzufangen; doch Kittys Anwesenheit hielt sie offensichtlich zurück. »Ich bin glücklich«, sagte sie.
Kitty wurde abermals genötigt, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, und sie tat ihr Bestes, weil eine Ablehnung einem internationalen Zwischenfall gleichgekommen wäre. Als das Abendessen beendet war, belud Sara alle Tische mit Speisen zur Bewirtung der Gäste, die man erwartete.
An diesem Abend kamen fast alle Leute von Yad El in das Heim der Familie Ben Kanaan, um Ari zu begrüßen und um ihre Neugier auf die Amerikanerin zu befriedigen. Die Besucher, die hebräisch flüsternd aufgeregte Vermutungen anstellten, waren rauhe, aber herzliche Leute. Sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, Kitty als Ehrengast zu behandeln. Ari hielt sich den ganzen Abend über in ihrer Nähe auf, um sie gegen einen Schwall von Fragen in Schutz zu nehmen, aber er mußte staunend feststellen, wie leicht Kitty mit den Neugierigen, die sie bedrängten, fertigzuwerden verstand.
Im Verlauf des Abends wurde die kühle Ablehnung, die Jordana gegenüber Kitty vom ersten Augenblick an gezeigt hatte, immer deutlicher. Kitty konnte Jordanas feindlicher Miene geradezu ablesen, daß sie dachte: Was bist du für eine Frau, die du meinen Bruder haben willst?
Genau das war es auch, was Jordana bat Kanaan dachte, während sie Kitty beobachtete, die eine vollendete Vorstellung gab und die neugierigen Farmer von Yad El bezauberte. Sie fand, Kitty sah genauso aus wie all diese unnützen Luxuspuppen, die Frauen der englischen Offiziere, die ihre Zeit damit verbrachten, sich zum Tee zu treffen und zu schwatzen.
Es war schon sehr spät, als der letzte Gast gegangen war und Ari und Barak endlich allein miteinander reden konnten. Sie sprachen ausschließlich über ihre Farm. Obwohl Ari, Jordana und Barak so lange nicht dagewesen waren, stand alles gut, weil der Moschaw nach dem Rechten gesehen hatte.
Barak suchte in dem Gewirr von Gläsern, Schüsseln und Tellern nach einer Flasche, in der vielleicht noch ein Restchen Cognak übriggeblieben war, und schenkte sich und seinem Sohn ein Glas ein. Dann ließen sich beide behaglich nieder und streckten die Beine von sich.
»Also, wie steht es denn nun mit deiner Mrs. Fremont? Wir sind alle mächtig neugierig!«
»Tut mir leid, aber da muß ich dich enttäuschen. Sie ist in Palästina wegen eines Mädchens, das mit der Exodus hergekommen ist. Soviel mir bekannt ist, möchte sie die Kleine später gern adoptieren. Wir beide sind gute Freunde.« »Und sonst nichts?«
»Nichts.«
»Sie gefällt mir, Ari. Sie gefällt mir sehr gut, aber sie ist keine von uns. Warst du in Tel Aviv bei Avidan?«
»Ja. Ich werde für die nächste Zeit höchstwahrscheinlich bei dem Palmach-Kommando in Ejn Or bleiben. Ich soll eine Schätzung über unsere militärische Stärke in den Siedlungen anstellen.«
»Das freut mich. Du bist so lange fortgewesen, daß es deiner Mutter guttun wird, dich eine Weile verwöhnen zu können.«
»Und was ist mit dir, Vater?«
Barak strich sich über seinen roten Bart. »Avidan hat mich gebeten, nach London zu fahren, um an den Konferenzen teilzunehmen.«
»Das hatte ich mir schon gedacht.«
»Es bleibt uns natürlich gar nichts anderes übrig, als auch weiterhin auf der Stelle zu treten und zu versuchen, einen politischen Sieg zu erringen. Auf eine militärische Auseinandersetzung können wir uns nicht einlassen. Also werde ich nach London fahren und dort meinen kleinen Beitrag leisten. Ich tue das sehr ungern, denn ich komme allmählich doch zu der Überzeugung, daß die Engländer uns eines schönen Tages endgültig verraten und verkaufen werden.«
Ari stand auf und ging unruhig im Raum hin und her. Es tat ihm beinahe leid, daß ihn Avidan nicht mit einem neuen Auftrag fortgeschickt hatte. Wenn er Tag und Nacht daran arbeitete, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, dann hatte er wenigstens keine Zeit, darüber nachzudenken, in welcher bedrohlichen Situation sich der Jischuw befand.
»Du solltest übrigens mal nach Abu Yesha gehen und mit Taha reden«, sagte Barak.
»Ich hatte mich schon gewundert, daß er heute abend nicht da war. Stimmt mit ihm irgend etwas nicht?«
»Nur das, was mit dem ganzen Lande nicht stimmt. Zwanzig Jahre lang haben wir mit den Leuten von Abu Yesha in Frieden gelebt. Kammal war viele Jahre lang mein Freund. Und jetzt — eine spürbare Kälte. Wir kennen die Leute alle beim Vornamen, wir sind bei ihnen ein- und ausgegangen, und sie haben unsere Schulen besucht. Wir haben gemeinsame Hochzeiten gefeiert. Ari, diese Menschen sind unsere Freunde. Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist — jedenfalls muß es geradegebogen werden.«
»Ich werde morgen mit ihm reden, wenn ich Mrs. Fremont nach Gan Dafna gebracht habe.«
Ari lehnte am Bücherschrank, in dessen Fächern die Werke der Klassiker in hebräischer, englischer, französischer, deutscher und russischer Sprache nebeneinander standen. Er strich mit dem Finger über die Buchrücken, zögerte einen Augenblick, drehte sich dann plötzlich um und sah Barak an. »Ich habe Akiba in Jerusalem getroffen.«
Barak zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Unwillkürlich öffnete er den Mund, aber er unterdrückte die Frage, wie es seinem Bruder gehe. »Hier in meinem Hause wollen wir diesen Namen nicht erwähnen«, sagte er leise.
»Er ist alt geworden, Vater. Er hat nicht mehr allzulange zu leben. Er bittet dich im Namen eures Vaters, du möchtest dich mit ihm versöhnen.«
»Ich will nichts davon hören!« rief Barak mit bebender Stimme. »Sind fünfzehn Jahre des Schweigens nicht lange genug?«
Barak erhob sich in seiner ganzen Größe und sah seinem Sohn in die Augen. »Er hat Zwietracht zwischen Juden und Juden gesät. Jetzt säen die Makkabäer Zwietracht zwischen den Leuten von Abu Yesha und uns. Möge ihm Gott verzeihen — doch ich kann ihm nicht verzeihen — niemals.«
»Bitte, hör mich an!«
»Gute Nacht, Ari.«
Am nächsten Morgen nahm Kitty Abschied von der Familie Ben Kanaan, und Ari fuhr mit ihr hinauf in die Berge nach Gan Dafna. In Abu Yesha hielt Ari einen Augenblick an, um Taha auszurichten, daß er ihn in ungefähr einer Stunde auf dem Rückweg besuchen werde.
Als sie von Abu Yesha aus weiter in die Berge fuhren, wurde Kitty immer ungeduldiger, Karen wiederzusehen. Gleichzeitig aber machte sie sich Sorgen, was in Gan Dafna geschehen werde. War Jordana nur eine eifersüchtige Schwester, oder war sie die typische Vertreterin einer Art von Menschen, die ihr infolge der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede feindlich gegenüberstand? Harriet Salzmann hatte sie gewarnt und ihr gesagt, daß sie ein Außenseiter war, der in Palästina nichts zu suchen habe. Alles schien dieses Außenseitertum zu unterstreichen. Der Gedanke an Jordana machte Kitty unruhig. Sie hatte sich bemüht, zu allen Leuten gleichmäßig freundlich zu sein; vielleicht aber zog sie innerlich doch eine Trennungslinie und machte daraus allzuwenig Hehl. Ich bin nun einmal so, wie ich bin, dachte Kitty, und dort, wo ich herkomme, wird jeder nach dem beurteilt, was er darstellt.
Sie fuhren durch die Einsamkeit der Berglandschaft, und Kitty fühlte sich allein und war verzagt.
»Werden wir uns gelegentlich sehen?« fragte sie.
»Von Zeit zu Zeit. Legen Sie denn Wert darauf?«
»Ja.«
»Dann werde ich versuchen, es einzurichten.«
Der Wagen bog um die letzte Kurve, und vor ihnen öffnete sich das Plateau von Gan Dafna. Dr. Liebermann, das Orchester des Jugenddorfes, die Angehörigen der Lagerleitung und des Lehrkörpers und die fünfzig Kinder von der Exodus waren in der Mitte der Grünfläche um die Statue von Dafna versammelt. Kitty Fremont wurde mit warmer und spontaner Herzlichkeit begrüßt, und ihre Befürchtungen waren im Augenblick verflogen. Karen lief auf sie zu, umarmte sie und überreichte ihr einen Strauß Winterrosen. Und dann war Kitty von »ihren« Exodus-Kindern umringt. Sie wandte den Kopf und sah Ari nach, bis der Wagen um die Biegung der Straße verschwunden war.
Als die Begrüßungszeremonie vorbei war, gingen Dr. Liebermann und Karen mit Kitty einen von Bäumen eingesäumten Weg entlang, an dem hübsche kleine Häuser mit zwei oder drei Räumen standen, in denen die Angehörigen des Stabes wohnten. Ungefähr in der Mitte des Weges blieben sie vor einem kleinen Haus mit weißen Wänden stehen, das in einem Meer von Blumen fast verschwand.
Karen rannte vor, machte die Tür auf und hielt den Atem an, als Kitty langsam hineinging. Das Wohn- und Schlafzimmer war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. Die Vorhänge und die Decke über der Couch waren aus dickem Negev-Leinen, und überall standen Vasen mit frischgeschnittenen Blumen. Quer durch den Raum war ein Spruchband gespannt, das die Kinder von der Exodus gemacht hatten, mit der Aufschrift: SCHALOM KITTY.
Karen lief zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Man hatte eine wunderbare Aussicht auf die sechshundert Meter tiefer gelegene Talsohle. Das Haus enthielt einen großen Raum, ein kleines Studio, außerdem eine kleine Küche und ein Bad. Alles war wunderschön und mit viel Liebe hergerichtet. Kitty lächelte gerührt.
Dr. Liebermann schob Karen freundlich zur Tür hinaus und versicherte ihr beruhigend, daß sie Mrs. Fremont später noch sehen würde.
»Auf Wiedersehen, Kitty.« »Auf Wiedersehen, Liebes.«
»Nun«, fragte Dr. Liebermann, als sie allein waren, »wie gefällt es Ihnen?«
»Ich glaube, ich werde mich hier sehr wohl fühlen.«
Dr. Liebermann setzte sich auf den Rand der Couch. »Als Ihre Kinder von der Exodus hörten, daß Sie nach Gan Dafna kommen würden, haben sie Tag und Nacht gearbeitet. Sie haben das Haus frisch gestrichen, sie haben die Gardinen genäht, sie haben Blumen gepflanzt — sämtliche Blumen, die es in Gan Dafna gibt, befinden sich auf dem Rasen vor Ihrem Haus. Sie haben sich mächtig angestrengt. Die Kinder lieben Sie sehr.«
Kitty war sehr gerührt. »Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe.«
»Kinder haben ein sehr sicheres Gefühl dafür, wer es wirklich gut mit ihnen meint. Haben Sie Lust, sich jetzt Gan Dafna anzusehen?« »Ja, sehr gern.«
Zusammen mit Dr. Liebermann, der sie um Haupteslänge überragte, ging Kitty zu dem Verwaltungsgebäude zurück. Dr. Liebermann hielt im Gehen die Hände auf dem Rücken. Manchmal klopfte er seine Taschen auf der Suche nach einer Streichholzschachtel ab, um seine Pfeife anzuzünden.
»Ich bin 1933 aus Deutschland hierhergekommen. Mir war sehr bald klar, was kommen würde. Meine Frau ist kurz nach unserer Ankunft hier gestorben. Dann war ich Professor für klassische Philologie an der Universität in Jerusalem, bis mich Harriet Salzmann im Jahre 1940 fragte, ob ich nicht Lust hätte, hier oben ein Jugend-Aliyah-Dorf zu gründen. Das war genau das, was ich schon seit vielen Jahren gewünscht hatte. Dieses ganze Hochplateau wurde uns von dem verstorbenen Muktar von Abu Yesha geschenkt. Übrigens — haben Sie ein Streichholz?«
»Nein, tut mir leid.«
»Macht nichts. Ich rauche ohnehin zuviel.«
Sie kamen zu der Grünfläche in der Mitte des Dorfes. Von hier aus hatte man die beste Aussicht auf das Hule-Tal. »Unsere Felder liegen unten im Tal. Das Land wurde uns von dem Moschaw Yad El zur Verfügung gestellt.«
Sie blieben vor der Statue stehen. »Das ist Dafna. Sie stammte aus Yad El und fand als Angehörige der Hagana den Tod. Ari ben Kanaan hat sie sehr geliebt. Unser Dorf ist nach ihr benannt.«
Kitty durchzuckte es wie — ja, wie Eifersucht. Selbst als Statue war Dafna noch eine Rivalin, ihre bronzene Figur war von der gleichen rustikalen Derbheit, wie sie Jordana und die anderen Mädchen von Yad El besaßen, die gestern abend bei Ben Kanaans gewesen waren. Dr. Liebermann nahm Kitty am Arm und führte sie weiter. »Sehen Sie dort die Wohnhäuser der Kinder?«
»Ja.«
»Sie werden feststellen, daß alle Fenster auf die Felder unten im Tal gehen, so daß ihr erster Blick am Morgen und der letzte am Abend auf die Erde fällt, die sie bearbeiten. Die Hälfte des Unterrichts und der Ausbildung betrifft die Landwirtschaft. Von unserem Jugenddorf hier sind Gruppen aufgebrochen, die allein oder zusammen mit anderen vier neue Kibbuzim gegründet haben. Alles, was wir an pflanzlicher und tierischer Nahrung brauchen, erzeugen wir selbst. Wir weben sogar die Stoffe für einen großen Teil unserer Kleidung. Wir machen unsere Möbel selbst, und wir reparieren unsere landwirtschaftlichen Maschinen in unseren eigenen Werkstätten. Alle diese Arbeiten werden von den Kindern verrichtet. Sie haben auch ihre eigene Verwaltung, und eine sehr gute sogar.«
Sie kamen am anderen Ende der Grünfläche an. Unmittelbar hinter dem Verwaltungsgebäude wurde der schöne Rasenteppich jäh durch einen langen Schützengraben unterbrochen, der sich rings um die ganze Anlage zog. Als Kitty sich umblickte, sah sie weitere Laufgräben und einen Unterstand.
»Das ist nicht sehr schön«, sagte Dr. Liebermann, »und unsere Kinder begeistern sich nach meinem Geschmack viel zu sehr für kriegerisches Heldentum. Doch ich fürchte, das wird so bleiben müssen, bis wir unsere Unabhängigkeit erreicht und unsere Existenz auf etwas gegründet haben, das menschlicher ist als Waffen.«
Ari stand in dem hohen Wohnraum Tahas, des Muktars von Abu Yesha. Der junge Araber, sein langjähriger Freund, aß ein Stück Obst, das er von einer großen Schale genommen hatte, und folgte Ari, der unruhig im Raum auf und ab ging, mit seinem Blick.
»Bei den Konferenzen in London gibt es genug doppelzüngiges Gerede«, sagte Ari. »Ich finde, wir beide sollten offen miteinander reden.«
Taha warf das Obst zurück auf die Schale. »Wie soll ich es dir erklären, Ari? Man hat versucht, mich unter Druck zu setzen, doch ich habe mich nicht beeinflussen lassen.«
»Nein? Taha, du redest mit Ari ben Kanaan.« »Die Zeiten ändern sich.«
»Hör mal, Taha — eure und unsere Leute haben zweimal eine Zeit der Unruhen und Aufstände durchgemacht. Du bist in Yad El zur Schule gegangen, hast in meinem Elternhaus gewohnt und unter dem Schutz meines Vaters gestanden.«
»Ja, daß ich am Leben blieb, verdanke ich eurem Wohlwollen. Soll jetzt aber mein ganzes Dorf von eurem Wohlwollen abhängig sein? Ihr bewaffnet euch. Dürfen wir uns nicht auch bewaffnen? Oder traut ihr uns nicht mehr, wenn wir Gewehre haben? Wir haben euch vertraut!«
»Bist das wirklich du, der so zu mir spricht?«
»Ich wünsche, den Tag nicht zu erleben, an dem du und ich vielleicht einmal gegeneinander werden kämpfen müssen. Aber du weißt, daß die Passivität für uns beide leider eine Sache der Vergangenheit ist.«
Ari fuhr herum. »Was ist eigentlich in dich gefahren, Taha?« rief er zornig. »Also gut — dann darf ich dich vielleicht noch einmal daran erinnern. Diese steinernen Häuser in euerm Dorf wurden von uns entworfen und gebaut. Uns verdanken es eure Kinder, wenn sie jetzt lesen und schreiben können. Uns verdankt ihr es, daß ihr eine Kanalisation habt und daß eure Kinder nicht mehr sterben, bevor sie das Alter von sechs Jahren erreicht haben. Wir haben euch beigebracht, wie man den Boden vernünftig bearbeitet und wie man ein menschenwürdiges Leben führt. Wir haben euch Dinge verschafft, die euch eure eigenen Leute tausend Jahre lang nicht geben wollten. Dein Vater wußte das, er war überlegen genug, zuzugeben, daß der schlimmste Feind und Ausbeuter des Arabers der Araber ist. Er starb, weil er wußte, daß es zu eurem eigenen Besten ist, mit den Juden in Freundschaft zu leben, und weil er Manns genug war, zu dieser Einsicht zu stehen.«
Taha sprang auf. »Kannst du mir vielleicht garantieren, daß die Makkabäer nicht noch in dieser Nacht nach Abu Yesha kommen und uns alle umbringen?«
»Du weißt so gut wie ich, daß ich dir das nicht garantieren kann. Aber du weißt auch, daß die Makkabäer ebensowenig die Gesamtheit der Juden vertreten wie der Mufti die Gesamtheit der Araber.«
»Ich werde niemals meine Hand gegen Yad El erheben, Ari. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Ari ging. Er wußte, daß es Taha ernst mit dem gewesen war, was er gesagt hatte; doch Taha hatte nicht das Format, das sein Vater Kammal gehabt hatte. Gewiß, sie hatten einander Frieden zugesichert, und doch war ein Riß zwischen Yad El und Abu Yesha entstanden, genau wie bei allen anderen arabischen und jüdischen Ortschaften, die bisher friedlich nebeneinander gelebt hatten.
Taha sah seinem Freund nach, der das Haus verließ und zu der Straße ging, die nahe bei dem Fluß an der Moschee vorbeiführte. Er stand noch lange regungslos und nachdenklich, nachdem Ari verschwunden war. Von Tag zu Tag wurde der Druck, den man auf ihn ausübte, heftiger, und sogar in seinem eigenen Dorf meldeten sich unzufriedene Stimmen. Man machte ihm klar, daß er ein Araber und ein Moslem war und klar und eindeutig Stellung beziehen müsse. Was sollte er tun?
IV.
Dr. Ernst Liebermann, diesem komischen kleinen Mann mit dem Buckel, war es gegeben, eine grenzenlose Menschenliebe in Gan Dafna in die Wirklichkeit umzusetzen. Die ganze Atmosphäre war hier so gelockert wie in einem Ferienlager. Man ließ den Jugendlichen in ihrem Tun und Denken völlige Freiheit. Der Unterricht fand im Freien statt. Jungens und Mädchen lagen dabei in kurzen Hosen auf dem Rasen herum und waren so auch während des theoretischen Unterrichts der Natur nahe.
Die Bewohner des von Dr. Liebermann geleiteten Jugenddorfes kamen aus dem denkbar finstersten Milieu, aus dem Ghetto und dem Konzentrationslager. Dennoch war die Disziplin in Gan Dafna vorbildlich. Gehorsamsverweigerung gab es nicht. Diebstahl war unbekannt, und sexuelle Schwierigkeiten waren selten. Gan Dafna bedeutete für die Kinder alles, und ihre Antwort auf die Liebe, die ihnen hier entgegengebracht wurde, war die stolze Würde, mit der sie sich einordneten und ihre Gemeinschaft selbst regierten.
Der Rahmen dessen, was in Gan Dafna gelehrt, gelernt und gedacht wurde, war außerordentlich weit gespannt. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß die Mitglieder dieser Akademie Halbwüchsige waren. Die Bibliothek reichte von Thomas von Aquino bis zu Freud. Kein Buch war verboten, kein Thema schien zu hoch oder zu frei. Die Kinder waren politisch von einer Aufgeschlossenheit, die weit über ihre Jahre hinausging.
Der erste und wichtigste Lehrsatz, den die Erzieher ihren Schützlingen einzuprägen vermochten, war, daß ihr Leben einen
Sinn hatte, daß es auf ein Ziel gerichtet war.
Gan Dafna hatte einen internationalen Lehrkörper, dessen
Angehörige aus zweiundzwanzig verschiedenen Ländern kamen. Kitty war die einzige Nichtjüdin und die einzige Amerikanerin, und das hatte zur Folge, daß man ihr ebenso zurückhaltend wie freundlich begegnete.
Ihre ursprünglichen Befürchtungen, daß sie auf feindliche Ablehnung stoßen werde, erwiesen sich als unbegründet. Die geistig aufgeschlossene Atmosphäre, die in Gan Dafna herrschte, machte diesen Ort mehr zu einer Universität als zu einem Waisenheim. Kitty wurde als Mitglied eines Teams willkommen geheißen, dessen oberstes Anliegen das Wohl der Kinder war. Mit vielen ihrer Kollegen freundete sie sich sehr an. Sie fühlte sich im Umgang mit ihnen wohl. Auch der Umstand, daß es sich um ein jüdisches Jugenddorf handelte, war unwesentlicher als sie gedacht hatte. Das Judentum beruhte in Gan Dafna mehr auf dem Nationalbewußtsein als auf religiöser Basis. Die rituellen Formen wurden hier nicht sehr beachtet; es gab nicht einmal eine Synagoge.
Obwohl sich die Berichte über blutige Ausschreitungen in allen Teilen Palästinas häuften, gelang es, Furcht und Sorge von Gan Dafna fernzuhalten. Doch auch hier war die Umwelt nicht frei von den sichtbaren Zeichen der Gefahr. Ein Stück oberhalb von Gan Dafna lag die Grenze. Beständig hatte man Fort Esther vor Augen. Die Schützengräben, die Unterstände, die Waffen und die militärische Ausbildung waren nicht zu übersehen.
Das Gebäude der medizinischen Abteilung lag in dem Verwaltungsbezirk am Rande der Grünfläche. Es umfaßte eine Abteilung für die ambulante Behandlung, eine gut eingerichtete Krankenstation mit zwanzig Betten und einen Operationsraum. Der Arzt, der gleichzeitig auch Yad El betreute, kam täglich. Außerdem gab es einen Zahnarzt, vier Lehrschwestern, die unter Kitty arbeiteten, und einen Psychotherapeuten, der ausschließlich für Gan Dafna da war.
Kitty führte ihr ambulantes Revier und ihre Krankenstation, nachdem sie den ganzen Betrieb völlig neu organisiert hatte, mit geradezu maschineller Präzision. Sie setzte genaue Zeiten fest für die Revierstunden, für die Krankenvisiten auf der Station, und für Massage, Bestrahlung und dergleichen. Sie verschaffte sich in ihrer Stellung einen derartigen Respekt, daß man in Gan Dafna erstaunt die Köpfe zusammensteckte. Die ihr unterstellten Schwestern hielt sie unauffällig in einem sehr genauen beruflichen Abstand, und sie lehnte für ihren Arbeitsbereich auch die Formlosigkeit ab, die sonst überall in Gan Dafna üblich war. Sie verhinderte die plumpe Vertraulichkeit, zu der die meisten Mitglieder des Stabes die Jungen und Mädchen ermutigten. Das alles war für Gan Dafna neu und ungewöhnlich. Man mußte ihr, ob man wollte oder nicht, Bewunderung zollen, denn die medizinische Sektion war am besten organisiert und die leistungsfähigste Abteilung des ganzen Jugenddorfes. In ihrem Bestreben, freie Menschen heranzuziehen, hatten die Juden allzuoft die Disziplin vernachlässigt, die Kitty Fremont gewohnt war. Man verübelte ihr die energische Art, mit der sie ihre Abteilung führte, jedoch durchaus nicht. Wenn sie ihre Dienstkleidung auszog, gab es in Gan Dafna niemanden, dessen Gesellschaft so begehrt war wie die ihre.
War sie als Abteilungsleiterin streng und energisch, so war sie ganz das Gegenteil davon, sobald es sich um »ihre« Kinder handelte. Die fünfzig Kinder von der Exodus blieben auch in Gan Dafna weiterhin die »Exodus-Kinder«, und Kitty Fremont gehörte zu ihnen. Sie war die »Exodus-Mutter«. So war es ganz natürlich, daß sie persönlichen Anteil an einigen dieser Jugendlichen nahm, die ernstlich seelisch gestört waren. Sie erklärte sich freiwillig bereit, dem Psychotherapeuten bei seiner Arbeit zu assistieren. Diesen seelisch gestörten Kindern gegenüber ging Kitty aus ihrer Reserviertheit völlig heraus; sie gab ihnen alle Liebe und Wärme, die sie zu geben vermochte. Die Tatsache, daß die Kinder in Palästina und in Gan Dafna waren, hatte eine große Heilwirkung; doch die Schrecken der Vergangenheit verursachten noch immer Angstträume, Unsicherheit und Feindseligkeit, deren Behandlung Geduld, Erfahrung und Liebe erforderte.
Einmal wöchentlich begab sich Kitty mit dem Arzt nach Abu Yesha, um dort eine morgendliche Krankenstunde für die Araber abzuhalten. Wie rührend waren manchmal doch diese schmutzigen kleinen Araberkinder im Gegensatz zu den robusten Jugendlichen von Gan Dafna! Wie würdelos war ihr Leben, verglichen mit dem Geist des Jugend-Aliyah-Dorfes! Bei diesen arabischen Kindern gab es weder Lachen noch Gesang, weder Spiele noch sichtbaren Lebenszweck. Man lebte einfach in den Tag hinein; neue Generation einer sich ewig in einem endlosen Kreise bewegenden Karawane in der Wüste. Der Magen drehte sich ihr jedesmal um, wenn sie eine der nur aus einem einzigen Raum bestehenden Hütten betrat, die ihre Bewohner mit Hühnern, Hunden und Eseln zu teilen hatten und in denen jeweils acht bis zehn Menschen auf dem Erdboden schliefen. Und doch konnte Kitty diese Menschen nicht verabscheuen. Sie waren gutmütig und herzlich, weit über ihre geistigen Grenzen hinaus. Auch sie sehnten sich nach einer besseren Zukunft. Sie befreundete sich mit Taha, dem jungen Muktar, der an jeder ihrer Ambulanzstunden teilnahm. Oft hatte Kitty den Eindruck, als wollte Taha mit ihr auch noch über andere Probleme als das Gesundheitswesen seines Dorfes sprechen, und sie spürte geradezu, wie es ihn zu einer Aussprache drängte. Aber Taha war Araber; einer Frau konnte man sich nicht in allem anvertrauen, und deshalb verriet er ihr niemals seine wahren Sorgen.
Die Tage vergingen und der Spätwinter 1947 kam.
Mit der Zeit waren Karen und Kitty in Gan Dafna unzertrennlich geworden. Karen, die auch an den finstersten Orten nie ganz unglücklich gewesen war, blühte in Gan Dafna förmlich auf. Sie war der Liebling des ganzen Dorfes. Kittys verständnisvolle Nähe wurde für sie besonders wichtig, weil sie gerade das schwierige Stadium der Pubertät durchmachte. Kitty sah sehr deutlich, daß jeder Tag, den Karen in Gan Dafna verbrachte, dazu angetan war, sie weiter von Amerika zu entfernen, und sie hielt ganz bewußt den Gedanken an Amerika in ihr lebendig, während die Nachforschungen nach Karens Vater weitergingen.
Dov Landau war ein Problem. Kitty war mehrfach kurz davor, einzugreifen und sich trennend zwischen ihn und Karen zu stellen, als sie merkte, daß sich die Beziehung zu vertiefen schien; doch sie hielt sich zurück, weil ihr klar war, daß sich die beiden dadurch möglicherweise nur noch enger aneinandergeschlossen hätten. Es war ihr unverständlich, daß Karen so an dem Jungen hing, da Dov diese Zuneigung durch nichts erwiderte. Er war mürrisch und verschlossen. Er redete zwar ein bißchen mehr als früher, aber wenn man irgend etwas von ihm wollte, so war Karen noch immer die einzige, die an ihn herankonnte.
Dov war wie besessen von dem Wunsch, Wissen zu erwerben. Er hatte so gut wie überhaupt keine Schulausbildung gehabt, und jetzt schien er das Versäumte mit leidenschaftlichem Hunger nachholen zu wollen. Er wurde sowohl von der militärischen wie von der landwirtschaftlichen Ausbildung dispensiert. Er arbeitete, las und lernte Tag und Nacht. Seiner Begabung gemäß konzentrierte er sich auf anatomische, architektonische und technische Zeichnungen. Gelegentlich entstand auch, sozusagen als Sicherheitsventil, eine freie Zeichnung, die sein Inneres zum Ausdruck brachte. Zuweilen war er nahe daran, aus seiner Einsamkeit auszubrechen und an der Geselligkeit von Gan Dafna teilzunehmen, doch jedesmal zog er sich wieder in sich selbst zurück. Er blieb für sich, nahm an nichts teil und sprach, außer mit Karen, außerhalb des Unterrichts mit keinem Menschen.
Kitty besprach das Problem mit Dr. Liebermann. Liebermann hatte viele Jungen und Mädchen wie Dov Landau erlebt. Es war ihm aufgefallen, daß Dov sehr intelligent war und Zeichen großer Begabung erkennen ließ. Er war jedoch der Meinung, daß jeder Versuch, ihn mit Gewalt aus seiner Einsamkeit herauszuholen, genau das Gegenteil bewirken werde; solange der Junge harmlos blieb und sich sein Zustand nicht verschlimmerte, sollte man ihn in Ruhe lassen.
Woche um Woche verging, und Kitty war enttäuscht, daß Ari nichts von sich hören und sehen ließ. Ab und zu, wenn sie Gelegenheit hatte, nach Yad El zu kommen, schaute sie auf einen Sprung bei Sara ben Kanaan herein. Die beiden Frauen befreundeten sich. Jordana dagegen gab sich keine Mühe, aus ihrer Abneigung gegen Kitty ein Hehl zu machen; sie legte es vielmehr geradezu darauf an, Kitty jedesmal zu brüskieren, wenn sie mit ihr sprach.
Eines Abends, als Kitty nach dem Dienst in ihren Bungalow kam, fand sie dort Jordana, die vor dem Spiegel stand und eins ihrer Cocktailkleider anprobierte. Durch Kittys Auftauchen schien sie keineswegs verwirrt. »Sehr hübsch, wenn man so was mag«, sagte Jordana und hängte das Kleid in den Schrank zurück.
Kitty ging zur Kochnische und setzte Teewasser auf. »Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«
Jordana sah sich weiter in Kittys Behausung um und betrachtete die Kleinigkeiten, die dem Raum seine weibliche Note gaben.
»Im Kibbuz Ejn Or sind mehrere Einheiten des Palmach stationiert, die dort ausgebildet werden.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Kitty.
»Es fehlt uns an Ausbildern. Es fehlt uns an allem. Man hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie bereit wären, einmal in der Woche nach Ejn Or zu kommen, um dort einen Sanitätskursus abzuhalten.«
Kitty zog die Vorhänge beiseite, streifte die Schuhe ab und hockte sich auf das Bett im Studio. »Ich möchte nicht gern etwas tun, wodurch ich mit bewaffneten Einheiten in Kontakt komme.«
»Warum nicht?« wollte Jordana wissen.
»Ich glaube kaum, daß es mir gelingen wird, Ihnen das zu erklären, ohne unnötig deutlich zu werden, aber ich denke doch, daß man meine Gründe beim Palmach verstehen wird.«
»Was gibt es dabei denn zu verstehen?«
»Meine persönliche Einstellung. Ich möchte nicht Partei ergreifen.«
Jordana lachte spöttisch. »Ich habe den Jungen in Ejn Or gleich gesagt, es sei Zeitverschwendung, Sie zu fragen.«
»Ist es Ihnen denn so völlig unmöglich, meine Einstellung zu respektieren?«
»Mrs. Fremont, überall auf der Welt können Sie Ihre Arbeit tun und dabei neutral bleiben. Aber es ist sehr sonderbar, daß Sie ausgerechnet hierherkommen, wenn Sie gleichzeitig den Wunsch haben, sich aus allem herauszuhalten. Was ist eigentlich der wirkliche Grund dafür, daß Sie hier sind?«
Kitty sprang wütend vom Bett herunter. »Das dürfte Sie verdammt wenig angehen!« sagte sie und nahm den Teekessel, der eben zu pfeifen begann, vom Feuer.
»Ich weiß, warum Sie hier sind. Sie haben es auf Ari abgesehen.« »Sie sind eine reichlich unverschämte junge Dame, und ich habe nicht die Absicht, mir noch mehr von Ihnen anzuhören.«
Jordana schien ungerührt. »Schließlich habe ich gesehen«, sagte sie, »wie Sie ihn angeschaut haben.«
»Wenn ich Ari wirklich haben wollte, so wären Sie die letzte, durch die ich mich hindern ließe.«
»Das können Sie sich selber weismachen, daß Sie ihn nicht haben wollen, aber nicht mir. Außerdem — Sie sind keine Frau, die zu Ari paßt. Sie interessieren sich nicht für unsere Sache.«
Kitty ging zum Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Jordana trat hinter sie.
»Dafna, das war eine Frau für Ari. Sie verstand ihn. Eine Amerikanerin wird ihn nie verstehen.«
Kitty drehte sich um. »Weil ich nicht in Shorts herumlaufe und auf die Berge klettere und Kanonen abfeuere und in Gräben schlafe, deshalb bin ich keineswegs weniger eine Frau als Sie oder diese Statue da auf dem Sockel. Ich weiß, was mit Ihnen los ist — Sie haben Angst vor mir.«
»Das ist ja komisch.«
»Erzählen Sie mir nicht, was dazugehört, eine Frau zu sein — Sie wissen es nicht, denn Sie sind keine. Sie benehmen sich, als wären Sie Tarzans Braut direkt aus dem Dschungel. Kamm und Bürste wären kein schlechter Anfang, um das in Ordnung zu bringen, was bei Ihnen nicht stimmt.« Kitty schob Jordana beiseite, ging an ihren Kleiderschrank und riß die Tür auf. »Da, sehen Sie sich das gut an: so was tragen Frauen.«
Jordana stieg vor Zorn das Wasser in die Augen.
»Wenn Sie mir das nächstemal etwas zu sagen haben, dann kommen Sie bitte in mein Büro«, sagte Kitty kalt. »Ich bin kein Kibbuznik und lege Wert auf mein Privatleben.«
Jordana warf die Tür so heftig zu, daß der Bungalow erzitterte.
Nach der mittäglichen Revierstunde kam Karen in Kittys Büro und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Hallo«, sagte Kitty. »Wie ist es denn heute gegangen?«
Karen machte eine Bewegung mit den Händen. »Ich habe ganz lahme Hände — ich bin ein miserabler Melker«, verkündete sie mit dem Kummer des Teenagers. »Kitty, mir bricht das Herz, wirklich. Ich muß, muß, muß mit dir reden.«
»Schieß los.«
»Nicht jetzt. Ich muß gleich wieder fort. Wir sollen irgendwelche neuen ungarischen Gewehre reinigen. Gräßlich!«
»Die ungarischen Gewehre werden ein paar Minuten warten können. Was hast du denn für einen Kummer, hm?«
»Yona, das Mädchen, mit dem ich zusammenwohne. Gerade jetzt, wo wir so richtig gute Freundinnen werden, geht sie nächste Woche zum Palmach.«
Es gab Kitty einen Stich. Wie lange noch, und Karen kam und erzählte ihr, daß sie gleichfalls zum Palmach ginge? Sie schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch beiseite. »Hör mal, Karen — ich habe mir überlegt — es fehlt wirklich an guten Pflegerinnen und Krankenschwestern, sowohl beim Palmach als auch in den Siedlungen. Du hast dir durch deine Arbeit mit den Kindern in den Lagern eine Menge Erfahrung erworben, und ich habe jetzt die ganzen schwierigeren Fälle übernommen. Meinst du, es hätte einen Sinn, wenn ich Dr. Liebermann um Erlaubnis bitte, daß du bei mit arbeitest und ich dich zu meiner Assistentin ausbilde?«
»Und ob das Sinn hätte!« Karen strahlte.
»Also gut. Ich will versuchen, daß du von der landwirtschaftlichen Arbeit dispensiert wirst und dich gleich nach der Schule hier bei mir meldest.«
»Ich weiß doch nicht so recht«, meinte Karen zögernd. »Es scheint mir nicht ganz fair gegenüber den anderen.«
»Wir in Amerika würden sagen: die Leute verlieren keinen Farmer, sondern sie gewinnen eine Pflegerin.«
»Kitty, ich muß dir ein schreckliches Geständnis machen. Bitte sage es nicht der Jugend-Aliyah weiter und auch nicht der Zionistischen Siedlungsgesellschaft oder der Kibbuz-Zentrale — aber im Ernst, ich bin der schlechteste Farmer von Gan Dafna, und ich fände es einfach wunderbar, Pflegerin zu sein.«
Kitty stand auf, ging zu Karen und legte ihr den Arm um die Schulter. »Was meinst du, wenn Yona jetzt fort ist — ob du wohl Lust hättest, in meinen Bungalow umzuziehen und bei mir zu wohnen?«
Karens Gesicht begann plötzlich so vor Glück zu strahlen, daß Kitty keine weitere Antwort auf ihre Frage brauchte.
Dr. Liebermann, dem Kitty anschließend ihren Wunsch vortrug, war einverstanden. Er meinte, es sei wichtiger, Liebe zu erweisen als Regeln aufzustellen. Der jüdischen Sache in Palästina würde es keinen Abbruch tun, wenn es hier einen Farmer weniger und eine Pflegerin mehr gäbe, sagte er.
Kitty beeilte sich, Karen die gute Nachricht zu überbringen, und ging dann in ihr Büro zurück. In der Mitte des Rasens blieb sie vor der Statue Dafnas stehen. Ihr war, als habe sie heute einen Sieg über Dafna davongetragen. Wenn sie Karen bei sich hatte, konnte sie verhindern, daß aus der Kleinen ein fanatisches Sabre-Mädchen wurde. Es war gut, ein festes Ziel zu haben; doch wenn man allzu ausschließlich für ein bestimmtes Ziel lebte, gingen Fraulichkeit und weiblicher Charme verloren. Kitty war sich darüber klar, daß sie Jordana an einer Stelle getroffen hatte, an der sie verletzlich war. Jordana war mit einer Aufgabe aufgewachsen, die sie bedingungslos ausführte, der sie ihr eigenes Glück opferte. Jordana verstand nicht, mit den eleganten Frauen zu konkurrieren, die vom Kontinent und aus Amerika nach Palästina kamen. Sie haßte Kitty, weil sie sich heimlich wünschte, ihr in manchen Dingen ähnlich zu sein.
»Kitty?« rief eine Stimme aus der Dunkelheit.
»Ja?«
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt.«
Es war Ari. Während er herankam, fühlte sich Kitty so hilflos wie stets in seiner Gegenwart.
»Es war mir leider bisher nicht möglich, herzukommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Hat Ihnen Jordana meine Grüße ausgerichtet?«
»Jordana?« sagte Kitty. »Doch, natürlich.«
»Und wie kommen Sie hier zurecht?«
»Sehr gut.«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich morgen freimachen könnten. Eine Palmach-Gruppe ersteigt morgen den Berg Tabor. Das ist ein Erlebnis, das man nicht versäumen sollte. Hätten Sie Lust, mitzukommen?«
»Ja, große Lust.«
V.
Kurz nach Tagesanbruch kamen Ari und Kitty bei dem Kibbuz Beth Alonim — Haus der Eichen — am Fuße des Berges Tabor an. Es war der Kibbuz, in dem während des letzten Krieges der Palmach entstanden war und Ari Soldaten ausgebildet hatte.
Der Tabor machte auf Kitty einen sonderbaren Eindruck: Er war nicht hoch genug, um wirklich ein Berg zu sein, und doch viel zu hoch für einen Hügel. Er erhob sich unvermittelt aus der Ebene, wie ein Daumen, der aus der Erde hervorstieß.
Nachdem sie in Beth Alonim gefrühstückt hatten, rollte Ari zwei Wolldecken mit Marschverpflegung und Feldflaschen zusammen und holte sich aus der Waffenkammer eine Maschinenpistole. Er wollte mit Kitty vor den anderen in der Kühle der Morgenstunden hinaufsteigen. Die Luft war frisch und belebend, und für Kitty war das Ganze ein spannendes Abenteuer. Sie brachen von Beth Alonim auf, kamen durch das Araberdorf Dabburiya, das auf der anderen Seite des Berges am Fuße des Tabor lag, und stiegen einen schmalen Pfad hinauf. Sehr bald konnten sie Nazareth sehen; das mehrere Kilometer entfernt war.
Es blieb kühl, und sie stiegen rasch, wobei es Kitty allerdings klar wurde, daß ihr erster Eindruck eine Täuschung gewesen war: der Tabor hatte eine Höhe von mehr als sechshundert Metern. Dabburiya wurde immer kleiner und begann auszusehen wie ein Dorf aus der Spielzeugschachtel. Sie stiegen höher und höher.
Plötzlich blieb Ari stehen und sah sich wachsam um.
»Was ist?«
»Ziegen. Können Sie sie riechen?«
Kitty schnupperte: »Nein, ich rieche nichts.«
Ari sah aufmerksam den Pfad entlang, der einen Bogen machte und dann unsichtbar wurde.
»Wahrscheinlich Beduinen«, sagte er. »Im Kibbuz lag eine Meldung darüber vor. Sie müssen seit gestern hier in dieser Gegend sein. Kommen Sie.«
Als sie um die Biegung des Pfades herum waren, sahen sie vor sich am Hang ein Dutzend Zelte aus Ziegenfell, bei denen eine Herde kleiner schwarzer Ziegen graste. Zwei Beduinen mit Gewehren kamen auf sie zu. Ari sprach arabisch mit ihnen und folgte ihnen dann zu dem größten der Zelte, das offensichtlich das Zelt des Scheichs war. Kitty sah sich um. Die Menschen machten den Eindruck ärmlicher Verkommenheit. Die Frauen trugen schwarze Gewänder und starrten vor Dreck. Kitty konnte zwar die Ziegen nicht riechen, doch sie roch die Frauen. Ketten aus Münzen verbargen ihre Gesichter. Die Kinder waren in schmutzige Lumpen gehüllt. Aus dem Zelt tauchte ein grauhaariges Wesen auf und begrüßte Ari. Ari sprach kurz mit dem Alten und flüsterte dann Kitty zu: »Wir müssen in sein Zelt gehen, sonst ist er beleidigt. Seien Sie ein braves Mädchen und essen Sie, was er uns vorsetzt. Sie können es später wieder ausspucken.«
Der Gestank im Innern des Zeltes war noch schlimmer als draußen. Sie ließen sich auf Matten aus Ziegenfell und Schafwolle nieder und tauschten Höflichkeiten aus. Der Scheich war sehr beeindruckt davon, daß Kitty aus Amerika war. Er berichtete stolz, daß er einst eine Fotografie von Mrs. Roosevelt besessen habe.
Dann wurde aufgetischt. Kitty wurde eine fettig-schmierige Lammkeule in die Hand gedrückt; dazu gab es ein Gemisch aus Kürbis und Reis. Kitty zwang sich, einen kleinen Bissen davon zu nehmen, und der Scheich sah ihr dabei erwartungsvoll zu. Sie lächelte schwach und nickte ihm zu, um ihn glauben zu machen, daß es ihr köstlich schmecke. Dann gab es ungewaschenes Obst, und den Abschluß des Mahles bildete ein dicker, scheußlich süßer Kaffee, der in Tassen serviert wurde, in denen sich der Dreck als feste Kruste abgelagert hatte. Der Alte wischte sich die Hände an den Hosen und den Mund mit dem Ärmel ab. Nach einer kleinen Weile bat Ari, sich verabschieden zu dürfen.
Als sie das Lager hinter sich gelassen hatten, stieß Kitty einen tiefen Seufzer aus. »Diese Menschen tun mir leid«, sagte sie.
»Nein«, sagte Ari, »dazu besteht kein Anlaß. Die Beduinen sind davon überzeugt, daß niemand ein so freies Leben führt wie sie. Haben Sie nie, als Sie noch zur Schule gingen, ,Das Lied der Wüste' gesehen?«
»Doch, aber jetzt weiß ich, daß der Verfasser niemals in einem Beduinenlager gewesen ist. Worüber haben Sie sich eigentlich mit dem Alten unterhalten?«
»Ich habe ihm gesagt, er möchte heute abend vernünftig sein und nicht versuchen, den Leuten vom Palmach Ringe oder Uhren abzunehmen.«
»Und was sonst?«
»Er wollte Sie kaufen. Er hat mir sechs Kamele für Sie geboten.« »Was, dieser alte Halunke! Und was haben Sie ihm gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, es sei doch wohl deutlich zu sehen, daß Sie nicht unter zehn Kamelen zu haben seien.« Ari warf einen Blick auf die steigende Sonne. »Es wird bald heiß werden. Wir ziehen besser unser dickes Zeug aus und packen es zusammen.«
Kitty hatte die üblichen blauen Shorts an, die sie sich aus der Kleiderkammer in Gan Dafna geholt hatte.
»Teufel, Sie sehen direkt wie eine ,Sabre' aus.«
Sie folgten dem Saumpfad, der in Windungen an der Südseite des Berges hinaufführte. Die Sonne brannte, und beide begannen zu schwitzen. Als der Pfad aufhörte, mußten sie klettern. Ari half Kitty, die steilen Hänge hinaufzuklimmen. Am späten Nachmittag hatten sie die Sechshundert-Meter-Höhenmarkierung hinter sich gelassen.
Den Gipfel des Berges bildete ein großes, rundes Plateau. Von seinem südlichen Rand aus lag das ganze Jesreel-Tal vor ihren Augen. Es war ein überwältigender Anblick. Kitty konnte das Tal mit den quadratischen Feldern, den grünen Oasen rings um die jüdischen Siedlungen und den dichtgedrängten weißen Hütten der arabischen Dörfer entlangsehen bis hin zum Karmelberg und dem Mittelmeer. Auf der anderen Seite lag der See von Genezareth. Von hier oben hatte man Palästina in seiner ganzen Breite vor Augen. Kitty richtete den Feldstecher auf die Punkte, die Ari ihr bezeichnete, und sah Ejn Or, die Stelle, wo Saul der Hexe begegnet war, und den kahlen Gipfel des Berges Gilboa, wo Gideon begraben lag und Saul und Jonathan im Kampf gegen die Philister gefallen waren.
»Ihr Berge von Gilboa, es falle auf euch weder Tau noch Regen, und auch kein Opferrauch erhebe sich; denn hier wurde der Schild des Mächtigen in den Staub getreten, der Schild Sauls —.«
Kitty ließ den Feldstecher sinken. »Nanu, Ari, Sie werden ja poetisch!«
»Das macht die Höhe. Von hier oben ist alles so weit entfernt. Sehen Sie dort hinüber — das ist das Beth-Schaan-Tal. Die Erde des Ruinenhügels von Beth Schaan bedeckt die älteste zivilisierte Stadt der Welt. David weiß über diese Dinge genauer Bescheid als ich. Es gibt in Palästina Hunderte solcher Ruinenhügel. David meint, wenn wir jetzt anfangen wollten, sie auszugraben, dann wären unsere modernen Städte Ruinen, bis wir damit fertig sind. Palästina ist sozusagen die Brücke, über die in diesem Teil der Welt die Geschichte ihren Weg genommen hat, und hier auf diesem Berg stehen Sie in der Mitte dieser Brücke. Der Tabor ist seit der Zeit, da Menschen Äxte aus Steinen machten, ein Schlachtfeld gewesen. Hier standen die Hebräer im Kampf gegen die Römer, und in den Kämpfen zwischen den Kreuzfahrern und den Arabern ist dieser Berg fünfzigmal aus der einen Hand in die andere übergegangen. Deborah lag hier oben mit ihrem Heer im Hinterhalt und stieß von hier auf die Kanaaniter nieder. Ein Schlachtfeld durch die Jahrhunderte — wissen Sie, was man bei uns sagt? Moses hätte mit den Kindern Israels weitere vierzig Jahre wandern und sie in eine friedlichere Ecke der Welt führen sollen.«
Sie gingen über das Gipfelplateau durch einen Pinienwald, in dem noch überall Ruinen von Bauten aus römischer und byzantinischer Zeit waren, Spuren der Kreuzritter und der Araber, Bruchstücke von Mosaiken und Keramik, hier eine Mauer, dort ein einzelner Stein. Zwei Abteien, eine griechisch-orthodoxe und eine römischkatholische, erhoben sich in der Nähe der Stelle, an der nach der Überlieferung Christus verklärt worden war und mit Moses und Elias gesprochen hatte.
Am andern Ende des Waldes kamen sie zu der höchsten Stelle des Berges, wo sich die Ruinen einer Festung der Kreuzritter und eines Sarazenenkastells befanden. Sie stiegen über die verstreuten Trümmer und Mauerreste, bis sie den östlichen Festungswall erreicht hatten, der sich über dem Hang des Berges erhob. Dieser Festungswall trug den Namen: Mauer der östlichen Winde.
Der Wind fuhr durch Kittys Haar, als sie oben auf dem Wall stand, und die Luft wurde allmählich wieder kühler. Über eine Stunde saßen sie dort oben, während Ari ihr die zahllosen historisch bedeutsamen Stellen, von denen in der Bibel berichtet war, zeigte und erläuterte. Schließlich gingen sie zurück an den Rand des Waldes, wo die Ruinen der Kastelle standen, und zogen sich wieder ihre wärmere Kleidung an. Ari rollte die Wolldecken auf, und Kitty streckte sich darauf aus, müde und glücklich.
»Es war ein wunderschöner Tag, Ari, aber ich werde eine Woche lang Muskelkater haben.«
Ari stützte sich auf einen Ellbogen und sah sie an. Er verspürte erneut Sehnsucht nach ihr, doch auch jetzt behielt er sein Verlangen für sich.
Als der Abend zu dämmern begann, erschienen die anderen in kleinen Gruppen auf dem Gipfel: dunkelhaarige, bräunliche Orientalen, Afrikaner und Blonde, die als Einwanderer nach Israel gekommen waren. Viele Mädchen waren darunter. Die meisten waren groß, kräftig und von selbstbewußter Haltung. Es kamen männliche Sabres mit ihren großen Schnurrbärten und ihrer deutlich zur Schau getragenen Aggressivität. Das Treffen hier oben auf dem Berg war eine Wiedersehensfeier. Die Palmach-Soldaten mußten aus Gründen der Tarnung in kleinen Gruppen und in verschiedenen Kibbuzim ausgebildet werden. Am heutigen Abend konnten sich Freunde wiedersehen und Liebespaare sich nach langer Trennung einmal treffen. Die Teilnehmer, lebhafte junge Leute von etwas unter oder über Zwanzig, begrüßten einander mit großer Herzlichkeit.
Auch Joab Yarkoni und Seew Gilboa erschienen, und Kitty freute sich sehr, die beiden zu sehen.
David und Jordana kamen ebenfalls. Jordana war über die Aufmerksamkeit, die David Kitty erwies, verärgert, doch sie beherrschte sich, um eine Szene zu vermeiden.
Als es dunkel geworden war, hatten sich fast zweihundert junge Palmach-Soldaten versammelt. In der Nähe der Mauer des Kastells wurde eine Feuergrube ausgehoben, während einige der Palmach-Männer darangingen, Holz für ein Feuer zu sammeln, das die ganze Nacht hindurch brennen sollte. Drei Lämmer wurden auf Bratspießen am offenen Feuer gebraten. Als die Sonne hinter dem Jesreel-Tal versank, versammelten sich die Paare rings um das Feuer in einem großen Kreis. Kitty mußte an der Seite von Joab, Seew und Ari den Ehrenplatz einnehmen.
Vom Gipfel des Berges Tabor ertönten Gesänge. Es waren die gleichen Lieder, die Kitty die Kinder in Gan Dafna hatte singen hören. Sie handelten von dem Wunder der Wassersprenger, die das Land wieder fruchtbar machten, und von der Schönheit Galiläas und Judäas. Sie sangen von der verwunschenen und lieblichen Negev-Wüste und sie sangen die mitreißenden Marschlieder der alten Wachmannschaften, der Hagana und des Palmach. Sie sangen ein Lied, das erzählte, daß König David noch immer über die Erde des Landes Israel wandelte.
Joab saß mit verschränkten Beinen da, vor sich eine mit Ziegenfell bespannte Trommel, auf der er mit den Fingerspitzen und den Handballen einen Rhythmus zu einer uralten, hebräischen Melodie schlug, die ein anderer Palmach-Angehöriger auf einer Rohrflöte blies. Dazu tanzten mehrere der orientalischen Jüdinnen einen Tanz mit den gleichen langsamen, schwingenden, ausdrucksvollen Bewegungen, die die Tänzerinnen im Palast Salomons gehabt haben mußten.
Mit jedem neuen Lied und jedem neuen Tanz wurde die Gesellschaft lebhafter.
»Jordana!« rief einer aus dem Kreis. »Jordana soll tanzen!«
Sie trat in den Kreis, von allgemeinem Beifall begrüßt. Ein Akkordeon spielte eine ungarische Volksweise, alle klatschten im Rhythmus dazu. Jordana wirbelte die Reihe der im Kreis sitzenden Teilnehmer entlang und holte sich daraus Partner für einen wilden Czardas. Sie tanzte wild, und ihr rotes Haar, beleuchtet von dem flackernden Feuer, fiel ihr in das Gesicht. Die Musik wurde immer schneller, und die Zuschauer klatschten immer rascher, bis Jordana schließlich erschöpft stehenblieb.
Ein halbes Dutzend neuer Tänzer traten in den Kreis und begannen eine Horra, den Tanz der jüdischen Bauern. Der Horra-Ring wurde immer größer und größer, bis alle Anwesenden auf den Beinen waren und sich außen um den ersten Ring ein zweiter bildete. Joab und Ari zogen Kitty mit in diesen äußeren Kreis. Der Kreis bewegte sich in eine Richtung, bis die Tänzer plötzlich mit einem Sprung kehrtmachten und sich in die entgegengesetzte Richtung bewegten. Das Tanzen und Singen hatte schon vier Stunden gedauert, und immer noch ging es mit unverminderter Lebhaftigkeit weiter. David und Jordana entfernten sich unbemerkt und gingen durch die Räume des Sarazenenschlosses, bis von der Musik und dem Rhythmus der Trommel fast nichts mehr zu hören war. Sie kamen zu einer kleinen Zelle in der Mauer der östlichen Winde. Hier war nichts mehr zu hören außer dem Geräusch des Windes, der aus dem Jesreel-Tal kam. David breitete seine Decke auf der Erde aus, und sie umarmten sich zärtlich und liebend.
»David!« rief Jordana leise und mit bebender Stimme. »David, ich liebe dich so sehr!«
Der Wind erstarb, und sie hörten wilde Musik.
»David — David — David —«, flüsterte Jordana, während sie ihre Lippen an seinen Hals drückte, und auch David wiederholte immer wieder ihren Namen.
Dann lag Jordana still in seinen Armen, und seine Finger strichen sanft über ihre Lippen, ihre Augen und durch das Haar.
»Ich bin eine Blume zu Scharon und eine Rose im Thal«, flüsterte Jordana. »Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin; die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserem Lande.«
Es wurde so still, daß sie ihre Herzen schlagen hören konnten.
»Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet. Oh, David — sag es mir, sag es mir.«
David flüsterte, den Mund an ihrem Ohr: »Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen zwischen deinen Zöpfen. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die gelagert sind am Berge Gilead herab. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur, und deine Rede lieblich. Deine Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden.«
David und Jordana fielen eng umschlungen in einen glücklichen Schlaf.
Um vier Uhr morgens wurde das Fleisch der gebratenen Lämmer zerteilt und auf arabische Art mit heißem Kaffee gereicht. Als Ehrengast bekam Kitty die erste Scheibe. Das leidenschaftliche Singen und Tanzen hatte ein wenig nachgelassen; viele lagen Arm in Arm. Das Lamm schmeckte wunderbar.
Im Licht des niederbrennenden Feuers betrachtete Kitty Fremont die Gesichter in der Runde. Was war das für eine Armee, der diese jungen Leute angehörten? Was für Soldaten waren das, ohne Uniform und Rang? Was war das für ein Heer, in dem die Frauen Seite an Seite mit ihren Männern kämpften? Wer waren sie, diese jungen Löwen von Judäa?
Sie richtete ihren Blick auf das Gesicht Ari ben Kanaans, und ein Schauder fuhr durch ihren Körper. Wie ein elektrischer Schlag traf sie die Erkenntnis: dies war keine Armee gewöhnlicher Sterblicher! Diese jungen Leute waren die alten Hebräer! Diese Gesichter waren die Gesichter von Dan und Reuben und Juda und Ephraim! Das hier waren Samsons und Deborahs, Joabs und Sauls, Miriams und Davids.
Es war das Heer Israels, und keine Macht der Welt konnte ihm Einhalt gebieten, denn in diesen Männern und Frauen war die Kraft Gottes!
VI.
INSTITUT FÜR INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN Chatham-House London Tagelang hatte Cecil Bradshaw, der Experte für die nahöstliche Politik, in seinem Büro in Chatham-House die Berichte verschiedener amtlicher Stellen über die Situation in Palästina studiert, sich Auszüge daraus gemacht und zu einem Ergebnis zu kommen versucht. Das Kolonialamt, das Ministerium und sogar Number 10 Downing-Street erwarteten von ihm einen Vorschlag, was zu tun sei. Das Palästina-Mandat war nunmehr heillos verfahren. Die bisherige englische Politik in Palästina hatte sich als unbrauchbar erwiesen und mußte völlig neu konzipiert werden. Bradshaw war ein Mann mit siebenunddreißigjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet. Im Verlauf dieser Zeit hatte er hundert Konferenzen mit den Zionisten und den Arabern gehabt. Wie die meisten Männer der englischen Verwaltung war auch Bradshaw davon überzeugt, das Interesse Englands erfordere es, die Araber bei guter Laune zu halten; immer wieder war es ihm gelungen, die Araber, die mit Drohungen und Erpressungen kamen, zu beschwichtigen. Diesmal waren sie aber ernstlich rebellisch geworden, und die Konferenzen, die im Augenblick in London stattfanden, endeten mit einem Fiasko. Es steht völlig außer Frage, daß Hadsch Amin el Husseini, der Mufti, den Großarabischen Aktionsausschuß in Palästina von seinem Exil in Kairo aus leitet. Jetzt rächt es sich, daß wir es aus Furcht vor religiösen Unruhen unterlassen haben, den Mufti als Kriegsverbrecher anzuklagen. Die Haltung der Araber ist völlig unvernünftig geworden. Sie lehnen es ab, sich mit den Juden an einen Tisch zu setzen, wenn zuvor nicht bestimmte arabische Bedingungen widerspruchslos akzeptiert werden.
Cecil Bradshaw war dabeigewesen, als der Nahe Osten auf der Konferenz von San Remo zwischen England und Frankreich aufgeteilt worden war, der Mandatsvertrag paraphiert und die Balfour-Deklaration abgegeben wurden. Bradshaw gehörte zu der Politikergruppe, die das halbe Mandatsgebiet genommen und daraus das Königreich Transjordanien gemacht hatte. In all den Jahren, bei
allen Unruhen des Mufti, hatten sie es nie mit einem Gegner vom Format der Makkabäer zu tun gehabt. Die jüdischen Terroristen kämpften mit angsterregendem Fanatismus.
Immer wieder haben wir den Jischuw-Zentralrat und die jüdische Bevölkerung aufgefordert, die britischen Behörden bei der Ausschaltung der verbrecherischen Elemente zu unterstützen, die sich Makkabäer nennen. Der Zentralrat behauptete zwar, keine Macht über diese Leute zu haben, und verurteilt offiziell auch ihre Aktionen; es ist jedoch bekannt, daß ein großer Teil der Juden diese verbrecherischen Methoden insgeheim gutheißt. Wir haben in dieser Sache keine Unterstützung bei den Juden gefunden. Die Tätigkeit der Makkabäer hat einen solchen Umfang erreicht, daß wir es für notwendig erachten, alle Engländer, deren Anwesenheit nicht aus dienstlichen Gründen dringend erforderlich ist, und alle englischen Familien aus Palästina zu evakuieren.
Bradshaw las die Berichte über die zunehmenden Terroraktionen, die das Heilige Land von einem Ende bis zum andern erzittern ließen.
Außer dem Überfall auf die Raffinerie von Haifa, durch den die Produktion für zwei Wochen lahmgelegt wurde, und dem Überfall auf den Flugplatz Lydda, bei dem eine Staffel Jagdmaschinen zerstört wurde, fanden zehn Überfälle auf englische Wagenkolonnen und fünfzehn auf militärische Anlagen statt. Immer mehr Anzeichen sprechen dafür, daß die Einsatztruppe der Hagana, der Palmach, unruhig wird und an einigen der jüngsten Terroraktionen vielleicht sogar beteiligt war.
Die kaum noch seetüchtigen, mit verzweifelten Menschen vollgepackten Fahrzeuge der Aliyah Bet brachten Massen von illegalen Einwanderern an die Küsten von Palästina.
Obwohl die Anzahl der Marineeinheiten, die vor der Küste Patrouillendienst tun, erhöht wurde, hat die Aktivität der Aliyah Bet seit dem Exodus-Zwischenfall merklich zugenommen. Die Amerika, San Miguel, Ulloa, Abril, Susannah und San Filipo haben achttausend illegale Einwanderer aus DP-Lagern in Europa nach Palästina gebracht. Wir haben Grund zu der Annahme, daß es außerdem noch zwei weiteren Schiffen gelungen ist, die Blockade zu durchbrechen und in Palästina zu landen. Aus den Berichten unserer Botschaften und Konsulate in den Mittelmeerländern geht hervor, daß wenigstens fünf weitere Schiffe von der Aliyah Bet erworben wurden und umgebaut werden, um in Kürze den Versuch zu unternehmen, illegale Einwanderer nach Palästina zu bringen.
Die Engländer hatten in Palästina starke Streitkräfte stationiert. Zweiundfünfzig Teggart-Forts überzogen das kleine Land mit einem dichten Netz von Befestigungsanlagen. Dazu kamen noch Grenzbefestigungen, wie beispielsweise Fort Esther. In jeder Stadt gab es eine aktive Polizeitruppe, und in Transjordanien existierte die starke Arabische Legion. Außer den Teggart-Forts besaßen die Engländer umfangreiche Stützpunkte bei Atlit im Gebiet von Haifa, die Schneller-Kasernen in Jerusalem und das riesige Camp Sarafand außerhalb von Tel Aviv.
Wir haben im Lauf der letzten Monate die Operationen Noah, Ark, Lobster, Mackerei, Cautious, Lonesome, Octopus, Cantonment und Harp unternommen, um einen beständigen Druck auf den Jischuw auszuüben. Bei diesen Unternehmungen handelt es sich im wesentlichen um eine dauernde Überprüfung der Bevölkerung zur Feststellung illegaler Einwanderer, um Suchaktionen zur Ermittlung illegaler Waffenlager und um Gegenangriffe an Stellen, wo unsere Streitkräfte angegriffen worden waren. Infolge der hundertprozentigen Organisation und Zusammenarbeit aller Juden haben wir mit unseren Maßnahmen jedoch nur geringe Erfolge gehabt. Als Versteck für Waffen dienen Blumenkästen, Aktenschränke, Küchenöfen, Kühlschränke, hohle Tischbeine und tausend andere phantasievoll ausgesuchte Stellen, wodurch eine Beschlagnahme der Waffen so gut wie unmöglich wird.
Der Waffentransport erfolgt durch Frauen und Kinder, die sich freiwillig zur Verfügung stellen. Unsere Versuche, jüdische Informanten zu gewinnen, sind gescheitert, während die Juden nicht nur arabische Spione zu kaufen vermochten, sondern ihre Informationen auch von einer Reihe der mit ihnen sympathisierenden Männer im britischen Oberkommando erhalten.
Nicht nur die Zustände in Palästina machten Bradshaw zu schaffen. Das Problem wurde noch durch andere Faktoren verschärft, die mit dem Mandat an sich gar nichts zu tun hatten. Es stand sehr schlecht um die englische Wirtschaft, und die Menschen in England waren gezwungen, unter harten Entbehrungen zu leben. Die britischen Streitkräfte in Palästina verschlangen riesige Summen. Außerdem waren die Engländer des Blutvergießens überdrüssig. Und auf der weltpolitischen Bühne hatten die amerikanischen Zionisten endgültig das Ohr Trumans gewonnen und besaßen in ihm einen wohlwollenden Verbündeten.
Seit wir es abgelehnt haben, der Empfehlung des anglo-amerikanischen Ausschusses Folge zu leisten, hunderttausend Juden die Einreise nach Palästina zu gestatten, hat unser Ansehen bei unseren Alliierten sehr gelitten. Gleichfalls schädigend für unser Prestige sind die Demütigungen, die uns die Makkabäer durch ihre Terroraktionen zufügen. Noch nie ist der britischen Autorität so übel mitgespielt worden wie durch die kürzliche Entführung eines britischen Richters, der einen jüdischen Terroristen verurteilt hatte. Cecil Bradshaw nahm seine Hornbrille ab, fuhr sich über die geröteten Augen und schüttelte den Kopf. Was für ein heilloses Chaos! Gamal Husseini, der Neffe des Mufti, war wieder einmal dabei, die arabische Opposition in Palästina auszuschalten, indem er ihre Vertreter umbringen ließ. Die Hagana mit ihrer Aliyah Bet und Akibas Makkabäer hatten unhaltbare Zustände geschaffen. Englische Offiziere waren auf der Straße mit Reitpeitschen geschlagen und englische Soldaten im Zuge von Vergeltungsmaßnahmen gehängt worden. Die Juden, die sich während der zweimaligen blutigen Unruhen vor dem zweiten Weltkrieg Zurückhaltung auferlegt hatten, zeigten den unverschämten Aggressionen der Araber gegenüber jetzt immer weniger Zurückhaltung.
Im Kreis der Eingeweihten munkelte man, Cecil Bradshaw habe seit der Sache mit der Exodus die Courage verloren, es noch mit den Juden aufzunehmen. Für das Palästina-Mandat schien das Ende zu nahen. Das kleine Land besaß eine Position von ungeheurer wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung. Es stellte sozusagen den Angelpunkt des gesamten Britischen Empire dar. Der Flottenstützpunkt und die Raffinerie von Haifa sowie die Nähe des Suezkanals machten es für die Engländer zu einer kategorischen Pflicht, die Stellung in Palästina zu halten.
Der Summer der Sprechanlage auf Bradshaws Schreibtisch ertönte. »General Tevor-Browne ist da.«
Bradshaw und Tevor-Browne begrüßten sich kühl. Tevor-Browne war einer der wenigen Beamten, die projüdisch eingestellt waren. Er war es gewesen, der hier in diesem Büro zu Beginn der ExodusAffäre das Ende des Mandats vorausgesagt und dafür plädiert hatte, der Exodus die Genehmigung zum Auslaufen zu erteilen, ehe der Hungerstreik begann. Tevor-Browne hatte stets die Meinung vertreten, daß die Juden und nicht die Araber ein Anrecht auf die Unterstützung der Engländer hätten, weil die Juden im Gegensatz zu den Arabern treue Verbündete waren, auf die man sich verlassen konnte. Er war dafür gewesen, aus Palästina einen jüdischen Staat zu machen, der dem Verband des Commonwealth angehören sollte. Doch weder Bradshaw und seine Kollegen vom Chatham-House noch die Herren vom Kolonialamt waren durch Gedanken, wie General Tevor-Browne sie hatte, in ihrem Kurs zu beirren gewesen. Selbst jetzt hatten sie nicht den Mut, ihren verhängnisvollen Irrtum einzusehen und das Ruder herumzureißen, sondern waren entschlossen, standhaft zu bleiben und notfalls mit unterzugehen. Die Furcht davor, daß die Araber das Öl und den Suezkanal zu Erpressungen verwenden könnten, war stärker als alle andere.
»Ich habe die Berichte gelesen«, sagte Bradshaw.
Tevor-Browne zündete sich eine Zigarre an. »Ja, sie sind sehr interessant. Die Juden scheinen ganz offenbar nicht gewillt zu sein, uns zu Gefallen rückwärts ins Meer zu marschieren.«
Bradshaw, dem die Hab-ich-ja-gleich-gesagt-Haltung des Generals auf die Nerven ging, trommelte mit seinen kurzen dicken Fingern auf die Platte des Schreibtischs. »Ich wollte keine bissigen Anspielungen von Ihnen hören, Sir Clarence. Ich muß in einigen Wochen eine Empfehlung vorlegen. Ich wollte mit Ihnen darüber reden, ob es ratsam ist, Haven-Hurst beizubehalten. Mir scheint, es ist an der Zeit, die Juden etwas schärfer anzufassen.«
»Wenn Sie das wollen, ist Haven-Hurst durchaus geeignet — es sei denn, Sie wollten sich der Dienste einiger SS-Generäle versichern, die als Kriegsverbrecher im Gefängnis sitzen. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir vorläufig in Palästina immer noch eine zivile Verwaltung haben. Es gibt dort schließlich einen Hohen Kommissar.«
Bradshaw lief dunkelrot an. Obwohl er von Tag zu Tag cholerischer wurde, gelang es ihm, sich zu beherrschen. »Jedenfalls scheint es mir an der Zeit, Haven-Hurst ein bißchen auf Trab zu bringen.« Er reichte Tevor-Browne ein Blatt Papier über den Schreibtisch.
Es war ein Brief an den Kommandeur der britischen Streitkräfte in Palästina, General Sir Arnold Haven-Hurst. »Die Situation hat ein solches Stadium erreicht, daß ich mich, falls von Ihnen nicht Vorschläge für eine sofortige Stabilisierung gemacht werden können, dazu gezwungen sehe, die Sache vor die UNO zu bringen.«
»Sehr gut, Bradshaw«, sagte Tevor-Browne. »Ich bin überzeugt, daß Haven-Hurst einige sehr interessante Vorschläge zu machen hat — jedenfalls für jemanden, der gern gruslige Geschichten liest.«
Kurze Zeit nach der Exodus-Affäre wurde Brigadier Bruce Sutherland unauffällig in den Ruhestand versetzt. Er ging nach Palästina und ließ sich auf dem Berge Kanaan nieder, in der Nähe von Safed, der alten Stadt im Norden von Galiläa.
Endlich schien es Bruce Sutherland vergönnt, ein wenig Frieden zu finden und sich von den Jahren der Qual zu erholen, die er seit dem Tode seiner Mutter durchlebt hatte. Zum erstenmal konnte er nachts schlafen, ohne von Angstträumen gepeinigt zu werden. Er erwarb auf dem Berge Kanaan eine schöne kleine Villa, drei Meilen vom eigentlichen Safed entfernt. Die Luft war hier besonders rein, und eine beständige frische Brise sorgte dafür, daß die Hitze des Sommers niemals unerträglich wurde.
Er verbrachte seine Zeit damit, seinen Rosengarten zu bestellen, der als der schönste seiner Art in ganz Palästina galt. Er besuchte die heiligen Stätten, lernte Hebräisch und Arabisch, oder er wanderte auch nur durch das Gewirr der krummen Straßen und Gäßchen von Safed. Er wurde nicht müde, diese faszinierende Stadt zu bestaunen, deren Häuser sich an den Hang schmiegten und deren enge, orientalische Straßen scheinbar ziellos und planlos zu der Akropolis hinaufführten, die den Gipfel des Berges krönte.
Im Jüdischen Viertel, das etwa den zehnten Teil der Stadt ausmachte, wohnten sehr arme und sehr fromme Juden, die von den geringen Spenden ihrer Glaubensgenossen lebten. Safed war das Zentrum der Kabbala, des jüdischen Mystizismus. Die alten Juden verbrachten ihr Leben mit dem Studium der heiligen Bücher und im Gebet, und sie boten einen ebenso bunten und malerischen Anblick wie die ganze Stadt. In ihren seltsamen orientalischen Kostümen und in den zerfetzten Resten einstmals prächtiger Seidengewänder wandelten sie an den winzigen Läden vorbei, die in langen Reihen nebeneinander lagen. Es waren meist freundliche und friedliche Leutchen; deshalb hatten sie unter den blutigen und grausamen Unruhen des Mufti am meisten zu leiden gehabt, weil sie am wenigsten in der Lage gewesen waren, sich zur Wehr zu setzen.
Der arabische Teil von Safed enthielt die elenden und halbverfallenen Hütten, wie man sie überall in den von Arabern bewohnten Orten fand. Doch das wunderbare Klima und die landschaftliche Schönheit von Safed hatten auch viele reiche arabische Großgrundbesitzer angelockt, die sich hier prächtige und geräumige Häuser gebaut hatten. Auf dem Berge Kanaan besaßen wohlhabende Juden Häuser und Villen; hier im arabischen Teil von Safed hatten sich zahlreiche vermögende Araber angesiedelt.
Sutherland hatte bei Juden und Arabern gute Freunde.
Ein einziger Umstand störte die vollkommene Schönheit und Harmonie des landschaftlichen Bildes: das große häßliche Teggart-Fort, das außerhalb von Safed an der Straße stand, die zum Berg Kanaan hinaufführte. Das Fort war von Sutherlands Villa aus zu sehen.
Sutherland reiste durch das Land nach Norden, um sich den Ruinenberg von Chazor anzusehen, und an der libanesischen Grenze entlang, um die Grabstätte Esthers bei dem nach ihr benannten Fort und Josuas Grab bei Abu Yesha zu besuchen. Bei einem dieser Ausflüge kam er zufällig auch nach Gan Dafna, und hier schloß er Freundschaft mit Dr. Liebermann und Kitty Fremont. Kitty und Sutherland waren sehr froh, die kurze Bekanntschaft, die sie auf Zypern gemacht hatten, erneuern zu können. Sutherland war erfreut, die Kinder patronisieren zu können. Kitty bat ihn, das eine oder andere der Kinder mit schweren seelischen Störungen mitbringen zu dürfen, wenn sie zu Besuch in Sutherlands Villa nach Safed kam. Nach kurzer Zeit verband die beiden eine feste Freundschaft.
Eines Nachmittags kam Sutherland von Gan Dafna zurück. Er war überrascht, seinen ehemaligen Adjutanten, Major Fred Caldwell, der ihn hier erwartet hatte, im Haus vorzufinden.
»Seit wann sind Sie denn in Palästina, Freddy?«
»Erst seit kurzer Zeit.«
»Und bei welcher Dienststelle sind Sie?«
»Bei der Kommandantur in Jerusalem, Intelligence Service. Ich bin Verbindungsmann zur CID. Man hat da kürzlich eine Überprüfung vorgenommen. Macht den Eindruck, als hätten ein paar von unseren Jungens mit der Hagana zusammengearbeitet, ja sogar mit den Makkabäern, falls Sie sich das vorstellen können.«
Sutherland konnte es sich durchaus vorstellen.
»Mein Besuch bei Ihnen ist übrigens nur teilweise gesellschaftlicher Natur — obwohl ich selbstverständlich ohnehin vorhatte, einmal bei Ihnen vorbeizukommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. General Haven-Hurst hat mich gebeten, mich persönlich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, da wir doch schon früher zusammengearbeitet haben.«
»So?«
»Wie Ihnen bekannt sein wird, sind wir dabei, alle Engländer, deren Anwesenheit hier dienstlich nicht dringend erforderlich ist, aus Palästina zu evakuieren. General Haven-Hurst möchte gern wissen, was Sie zu tun beabsichtigen.«
»Ich beabsichtige, überhaupt nichts zu tun. Das hier ist mein Heim, und hier werde ich auch bleiben.«
Major Caldwell trommelte irritiert mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ich habe mich vielleicht nicht ganz deutlich ausgedrückt, Sir. General Haven-Hurst erbittet Ihr Verständnis dafür, daß er, wenn die Evakuierung erst einmal erfolgt ist, die Verantwortung für Ihre Sicherheit nicht mehr übernehmen kann. Wenn Sie hierbleiben, so könnte das für uns zu einem Problem werden.« Caldwell meinte offenbar noch etwas ganz anderes als das, was er sagte: Haven-Hurst wußte, wo Sutherlands Sympathien lagen, und fürchtete daher, daß er mit der Hagana zusammenarbeiten könnte. In Wirklichkeit also gab er Sutherland den guten Rat, aus Palästina zu verschwinden.
»Sagen Sie bitte General Haven-Hurst, ich sei ihm sehr dankbar, daß er sich meinetwegen Sorgen macht, und ich hätte auch volles Verständnis für seine Lage.«
Major Caldwell wollte noch deutlicher werden, doch Sutherland stand rasch auf, dankte Freddy für seinen Besuch und begleitete ihn hinaus zu der Auffahrt, wo ein Sergeant mit einem Stabswagen wartete. Sutherland sah dem Wagen nach, der in Richtung auf das Teggart-Fort davonfuhr. Wie üblich hatte Freddy wieder einmal seinen Auftrag verpatzt. Die Art und Weise, wie er die Warnung von Haven-Hurst ausgerichtet hatte, war in der Tat reichlich ungeschickt gewesen.
Sutherland ging ins Haus zurück und dachte über die Sache nach. Gewiß, er befand sich in Gefahr. Die Makkabäer konnten sehr wohl an einem pensionierten britischen Brigadier Anstoß nehmen, der arabische Freunde hatte und allein in einem Haus auf dem Berge Kanaan wohnte, obwohl es sich die Makkabäer bestimmt zweimal überlegen würden, ihn umzubringen. Von der Hagana drohte ihm keine Gefahr. Er stand mit den Leuten in loser Verbindung, und sie hielten nichts von terroristischen Methoden. Andererseits war schwer zu sagen, was von Husseini zu erwarten war: Sutherland hatte Freunde unter den Juden, und einige davon konnten, ohne daß er selbst etwas davon wußte, durchaus Makkabäer sein.
Bruce Sutherland trat hinaus in seinen Garten, an dessen Büschen die frühen Frühlingsrosen ihre Kelche öffneten. Er blickte über das Tal hinüber nach Safed. Er hatte Trost und Frieden hier gefunden. Die schrecklichen Träume hatten aufgehört. Nein, hier blieb er.
Im Hof des Teggart-Forts, den Caldwells Wagen wenige Augenblicke nach der Abfahrt von Sutherlands Haus erreichte, wurde der Major von einer Ordonnanz in Empfang genommen und gebeten, sich im CID-Büro zu melden.
»Fahren Sie heute abend nach Jerusalem zurück, Major Caldwell?« fragte ihn der Inspektor der Criminal Investigation Division.
Caldwell sah auf seine Uhr. »Ja, das habe ich vor. Wenn ich gleich losfahre, können wir vor Einbruch der Dunkelheit dort sein.«
»Das ist gut. Ich habe einen Juden hier, der zur Vernehmung zu unserer Dienststelle in Jerusalem gebracht werden soll. Es ist ein Makkabäer, ein gefährlicher Bursche. Die Makkabäer könnten erfahren haben, daß er bei uns ist, und nach einem Gefangenenwagen Ausschau halten, mit dem wir ihn nach Jerusalem bringen. Deshalb wäre es sicherer, ihn in Ihrem Wagen zu transportieren.«
»Aber sicher, das mache ich gern.«
»Bringt den Judenjungen 'rein.«
Zwei Soldaten brachten einen Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren herein, der an Händen und Füßen gefesselt war. Sein Mund war durch einen Knebel verschlossen, und sein Gesicht zeigte die Spuren einer verschärften Vernehmung.
»Lassen Sie sich durch Ben Solomons Engelsgesicht nicht täuschen«, sagte der Inspektor. »Er ist eine gefährliche kleine Bestie.«
»Ben Solomon?« sagte Caldwell. »Kann mich gar nicht erinnern, seinen Namen gelesen zu haben.«
»Wir haben ihn erst gestern abend geschnappt. Bei einem Überfall auf die Polizeiwache in Safed. Sie wollten dort Waffen klauen. Der da hat zwei Polizisten mit einer Handgranate getötet.«
Ben Solomon stand unbeweglich, während Verachtung aus seinen Augen sprühte.
Den Inspektor ärgerte der unverwandte, haßerfüllte Blick des Jungen. »Schafft den Kerl 'raus«, befahl er wütend.
Der Junge wurde hinten im Wagen auf den Boden gelegt. Ein bewaffneter Soldat saß neben ihm, während Caldwell vorn neben dem Fahrer Platz nahm. Sie fuhren aus dem Teggart-Fort hinaus. »So ein dreckiges kleines Mistvieh«, brummte der Fahrer. »Also, wenn Sie mich fragen, Major Caldwell, man sollte uns wirklich mal ein paar Wochen auf diese Juden loslassen. Das sollte man wahrhaftig mal tun.«
»Meinen Kumpel hat's letzte Woche erwischt«, sagte der Posten, der hinten saß. »War ein prima Bursche. Seine Frau hatte grad ein Kind gekriegt. Diese Makkabäer haben ihm einen verpaßt, Kopfschuß, jawohl.«
Der Wagen fuhr in das Beth-Schaan-Tal, und die drei Männer entspannten sich; hier waren sie in einem Gebiet, das ausschließlich von Arabern bewohnt war, und ein Angriff war erst wieder zu befürchten, wenn sie sich Jerusalem näherten.
In Caldwell stieg der Haß hoch. Er dachte mit Verachtung an Bruce Sutherland. In seinem Innern fühlte er, daß Sutherland der Hagana half. Sutherland stand auf selten der Juden. Sutherland hatte es absichtlich zu der Katastrophe auf Zypern kommen lassen.
Caldwell erinnerte sich daran, wie er in Caraolos einmal in der Nähe des Stacheldrahtes gestanden und eine Jüdin vor ihm ausgespuckt hatte. Er drehte sich um und sah zu dem Jungen hin. »Dreckiger Jude!« brummte er in sich hinein.
Und da meinen die Leute, was Hitler gemacht hat, sei falsch gewesen, mußte Caldwell denken. Dabei hatte Hitler ganz richtig gehandelt. Schade, daß der Krieg zu Ende gegangen war, ehe er sie alle miteinander hatte umbringen können. Caldwell dachte daran, wie er mit Sutherland nach Bergen-Belsen gekommen war. Sutherland war bei dem Anblick, der sich ihnen geboten hatte, übel geworden. Ihm, Caldwell, war nicht übel geworden. Je mehr Juden verreckten, desto besser.
Sie kamen in das arabische Dorf Nablus, das wegen seiner Feindlichkeit gegenüber dem Jischuw bekannt war. Es war eine Hochburg der Husseini-Leute.
»Halten Sie an«, befahl Caldwell dem Fahrer. »Und jetzt hört mal zu, ihr beiden. Wir werden diesen Burschen hier hinauswerfen.« »Aber, Herr Major, die werden ihn umbringen«, sagte der Posten. »Ich hab' weiß Gott nichts für die Juden übrig, Sir«, sagte der Fahrer, »aber den Auftrag, den Gefangenen abzuliefern, haben wir ja nun mal.«
»Halten Sie den Mund!« rief Caldwell, fast hysterisch. »Ich sage, wir schmeißen den Kerl hier 'raus, und ihr beide werdet beschwören, daß er von Makkabäern, die uns auf der Straße angehalten haben, entführt worden ist. Wenn irgend etwas anderes über eure Lippen kommt, endet ihr im Kasten. Verstanden?«
Die beiden Soldaten nickten stumm, als sie den irren Ausdruck in Caldwells Augen sahen.
Der Wagen verlangsamte seine Fahrt in der Nähe des Kaffeehauses.
Der Junge wurde auf die Straße hinausgeworfen, und der Wagen fuhr rasch weiter nach Jerusalem.
Es kam genau, wie Caldwell es vorausgesehen hatte. Innerhalb einer Stunde hatte man Ben Solomon umgebracht und verstümmelt. Er wurde enthauptet. Der abgeschlagene Kopf wurde an den Haaren in die Höhe gehalten und mit zwanzig Arabern fotografiert, die lachend dabeistanden. Das Bild wurde vervielfältigt und verbreitet, um den Juden warnend zu zeigen, was ihnen allen früher oder später drohte. Major Fred Caldwell hatte einen verhängnisvollen Fehler begangen. Einer der Araber, die in dem Kaffeehaus saßen und sahen, wie der Junge aus dem Wagen geworfen wurde, war ein Makkabäer.
General Sir Arnold Haven-Hurst war wütend. Unruhig ging er in seinem Dienstzimmer der Kommandantur in Jerusalem auf und ab, dann nahm er Cecil Bradshaws Brief, der auf seinem Schreibtisch lag, und las ihn noch einmal. »Die Situation hat ein solches Stadium erreicht, daß ich mich, falls von Ihnen nicht Vorschläge für eine sofortige Stabilisierung gemacht werden können, dazu gezwungen sehe, die Sache vor die UNO zu bringen.«
Vor die UNO, wahrhaftig! Der General brummte wütend, knüllte den Brief zusammen und warf ihn auf den Fußboden. Das also war der Dank, daß er fünf Jahre lang gegen die Juden angegangen war. Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges hatte er das Kriegsministerium davor gewarnt, Juden in die britische Armee aufzunehmen, aber nein, man hatte nicht auf ihn gehört. Und jetzt sollte vielleicht gar das Palästina-Mandat verlorengehen. Haven-Hurst begab sich an seinen Schreibtisch und begann eine Antwort auf den Brief von Bradshaw auszuarbeiten.
Ich schlage vor, unverzüglich folgende Maßnahmen zu ergreifen, durch welche meiner Meinung nach Ruhe und Ordnung in Palästina wiederhergestellt werden können:
1. Aufhebung aller zivilen Gerichte und Übertragung der Strafgewalt an den militärischen Befehlshaber.
2. Auflösung des Jischuw-Zentralrats, der Zionistischen Siedlungsgesellschaft und aller anderen jüdischen Agenturen.
3. Verbot aller jüdischen Zeitungen und Publikationen.
4. Rasche und unauffällige Liquidierung von zirka sechzig führenden Jischuw-Männern. Hadsch Amin el Husseini hat sich dieser Methode gegenüber seinen politischen Opponenten erfolgreich bedient. Dieser Teil des Programms könnte durch arabische Helfer ausgeführt werden.
5. Restloser Einsatz der Arabischen Legion von Transjordanien.
6. Verhaftung einiger hundert führender Jischuw-Angehöriger zweiter Ordnung, und anschließende rasche Verbannung dieser Leute in irgendwelche entfernten afrikanischen Kolonien.
7. Bevollmächtigung des militärischen Befehlshabers, jede Siedlung, jeden Ort oder jeden Stadtteil, in dem Waffen vorgefunden werden, zu zerstören. Überprüfung der gesamten jüdischen Bevölkerung von Palästina, und sofortige Deportation aller dabei festgestellten illegalen Einwanderer.
8. Für jede Terroraktion der Makkabäer wird der jüdischen Bevölkerung eine kollektive Geldbuße auferlegt; diese Geldbußen sind so hoch zu bemessen, daß die Juden veranlaßt werden, sich an der Ergreifung dieser verbrecherischen Elemente zu beteiligen.
9. Aussetzung höherer Belohnungen für Informationen über prominente Makkabäer, Aliyah-Bet-Agenten, Hagana-Führer etc.
10. Jeder Makkabäer, der ergriffen wird, ist auf der Stelle zu erhängen oder zu erschießen.
11. Boykottmaßnahmen gegen den jüdischen Handel, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, und Blockierung des gesamten jüdischen Im- und Exports.
12. Vernichtung des Palmach durch bewaffnete Angriffe auf jüdische Siedlungen, von denen bekannt ist, daß sie Palmach-Einheiten Unterschlupf gewähren.
Meine Truppen waren bisher gezwungen, unter den denkbar schwierigsten Bedingungen zu operieren. Wir mußten uns an die Regeln halten und darauf verzichten, unser Potential uneingeschränkt und auf die wirkungsvollste Weise einzusetzen. Die Makkabäer dagegen, die Hagana, der Palmach und Aliyah Bet halten sich an keinerlei Spielregeln. Sie halten unsere Zurückhaltung für Schwäche und machen sie sich zunutze. Wenn man mir erlaubt, meine Streitkräfte einzusetzen, versichere ich, daß die Ordnung in kurzer Zeit wiederhergestellt sein wird.
General Sir Arnold Haven-Hurst KBE, CB, DSO, MC Cecil Bradshaws Gesicht war bleich, als General Tevor-Browne in seinem Büro in Chatham-House anlangte.
»Nun, Bradshaw, Sie wollten wissen, was Haven-Hurst vorzuschlagen hat. Jetzt wissen Sie es.«
»Ist der Mann wahnsinnig geworden? Großer Gott, was er da vorschlägt, das hört sich ähnlich an wie Adolf Hitlers ,Endlösung'.« Bradshaw nahm Haven-Hursts »Zwölf Punkte« von seinem Schreibtisch und schüttelte den Kopf. »Wir haben weiß Gott den Wunsch, Palästina zu halten — aber morden, Ortschaften niederbrennen, Menschen erhängen und aushungern? Solche Vorschläge kann ich nicht befürworten. Und selbst, wenn ich es täte, so weiß ich nicht, ob es in der britischen Armee genügend Leute gibt, die bereit wären, sie auszuführen. Ich habe mich mein ganzes Leben lang für das Empire eingesetzt, Sir Clarence, und mehr als einmal mußten wir uns entschließen, harte Maßnahmen zu ergreifen. Doch glaube ich noch an Gott. Auf diese Weise werden wir Palästina nicht halten. Ich jedenfalls will damit nichts zu tun haben. Mag jemand anderer Haven-Hurst seine Zustimmung erteilen — ich nicht.«
Cecil Bradshaw nahm Haven-Hursts Vorschläge und knüllte sie zusammen. Er legte sie in seinen großen Aschenbecher, hielt ein Streichholz daran und sah zu, wie das Schriftstück verbrannte. »Wir haben gottlob den Mut, für unsere Sünden geradezustehen«, sagte er leise.
Die Frage des Palästina-Mandats wurde vor die UNO gebracht.
VII.
Gegen Ende des Frühjahrs 1947 verschwand Ari ben Kanaan, den Kitty auch schon vorher kaum gesehen hatte, völlig aus ihrem Leben. Sie sah und hörte nichts mehr von ihm. Sollte er Jordana Grüße für sie aufgetragen haben, so hatte Jordana diese Grüße jedenfalls nicht ausgerichtet. Die beiden Frauen sprachen kaum noch miteinander. Kitty bemühte sich, Jordana gegenüber höflich zu sein; doch Jordana machte selbst das schwierig.
Die Frage des Palästina-Mandats lag jetzt vor der UNO, die einen Ausweg aus der verfahrenen Situation finden sollte. Der umständliche Apparat der Vereinten Nationen setzte sich in Bewegung, einen Ausschuß aus Vertretern kleinerer neutraler Länder zu bilden, der den Fall untersuchen und der Vollversammlung Vorschläge unterbreiten sollte. Der Jischuw-Zentralrat und die Zionistische Weltorganisation waren damit einverstanden, daß sich die UNO mit der Sache befaßte. Die Araber dagegen versuchten durch Drohungen, Boykotte, Erpressungen und andere Druckmittel eine unparteiische Beurteilung des Palästina-Problems zu verhindern.
In Gan Dafna wurde die militärische Ausbildung der Gadna-Gruppe mit beschleunigtem Tempo durchgeführt. Das Jugenddorf wurde zu einem Schwerpunkt der geheimen Waffenlagerung. Gewehre wurden nach Gan Dafna gebracht, um hier von den Jugendlichen gereinigt und danach heimlich zu den Palmach-Einheiten in die Siedlungen des Hule-Gebietes gebracht zu werden. Immer wieder wurde Karen dazu abkommandiert, an diesem Waffenschmuggel teilzunehmen. Genau wie alle anderen unterzog sie sich dieser Aufgabe mit selbstverständlicher Bereitwilligkeit. Kitty war jedesmal nahe daran, Karen vor der Teilnahme an diesen gefährlichen Dingen zu warnen, doch sie sagte nichts. Sie wußte, daß es zwecklos gewesen wäre. Karen ließ auch in ihren Nachforschungen über den Verbleib ihres Vaters nicht nach, obwohl bisher alles erfolglos gewesen war. Die zuversichtliche Hoffnung, von der sie in La Ciotat erfüllt gewesen war, begann allmählich zu schwinden. Sie blieb in Verbindung mit den Hansens in Dänemark. Sie schrieb jede Woche einen Brief, und jede Woche kam ein Brief und oft auch ein Paket für sie aus Kopenhagen. Meta und Aage Hansen hatten alle Hoffnung aufgegeben, daß Karen jemals zu ihnen zurückkehren würde. Auch wenn Karen ihren Vater nicht finden sollte, war sie, wie ihre Briefe zeigten, für die Hansens verloren. Karen identifizierte sich immer ausschließlicher mit Palästina und dem Judentum. Die einzige Einschränkung dabei war Kitty Fremont.
Dov Landaus Benehmen blieb seltsam und widerspruchsvoll. Gelegentlich sah es fast so aus, als würde er die Mauer seiner Einsamkeit durchbrechen, und in diesen Augenblicken vertiefte sich die Beziehung zwischen ihm und Karen. Dann aber zog sich Dov, wie erschrocken darüber, daß er sich hervorgewagt hatte, wieder in sein Schneckenhaus zurück. Mit einer fanatischen Konzentration wandte er sich seinem Studium zu, seinen Büchern und Zeichnungen, und zog sich von jeglicher lebendiger Umwelt zurück. Doch jedesmal, wenn er nahe daran war, gänzlich in seiner Isolierung zu versinken, gelang es Karen, ihn wieder daraus hervorzuholen. Seine Bitterkeit war nie so tief, Karen zurückzuweisen.
Kitty Fremont war im Lauf der Zeit in Gan Dafna immer unentbehrlicher geworden. Dr. Liebermann brauchte ihre Hilfe tagtäglich bei irgendwelchen Schwierigkeiten. Als wohlwollender Außenseiter war Kitty häufig in der Lage, Dinge zu beeinflussen, weil sie sozusagen nicht zur Familie gehörte. Dr. Liebermanns Freundschaft wurde für sie zu einer der wichtigsten menschlichen Beziehungen, die sie je gehabt hatte. Sie ordnete sich völlig in das Leben von Gan Dafna ein und hatte in der Arbeit mit psychisch gestörten Kindern großartige Erfolge. Doch nach wie vor blieb irgendeine Grenze, eine Trennung bestehen. Kitty war sich darüber klar, daß dies teilweise an ihr selbst lag, doch sie wollte keine Änderung.
Im Zusammensein mit Bruce Sutherland fühlte sich Kitty sehr viel wohler und behaglicher als im Zusammensein mit den Menschen von Gan Dafna. Bei Sutherland war sie entspannt und zufrieden, und sie sah mit wachsender Ungeduld den dienstfreien Tagen entgegen, die sie mit Karen in Sutherlands Villa verbringen konnte. Wenn sie bei Sutherland war, wurde ihr jedesmal wieder der Unterschied bewußt, der zwischen ihr und den Juden bestand. Harriet Salzmann kam zweimal zu Besuch nach Gan Dafna. Beide Male versuchte die alte Frau, Kitty dazu zu überreden, in einem der Jugend-Aliyah-Zentren im Gebiet von Tel Aviv die Stellung einer Chef-Pflegerin zu übernehmen. Kitty war eine hervorragende Organisatorin und sorgte mit großer Energie dafür, daß der Betrieb reibungslos lief. Diese Eigenschaften, zu denen noch ihre umfassende berufliche Erfahrung und Fähigkeit hinzukamen, wurden an all den Orten, die nicht so gut organisiert waren wie Gan Dafna, dringend benötigt. Doch Kitty lehnte ab. Sie hatte sich in Gan Dafna eingelebt, und Karen fühlte sich bei ihr ganz wie zu Hause. Kitty hatte keinen beruflichen Ehrgeiz und auch kein Interesse, in der Jugend-Aliyah Karriere zu machen.
Der entscheidende Grund ihrer Absage war jedoch, daß sie keinen Posten übernehmen wollte, auf dem sie für Gadna-Aktionen und den Waffenschmuggel verantwortlich gewesen wäre. Kitty war entschlossen, neutral zu bleiben. Ihre Arbeit sollte auch weiterhin nur beruflichen, nicht aber politischen Charakter haben.
Für Karen war Kitty Fremont wie eine ältere Schwester, die Elternstelle an ihr vertrat. Kitty tat alles, um das Mädchen glücklich zu machen. Sie wollte für Karen unentbehrlich werden, um damit ihren heimlichen Gegner aus dem Felde zu schlagen: die Macht von Erez Israel.
Im Mai, als die Regenzeit vorbei war, das Hule-Tal und die syrischen und libanesischen Berghänge üppig ergrünten, die Täler sich mit Teppichen wildwachsender Blumen schmückten und die Knospen der Frühlingsrosen von Galiläa in prächtigen weißen, roten und gelbroten Tönen erblühten, bereitete sich Gan Dafna auf einen Festtag besonderer Art. Es galt, Schawuot zu feiern, das Fest der ersten Früchte des neuen Jahres.
Alle Feste, die mit dem ländlichen Leben zusammenhingen, standen dem Herzen der Juden von Palästina besonders nahe. Es war Sitte geworden, daß zu Schawuot die Siedlungen des Hule-Gebietes Delegationen nach Gan Dafna entsandten, die an der Festlichkeit in dem Jugenddorf teilnahmen.
Von überallher kamen die Lastwagen mit den Gästen. Sie kamen von dem Moschaw Yad El, von dem Kibbuz Kfar Gileadi oben an der libanesischen Grenze, von dem am See gelegenen Ayelet Haschachar und von Ejn Or. Sie kamen von Dan an der syrischen Grenze und von Manara auf dem Gipfel des Berges.
Kitty wußte es so einzurichten, daß sie jeden der Wagen sah, der herankam. Jedesmal hoffte sie, Ari ben Kanaan unter den Gästen zu entdecken, und es gelang ihr nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Jordana, die Kitty beobachtete, sah es und lächelte höhnisch.
Der Tag war von festlicher Heiterkeit erfüllt. Es gab sportliche Wettkämpfe, und die Unterrichtsräume und Werkstätten, die sonst so kahl wirkten, waren zum Empfang der Gäste geschmückt. Auf der Grünfläche in der Mitte des Dorfes wurde Horra getanzt, während auf dem Rasen langgereiht Tische standen, die sich unter der Fülle der Speisen bogen.
Bei Sonnenuntergang begaben sich alle zu dem Freilichttheater, das in einen Hang hineingebaut und rings von Pinien umgeben war. Das Theater füllte sich bis auf den letzten Platz, und Hunderte weiterer Zuschauer lagerten sich auf den umliegenden Wiesen. Als es dunkel wurde, erstrahlten bunte Lichtergirlanden zwischen den Pinien.
Das Orchester von Gan Dafna spielte ,Hatikwa' — die Hoffnung — Dr. Liebermann hielt eine kurze Begrüßungsansprache und gab das Zeichen zum Beginn der Schawuot-Parade. Dann kehrte er zu seinem Platz neben Kitty, Bruce Sutherland und Harriet Salzmann zurück.
Kitty verspürte Angst, als sie Karen auf einem großen weißen Pferd die Parade anführen sah. Sie hielt die Stange der Fahne mit dem blauen Davidstern auf dem weißen Feld. Sie trug lange, dunkelblaue Hosen, eine bestickte Bauernbluse und Sandalen. Ihr dichtes braunes Haar hing in Zöpfen über ihre Schultern.
Kitty umklammerte die Armlehnen ihres Stuhles. Karen sah aus wie die Inkarnation des jüdischen Geistes. Habe ich sie verloren, dachte Kitty, habe ich sie verloren? Der Wind ließ die Fahne flattern; das Pferd scheute und wollte ausbrechen, doch Karen hatte es rasch wieder in der Gewalt. Sie ist von mir fortgegangen, wie sie von den Hansens fortgegangen ist, mußte Kitty denken. Harriet Salzmann sah zu ihr hinüber, und Kitty blickte zu Boden. Karen verschwand aus dem Rampenlicht; der Zug ging weiter. Es kamen die fünf Traktoren von Gan Dafna, auf Hochglanz poliert. Jeder zog einen Tafelwagen, beladen mit den Früchten der Felder des Jugenddorfes. Jeeps und Erntewagen kamen vorbei, über und über geschmückt mit Blumen. Es kamen Wagen, auf denen Kinder in Farmerkleidung mit Harken, Sensen und anderen Werkzeugen in der Hand standen.
Das Vieh des Dorfes zog vorbei, angeführt von den Kühen, die mit Blumen und bunten Bändern geschmückt waren. Es folgten die Pferde mit glänzend gestriegeltem Fell, Mähnen und Schwänze in Zöpfe geflochten. Die Schafe und die Ziegen wurden vorbeigetrieben, und die Kinder trugen ihre Lieblinge, Hunde und Katzen, ein Äffchen, weiße Mäuse und Hamster vorbei.
Kinder zogen vorüber und hielten Stoffe in der Hand, die sie gesponnen und gewebt, und Zeitungen, die sie gedruckt hatten. Sie zeigten Kunsthandwerksgegenstände, Körbe und Keramik aus ihren eigenen Werkstätten. Die Leichtathleten und Sportmannschaften des Jugenddorfes marschierten vorbei, von den Zuschauern und Gästen mit lauten Zurufen begrüßt.
Dr. Liebermanns Sekretärin kam zu ihm heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich werde dringend am Telefon verlangt.«
»Fassen Sie sich kurz und kommen Sie schnell wieder her«, rief Harriet Salzmann ihm nach.
Die Lampen in den Bäumen gingen aus, und das Theater lag einen Augenblick im Dunkeln, bis der Scheinwerfer anging, der die Bühne beleuchtete. Der Vorhang öffnete sich, eine Trommel ertönte, und auf einer Flöte aus Schilfrohr ertönte eine alte Melodie. Begleitet von der wehmütigen Monotonie der beiden Instrumente begannen die Kinder, eine Pantomime aufzuführen: Das Lied der Ruth.
Die Kostüme der Kinder waren historisch, und ihr Tanz entsprach den langsamen und ausdrucksvollen Gebärden, wie sie überliefert waren aus der Zeit, da Ruth und Naomi gelebt hatten. Dann traten andere Tänzer auf, die wilde Sprünge vollführten und leidenschaftliche Erregung ausdrückten.
Wie waren diese Kinder von der Aufgabe erfüllt, die Vergangenheit ihres Volkes wieder lebendig werden zu lassen, dachte Kitty. Mit welcher Inbrunst setzten sie sich dafür ein, den Ruhm Israels neu erstehen zu lassen.
Jetzt betrat Karen die Bühne, und unter den Zuschauern entstand erwartungsvolle Stille. Karen tanzte die Rolle der Ruth. Ihre Gebärden berichteten die so einfache und so großartige Geschichte von dem Mädchen aus dem Volk der Moabiter, die mit ihrer hebräischen Schwiegermutter nach Bethlehem zog — dem Hause des Brotes. Die Geschichte der Liebe und des einziges Gottes, die seit den Tagen der Makkabäer immer wieder beim Schawuot-Fest berichtet worden war. Ruth war eine Fremde gewesen, eine Ungläubige im Lande der Juden. Und doch gehörte sie zu den Vorfahren des Königs David.
Kitty war mutlos wie nie zuvor. Sie war eine Fremde hier, und sie würde immer eine Fremde bleiben, eine Ungläubige unter den Hebräern. Und es war ihr nicht möglich, wie Ruth zu sagen: »Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; dein Volk sei mein Volk, und dein Gott sei mein Gott.« Bedeutete das, daß sie Karen verlor? Dr. Liebermanns Sekretärin berührte Kitty an der Schulter: »Dr. Liebermann läßt Sie bitten, sofort in sein Büro zu kommen.«
Der Weg war dunkel, und Kitty mußte auf die Laufgräben achten. Sie nahm ihre Taschenlampe und leuchtete damit den Boden ab. Sie überquerte die Grünfläche und kam an der Statue von Dafna vorbei. Hinter sich konnte sie das Schlagen der Trommeln und das Weinen der Flöte hören. Sie ging rasch zu dem Verwaltungsgebäude und öffnete die Tür zu Dr. Liebermanns Büro.
»Um Gottes willen«, sagte sie, durch den Ausdruck seines Gesichtes erschreckt. »Was ist los? Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie —« »Man hat Karens Vater gefunden«, sagte er leise.
VIII.
Am nächsten Tag brachte Bruce Sutherland Kitty und Karen nach Tel Aviv. Kitty hatte erklärt, daß sie einige dringende Einkäufe machen müsse und Karen bei der Gelegenheit endlich einmal die Stadt zeigen wolle. Sie erreichten Tel Aviv gegen Mittag und begaben sich in das Gat-Rimon-Hotel auf der Hayarkon-Straße, unmittelbar am Mittelmeer. Nach dem Essen bat Sutherland, ihn zu entschuldigen, und ging in die Stadt. Während der Mittagsstunden waren die Läden geschlossen. Kitty und Karen schlenderten den sandigen Strand unterhalb des Hotels entlang und erfrischten sich dann durch ein Bad im Meer.
Gegen drei Uhr bestellte Kitty ein Taxi. Sie fuhren zum RothschildBoulevard und hielten Ecke Allenby-Road. Durch die Allenby-Road mit ihren vielen neuen Geschäften und den Rothschild-Boulevard mit dem breiten Grünstreifen in der Mitte ergoß sich ein unablässiger Strom von Wagen und Bussen, und die Menschen bewegten sich in der Gangart der Großstädter und hatten es alle eilig.
»Ich finde es wunderbar und aufregend«, sagte Karen. »Ich bin froh, daß ich mitfahren konnte. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, daß alle Leute hier, Busfahrer, Kellner und Kaufleute, daß sie alle Juden sind. Die ganze Stadt haben sie gebaut, eine jüdische Stadt. Du kannst gar nicht verstehen, was das bedeutet, oder? Eine ganze Stadt, in der alles den Juden gehört.«
Kitty war nicht so ganz einverstanden mit dem, was Karen sagte. »Bei uns in Amerika gibt es viele einflußreiche Juden, Karen«, sagte sie, »und diese Juden sind sehr glücklich und fühlen sich ganz als Amerikaner.«
»Aber das ist doch nicht dasselbe wie ein ganzes jüdisches Land. Es ist etwas anderes, zu wissen, daß es eine Ecke auf dieser Erde gibt, wo man immer willkommen ist, ein Fleckchen, das einem immer gehört, wohin man auch geht und was man auch tut.« Kitty sagte nichts, sondern holte aus ihrer Handtasche einen zerknitterten Zettel heraus, den sie langsam entfaltete. »Kannst du mir sagen, wo das ist?«
Karen sah auf den Zettel. »Zwei Querstraßen weiter. Wann wirst du endlich lernen, Hebräisch zu lesen?«
»Ich fürchte nie«, sagte Kitty, und fügte dann rasch hinzu: »Ich habe mir gestern beinahe zwei Zähne ausgebissen, als ich versuchte, ein paar Worte auf Hebräisch zu sagen.«
Sie fanden den auf dem Zettel angegebenen Laden. Es war ein Modesalon.
»Was willst du dir kaufen?« fragte Karen.
»Ich habe vor, dir etwas Vernünftiges zum Anziehen zu kaufen. Das ist ein Geschenk für dich von Brigadier Sutherland und mir.«
Karen erstarrte. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie.
»Aber warum denn nicht, Karen?«
»Ich habe an dem, was ich anhabe, gar nichts auszusetzen.«
»Ja«, sagte Kitty, »für Gan Dafna ist das ja auch ganz in Ordnung
»Ich habe alles, was ich brauche«, sagte Karen.
Sie redet manchmal genauso wie Jordana, dachte Kitty. »Hör mal, Karen — wir wollen doch nicht ganz vergessen, daß du inzwischen eine junge Dame geworden bist. Du wirst der guten Sache gewiß nicht untreu, wenn du dich ab und zu auch einmal ein bißchen nett anziehst. Wenn du nicht in Gan Dafna bist, sondern mit mir und Bruce ausgehst, dann möchten wir gern ein bißchen stolz auf dich sein können.«
Karen schielte heimlich auf die Modepuppen in den Schaufenstern. »Es ist nicht fair gegenüber den andern Mädchen«, sagte sie in einem letzten Versuch der Gegenwehr.
»Wir können die Kleider ja unter den Gewehren verstecken, wenn dich das tröstet.«
Wenige Augenblicke später drehte sich Karen entzückt vor dem Spiegel, glücklich und sehr froh darüber, daß Kitty ihren Willen durchgesetzt hatte. Alles fühlte sich so wunderbar an und sah so wunderschön aus! Wie lange war es her, daß sie so hübsche Sachen angehabt hatte? In Dänemark — vor so langer Zeit, daß sie es fast vergessen hatte. Kitty war genauso entzückt, während sie zusah, wie sich Karen aus einem Mädchen vom Lande in einen geschmackvoll gekleideten Teenager verwandelte. Sie gingen die ganze Allenby-Road entlang, machten weitere Einkäufe und bogen schließlich, mit Paketen beladen, beim Mograbi-Platz in die Ben-Yehuda-Straße ein. Glücklich und erschöpft ließen sie sich in dem ersten BoulevardCafé an einem Tisch nieder. Karen verschlang ein großes Eis und beobachtete mit großen Augen den vorbeiflutenden Strom der Passanten.
»Das ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte sie. »Nur schade, daß Dov und Ari nicht hier sind.«
Kitty war gerührt. Das Mädchen hatte ein so gutes Herz, dachte sie; immer hatte sie nur den Wunsch, anderen Gutes zu tun. Karen hatte ihren Eisbecher geleert und wurde nachdenklich. »Manchmal denke ich, was wir doch für ein Pech haben — wir mit unseren beiden sauren Zitronen.«
»Wir?«
»Na, du weißt schon — du mit Ari, und ich mit Dov.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie du auf die Idee kommst, es könnte zwischen Mr. Ben Kanaan und mir irgend etwas sein. Jedenfalls bist du ganz und gar im Irrtum.«
»Ha, ha, ha«, antwortete Karen. »Und weshalb hast du dir, bitte, den Hals verrenkt bei jedem Wagen, der gestern zur Schawuotfeier nach Gan Dafna kam? Nach wem hast du denn Ausschau gehalten, wenn nicht nach Ari ben Kanaan?«
Kitty nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, um ihre Verlegenheit zu verbergen.
Karen wischte sich die Lippen ab und zuckte mit den Achseln. »Mein Gott, das kann doch jeder sehen, daß du in ihn verliebt bist.« Kitty sah Karen aus schmalen Augen an. »Hören Sie mal, Sie kluge junge Dame —.«
»Versuche es nur zu leugnen — dann laufe ich auf die Straße und rufe es den Leuten laut auf Hebräisch zu.«
Kitty hob die Hände hoch. »Ich gebe es auf, mit dir zu streiten. Aber du wirst eines Tages begreifen, daß ein Mann für eine Frau von Dreißig sehr attraktiv sein kann, ohne daß das auch nur im geringsten etwas Ernsthaftes zu bedeuten hat. Ich finde Ari sehr nett, aber deine romantischen Ideen muß ich leider zerstören.«
Karen sah Kitty mit einem Blick an, der deutlich erkennen ließ, daß sie ihr ganz einfach nicht glaubte. Sie seufzte, beugte sich zu Kitty und faßte sie am Arm, als wäre sie im Begriff, ihr ein tiefes Geheimnis mitzuteilen. »Ari braucht dich, das weiß ich«, sagte sie mit dem bedeutsamen Ernst des Teenagers.
Kitty streichelte Karens Hand und ordnete eine Strähne, die sich im Zopf des Mädchens gelockert hatte. »Ich wollte, ich wäre noch einmal Sechzehn, und alles wäre so klar und einfach, wie es einem in diesem Alter scheint. Nein, Karen, Ari ben Kanaan gehört zu einer Sorte übermenschlicher Wesen, deren entscheidendes Kapital darin besteht, daß sie sich auf sich selbst verlassen können. Ari ben Kanaan hat keinen anderen Menschen mehr nötig gehabt, seit er als Junge mit dem Ochsenziemer seines Vaters umzugehen lernte. Sein Blut besteht nicht wie bei uns aus roten und weißen Blutkörperchen, sondern aus Stahl und Eisen, und sein Herz ist eine Pumpe, wie der Motor von dem Autobus da drüben. Durch all das steht er oberhalb und außerhalb der Gefühle, von denen die anderen Sterblichen bewegt und beherrscht werden.«
Kitty verstummte. Sie saß unbeweglich da, und ihr Blick ging durch Karen hindurch.
»Du hast ihn sehr lieb.«
»Ja«, sagte Kitty seufzend, »das habe ich. Und was du vorher gesagt hast, stimmt. Wir haben wirklich ein paar saure Zitronen erwischt. Und jetzt müssen wir zurück zum Hotel. Ich möchte, daß du dich umziehst und dich für mich so hübsch machst wie eine Prinzessin. Bruce und ich haben eine Überraschung für dich. Die Zöpfe wollen wir auch mal weglassen.«
Karen sah wirklich wie eine Prinzessin aus, als Sutherland die beiden zum Essen abholte. Die Überraschung war ein Besuch des Habima-Nationaltheaters, in dem an diesem Abend ein französisches Ballett auftrat, das sich auf einer Gastspielreise befand und das vom Philharmonischen Orchester von Tel Aviv begleitet wurde. Während der ganzen Vorstellung von Schwanensee saß Karen auf der vordersten Kante ihres Platzes und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jeden Schritt der Primaballerina, die über die Bühne schwebte. Karen war von der Schönheit und der märchenhaften Szenerie fasziniert und überwältigt.
Wie schön war das alles, dachte Karen. Sie hatte fast vergessen gehabt, daß es auf dieser Welt noch solche Dinge wie ein Ballett gab. Und was für ein Glück, einen Menschen wie Kitty Fremont zu haben. Freudentränen liefen ihr über das Gesicht.
Kitty hatte kaum Augen für das Ballett, so gespannt beobachtete sie Karen. Sie spürte, daß es ihr gelungen war, in dem Mädchen etwas zu wecken, das in ihr geschlafen hatte. Karen schien etwas wiederzuentdecken, das früher einmal die Welt für sie bedeutet hatte und das ebenso wichtig war wie das Grün der Felder von Galiläa. Kitty faßte erneut den Entschluß, dies in Karen immer lebendig zu erhalten.
Morgen sollte Karen ihren Vater sehen, und dann würde ihr Leben vielleicht in eine andere Richtung gehen.
Es war schon spät, als sie zum Hotel zurückkamen. Karen war außer sich vor Glück. Sie riß die Tür des Hotels auf und schwebte tanzend durch die Halle. Die englischen Offiziere, die in der Halle saßen, machten erstaunte Augen. Kitty schickte Karen zu Bett; sie selbst traf Sutherland an der Bar, um vor dem Schlafengehen noch ein Glas zu trinken.
»Haben Sie ihr schon von ihrem Vater erzählt?«
»Nein.«
»Möchten Sie, daß ich mitkomme?«
»Ich möchte lieber allein mit ihr hingehen.«
»Natürlich, das verstehe ich.«
»Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie hinterher da wären.«
»Ich werde da sein.«
Kitty stand auf und gab Sutherland einen Kuß auf die Backe.
»Gute Nacht, Bruce.«
Karen tanzte noch immer im Zimmer herum, als Kitty hereinkam. »Hast du das gesehen — Odette, in dem letzten Bild?« sagte sie und ahmte die Schritte der Tänzerin nach.
»Es ist spät, und du bist ein müdes Indianermädchen.«
»Ach, was war das heute für ein wunderbarer Tag!« sagte Karen und ließ sich auf ihr Bett fallen.
Kitty ging ins Bad und zog sich aus. Vom Zimmer her hörte sie Karens Stimme, die Melodien der Ballettmusik summte. »O Gott«, flüsterte Kitty. »Warum muß ihr das widerfahren?« Kitty schlug die Hände vor ihr Gesicht und zitterte. »Gib ihr Kraft — bitte, gib ihr Kraft.« Sie ging zu Bett und lag mit weitgeöffneten Augen in der Dunkelheit. Sie hörte, wie Karen sich bewegte, und sah zu ihr hinüber. Karen stand auf, kniete sich neben Kittys Bett und legte ihren Kopf auf Kittys Brust. »Ich habe dich so lieb, Kitty«, sagte sie. »Meine eigene Mutter könnte ich nicht lieber haben als dich.«
Kitty drehte den Kopf zur Wand und strich Karen über das Haar. »Du mußt jetzt aber schlafen gehen«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Wir haben morgen viel vor.«
Kitty konnte nicht schlafen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, und von Zeit zu Zeit stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab. Jedesmal, wenn sie die schlafende Karen ansah, zog sich ihr Herz zusammen. Noch lange nach Mitternacht saß sie am Fenster und hörte auf das Rauschen der Brandung. Es war vier Uhr morgens, als Kitty endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.
Am Morgen war ihr das Herz schwer, und unter ihren Augen waren von der schlaflosen Nacht dunkle Schatten. Ein dutzendmal versuchte sie vergebens, Karen aufzuklären. Das Frühstück auf der Terrasse verlief schweigsam. Kitty nippte stumm an ihrem Kaffee. »Wo ist eigentlich Brigadier Sutherland?« fragte Karen.
»Er mußte in die Stadt, um irgend etwas zu erledigen. Aber er wird bald wieder da sein.«
»Und was werden wir heute machen?«
»Oh, so ein bißchen dies und ein bißchen das.«
»Kitty — es ist irgend etwas mit meinem Vater, nicht wahr?«
Kitty senkte den Blick.
»Ich glaube, ich habe es schon die ganze Zeit gewußt«, sagte Karen. »Du mußt bitte nicht denken, daß ich dir etwas vormachen wollte — aber —.«
»Was ist denn — bitte, sage es mir — was ist mit ihm?«
»Er ist sehr, sehr krank.«
»Ich möchte ihn sehen«, sagte Karen, und ihre Lippen zitterten.
»Er wird dich vielleicht gar nicht erkennen, Karen.«
Karen machte den Rücken steif und sah auf das Meer hinaus.
»Ich habe so lange auf diesen Tag gewartet.«
»Karen, bitte —.«
»Seit mehr als zwei Jahren — seit dem Tag, an dem ich wußte, daß der Krieg zu Ende ging — bin ich jeden Abend mit dem gleichen Traum eingeschlafen. Ich lag im Bett und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich meinen Vater wiederfände. Ich wußte genau, wie er aussehen würde und was wir miteinander reden würden. In dem Flüchtlingslager in Frankreich und in dem Lager in Zypern, all die Monate lang habe ich es mir Abend für Abend immer wieder ausgemalt — mein Vater und ich. Die ganze Zeit hindurch wußte ich ganz genau, daß er am Leben geblieben war — und daß er auch weiter am Leben bleiben würde.«
»Karen, hör auf, bitte. Es wird leider nicht so sein, wie du es dir ausgemalt hast.«
Das Mädchen zitterte am ganzen Leibe. Es hatte feuchte Hände. Heftig sprang sie vom Stuhl auf und rief mit flehender Stimme: »Bring mich zu ihm.«
Kitty ergriff das Mädchen bei den Armen und hielt es fest. »Du mußt dich auf etwas Schreckliches gefaßt machen.«
»Bring mich zu ihm — bitte, bitte!«
»Vergiß bitte das eine nicht. Was immer auch geschehen mag, was immer du sehen magst — vergiß nicht, daß ich ganz in der Nähe bin.
Ich werde bei dir sein, Karen. Versprichst du mir, daran zu denken?« »Ja — ich werde daran denken.«
Der Arzt saß Karen und Kitty gegenüber. »Dein Vater ist von der Gestapo gefoltert worden, Karen«, sagte er. »Zu Anfang des Krieges wollten ihn die Nazis dazu bringen, für sie zu arbeiten, und sie haben ihm auf alle nur denkbare Weise zugesetzt. Doch schließlich mußten sie es aufgeben. Er konnte für die Nazis einfach nicht arbeiten, selbst auf die Gefahr hin, daß er durch seine Weigerung das Leben deiner Mutter und deiner Brüder gefährdete.«
»Es fällt mir jetzt wieder ein«, sagte Karen. »Ich erinnere mich, wie ich in Dänemark war und plötzlich keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, und wie ich nicht wagte, Aage Hansen danach zu fragen, was mit meiner Familie geschehen sei.«
»Dein Vater kam nach Theresienstadt, und deine Mutter und deine Brüder —.«
»Ja, ich weiß.«
»Man brachte deinen Vater nach Theresienstadt, weil man hoffte, daß er seine Meinung ändern würde. Was mit deiner Mutter und mit deinen Brüdern geschehen war, erfuhr dein Vater erst, als der Krieg zu Ende war. Er fühlte sich schuldig, weil er zu lange gezögert hatte, aus Deutschland wegzugehen, und dadurch deine Mutter und deine Brüder ins Verderben gebracht hatte. Als er nach den langen Jahren der Qual erfuhr, welches Schicksal seine Angehörigen erlitten hatten, verlor er den Verstand.«
»Aber er wird doch wieder gesund werden?« sagte Karen.
Der Arzt sah Kitty an. »Er leidet an einer schweren chronischen Depression.«
»Und was bedeutet das?« fragte Karen.
»Karen, leider wird dein Vater nicht wieder gesund werden«, sagte der Arzt.
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Karen. »Ich möchte ihn sehen.« »Erinnerst du dich überhaupt noch an ihn?« fragte der Arzt.
»Nur ganz wenig.«
»Ich glaube, es wäre besser, wenn du dir die Erinnerung, die du an ihn noch hast, bewahrst, als wenn du ihn so siehst, wie er jetzt ist.« »Sie muß ihn sehen, Doktor«, sagte Kitty, »ganz gleich, wie schwer es für sie ist. Aber sie muß Gewißheit haben.«
Der Arzt führte sie einen Korridor entlang und blieb vor einer Tür stehen. Eine Krankenschwester schloß auf. Der Arzt öffnete die Tür und blieb am Eingang stehen.
Karen betrat den Raum, der einer Zelle ähnlich sah. Ein Stuhl, ein Regal, ein Bett. Sie sah sich einen Augenblick suchend um — und erstarrte. In einer Ecke auf dem Fußboden saß ein Mann. Er war barfuß und ungekämmt. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, hatte die Arme um die Knie geschlungen und starrte mit leerem Blick auf die gegenüberliegende Wand.
Karen ging einen Schritt auf ihn zu. Sein Kinn war mit Stoppeln bedeckt und sein Gesicht voller Narben. Karens hämmernder Herzschlag wurde plötzlich ruhig. Das ist alles ein Irrtum, dachte sie — dieser Mann da ist ein Fremder — das ist doch nicht mein Vater. Es kann gar nicht mein Vater sein. Es ist ein Irrtum, ein Irrtum! Sie hätte sich am liebsten umgedreht und laut gerufen: Sehen Sie, Sie haben sich geirrt! Das ist gar nicht Johann Clement, es ist nicht mein Vater! Mein Vater ist irgendwo anders, er lebt und sucht nach mir. Karen stand vor dem Mann, der am Boden hockte, und sah ihn an, um sich Gewißheit zu verschaffen. Sie starrte in die leeren, ausdruckslosen Augen. Es war so lange her — lag so weit zurück, daß sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Doch dieser Mann da, das war nicht der, dem sie in ihren Träumen begegnet war.
Da war ein Kamin, und es roch nach Pfeifengeruch. Und da war auch ein Hund. Der hieß Maximilian. Im Zimmer nebenan schrie ein Baby. »Miriam, bring doch mal das Baby zur Ruhe. Ich lese hier meiner Tochter eine Geschichte vor und möchte dabei nicht gestört werden.«
Karen Hansen-Clement ließ sich vor dem menschlichen Wrack, das am Boden hockte, langsam auf die Knie nieder.
In Omas Haus in Bonn roch es immer nach frischgebackenen Plätzchen. Die ganze Woche über backte sie Plätzchen, damit sie genügend davon hatte, wenn die Familie am Sonntag zusammenkam. Der Mann, der auf dem Fußboden hockte, starrte weiter die gegenüberliegende Wand an, als sei er allein.
Sieh doch nur, wie ulkig die Äffchen im Kölner Zoo sind! Köln hat den schönsten Zoo, den es auf der ganzen Welt gibt. Und wann ist wieder Karneval?
Karen musterte den Mann, der da saß, von den nackten Füßen bis zu seiner narbenbedeckten Stirn. Sie entdeckte nichts — nicht das geringste, das sie an ihren Vater erinnerte —.
»Jude! Jude! Jude!« schrie der Mob hinter ihr her, während sie mit blutüberströmtem Gesicht nach Hause rannte. »Aber, aber, Karen, nun wein doch nicht. Dein Pappi ist ja da, und er wird dafür sorgen, daß dir niemand etwas tut.«
Karen streckte die Hand aus und berührte die Wange des Mannes. »Pappi?« sagte sie. Der Mann rührte sich nicht und reagierte auch sonst nicht.
Da war ein Zug, und viele Kinder, und es hieß, sie würden nach Dänemark fahren, aber Karen war müde. »Auf Wiedersehen, Pappi«, hatte sie gesagt. »Hier, nimm du meine Puppe. Sie wird auf dich aufpassen.« Sie stand hinten auf der Plattform des letzten Wagens und sah zu ihrem Pappi hin, der auf dem Bahnsteig stand und kleiner und kleiner wurde.
»Pappi! Pappi!« rief Karen. »Ich bin's, Pappi! Karen, dein kleines Mädchen! Ich bin inzwischen ein großes Mädchen geworden, Pappi. Kennst du mich denn gar nicht mehr?«
Der Arzt hielt Kitty fest, die an der Tür stand und am ganzen Leib zitterte. »Bitte«, rief Kitty, »lassen Sie mich ihr helfen.«
»Lassen Sie das Mädchen damit fertig werden«, sagte der Arzt. Und in Karen stieg die Erinnerung auf. »Ja!« rief sie. »Ja, das ist mein Vater! Es ist wirklich mein Vater!«
»Vater!« rief sie und schlang ihre Arme um ihn. »Bitte, sprich mit mir. Sag doch etwas zu mir. Ich bitte dich — bitte dich!«
Der Mann, der früher einmal Johann Clement gewesen war, zwinkerte mit den Augen. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck neugieriger Überraschung, als er wahrnahm, daß sich jemand an ihn klammerte. Einen Augenblick lang blieb dieser überraschte Ausdruck auf seinem Gesicht, als versuchte er, die Finsternis seiner geistigen Umnachtung zu durchdringen — doch dann sank er wieder in den Ausdruck der Leblosigkeit zurück.
»Vater!« rief Karen. »Vater! Vater!«
Und in dem leeren Raum und durch den langen Korridor ertönte das Echo ihrer Stimme: Vater!
Die starken Arme des Arztes lösten Karen aus der Umklammerung, und mit sanfter Gewalt wurde sie hinausgeführt. Die Tür wurde zugemacht und abgeschlossen, und Johann Clement war aus Karens Leben verschwunden, für immer.
Karen schluchzte verzweifelt und barg sich in Kittys Armen. »Er hat mich nicht einmal erkannt! O mein Gott — Gott — warum hat er mich nicht erkannt? Sag es mir, Gott — sag es mir!«
»Sei ruhig, Kleines, es wird alles wieder gut. Kitty ist ja da.«
»Bleib bei mir, Kitty, laß mich nie mehr allein!«
»Nein, mein Kleines — ich bleibe bei dir — Kitty wird immer bei dir bleiben.«
IX.
Die Kunde von Karens Vater war nach Gan Dafna gedrungen, noch ehe sie und Kitty dorthin zurückgekehrt waren. Auf Dov Landau hatte die Nachricht eine erschütternde Wirkung. Zum erstenmal seit jenem Tage, da ihn sein Bruder Mundek in dem Bunker unter dem Warschauer Ghetto in seinen Armen gehalten hatte, war es Dov Landau möglich, für einen anderen als sich selbst Mitleid zu empfinden. Seine Sorge um Karen Clement war der Lichtstrahl, der endlich seine finstere Welt erhellte.
Sie war der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen besaß, für den er Zuneigung empfand. Warum mußte ausgerechnet ihr dies geschehen? Wie oft hatte ihm Karen in dem Lager auf Zypern gesagt, daß sie fest davon überzeugt war, ihren Vater wiederzufinden. Der schwere Schlag, der Karen jetzt getroffen hatte, bereitete auch ihm tiefen Schmerz.
Wen hatte sie nun noch auf dieser Welt? Ihn und Mrs. Fremont. Und was bedeutete er für sie? Er war eine Last — ein Nichts. Zuweilen wünschte er, Mrs. Fremont hassen zu können; doch das konnte er nicht, weil er wußte, daß es für Karen gut war, Mrs. Fremont zu haben. Da Karens Vater jetzt nicht mehr im Wege stand, würde Mrs. Fremont sie vielleicht nach Amerika mitnehmen. Doch er stand noch im Wege. Er wußte genau, daß Karen ihn nicht allein lassen würde. Deshalb gab es für ihn nur einen Weg.
In Gan Dafna war ein Junge namens Mordechai als heimlicher Werber für die Makkabäer tätig. Von ihm erfuhr Dov, wo und wie er sich mit dieser Organisation in Verbindung setzen konnte.
Die Türen der Bungalows, in denen die Angehörigen des Lehrpersonals in Gan Dafna wohnten, waren nie abgeschlossen. Dov wartete eines Abends, bis alle zum Essen gegangen waren, und machte dann einen Raubzug durch mehrere Wohnungen. Er stahl einige Ringe und Schmuckstücke und floh nach Jerusalem.
Bruce Sutherland begab sich unverzüglich zu Dr. Liebermann und bat ihn, Kitty dringend nahezulegen, daß sie mit Karen für ein oder zwei Wochen zu ihm in seine Villa käme, bis sich das Mädchen einigermaßen von seinem Schock erholt hatte.
Zusammen mit dem Verschwinden von Dov Landau wirkte sich das Schicksal von Karens Vater als trauriger Sieg für Kitty aus. Sie fühlte, daß sie Karen in kurzer Zeit dazu bewegen konnte, mit ihr nach Amerika zu gehen. Kitty mußte, während sie mit Karen bei Sutherland war, dauernd daran denken. Sie fand sich selbst abscheulich, weil sie in Karens tragischem Unglück ihren Vorteil suchte; doch sie konnte ihren Gedanken nicht verbieten, sich damit zu beschäftigen. Seit sie Karen damals in dem Zelt in Caraolos zum erstenmal gesehen hatte, war dieses Mädchen der Mittelpunkt geworden, um den ihr ganzes Leben kreiste.
Eines Tages nach dem Mittagessen kam Ari ben Kanaan zu Sutherland. Er wartete im Arbeitszimmer, während der Dienstbote Sutherland aus dem Garten holte. Bruce bat Kitty und Karen, die in der Sonne lagen, ihn einen Augenblick zu entschuldigen. Die beiden Männer sprachen fast eine Stunde lang miteinander über einen Auftrag, den Ari für Sutherland hatte.
»Ich habe übrigens eine gute Bekannte von Ihnen bei mir«, sagte Sutherland, nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten. »Kitty Fremont ist mit der kleinen Clement für vierzehn Tage bei mir zu Gast.«
»Ich habe schon gehört, daß Sie und Mrs. Fremont dicke Freunde geworden sind«, sagte Ari.
»Ja«, sagte Sutherland, »ich halte Katherine Fremont für eine der großartigsten Frauen, die ich jemals kennengelernt habe. Sie sollten nach Gan Dafna fahren und sich ansehen, was sie dort mit einigen der Kinder fertiggebracht hat. Da war ein Junge, der vor sechs Monaten überhaupt kein Wort sprach, und jetzt hat er nicht nur seine Stummheit verloren, sondern er hat sogar angefangen, als Hornist im Schulorchester mitzuspielen.«
»Auch davon habe ich schon gehört«, sagte Ari.
»Ich habe darauf bestanden, daß sie mit Karen Clement hierher zu mir kam. Die Kleine hat ihren Vater wiedergefunden. Der arme Kerl ist völlig und unheilbar geistesgestört. Ein entsetzlicher Schock für die Tochter. Kommen Sie mit in den Garten.«
»Tut mir leid — ich habe noch Verschiedenes zu erledigen.« »Unsinn, davon will ich nichts hören.« Er hakte Ari unter und führte ihn hinaus.
Kitty hatte Ari seit Wochen nicht mehr gesehen. Sie erschrak bei seinem Anblick. Ari sah schlecht aus.
Kitty war erstaunt, wie sanft und gütig Ari seinem Mitgefühl für Karen Ausdruck gab. Er war dem Mädchen gegenüber von einer
Zartheit und Besorgtheit, deren sie ihn nie für fähig gehalten hatte. War es, weil Karen eine Jüdin war und sie nicht? Sie hatte er nie so zärtlich behandelt! Doch schon im nächsten Augenblick ärgerte sich Kitty über solche Gedanken. Begann sie wirklich schon, jedes Wort und jede Geste in einer Bedeutung zu sehen, die ihnen gar nicht zukam? Unsinn!
Kitty und Ari gingen zusammen durch Sutherlands Rosengarten. »Wie nimmt sie es?« fragte Ari.
»Sie ist sehr tapfer und von einer sehr großen inneren Kraft«, sagte Kitty. »Es war ein schreckliches Erlebnis für sie, aber sie trägt es mit einer bemerkenswerten Haltung.«
Ari wandte den Kopf und sah zu Karen zurück, die mit Sutherland Dame spielte. »Sie ist wirklich ein wunderschönes Mädchen.«
Seine Worte überraschten Kitty. Diesen Ton echter Ergriffenheit hatte sie noch nie bei ihm gehört, und oft hatte sie sich gefragt, ob er überhaupt Sinn für Schönheit besaß. Sie blieb am Ende des Weges an einer niedrigen Mauer stehen, die den Abschluß des Gartens bildete. Kitty setzte sich auf die steinerne Mauer und sah hinaus auf das Land Galiläa, und Ari zündete sich und ihr eine Zigarette an.
»Ari, ich habe Sie noch nie um einen persönlichen Gefallen gebeten, doch jetzt würde ich es gern tun.«
»Aber bitte.«
»Über die Sache mit ihrem Vater wird Karen im Laufe der Zeit hinwegkommen, aber da ist noch etwas anderes. Dov Landau ist aus Gan Dafna weggelaufen. Wir nehmen an, daß er nach Jerusalem gefahren ist, um sich den Makkabäern anzuschließen. Der Junge bedeutet für sie sozusagen eine Lebensaufgabe. Durch das Schicksal ihres Vaters ist der Verlust von Dov für sie noch schwerer geworden. Sie verzehrt sich in Sorge um ihn. Ich möchte Sie bitten, ihn ausfindig zu machen und nach Gan Dafna zurückzubringen. Ich weiß, daß Sie über die entsprechenden Verbindungen verfügen, um festzustellen, wo er ist. Und er wird zurückkommen, wenn es Ihnen gelingt, ihm klarzumachen, daß Karen ihn braucht.«
Ari sah Kitty neugierig und verwundert an. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte er. »Das Mädchen gehört doch jetzt Ihnen. Dov Landau war der einzige Mensch, der Ihnen möglicherweise noch hätte hinderlich sein können, und er war so freundlich, dieses Hindernis selbst aus dem Wege zu räumen.«
Kitty sah ihn ruhig an. »Eigentlich sollte ich durch das, was Sie sagen, beleidigt sein. Ich bin aber nicht beleidigt, weil es wirklich so ist, wie Sie sagen. Es handelt sich nur darum, daß ich mein eigenes Glück nicht auf ihrem Unglück aufbauen kann. Ich kann mit ihr nicht nach Amerika gehen, solange diese Sache mit Dov nicht geklärt ist.« »Das ist sehr edel von Ihnen.«
»Nein, Ari, meine Motive sind gar nicht so edel. Karen ist in allem sehr vernünftig, nur nicht in bezug auf diesen Jungen. Aber wir haben ja alle irgendwo unsere Schwächen. Sie wird viel rascher über ihn hinwegkommen, wenn er in Gan Dafna ist. Dadurch, daß er bei den Makkabäern ist, verklärt sich sein Bild in ihrer Vorstellung.«
»Sie müssen entschuldigen, Kitty, wenn ich so simpel und gradlinig denke. Sie denken um mehrere Ecken.«
»Ich liebe dieses Mädchen, und ich finde, daran ist nichts, was finster oder hinterhältig wäre.«
»Sie wollen Karen klarmachen, daß es für sie gar keine andere Möglichkeit gibt, als mit Ihnen zu gehen.«
»Ich will ihr klarmachen, daß es für sie etwas Besseres gibt. Sie werden mir das vielleicht nicht glauben, aber wenn ich wüßte, daß es für sie besser wäre, in Palästina zu bleiben, dann wäre ich dafür, daß sie hierbleibt.«
»Doch, vielleicht glaube ich Ihnen das sogar.«
»Können Sie, Hand aufs Herz, behaupten, daß ich irgend etwas Unrechtes tue, wenn ich sie nach Amerika mitzunehmen wünsche?« »Nein — daran ist nichts Unrechtes«, sagte Ari.
»Dann helfen Sie mir, Dov wieder nach Gan Dafna zu bekommen.« Lange Zeit sagten beide kein Wort. Dann drückte Ari seine Zigarette auf der Mauer aus. Er entfernte das Zigarettenpapier, ohne sich dieser Handlung bewußt zu sein, verstreute den losen Tabak und knüllte das Zigarettenpapier zu einer kleinen Kugel zusammen, die er in seine Tasche steckte. Er hatte von P. P. Malcolm gelernt, niemals irgendwo Zigarettenreste liegen zu lassen. Zigarettenstummel waren für die Araber gute Wegweiser bei der Suche nach feindlichen Truppen.
»Das kann ich nicht«, sagte Ari.
»Doch, Sie können es. Vor Ihnen hat Dov Respekt.«
»Sicher, ich kann ihn ausfindig machen. Ich kann ihn sogar zwingen, nach Gan Dafna zurückzukehren, und ich kann zu ihm sagen: ,Bleib hübsch dort, mein Kleiner, die Damen wünschen nicht, daß dir irgend etwas zustößt.' Sehen Sie — Dov Landau hat eine persönliche Entscheidung getroffen, die jeder Jude in Palästina mit seinem eigenen Gewissen abzumachen hat. Das Gefühl dafür ist bei uns sehr stark ausgeprägt. Mein Vater hat aus diesem Grunde seit fünfzehn Jahren nicht mehr mit seinem Bruder gesprochen. Jede Faser an Dov Landau verlangt nach Rache. Dieses Verlangen treibt ihn mit solcher Intensität, daß nur Gott oder eine Kugel ihn aufhalten können.«
»Das klingt fast so, als hießen Sie das grausame Vorgehen der Terroristen gut.«
»Zuweilen stimme ich völlig mit ihnen überein. Und manchmal lehne ich sie völlig ab. Jedenfalls möchte ich mich nicht zu ihrem Richter aufwerfen. Wer bin ich, und wer sind Sie, daß wir sagen könnten, Dov Landaus Entschluß sei nicht gerechtfertigt? Sie wissen, was man ihm angetan hat. Und Sie irren sich auch in einem anderen Punkt: wenn er nach Gan Dafna zurückgebracht wird, kann er nur noch mehr Leid über das Mädchen bringen. Dov muß tun, was er tun muß.«
Kitty stand auf, strich ihren Rock glatt, und beide gingen gemeinsam auf das Gartentor zu. »Ja, Ari«, sagte Kitty schließlich, »Sie haben recht.«
Als sie zu seinem Wagen gingen, der vor dem Haus stand, kam Sutherland zu ihnen heran. »Sind Sie länger hier in der Gegend, Ben Kanaan?« fragte er.
»Ich habe in Safed noch einiges zu erledigen, und das möchte ich gern hinter mich bringen.«
»Wollen Sie anschließend nicht wieder herkommen und mit uns zu Abend essen?«
»Ja, eigentlich —.«
»Bitte«, sagte Kitty.
»Also gut. Besten Dank.«
»Schön. Kommen Sie wieder her, sobald Sie Ihre Angelegenheiten in Safed erledigt haben.«
Sie winkten ihm nach, während er in raschem Tempo die Straße hinunterfuhr, vorbei an dem Teggart-Fort, bis er schließlich hinter einer Biegung verschwunden war.
»Er, der über Israel wacht, schläft und schlummert nicht«, sagte Kitty.
»Mein Gott, Kitty — sind Sie auch schon soweit, daß Sie aus der Bibel zitieren?«
Sie gingen in den Garten hinter dem Haus.
»Er sieht überanstrengt aus«, sagte Kitty.
»Ich finde«, sagte Sutherland, »für einen Mann, der hundertundzehn Stunden in der Woche arbeitet, sieht er gut aus.«
»Ich habe noch bei keinem Menschen eine solche Hingabe an seine Sache erlebt — oder sollte man es vielleicht Fanatismus nennen? Ich war übrigens überrascht, Bruce, ihn hier zu sehen. Ich wußte gar nicht, daß Sie mit ihm zu tun haben.«
Sutherland stopfte sich seine Pfeife. »Ich bin eigentlich nicht aktiv beteiligt. Die Hagana hat sich an mich gewandt und mich gebeten, eine Schätzung über die Stärke der arabischen Streitkräfte außerhalb Palästinas aufzustellen. Sie möchten ganz einfach die Meinung eines unparteiischen Fachmannes hören. Übrigens, Kitty, meinen Sie nicht, es wäre allmählich an der Zeit, daß Sie sich einmal ehrlich klarmachen, wo Sie eigentlich stehen?«
»Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ich nicht die Absicht habe, Partei zu ergreifen.«
»Ich fürchte, Kitty, Sie spielen Vogel Strauß. Sie befinden sich in der Mitte eines Schlachtfeldes und sagen: Bitte schießt nicht auf mein Haus, ich habe die Jalousien heruntergelassen.«
»Ich bleibe nicht in Palästina, Bruce.«
»Dann sollten sie möglichst bald abreisen. Wenn Sie meinen, Sie könnten weiter so hier leben, wie Sie es bisher getan haben, irren Sie sich.«
»Ich kann im Augenblick noch nicht fort. Ich muß noch ein Weilchen warten, bis sich Karen von ihrem Schock erholt hat.«
»Ist das wirklich der einzige Grund?«
Kitty schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe Angst vor einer Kraftprobe. Zuweilen bin ich mir völlig sicher, daß ich mit diesem Problem — Karen und Palästina — fertig geworden bin. Doch dann wieder, wie eben in diesem Augenblick, habe ich Angst davor, es auf eine Probe ankommen zu lassen.«
Als Ari zum Essen kam, konnten sie von Sutherlands Haus aus den Vollmond sehen, der über der Stadt stand.
»Drei große Gaben hat der Herr Israel versprochen, doch jede dieser Gaben wird durch Leiden errungen werden. Eine davon ist das Land Israel«, sagte Sutherland. »So sprach Bar Yochai vor zweitausend Jahren. Mir scheint, das war der Ausspruch eines sehr weisen Mannes.«
»Weil wir gerade von klugen Leuten reden«, sagte Ari, »ich fahre morgen nach Tiberias, an den See Genezareth. Sind Sie schon einmal dort gewesen, Kitty?«
»Nein, ich bin bisher leider nur sehr wenig herumgekommen.« »Dann sollten Sie sich diesen See einmal ansehen. Und zwar möglichst bald. In ein paar Wochen wird dazu allzu dicke Luft sein.« »Warum nehmen Sie Kitty dann nicht mit?« sagte Karen.
Für einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen. Dann sagte Ari: »Das — das ist wirklich eine gute Idee. Ich könnte mir meine Arbeit so einteilen, daß ich ein paar Tage Urlaub machen kann. Warum wollen wir eigentlich nicht alle hinfahren, zu viert?«
»Ich habe keine Lust«, sagte Karen. »Ich bin schon zweimal mit unserer Gadna-Jugend hinmarschiert.«
Bruce Sutherland fing den Ball auf, den ihm Karen zugespielt hatte. »Ohne mich, alter Junge. Ich war schon ein dutzendmal dort.« »Warum willst du nicht wirklich mit Ari hinfahren?« sagte Karen. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich hier bei dir bleibe«, antwortete Kitty.
»Unsinn«, sagte Sutherland. »Karen und ich kommen wunderbar allein zurecht. Im Gegenteil, es wird direkt eine Wohltat sein, Sie für ein paar Tage los zu sein, ganz abgesehen davon, daß Ari aussieht, als könnte er ein bißchen Ruhe gut gebrauchen.«
Kitty lachte. »Mir scheint, Ari, die beiden stecken unter einer Decke. Und jetzt bleibt Ihnen gar nichts anderes mehr übrig, als mich mitzunehmen.«
»Was mir sehr recht ist«, sagte er.
X.
Zeitig am anderen Morgen fuhr Ari mit Kitty zum See Genezareth. Sie kamen in das Ginossartal, das sich an seinem nördlichen Ufer entlangzog. Auf der anderen Seite des Sees erhoben sich über dieser tief unter dem Meeresspiegel gelegenen Stelle die braunen, verwitterten Höhen der syrischen Berge, und die Luft stand schwül über der Erde.
Am Ufer des Sees hielt Ari an und führte Kitty zu den Ruinen der Synagoge von Kapernaum. Hier hatte Jesus gelehrt und Menschen geheilt. Längst vergessene Worte fielen Kitty wieder ein. »Als nun Jesus an dem galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen.«
Es war, als sei Jesus noch immer gegenwärtig. Am Rande des Wassers warfen Fischer ihre Netze aus. Nicht weit davon graste eine kleine Herde schwarzer Ziegen, die von einem in Lumpen gehüllten Hirten bewacht wurde, der sich auf seinen Stock stützte. Hier schien die Zeit stillzustehen.
Dann führte Ari sie zu der ein kurzes Stück von Kapernaum entfernten Kirche, die die Stelle bezeichnete, wo das Wunder der Speisung der Viertausend stattgefunden hatte. Der Boden der Kirche war mit einem byzantinischen Mosaik geschmückt, auf dem Kormorane dargestellt waren, Reiher, Enten und andere Vögel, die noch heute den See bevölkerten.
Danach gingen sie auf den Berg der Seligpreisungen weiter zu einer kleinen Kapelle, die auf der Höhe stand, wo Jesus die Bergpredigt gehalten hatte.
»Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolget werden; denn das Himmelreich ist ihrer. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnet werden. Denn also haben sie verfolget die Propheten, die vor euch gewesen sind.«
Das waren Seine Worte, gesprochen an dieser Stelle. Sie fuhren durch das verschlafene Araberdorf Migdal, den Geburtsort der Maria Magdalena. Sie verließen die Ebene von Hattin und fuhren durch ein Land, das mit einem roten Teppich wildwachsender Blumen bedeckt war.
»Wie rot diese Blumen sind«, sagte Kitty. »Halten Sie bitte einen Augenblick an, Ari.«
Er fuhr an den Rand der Straße, und Kitty stieg aus. Sie pflückte eine der Blumen und sah sie sich genauer an. »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, sagte sie leise und mit unsicherer Stimme.
»In dieser Gegend lebten die alten Makkabäer in Höhlen. Diese Blumen gibt es auf der ganzen Welt nur an dieser Stelle hier. Man nennt sie: Makkabäerblut.«
Kitty betrachtete die Blüte, die sie in der Hand hielt. Sie sah aus, als sei sie mit Blutstropfen bedeckt. Kitty ließ sie rasch zu Boden fallen und wischte die Hand an ihrem Rock ab.
Dieses Land überwältigte sie! Nicht einmal die wilden Blumen erlaubten es einem, es einen Augenblick lang zu vergessen. Es kroch in einen hinein, auf der Erde und aus der Luft, und es war quälend und wie ein Fluch.
Kitty Fremont hatte Angst. Ihr wurde klar, daß sie unverzüglich aus Palästina abreisen mußte; denn je mehr sie sich gegen dies Land zur Wehr setzte, desto mehr verfiel sie ihm.
Sie erreichten Tiberias vom Norden her, fuhren durch den modernen jüdischen Vorort Kiryat Schmuel — Samuelsdorf —, kamen wieder an einem großen Teggart-Fort vorbei und fuhren von dem höher gelegenen Vorort in die Altstadt hinunter, die auf gleicher Höhe wie der See lag. Die Häuser waren größtenteils aus schwarzem Basalt, und auf den umliegenden Höhen wimmelte es von den Grabstätten alter berühmter Hebräer.
Sie fuhren durch die Stadt und zu dem am See gelegenen Hotel Galiläa. Es war inzwischen Mittag und sehr heiß geworden. Zum Mittagessen gab es Fisch. Kitty aß nur wenig und sprach kaum ein Wort. Sie wünschte, sie wäre nicht mitgekommen.
»Die heiligste aller heiligen Stätten habe ich Ihnen noch gar nicht gezeigt«, sagte Ari.
»Und welche ist das?«
»Der Kibbuz Schoschana — dort bin ich nämlich geboren.«
Kitty lächelte. Ari hatte offenbar bemerkt, in welcher Verwirrung sie sich befand, und versuchte, sie aufzuheitern. »Wo liegt denn dieser heilige Ort?« fragte sie.
»Einige Meilen von hier, an der Stelle, wo der Jordan in den See mündet. Wie man mir erzählt hat, wäre ich übrigens beinahe in der türkischen Polizeiwache von Tiberias zur Welt gekommen. Im Winter wimmelt es hier in Tiberias von Touristen. Jetzt ist die Saison schon vorüber. Dafür haben wir jedenfalls den See ganz für uns allein. Was halten Sie davon, schwimmen zu gehen?«
»Das scheint mir eine sehr gute Idee«, sagte Kitty.
Neben dem Hotel erstreckte sich ein langer Pier aus Basalt rund vierzig Meter weit in den See. Ari war nach dem Essen als erster dort. Kitty ertappte sich dabei, wie sie seinen Körper betrachtete, als sie vom Hotel zum Pier ging. Er war schlank und trotzdem muskulös. Ari winkte ihr zu.
»Hallo«, rief sie. »Sind Sie schon im Wasser gewesen?«
»Nein, ich habe auf Sie gewartet.«
»Wie tief ist es denn am Ende des Piers?«
»Ungefähr drei Meter. Schaffen Sie es, bis zu dem Floß dort draußen zu schwimmen?«
»Na, wir können ja mal sehen, wer von uns beiden eher dort ist.« Kitty ließ ihren Bademantel fallen und setzte ihre Badekappe auf. Ari musterte sie unverhohlen. Ihr Körper hatte nicht die eckige Stämmigkeit eines Sabremädchens, sondern weiche Rundungen, wie sie dem Bild der Amerikanerin entsprachen. Ihre Blicke trafen sich, und beide sahen ein bißchen verlegen aus.
Sie rannte an ihm vorbei und sprang ins Wasser. Ari sprang hinterher. Überrascht stellte er fest, daß es ihm nur mit knapper Not gelang, sie einzuholen und wenigstens einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Kitty kraulte in einem eleganten und flüssigen Stil, der ihn nötigte, seine ganze Kraft einzusetzen. Atemlos und lachend kletterten sie auf das Floß.
»Sie haben ein ganz schönes Tempo vorgelegt«, sagte er.
»Ich hatte vergessen, zu erwähnen —.«
»Ich weiß, ich weiß — Sie waren auf dem College Mitglied der Schwimmriege der Studentinnen.«
Sie lag auf dem Rücken und atmete tief und befreit. Das kühle Wasser hatte sie erfrischt und schien die Beklommenheit von ihr genommen zu haben.
Es war schon spät am Nachmittag, als sie zum Hotel zurückkehrten. Sie tranken auf der Veranda einen Cocktail und zogen sich dann auf ihre Zimmer zurück, um vor dem Abendessen noch ein wenig auszuruhen.
Ari, der in den letzten Wochen wenig Ruhe gehabt hatte, war sofort eingeschlafen, als er sich hinlegte. Im Zimmer nebenan ging Kitty unruhig auf und ab. Sie hatte die Erregung des Vormittags weitgehend überwunden, doch noch immer war sie ein wenig von der mystischen Gewalt benommen, die dieses Land besaß. Sie sehnte sich danach, zu einem normalen, vernünftigen Leben zurückzukehren, das nach einem bestimmten Plan ablief. Sie redete sich ein, daß das eine Medizin sei, die auch Karen nötiger brauchte als irgend etwas anderes, und sie entschloß sich, diese Frage bei nächster Gelegenheit mit Karen zu besprechen.
Gegen Abend war es angenehm kühl geworden; eine erfrischende Brise drang zum Fenster herein. Kitty begann, sich zum Abendessen umzuziehen. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und musterte die drei Kleider, die darin hingen. Etwas zögernd nahm sie schließlich eines davon vom Bügel. Es war das Kleid, das sich Jordana bat Kanaan an dem Tag, an dem sie miteinander Streit bekommen hatten, aus ihrem Kleiderschrank genommen hatte. Sie dachte, wie Ari sie heute auf dem Pier angesehen hatte. Es war ihr nicht unangenehm gewesen. Das trägerlose, eng anliegende Kleid betonte ihre Formen.
Alle Männer im Hotel machten große Augen, als Kitty herunterkam; Ari stand wie angewurzelt da, als er sie durch die Halle herankommen sah. Als sie bei ihm angelangt war, wurde ihm plötzlich klar, daß er sie anstarrte. Er faßte sich aber sofort und sagte: »Ich habe eine Überraschung für Sie. Im Kibbuz Ejn Gev, drüben am anderen Ufer, findet heute abend ein Konzert statt. Sobald wir gegessen haben, fahren wir hinüber.«
»Bin ich richtig dafür angezogen?«
»Wie? Oh — doch, das ist genau richtig.«
Als die Motorbarkasse vom Pier ablegte, stieg der volle Mond über den syrischen Bergen herauf und warf eine breite Lichtbahn über die unbewegte Wasserfläche.
»Wie still der See ist«, sagte Kitty.
»Das ist trügerisch. Wenn Gott zürnt, kann er den See innerhalb von Minuten in ein tobendes Meer verwandeln.«
In einer halben Stunde hatten sie den See überquert und waren am Kai von Ejn Gev gelandet. Diese Siedlung war ein kühnes Wagnis. Sie lag unmittelbar am Fuße der syrischen Berge, vom übrigen Palästina isoliert. Etwas oberhalb lag ein syrisches Dorf, und die Felder von Ejn Gev reichten bis an die syrische Grenze. Der Kibbuz war eine Gründung deutscher Juden, die mit der Einwandererwelle des Jahres 1937 nach Palästina gekommen waren.
Von diesen Neusiedlern aus Deutschland waren viele ursprünglich Musiker gewesen, strebsame und einfallsreiche Leute. Sie hatten die Idee, dem Kibbuz zusätzlich zu Landwirtschaft und Fischfang noch eine weitere Einnahmequelle zu erschließen. Sie bildeten ein Orchester und kauften zwei Barkassen, die die Touristen der Wintersaison von Tiberias quer über den See zu Konzerten heranbrachten. Die Idee erwies sich als Erfolg. Am Rande des Sees wurde unter freiem Himmel, eingefaßt von einer naturgegebenen Waldkulisse, ein großes Amphitheater errichtet. Außerdem plante man, im Laufe der Jahre einen festen Konzertsaal zu bauen.
Ari breitete am Rande des Amphitheaters auf dem Gras eine Decke aus. Beide legten sich auf den Rücken, blickten hinauf in den Himmel und sahen zu, wie der riesige Mond höher stieg und kleiner wurde und Platz machte für eine Milliarde von Sternen. Das Orchester spielte Beethoven. Kittys innere Spannung löste sich. Ein schönerer Rahmen für diese Musik war nicht denkbar. Es schien geradezu unwirklich, und Kitty wünschte heimlich, es möge kein Ende nehmen.
Als das Konzert vorbei war, nahm Ari sie bei der Hand und führte sie hinweg von der Menge der Zuhörer, einen Weg entlang, der zum Ufer hinunterging. Es war windstill, die Luft war von Pinienduft erfüllt, und der Tiberias-See lag glatt und glänzend wie ein Spiegel. Am Rande des Wassers stand eine Bank aus drei steinernen Platten eines alten Tempels.
Sie setzten sich und sahen hinüber zu den funkelnden Lichtern von Tiberias. Kitty spürte Aris Nähe, sie wandte den Kopf und sah ihn an. Was für ein gutaussehender Mann Ari ben Kanaan war! Sie hatte plötzlich das Verlangen, den Arm um ihn zu legen, seine Wange zu berühren und ihm über das Haar zu streichen. Sie hatte den Wunsch, ihn zu bitten, sich nicht so zu überarbeiten. Sie hätte ihn gern gebeten, nicht länger so verschlossen ihr gegenüber zu sein. Sie hatte den Wunsch, ihm zu sagen, wie ihr zumute war, wenn er in ihrer Nähe war, und sie hätte ihn gern gebeten, nicht so fremd zu sein, sondern zu suchen, ob es für sie beide nicht etwas Gemeinsames gab. Aber Ari ben Kanaan war eben doch ein Fremder, und sie würde niemals wagen, ihm zu sagen, was sie für ihn empfand.
Der See Genezareth bewegte sich sacht und rauschte gegen das Ufer. Ein plötzlicher Wind ließ das Schilf schwanken. Kitty Fremont wandte den Blick von Ari und sah beiseite.
Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie fühlte, wie seine Hand ihre Schulter berührte. »Ihnen wird kalt«, sagte Ari und reichte ihr die Stola. Kitty legte sie um die Schultern. Lange sahen sie sich schweigend an.
Plötzlich stand Ari auf. »Mir scheint, die Barkasse kommt zurück«, sagte er. »Wir müssen gehen.«
Als die Barkasse vom Ufer ablegte, verwandelte sich der See Genezareth plötzlich, wie Ari es vorausgesagt hatte, in ein wogendes Meer. Der Schaum brach über den Bug herein und sprühte über das Deck. Ari legte den Arm um Kittys Schultern und zog sie an sich, um sie vor dem Sprühregen zu schützen. Während der ganzen Fahrt über den See stand Kitty mit geschlossenen Augen, den Kopf an seine Brust gelehnt, und hörte den Schlag seines Herzens.
Hand in Hand gingen sie vom Pier zum Hotel. Unter der Weide, die ihre Zweige wie einen riesigen Schirm ausbreitete und bis in das Wasser des Sees hängen ließ, blieb Kitty stehen. Sie versuchte, zu sprechen, doch ihre Stimme versagte, und sie bekam kein Wort heraus.
Ari strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. Er ergriff sie sanft bei den Schultern, und die Muskeln seines Gesichts spannten sich, während er sie an sich zog. Kitty hob ihm ihr Gesicht entgegen. »Ari«, flüsterte sie, »küß mich, bitte.«
Alles, was monatelang geschwelt hatte, loderte bei dieser ersten Umarmung flammend auf. Sie küßten sich wieder und wieder, Kitty preßte sich an ihn und spürte die Kraft seiner Arme. Dann lösten sie sich voneinander und gingen schweigend nebeneinander her zum Hotel.
Vor der Tür zu ihrem Zimmer blieb Kitty stehen, befangen und verwirrt. Ari wollte zu seinem Zimmer weitergehen, doch sie ergriff seine Hand und zog ihn an sich. Einen Augenblick lang standen sie sich wortlos gegenüber. Dann nickte Kitty ihm zu, wandte sich ab, ging rasch in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Sie zog sich aus, ohne Licht zu machen, schlüpfte in ein Nachthemd und ging zu dem Balkon ihres Zimmers, von wo sie das Licht in Aris Zimmer sehen konnte. Sie konnte seine Schritte hören. Das Licht ging aus. Kitty wich in die Dunkelheit zurück. Im nächsten Augenblick sah sie ihn auf dem Balkon ihres Zimmers stehen.
Sie lief in seine Arme, drängte sich an ihn und hielt ihn umschlungen. Zitternd vor Sehnsucht. Seine Küsse bedeckten ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Wangen und ihren Hals, und sie erwiderte Kuß um Kuß, mit einer Leidenschaft und Unersättlichkeit, wie sie noch nie einen Mann geküßt hatte. Ari hob sie hoch, trug sie in seinen Armen zum Bett, legte sie darauf nieder und kniete sich neben sie.
Kitty war auf einmal verzagt. Sie krampfte ihre Hände in das Laken und wand sich schluchzend unter seinen Liebkosungen. Dann entzog sie sich heftig und unvermittelt seinen Armen und erhob sich taumelnd. »Nein«, sagte sie, nach Luft schnappend.
Ari erstarrte.
Kitty schossen die Tränen in die Augen, sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, um das Zittern zu überwinden und sank dann auf einen Stuhl. Es dauerte eine Weile, bis das Beben nachließ und ihr Atem ruhiger wurde. Ari stand vor ihr und sah sie wortlos an. »Sie müssen mich hassen«, sagte sie schließlich.
Ari sagte nichts. Sie blickte zu ihm hinauf und sah den verletzten Ausdruck seines Gesichts.
»Reden Sie, Ari, sagen Sie es. Sagen Sie irgend etwas.«
Er blieb stumm.
Kitty stand langsam auf und sah ihn an. »Ich will das nicht, Ari. Ich mag nicht, daß man mich einfach schwach macht und nimmt. Vermutlich lag es nur an dem Mondschein —.«
»Ich hatte wirklich nicht angenommen, daß ich einer widerspenstigen Jungfrau den Hof machte«, sagte er.
»Ari, bitte —.«
»Ich habe keine Zeit für Spiele und Koseworte. Ich bin ein erwachsener Mann, und Sie sind eine erwachsene Frau.«
»Wie gut Sie es zu formulieren verstehen.«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich jetzt entfernen«, sagte er kühl.
Kitty zuckte zusammen, als er die Tür mit einem Ruck geschlossen hatte. Lange stand sie an der Balkontür und sah auf das Wasser hinaus. Der See war böse, und der Mond verschwand hinter einer dunklen Wolke.
Kitty war wie betäubt. Warum war sie vor ihm geflohen? Noch nie hatte sie für einen Mann ein so starkes Gefühl gehabt, und noch nie hatte sie wie hier die Herrschaft über sich selbst so völlig verloren. Sie war überzeugt, daß Ari ben Kanaan kein ernstliches, tiefes Verlangen nach ihr hatte. Für eine Nacht, ja, aber sonst brauchte er sie nicht, und noch nie hatte ein Mann sie so behandelt wie er.
Doch dann wurde ihr klar, daß es gerade ihr starkes Gefühl für ihn war, wovor sie geflohen war, diese Sehnsucht nach Ari, die imstande war, sie dazu zu bringen, in Palästina zu bleiben. Sie durfte es nie wieder so weit kommen lassen. Sie war entschlossen, mit Karen nach Amerika zurückzukehren, und nichts sollte sie daran hindern! Sie war sich klar darüber, daß sie vor Ari Angst hatte; denn Ari konnte ihr gefährlich werden. Falls er nur die geringsten Anzeichen dafür erkennen ließ, daß er sie wirklich liebte, dann würde sie kaum die Kraft haben — doch der Gedanke an seine Kälte und Härte bestärkte sie in ihrem Entschluß, fest zu bleiben, gab ihr die Sicherheit wieder und machte sie, seltsamerweise, gleichzeitig traurig.
Sie warf sich auf ihr Bett und fiel in einen Schlaf der Erschöpfung, während der Wind, der über das Wasser herankam, an ihrem Fenster rüttelte.
Am nächsten Morgen war es windstill, und der See war wieder glatt. Kitty schlug die Decke zurück, sprang aus dem Bett, und ihr fiel alles wieder ein. Sie errötete. Was geschehen war, erschien ihr jetzt nicht mehr so schrecklich, doch sie war beschämt. Sie hatte eine Szene gemacht, und zweifellos hatte Ari das Ganze reichlich dramatisch und zugleich kindisch gefunden. Es war alles ihre Schuld gewesen; sie wollte es wiedergutmachen, indem sie sich mit ihm in aller Ruhe und mit aller Klarheit auseinandersetzte.
Sie zog sich rasch an und ging in den Frühstücksraum hinunter, um auf Ari zu warten. Sie überlegte sich die Worte, mit denen sie ihn um Entschuldigung bitten wollte.
So saß sie eine halbe Stunde, trank ihren Kaffee und wartete. Ari kam nicht. Sie drückte die dritte Zigarette im Aschenbecher aus und ging durch die Halle zum Empfang.
»Haben Sie Mr. Ben Kanaan heute früh gesehen?« fragte sie den Portier.
»Mr. Ben Kanaan ist um sechs Uhr weggefahren.«
»Hat er gesagt, wohin?«
»Mr. Ben Kanaan sagt nie, wohin er fährt.«
»Vielleicht hat er irgendeine Nachricht für mich hinterlassen?«
Der Portier drehte sich um und zeigte auf das leere Schlüsselfach. »Ich sehe schon—ja, also — besten Dank.«
XI.
Dov Landau fand ein Zimmer in einem viertklassigen Hotel in der Jerusalemer Altstadt. Wie man ihm geraten hatte, begab er sich in das auf der Nablus-Straße gelegene Saladin-Café und hinterließ dort seinen Namen und seine Hoteladresse zur Weiterleitung an Bar Israel.
Er versetzte die goldenen Ringe und Armbänder, die er in Gan Dafna gestohlen hatte, und ging daran, sich in Jerusalem zu orientieren. Für die Ghetto-Ratte und den einstigen Meisterdieb von Warschau war das eine Kleinigkeit. Innerhalb von drei Tagen kannte Dov jede Straße und jede Gasse in der Altstadt und den umliegenden Geschäftsvierteln. Mit seinen scharfen Augen und seinen flinken Händen brachte er genügend Wertgegenstände an sich, um seinen Lebensunterhalt damit bestreiten zu können. Sich durch die engen Gäßchen und die überfüllten Basare zu verdrücken, war für ihn geradezu lächerlich einfach.
Einen großen Teil seines Geldes gab er für Bücher und Zeichenmaterial aus. In den vielen Buchhandlungen der Jaffa-Straße suchte er nach Büchern über Kunst, Architektur und Planzeichnen. Mit seinen Büchern und seinem Zeichenmaterial, ein paar getrockneten Früchten und einigen Flaschen Limonade schloß er sich in seinem Hotelzimmer ein und wartete darauf, daß sich die Makkabäer mit ihm in Verbindung setzten. Nachts arbeitete er bei Kerzenlicht. Von dem prächtigen Bild draußen vor seinem Fenster, dem Blick auf den Felsendom und die Klagemauer, sah er nichts. Er las, bis ihm die Augen brannten und er nicht weiterlesen konnte. Dann legte er das Buch auf seine Brust, starrte zur Decke und dachte an Karen. Er hatte nicht geahnt, daß sie ihm so sehr fehlen würde, und er hatte sich nicht vorstellen können, daß ihm die Sehnsucht nach ihr physischen Schmerz verursachen könnte. Karen war so lange in seiner Nähe gewesen, daß er vergessen hatte, wie es war, von ihr entfernt zu sein. Er erinnerte sich an jeden Augenblick, den er mit ihr erlebt hatte, an die Wochen in Caraolos, und an die Tage auf der Exodus, als sie neben ihm im Raum des Schiffes gelegen hatte. Er erinnerte sich daran, wie glücklich sie gewesen war und wie schön sie ausgesehen hatte an dem ersten Tage in Gan Dafna. Er dachte an ihr freundliches, ausdrucksvolles Gesicht, die sanfte Berührung ihrer Hand und den scharfen Ton ihrer Stimme, wenn sie böse war.
Zwei Wochen lang verließ Dov sein Zimmer nur, wenn es unbedingt nötig war. Am Ende der zweiten Woche brauchte er wieder etwas Geld und ging in die Stadt, um einige Ringe zu versetzen. Als er das Gebäude, in dem sich das Leihhaus befand, wieder verlassen wollte, sah er in der Dunkelheit neben dem Tor einen Mann stehen. Dov schloß die Hand um den Griff seiner Pistole und ging weiter, bereit, bei dem geringsten Geräusch herumzufahren. »Stehenbleiben, nicht umdrehen«, befahl eine Stimme aus der Dunkelheit.
Dov blieb wie angewurzelt stehen.
»Du hast nach Bar Israel gefragt. Was willst du von ihm?«
»Sie wissen, was ich will.«
»Wie heißt du?«
»Landau, Dov Landau.«
»Woher kommst du?«
»Aus Gan Dafna.«
»Wer hat dich geschickt?«
»Mordechai.«
»Wie bist du nach Palästina gekommen?«
»Mit der Exodus.«
»Geh weiter, hinaus auf die Straße, und sieh dich nicht um. Man wird sich mit dir in Verbindung setzen.«
Nachdem der Kontakt hergestellt war, wurde Dov unruhig. Er war kurz davor, alles hinzuschmeißen und nach Gan Dafna zurückzukehren. Er hatte schreckliche Sehnsucht nach Karen. Er fing ein halbes Dutzend Briefe an sie an und zerriß alle wieder. Wir müssen Schluß machen, sagte er sich immer wieder, wir müssen Schluß machen.
Er lag in seinem Zimmer auf dem Bett und las. Die Augen fielen zu. Doch dann fuhr er wieder hoch und brannte neue Kerzen an; falls er einschlief und der alte schreckliche Alptraum wieder über ihn kommen sollte, wollte er nicht in einem dunklen Zimmer aufwachen. Plötzlich klopfte es an der Tür. Dov sprang auf, nahm seine Pistole und stellte sich dicht neben die verschlossene Tür.
»Gut Freund«, sagte die Stimme von draußen. Dov erkannte die Stimme des Mannes, der in der Dunkelheit mit ihm gesprochen hatte. Er machte die Tür auf. Niemand war zu sehen. »Dreh dich um und stell dich mit dem Gesicht zur Wand«, befahl die Stimme des Unsichtbaren. Dov gehorchte. Hinter sich spürte er die Anwesenheit von zwei Männern. Die Augen wurden ihm verbunden, und zwei Händepaare führten ihn die Treppe zu einem wartenden Wagen hinunter. Dov mußte sich hinten auf den Boden legen, eine staubige Decke wurde über ihm ausgebreitet; der Wagen fuhr los und entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit aus der Altstadt.
Dov konzentrierte sich darauf, herauszubekommen, wohin sie fuhren. Der Wagen bog mit kreischenden Reifen in die König-Salomon-Straße und fuhr die Via Dolorosa entlang zum Stephanstor. Das festzustellen war ein Kinderspiel für Dov Landau, der sich in der Dunkelheit der Kanäle unterhalb von Warschau auf hundert verschiedenen Wegen zurechtgefunden hatte. Der Fahrer schaltete einen niedrigeren Gang ein, um eine Steigung zu nehmen. Nach Dovs Schätzung mußten sie am Grab der Jungfrau vorbei zum Ölberg fahren. Die Straße wurde flach, und Dov wußte, daß sie auf dem Skopusberg waren und an der Hebräischen Universität und dem Gebäudekomplex der Hadassa vorbeifuhren. Nach weiteren zehn Minuten Fahrt hielt der Wagen an, und Dov berechnete fast bis auf den Häuserblock genau, wo sie waren: im Sanhedriya-Viertel, in unmittelbarer Nähe der Grabmäler der Sanhedrin, der Mitglieder des Ältestenrates im alten Israel.
Man führte ihn in den verrauchten Raum des Hauses, wo man ihn aufforderte, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Er spürte die Anwesenheit von wenigstens fünf oder sechs Leuten. Zwei Stunden lang wurde Dov ins Verhör genommen. Von allen Seiten wurden in schneller Folge zahllose Fragen an ihn gerichtet, bis er vor Nervosität zu schwitzen anfing. Dabei ging ihm allmählich ein Licht auf. Durch ihren unfehlbaren Geheimdienst hatten die Makkabäer in Erfahrung gebracht, daß Dov ein ungewöhnlich begabter Fälscher war. Er wurde bei den Makkabäern dringend gebraucht. Die Leute, die ihn ausfragten, waren offenbar hohe Makkabäer, vielleicht sogar ihre führendsten Gestalten. Schließlich schien man sich von Dovs Fähigkeiten und seiner Zuverlässigkeit hinreichend überzeugt zu haben.
»Da vor dir ist ein Vorhang«, sagte eine Stimme. »Strecke deine Hände durch diesen Vorhang.«
Dov tat es. Eine seiner Hände wurde auf eine Pistole, die andere auf eine Bibel gelegt. Dann mußte er den Schwur der Makkabäer nachsprechen:
»Ich, Dov Landau, gelobe hiermit, meinen Körper, meine Seele und mein ganzes Sein vorbehaltlos und uneingeschränkt dem Kampf der Makkabäer für die Freiheit zu weihen. Jedem Befehl werde ich bedingungslos Gehorsam leisten. Ich werde mich der Autorität unterwerfen, die über mich zu bestimmen hat. Selbst wenn man mich zu Tode foltern sollte, werde ich niemals den Namen eines anderen Makkabäers oder die mir anvertrauten Geheimnisse verraten. Ich werde bis zum letzten Atemzug gegen die Feinde des jüdischen Volkes kämpfen. Ich werde in diesem heiligen Kampfe nicht nachlassen bis zur Verwirklichung eines jüdischen Staates beiderseits des Jordans, auf den mein Volk ein geschichtliches Anrecht hat. Mein Wahlspruch soll sein: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Brandmal um Brandmal. Das alles schwöre ich im Namen Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Namen von Sara, Rebekka, Rachel und Lea, im Namen der Propheten und all der Juden, die man umgebracht hat, und aller meiner tapferen Brüder und Schwestern, die für die Freiheit gestorben sind.«
Dov Landau wurde die Binde von den Augen genommen; die Kerzen der Menora, die vor ihm standen, wurden ausgeblasen, und das Licht im Raum ging an. Dov sah sechs Männer und zwei Frauen vor sich. Sie begrüßten ihn mit Handschlag und nannten ihm ihre Namen. Der alte Akiba war selbst anwesend, Ben Mosche war da und Nachum ben Ami, Davids Bruder.
»Deine Fähigkeiten sind für uns von großem Wert, Dov Landau«, sagte Akiba. »Das ist der Grund, weshalb wir dich ohne die sonst übliche Vorbereitung aufgenommen haben.«
»Ich bin nicht zu den Makkabäern gegangen, um Bilder zu malen«, sagte Dov heftig.
»Du wirst tun, was man dir sagt«, entgegnete Ben Mosche.
»Du bist jetzt ein Makkabäer«, sagte Akiba. »Dadurch bist du berechtigt, dir den Namen eines hebräischen Heroen zuzulegen, hast du einen solchen Namen im Sinn?«
»Giora«, sagte Dov.
Einige der Anwesenden lachten. Dov knirschte mit den Zähnen. »Giora?« sagte Akiba. »Tut mir leid, aber da sind andere vor dir dran.«
»Wie wäre es mit Kleiner Giora«, sagte Nachum ben Ami, »bis Dov eines Tages vielleicht der Große Giora werden kann?«
»Das wird nicht lange dauern, wenn ihr mir die Chance dazu gebt.« »Du wirst eine Fälscherwerkstatt einrichten«, sagte Ben Mosche, »und mit uns ziehen. Wenn du dich gut führst und tust, was man dir sagt, dann darfst du vielleicht ab und zu auch bei einer unserer Unternehmungen mitmachen.«
Major Fred Caldwell saß im britischen Offiziersklub in Jerusalem und spielte Bridge. Doch es fiel ihm schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Seine Gedanken gingen immer wieder zur Dienststelle der CID und der gefangenen Makkabäerin zurück, die dort seit drei Tagen verhört wurde. Sie hieß Ayala, war Anfang Zwanzig und sehr hübsch. Jedenfalls war sie es gewesen, bevor das Verhör begonnen hatte. Sie war standhaft geblieben und hatte für die Beamten der CID nur Verachtung übrig gehabt. Doch heute morgen war ihnen die Geduld gerissen, und sie hatten begonnen, Ayala verschärft zu vernehmen.
»Sie sind dran, Freddy«, sagte sein Partner, der ihm am Tisch gegenübersaß.
Caldwell warf einen raschen Blick auf seine Karten. »Entschuldigen Sie«, sagte er und spielte aus, aber schlecht. Er dachte an den Inspektor, der über Ayala stand und ihr mit einem Gummischlauch ins Gesicht schlug. Er hörte, wie es wieder und wieder knallte, bis ihr Nasenbein gebrochen, die Augen dunkelblau angeschwollen und die Lippen zerplatzt waren. Doch Ayala war stumm geblieben. Eine Ordonnanz kam an den Tisch. »Verzeihung, Herr Major — Sie werden am Apparat verlangt.«
»Entschuldigt mich, Jungs«, sagte Freddy, legte die Karten verdeckt auf den Tisch und ging zum Telefon. Er nahm den Hörer und sagte: »Hier Caldwell.«
»Hallo, Sir — hier spricht der Sergeant von der Wache bei der CID. Inspektor Parkington hat mich gebeten, Sie sofort anzurufen. Er läßt Ihnen sagen, die Makkabäerin sei bereit, auszupacken, und Sie möchten doch gleich mal 'rüberkommen.«
»In Ordnung«, sagte Caldwell.
»Inspektor Parkington hat schon einen Fahrer losgeschickt, der Sie abholen soll, Sir. Der Wagen wird in einigen Minuten bei Ihnen sein.«
Caldwell ging an den Bridgetisch zurück. »Tut mir leid, Jungs, aber ich muß fort. Die Pflicht ruft.« »Das ist Pech, Freddy.«
Was heißt hier Pech, dachte Freddy. Er freute sich darauf. Er trat vor die Tür. Die Posten salutierten. Ein Wagen hielt an, ein Soldat, der am Steuer gesessen hatte, sprang heraus, ging auf Caldwell zu und legte die Hand an die Mütze.
»Major Caldwell?«
»So ist es, mein Sohn.«
»Ihr Wagen von der CID, Sir.«
Der Soldat ging zum Wagen und öffnete die hintere Tür. Caldwell stieg ein, der Soldat rannte um den Wagen herum, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Bei der zweiten Querstraße fuhr der Fahrer an den Rinnstein heran und verlangsamte die Fahrt. Im nächsten Augenblick wurden die Türen aufgerissen, drei Männer sprangen herein, schlugen die Türen zu, und der Wagen nahm seine alte Geschwindigkeit wieder auf.
Caldwell schnürte es die Kehle zu vor Angst. Er schrie auf und wollte sich auf Ben Mosche stürzen. Der Makkabäer, der vorn neben dem Fahrer saß, drehte sich herum und versetzte ihm einen Schlag mit der Pistole.
»Ich verlange Auskunft, was das Ganze bedeuten soll!« sagte Caldwell, der vor Angst die Augen weit aufriß.
»Sie scheinen beunruhigt zu sein, Major Caldwell«, sagte Ben Mosche.
»Halten Sie augenblicklich an und lassen Sie mich heraus.«
»Auf dieselbe Weise etwa wie einen vierzehnjährigen Jungen namens Ben Solomon in einem Araberdorf, wären Sie damit einverstanden? Sehen Sie, Major Caldwell, Ben Solomons Geist hat aus dem Grabe gerufen und uns aufgefordert, den Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.«
Caldwell brach der Schweiß aus, es brannte ihm in den Augen.
»Das ist eine Lüge — eine Lüge!«
Ben Mosche legte etwas auf Caldwells Knie und richtete den Schein seiner Taschenlampe darauf. Es war eine Fotografie des enthaupteten Ben Solomon.
Caldwell begann zu wimmern und um Gnade zu bitten. Er knickte zusammen und erbrach sich vor Angst.
»Es sieht aus, als sei Major Caldwell geneigt, einiges zu erzählen«, sagte Ben Mosche. »Es ist wohl das Beste, wir bringen ihn zu unserem Hauptquartier, damit er uns mitteilen kann, was er weiß, ehe wir das Konto Ben Solomon begleichen.«
Caldwell platzte mit allem heraus, was ihm von den militärischen Plänen der Engländer und der Tätigkeit der CID bekannt war und unterschrieb anschließend eine Erklärung, worin er seine Schuld an dem Tode Ben Solomons eingestand.
Drei Tage nach Major Caldwells Entführung fand man seine Leiche auf dem Zionsberg in der Nähe der alten Stadtmauer. An der Leiche war eine Fotografie Ben Solomons und eine Fotokopie von Caldwells Geständnis befestigt, und quer über den Text dieses Dokuments waren die Worte geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
XII.
Die Nachricht von Major Caldwells Ermordung schlug wie eine Bombe ein. Zwar schien niemand die Berechtigung dieser Vergeltung zu bezweifeln, doch fanden viele, daß die Makkabäer mit ihren Methoden zu weit gingen.
In England, wo man die gesamte Situation mit steigendem Unbehagen beobachtete, übte die öffentliche Meinung einen Druck auf die Labour-Regierung aus, um sie zu veranlassen, das Mandat niederzulegen. In Palästina waren die Engländer erbittert und beunruhigt.
Zwei Tage, nachdem Caldwells Leiche gefunden worden war, starb ein von den Engländern gefangener Makkabäer. Es war das Mädchen Ayala, das nach den schweren Mißhandlungen während der »verschärften Vernehmung« verblutet war. Als die Makkabäer von Ayalas Tod erfuhren, begannen sie einen vierzehntägigen Vergeltungsfeldzug, der alle ihre bisherigen Aktionen in den Schatten stellen sollte. Jerusalem taumelte bald unter den Schlägen des Terrors, der zuletzt mit einem bei hellichtem Tage geführten Angriff gegen das Hauptquartier der CID ihren Höhepunkt erreichte. Während dieser vierzehntägigen Hölle, bei der der ganze aufgestaute Zorn der Makkabäer zum Ausdruck kam, kämpfte Dov Landau mit einer geradezu selbstmörderischen Tapferkeit, die selbst die härtesten Makkabäer in Erstaunen versetzte. Er nahm an vier Angriffen teil und war schließlich sogar einer der Führer der Aktion gegen das CID-Hauptquartier. Durch seinen in diesen vierzehn Tagen bewiesenen Mut begann der Name des »Kleinen Giora« als der eines furchtlosen Freiheitskämpfers fast legendär zu werden. Ganz Palästina hielt Tag für Tag in Erwartung des nächsten Schlages, der kommen würde, den Atem an. General Arnold Haven-Hurst, der anfänglich ganz betäubt war, schritt aber sehr bald zu harten Maßnahmen gegen die Jischuw. Er verhängte Ausnahmezustand und Kriegsrecht, führte Ausgangs- und Straßensperren ein, ließ zahlreiche Haussuchungen vornehmen und Siedlungen, in denen Waffen vermutet wurden, gründlich durchkämmen. Tagein, tagaus patrouillierten britische Truppen durch die Straßen der jüdischen Städte — in ständiger Befürchtung eines neuen Angriffs, der jederzeit aus irgendeinem Hinterhalt kommen konnte. In seiner Abschreckungskampagne, die Handel und Industrie fast zum Erliegen brachte, scheute er selbst vor Exekutionen nicht zurück.
Gleichzeitig mit der Aktion der Makkabäer hatte Aliyah Bet drei weitere Schiffe mit illegalen Einwanderern nach Palästina gebracht. Obwohl die illegale Einwanderung nicht so auffällig war, schädigte sie das britische Ansehen jedoch im gleichen Ausmaß wie der Terror.
Der Untersuchungsausschuß der UNO war in Kürze zu erwarten. Haven-Hurst beschloß, den Jischuw kleinzukriegen, bevor die internationale Delegation eintraf. Der General besaß eine Liste von Offizieren und Angehörigen des Mannschaftsstandes, die wegen ihrer ausgesprochen antisemitischen Aktivität bekannt waren. Er überprüfte die Liste persönlich und wählte sechs der übelsten Burschen aus: zwei Offiziere und vier aktive Unteroffiziere. Die sechs mußten sich in seiner in der Schneller-Kaserne gelegenen Dienstwohnung melden, wurden zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet und mit einer Sonderaktion betraut. Fünf Tage lang wurde die Sache geplant. Am sechsten Tag startete Haven-Hurst das Unternehmen, durch das er die Situation mit einem letzten, verzweifelten Schlag retten wollte.
Die sechs Leute wurden als Araber getarnt. Zwei von ihnen fuhren mit einem Lastwagen, der zwei Tonnen Dynamit geladen hatte, die King-George-Avenue entlang und auf das Gebäude der Zionistischen Siedlungsgesellschaft zu. Unmittelbar vor der Auffahrt, die zu dem Haupteingang führte, hielt der Wagen an. Der als Araber verkleidete Fahrer stellte das Steuerrad fest, schaltete den Gang ein und stellte den Gashebel auf Vollgas. Die beiden Männer sprangen von dem rasenden Wagen und verschwanden.
Der Wagen brauste über die Straße, fuhr durch das offene Tor und die Auffahrt entlang. Dabei kam er seitlich aus der Fahrtrichtung, kippte über den Rand der Auffahrt und stieß unmittelbar neben dem Haupteingang gegen die Mauer. Die zwei Tonnen Dynamit detonierten donnernd, und das Gebäude der Zionistischen Siedlungsgesellschaft existierte nicht mehr.
Gleichzeitig versuchten zwei andere Männer mit einem anderen Lastwagen, der gleichfalls Dynamit geladen hatte, das gleiche Manöver zwei Querstraßen weiter bei dem Gebäude des Jischuw-Zentralrats. Der Zentralrat hielt gerade eine Versammlung ab. In dem Gebäude befanden sich fast alle führenden Männer und Frauen des Jischuw.
Der Lastwagen, der auf dieses zweite Gebäude losfuhr, mußte im letzten Augenblick die Bordschwelle eines Bürgersteigs nehmen. Als er gegen die Kante stieß, wurde er so weit aus seiner Richtung gebracht, daß er das Gebäude des Zentralrats verfehlte und ein daneben liegendes Wohnhaus in die Luft jagte.
Die vier Attentäter flohen in zwei Wagen, die von den anderen zwei Männern des Teams gefahren wurden. Sie brausten eilig davon und begaben sich in Sicherheit.
Im Gebäude der Zionistischen Siedlungsgesellschaft fanden hundert Menschen den Tod. Von den Angehörigen des Jischuw-Zentralrats war niemand ums Leben gekommen. Unter den Todesopfern befand sich Harriet Salzmann, die achtzigjährige Leiterin des Jugend-Aliyah.
Unmittelbar nach den beiden Explosionen machten sich die Geheimdienste der Hagana und der Makkabäer an die Arbeit, die Täter zu ermitteln. Bis zum Abend desselben Tages hatten beide Organisationen festgestellt, daß es sich bei den »Arabern« um englische Soldaten gehandelt hatte. Sie waren außerdem in der Lage, die Urheberschaft der Aktion bis zu Arnold Haven-Hurst zurückzuverfolgen, wenn sie hierfür auch keine schlüssigen Beweise hatten.
Haven-Hursts verzweifelter Versuch, die führenden Köpfe des Jischuw mit einem Schlag aus dem Weg zu räumen, hatte den gegenteiligen Erfolg. Unter den Juden von Palästina entstand durch diese Aktion eine Einigkeit, wie es sie bisher noch nie gegeben hatte, und die beiden bisher getrennten Streitkräfte, die Hagana und die Makkabäer, wurden gezwungen, sich zu einigen. Die Hagana war in den Besitz einer Abschrift des »Zwölf-Punkte-Programms« Haven-Hursts gekommen.
Wem es bis dahin noch nicht klar gewesen sein sollte, dem hatte jetzt die geglückte Zerstörung der Zionistischen Siedlungsgesellschaft und der mißglückte Versuch, das Gebäude des Zentralrats in die Luft zu sprengen, klar und eindeutig gezeigt, daß Haven-Hurst die Absicht hatte, die Juden in Palästina zu vernichten. Avidan schickte Seew Gilboa nach Jerusalem mit dem Auftrag, Bar Israel aufzusuchen und eine Zusammenkunft mit den Führern der Makkabäer zu verabreden.
Die Zusammenkunft fand um ein Uhr nachts auf offenem Felde statt, an der Stelle, an der sich einstmals das Lager der zehnten römischen Legion befunden hatte. Vier Männer waren dabei anwesend: von den Makkabäern Akiba und Ben Mosche, von der Hagana Avidan, und Seew Gilboa für den Palmach. Zwischen den beiden Parteien wurden weder Händedrücke noch freundliche Worte gewechselt. Voller Mißtrauen standen sie sich in der Dunkelheit gegenüber. Die Nachtluft war kalt, obwohl es auf den Sommer zuging.
»Ich habe um diese Zusammenkunft gebeten«, sagte Avidan, »um zu prüfen, ob es irgendeine Grundlage für eine engere Zusammenarbeit zwischen uns gibt.«
»Ach, Sie möchten wohl gern, daß wir uns Ihrer Befehlsgewalt unterstellen?« fragte Ben Mosche mißtrauisch.
»Ich habe es längst aufgegeben, Einfluß auf die Handlungen der Makkabäer ausüben zu wollen«, sagte Avidan. »Ich bin nur der Meinung, daß es die gegenwärtige Situation erfordert, alle Kräfte zu einer höchsten Anstrengung zu konzentrieren. Ihr verfügt über starke Kräfte in den drei Städten und seid in der Lage, beweglicher zu operieren, als wir das können.«
»Das also ist der wahre Grund«, sagte Akiba bissig. »Ihr möchtet, daß wir für euch die Kastanien aus dem Feuer holen.«
»Laß ihn ausreden, Akiba«, sagte Ben Mosche.
»Mir gefällt die ganze Sache nicht. Ich war von Anfang an gegen diese Zusammenkunft, Ben Mosche. Diese Leute haben uns bisher verraten und verkauft und werden es auch weiter tun.«
Avidans Gesicht lief bei diesen Worten des alten Mannes dunkel an. »Ich habe mich entschlossen«, sagte er, »mir heute nacht deine Beleidigungen anzuhören, Akiba, weil im Augenblick zuviel auf dem Spiele steht. Ich verlasse mich darauf, daß du trotz aller Differenzen, die zwischen uns bestehen, Jude bist und dein Land liebst.«
Er überreichte Akiba einen Durchschlag der »Zwölf Punkte« Haven-Hursts.
Akiba gab das Dokument Ben Mosche, der den Schein seiner Taschenlampe darauf richtete.
»Vor vierzehn Jahren schon habe ich gesagt, die Engländer seien unsere Feinde. Du wolltest es mir damals nicht glauben«, sagte Akiba leise.
»Ich bin nicht hergekommen, um über Politik zu streiten. Wollt ihr mit uns zusammenarbeiten, ja oder nein?« fragte Avidan.
»Wir wollen es versuchen«, sagte Ben Mosche.
Nach dieser Zusammenkunft machten sich Gruppen von Verbindungsleuten an die Arbeit, den Plan für eine gemeinsame Aktion von Hagana und Makkabäern auszuarbeiten. Zwei Wochen später bekamen die Engländer die Antwort auf ihre Sprengstoffanschläge. In einer einzigen Nacht zerstörte die Hagana sämtliche Gleisanlagen und legte jeden Zugverkehr nach oder aus Palästina lahm. In der nächsten Woche brachen die Makkabäer in die Gebäude von sechs englischen Botschaften und Konsulaten in den Mittelmeerländern ein und zerstörten Aktenmaterial, das der Bekämpfung der illegalen Einwanderung nach Palästina diente. Gleichzeitig unterbrach der Palmach an fünfzehn Stellen die Ölleitung vom Mossul-Gebiet nach Haifa.
Dann machten sich die Makkabäer daran, den Plan für die letzte und entscheidende Aktion auszuarbeiten: ein Attentat auf General Sir Arnold Haven-Hurst. Angehörige der Makkabäer bewachten Tag und Nacht die Schneller-Kasernen. Sie registrierten alles, was hineinging und herauskam, führten Buch über den Zeitpunkt der Ankunft und Abfahrt aller PKW und Lastwagen und stellten einen bis in alle Einzelheiten gehenden Grundriß des gesamten Gebäudekomplexes her.
Nach vier Tagen sah es so aus, als sei einfach nichts zu machen. Haven-Hurst saß in der Mitte einer Festung, von Tausenden von Soldaten umgeben. Niemand, der nicht zum britischen Personal gehörte, durfte auch nur in die Nähe seiner Büroräume und seiner Dienstwohnung. Wenn Haven-Hurst diese Festung verließ, dann geschah es heimlich und unter schwerer Bewachung. Die Makkabäer würden hundert Leute verlieren, wenn sie diesen Geleitschutz angriffen.
Doch dann entdeckte man eine verwundbare Stelle dieser scheinbar uneinnehmbaren Festung. Man stellte fest, daß ein Privatwagen etwa dreimal in der Woche kurz nach Mitternacht die Schneller-Kasernen verließ und kurz vor Tagesanbruch wieder dorthin zurückkehrte. In dem Wagen war nur ein Fahrer in Zivilkleidung zu sehen. Die Regelmäßigkeit, mit der dieser Privatwagen zu dieser ungewöhnlichen Zeit fortfuhr und zurückkam, ließ ihn verdächtig erscheinen.
Die Makkabäer machten sich daran, den Eigentümer dieses Wagens festzustellen: es war eine reiche arabische Familie. Sie stellten fest, daß dieser Araber mit den Engländern zusammenarbeitete und man durch ihn an Haven-Hurst nicht herankommen konnte. Inzwischen wurden Informationen über Herkunft, Lebensweise und sonstige Eigenarten von Haven-Hurst zusammengetragen. Es war den Makkabäern bekannt, daß der General ehrgeizig war und eine Frau aus einflußreicher Familie geheiratet hatte. Diese Ehe, die ihm gesellschaftlichen Rang und finanzielle Mittel verschafft hatte, hatte er niemals gefährdet. Haven-Hurst galt als Muster eines Menschen, der es ängstlich vermied, in irgendeiner Weise Aufsehen zu erregen. Man hielt ihn für einen unerträglich korrekten Burschen.
Als die Makkabäer jedoch zu untersuchen begannen, was sich hinter dieser Fassade verbarg, entdeckten sie, daß Haven-Hurst nicht nur eine, sondern mehrere Affären gehabt hatte. Es gab bei den Makkabäern Leute, die vor Jahren im englischen Heer unter Haven-Hurst gedient hatten. Jeder von ihnen wußte von einer Geliebten zu erzählen.
Man überlegte, ob sich Haven-Hurst in seiner Festung nicht vielleicht sehr einsam fühlte. Aus Rücksicht auf seine Ehe und seine Stellung würde er es nicht wagen, eine Frau in die SchnellerKasernen kommen zu lassen. Vielleicht fuhr er also irgendwo hin, um sich mit einer Geliebten zu treffen. Möglicherweise war Haven-Hurst ein unsichtbarer Mitfahrer dieses geheimnisvollen Autos, der regelmäßig von den Schneller-Kasernen zu irgendeiner Frau fuhr. Diese Vorstellung schien selbst den Makkabäern absurd, doch solange man noch nicht genau wußte, was es mit dem mysteriösen Wagen auf sich hatte, konnte man einen solchen Gedanken nicht einfach außer acht lassen. Wer konnte die Geliebte des Generals Haven-Hurst sein? Es gab keine Gerüchte, die einen Hinweis hierfür enthalten hätten. Falls er wirklich ein Liebesnest haben sollte, hatte er mit großer Geschicklichkeit verstanden, es geheimzuhalten. Keine Jüdin würde es wagen, sich mit ihm einzulassen, und Engländerinnen gab es nicht. Also kam nur eine Araberin in Frage. Versuchte man, dem Wagen nachzufahren, so riskierte man, entdeckt zu werden. Natürlich hatten die Makkabäer die Möglichkeit, diesem Wagen, der nachts allein durch die Gegend fuhr, den Weg zu versperren; doch der Führungsstab der Makkabäer hielt es für besser, festzustellen, wohin der Wagen fuhr. Dann konnte man ihn — falls Haven-Hurst darin fuhr — bei einem kompromittierenden Rendezvous überraschen.
Man fand heraus, daß der Wagen einer Familie arabischer Großgrundbesitzer gehörte. Zu dieser Familie gehörte eine junge Frau, die durch ihre außergewöhnliche Schönheit, ihre Bildung und ihr Herkommen einen Mann wie Haven-Hurst sicherlich interessieren konnte. Die einzelnen Teile des Puzzle-Spiels fingen allmählich an, zusammenzupassen.
Die Makkabäer beobachteten das Haus der arabischen Familie und beschatteten das Mädchen Tag und Nacht. Schon in der zweiten Nacht wurde ihre Ausdauer belohnt. Das Mädchen verließ gegen Mitternacht das Haus und begab sich zu einer Villa in El Baq'a, wo die reichen Araber ihre Häuser hatten. Eine halbe Stunde später kam das geheimnisvolle Auto an, hielt vor dem Haus, und die Makkabäer sahen für einen kurzen Augenblick Haven-Hurst, der aus dem Wagen stieg und sich eilig zu seinem Rendezvous begab.
Gegen drei Uhr morgens wurde Haven-Hurst aus seinem Schlummer aufgeschreckt durch eine Stimme, die ihm aus der Dunkelheit ein biblisches Zitat zurief, das ihm das Blut gerinnen ließ: »Gelobt sei der Herr, der Israel rächt!«
Haven-Hurst war mit einem Satz aus dem Bett. Die Araberin schrie auf, als die Schüsse der Makkabäer durch den Raum peitschten. Einige Stunden später erhielt das Britische Oberkommando einen Anruf der Makkabäer. Den Engländern wurde mitgeteilt, wo sie den Leichnam ihres Kommandeurs finden könnten. Außerdem wurden sie davon unterrichtet, daß der Tod des Generals Haven-Hurst fotografisch festgehalten worden sei. Falls die Engländer Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden ergreifen sollten, würden die Makkabäer diese Fotografien veröffentlichen.
Im Britischen Oberkommando überlegte man sich, welche Auswirkungen der Skandal haben würde. Ihr Kommandierender General war im Bett seiner arabischen Geliebten ermordet worden! Man entschloß sich, die Sache zu vertuschen und öffentlich zu erklären, daß der General bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Die Makkabäer waren damit einverstanden.
Nachdem der General von der Bildfläche verschwunden war, hörte die Aktivität der Terroristen auf. Die bevorstehende Ankunft des Untersuchungsausschusses der UNO bewirkte im ganzen Land Ruhe, unter der allerdings eine unheimliche Unruhe schwelte.
Ende Juni 1947 traf der Sonderausschuß der Vereinten Nationen, bekannt unter der Abkürzung UNSCOP, in Haifa ein. Die neutralen Beobachter waren dabei durch Schweden, Holland, Kanada, Australien, Guatemala, Uruguay, Peru, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, den Iran und Indien vertreten.
Für die Juden sah es ziemlich schlecht aus. Iran war ein mohammedanischer Staat. Indien war teilweise mohammedanisch, und der indische Delegierte war sowohl Mohammedaner als auch Vertreter eines Landes, das dem Britischen Commonwealth angehörte. Kanada und Australien gehörten gleichfalls zum Britischen Commonwealth. Die Tschechoslowakei und Jugoslawien, die zum sowjetischen Block gehörten, waren Länder mit antizionistischer Tradition. Die Vertreter von Südamerika, Uruguay, Peru und Guatemala waren vorwiegend katholisch und möglicherweise von der lauwarmen Einstellung des Vatikans gegenüber dem Zionismus beeinflußt. Nur Schweden und Holland konnten wirklich als unparteiische Länder angesehen werden.
Die Araber dagegen waren mit der Anwesenheit der Vertreter der UNO nicht einverstanden. Sie riefen in Palästina den Generalstreik aus, veranstalteten Demonstrationen, fluchten und drohten. In den anderen arabischen Ländern kam es zu Unruhen und blutigen Ausschreitungen gegen die dort lebenden Juden.
Barak ben Kanaan, der alte Kämpfer und Unterhändler, wurde vom Jischuw wieder einmal eingespannt. Zusammen mit Ben Gurion und Dr. Weizmann arbeitete er im Beratungsausschuß für die Delegierten der UNO.
XIII.
Kitty und Karen kehrten nach Gan Dafna zurück. Kitty wartete auf den geeigneten Augenblick für die entscheidende Aussprache mit Karen. Als der Brief von Dov Landau kam, beschloß sie, sie nicht länger aufzuschieben.
Kitty, die Karen die Haare gewaschen hatte, drückte das Wasser aus dem langen, dichten, braunen Haar und rieb es mit einem großen Frottiertuch trocken.
»Puh«, sagte Karen, nahm einen Zipfel des Handtuchs und wischte sich die Seife aus den Augen.
Das Wasser im Teekessel kochte. Karen stand auf, band sich das Handtuch als Turban um den Kopf und brühte den Tee auf. Kitty saß auf dem Küchentisch und feilte und lackierte ihre Nägel.
»Was hast du eigentlich?« fragte Karen.
»Du lieber Gott, darf ich nicht einmal mehr denken, ohne es gleich zu sagen?«
»Du hast irgendwas — schon die ganze Zeit, seit du von dem Ausflug zum Tiberias-See zurückgekommen bist. Ist irgendwas zwischen dir und Ari passiert?«
»Zwischen mir und Ari ist eine Menge passiert, doch das ist es nicht, was mir zu schaffen macht. Karen, ich muß mit dir reden, über uns und unsere Zukunft. Mir scheint, es ist das Beste, wenn wir das jetzt gleich tun.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst.«
Kitty wedelte mit den Händen, damit der Lack auf ihren Nägeln trockne. Dann stand sie auf und steckte sich umständlich eine Zigarette an. »Weißt du eigentlich, was du für mich bedeutest und wie sehr ich dich liebe?«
»Ja«, sagte Karen, »ich glaube schon.«
»Dann mußt du mir auch glauben, daß ich mir alles sehr genau überlegt habe und nur dein Bestes will. Du mußt Vertrauen zu mir haben.«
»Das habe ich auch — das weißt du doch.«
»Es wird nicht leicht für dich sein, das, was ich dir jetzt sagen will, in seiner ganzen Bedeutung zu begreifen. Auch mir fällt es schwer, darüber zu reden, weil mir viele von den Kindern hier sehr ans Herz gewachsen sind und mich sehr viel mit Gan Dafna verbindet. Karen — ich möchte dich mitnehmen nach Haus, nach Amerika.«
Karen sah Kitty fassungslos an. Im Augenblick begriff sie nicht, was sie gehört hatte, oder sie glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
»Nach Haus? Aber — mein Zuhause ist doch hier. Ich habe kein anderes Zuhause.«
»Ich möchte, daß dein Zuhause bei mir ist — immer.«
»Das möchte ich auch, Kitty — ich habe keinen größeren Wunsch. Ach, das ist alles so sonderbar.«
»Was denn, mein Liebes?«
»Wie du da eben sagtest: nach Hause, nach Amerika.«
»Aber ich bin nun einmal Amerikanerin, Karen. Das ist meine Heimat, und ich habe Sehnsucht nach ihr.«
Karen mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht zu weinen. »Komisch, nicht wahr? Ich hatte gedacht, wir könnten immer so weiterleben, wie wir jetzt leben. Du wärest in Gan Dafna, und —.« »Und du beim Palmach — und dann in irgendeinem Kibbuz an der Grenze, nicht wahr?«
»Ja, ich glaube, so ungefähr hatte ich es mir vorgestellt.«
»Es gibt vieles hier, was ich schätzen und lieben gelernt habe. Doch dieses Land ist nicht meine Heimat, und die Menschen hier sind nicht meine Landsleute.«
»Ich bin wahrscheinlich sehr egoistisch gewesen«, sagte Karen. »Ich habe nie daran gedacht, daß du Heimweh bekommen oder irgend etwas für dich selbst wünschen könntest.«
»Das ist das netteste Kompliment, das mir jemals irgendein Mensch gemacht hat.«
Karen schenkte Tee ein und versuchte nachzudenken. Kitty bedeutete alles für sie — aber fortgehen, Palästina verlassen?
»Ich weiß nicht, Kitty, wie ich das erklären soll — aber die ganze Zeit, seit ich alt genug bin, Bücher zu lesen, schon in Dänemark, hat mich die Frage beschäftigt, was es eigentlich bedeutet, daß ich Jüdin bin. Ich weiß die Antwort auf diese Frage bis heute nicht. Ich weiß nur, daß ich hier irgend etwas habe, was mir gehört — etwas, was mir nie jemand nehmen kann. Ich weiß nicht genau, was das ist, aber es ist das Wichtigste, was es für mich überhaupt auf der Welt gibt. Vielleicht kann ich es eines Tages in Worte fassen — aber jedenfalls kann ich nicht aus Palästina fortgehen.« »Was immer dir gehört, wirst du auch in Amerika haben. Die Juden in Amerika — und, wie ich glaube, auch die Juden in allen anderen Ländern — haben das gleiche Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie du es hast. Dadurch, daß du aus Palästina fortgehst, ändert sich daran nichts.«
»Aber diese anderen Juden leben im Exil.«
»Nein, Kind — begreifst du denn gar nicht, daß die Juden in Amerika dieses Land als ihre Heimat lieben?«
»Die Juden in Deutschland haben auch ihre deutsche Heimat geliebt.«
»Hör auf damit!« schrie Kitty plötzlich. »Wir Amerikaner sind nicht so, und ich mag von diesen Lügen nichts hören, mit denen man euch füttert!« Sie beherrschte sich rasch wieder. »In Amerika gibt es Juden, die ihre amerikanische Heimat so sehr lieben, daß sie lieber sterben würden, falls jemals das, was in Deutschland geschah, auch in Amerika geschehen sollte.« Sie trat hinter den Stuhl, auf dem Karen saß, und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht, wie schwierig das für dich ist? Und glaubst du, ich wäre fähig, irgend etwas zu tun, das dir weh tut?« »Nein«, flüsterte Karen.
Kitty kniete sich vor Karens Stuhl auf den Boden und sah das Mädchen an. »Ach, Karen — du weißt ja überhaupt gar nicht, was Frieden ist. Du hast in deinem ganzen Leben noch nie die Möglichkeit gehabt, wirklich frei und ohne Furcht zu leben. Glaubst du, daß es hier besser wird? Daß es hier jemals besser werden könnte? Karen, ich wünsche mir, daß du nicht aufhörst, eine Jüdin zu sein und dieses Land hier zu lieben — doch es gibt noch andere Dinge, die ich mir auch für dich wünsche.«
Karen sah beiseite.
»Wenn du hierbleibst«, sagte Kitty, »wirst du dein ganzes Leben lang ein Gewehr tragen. Du wirst hart und zynisch werden, genau wie Ari und Jordana.«
»Wahrscheinlich war es falsch von mir, zu hoffen, du würdest immer hierbleiben.«
»Komm mit, Karen, komm mit mir nach Amerika. Gib uns beiden eine Chance. Wir brauchen einander. Wir haben beide genug gelitten.«
»Ich weiß nicht, ob ich aus diesem Land fortgehen kann«, sagte Karen mit bebender Stimme. »Ich weiß es nicht — ich weiß es einfach nicht.« »Ach, Karen — ich wünsche mir so sehr, dich in Reitstiefeln zu sehen und in Faltenröcken und mit dir in einem schnittigen Ford zu einem Fußballspiel zu fahren. Ich möchte hören, wie das Telefon klingelt und du dich kichernd mit einem deiner Verehrer unterhältst. Ich möchte, daß du all die reizenden und unwichtigen Dinge im Kopf hast, mit denen sich ein Mädchen in deinem Alter beschäftigt, anstatt ein Gewehr zu tragen oder Munition zu schmuggeln. Es gibt so vieles, was dir hier entgeht. Du sollst wenigstens einmal erleben, daß es all diese Dinge gibt, ehe du dich endgültig entscheidest. Bitte, Karen — bitte.«
Karens Gesicht war bleich. Sie stand auf und entfernte sich von Kitty. »Und was ist mit Dov?«
Kitty nahm Dovs Brief aus ihrer Tasche und gab ihn Karen. »Das da habe ich heute auf meinem Schreibtisch gefunden. Wie es dorthin gekommen ist, weiß ich nicht.«
Mrs. Fremont,
aus Gründen, die Ihnen bekannt sein dürften, gelangt dieser Brief auf einem besonderen Wege zu Ihnen. Ich habe zur Zeit sehr viel zu tun. Ich befinde mich bei guten Freunden. Es ist das erstemal seit langer Zeit, daß ich bei Freunden bin, und es sind wirklich gute Freunde. Nachdem ich hier jetzt eine feste Bleibe habe, möchte ich Ihnen gerne schreiben, um Ihnen zu sagen, wie froh ich bin, nicht mehr in Gan Dafna zu sein, wo mir alle Leute auf die Nerven gingen, auch Sie und Karen Clement! Ich schreibe diesen Brief, um Ihnen mitzuteilen, daß ich Karen Clement nicht mehr wiedersehen werde, da ich dazu viel zu beschäftigt bin, und weil ich mit Menschen zusammen bin, die wirklich meine Freunde sind. Ich möchte nicht, daß Karen Clement denkt, ich käme zurück, um mich um sie zu kümmern. Sie ist ja nichts als ein Kind. Ich habe hier eine richtige Frau, die so alt ist wie ich, und wir beide leben zusammen. Warum fahren Sie eigentlich nicht mit Karen Clement nach Amerika, denn hierher gehört sie ja doch nicht?
Dov Landau
Kitty nahm Karen den Brief aus der Hand und riß ihn in kleine Stücke. »Ich werde Dr. Liebermann sagen, daß ich von meinem Posten zurücktrete. Sobald wir hier alles geordnet haben, bestellen wir Schiffsplätze für die Überfahrt nach Amerika.«
»Ja, Kitty«, sagte Karen. »Ich komme mit.«
XIV.
Der Führungsstab der Makkabäer wechselte alle paar Wochen sein Hauptquartier. Nach der Ermordung Haven-Hursts hielten es Ben Mosche und Akiba für besser, für eine Weile aus Jerusalem zu verschwinden.
Da das Hauptquartier beständig verlegt werden mußte, bestand der Stab nur aus einem halben Dutzend Männer. Jetzt war die Situation so bedrohlich geworden, daß sich auch diese kleine Führungsgruppe aufteilte und nur vier davon nach Tel Aviv gingen. Diese vier waren Akiba und Ben Mosche, außerdem Nachum ben Ami, der Bruder von David ben Ami, und Dov Landau, der inzwischen als Kleiner Giora bekannt und berühmt geworden war. Durch seinen ungewöhnlichen Mut und die wertvollen Dienste, die er als hochqualifizierter Fachmann für Fälschungen leistete, war er in den obersten und innersten Führungskreis der Makkabäer aufgestiegen und der besondere Günstling von Akiba geworden.
Diese vier Leute schlugen ihr Hauptquartier in einer SouterrainWohnung auf, die einem Mitglied der Makkabäer gehörte. Das Haus lag an der B'nej-B'rak-Straße, in der Nähe der AutobusZentralstation und des Alten Marktes, in einer sehr verkehrsreichen Gegend. Rund um das Haus wurden Wachtposten aufgestellt, und für den Notfall wurde ein Fluchtweg ausgearbeitet. Es schien ideal — und hätte nicht schlimmer sein können.
Fast fünfzehn Jahre lang hatte Akiba alle Bemühungen der CID und des Britischen Intelligence Service vereitelt, seiner habhaft zu werden. Jetzt fügte es sich zufällig, daß der CID ein anderes Haus auf der B'nej-B'rak-Straße beobachten ließ, das nur drei Häuser von dem neuen Hauptquartier der Makkabäer entfernt war. Bei den Bewohnern dieses anderen Hauses handelte es sich um eine Schmugglerbande, die im Hafen von Jaffa ein Lager von unverzollten Waren unterhielt. Den Männern der CID, die von einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus die Wohnung der Schmuggler überwachten, fielen dabei die verdächtigen Posten auf, die Tag und Nacht in der Nähe der Souterrain-Wohnung standen. Sie fotografierten sie mit einem Teleobjektiv und identifizierten zwei der Wachtposten als bekannte Mitglieder der Makkabäer. Während sie Jagd auf Schmuggler machten, waren sie rein zufällig auf ein Versteck der Makkabäer gestoßen. Auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung mit den Makkabäern schien es ihnen geraten, das Nest sofort auszuheben. Sie organisierten die Sache in aller Eile und griffen völlig überraschend zu. Dabei hatten sie noch gar keine Ahnung, daß es sich bei dem verdächtigen Unternehmen sogar um das Hauptquartier der Makkabäer handelte.
Dov saß in einem der drei Zimmer der Souterrain-Wohnung, damit beschäftigt, einen Paß des Staates Salvador zu fälschen. Außer ihm war nur Akiba anwesend. Nachum ben Ami und Ben Mosche waren fortgegangen, um sich mit Seew Gilboa, dem Verbindungsmann zwischen der Hagana und den Makkabäern, zu treffen. Akiba kam in das Zimmer, in dem Dov arbeitete.
»Nun verrat mir doch mal, Kleiner Giora«, sagte Akiba, »wie hast du es bloß fertiggebracht, Ben Mosche einzureden, dich heute mitzunehmen?«
»Ich muß diesen Paß fertig machen«, brummte Dov.
Akiba sah auf seine Uhr und streckte sich dann auf dem Feldbett aus, das hinter Dov stand. »Sie müßten bald wieder da sein«, sagte er.
»Ich traue den Leuten von der Hagana nicht«, sagte Dov.
»Es bleibt uns im Augenblick nichts anderes übrig, als ihnen zu trauen«, sagte der alte Mann.
Dov hielt den Paß gegen die Lampe, um zu prüfen, ob man anhand des Wasserzeichens und des Stempels erkennen konnte, wo er radiert hatte. Es war eine gute Arbeit. Nicht einmal ein Fachmann konnte feststellen, wo er den Namen und die Beschreibung des früheren Paßinhabers verändert hatte. Dov beugte sich dicht über den Paß und ahmte die Unterschrift eines Paßbeamten des Staates Salvador nach. Dann legte er die Feder hin, stand auf und ging unruhig in dem engen Raum hin und her, sah immer wieder einmal nach, ob die Tinte schon getrocknet war, und nahm danach seine ruhelose Wanderung wieder auf, hin und her, hin und her.
»Sei nicht so ungeduldig, Kleiner Giora. Du wirst noch lernen, daß Warten das Schlimmste ist, wenn man illegal leben muß. Das Warten — worauf eigentlich, frage ich mich oft?«
»Ich kenne diese Art zu leben schon von früher«, sagte Dov. »Richtig, richtig«, sagte Akiba. Er richtete sich auf und reckte sich. »Warten, warten, warten. Du bist noch sehr jung, Dov. Du solltest lernen, nicht ganz so ernst und nicht ganz so verbissen zu sein. Das war immer mein Fehler. Ich war immer viel zu intensiv. Habe nie an mich gedacht, sondern Tag und Nacht nur für die Sache gearbeitet.« »Das klingt seltsam aus dem Munde von Akiba«, sagte Dov.
»Wenn man alt wird, dann wird einem vieles klar. Wir warten — warten auf eine Möglichkeit, weiter zu warten. Wenn sie uns erwischen, können wir bestenfalls damit rechnen, daß man uns des Landes verweist oder für lebenslänglich ins Gefängnis steckt. Doch heutzutage ist das Übliche, daß man jeden, den man erwischt, aufhängt. Das ist es ja, weshalb ich dir den guten Rat gebe: sei nicht so tierisch ernst. Unter den Makkabäern gibt es viele hübsche Mädchen, die es wunderbar fänden, wenn sie unseren Kleinen Giora kennenlernen könnten. Genieße dein Leben, solange dazu noch Gelegenheit ist.«
»Interessiert mich nicht«, sagte Dov mit Entschiedenheit.
»Ach, wirklich«, sagte der Alte mit freundlichem Spott. »Vielleicht hast du schon eine Freundin, die du uns verschwiegen hast.«
»Ich war früher mal mit einem Mädchen befreundet«, sagte Dov, »aber jetzt nicht mehr.«
»Ich muß Ben Mosche sagen, daß er ein Mädchen für dich ausfindig macht; dann sollst du mit ihr ausgehen und dich amüsieren.«
»Ich will kein Mädchen haben, ich will hier im Hauptquartier bleiben. Das ist wichtiger als alles andere.«
Der alte Mann streckte sich wieder auf das Feldbett aus und versank in Gedanken. Schließlich fing er an zu sprechen. »Du irrst dich, Kleiner Giora. Du irrst dich sehr. Das Wichtigste, was es gibt, das ist, morgens aufzuwachen und aus dem Fenster auf dein Land zu sehen, und dann hinauszugehen, dieses Land zu bearbeiten — und am Abend nach Haus zu kommen zu einem Menschen, den du liebst und der dich liebt.«
Der Alte wird wieder einmal sentimental, dachte Dov. Er untersuchte den Paß und stellte fest, daß die Tinte getrocknet war. Er klebte das Paßfoto ein. Während Akiba auf dem Feldbett ein Nickerchen machte, nahm Dov seine ruhelose Wanderung wieder auf. Seitdem er diesen Brief an Mrs. Fremont abgeschickt hatte, war es noch schlimmer geworden. Früher oder später würden ihn die Engländer schnappen und aufhängen, und dann war alles vorbei. Die Leute wußten nicht, daß der Grund für seine sagenhaft gewordene Furchtlosigkeit die Tatsache war, daß ihm nichts daran lag, am Leben zu bleiben. Er betete geradezu darum, von einer feindlichen Kugel getroffen zu werden. In letzter Zeit war es mit seinen Angstträumen wieder sehr schlimm geworden, und Karen war nicht da, um schützend zwischen ihm und der Tür der Gaskammer zu stehen. Mrs. Fremont würde sie jetzt nach Amerika mitnehmen. Das war richtig so! Und er würde mit den Makkabäern weiter zu Terroraktionen hinausgehen, bis es ihn eines Tages erwischte — weil es sinnlos war, ohne Karen zu leben.
Draußen vor dem Haus mischten sich fünfzig britische Polizisten in ziviler Kleidung unter die Menge, die bei der Haltestelle der Autobusse stand. Sie schnappten sich rasch die Makkabäer, die rings um das Haus Wache hielten, und schafften sie fort, ehe sie ein Warnsignal geben konnten. Dann sperrten sie den ganzen Häuserblock ab.
Fünfzehn Polizisten gingen, mit Maschinenpistolen, Tränengas, Äxten und Vorschlaghämmern ausgerüstet, leise die Treppe zu der Souterrain-Wohnung hinunter und bauten sich vor der Tür auf.
Es klopfte an der Tür. Akiba, der eingeschlafen war, öffnete halb die Augen. »Das können nur Ben Mosche und Nachum ben Ami sein. Laß sie herein, Dov.«
Dov legte die Sperrkette vor und machte die Tür einen Spalt breit auf. Ein Vorschlaghammer fiel krachend herunter, und die Tür sprang auf.
»Engländer!« schrie Dov.
Akiba und der Kleine Giora verhaftet! Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch ganz Palästina. Der sagenumwobene Akiba, der die Engländer länger als ein Jahrzehnt zum Narren gehalten hatte, war jetzt ihr Gefangener!
Der englische Hohe Kommissar für Palästina entschloß sich, die beiden Gefangenen sofort vor Gericht zu stellen und ein Urteil über sie zu fällen, das die Makkabäer noch mehr demoralisieren würde. Er war der Meinung, daß eine rasche Verurteilung Akibas die Autorität der britischen Obrigkeit wieder herstellen und die Aktivität der Makkabäer eindämmen würde, da der alte Mann lange Zeit die treibende Kraft hinter den Aktionen der Terroristen gewesen war.
Der Hohe Kommissar veranlaßte eine gerichtliche Verhandlung unter strenger Geheimhaltung. Auch der Name des Richters wurde nicht bekanntgegeben, um seine persönliche Sicherheit nicht zu gefährden. Akiba und der Kleine Giora wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, und das Urteil war spätestens zwei Wochen nach der Festnahme zu vollstrecken. Die beiden Verurteilten wurden in die uneinnehmbare Festung des Gefängnisses von Akko eingeliefert.
In seinem Eifer hatte der Hohe Kommissar einen verhängnisvollen Fehler begangen. Man hatte den Vertretern der Presse nicht erlaubt, an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen, aber die Makkabäer besaßen — besonders in den Vereinigten Staaten — einflußreiche Freunde und finanzielle Hilfsquellen. Die Frage, ob Akiba und Dov Landau schuldig oder unschuldig waren, ging in der leidenschaftlichen Diskussion unter, die der Fall in der Öffentlichkeit auslöste. Ähnlich wie damals der Zwischenfall mit der Exodus führte die Verurteilung der beiden zu heftiger Kritik an der englischen Mandats-Politik. Dovs Vergangenheit im Warschauer Ghetto und in Auschwitz wurde von den Reportern aufgespürt und publiziert, was für den Verurteilten in ganz Europa eine Welle der Sympathie hervorrief. Besonders verärgert war die Öffentlichkeit auch über das geheime Gerichtsverfahren. Bilder des achtzigjährigen Akiba und des achtzehnjährigen Kleinen Giora wirkten auf die Vorstellungskraft der Leser wie die eines Propheten und seines Schülers, und die Zeitungsleute verlangten, die Gefangenen sehen und mit ihnen sprechen zu können.
Cecil Bradshaw befand sich als Mitglied der UNSCOP in Palästina. Nachdem er bei der Exodus erlebt hatte, was aus einer solchen Sache entstehen konnte, konferierte er unverzüglich mit dem Hohen Kommissar und erbat Weisungen aus London. Der Fall brachte die Weltöffentlichkeit zu dem sehr delikaten Zeitpunkt gegen England auf, als der Untersuchungsausschuß der UNO in Palästina war.
Der Hohe Kommissar und Bradshaw begaben sich in eigener Person in das Gefängnis von Akko, um Akiba und Dov die gute Nachricht zu überbringen, daß man sich, mit Rücksicht auf das hohe Alter Akibas und der Jugend Dov Landaus, entschlossen habe, ein Gnadengesuch der beiden Verurteilten wohlwollend zu akzeptieren und ihnen das Leben zu schenken. Die beiden Häftlinge wurden in das Büro des Gefängnisdirektors gebracht, wo ihnen die beiden hohen Beamten ohne alle Umschweife erklärten, was sie ihnen vorzuschlagen hatten.
»Wir sind vernünftige Leute«, sagte der Hohe Kommissar. »Wir haben diese Petitionen hier vorbereitet. Sie brauchen nur zu unterschreiben. Der Form nach handelt es sich dabei um Gnadengesuche, doch im Grunde ist das nur eine Formalität — eine Hintertür, wenn Sie so wollen.«
»Also, unterschreiben Sie jetzt diese Petitionen«, sagte Bradshaw, »und wir machen Ihnen einen fairen Kompromißvorschlag. Wir werden Sie beide außer Landes bringen. Sie werden in irgendeiner unserer afrikanischen Kolonien eine kurze Gefängnisstrafe abbüßen, und in ein paar Jahren wird kein Hahn mehr danach krähen.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz«, sagte Akiba. »Weshalb sollen wir in Afrika eine Gefängnisstrafe abbüßen? Wir haben kein Verbrechen begangen. Wir haben nur unser selbstverständliches historisches Recht verteidigt. Seit wann ist es ein Verbrechen, wenn ein Soldat für sein Vaterland kämpft? Wir sind Kriegsgefangene. Sie haben kein Recht, uns zu irgendeiner Strafe zu verurteilen. Wir befinden uns in einem vom Feind besetzten Land.«
Der alte Mann versteifte sich. Dem Hohen Kommissar brach der Schweiß aus. Ähnliches hatte er schon früher von fanatischen Makkabäern zu hören bekommen. »Hören Sie, Akiba. Wir diskutieren hier keine politischen Fragen. Es geht um Ihren Hals. Entweder unterschreiben Sie diese Gnadengesuche, oder wir müssen das Urteil vollstrecken.«
Akiba sah die beiden Männer an, deren Gesichtern deutlich abzulesen war, wie sehr ihnen an einer Regelung in dieser Form gelegen war. Er war sich völlig darüber klar, daß die Engländer versuchten, einen Vorteil zu gewinnen oder einen Fehler wiedergutzumachen.
»Hör mal zu, mein Junge«, sagte Bradshaw zu Dov. »Du hast doch bestimmt keine Lust, am Galgen zu baumeln, nicht wahr? Also, du unterschreibst jetzt, und Akiba wird dann auch unterschreiben.« Bradshaw schob das Gnadengesuch über den Tisch und zog seinen Füllfederhalter heraus. Dov sah einen Augenblick auf das Dokument und spuckte dann darauf.
Akiba sah die beiden Engländer an. »Dein eigener Mund hat dir das Urteil gesprochen«, sagte er mit schneidendem Hohn.
Daß Akiba und der Kleine Giora es abgelehnt hatten, die Gnadengesuche zu unterschreiben, erschien in der Presse in dicken Schlagzeilen als dramatischer Protest gegen die Engländer. Zehntausende der in Palästina lebenden Juden, die bisher wenig für die Makkabäer übrig gehabt hatten, waren von der Haltung, die die beiden an den Tag gelegt hatten, begeistert. Der Greis und der Knabe wurden über Nacht zum Symbol des jüdischen Widerstands. Die Engländer, die gehofft hatten, die Makkabäer kleinzukriegen, waren stattdessen auf dem besten Wege, zwei Märtyrer zu schaffen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als den Termin der Urteilsvollstreckung festzusetzen: in zehn Tagen.
Die Spannung in Palästina wuchs von Tag zu Tag. Die Aktionen der Makkabäer und der Hagana hatten aufgehört, doch überall im ganzen Lande hatte man das deutliche Gefühl, daß man auf einem Pulverfaß saß und ein Zeitzünder tickte.
Die ausschließlich von Arabern bewohnte Stadt Akko befindet sich am Nordende der Bucht, an deren Südende Haifa liegt. Das Gefängnis ist ein auf Ruinen aus der Zeit der Kreuzfahrer errichtetes häßliches Gebäude. Es liegt auf einer Mole, die sich von dem Gefängnis am nördlichen Stadtrand bis zum entgegengesetzten Ende der Stadt erstreckt. Ahmad el Jazzar — der Schlächter — hatte es zu einer Festung des Ottomanenreiches ausgebaut, und diese Festung hatte dem Ansturm Napoleons standgehalten. Es war ein Konglomerat von Brustwehren, Verliesen, unterirdischen Gängen, Türmen, ausgetrockneten Wassergräben, Höfen und dicken Wänden. Die Engländer hatten daraus eines der gefürchtetsten Gefängnisse des ganzen Empire gemacht.
Dov und Akiba wurden in winzige Zellen gesperrt, die sich im nördlichen Flügel befanden. Die Wände, die Decke und der Fußboden waren aus Stein. Die Zellen hatten ein Ausmaß von einsachtzig mal zweivierzig. Die Außenwand war annähernd fünf Meter dick. Es gab weder elektrisches Licht noch W. C. Die Luft war muffig. Die Zellentüren waren aus Eisen, und durch ein kleines Loch konnten die Häftlinge beobachtet werden. Die einzige weitere Öffnung war ein Schlitz in der Außenwand, der fünf Zentimeter weit und fünfundzwanzig Zentimeter hoch war.
Akiba ging es nicht gut in seiner Zelle. Die Wände schwitzten, und die feuchte Luft verschlimmerte den Gelenkrheumatismus, an dem er seit vielen Jahren litt. Er hatte höllische Schmerzen.
Jeden Tag kamen zwei- oder dreimal irgendwelche Vertreter der britischen Behörde, um über einen Kompromiß zu verhandeln, durch den man die Vollstreckung des Urteils vermeiden konnte. Dov nahm von diesen Leuten überhaupt keine Notiz. Akiba rief ihnen so lange Zitate aus der Bibel zu, bis sie fluchtartig den Rückzug antraten.
Es waren nur noch sechs Tage bis zur Vollstreckung des Urteils. Akiba und Dov wurden in die Todeszellen gebracht, die neben dem Raum lagen, in dem die Erhängungen stattfanden. Beide wurden mit den scharlachroten Hosen und Hemden bekleidet, dem traditionellen englischen Kostüm für diejenigen, auf die der Galgen wartet.
XV.
Es war ein Uhr nachts. Bruce Sutherland saß in seiner Bibliothek und las. Er hob überrascht den Kopf, als es an der Tür klopfte. Karen Clement kam herein.
Sutherland fuhr sich verwundert über die Augen. »Was zum Teufel tust du denn hier zu dieser nächtlichen Stunde?«
Karen stand stumm und zitternd vor ihm.
»Weiß Kitty, daß du hier bist?«
Karen schüttelte den Kopf. Sutherland führte sie zu einem Stuhl. »Nun erzähl mal, Mädchen, was ist eigentlich los?«
»Ich möchte Dov Landau im Gefängnis besuchen. Ich kenne außer Ihnen niemanden, der mir dazu verhelfen könnte.«
Sutherland verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging im Raum auf und ab. »Selbst wenn es mir möglich sein sollte, dir die Erlaubnis zu verschaffen — ich würde dir damit keinen Dienst erweisen. In ein paar Wochen wirst du mit Kitty Palästina verlassen. Warum versuchst du nicht lieber, ihn zu vergessen, Kind?«
»Bitte«, sagte Karen. »Ich weiß genau, was ich will. Ich habe an nichts anderes denken können, seit man ihn gefangengenommen hat. Ich muß ihn noch einmal sehen. Helfen Sie mir, General Sutherland, bitte.«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte er. »Aber jetzt wollen wir erst einmal Kitty anrufen und ihr sagen, daß du hier bist. Sie ist vermutlich vor Angst halb von Sinnen. Wie konntest du dich aber auch nur allein und zu dieser Zeit durch arabisches Gebiet wagen!« Am nächsten Morgen rief Sutherland in Jerusalem an. Der Hohe Kommissar beeilte sich, der Bitte stattzugeben. Die Engländer versuchten noch immer, Dov und Akiba dazu zu bewegen, es sich anders zu überlegen, und griffen dabei nach jedem Strohhalm. Es war immerhin möglich, daß Dov durch Karens Besuch in seiner ablehnenden Haltung schwankend gemacht wurde.
Kitty fuhr von Gan Dafna nach Safed, wo Sutherland sie abholte. Zu dritt fuhren sie nach dem an der Küste gelegenen Nahariya.
Von der Polizeiwache in Nahariya wurden sie unter polizeilicher Begleitung in das Gefängnis von Akko gebracht und hier in das Büro des Gefängnisdirektors geführt.
Karen war auf dem ganzen Weg wie betäubt gewesen. Hier im Gefängnis kam ihr alles noch unwirklicher vor.
Der Gefängnisdirektor kam herein und forderte Karen auf, mitzukommen.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich begleite«, sagte Kitty. »Nein«, sagte Karen, »ich möchte mit ihm allein sein.«
Draußen vor dem Zimmer des Direktors wurde Karen von zwei bewaffneten Wachtposten in Empfang genommen. Sie führten sie durch eine Reihe eiserner Türen und über einen riesigen, mit Steinen gepflasterten Hof, der rings von vergitterten Fenstern umgeben war. Karen konnte die Augen der Gefangenen sehen, die lüstern hinter ihr herschielten. Dann ging es eine schmale Treppe hinauf in den abgelegenen Teil des Gefängnisses, in dem die zum Tode Verurteilten ihre engen Zellen hatten. Sie kamen an einem durch Stacheldraht abgesicherten Maschinengewehr vorbei zu einer weiteren Tür, an der zwei Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren standen.
Karen wurde in eine winzige Zelle geführt. Die Tür hinter ihr wurde geschlossen, und ein Soldat trat neben sie. Er öffnete eine Klappe, hinter der ein Loch in der Wand war, das vielleicht zehn oder zwölf Zentimeter breit und ebenso hoch war.
»Da, Kleene, durch das Loch kannste mit ihm reden«, sagte der Posten.
Karen nickte und sah durch die Öffnung. Sie konnte die beiden gegenüberliegenden Zellen sehen. Sie sah Akiba in der einen Zelle, und Dov in der anderen. Er lag in seinem scharlachroten Gewand auf dem Rücken und starrte an die Decke. Karen sah, wie ein Posten kam und die Tür seiner Zelle aufschloß.
»Komm hoch, Landau«, schnauzte der Posten. »Da ist jemand, der mit dir reden will.«
Dov nahm ein Buch, das auf dem Fußboden lag, schlug es auf und fing darin zu lesen an.
»He, du hast Besuch!«
Dov blätterte eine Seite um.
»Bist du schwerhörig? Da ist Besuch für dich, hab' ich gesagt.«
»Ich bin für keinen dieser Leute mit ihren Vorschlägen zu sprechen, sagen Sie ihnen —.«
»Das ist keiner von uns. Das ist jemand von euch. Ein Mädchen, Landau.«
Dovs Hand umklammerte krampfhaft das Buch. Sein Herz hämmerte. »Sagen Sie ihr, ich hätte keine Zeit.«
Der Posten zuckte die Schultern und kam an die Öffnung in der Wand. »Er sagt, er will keinen sehen.«
»Dov!« rief Karen. »Dov!«
Das Echo ihrer Stimme hallte durch die Todeszelle. »Dov! Ich bin's, Karen!«
Akiba richtete den Blick gespannt auf Dovs Zelle. Dov biß die Zähne aufeinander und blätterte die nächste Seite um.
»Dov! Dov! Dov!«
»Sprich mit ihr, Junge«, rief Akiba laut. »Geh nicht in dem feindlichen Schweigen aus der Welt, zu dem mein Bruder mich verurteilt hat. Sprich mit ihr, Junge.«
Dov legte das Buch aus der Hand und erhob sich von seiner Koje. Er gab dem Posten ein Zeichen, und der Mann schloß die Tür von Dovs Zelle auf. Dov ging zu der Öffnung in der Wand und sah hindurch. Er konnte nur ihr Gesicht sehen.
Karen sah in seine Augen. Sie blickten kalt und böse.
»Ich habe es satt mit diesen Tricks«, sagte er bissig. »Wenn man dich hergeschickt hat, damit du mich bittest, ich möchte doch unterschreiben, dann kannst du gleich wieder gehen. Ich werde diese Hunde nicht um Gnade bitten.«
»Sprich nicht so mit mir, Dov.«
»Ich weiß, daß man dich hergeschickt hat.«
»Kein Mensch hat mich aufgefordert, hierherzukommen — ich schwöre es dir.«
»Weshalb bist du dann überhaupt hergekommen?«
»Ich wollte dich nur noch einmal sehen.«
Dov biß die Zähne zusammen und bemühte sich krampfhaft, nicht weich zu werden. Warum mußte sie auch herkommen? Sein Verlangen, ihre Wange zu berühren, war so übermächtig, daß es ihn fast umbrachte.
»Wie geht es dir denn?« fragte sie.
»Wie mir's geht? Oh, prima.«
Beide blieben lange stumm. Dann sagte Karen:
»Dov — was du da an Kitty geschrieben hast — meintest du das wirklich, oder hast du es nur geschrieben, um —.«
»Ich meinte es wirklich.«
»Ich wollte es nur wissen.«
»Na schön, dann weißt du es jetzt.«
»Ja, jetzt weiß ich es. Dov — ich werde bald aus Erez Israel weggehen. Ich gehe nach Amerika.«
Dov zuckte die Schultern.
»Ich hätte wohl besser doch nicht herkommen sollen. Es tut mir leid, daß ich dir lästig gefallen bin.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich weiß, du hast es gut gemeint. Meine Freundin, die würde ich wirklich gern noch mal sehen. Aber das ist eine Makkabäerin, die kann nicht herkommen. Sie ist so alt wie ich, weißt du.«
»Ja, ich weiß.«
»Ist ja auch egal. Du bist ein netter Kerl, Karen — und — hm — fahr du ruhig nach Amerika und denk nicht mehr an all das hier. Ich wünsche dir alles Gute.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe«, sagte Karen leise. Sie stand auf. Dov verzog keine Miene.
»Karen!«
Sie wandte sich rasch um.
»Hm — weißt du — eigentlich könnten wir uns noch mal die Hand geben — falls der Posten nichts dagegen hat.«
Karen streckte ihre Hand durch die Öffnung in der Wand, und Dov nahm sie in seine beiden Hände, drückte sie, und preßte seine Stirn gegen die Mauer und schloß die Augen.
Karen ergriff seine Hand und zog sie durch die Öffnung herüber auf ihre Seite.
»Nein«, sagte er, »nicht —.« Doch er überließ ihr seine Hand.
Sie küßte seine Hand, drückte sie an ihre Wange und ihre Lippen, und er fühlte, wie ihre Tränen darauffielen. Und dann war sie fort. Die Tür seiner Zelle fiel laut hinter ihm zu. Dov warf sich auf seine Bettstatt. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben Tränen vergossen zu haben. Doch jetzt war es ihm unmöglich, sie zurückzuhalten. Er drehte sich zur Wand, damit die Posten und Akiba sein Gesicht nicht sehen konnten; er weinte lautlos, aus tiefstem Herzen.
Barak ben Kanaan war einer der Berater, die den Untersuchungsausschuß der UNO auf seiner Reise durch Palästina begleiteten. Die Juden konnten mit Stolz zeigen, was sie in Palästina geleistet hatten. Die Delegierten der UNO waren sehr beeindruckt von dem Kontrast, der zwischen den jüdischen und den arabischen Gemeinden bestand. Ben Gurion, Weizmann, Barak und die übrigen Köpfe des Jischuw-Zentralrats verstanden es mit außerordentlichem Geschick und ohne herausfordernde Geste, überzeugend die moralische Berechtigung der jüdischen Ansprüche darzulegen.
Auf arabischer Seite inszenierte der vom Klan der Husseini gesteuerte Großarabische Aktionsausschuß erbitterte Demonstrationen gegen die UNO. Sie versagten den Delegierten den Zutritt zu einer ganzen Reihe von arabischen Ortschaften, die so dreckig waren und in denen Menschen unter so menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten mußten, daß sich selbst dem stärksten Mann der Magen umgedreht hätte. Als der Untersuchungsausschuß mit seinen Ermitthingen begann, versuchten die arabischen Behörden ihn auf alle Weise zu boykottieren.
Den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses wurde sehr bald klar, daß irgendein Kompromiß in Palästina nicht zu erreichen war. Vom rein rechtlichen Standpunkt aus mußte die UNO eine Schlichtung des Streites zugunsten der Juden empfehlen; andererseits war aber auch das Gewicht der arabischen Drohungen zu bedenken.
Als der Untersuchungsausschuß das Land bereist und seine Ermittlungstätigkeit abgeschlossen hatte, schickten sich die Delegierten an, sich wieder nach Genf zu begeben, um dort das Ergebnis ihrer Feststellungen zu analysieren, während ein Unterausschuß gleichzeitig die DP-Lager in Europa inspizierte, in denen sich noch immer eine Viertelmillion verzweifelter Juden befand. Danach wollten sie der Vollversammlung der UNO ihre Vorschläge unterbreiten. Barak ben Kanaan wurde wieder einmal beauftragt, nach Genf zu reisen, um dort seine beratende Tätigkeit fortzusetzen.
Einige Tage vor seiner Abreise nach Genf kam er nach Yad El, um noch eine Weile bei Sara sein zu können, die sich, obwohl er doch schon so oft ins Ausland gefahren war, noch immer nicht ganz daran gewöhnt hatte. Und genausowenig konnte sie sich an die dauernde Abwesenheit von Jordana und Ari gewöhnen.
Ari und David ben Ami waren in dem nicht weit von Yad El gelegenen Kibbuz Ejn Or, in dem sich das Palmach-Hauptquartier für das Hule-Gebiet befand. Beide kamen zu einem Abschiedsessen nach Yad El, zu dem auch Jordana aus Gan Dafna erschien.
Barak war den ganzen Abend über sehr in Gedanken und bedrückt. Er sprach kaum, und das Essen verlief schweigend.
»Ich nehme an, du hast gehört, daß Mrs. Fremont Palästina verläßt«, sagte Jordana am Ende des Abendessens.
»Nein, davon wußte ich gar nichts«, sagte Ari, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Nachricht überraschte. »Ja, sie geht wieder nach Amerika«, sagte Jordana. »Sie hat Dr. Liebermann gekündigt und nimmt die kleine Clement mit. Ich wußte, daß sie sich bei den ersten Anzeichen ernstlicher Schwierigkeiten aus dem Staube machen würde.«
»Warum sollte sie nicht nach Amerika zurückgehen?« sagte Ari. »Sie ist schließlich Amerikanerin, und nach Palästina ist sie nur wegen Karen Clement gekommen.«
»Sie hat nie etwas für uns übrig gehabt«, sagte Jordana bissig.
»Das ist nicht wahr«, sagte David.
»Verteidige sie nicht dauernd, David.«
»Sie ist ein reizender Mensch«, sagte Sara ben Kanaan, »und ich hab' sie gern. Sie ist oft nach Yad El gekommen und hat mich besucht. Sie war sehr gut zu den Kindern, und die Kinder lieben sie.« »Es ist besser, wenn sie wegfährt«, sagte Jordana. »Es ist eine Schande, daß sie dieses Mädchen mitnimmt, doch sie hat die Kleine so verwöhnt und verzogen, daß man gar nicht mehr auf den Gedanken kommen kann, Karen Clement sei eine Jüdin.«
Ari stand auf und ging hinaus.
»Warum mußt du Ari absichtlich verletzen?« sagte Sara ärgerlich. »Du weißt doch, was er für sie empfindet, und sie ist ein Mensch mit großen Qualitäten.«
»Trotzdem ist es besser für ihn, wenn er sie los ist«, sagte Jordana. »Und wer bist du, daß du dir ein Urteil darüber anmaßt, was das Herz eines Mannes empfindet?« sagte Barak.
David ergriff Jordanas Hand. »Du hast mir versprochen, daß wir heute abend noch zusammen ausreiten.«
»Du stehst auch auf ihrer Seite, David.«
»Ich hab' Kitty Fremont gern. Komm, wir wollen reiten.«
Jordana ging langsam hinaus, und David folgte ihr.
»Laß die beiden, Sara«, sagte Barak. »David wird ihr schon den Kopf zurechtsetzen und sie beruhigen. Ich fürchte, unsere Tochter ist auf Mrs. Fremont eifersüchtig, und dazu hat sie auch allen Grund. Doch eines Tages werden auch bei uns die Mädchen Zeit haben, Frauen zu sein.«
Barak rührte in seinem Tee, und seine Frau trat hinter seinen Stuhl und legte ihre Wange auf sein dichtes rotes Haar. »Barak«, sagte sie, »du kannst nicht so weitermachen. Du mußt mit deinem Bruder reden, oder du wirst es bis an dein Lebensende bereuen.«
Barak streichelte die Hand seiner Frau. »Ich will mal sehen, wo Ari ist«, sagte er.
Ari stand in der Nähe des Obstgartens und sah hinauf in die Berge, wo Gan Dafna lag.
Barak trat zu ihm und sagte: »Bedeutet sie dir so viel, mein Sohn?«
Ari zuckte die Achseln.
»Ich mochte sie auch sehr gern«, sagte Barak.
»Was soll's?« sagte Ari. »Sie kommt aus einer anderen Welt, und jetzt geht sie dorthin zurück.«
Barak hakte seinen Sohn unter, und sie gingen zusammen durch die Felder ihrer Farm an das Ufer des Jordan. Sie sahen Jordana und David davonreiten und hörten, wie sie miteinander lachten.
»Siehst du, Jordana ist schon darüber hinweg. Und wie steht es denn mit dem Palmach in Ejn Or?«
»Wie immer, Vater. Prächtige Jungens und Mädchen, aber es sind zu wenig, und wir haben zu wenig Waffen. Wir können nicht hoffen, einen Krieg zu gewinnen, bei dem uns sieben Armeen gegenüberstehen.«
Auf den Feldern begannen sich die Wassersprüher zu drehen, und neben Fort Esther versank die Sonne hinter den libanesischen Bergen. Lange sahen der Vater und der Sohn auf das Land, das ihnen gehörte. Beide fragten sich, ob wohl jemals eine Zeit kommen würde, wo man sich über nichts anderes Gedanken machte, als darüber, daß ein Zaun auszubessern oder ein Stück Land umzupflügen sei.
»Gehen wir wieder ins Haus«, sagte Ari. »Mutter ist allein.«
Ari wollte gehen, da spürte er plötzlich die schwere Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Er drehte sich um. Sein Vater hatte den Kopf gesenkt, und sein Gesicht verriet tiefe Trauer. »In zwei Tagen fahre ich nach Genf. Ich fahre mit einem so schweren Kummer fort, wie ich ihn noch nie gespürt habe. Fünfzehn Jahre lang hat jemand an unserem Tisch gefehlt. Ich war hochmütig und hartnackig, doch ich habe meinen Stolz mit quälendem Schmerz bezahlt. Und jetzt ist dieser Schmerz für mich zu einer höllischen Qual geworden. Ari, mein Sohn — laß meinen Bruder Akiba nicht an einem englischen Galgen enden!«
XVI.
Am Vorabend der Abreise des Untersuchungsausschusses der UNO gingen in Jerusalem die Wogen hoch. Im arabischen Sektor lärmten die von Demagogen aufgewiegelten Massen. Die einzelnen Stadtteile waren voneinander durch Stacheldrahtsperren mit Maschinengewehrnestern getrennt und wurden von englischen Soldaten bewacht.
Ari ben Kanaan bewegte sich durch die ganze Stadt und suchte alle ihm bekannten Schlupfwinkel Bar Israels auf, um sich durch ihn mit den Makkabäern in Verbindung zu setzen. Doch Bar Israel schien wie vom Erdboden verschwunden und war nirgendwo aufzufinden. Zwischen den Makkabäern und der Hagana hatte es, seit die Engländer Akiba und den Kleinen Giora gefangengenommen hatten, keine Verbindung mehr gegeben. Schließlich aber gelang es Ari, der über alle Informationsquellen verfügte, festzustellen, daß sich Bar Israel im Zimmer eines Hauses aufhielt, das im Stadtteil El Katamon lag.
Ari ging unverzüglich hin. Er betrat den Raum ohne anzuklopfen. Bar Israel war gerade dabei, eine Partie Schach zu spielen. Er hob den Kopf, sah Ari an, und beschäftigte sich dann wieder mit den Figuren auf dem Schachbrett.
»Lassen Sie uns allein«, sagte Ari zu dem anderen Schachspieler, schob ihn aus dem Zimmer und machte die Tür hinter ihm zu. Dann sagte er zu Bar Israel: »Sie wissen ganz genau, daß ich Sie gesucht habe.«
Bar Israel zog die Schultern hoch und zündete sich eine Zigarre an. »Natürlich weiß ich es. Schließlich haben Sie überall in Jerusalem an die fünfzig Liebesbriefe hinterlassen.«
»Warum haben Sie sich dann nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Ich bin seit vierundzwanzig Stunden in Jerusalem.«
»Genug der dramatischen Einleitung. Sagen Sie mir lieber, was Sie eigentlich wollen?«
»Bringen Sie mich zu Ben Mosche.«
Bar Israel schüttelte den Kopf. »Wir spielen nicht mehr mit euch. Wir haben etwas dagegen, daß Kommandeure der Hagana wissen, wo unser Hauptquartier ist.«
»Sie sprechen nicht mit einem Kommandeur der Hagana. Sie sprechen mit Ari ben Kanaan, dem Neffen von Akiba.«
»Ari, ich halte Sie persönlich für zuverlässig — aber Befehl ist Befehl.«
Ari riß Bar Israel von seinem Stuhl hoch, daß der Tisch umfiel und die Schachfiguren über den Fußboden rollten. Er faßte den kleinen Orientalen an den Rockaufschlägen und schüttelte ihn, wie man einen leeren Sack schüttelt. »Sie bringen mich zu Ben Mosche, oder ich drehe Ihnen den Hals um.«
Ben Mosche saß an seinem Schreibtisch im Hauptquartier der Makkabäer, das sich in einem Haus des Griechischen Viertels befand. Neben ihm stand Nachum ben Ami. Die beiden Männer betrachteten den verlegenen Bar Israel und Ari ben Kanaan mit sehr unfreundlichen Blicken.
»Wir alle wissen doch, wer Ari ist«, sagte Bar Israel, auf dessen Stirn kleine Schweißperlen standen, mit unsicherer Stimme. »Ich dachte, ich könnte es riskieren.«
»Raus!« fauchte ihn Ben Mosche an. »Wir sprechen uns noch.« Bar Israel verließ eiligst den Raum.
»Ja, Ben Kanaan, nachdem Sie einmal da sind — was wünschen Sie?«
»Ich möchte wissen, was Sie in bezug auf Akiba und den Jungen zu tun beabsichtigen.«
»Was wir zu tun beabsichtigen? Selbstverständlich gar nichts. Was könnten wir schon tun?«
»Sie lügen!« sagte Ari.
»Ob wir nun etwas unternehmen oder nicht, jedenfalls geht es dich nicht das geringste an«, sagte Nachum.
Ari knallte die Faust mit solcher Wucht auf die Platte des Schreibtischs, daß das Holz krachte. »Es geht mich etwas an! Akiba ist mein Onkel!«
Ben Mosche blieb eisig. »Wir haben keine Lust mehr, mit Verrätern zusammenzuarbeiten.«
Ari beugte sich über den Schreibtisch, bis sein Gesicht kaum eine Handbreit von dem Gesicht Ben Mosches entfernt war. »Ich kann Sie nicht riechen, Ben Mosche, und dich kann ich auch nicht riechen, Nachum ben Ami. Doch ich verlasse diesen Raum nicht eher, als bis ich weiß, was ihr vorhabt.«
»Du scheinst zu wünschen, daß wir dir eine Kugel durch den Kopf jagen.« »Du hältst jetzt den Mund, Nachum, oder ich mache Kleinholz aus dir«, sagte Ari.
Ben Mosche nahm bedächtig seine Brille ab, hob sie gegen das Licht, putzte sie und setzte sie wieder auf. »Ari, Sie haben so eine liebenswürdige Art der Überredung«, sagte er. »Wir haben die Absicht, uns in das Gefängnis zu begeben und Akiba und den Kleinen Giora herauszuholen.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. Und wann?«
»Übermorgen.«
»Ich komme mit.«
Nachum wollte protestieren, doch Ben Mosche hob die Hand und gebot ihm, zu schweigen.
»Geben Sie mir Ihr Wort, daß die Hagana nichts davon weiß, daß Sie hier sind?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Was ist sein Wort schon wert?« sagte Nachum.
»Wenn jemand, der Ben Kanaan heißt, mir sein Wort gibt, so genügt mir das«, sagte Ben Mosche.
»Mir gefällt das Ganze nicht«, sagte Nachum.
»Das tut mir leid, aber da kann ich nichts machen«, sagte Ben Mosche. »Sie sind sich ja wohl klar, Ari, was dieses Unternehmen bedeutet. Wir haben alle Kräfte aufgeboten, die wir zur Verfügung haben. Sie haben im Gefängnis von Akko gesessen, Sie wissen, was das für ein Ding ist. Wenn uns diese Sache gelingt, dann bricht das den Engländern das Genick.«
»Akko ist eine rein arabische Stadt«, sagte Ari. »Das Gefängnis ist die stärkste Festung, die die Engländer in Palästina haben. Zeigen Sie mir Ihre Pläne.«
Ben Mosche machte seinen Schreibtisch auf und holte ein Bündel Blaupausen heraus. Das ganze Gebiet von Akko war bis in alle Einzelheiten genau aufgezeichnet: Der Stadtgrundriß, die Zufahrtsstraßen und die Fluchtwege. Der Grundriß des Gefängnisses war, soweit Ari es beurteilen konnte, genau. Er mußte von Leuten gemacht worden sein, die selbst längere Zeit in diesem Gefängnis gesessen hatten. Die Wachttürme, die Waffenkammer, die TelefonVermittlung, alles war exakt eingezeichnet.
Ari studierte den Angriffsplan, auf dem der genaue Zeitpunkt jeder einzelnen Phase angegeben war. Es war ein Meisterwerk.
»Nun, Ari, was halten Sie davon?«
»Alles ist einwandfrei — bis auf eins. Ich zweifle nicht daran, daß es Ihnen auf diese Weise gelingen wird, in das Gefängnis hineinzukommen und die Gefangenen herauszuholen. Doch die Flucht« — Ari schüttelte den Kopf —, »das haut nicht hin.«
»Wir sind uns darüber klar, daß die Chancen für ein endgültiges Gelingen der Flucht sehr gering sind«, sagte Ben Mosche.
»Sie sind nicht gering«, sagte Ari, »sie sind gleich Null.«
»Ich weiß schon, was er vorschlagen wird«, sagte Nachum. »Er wird vorschlagen, daß wir mit der Hagana und den Kibbuzim zusammenarbeiten.«
»Genau das. Und wenn ihr das nicht tut, dann werdet ihr einen Haufen neuer Märtyrer schaffen. Hören Sie, Ben Mosche, Sie sind ein mutiger Mann, aber Sie sind schließlich kein Idiot, der unbedingt den Heldentod sterben will. So, wie Sie die Sache da geplant haben, besteht eine Chance von bestenfalls zwei Prozent. Wenn Sie mir erlauben, bessere Fluchtpläne auszuarbeiten, dann erhöhen sich Ihre Chancen auf fifty-fifty.«
»Vorsicht«, sagte Nachum. »Die Rede geht ihm bedenklich glatt vom Munde.«
»Reden Sie weiter, Ari.«
Ari breitete den Angriffsplan auf dem Schreibtisch aus. »Ich schlage vor, daß Sie die für den Aufenthalt im Gefängnis vorgesehene Zeit um fünfzehn Minuten verlängern und diese zusätzliche Zeit dazu benützen, um sämtliche Gefangenen, die sich dort befinden, zu befreien. Die befreiten Häftlinge werden in zwanzig verschiedene Richtungen davonlaufen, und die Engländer, die ihnen in ebenso viele Richtungen nachlaufen müssen, werden dadurch aufgesplittert und geschwächt.«
Ben Mosche nickte zustimmend.
»Unsere eigenen Leute sollten sich gleichfalls in kleine Gruppen aufteilen, und jede dieser Gruppen sollte sich in einer anderen Richtung von Akko entfernen. Ich werde Akiba mitnehmen, und ihr nehmt den Jungen mit.«
»Weiter«, sagte Nachum ben Ami, dem beim Zuhören klargeworden war, daß Aris Vorschläge Hand und Fuß hatten.
»Was mich betrifft, so werde ich versuchen, nach Kfar Masaryk durchzukommen. Dort werde ich in einen anderen Wagen umsteigen, um die Verfolger abzuschütteln und um auf Umwegen zum Karmelberg südlich von Haifa zu fahren. Ich habe zuverlässige Freunde in dem Drusendorf Daliyat el Karmil. Die Engländer werden gar nicht auf den Gedanken kommen, dort oben Nachforschungen anzustellen.«
»Das klingt nicht schlecht«, sagte Nachum. »Auf die Drusen kann man sich verlassen — besser als auf gewisse Juden, die ich kenne.« Ari überhörte die Beleidigung. »Die zweite Gruppe, die mit Dov Landau flieht, fährt an der Küste entlang nach Nahariya und teilt sich dort. Ich kann in einem halben Dutzend Kibbuzim in der Umgebung von Nahariya dafür sorgen, daß man die Flüchtlinge aufnimmt und verbirgt. Was Landau angeht, so möchte ich vorschlagen, daß er zum Kibbuz Hamischmar an der libanesischen Grenze gebracht wird. Ich war dabei, als Hamischmar gegründet wurde; es gibt dort viele Höhlen. Dein Bruder David war im zweiten Weltkrieg mit mir dort. Wir haben Hamischmar jahrelang als Unterschlupf für unsere führenden Männer verwendet. Landau wird dort absolut sicher sein.« Ben Mosche saß unbeweglich wie eine Statue und sah auf seine Pläne. Er war sich klar, daß das geplante Unternehmen ohne diese Verstecke nicht mehr als ein dramatisches Himmelfahrtskommando war. Mit Aris Hilfe bestand immerhin eine gewisse Möglichkeit, davonzukommen. Sollte er es riskieren, mit der Hagana zusammenzuarbeiten?
»Also gut, Ari, machen Sie weiter. Zeichnen Sie die Fluchtpläne auf, die Sie entwickelt haben. Ich traue Ihnen nur, weil Sie den Namen Ben Kanaan tragen.«
Noch vier Tage bis zum Tage X.
Vier Tage trennten Akiba und Dov Landau noch von dem Strick des Henkers. Der Untersuchungsausschuß der UNO flog von Lydda nach Genf ab. Über Palästina senkte sich die bedrohliche Stille vor dem Sturm. Die Demonstrationen der Araber hörten auf. Die Aktivität der Makkabäer hörte gleichfalls auf. Jerusalem war ein Feldlager, in dem es von britischen Polizisten wimmelte.
Noch drei Tage bis zum Tage X.
Der englische Premierminister richtete an die beiden zum Tode durch den Strang Verurteilten einen letzten, verzweifelten Appell, das Gnadengesuch zu unterschreiben. Akiba und der Kleine Giora lehnten ab.
Der Tag X.
Markttag in Akko. Bei Tagesanbruch strömten aus zwanzig Dörfern in Galiläa Massen von Arabern in die Stadt. Der Marktplatz füllt sich mit Eselskarren und fahrenden Händlern. Auf den Straßen drängen sich die Passanten.
Orientalische und afrikanische Juden, die Mitglieder der Makkabäer waren, mischen sich, als Araber verkleidet, unter die Menge, die zum Markt nach Akko strömt. Alle, ob Frau oder Mann, tragen unter ihren langen Gewändern Sprengstoff, Sprengkapseln, Drähte, Zünder, Handgranaten oder leichte Waffen.
Elf Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Zeitpunkt X. Zweihundertfünfzig Makkabäer und fünfzig Makkabäerinnen, alle als Araber verkleidet, befinden sich jetzt unter der Menge, die sich in der Nähe des Gefängnisses um die Stände des Marktplatzes drängt. Elf Uhr fünfzehn. Noch eine Stunde und fünfundvierzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Wachablösung im Gefängnis von Akko. Vier Angehörige der Wachmannschaft, die mit den Makkabäern zusammenarbeiten, stehen auf dem Sprung.
Elf Uhr dreißig. Noch eine Stunde und dreißig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Außerhalb von Akko, auf dem Napoleonsberg, versammelt sich eine zweite Gruppe von Makkabäern. Drei Lastwagen mit Leuten in englischen Uniformen fahren nach Akko hinein und parken auf der Mole in der Nähe des Gefängnisses. Die »Soldaten« bilden rasch kleine Gruppen von jeweils vier Mann und gehen durch die Straßen, als ob sie sich auf einem Streifengang befänden. Es sind ohnehin so viele Soldaten unterwegs, daß diese zusätzlichen hundert Soldaten überhaupt nicht auffallen.
Zwölf Uhr mittags. Noch eine Stunde bis zum Zeitpunkt X.
Ari ben Kanaan, in der Uniform eines britischen Majors, kam in einem englischen Dienstwagen angefahren. Sein Fahrer parkte den Wagen am westlichen Ende des Gefängnisses auf der Mole. Ari ging zu Fuß zu der Schanze am nördlichen Ende der Mole und lehnte sich gegen eine verrostete Kanone aus türkischer Zeit. Er steckte sich eine Zigarette an und sah zu, wie das Wasser vor ihm gegen die bemoosten Steine der Mole schlug.
Fünf nach zwölf. Noch fünfundfünfzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Die Läden schließen einer nach dem andern für die Mittagspause. Die Araber, die in den Cafés sitzen, dösen vor sich hin, und die englischen Soldaten schleichen ermattet durch die stickige Hitze. Zwölf Uhr und zehn Minuten. Noch fünfzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Ein Muselmann klettert die vielen Stufen der Wendeltreppe des Minaretts hinauf. Seine Stimme klingt durch die mittägliche Stille, und die Mohammedaner versammeln sich in der großen Moschee mit der weißen Kuppel und in dem Hof davor und knien, das Gesicht nach Mekka gewandt, nieder zum Gebet.
Zwölf Uhr und zwölf Minuten. Noch achtundvierzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Die Hitze lähmt die Araber und auch die englischen Soldaten. Die Makkabäer begeben sich zu den verschiedenen Treffpunkten. Zu zweit oder zu dritt gehen sie scheinbar ziellos durch die engen, schmutzigen Straßen.
Die erste Gruppe versammelt sich beim Abu-Christos-Café.
Eine zweite, größere Gruppe versammelt sich bei der Moschee. Ihre Mitglieder lassen sich am Rande des riesigen Hofes zwischen den betenden Arabern gleichfalls wie zum Gebet auf die Knie nieder.
Eine dritte Gruppe versammelt sich auf dem Khan, einem großen offenen Platz, der seit mehr als hundert Jahren als Rastort für die Karawanen dient. Hier mischen sich die Makkabäer unter die Kamele, die Esel und die Hunderte von Arabern, die zum Markt nach Akko gekommen sind und jetzt auf der Erde hocken und ausruhen.
Gruppe vier versammelt sich am Kai bei den Booten der Fischer.
Die fünfte Gruppe versammelt sich auf der Mole.
Gleichzeitig gehen die hundert Makkabäer, die als britische Soldaten verkleidet sind und sich infolgedessen freier bewegen können, in Stellung. Sie steigen auf die Dächer der Häuser, und zwar so, daß sie jeden möglichen Weg, der in das Gefängnis hinein- oder aus dem Gefängnis herausführt, überblicken und mit ihren Schußwaffen bestreichen können.
Die letzte Gruppe der Makkabäer geht außerhalb der Stadt in Stellung. Die Angehörigen dieser Gruppe sind nicht getarnt. Sie verlegen Landminen und postieren sich auf den Straßen mit Maschinengewehren, um englische Truppen aufzuhalten, die versuchen sollten, als Ersatz nach Akko hereinzukommen.
Zwölf Uhr fünfundvierzig. Noch fünfzehn Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Die Makkabäer in britischer Uniform, die die Zugänge zum Gefängnis zu kontrollieren haben, befinden sich in ihren Feuerstellungen. Die Gruppen, die außerhalb von Akko die Zufahrtsstraßen blockieren, sind gleichfalls in Stellung gegangen.
Der entscheidende Stoßtrupp, zweihundertundfünfzig Mann als Araber verkleidet, setzt sich von den verschiedenen Treffpunkten aus in kleinen Gruppen in Bewegung und vereint sich an der Stelle, wo der Angriff stattfinden soll.
Ben Mosche und Nachum ben Ami sind als erste zur Stelle. Sie sehen, wie ihre Leute herankommen und sich sammeln. Sie blicken zu den Dächern der Häuser hinauf und stellen fest, daß ihre Soldaten in Stellung gegangen sind. Sie sehen zu dem Gefängnis hin, wo einer der vier Helfershelfer das verabredete Zeichen gibt, daß alles bereit ist.
Ari ben Kanaan drückt seine Zigarette aus und geht zu der Stelle, wo der Angriff stattfinden soll. Der Fahrer kommt mit dem Wagen langsam hinter ihm her.
Der Punkt des Angriffs ist Haman El Basha, ein hundertzwanzig Jahre altes türkisches Bad. Diese Badeanstalt, erbaut von El Yazzar, liegt unmittelbar an der Südwand des Gefängnisses. Auf der Rückseite der Badeanstalt befindet sich ein Hof, in dem man Sonnenbäder nehmen kann. Von diesem Hof aus führt eine Treppe zum Dach der Badeanstalt und unmittelbar an die Mauer des Gefängnisses.
Die Makkabäer hatten festgestellt, daß die Engländer von ihren verschiedenen Wachpositionen innerhalb des Gefängnisses jeden möglichen Zugang zu dem Gefängnis sehen und jede verdächtige Bewegung entdecken konnten. Die einzige Ausnahme war die Badeanstalt und die Südmauer. Hier sollte der Angriff erfolgen.
Ein Uhr. Der Zeitpunkt X ist da.
Ben Mosche, Ben Kanaan und Ben Ami holen tief Luft und geben das Zeichen. Der Angriff auf das Gefängnis beginnt.
Ari ben Kanaan führt die Angriffsspitze, eine Gruppe von fünfzig Mann. Sie betreten die Badeanstalt und gehen sofort, ohne sich aufzuhalten, zu dem hinter dem Gebäude gelegenen Hof. Die Männer dieser Gruppe haben den Sprengstoff, die Sprengköpfe und die Zündkabel bei sich.
Die Araber, die im Dampf sitzen und schwitzen, sehen völlig verblüfft die Spitzengruppe vorbeikommen. Sie werden von panischer Angst ergriffen. Im nächsten Augenblick ist das Bad ein wirres Durcheinander nackter, nasser Araber, die schreiend davonzulaufen versuchen. Eine zweite Gruppe kommt herein, drängt die Badegäste in einem der Räume zusammen und sperrt sie ein, damit sie nicht nach draußen laufen und Alarm schlagen können. Draußen vor dem Bad bekommt Ben Mosche die Meldung, daß Ari mit seiner Gruppe den Hof erreicht und daß die zweite Gruppe alle Araber eingesperrt habe.
Aris Leute stürmen die Stufen der Treppe hinauf, die vom Hof aus zum Dach hinaufführt, überqueren das Dach und bringen an der südlichen Mauer des Gefängnisses ihre Sprengladungen an. Dann ziehen sie sich in sichere Deckung zurück und legen sich im Hof flach auf die Erde.
Ein Uhr fünfzehn.
Eine ohrenbetäubende Explosion läßt Akko erzittern. Ein Hagel von Steinen fliegt durch die Luft. Es dauert volle zwei Minuten, bis sich der Rauch verzieht und eine riesige Öffnung in der Gefängnismauer erkennen läßt.
Im Innern des Gefängnisses machen sich die vier Verschworenen, als die Detonation erfolgt, an die Ausführung ihrer Sonderaufträge. Der erste vernichtet mit einer Handgranate den Klappenschrank und unterbricht die telefonische Verbindung. Der zweite vernichtet, gleichfalls mit einer Handgranate, die Hauptsicherung, so daß es im ganzen Gefängniskomplex keinen Strom mehr gibt und die elektrische Alarmanlage außer Funktion gesetzt ist. Der dritte schnappt sich den Schließer, und der vierte rennt zu der Bresche in der Mauer, um den hereinströmenden Makkabäern den Weg zu zeigen.
Aris Männer stürmen in das Gefängnis. Die Hälfte seiner Gruppe begibt sich zunächst zur Waffenkammer. Wenige Augenblicke später sind sie alle bis an die Zähne bewaffnet.
Die andere Hälfte der Spitzengruppe riegelt die Unterkünfte der Wachmannschaften ab, um zu verhindern, daß diese Männer den Posten zu Hilfe kommen, die im Gefängnis Wache halten.
Von draußen schickt Ben Mosche im Abstand von jeweils einer Minute weitere Gruppen von zehn oder auch zwanzig Mann in das Gefängnis hinein. Jede dieser Gruppen hat einen ganz bestimmten Auftrag und weiß genau, an welcher Stelle sie zuzuschlagen hat. Die Makkabäer stürmen durch die Gänge und die Korridore des altertümlichen Gebäudes, schalten mit Feuerstößen ihrer Maschinenpistolen die englischen Wachtposten aus und sprengen sich mit Handgranaten den Weg frei. Sie verteilen sich durch den ganzen Gebäudekomplex, schnappen sich die englischen Posten und haben knappe sechs Minuten nach der Sprengung der Mauer das Innere des Gefängnisses in ihrer Hand.
Draußen vor der Stadt gingen die Männer, die die Aufgabe hatten, das Gelingen des Unternehmens im Innern des Gefängnisses zu sichern, in Stellung und warteten auf einen Gegenangriff der Engländer. Die Soldaten und die Polizisten in Zivil, die sich bereits in Akko befanden, wurden durch die Makkabäer in Schach gehalten, die von ihren Feuerstellungen aus sämtliche Wege kontrollierten, die zum Gefängnis führten.
Als sich alle zweihundertfünfzig Makkabäer im Innern des Gefängnisses befanden, machten sie sich daran, die Türen der Zellen zu öffnen und die Gefangenen zu befreien. Die befreiten Häftlinge, Araber wie Juden, wurden zu der in die Mauer gesprengten Öffnung geführt, und alsbald liefen sie in alle möglichen Richtungen durch die Straßen und Gassen von Akko davon.
Ari begab sich mit fünf Mann und dem gefangenen Schließer zu dem Teil des Gefängnisses, wo die Zellen der zum Tode Verurteilten und der Hinrichtungsraum lagen. Als der Schließer die äußere Tür aufschließen wollte, eröffneten die vier Posten, die Tag und Nacht vor den Zellen der beiden Verurteilten Wache hielten, das Feuer auf die eiserne Tür. Ari gab seinen Begleitern ein Zeichen, sich ein Stück zurückzuziehen, befestigte eine Haftmine an der Tür, sprang zurück und ging in Deckung. Die Mine detonierte, und die Tür wurde aus den Angeln gerissen. Ari sprang vor, warf eine Handgranate durch die Türöffnung, und die englischen Posten flüchteten in den Hinrichtungsraum.
Ari und seine Leute setzten rasch nach, überwältigten die Posten und öffneten die Türen der Zellen. Akiba und Dov Landau wurden eilig über das Dach der Badeanstalt aus dem Gefängnis und durch das Bad nach draußen gebracht.
Dov Landau wurde auf einen Lastwagen geschoben, auf dem sich bereits eine Gruppe von rund zwanzig Makkabäern befand. Ben Mosche gab dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt, und der Lastwagen fuhr eilig in Richtung Nahariya davon. Zwei Minuten später kam der englische Dienstwagen heran, Ari stieg mit Akiba hinten ein, und der Wagen entfernte sich in eine andere Richtung.
Ben Mosche gab den Makkabäern mit einer Pfeife das Signal zum Rückzug. Seit der Sprengung der Mauer waren einundzwanzig Minuten vergangen.
Der Lastwagen, auf dem sich Dov Landau befand, fuhr in raschem Tempo die Straße an der Küste entlang. Die Engländer, die das Fahrzeug entdeckt hatten, nahmen mit einer motorisierten Truppe, die die Anzahl der Makkabäer um das Zehnfache überstieg, die Verfolgung auf. Der Lastwagen erreichte die jüdische Stadt Nahariya und hielt. Nachum ben Ami floh mit Dov weiter zu dem Kibbuz Hamischmar an der libanesischen Grenze, während der Rest der Gruppe als Nachhut in Stellung ging, um die Verfolger aufzuhalten. Diese siebzehn Makkabäer, Männer und Frauen, schafften es, die Engländer lange genug aufzuhalten, um Nachum ben Ami die Möglichkeit zu geben, Dov in Sicherheit zu bringen; doch alle siebzehn fanden dabei den Tod.
Akiba und Ari saßen hinten in dem englischen Dienstwagen. Vorn saß der Fahrer und ein weiterer Makkabäer. Sie entfernten sich von Akko auf einer Straße, die ins Innere und zu dem Kibbuz Kfar Masaryk führte. Beim Napoleonshügel winkte einer der Makkabäer, die hier die Straße blockierten, ihren Wagen an die Seite und sagte ihnen, daß sie hier nicht weiterfahren konnten, weil die Straße vermint sei. Diese Gruppe hielt zwei britische Kompanien auf, die nach Akko durchzustoßen versuchten.
Ari überlegte kurz und faßte rasch seinen Entschluß. Er fragte den Fahrer. »Können Sie hier seitlich von der Straße über die Felder fahren und an der englischen Truppe da vorbeikommen?«
»Ich werde es versuchen.«
Sie bogen von der Straße ab und fuhren schwankend und holpernd über das Ackerland, um das Kampfgebiet im Bogen zu umgehen. Es gelang ihnen, an den zwei britischen Kompanien vorbeizukommen, und der Wagen bog wieder ein, um die Straße zu erreichen. Zwölf englische Soldaten rannten hinter dem Wagen her und schossen im Laufen auf ihn. Gerade als die vorderen Reifen die Straße wieder erreichten, schlug ein Geschoßhagel in das Chassis, daß der Wagen schwankte. Ari riß Akiba vom Sitz und drückte ihn auf den Boden. Rings um den Wagen peitschten die Schüsse durch die Luft. Die Hinterräder des Wagens drehten sich wild und gruben sich in die Erde ein. Der Fahrer schaltete den Rückwärtsgang ein. Wieder traf eine Salve das Chassis. Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen waren inzwischen gefährlich nahe herangekommen. Ari eröffnete aus dem hinteren Fenster das Feuer auf sie. Der eine Soldat stürzte. Der andere hob seine Maschinenpistole und gab einen langen Feuerstoß ab.
Akiba schrie auf. Ari fiel auf Akiba. Im gleichen Augenblick erreichte der Wagen die Straße und schoß davon.
»Alles in Ordnung dahinten?«
»Wir sind beide getroffen.«
Ari richtete sich auf und untersuchte sein rechtes Bein. Die Innenseite des Oberschenkels war ohne Gefühl. Das Geschoß war tief ins Fleisch gedrungen. Die Wunde blutete nur wenig, er verspürte auch keinen starken Schmerz; nur ein Brennen.
Er kniete sich auf den Boden, drehte Akiba herum und riß dessen blutgetränktes Hemd auseinander. Akibas Bauch war eine klaffende Wunde.
»Wie steht es mit ihm?« fragte der Makkabäer, der vorn neben dem Fahrer saß.
»Schlecht — sehr schlecht.«
Akiba war bei Bewußtsein. Er zog Ari dicht zu sich herunter.
»Ari«, sagte er, »werde ich durchkommen?«
»Nein, Onkel.«
»Dann bring mich irgendwohin, wo sie mich nicht finden — verstehst du?«
»Ja«, sagte Ari, »ich verstehe.«
Der Wagen erreichte Kfar Masaryk, wo ein Dutzend Siedler bereitstanden, um den englischen Dienstwagen zu verstecken und einen Lastwagen für die Fortsetzung der Flucht zur Verfügung zu stellen. Akiba hatte großen Blutverlust erlitten und war bewußtlos, als man ihn aus dem Wagen holte. Ari nahm sich einen Augenblick Zeit, um Sulfonamid in seine Wunde zu schütten und sich einen Druckverband zu machen. Die beiden Makkabäer, die mit ihm gefahren waren, nahmen ihn auf die Seite.
»Der alte Mann geht uns drauf, wenn wir mit ihm noch weiter fahren. Er muß hierbleiben und sofort in ärztliche Behandlung kommen.«
»Nein«, sagte Ari.
»Sind Sie wahnsinnig?«
»Hört jetzt mal gut zu, ihr beiden. Er hat keinerlei Chance, mit dem Leben davonzukommen. Und selbst wenn er durchkäme, würden ihn die Engländer hier finden. Wenn wir ihn hierlassen und er stirbt, dann wird das in ganz Palästina bekannt. Niemand außer uns darf wissen, daß es Akiba nicht gelungen ist, zu fliehen. Die Engländer dürfen nie erfahren, daß er tot ist.«
Die beiden Makkabäer nickten zustimmend. Sie sprangen auf den Vordersitz des Lastwagens, Ari legte seinen Onkel hinten hinein und setzte sich neben ihn. Aris Bein fing an zu schmerzen. Der Lastwagen fuhr in südlicher Richtung davon, an Haifa vorbei, und nahm dann die Kurven der schmalen Straße, die zum Karmelberg hinaufführt. Ari hielt seinen bewußtlosen Onkel auf seinem Schoß, während der Wagen holpernd über die schlechte Straße fuhr und schwankend die gefährlichen Biegungen nahm. Sie fuhren höher und höher den Karmelberg hinauf, bis in das einsame Gebiet, in dem nur noch die Drusen wohnten.
Akiba öffnete die Augen. Er versuchte, etwas zu sagen, doch er war dazu nicht mehr imstande. Er erkannte Ari. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, dann sackte sein Körper in Aris Armen zusammen.
Eine Meile vor dem Drusendorf Daliyat el Karmil fuhr der Lastwagen in ein kleines Wäldchen und hielt an. Hier wartete bereits Mussa, ein Druse und Mitglied der Hagana, mit einem Eselskarren. Ari stieg mühsam von dem Wagen herunter. Er rieb sein verwundetes Bein. Seine Jacke und seine Hosen waren von Akibas Blut getränkt. Mussa stürzte erschreckt auf ihn zu.
»Mir fehlt nichts«, sagte Ari. »Hol Akiba vom Wagen. Er ist tot.« Mussa nahm den toten Akiba und legte den Leichnam des alten Mannes auf seinen Eselskarren.
»Ihr beide seid Makkabäer«, sagte Ari. »Niemand darf erfahren, daß Akiba tot ist, außer Ben Mosche oder Nachum. Und jetzt fahrt ihr mit dem Wagen wieder zurück und säubert ihn. Mussa und ich werden meinen Onkel begraben.«
Der Lastwagen fuhr eilig davon.
Ari stieg auf den Eselskarren. Er fuhr an dem Dorf vorbei und zum höchsten Punkt des Karmelberges. Es begann bereits zu dämmern, als sie einen kleinen Wald erreichten, der ein Denkmal des größten aller hebräischen Propheten enthielt, des Propheten Elias, Nicht weit von dem Denkmal des Elias hoben Mussa und Ari eine flache Grube aus. »Wir wollen ihm das rote Zeug ausziehen«, sagte Ari.
Dem Toten wurde das Kostüm ausgezogen, mit dem die Engländer den zum Tod Verurteilten bekleidet hatten. Dann wurde Akiba ins Grab gelegt und mit Erde zugeschaufelt; die Stelle bedeckten sie mit Zweigen. Mussa begab sich zu seinem Eselskarren und wartete auf Ari. Ari kniete lange am Grab seines Onkels. Das Leben Jakob Rabinskis war von seiner ersten bis zu seiner letzten Stunde Kummer und Sorge gewesen. Nun hatte er, nach so vielen Jahren der Qual, endlich Ruhe und Frieden. Eines Tages, dachte Ari, werden alle Leute wissen, wo Akiba den ewigen Schlaf schläft, und diese Stelle wird dann für alle Juden zu einem Ort der Verehrung werden.
»Leb wohl, Onkel«, sagte Ari. »Ich habe dir nicht einmal mehr sagen können, daß dein Bruder dir verziehen hat.«
Ari stand auf. Er wankte, schrie vor Schmerz laut auf und stürzte ohnmächtig zu Boden.
XVII.
Kitty und Dr. Liebermann waren bedrückt, als sie im Büro einige geschäftliche Dinge besprachen.
»Ich wollte, ich wüßte einen Weg, um Sie hier bei uns zu behalten«, sagte Dr. Liebermann.
»Das ist lieb von Ihnen«, sagte Kitty. »Es wird mir jetzt, wo es soweit ist, auch merkwürdig schwer. Ich hatte gar nicht gewußt, wie sehr ich mit Gan Dafna verwachsen bin. Ich habe den größten Teil der letzten Nacht damit verbracht, die Krankengeschichten durchzugehen. Einige von diesen Kindern haben erstaunliche Fortschritte gemacht, wenn man bedenkt, was sie hinter sich haben.« »Sie werden den Kindern fehlen.«
»Ich weiß. Und mir werden sie auch fehlen. Ich werde versuchen, in den nächsten Tagen noch alles genau zu ordnen. Einige der Fälle hätte ich gerne mit Ihnen persönlich durchgesprochen.«
»Ja, selbstverständlich.«
Kitty stand auf und wollte gehen.
»Vergessen Sie nicht«, sagte Dr. Liebermann, »daß Sie heute abend vor dem Essen in den Speisesaal kommen.«
»Das möchte ich eigentlich lieber nicht. Ich finde, es besteht kein geeigneter Anlaß für eine Abschiedsfeier.«
Der kleine Mann mit dem krummen Rücken hob die Arme hoch. »Alle wollten es unbedingt — was konnte ich tun?«
Kitty ging zur Tür.
»Wie geht es Karen?« fragte Dr. Liebermann.
»Nicht gut. Sie ist die ganze Zeit, seit sie Dov im Gefängnis besucht hat, sehr erregt gewesen. Und nachdem wir gestern abend von dem Überfall auf das Gefängnis in Akko gehört hatten, war es heute nacht natürlich besonders schlimm mit ihr. Das arme Kind hat wirklich für sein ganzes Leben genug gelitten. Es wird vielleicht eine Weile dauern, Dr. Liebermann, doch ich hoffe, daß es mir gelingen wird, sie in Amerika glücklich zu machen.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen mit ehrlicher Überzeugung erklären, es sei unrecht von Ihnen, uns zu verlassen und nach Amerika zu gehen. Doch das kann ich nicht.«
Kitty verließ das Büro und ging den Korridor entlang. Sie war in Gedanken mit den Ereignissen beschäftigt, die eine ungeheure Aufregung in der Welt ausgelöst hatten. Von den Makkabäern waren zwanzig getötet und weitere fünfzehn gefangengenommen worden.
Niemand wußte, wieviel Verwundete sich irgendwo verborgen hielten. Ben Mosche hatte den Tod gefunden. Es schien ein hoher Preis zu sein für zwei Menschenleben. Andererseits ging es eben nicht nur um irgendwelche Menschenleben. Der Überfall auf das Gefängnis hatte auf die Moral der Engländer und ihr Bestreben, in Palästina zu bleiben, eine verheerende Wirkung ausgeübt.
Kitty blieb vor der Tür zu Jordanas Büro stehen. Der Gedanke, ihr gegenübertreten zu müssen, war ihr sehr unangenehm. Doch dann klopfte sie an und trat ein. Jordana hob den Kopf und sah sie mit kalten Augen an.
»Ich hätte Sie gern gefragt, Jordana — wissen Sie zufällig, ob es Dov Landau gestern gelungen ist, zu entkommen? Sie verstehen, da Karen so sehr an dem Jungen hängt, wäre es für sie eine sehr große Beruhigung —.«
»Ich weiß nichts darüber.«
Kitty wollte bereits gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »War Ari eigentlich an der Sache beteiligt?«
»Ari gibt mir keine Liste der Aktionen, an denen er teilnimmt.«
»Ich dachte, Sie wüßten es vielleicht.«
»Woher sollte ich es wissen? Es war eine Aktion der Makkabäer.«
»Nun, es ist mir bekannt, daß euch immer Mittel und Wege zur Verfügung stehen, um Dinge zu erfahren, die ihr zu wissen wünscht.«
»Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht erzählen, Mrs. Fremont. Sehen Sie, ich möchte nicht, daß Sie irgend etwas daran hindern soll, rechtzeitig auf dem Flugplatz zu sein und sich an Bord der Maschine zu begeben, mit der Sie Palästina verlassen wollen.«
»Ich fände es sehr viel netter, wenn wir uns in Freundschaft getrennt hätten, aber ich habe nicht den Eindruck, als ob Sie mir dafür auch nur die geringste Chance geben wollten.«
Kitty wandte sich rasch ab, verließ Jordanas Büro und ging durch den Haupteingang nach draußen. Vom Sportplatz her, auf dem ein Fußballspiel stattfand, konnte sie die Kinder lärmen hören. Draußen auf der Grünfläche vor den Verwaltungsgebäuden spielten einige der jüngeren Kinder, einige der älteren lagen auf dem Rasen, in ihre Bücher vertieft.
Das ganze Jahr über blühten in Gan Dafna die Blumen, mußte Kitty denken, und immer war die Luft von ihrem Duft erfüllt.
Kitty ging die Stufen der Treppe vor dem Verwaltungsgebäude hinunter und überquerte den Rasen. Sie war sehr bedrückt, als sie auf die Krankenabteilung zuging. Es fiel ihr schwerer, von Gan Dafna fortzugehen, als sie gedacht hatte.
In ihrem Büro machte sie sich daran, die Karten der von ihr angelegten Krankenkartei durchzusehen.
Eigentlich sonderbar, dachte sie; als sie ihre Tätigkeit im Waisenheim von Saloniki beendet hatte, war dieses Gefühl in ihr nicht so stark gewesen. Auch in Gan Dafna hatte sie nie wirklich versucht, ein »Freund« zu werden. Warum drang jetzt alles auf einmal so auf sie ein?
Vielleicht lag es daran, daß dieser Abschied das Ende eines Abenteuers war. Sie würde Ari ben Kanaan vermissen, und sie würde noch lange an ihn denken, vielleicht ihr ganzes Leben lang. Aber mit der Zeit mußte doch wieder alles normal und vernünftig werden, und eines Tages würde sie Karen all das geben können, was sie sich für das Mädchen wünschte. Karen sollte auch wieder mit ihrem Tanzunterricht anfangen, den sie damals so plötzlich abbrechen mußte. Das Bild Ari ben Kanaans würde mit der Zeit verblassen, genau wie die Erinnerung an Palästina.
Kitty hörte, wie die Tür ihres Büros geöffnet wurde. Sie drehte sich um — und es verschlug ihr den Atem. Ein Araber stand in der Tür. Sein Aufzug war sonderbar. Er trug einen schlechtsitzenden westlichen Kammgarnanzug, dazu auf dem Kopf einen roten Fez, der mit einem weißen Tuch umwickelt war. Sein schwarzer Schnurrbart war lang und an den Enden zu scharfen Spitzen gezwirbelt.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte der Mann. »Darf ich hereinkommen? «
»Bitte«, sagte Kitty, die überrascht war, ihn englisch sprechen zu hören. Sie nahm an, daß er von einem Dorf in der Nähe kam. Wahrscheinlich wollte er melden, daß irgend jemand krank war.
Der Araber kam herein und machte die Tür hinter sich zu. »Sie sind Mrs. Fremont?«
»Ja.«
»Mein Name ist Mussa. Ich bin ein Druse. Wissen Sie Bescheid über die Drusen?«
Kitty erinnerte sich dunkel daran, gehört zu haben, daß die Drusen eine mohammedanische Sekte waren, deren Angehörige in Dörfern südlich von Haifa auf dem Karmelberg lebten und daß sie den Juden gegenüber loyal waren.
»Sind Sie nicht reichlich weit von zu Hause fort?« fragte sie.
»Ich bin Angehöriger der Hagana.«
Kitty sprang vom Stuhl hoch. »Sie kommen wegen Ari!« sagte sie. »Ja, er ist in Daliyat el Karmil untergetaucht, dem Dorf, in dem ich wohne. Er hatte die Führung des Überfalls auf das Gefängnis in Akko. Er bittet sie, zu ihm zu kommen.«
Kittys Herz schlug wild.
»Er ist schwer verwundet«, sagte Mussa. »Werden Sie kommen?« »Ja«, sagte sie.
»Nehmen Sie keine Arzttasche mit. Wir müssen vorsichtig sein. Überall sind englische Straßenkontrollen, und wenn man Arzneien findet, wird man Verdacht schöpfen. Ari sagt, Sie sollen den Wagen mit Kindern volladen. Morgen ist bei uns im Dorf eine Hochzeit. Wir sagen den Engländern, daß die Kinder zu dem Fest fahren. Ich habe einen Lastwagen. Holen Sie möglichst rasch fünfzehn Kinder zusammen und veranlassen Sie sie, Wolldecken und Zeltplanen mitzunehmen.«
»Wir können in zehn Minuten fahren«, sagte Kitty und begab sich eilig in das Büro von Dr. Liebermann.
Die Entfernung von Gan Dafna bis zu Mussas Dorf betrug achtzig Kilometer. Die Strecke bestand größtenteils aus schmalen Gebirgsstraßen, und Mussas alter Kasten kam nur langsam voran.
Die Kinder, die hinten saßen, waren entzückt über den unerwarteten Ausflug und sangen laut, während der Wagen durch die Berge ratterte. Nur Karen, die mit Kitty vorne saß, wußte Bescheid, um was es sich bei diesem Ausflug handelte.
Kitty versuchte, nähere Einzelheiten aus Mussa herauszuholen. Alles, was sie erfahren konnte, war, daß Ari vor vierundzwanzig Stunden am Bein verwundet worden war, nicht laufen konnte und große Schmerzen hatte. Was mit Dov Landau war, wußte Mussa nicht, und daß Akiba tot war, verschwieg er.
Entgegen Mussas Rat, nichts mitzunehmen, hatte Kitty einen kleinen Kasten für Erste Hilfe gepackt mit Sulfonamid, Jod und Mullbinden, der im Handschuhfach unter dem Armaturenbrett belanglos genug wirken würde.
Sie hatte in ihrem Leben bisher nur zweimal wirklich tiefe Angst empfunden. Das erstemal in Chikago, als sie während der dreitägigen Krise ihrer kleinen Tochter Sandra Tag und Nacht im Wartezimmer der Polioabteilung des Kinderkrankenhauses gesessen und fast einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Das zweitemal, als sie im Dom-Hotel auf neue Nachrichten über den Hungerstreik auf der Exodus gewartet hatte.
Und jetzt empfand sie wieder Angst. Sie hörte nicht, wie die Kinder hinten auf dem Wagen sangen, und bemerkte auch nicht, wie Karen sich bemühte, ruhig zu bleiben. Sie war wie betäubt vor Angst.
Eine Stunde verging, eine zweite und eine dritte. Die Nervenanspannung hatte Kitty an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Sie legte den Kopf auf Karens Schulter und schloß die Augen.
Auf den Straßen war viel britisches Militär unterwegs. Kurz hinter Kfar Masaryk wurde ihr Wagen von einer Straßenkontrolle angehalten.
»Das sind Kinder aus Gan Dafna«, sagte Mussa. »Sie fahren zu einer Hochzeit, die morgen bei uns in Daliyat gefeiert wird.«
»Alle aussteigen«, befahlen die Engländer.
Der Wagen wurde gründlich durchsucht. Sämtliche Schlafrollen der Kinder wurden aufgemacht, zwei davon mit Messern aufgeschlitzt. Die Unterseite des Wagens wurde inspiziert und der Mantel des Ersatzreifens abmontiert. Die Engländer sahen unter die Motorhaube und machten bei den Kindern Leibesvisitation. Die Kontrolle dauerte fast eine Stunde.
Am Fuße des Karmelberges wurden sie ein zweites Mal kontrolliert. Kitty war völlig erschöpft, als Mussa endlich die Straße zum Karmelberg hinauffuhr.
»Alle Dörfer der Drusen liegen sehr hoch«, sagte Mussa. »Wir sind eine kleine Minderheit und müssen uns verteidigen. Aber jetzt dauert es nur noch ein paar Minuten, dann sind wir in Daliyat.«
Kitty nahm sich zusammen, als sie den Ort erreichten und langsam durch die engen Straßen fuhren.
Daliyat el Karmil schien wirklich auf dem Dach der Welt zu liegen. Die Häuser waren blendend weiß und die Straßen musterhaft sauber, sehr im Gegensatz zu dem verdreckten und verkommenen Zustand der meisten Araberdörfer. Die Männer trugen fast alle Schnurrbärte und westliche Kleidung. Ihre Kopfbedeckung unterschied sich von der der anderen Araber. Der auffälligste Unterschied aber war ihre würdevolle Haltung und ihre stolze Miene, die deutlich zu erkennen gab, daß diese Männer zu kämpfen wußten. Die Frauen waren auffallend hübsch, die Kinder kräftig und munter.
Der Ort wimmelte von Hochzeitsgästen. Zu Hunderten waren sie aus allen anderen Drusendörfern des Karmelberges gekommen. Außerdem waren Juden aus dem Kibbuz Yagur, sogar aus Haifa herbeigereist.
Der Wagen fuhr langsam an dem Gemeindehaus vorbei, wo die männlichen Gäste Schlange standen, um dem Bräutigam zu gratulieren und die Dorfältesten zu begrüßen. Auf einer Veranda neben dem Gemeindehaus stand eine fünfundzwanzig Meter lange Tafel, beladen mit Obst, Reis und Lämmerfleisch, mit Wein, Schnaps und gefüllten Kürbissen. In einem unablässigen Strom bewegten sich die Frauen auf die Veranda zu und balancierten Schüsseln mit Speisen für die Festtafel auf ihren Köpfen.
Ein Stück hinter dem Gemeindehaus hielt Mussa an. Einige Dorfbewohner kamen heran, um die Kinder zu begrüßen. Die Kinder stiegen aus und marschierten mit ihren Schlafrollen zu ihrem Campingplatz, um ihre Zelte aufzuschlagen und dann zurückzukehren, um an den Festlichkeiten teilzunehmen.
Mussa bog von der Hauptstraße in eine schmale Nebenstraße ab, die einen steilen Abhang hinunterführte. Er schaltete den ersten Gang ein und bremste. Die drei stiegen rasch aus. Kitty nahm ihren kleinen Kasten für Erste Hilfe und ging hinter Mussa her. Beim letzten Haus des Dorfes blieben sie stehen. Es wurde von einer kleinen Gruppe bewaffneter Drusen scharf bewacht.
Mussa machte die Tür auf. Kitty holte tief Luft und trat ein. Im Haus standen vor einer Zimmertür zwei weitere Wachtposten. Kitty drehte sich zu Karen um.
»Bleib hier draußen. Ich rufe dich, wenn ich dich brauche. Mussa, kommen Sie bitte mit herein.«
In dem Schlafzimmer war es dunkel, und die Luft war kühl. Kitty hörte ein Stöhnen. Sie ging rasch zum Fenster und stieß die Fensterladen auf.
Ari lag auf einem Doppelbett. Seine Hände hielten zwei der Messingstäbe des Kopfendes umklammert, während er sich vor Schmerzen wand. Kitty schlug die Bettdecke zurück. Seine Hosen und das Bettuch waren dunkel von Blut.
»Helfen Sie mir, ihm die Hosen auszuziehen«, sagte Kitty. Mussa sah sie erstaunt an.
»Schon gut«, sagte sie. »Dann stören sie mich wenigstens nicht. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich Sie brauche.«
Vorsichtig schnitt sie den Stoff der Hosenbeine auf. Aris Puls war verhältnismäßig kräftig und regelmäßig. Sie verglich die beiden Beine. Das verwundete Bein sah nicht auffällig geschwollen aus, und Ari schien auch keinen allzu heftigen Blutverlust gehabt zu haben. Kitty war erleichtert; sie wußte jetzt, daß er sich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr befand. Rasch und energisch ging sie an die Arbeit.
»Mussa — bringen Sie mir Seife und Wasser und ein paar saubere Handtücher. Ich möchte mir die Wunde etwas genauer ansehen.«
Sie wusch sich die Hände und säuberte behutsam die Umgebung der Wunde. Der Oberschenkel war verfärbt, und aus der geschwollenen Einschußstelle sickerte Blut.
Aris Lider zuckten, und er schlug kurz die Augen auf. »Kitty?«
»Ja, ich bin da.«
»Gott sei Dank.«
»Was haben Sie bisher damit gemacht, Ari?«
»Ich habe gestern Sulfonamid drauf getan. Ich hatte mir einen Druckverband gemacht, aber es schien nicht sonderlich stark zu bluten.«
»Ich möchte die Wunde untersuchen. Aber es wird weh tun.«
»Bitte, tun Sie es.«
Er stöhnte, als sie die Umgebung des Einschusses abtastete. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er umklammerte die Messingstäbe und rüttelte daran. Kitty hörte rasch mit ihrer Untersuchung auf. Ari zitterte minutenlang. Sie wischte ihm mit einem feuchen Tuch das Gesicht ab.
»Können Sie mit mir reden, Ari?«
»Es vergeht wieder«, sagte er. »Es kommt und geht, wie in Wellen. Ich stelle mich ganz schön an mit so einem läppischen Schuß ins Bein. Aber was ist da bloß los?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Geschosse benehmen sich manchmal sonderbar. Man kann nie wissen, welchen Weg sie nehmen. Puls und Atmung sind gut bei Ihnen. Ihr Bein ist nicht geschwollen, mit Ausnahme der unmittelbaren Umgebung des Einschusses.«
»Und was bedeutet das?«
»Ich würde sagen, es bedeutet, daß Sie keine innere Blutung gehabt haben. Das Geschoß hat also keine große Schlagader getroffen. Ich kann auch nichts von irgendeiner Infektion erkennen. Ich glaube, daß Sie großes Glück hatten, wobei mir allerdings nicht gefällt, daß Sie solche Schmerzen haben.«
»Ich bin alle paar Stunden ohnmächtig geworden«, sagte er.
»Beißen Sie die Zähne zusammen. Ich möchte die Stelle noch einmal abtasten.«
Ari biß die Zähne zusammen, doch er konnte die Untersuchung nur einige Sekunden lang aushalten. Er schrie laut auf, kam mit einem Ruck im Bett hoch und fiel dann ächzend zurück.
»Dieses verdammte Ding bringt mich noch um!«
Er krallte die Hände in das Laken und drehte den Kopf zur Seite. Zehn Minuten lang wurde er von krampfartigen Schmerzen geschüttelt. Dann verebbte der Anfall, und er sank schlaff zurück. »Kitty«, sagte er, »was kann das bloß sein? Herrgott noch mal, ich kann das nicht mehr lange aushallen.«
»Konnten Sie noch laufen, nachdem Sie getroffen waren?«
»Ja — was kann das bloß sein, Kitty? Warum tut denn das so verdammt weh?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Arzt. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was es ist. Möglicherweise irre ich mich auch völlig.«
»Sagen Sie mir, was es Ihrer Meinung nach ist«, sagte er ächzend. »Also, ich vermute folgendes: Das Geschoß ist von der Außenseite her in Ihren Oberschenkel eingedrungen und auf den Knochen aufgeschlagen. Es hat ihn nicht durchgeschlagen, denn dann hätten Sie nicht mehr laufen können. Und es ist auch nicht durchgeschlagen bis zur Innenseite des Schenkels, denn dann hätte es sehr wahrscheinlich eine Schlagader getroffen.«
»Sondern?«
»Ich vermute, daß der Knochen angebrochen oder gesplittert ist. Das ist einer der Gründe, weshalb Sie solche Schmerzen haben. Ich nehme weiter an, daß das Geschoß vom Knochen abgeprallt ist, zurück nach außen. Dabei ist es möglicherweise im Fleisch so steckengeblieben, daß es auf einen Nerv drückt.«
»Und was nun?«
»Es muß heraus. Sonst bringt Sie der Schmerz entweder um, oder das Bein wird gelähmt. Eine Fahrt ins Tal hinunter können Sie nicht wagen. Dabei kann alles mögliche passieren — eine Blutung, oder weiß Gott was. Wir müssen einen Arzt herholen, und zwar schnell — sonst wird es Ihnen sehr schlecht gehen.«
Ari blickte zu Mussa hinüber. Kitty sah sich um, sah den Drusen an und richtete den Blick dann rasch wieder auf Ari.
»Überall in Galiläa halten sich Leute verborgen, die bei dem Unternehmen gestern verwundet worden sind«, sagte Mussa. »Im Augenblick wird jeder jüdische Arzt in Palästina überwacht. Wenn ich einen Arzt für Ari hier heraufzubringen versuche, dann ist mit Sicherheit damit zu rechnen, daß er beschattet wird.«
Kitty stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Dann kann ich Ihnen nur den Rat geben, den Engländern mitzuteilen, wo Sie sind, und zu veranlassen, daß Sie sofort in ärztliche Behandlung kommen.«
Ari gab Mussa einen Wink, und der Araber verließ den Raum. »Kitty«, rief er.
Sie ging an sein Bett. Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand. »Die Engländer hängen mich auf, wenn sie mich kriegen. Es liegt bei Ihnen.«
Kittys Kehle schnürte sich zusammen. Sie entzog ihm ihre Hand, entfernte sich von dem Bett, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Ari war jetzt ganz ruhig und hielt den Blick auf sie gerichtet.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich bin kein Arzt.«
»Sie müssen.«
»Ich habe hier nichts von alldem, was man dazu braucht.«
»Sie müssen es tun.«
»Ich kann nicht — ich kann es nicht. Verstehen Sie denn nicht — Sie würden derartige Schmerzen dabei haben — Sie könnten möglicherweise einen Kollaps bekommen — Ari — ich wage es einfach nicht.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie dachte daran, daß Ari bei dem Überfall auf das Gefängnis die Führung gehabt hatte, und wußte, was er zu erwarten hatte, falls ihn die Engländer fanden. Sie wußte, daß sie seine einzige Hoffnung war; wenn sie jetzt nicht handelte, bedeutete es, daß sie ihn zum Tode verurteilte. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Auf der Kommode stand eine Flasche Cognak. Sie nahm sie und ging damit zu Ari. »Da, trinken Sie das. Und wenn diese Flasche leer ist, bekommen Sie noch eine. Betrinken Sie sich — lassen Sie sich so vollaufen, wie Sie nur können, denn ich werde Ihnen höllisch weh tun müssen.«
»Danke, Kitty.«
Sie ging rasch an die Tür, machte sie auf und rief: »Mussa!«
»Ja!«
»Wo können wir ein paar Medikamente bekommen?«
»Im Kibbuz Yagur.«
»Wie lange braucht ein Mann, um dorthin und wieder zurückzukommen?«
»Hinzukommen ist kein Problem. Aber zurück — er darf keine Straßen benutzen, kann also nicht mit dem Wagen fahren. Zu Fuß dauert der Weg hier in diesen Bergen viele Stunden — vielleicht ist er nicht einmal bis zum späten Abend zurück.«
»Ich schreibe Ihnen eine Liste der Dinge auf, die ich brauchen werde. Schicken Sie so rasch wie möglich einen Mann zu diesem Kibbuz.«
Kitty überlegte. Vielleicht würde der Bote erst spät am Abend zurückkehren, vielleicht sogar überhaupt nicht. Die Krankenstation eines Kibbuz mochte vielleicht über schmerzstillende Mittel verfügen, aber sicher war es nicht. Jedenfalls konnte sie nicht riskieren, noch länger zu warten. Sie schrieb auf, daß sie zwei Liter Plasma brauchte, Penicillin, Morphium, Verbandzeug, ein Thermometer und einige weitere Instrumente. Mussa schickte einen der Wachtposten mit der Liste nach Yagur.
»Karen, du wirst mir helfen müssen, aber es wird eine ziemlich harte Sache werden.«
»Das macht mir nichts.«
»Bist ein braves Mädchen. Sagen Sie, Mussa, habt ihr hier bei euch irgend etwas an Verbandmaterial?«
»Ein bißchen was, aber nicht viel.«
»Macht nichts. Zusammen mit dem, was ich mitgebracht habe, wird es eben reichen müssen. Haben Sie eine Taschenlampe — und — vielleicht ein paar Rasierklingen, oder ein kleines, sehr scharfes Messer?«
»Ja, das kann ich beschaffen.«
»Wunderbar. Ich möchte, daß die Rasierklingen und das Messer eine halbe Stunde lang ausgekocht werden.«
Mussa wandte sich an seine Leute und gab den Auftrag weiter.
»Und jetzt legt ein paar Decken auf den Fußboden. Das Bett federt zu sehr. Er muß auf einer festen Unterlage liegen. Und du, Karen, nimmst diese blutigen Laken ab, wenn wir ihn auf den Fußboden legen, und beziehst das Bett frisch. Mussa, besorgen Sie ihr ein paar saubere Laken.«
»Sonst noch etwas?« fragte Mussa.
»Ja. Wir werden sechs oder acht Männer brauchen, die ihn aus dem Bett heben und festhalten.«
Alles wurde vorbereitet. Auf dem Fußboden wurden Decken ausgebreitet. Ari trank einen Cognak nach dem anderen. Vier von den Drusen hoben ihn so vorsichtig wie möglich vom Bett und legten ihn auf den Fußboden. Karen nahm rasch die blutigen Laken ab und bezog das Bett frisch. Die Rasierklingen und das Messer wurden hereingebracht. Kitty wusch sich gründlich die Hände, säuberte die Umgebung des Einschusses und pinselte die Stelle mit Jod ein. Sie wartete, bis Ari so viel Cognak getrunken hatte, daß er nur noch lallte. Dann legte sie ihm ein Kissen unter den Kopf und steckte ihm ein Taschentuch in den Mund, auf das er beißen sollte. »Ich bin bereit«, sagte sie. »Haltet ihn fest — wir wollen anfangen.« Ein Mann hielt Aris Kopf, je zwei hielten seine beiden Arme, zwei hielten das heile und einer hielt das verwundete Bein. Die acht Drusen drückten Ari fest auf den Fußboden. Karen stand dabei und hielt die Taschenlampe, den Cognak, und die spärlichen Hilfsmittel, die zur Verfügung standen, griffbereit. Kitty ließ sich auf die Knie nieder und beugte sich über die Wunde. Karen richtete den Schein der Taschenlampe darauf.
Kitty nahm eine Rasierklinge in die Finger der rechten Hand und gab den Männern einen Wink, sich bereit zu machen. Sie drückte die Klinge gegen den Schenkel, zielte, zog die Klinge mit einer raschen, kräftigen Bewegung tief durch das Fleisch und machte über dem Einschuß einen Schnitt von fünf Zentimeter Länge. Ari flog am ganzen Körper. Schleim strömte aus seiner Nase, und der Schmerz trieb ihm das Wasser aus den Augen. Die Männer hatten Mühe, ihn festzuhalten.
Karen sah, wie das Blut aus Kittys Lippen wich und wie sie die Augen verdrehte. Sie packte Kittys Haar, zog ihr Gesicht hoch und goß ihr einen Schluck Cognak in den Mund. Kitty würgte einen Augenblick, dann faßte sie sich und nahm einen zweiten Schluck. Ari fiel in eine wohltätige Ohnmacht.
Karen richtete erneut den Schein der Taschenlampe auf den Einschnitt. Kitty hielt mit der linken Hand die Ränder des Einschnittes auseinander, faßte mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand in die Öffnung und suchte im Fleisch nach dem Geschoß. Ihr Fingernagel traf gegen etwas Hartes. Mit letzter Anstrengung faßte sie das Geschoß und zog es heraus.
Sie saß auf dem Fußboden, hielt das Geschoß in die Höhe, sah es an und fing zu lachen an. Dann begann Kitty halb hysterisch zu schluchzen.
»Mussa«, sagte Karen, »legt ihn rasch wieder auf das Bett. Paßt auf, daß nichts in die Wunde kommt.« Karen half Kitty aufzustehen und führte sie zu einem Stuhl. Kitty sank in den Stuhl. Karen nahm ihr das Geschoß, das sie immer noch krampfhaft festhielt, aus der Hand und wischte ihr mit einem feuchten Tuch das Blut von den Händen. Dann ging sie zu Ari, streute Sulfonamid auf die Wunde und legte einen lockeren Verband darüber. Sie wusch ihn mit einem Schwamm ab. Kitty saß noch immer zusammengesunken auf ihrem Stuhl und schluchzte.
Karen schickte alle Männer aus dem Raum, schenkte für Kitty noch einen Cognak ein, und ging gleichfalls hinaus.
Kitty trank das Glas leer, dann stand sie auf und ging zu Ari. Sie fühlte seinen Puls, zog seine Augenlider hoch und prüfte seine Gesichtsfarbe. Ja, er würde durchkommen.
Sie legte den Kopf auf seine Brust. »Ari — Ari — Ari —«, flüsterte sie schluchzend.
XVIII.
Aris heftige Schmerzen ließen nicht nach. Die angeforderten Medikamente kamen nicht. Kitty konnte ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen. Mehrmals mußte sie Mussa bitten, Männer hereinzuschicken, um Ari, der sich im Bett herumwarf, festzuhalten, damit er die offene Wunde nicht gefährde.
Oben im Dorf ging das Tanzen, Singen und Feiern weiter. Die Braut, die sich den ganzen Tag über verborgen gehalten hatte, wurde aus ihrem Versteck herausgebracht. Der Bräutigam, in Hut und Zylinder, bestieg ein Pferd und ritt zu seiner Braut, durch eine mit Blumen bestreute Gasse, in der Drusen mit Gewehren Spalier bildeten.
Karen blieb die ganze Zeit in dem Vorraum. Mehrmals im Verlauf der langen Nacht kam sie herein, um Kitty für kurze Zeit abzulösen. Am Morgen waren beide durch den Mangel an Schlaf und die anhaltende Spannung erschöpft. Die Medikamente waren noch immer nicht angekommen.
»Es ist wohl das beste, Sie bringen die Kinder wieder nach Gan Dafna zurück«, sagte Kitty zu Mussa. »Gibt es außer Ihnen hier noch jemanden, der Englisch spricht?«
»Ja, ich werde ihm Bescheid sagen, daß er hier bei Ihnen bleibt.«
»Gut. Können Sie noch ein Bett hier aufstellen, eine Couch oder irgend etwas, worauf ich liegen kann? Ich werde einige Zeit in seiner unmittelbaren Nähe bleiben müssen.«
»Das werde ich veranlassen.«
Kitty ging nach nebenan, wo Karen auf einer Bank eingeschlafen war. Sie streichelte sanft ihre Wange. Karen richtete sich auf und rieb sich die Augen. »Alles in Ordnung?«
»Nein — er hat sehr große Schmerzen. Ich möchte, daß du heute vormittag wieder mit den Kindern zurückfährst.«
»Aber, Kitty —.«
»Keine Widerrede. Sage Dr. Liebermann, ich müßte hierbleiben, bis er außer Gefahr ist.«
»Aber wir sollten doch übermorgen abreisen.«
Kitty schüttelte den Kopf. »Sag dem Reisebüro Bescheid, daß wir nicht fliegen. Wir können später neue Flugkarten bestellen. Ich muß so lange hierbleiben, bis jemand herkommen kann, der die Pflege übernimmt. Ich weiß nicht, wie lange das dauern wird.«
Karen umarmte Kitty und wollte gehen.
»Hör mal, Karen — fahr nach Safed, ja, und sage Bruce Sutherland, wo ich bin. Frage ihn, ob er nach Haifa kommen kann, um sich dort mit mir zu treffen. Sage ihm, er möchte mich in dem größten Hotel von Haifa erwarten. Ich weiß nicht, wie das größte Hotel heißt, aber ich werde es finden. Gib ihm ein paar Sachen für mich mit, damit ich mich umziehen kann.«
Gegen Mittag begannen die Festgäste allmählich Daliyat el Karmil zu verlassen. Die Drusen begaben sich in ihre Dörfer, und die Juden machten sich zu ihrem Kibbuz und nach Haifa auf. Mussa lud die Kinder auf seinen Wagen und fuhr mit ihnen nach Gan Dafna.
Kitty war mit Ari in dieser fremden Gegend allein. In diesem ersten ruhigen Augenblick wurde ihr auf einmal bewußt, was eigentlich geschehen war. Sie stand vor seinem Bett und sah ihn an. »Allmächtiger«, flüsterte sie. »Was habe ich getan?« All die Monate, in denen sie sich gegen ihn gewehrt hatte, der ganze Widerstand, den sie umsichtig aufgebaut hatte — das alles war in dem Augenblick zusammengestürzt, als sie ohne jede Überlegung zu ihm geeilt war. Sie hatte plötzlich Angst vor der Macht, die Ari über sie besaß.
Spät am Abend kam der Mann mit den Medikamenten vom Kibbuz Yagur zurück. Er war quer durch die Berge gegangen und hatte sich wiederholt längere Zeit verbergen müssen. Überall waren britische Patrouillen unterwegs, die nach Verwundeten des Überfalls auf das Gefängnis in Akko suchten.
Kitty verabreichte Ari rasch einen Liter Plasma und große Mengen Penicillin als Schutz gegen die Infektion, die sie infolge der Umstände, unter denen die Operation stattgefunden hatte, als unausbleiblich befürchtete. Sie erneuerte den Verband und gab Ari eine Morphiumspritze, um den mörderischen Schmerz zu lindern.
Die nächsten beiden Tage und Nächte hielt Kitty den Patienten ständig unter Morphium, um den Schmerz zu neutralisieren. Sie sah, wie sich sein Zustand von Minute zu Minute besserte. Der Einschnitt begann zu heilen. Irgendeine ernstliche Komplikation schien nicht einzutreten. Wenn Ari für kurze Augenblicke bei Bewußtsein war, nahm er etwas Nahrung zu sich; er war aber zu apathisch, um wirklich wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Die Einwohner des Drusendorfes waren voller Bewunderung für Kittys Tüchtigkeit und Ausdauer. Besonders die Frauen waren von der Art angetan, wie sie die Männer herumkommandierte.
Als Kitty die Gewißheit hatte, daß keine Gefahr mehr bestand und die Heilung nur noch eine Frage der Zeit war, wurde sie unruhig und voller Sorge.
Sie legte sich erneut die Frage vor, ob sie ein Recht dazu hatte, von den Kindern in Gan Dafna fortzugehen. Diese Kinder brauchten sie. Wo war die Grenze zwischen beruflicher Pflicht und menschlicher Verpflichtung? Und was war mit Karen? Kam sie nur deshalb nach Amerika mit, weil sie fürchtete, Kitty sonst zu verlieren?
Am meisten machte Kitty jedoch eine Sache zu schaffen, die sie logisch nicht mehr zu erklären vermochte. Schon einmal war sie gegen ihren Willen in die Angelegenheiten dieser ihr so fremden Menschen verwickelt worden: auf Zypern war sie entschlossen gewesen, nicht für sie zu arbeiten — und dann hatte sie Karen gesehen. Was jetzt geschehen war, schien eine Wiederholung: am Vorabend ihrer Abreise aus Palästina hatte sie irgend etwas zurückgehalten und zu Ari getrieben. War das Zufall oder war es Schicksal, höhere Fügung? So sehr sich ihr gesunder Menschenverstand gegen diese phantastische Vorstellung auflehnte — es blieb beunruhigend und erschreckend.
Aris Zustand machte unter Kittys Pflege rasche Fortschritte. Er war ein erstaunlicher Mann, mußte Kitty denken. Gegen Ende des vierten Tages hatte sie die Dosierung des Morphiums wesentlich heruntergesetzt. Sie hatte auch aufgehört, ihm Penicillin zu geben, weil sie sicher war, daß die Wunde sich nicht entzünden und langsam verheilen würde.
Als Ari am Morgen des fünften Tages erwachte, hatte er mächtigen Hunger, große Lust, sich zu rasieren und zu waschen, und war überhaupt guter Dinge. Doch während Ari in erneuerter Vitalität die Augen aufschlug, klappte Kitty das Visier herunter. Sie nahm ihm gegenüber eine eiskalte, unpersönliche Haltung an. Sie erteilte ihm Befehle wie ein Hauptfeldwebel und entwickelte den Plan für die nächsten Wochen, als ob er ein Fremder wäre.
»Ich hoffe, daß ich Sie bis zum Ende dieser Woche völlig aller Narkotika entwöhnt haben werde. Ich möchte, daß Sie anfangen, Gymnastik zu treiben und das Bein möglichst viel zu bewegen. Sie müssen dabei allerdings sehr vorsichtig sein, damit die Stelle des Einschnitts nicht zu sehr beansprucht wird. Der Schnitt ist nicht vernäht.«
»Wie lange wird es dauern, bis ich wieder gehen kann?«
»Darüber kann ich ohne Röntgenaufnahme nichts sagen. Soviel aber weiß ich mit Sicherheit, daß Sie wenigstens einen Monat lang nirgendwo hingehen werden.«
Ari stieß einen leisen Pfiff aus, während sie das Laken unter ihm glattzog.
»Ich gehe jetzt ein wenig spazieren«, sagte sie. »In einer halben Stunde bin ich wieder da.«
»Einen Augenblick, Kitty. — Ich — hm — sehen Sie, Sie sind sehr nett zu mir gewesen. Sie haben mich wie ein Engel bewacht. Aber seit heute früh scheinen Sie böse zu sein. Ist irgend etwas los? Habe ich irgend etwas getan?«
»Ich bin müde und überanstrengt. Ich habe fünf Nächte lang nicht geschlafen. Es tut mir leid, daß ich nicht in der Lage bin, Sie zu erheitern, indem ich Ihnen etwas vorsinge oder vortanze.«
»Nein, das ist es nicht. Da steckt noch irgend etwas anderes dahinter. Es tut Ihnen leid, daß Sie hergekommen sind, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie leise.
»Hassen Sie mich eigentlich?«
»Ob ich Sie hasse, Ari? Habe ich nicht deutlich genug erkennen lassen, was ich für Sie empfinde? Bitte, ich bin müde —.«
»Was ist es denn? Wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Ich bin böse mit mir, weil ich Sie liebe. Wollen Sie sonst noch irgend etwas wissen?«
»Sie können manchmal schrecklich kompliziert sein, Kitty Fremont.«
Kitty sah ihm eine Weile fest in die Augen. »Im Grunde ist es sehr einfach mit mir, Ari. Ich muß das Gefühl haben, daß mich der Mann, den ich liebe, wirklich braucht.«
»Habe ich Ihnen nicht deutlich genug zu erkennen gegeben, daß ich Sie brauchte.«
Kitty lachte kurz und bitter. »Ja, Ari, Sie brauchten mich. Sie haben mich auf Zypern gebraucht, damit ich gefälschte Papiere aus dem Lager schmuggelte, und jetzt brauchten Sie mich wieder, damit ich ein Geschoß aus Ihnen heraushole. Wirklich beachtlich das Köpfchen, das Sie haben. Selbst als Sie halbtot waren und sich vor Schmerzen wanden, waren Sie in der Lage, an alles zu denken. Sie dachten daran, daß man den Wagen mit Kindern volladen sollte, um keinen Argwohn zu erregen. Nein, Ari, Sie haben nicht mich gebraucht. Sie brauchten jemanden, der geeignet war, die britischen Straßensperren zu passieren.«
»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, fuhr sie fort. »Wenn hier irgend jemand Schuld hat, dann bin ich das in erster Linie selbst. Aber wir haben schließlich alle unser Kreuz zu tragen, und ich vermute, mein Kreuz sind Sie.«
»Müssen Sie mich deshalb behandeln, als wäre ich ein Unmensch?« »Ja — denn das sind Sie. Sie sind viel zu besessen von dem zweiten Auszug der Kinder Israels, als daß Sie ein menschliches Wesen sein könnten. Sie wissen nicht, was es heißt, jemanden zu lieben. Sie verstehen nur, gegen andere zu kämpfen. Nun, ich nehme den Kampf auf gegen Sie, Ben Kanaan, und ich werde Sie schlagen und dann vergessen.«
Ari blieb stumm, als sie an sein Bett kam und vor ihm stehen blieb. Der Zorn trieb ihr die Tränen in die Augen. »Eines Tages werden Sie wirklich jemanden brauchen, und das wird sehr schlimm für Sie werden, weil Sie es nicht fertigbringen, jemanden ehrlich um Hilfe zu bitten.«
»Wollten Sie nicht einen Spaziergang machen?« sagte er.
»Ja, ich begebe mich auf einen Spaziergang, und zwar auf einen ziemlich langen. Die brave Schwester Fremont hat ihre Schuldigkeit getan. In ein paar Tagen wird irgend jemand vom Palmach hier heraufkommen und sich um Sie kümmern. Bis dahin werden Sie schon nicht sterben.«
Sie wandte sich heftig ab und ging zur Tür.
»Kitty — wie muß ein Mann eigentlich sein, um der großartigen Vorstellung zu entsprechen, die Sie vom Manne haben?«
»Er muß weinen können. Sie tun mir leid, Ari ben Kanaan.«
Kitty verließ Daliyat el Karmil noch am gleichen Morgen.
XIX.
Bruce Sutherland hatte seit zwei Tagen in Haifa im Zionhotel auf Kitty gewartet. Es schien Kitty, als sei sie noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen, jemanden zu sehen. Nach dem Abendessen fuhr Sutherland mit ihr auf den Har Hakarmel, den Berg im jüdischen Sektor von Haifa. Sie gingen in ein Restaurant mit einer großartigen Aussicht; man sah auf die Stadt und den Hafen hinunter, sah die Bucht entlang bis nach Akko, und dahinter die Berge des Libanon.
»Nun, wie geht es uns denn jetzt?«
»Danke, Bruce, schon viel besser. Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind.« Sie betrachtete die Aussicht. »Am ersten Abend in Palästina war ich auch schon hier oben. Ari war mit mir hierhergefahren. Soviel ich mich erinnere, hatte unsere Unterhaltung irgend etwas mit der Spannung zu tun, in der wir leben.«
»Für die Juden in Palästina ist die Bedrohung und der Kampf ein ebenso selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens wie für euch Amerikaner der Baseball. Dadurch werden die Menschen hier hart.«
»Dieses Land setzt mir dermaßen zu, daß ich gar nicht mehr klar denken kann. Je mehr ich versuche, mir logisch über alles klar zu werden, desto mehr werde ich das Opfer von Gefühlen und unerklärlichen Kräften. Ich muß hier weg, ehe mich dieses Land auffrißt.«
»Kitty, wir wissen inzwischen, daß sich Dov Landau in Sicherheit befindet. Er hält sich in Hamischmar verborgen. Ich habe es Karen noch nicht gesagt.«
»Ich glaube, sie muß es erfahren. Sagen Sie, Bruce, was wird hier werden?«
»Bin ich ein Prophet?«
»Meinen Sie, daß die UNO den Arabern gegenüber nachgeben wird?«
»Ich glaube, daß es Krieg geben wird.«
»Und wie wird sich das für Gan Dafna auswirken? Das muß ich wissen.«
»Die Araber können hier in Palästina fünfzigtausend Mann auf die Beine stellen und außerdem ungefähr zwanzigtausend Mann, die illegal über die Grenze kommen. Es gab einen Burschen namens Kawuky, der die Streitkräfte in den Unruhen der Jahre 1936 bis 1939 anführte. Er ist bereits wieder eifrig dabei, eine ähnliche Gangsterbande zu organisieren. Es ist leichter, den Arabern als den Juden Waffen zukommen zu lassen; sie sind rings von guten Freunden umgeben.«
»Und was werden die anderen machen, Bruce?« fragte Kitty.
»Die anderen? Sowohl Ägypten wie der Irak verfügen über eine Armee von rund fünfzigtausend Mann. Syrien und der Libanon können weitere zwanzigtausend Mann auf die Beine stellen. Transjordanien hat die Arabische Legion, hervorragende Soldaten, mit den modernsten Waffen ausgerüstet. Nach unseren heutigen Begriffen haben die Araber keine wirklich erstklassigen Armeen; immerhin haben sie allerhand moderne Einheiten und verfügen über Artillerie, Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge.«
»Sie waren doch als Berater der Hagana tätig, Bruce. Was haben Sie den Leuten gesagt?«
»Ich habe ihnen geraten, eine Verteidigungslinie zwischen Tel Aviv und Haifa zu errichten und zu versuchen, diesen schmalen Streifen zu halten. Kitty, die Aussichten für die Juden sehen nicht rosig aus. Sie haben den Palmach mit vier- bis fünftausend Mann, und sie haben die Hagana mit fünfzigtausend Mann. Doch das ist eine Armee, die nur auf dem Papier steht. Sie besitzt nur zehntausend Gewehre. Die Makkabäer können rund tausend Mann stellen, die mit leichten Waffen ausgerüstet sind, nicht mehr. Die Juden haben keine Artillerie, keine Luftwaffe, keine Flotte. Doch sie haben meinen Rat ebensowenig angenommen wie den irgendeines anderen militärischen Beraters, der ihnen gesagt hat, sie sollten sich auf eine schmale Verteidigungslinie zurückziehen. Die Juden sind entschlossen, um jeden Moschaw, jeden Kibbuz, jedes Dorf zu kämpfen. Das heißt also, daß sie auch Gan Dafna verteidigen werden. Wollen Sie noch mehr hören?«
Kittys Stimme wurde unsicher. »Nein«, sagte sie. »Ich habe genug gehört. Und dennoch! Ist es nicht merkwürdig, Bruce? Eines Nachts, als ich mit den Menschen vom Palmach auf dem Berg Tabor war, hatte ich den Eindruck ihrer Unbesiegbarkeit, empfand ich sie als die Soldaten Gottes. Ja, Lagerfeuer und Mondschein scheinen auch auf mich ihre romantische Wirkung nicht zu verfehlen.«
»Alles, was ich in meinem ganzen Leben als Soldat gelernt habe, sagt mir, daß die Juden nicht gewinnen können. Doch wenn man sich ansieht, was sie hier in diesem Land erreicht haben, dann ist man kein Realist, wenn man es ablehnt, an Wunder zu glauben.«
»Wenn ich nur auch so denken könnte, Bruce!«
»Was für eine Spielzeug-Armee diese Juden doch haben! Ein paar Burschen und Mädchen ohne Gewehre, ohne Ränge und Uniform, und sogar ohne Bezahlung. Der Kommandant des Palmach ist kaum dreißig Jahre alt und seine drei Brigadeführer sind rund fünfundzwanzig. Aber in ihnen ist etwas, das von Militärexperten zwar nicht in Rechnung gestellt werden kann, womit die Araber aber doch sehr zu tun haben werden: Die Juden sind bereit, den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind zu opfern, nur um das zu behalten, was sie hier erreicht haben. Und wieviel Blut sind die Araber zu opfern bereit?«
»Glauben Sie, daß die Juden siegen können? Glauben Sie das wirklich?«
»Nennen Sie es ein Gotteswunder, wenn Sie wollen, oder sagen wir lieber schlicht und einfach, daß die Juden nicht nur einen Ari ben Kanaan haben.«
Am nächsten Tag fuhr Kitty nach Gan Dafna zurück. Sie war überrascht, in ihrem Büro Jordana zu sehen, die hier auf sie gewartet hatte.
»Was führt Sie zu mir, Jordana?« fragte Kitty kühl. »Ich bin sehr beschäftigt.«
»Wir haben gehört, was Sie für Ari getan haben«, murmelte Jordana verlegen, »und ich wollte Ihnen gern sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
»Ihr Nachrichtendienst scheint also wieder zu funktionieren. Ich bedaure, daß ich meine Abreise verschieben mußte. Im übrigen brauchen Sie sich nicht verpflichtet zu fühlen. Ich hätte dasselbe für einen angeschossenen Hund getan.«
Kitty machte Reisepläne. Doch dann bat Dr. Liebermann sie, noch ein paar Wochen zuzulegen. Aliyah Bet hatte weitere hundert Kinder ins Land geschmuggelt, und für diese Kinder mußte neues Pflegepersonal ausgebildet werden. Viele der Neuangekommenen waren in sehr schlechter Verfassung, nachdem sie mehr als zwei Jahre in DP-Lagern zugebracht hatten.
Kitty blieb, und machte dann erneut Reisepläne. Schließlich waren es wieder nur noch zwei Tage, bis sie, zusammen mit Karen, Gan Dafna und Palästina verlassen wollte.
Gegen Ende August 1947 machte der Untersuchungsausschuß der UNO von Genf aus verschiedene Schlichtungsvorschläge.
Jeder dieser Pläne befürwortete die Aufteilung Palästinas in ein arabisches und ein jüdisches Gebiet, wobei Jerusalem internationales Territorium werden sollte. Die lauteren Absichten des Ausschusses standen dabei außer Frage, denn er setzte sich gleichzeitig dafür ein, daß ab sofort monatlich sechstausend Juden aus den DP-Lagern Europas Erlaubnis zur Einwanderung erhalten und daß die Juden Grund und Boden erwerben dürfen sollten.
Die Juden hatten darum gebeten, dem Gebiet des jüdischen Staates die Negev-Wüste hinzuzufügen. Die Araber besaßen Millionen Quadratmeilen unfruchtbarer Wüste. Die Juden wollten dieses kleine Gebiet, das einige tausend Quadratmeilen umfaßte, gern dazuhaben, weil sie hofften, es urbar machen zu können. Der Untersuchungsausschuß der UNO war damit einverstanden.
Aber auch mit der Negev-Wüste war das abgeteilte Gebiet ein lebensunfähiger Staat. Es bestand aus drei Gebietsstreifen, die durch schmale Korridore miteinander verbunden waren. Die Araber erhielten drei größere Gebietsstreifen, gleichfalls durch Korridore verbunden. Die Juden verloren ihre Ewige Stadt, Jerusalem. Sie behielten das Scharon-Gebiet und die Teile von Galiläa, die sie dem Sumpf abgewonnen hatten. Das Ganze war ein unhaltbares Staatengebilde, doch der Jischuw-Zentralrat und die Zionistische Welt-Organisation erklärten sich bereit, den Kompromißvorschlag anzunehmen. Auch die Araber erteilten ihre Antwort. Sie erklärten, die Teilung Palästinas bedeute den Krieg.
Trotz der Drohungen der Araber beschloß der Untersuchungsausschuß, den Plan der Teilung Palästinas im September der Vollversammlung der UNO in New York vorzulegen. Alles war verpackt, geordnet und geregelt. Wieder einmal stand die Abreise von Kitty und Karen unmittelbar bevor. Am nächsten Morgen würde Bruce Sutherland sie in seinem Wagen zum Flugplatz Lydda bringen, und am Abend sollten sie nach Rom abfliegen. Die großen Koffer waren schon per Schiff vorausgeschickt worden. In der Wohnung war alles aufgeräumt und eingepackt. Kitty saß in ihrem Büro am Schreibtisch, um die letzten Karteikarten einzuordnen. Dann brauchte sie die Karteikästchen nur noch in den Aktenschrank zu stellen, den Aktenschrank abzuschließen und aus der Tür hinauszugehen — für immer.
Sie nahm die oberste Karteikarte und las ihre Aufzeichnungen.
MINNA (Familienname unbekannt), 7 Jahre alt. Geboren im Konzentrationslager Auschwitz. Eltern unbekannt. Wir nehmen an, daß Minna aus Polen stammt. Sie kam Anfang des Jahres mit Aliyah Bet illegal nach Palästina. Als sie in Gan Dafna ankam, war sie physisch sehr schwach und krank und zeigte starke psychische Störungen ...
ROBERT DUBUAY, 16 Jahre alt. Französischer Herkunft. Robert wurde im Konzentrationslager Bergen-Belsen von englischen Soldaten gefunden. Er war damals dreizehn Jahre alt und wog fünfundfünfzig Pfund. Der Junge war Augenzeuge des Todes seiner Mutter, seines Vaters und eines seiner Brüder. Seine Schwester, die später Selbstmord beging, war von den Deutschen zur Prostitution gezwungen worden. Robert zeigt Anzeichen von Feindlichkeit und ... SAMUEL KASNOWITZ, 12 Jahre alt. Estnischer Herkunft. Von den Angehörigen der Familie ist niemand am Leben geblieben. Samuel lebte versteckt im Keller einer christlichen Familie, bis er gezwungen war, in den Wald zu flüchten, wo er zwei Jahre lang allein gelebt hat ...
ROBERTO PUCCELLI, 12 Jahre alt. Italienischer Herkunft. Keine überlebenden Familienangehörigen bekannt. Wurde im Lager Auschwitz befreit. Sein rechter Arm ist als Folge von Schlägen lebenslänglich verkrüppelt ...
MARCIA KLASKIN, 13 Jahre alt. Rumänischer Herkunft. Über Familienangehörige ist nichts bekannt. Marcia wurde in Dachau gefunden ...
HANS BELMAN, 10 Jahre alt. Holländischer Herkunft. Über Familienangehörige nichts bekannt. Gefunden in Auschwitz ...
So ging es weiter und weiter.
»Keine überlebenden Angehörigen.«
»Auch dieses Kind träumt den Traum, der sich fast bei allen Kindern zeigt, die in Auschwitz waren. Sie träumt von übelriechendem Rauch. Dieser Traum ist symbolisch für den Geruch des Rauches aus den Öfen, in denen die Leichen verbrannt wurden.« »Bettnässen.«
»Mißtrauen und Feindlichkeit.«
»Angstträume.«
»Aggressivität.«
Kitty Fremont stellte die Karteikästen in den Aktenschrank und schloß ihn ab. Sie sah sich einen Augenblick in ihrem Büro um, dann machte sie rasch das Licht aus und ging hinaus.
Als sie in ihre Wohnung kam, rief sie nach Karen. Sie bekam keine Antwort, aber auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
Liebe Kitty,
die Gruppe möchte zum Abschied gern ein Lagerfeuer machen. Es wird aber nicht allzu spät werden. Karen.
Kitty steckte sich eine Zigarette an und ging unruhig im Raum hin und her. Sie zog die Vorhänge vor, um die Lichter unten im Tal nicht zu sehen. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Stoff der Vorhänge in der Hand hielt, die ihre Kinder für sie genäht hatten. Zehn dieser Kinder hatten Gan Dafna bereits verlassen, um zum Palmach zu gehen.
Es war drückend heiß im Zimmer. Sie ging hinaus zur Gartentür. Die Luft war würzig vom Duft blühender Rosen. Kitty ging den Weg zwischen den Reihen der kleinen Häuschen entlang, die alle unter Bäumen und hinter Hecken auf kleinen Rasenflächen lagen. Sie kam an das Ende des Weges und wollte schon wieder zurückgehen, als sie von dem Lichtschein angezogen wurde, der aus dem Fenster von Dr. Liebermann fiel.
Der arme alte Mann, dachte Kitty. Sein Sohn und seine Tochter waren von der Universität abgegangen und jetzt bei der Negev-Brigade des Palmach, weit fort. Sie ging zur Tür und klopfte. Die Haushälterin öffnete und führte sie in Dr. Liebermanns Arbeitszimrner. Der alte Mann war gerade dabei, eine hebräische Inschrift auf einer Keramik zu entziffern. Aus dem Radio erklang leise eine Melodie von Schumann. Dr. Liebermann hob den Kopf, und legte das Vergrößerungsglas aus der Hand.
»Schalom«, sagte Kitty.
Er lächelte. Sie hatte ihn bisher noch nie in hebräischer Sprache begrüßt. »Schalom, Kitty«, sagte er. »Es ist ein so schöner Gruß, um von guten Freunden Abschied zu nehmen.«
»Schalom ist ein wunderschöner Gruß, und es ist auch eine nette Art, sich bei guten Freunden anzumelden.«
»Aber Kitty — meine Liebe —.«
»Ja, Dr. Liebermann. Ich bleibe in Gan Dafna.«