Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! denn auf dich traut meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis daß das Unglück vorübergehe. Ich liege mit meiner Seele unter den Löwen, die Menschenkinder sind Flammen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter. Sie stellen meinem Gange Netze und drücken meine Seele nieder; sie graben vor mir eine Grube und fallen selbst hinein.
Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, daß ich singe und lobe. Wach auf, meine Ehre, wache auf, Psalter und Harfe, mit der Frühe will ich aufwachen.
57. PSALM DAVIDS
I.
Im Herbst des Jahres 1947 wurde die sechstausend Jahre alte Sache des jüdischen Volkes vor die UNO gebracht.
Chaim Weizmann, Sprecher der Zionistischen Weltorganisation, und Barak ben Kanaan, Vertreter des Jischuw, begaben sich als Führer einer zwölfköpfigen Delegation zu der entscheidenden Auseinandersetzung nach Flushing Meadow, New York. Die Mitglieder dieser Delegation, gewitzt durch lange Jahre vergeblicher Bemühung und feindlicher Ablehnung, gaben sich keinerlei Illusionen hin.
In der mitten in Manhattan gelegenen Wohnung Dr. Weizmanns wurde ein behelfsmäßiges Hauptquartier eingerichtet. Die Delegierten hatten die Aufgabe, Stimmen zu gewinnen. Weizmann übernahm es als seine persönliche Aufgabe, die Juden in aller Welt zu alarmieren und sie aufzufordern, bei den Regierungen ihrer Länder vorstellig zu werden.
Die Arbeit Barak ben Kanaans vollzog sich mehr in der Stille und hinter den Kulissen. Seine Aufgabe war es, sich über das stündlich wechselnde Kräfteverhältnis auf dem laufenden zu halten, die Situation zu analysieren, um schwache Stellen ausfindig zu machen und die Mitglieder der Delegation vorzuschicken, um irgendwelchen plötzlichen Veränderungen zu begegnen.
Nach dem einleitenden parlamentarischen Geplänkel, das die Sache nur unnötig verzögerte, wurde die Frage der Teilung Palästinas auf die Tagesordnung gesetzt.
Die Araber begaben sich siegessicher nach Lake Success. Sie hatten es erreicht, daß der Moslemstaat Afghanistan und das mittelalterlich feudale Königreich Yemen Mitglieder der UNO wurden, wodurch der arabisch-mohammedanische Block in der Generalversammlung über elf Stimmen verfügte.
Außerdem nutzten die Araber auf jede mögliche Weise den Kalten Krieg aus, der zwischen den beiden Großen, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, loderte, indem sie geschickt den einen gegen den anderen ausspielten. Es war von Anfang an klar, daß die Teilung Palästinas nur erreicht werden konnte, wenn beide Großmächte ihren Segen dazu erteilten. Rußland und die Vereinigten Staaten waren bisher noch in keiner Frage einer Meinung gewesen, und es schien wenig wahrscheinlich, daß sie es in diesem Falle sein würden.
Für die Annahme des Beschlusses der Teilung Palästinas durch die Vollversammlung war eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Juden mußten zunächst einmal zweiundzwanzig Stimmen erhalten, um nur die elf Stimmen des arabisch-mohammedanischen Blocks zu überstimmen und sie damit unschädlich zu machen. War das erreicht, so mußten sie für jede einzelne Stimme, die die Araber für sich buchen konnten, zwei weitere Stimmen gewinnen.
Die internationale Presse befürwortete im allgemeinen die Teilung. Außerdem waren Jan Smuts von der Südafrikanischen Union und der große Vertreter des Liberalismus, der tschechoslowakische Außenminister Jan Masaryk, auf dem Kampfplatz erschienen. Dänemark, Norwegen und ein paar andere Länder waren in ihrer Haltung entschieden und unerschütterlich. Die gefühlsmäßige Einstellung zugunsten der Teilung war stark, doch Sympathie allein war nicht genug.
Die vier Großen, die Mächtigen, ließen den Jischuw im Stich. Frankreich, das die illegale Einwanderung offen begünstigt hatte, zog sich plötzlich zurück. Unter den Arabern in den französischen Kolonien, in Marokko, Algerien und Tunesien, herrschte Unruhe. Wenn Frankreich für die Teilung stimmte, so konnte das bei den Arabern möglicherweise eine Explosion auslösen.
Die Sowjetunion hatte andere Gründe, nicht für die Teilung zu stimmen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten war der Zionismus in Rußland verboten. Die Russen verfolgten ein Programm der allmählichen Ausmerzung des Judentums. Durch alle möglichen Einschränkungen hofften sie, das jüdische Element bei den neuen Generationen auszuschalten. Die Teilung Palästinas konnte die russischen Juden daran erinnern, daß sie Juden waren: die Sowjetunion war daher gegen die Teilung. Damit war zugleich die Haltung des machtvollen slawischen Blocks bestimmt.
Der schlimmste Rückschlag, den die Juden zu erleiden hatten, war die Haltung der Vereinigten Staaten. Der amerikanische Präsident, die Presse und die Öffentlichkeit standen der Frage sympathisch gegenüber. Doch die internationale Politik nötigte die Vereinigten Staaten, offiziell eine zweideutige Stellung zu beziehen. Eine Befürwortung der Teilung hätte das Fundament der westlichen Welt gefährdet, weil sie zu einem Bruch der anglo-amerikanischen Solidarität geführt hätte. Großbritannien war noch immer die herrschende Macht im Nahen Osten; die amerikanische Außenpolitik war von der englischen Außenpolitik nicht zu trennen. Wenn Amerika für die Teilung stimmte, so brüskierte es damit England, Darüber hinaus sah sich Amerika aber noch einer größeren Gefahr gegenüber. Die Araber drohten mit Krieg, falls die Vollversammlung der Teilung zustimmen sollte. Wenn es zu einem Krieg kam, hätten die Vereinten Nationen den Frieden mit Gewalt erzwingen und die Sowjetunion oder ihre Satelliten mit Truppen an einer internationalen Streitmacht im Nahen Osten beteiligen müssen.
Von den vier Großmächten war Großbritannien der entschiedenste und gefährlichste Gegner der Teilung. Als die Engländer die Frage des Palästina-Mandats vor die UNO brachten, waren sie von der Annahme ausgegangen, daß die UNO keine Lösung finden und deshalb die Engländer bitten würde, in Palästina zu bleiben. Doch dann begab sich der Untersuchungsausschuß der UNO nach Palästina und kam auf Grund seiner Ermittlungen zu einer bitteren Kritik an der englischen Herrschaft. Außerdem hatte die Weltöffentlichkeit erfahren, daß hunderttausend englische Soldaten nicht in der Lage gewesen waren, sich mit der Entschlossenheit der Hagana, des Palmach, der Makkabäer und des Aliyah Bet zu messen, was dem britischen Prestige empfindlich Abbruch tat.
Die Engländer wollten ihre Machtstellung im Nahen Osten aufrechterhalten. Nur indem sie die Teilung Palästinas torpedierten, schien es ihnen möglich, gegenüber den Arabern das Gesicht zu wahren. Außerdem bedienten sich die Engländer nicht ungeschickt der amerikanischen Furcht vor einem russischen Eindringen im Nahen Osten, indem sie ankündigten, daß sie ihre Truppen im August 1948 aus Palästina zurückziehen würden. Schließlich zeigte sich England auch nicht bereit, mit Hilfe britischer Streitkräfte einem UNO-Beschluß Respekt zu verschaffen. Nachdem es England somit geglückt war, die USA zu überspielen, veranlaßte es die Staaten des Commonwealth zur Stimmenthaltung und begann gleichzeitig die kleineren europäischen Länder unter Druck zu setzen, die sich in wirtschaftlicher Abhängigkeit von Großbritannien befanden.
Für den Jischuw sah es dunkel aus. Belgien, Holland und Luxemburg beugten sich dem englischen Druck. Andere kleinere Länder, mit deren Wohlwollen die Juden ebenfalls gerechnet hatten, begannen, sich zurückzuhalten.
Die Haltung der asiatischen Länder war uneinheitlich. Sie wechselten ihre Meinungen fast stündlich. Die meisten von ihnen würden fraglos die Araber unterstützen, weil sie dadurch den Westmächten gegenüber ihre Solidarität gegen jede Art von Kolonialherrschaft bekunden konnten und weil sie sich zum Teil die arabische These zu eigen gemacht hatten, daß die Juden Vertreter des Westens in einem Teil der Welt seien, wohin sie nicht gehörten. Griechenland war den Arabern keineswegs freundlich gesinnt; es hatte aber zu beachten, daß immerhin hundertfünfzigtausend Griechen in Ägypten lebten. Ägypten ließ über das Schicksal dieser Minorität keinen Zweifel, falls die Griechen für die Teilung stimmen sollten.
Äthiopien mochte die Ägypter ebensowenig, war aber sowohl geographisch als auch wirtschaftlich mit diesem Lande verknüpft.
Romulo von den Philippinen hatte sich klar gegen den TeilungsVorschlag bekannt. Kolumbien machte aus seiner antijüdischen Einstellung kein Hehl.
Die mittel- und südamerikanischen Staaten besaßen ein Drittel der siebenundfünfzig Stimmen in den Vereinten Nationen. Die meisten dieser Länder standen der Auseinandersetzung um Palästina fern und verhielten sich neutral. Die Juden forderten Jerusalem als Hauptstadt ihres künftigen Staatswesens; ohne Jerusalem war dieser Staat ihrer Meinung nach ein Körper ohne Herz. Die süd- und mittelamerikanischen Staaten waren überwiegend katholisch. Und der Vatikan wünschte ein internationalisiertes Jerusalem. Sollten die Juden auf Jerusalem beharren, riskierten sie den Verlust dieser für sie lebenswichtigen Stimmen in der UNO.
Die Juden setzten ihre Arbeit trotzdem fort. Sie hofften auf ein Wunder, das sie ohne Zweifel brauchten. Den ganzen September und Oktober hindurch spornten Dr. Weizmann und Barak ben Kanaan ihre Delegation unermüdlich immer wieder an. Kein Rückschlag konnte sie entmutigen.
Die stärkste Waffe der Juden war die Wahrheit. Es war die gleiche Wahrheit, die auch die neutrale UNSCOP in Palästina festgestellt hatte: daß das Land ein tyrannisierter Polizeistaat war; daß die Araber weder kulturell noch wirtschaftlich oder in sozialer Hinsieht über das Mittelalter hinausgekommen waren; daß die Juden mit Fleiß und Erfindungsgeist aus Wüstensand blühende Städte und aus Sümpfen fruchtbare Felder geschaffen hatten, und schließlich die in den DP-Lagern gewonnene Erkenntnis, daß die jüdische Sache schlechthin auch eine Sache der Menschlichkeit war.
Granados von Guatemala, Lester Pearson von Kanada, Evatt von Australien, Masaryk von der Tschechoslowakei, Smuts von Südafrika, Fabregat von Uruguay, und zahlreiche andere Männer aus großen und kleinen Nationen waren entschlossen, die Wahrheit in Flushing Meadow nicht begraben zu lassen.
Im November des Jahres 1947 geschah dann schließlich das »Wunder von Lake Success«.
Es begann mit einer vorsichtig formulierten Erklärung der Vereinigten Staaten, in der festgestellt wurde, daß man »im Prinzip« für die Teilung sei.
Und dann erfolgte ein Schachzug, der die Welt in Erstaunen versetzte. Die Sowjetunion, die den Zionismus seit mehr als zwei Jahrzehnten verboten hatte, machte eine ihrer verblüffenden Kehrtwendungen und erklärte sich für die Teilung. Diese Eröffnung erfolgte nach einer Geheimsitzung des slawischen Blocks; Wischinsky sprach in pathetischen Tönen von den Strömen vergossenen jüdischen Blutes und dem gerechten Anspruch der Juden auf eine Heimat.
Hinter dieser humanitären Maske hatten die Russen ein gerissenes politisches Manöver vollzogen. Zunächst einmal hatten sie öffentlich ihr Mißtrauen gegenüber den Arabern bekundet. Sie waren sich darüber klar, daß die arabischen Drohungen nicht ernstzunehmen waren. Rußland konnte heute der Teilung sehr wohl zustimmen und die Araber morgen wieder für sich gewinnen. Inzwischen ging die sowjetische Strategie darauf aus, sowohl die Engländer als Tyrannen zu brandmarken als auch einen Schachzug zu machen, der möglicherweise dazu führen konnte, daß die Russen im Nahen Osten Fuß faßten. Außerdem waren sich die Russen darüber klar, daß Amerika, wenn die Sowjetunion der Teilung zustimmte, gleichfalls dafür stimmen mußte, da es sonst auf der ganzen Welt das Gesicht als Freund der Gerechtigkeit verloren hätte. Dies wiederum mußte eine Erschütterung der anglo-amerikanischen Solidarität bedeuten. Schließlich durfte die Sowjetunion erwarten, daß ihr diese »humanitäre« Proklamation einen enormen Prestigegewinn einbringen würde. Und so hatte der Jischuw plötzlich und ganz unerwartet einen seltsamen Bundesgenossen gefunden.
Während die zwei großen Mächte ihre sorgfältig formulierten Erklärungen zugunsten der Teilung Palästinas abgaben, kursierten in den Räumen und auf den Gängen der UNO zahlreiche Gerüchte, die von Stunde zu Stunde dramatischer wurden.
Das große Schachspiel ging weiter. Bei diesen Manövern wurden Granados und Lester Pearson zu entscheidenden Figuren. Nach vielen Bemühungen und nur unter Aufwendung großen diplomatischen Geschicks gelang es diesen beiden Männern, die Vertreter der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion an einem Konferenztisch zusammenzubringen. Am Ende der Konferenz erklärten sich die beiden Großmächte in einem gemeinsamen Kommuniqué endgültig für die Teilung.
Die Araber machten einen letzten verzweifelten Versuch, um zu verhindern, daß die Teilungsfrage der Vollversammlung zur Entscheidung vorgelegt werde. Es stellte sich jedoch sehr bald heraus, daß die Abstimmung, die darüber stattfand, ein Test war: um die Frage zur Entscheidung vor die Vollversammlung zu bringen, war nur einfache Stimmenmehrheit erforderlich, doch die abgegebenen Stimmen würden Aufschluß über das Kräfteverhältnis beider Seiten erbringen. Die Abstimmung erbrachte zwar die erforderliche Stimmenmehrheit, daß die Resolution zur Entscheidung vor die Vollversammlung kam, doch für die Juden brach die Decke ein. Die Auszählung ergab fünfundzwanzig Stimmen dafür, dreizehn dagegen, siebzehn Nationen hatten sich der Stimme enthalten, und zwei Nationen waren bei der Abstimmung nicht zugegen gewesen. Wenn das Verhältnis bei der endgültigen Abstimmung über die Teilung so bleiben sollte, konnte der Jischuw die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreichen. Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Neuseeland hatten sich der Stimme enthalten. Paraguay und die Philippinen waren bei der Abstimmung nicht zugegen gewesen.
Die Araber stellten fest, daß viele »sichere« Stimmen für die Teilung den Jischuw im Stich gelassen hatten, und die Juden die erforderliche Stimmenzahl nicht zusammenbekamen. Im Vertrauen darauf, daß sie vielleicht noch ein oder zwei zusätzliche Stimmen einhandeln konnten, änderten die Araber nunmehr plötzlich ihre Taktik und drangen darauf, daß die Frage von der Vollversammlung entschieden werde.
MITTWOCH, DEN 27. NOVEMBER 1947.
Die letzten Debatten verliefen heftig. Die Mitglieder der jüdischen Delegation saßen auf den ihnen zugewiesenen Plätzen im Saal der Vollversammlung und sahen wie Männer aus, die ihr Todesurteil erwarteten. Das Ergebnis der Testabstimmung war für sie ein schwerer Schlag gewesen. Während die Diskussion weiterging, wurden die Aussichten von Stunde zu Stunde geringer. Für die Juden war es ein »schwarzer Mittwoch«.
Schließlich bedienten sich die Freunde des Jischuw einer verzweifelten Maßnahme: Sie redeten so lange, bis die Zeit um war. Dadurch verzögerten sie die endgültige Abstimmung. Der nächste Tag war ein Feiertag, Thanksgiving Day. Das bedeutete vierundzwanzig Stunden Aufschub, in denen man versuchen konnte, die benötigten Stimmen doch noch zusammenzubringen. Das Verschleppungsmanöver wurde fortgesetzt, bis die Sitzung vertagt werden mußte.
Die Jischuw-Delegalion versammelte sich eilig in einem Sitzungsraum. Alle sprachen gleichzeitig.
»Ruhe!« rief Barak mit dröhnender Stimme. »Wir haben vierundzwanzig Stunden Zeit. Wir wollen jetzt nicht die Nerven verlieren.«
Dr. Weizmann kam aufgeregt und atemlos hereingestürzt. »Ich habe soeben aus Paris telegrafisch die Nachricht erhalten, daß Leon Blum persönlich bei der französischen Regierung interveniert, um Frankreich dazu zu bewegen, der Teilung zuzustimmen. Die gefühlsmäßige Einstellung zugunsten der Teilung ist in Paris sehr stark.«
Das war eine sehr erfreuliche Nachricht, denn der ehemalige französische Premierminister war immer noch ein Mann, dessen Stimme großes Gewicht hatte.
»Könnten wir nicht die Vereinigten Staaten darum bitten, daß Griechenland und die Philippinen entsprechend beeinflußt werden?« Der Delegierte, der die Verhandlungen mit den Amerikanern führte, schüttelte den Kopf. »Truman hat strikte Anweisung erteilt, daß die Vereinigten Staaten keinerlei Druck auf irgendeine Nation ausüben. Von dieser Haltung werden die Amerikaner nicht abgehen.«
Das Telefon klingelte. Weizmann hob den Hörer ab. »Ja — das ist gut«, sagte er. »Sehr gut — Schalom.« Er legte den Hörer auf. »Samuel hat aus der Stadt angerufen. Die Äthiopier sind einverstanden, sich der Stimme zu enthalten.«
Man hatte angenommen, daß Äthiopien unter dem Druck des benachbarten Ägypten gegen die Teilung stimmen werde. Der Entschluß, sich der Stimme zu enthalten, zeigte Haile Selassie als einen Mann von großem Mut.
Es klopfte an der Tür. Ein Pressemann, der dem Jischuw nahestand, kam herein. »Ich denke, es wird Sie interessieren, zu erfahren, daß es in Siam eine Revolution gegeben hat und der siamesische Delegierte nicht mehr akkreditiert ist.« Lauter Jubel begrüßte diese Nachricht. Sie bedeutete, daß die Araber eine weitere Stimme verloren hatten. Barak machte einen raschen Überschlag — er wußte die Namensliste der Nationen auswendig — und berechnete, wie es nach diesen Veränderungen mit dem Stimmenverhältnis stand.
»Wie sieht es aus, Barak?«
»Also, wenn Haiti und Liberia dafür stimmen, und wenn Frankreich dazukommt und keiner mehr abspringt, dann können wir vielleicht so eben durchkommen.«
Wieder klopfte es an der Tür, und ihr Vorkämpfer im Streit, Granados von Guatemala, kam herein. Tränen standen ihm in den Augen: »Der Präsident von Chile hat seiner Delegation soeben persönlich die Anweisung übermittelt, sich der Stimme zu enthalten. Die Delegation ist aus Protest zurückgetreten.«
»Das ist doch nicht möglich!« rief Dr. Weizmann. »Der Präsident ist Ehrenvorsitzender der chilenischen Zionisten.«
Die krasse Realität, die völlige Hoffnungslosigkeit der Situation wurde ihnen niederschmetternd bewußt. Welcher Druck war auf den chilenischen Präsidenten ausgeübt worden? Und wer wußte, wo die Daumenschrauben in den nächsten vierundzwanzig Stunden angezogen würden?
FREITAG, DEN 29. NOVEMBER 1947.
Der Hammer ertönte. Die Sitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen war eröffnet.
»Wir werden die einzelnen Nationen namentlich aufrufen, wenn sie ihre Stimme zu der Resolution des Untersuchungsausschusses abgeben. Für die Annahme des Vorschlages zur Teilung Palästinas ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Delegierten wollen sich bitte darauf beschränken, ihre Stimme entweder dafür oder dagegen abzugeben oder aber sich der Stimme zu enthalten.«
In dem großen Raum entstand eine erwartungsvolle Stille, und der Vorsitzende begann, die einzelnen Länder aufzurufen.
»Afghanistan!«
»Afghanistan stimmt dagegen.«
Der Jischuw hatte die erste Stimme verloren. Barak notierte es auf seinem Block.
»Argentinien!«
»Die Regierung von Argentinien möchte sich der Stimme enthalten.«
»Wir müssen etwas gegen diese Stimmenthaltungen unternehmen«, flüsterte Barak. »Sie können uns das Genick brechen.«
»Australien.«
Alles beugte sich gespannt vor, als sich Evatt erhob, um als erster Vertreter einer Nation, die dem Britischen Commonwealth angehörte, seine Stimme abzugeben.
»Australien stimmt für die Teilung«, sagte Evatt.
Durch den Raum ging ein Summen. Überall wurden geflüsterte Vermutungen ausgetauscht. Weizmann beugte sich zu Barak und sagte ihm leise ins Ohr: »Halten Sie es für möglich, daß das die allgemeine Haltung der Commonwealth-Staaten sein könnte?« »Schwer zu sagen — wir werden es erleben.«
»Belgien.« »Belgien stimmt für die Teilung.«
Erneut erhob sich aufgeregtes Stimmengewirr in dem großen Sitzungssaal. Bei der Testabstimmung vor einigen Tagen hatte sich Belgien der Stimme enthalten. Doch Spaak hatte sich in letzter Minute über den Druck hinweggesetzt, den England auf Belgien auszuüben versucht hatte.
»Bolivien.«
»Bolivien stimmt für die Teilung.«
»Brasilien.«
»Brasilien befürwortet die Teilung.«
Die südamerikanischen Länder hielten zusammen. Der nächste Aufruf mußte eine Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung erbringen. Hatte die Sowjetunion ein doppeltes Spiel gespielt, so würde die Welt es jetzt erfahren, denn als nächster Staat war ein Satellitenstaat an der Reihe, Weißrußland.
»Belorußland.«
»Weißrußland stimmt für die Teilung.«
Alle Mitglieder der jüdischen Nation atmeten gleichzeitig erleichtert auf. Der slawische Block war auf ihrer Seite. Die Aussichten waren gut.
»Kanada.«
Lester Pearson erhob sich und verkündete mit fester Stimme: »Kanada stimmt für die Teilung.«
Das zweite Land des Commonwealth hatte sich in Gegensatz zu Großbritannien gestellt.
»Chile.«
Anstelle des Leiters der chilenischen Delegation, der aus Protest von seinem Posten zurückgetreten war, erhob sich einer der anderen Delegierten. »Chile wurde angewiesen, sich der Stimme zu enthalten«, sagte er langsam.
»China.«
China, das darauf ausging, die herrschende Macht in Asien zu werden, scheute sich, die Mohammedaner in Indien und in Pakistan zu brüskieren.
»China enthält sich der Stimme.«
Das war ein Rückschlag für den Jischuw.
»Costarica.«
Mit dem Delegierten von Costarica hatten sich die Araber in Verbindung gesetzt und versucht, ihm seine Stimme durch das Versprechen abzukaufen, ihm einen einflußreichen Posten bei der UNO zu verschaffen. Er erhob sich und richtete seinen Blick auf die ägyptische Delegation.
»Costarica stimmt für die Teilung«, sagte er.
Der Mann, der sich nicht kaufen lassen wollte, nahm lächelnd wieder Platz.
»Kuba.«
»Kuba stimmt gegen die Teilung.«
Das war für den Jischuw ein Schock, der völlig unerwartet kam. »Tschechoslowakei.«
»Die Tschechoslowakei stimmt für die Teilung«, sagte Jan Masaryk. »Dänemark.«
»Dafür.«
»Dominikanische Republik.«
»Die Republica Dominicana stimmt zugunsten der Teilung.« »Ägypten.«
»Ägypten ist dagegen, und wird sich an diese schandbare Verletzung seiner Rechte nicht gebunden fühlen!«
Der Vorsitzende klopfte mit dem Hammer, und nach dem wütenden Protest Ägyptens wurde es langsam wieder ruhig.
»Ekuador.«
»Ekuador stimmt für die Teilung.«
»Äthiopien.«
»Äthiopien — enthält sich der Stimme.«
Die Erklärung schlug wie eine Bombe ein! Die Gesichter sämtlicher arabischer Delegierten wandten sich voller Verblüffung dem Äthiopier zu. Der syrische Delegierte drohte ihm wütend mit der Faust.
»Frankreich.«
Die erste der vier Großmächte, das zögernde Frankreich, war an der Reihe. Parodi erhob sich langsam von seinem Sitz. Wenn sich Frankreich der Stimme enthielt, konnte sich das für den Jischuw verheerend auswirken. War es Leon Blum und der öffentlichen Meinung in Frankreich gelungen, sich durchzusetzen?
»Die Französische Republik stimmt für die Teilung«, sagte Parodi rnit einer Stimme, der Genugtuung anzuhören war.
Durch den Saal ging erwartungsvolles Gemurmel. Zum erstenmal wurden sich die Versammelten voller Erregung bewußt, daß sich tatsächlich ein Wunder ereignete.
»Guatemala.«
Granados, der entschiedenste Verfechter der Teilung, erhob sich.
»Dafür«, sagte er.
»Griechenland.«
»Griechenland stimmt gegen die Teilung.«
Im letzten Augenblick hatten die Griechen den Erpressungen Ägyptens nachgegeben.
»Haiti.«
Der Delegierte von Haiti, dessen Stimme von entscheidender Bedeutung war, war in den letzten beiden Tagen von seiner Regierung plötzlich ohne Instruktionen gelassen worden. »Die Regierung von Haiti hat ihrer Delegation soeben die Anweisung erteilt, ihre Stimme zugunsten der Teilung abzugeben.«
»Honduras.«
»Honduras möchte sich der Stimme enthalten.«
»Island.«
»Island stimmt für die Teilung.« Die älteste Republik der Welt hatte ihren Beitrag geleistet, um die jüngste Republik der Welt entstehen zu lassen.
»Indien.«
»Indien stimmt gegen die Teilung.«
»Iran.«
»Dagegen.«
»Irak.«
»Irak stimmt gegen die Teilung Palästinas; wir werden die Juden nie und nimmer anerkennen! Sollte die Vollversammlung der Teilung zustimmen, so wird der heutige Tag blutige Folgen haben. Wir stimmen dagegen!«
»Libanon.«
»Libanon stimmt gegen die Teilung«, sagte Malik.
»Wie steht es?« fragte Dr. Weizmann.
»Fünfzehn Stimmen dafür«, sagte Barak, »acht dagegen, und sieben Stimmenthaltungen.«
Es war nicht sonderlich ermutigend. Bisher fehlte den Juden eine Stimme zu der Zweidrittelmehrheit, und die verheerenden Stimmenthaltungen nahmen weiter zu.
»Wie beurteilen Sie die Lage, Barak?«
»Das werden wir wissen, wenn die nächsten drei südamerikanischen Länder ihre Stimme abgegeben haben.«
»Ich finde, wir müßten langsam einen Vorsprung gewinnen. Annähernd die Hälfte der vertretenen Nationen hat bereits ihre Stimme abgegeben, und wir liegen noch keineswegs entschieden vorn im Rennen«, sagte Weizmann.
»Liberia.«
»Liberia stimmt für die Teilung.«
»Luxemburg.«
Ein anderes kleines Land, das wirtschaftliche Schwierigkeiten hatte und in der britischen Einflußsphäre lag.
»Luxemburg stimmt für die Teilung.«
Wieder einmal bekamen die Engländer eine offene Abfuhr erteilt. Der Jischuw hatte jetzt eine Stimme über die erforderliche Zweidrittelmehrheit hinaus erreicht.
»Mexiko.«
»Mexiko enthält sich der Stimme.«
Alle Angehörigen der Jischuw-Delegation zuckten zusammen. »Niederlande.«
»Die Niederlande stimmen für die Teilung.«
»Neuseeland.«
»Dafür.«
»Nikaragua.«
»Dafür.«
»Norwegen.«
»Dafür.«
»Pakistan.«
»Pakistan stimmt gegen die Teilung.«
Die nächsten Stimmen mußten die Entscheidung bringen.
»Wenn wir die nächsten vier Stimmen für uns bekommer, dann glaube ich, daß wir es geschafft haben«, sagte Barak mit einer Stimme, die vor Aufregung unsicher war.
»Panama.«
»Dafür.«
»Paraguay.«
»Paraguay hat soeben Anweisung erhalten, sich nicht der Stimme zu enthalten — Paraguay stimmt für die Teilung.«
»Peru.«
»Peru befürwortet die Teilung.«
»Philippinen.«
Für einen atemlosen Augenblick stand die Welt still. Romulo war von Flushing Meadow abberufen worden. Der Delegierte, der an seiner Stelle die Philippinen vertrat, erhob sich.
»Die Philippinen stimmen für die Teilung.«
Lautes, aufgeregtes Stimmengewirr! Die Mitglieder der jüdischen Delegation sahen sich fassungslos an.
»Mein Gott«, sagte Barak. »Ich glaube, wir haben es geschafft.« »Polen.«
»Polen stimmt für die Teilung.«
Die Juden begannen, Vorsprung zu gewinnen. Polen hatte für die Jahre der Verfolgung hilfloser Juden eine kleine Entschädigung geleistet.
»Siam.«
Siam war nicht vertreten.
»Saudi-Arabien.«
Der Araber im weißen Gewande erklärte mit lauter, haßerfüllter Stimme, daß sein Land gegen die Teilung sei.
»Schweden.«
»Schweden stimmt für die Teilung.«
Jetzt ging es in die letzte Runde, und die Araber standen mit dem Rücken gegen die Wand.
»Syrien.«
»Dagegen!«
»Türkei.«
»Die Türkei stimmt gegen die Teilung.«
Barak machte einen raschen Überschlag. Die Araber hatten noch immer eine kleine Chance. Sie hatten bisher zwölf Stimmen, und eine weitere Stimme war ihnen sicher. Sollte in letzter Minute ein Stellungswechsel erfolgen, konnte alles in Frage gestellt sein. »Ukraine.«
»Dafür.«
»Südafrikanische Union.«
»Dafür.«
»UdSSR.«
Wyschinski erhob sich. »Die Sowjetunion stimmt für die Teilung.« »Großbritannien.«
Es wurde still im Raum. Der britische Delegierte stand auf, aschfahl im Gesicht, und sah sich um. In diesem unbehaglich kritischen Augenblick stand er allein. Die Länder des Commonwealth hatten England im Stich gelassen. Frankreich war abgesprungen, die Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls.
»Die Regierung Seiner Majestät wünscht sich der Stimme zu enthalten«, sagte der Engländer mit stockender Stimme.
»Die Vereinigten Staaten von Amerika.«
»Die Vereinigten Staaten stimmen für die Teilung.«
Es war entschieden. Die Berichterstatter stürzten in die Telefonzellen, nachdem die letzte Stimme gefallen war, um diese neueste Nachricht in Blitzgesprächen der ganzen Welt mitzuteilen. In Tel Aviv brach ungeheurer Jubel aus.
Doch die Männer, die in Flushing Meadow diesen Kampf durchgekämpft und gewonnen hatten, die erlebt hatten, wie das Wunder Wirklichkeit geworden war, waren Realisten. Auch die Juden in Tel Aviv feierten das Ereignis nur für einen kurzen Augenblick. Ben Gurion und die führenden Männer des Jischuw waren sich darüber klar, daß sich ein noch größeres Wunder ereignen mußte, wenn ein unabhängiger jüdischer Staat Wirklichkeit werden sollte. Tönte doch gleichzeitig aus Millionen arabischer Kehlen der donnernde Ruf: »Juda, verrecke!«
II.
KUWATLY, PRÄSIDENT VON SYRIEN: Wir leben und sterben mit Palästina!
AL KULTA-ZEITUNG, KAIRO: Fünfhunderttausend Iraker rüsten sich für diesen heiligen Krieg gegen die Zionisten. Hundertfünfzigtausend Syrer werden in einer reißenden Welle über die Grenzen von Palästina stürmen, und die mächtige ägyptische Armee wird die Juden in das Meer werfen, wenn sie es wagen sollten, einen unabhängigen jüdischen Staat auszurufen.
JAMIL MARDAM, SYRISCHER PREMIERMINISTER: Der Reden sind genug gewechselt, meine mohammedanischen Brüder. Erhebt euch zur Austilgung dieser zionistischen Plage!
IBN SAUD, KÖNIG VON SAUDI-ARABIEN: Es gibt fünfzig Millionen Araber. Was macht es schon, wenn wir zehn Millionen verlieren, um alle Juden umzubringen? Der Preis lohnt den Einsatz. SELEH HARB PASCHA, FÜHRER DER MOHAMMEDANISCHEN JUGEND: Zieht das Schwert aus der Scheide gegen die Juden! Tod allen Juden! Der Sieg ist unser! SCHEICH HASSAN AL BANNAH, FÜHRER DER MOHAMMEDANISCHEN BRÜDERSCHAFT: Alle Araber sollen sich zur Vernichtung der Juden erheben! Wir wollen das Meer mit ihren Leichen anfüllen.
AKRAM YAUYTAR, SPRECHER DES MUFTI: Fünfzig Millionen Araber werden bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. HADSCH AMIN EL HUSSEINI, MUFTI VON JERUSALEM: Ich erkläre einen heiligen Krieg, meine mohammedanischen Brüder! Tötet die Juden! Bringt sie alle um.
AZZAM PASCHA, GENERALSEKRETÄR DER ARABISCHEN LIGA: Dieser Krieg wird ein Vernichtungskrieg sein, ein Massaker, von dem man in Zukunft reden wird wie von dem Massaker der Mongolen.
Andere führende Araber, die arabische Presse und der arabische Rundfunk antworteten in ähnlicher Weise auf die von der Vollversammlung der UNO beschlossene Teilung Palästinas.
Am 1. Dezember 1947, einen Tag nach der Beschlußfassung durch die UNO, rief Dr. Khalidi vom Großarabischen Aktionsausschuß in Palästina zu einem Generalstreik auf, bei dem der fanatisierte Mob zu wilden Ausschreitungen überging. Die Araber drangen in das jüdische Geschäftszentrum in Jerusalem ein, plünderten Läden und steckten Gebäude an, während die englischen Truppen untätig zusahen.
In Aleppo, in Aden und in allen Teilen der arabischen Welt drangen aufgehetzte Volksmengen in die jüdischen Ghetto-Quartiere ein, um die Männer umzubringen, die Frauen zu vergewaltigen und die Läden nach Herzenslust zu plündern.
Anstatt eine internationale Polizeitruppe aufzustellen, beschränkte sich die UNO darauf, Ausschüsse zu bilden und endlose Reden zu halten. Man schien sich dort einreden zu wollen, daß die Teilung Palästinas erzwungen werden könnte, ohne daß es dazu eines einzigen Gewehres bedurfte.
Die Juden waren realistischer. Zwar hatte man eine unwiderrufliche völkerrechtliche Grundlage für einen jüdischen Nationalstaat erreicht; wenn die Juden aber die Absicht haben sollten, nach Abzug der Engländer einen unabhängigen jüdischen Staat auszurufen, standen sie den arabischen Horden allein gegenüber.
Konnte eine halbe Million ungenügend bewaffneter Leute hoffen, der hereinbrechenden Flut von fünfzig Millionen verhetzter und haßerfüllter Araber standzuhalten? Dabei hatten es die Juden nicht nur mit den Arabern Palästinas zu tun, die sie von allen Seiten und auf hundert Fronten bedrängten, sondern außerdem auch noch mit den regulären Armeen der anderen arabischen Nationen. Chaim Weizmann machte sich an die Arbeit, um die zionistischen Gruppen in den einzelnen Ländern zu veranlassen, Gelder für den Ankauf von Waffen aufzubringen.
Barak ben Kanaan blieb in Lake Success, um als Führer der Jischuw-Delegation die Einzelheiten der Teilung Palästinas durchzukämpfen und um zu versuchen, Waffen aufzutreiben.
Die große Frage war: Erklärten die Juden ihre Unabhängigkeit?
Die Araber hatten keine Lust, bis zum Mai zu warten, um es zu erfahren. Sie hielten ihre regulären Armeen zwar noch zurück, doch sie gingen daran, mehrere »Befreiungsarmeen« aufzustellen, die angeblich aus Freiwilligen bestanden, und sie brachten den Arabern in Palästina bergeweise Waffen.
Hadsch Amin el Husseini, der alte Kollaborateur der Nazis, wurde erneut aktiv. Er errichtete sein Hauptquartier in Damaskus. Die erforderlichen Geldmittel für die »Palästina-Freiwilligen« wurden von den Arabern im ganzen Nahen Osten erpreßt. Kawuky, der alte Brigant, der in den Aufständen der Jahre 1936-39 für den Mufti tätig gewesen war, wurde erneut sein »Generalissimus«.
Kawukys Agenten begaben sich in die Slums von Damaskus, Beirut und Bagdad und musterten hier den Abschaum der Menschheit: Diebe, Mörder, Straßenräuber, Rauschgiftschmuggler, Mädchenhändler. Der neuen Streitmacht gab Kawuky in Erinnerung an eine Schlacht, die die Araber vor Jahrhunderten gewonnen hatten, den romantischen Namen »Yarmuk-Truppen«. Diese »Freiwilligen« wurden von anderen »Freiwilligen«, Offizieren der syrischen Armee, ausgebildet. Bald begannen Kawukys Streitkräfte über die libanesische, syrische und transjordanische Grenze nach Palästina einzusickern und sich in arabischen Dörfern zu sammeln. Das entscheidende Aufmarschgebiet war das nördlich von Jerusalem in einem vorwiegend von Arabern bewohnten Gebiet von Samaria gelegene Nablus.
Bei den Juden bestand nach wie vor empfindlicher Mangel an Waffen. Die Engländer blockierten auch weiterhin die Küste von Palästina und lehnten es ab, Juden aus dem Internierungslager in Zypern, wo sie von Abgesandten der Aliyah Bet in aller Eile militärisch ausgebildet wurden, nach Palästina hereinzulassen. Abgesandte des Jischuw bereisten die ganze Welt und suchten verzweifelt Waffen zu kaufen.
In diesem Augenblick kam ein harter Schlag: als »Bannstrahl« nach beiden Richtungen verhängten die Vereinigten Staaten ein Embargo für Waffenlieferungen nach dem Nahen Osten. Dieses Embargo, das an den gegen Spanien während des Kampfes gegen Hitler und Mussolini verhängten Boykott erinnerte, wirkte sich in der Praxis ausschließlich zugunsten der Araber aus, die so viel Waffen herbeischaffen konnten, wie sie nur wollten.
Nachdem die Fronten klar waren, sah sich der Jischuw-Zentralrat der harten Tatsache gegenüber, daß den Juden nur der Palmach zur Verfügung stand, der über rund viertausend voll ausgebildete und bewaffnete Soldaten verfügte. Die Makkabäer vermochten nur tausend Mann auf die Beine zu stellen, und mit ihrer Mitarbeit war nur begrenzt zu rechnen.
Ein paar Dinge gab es, die sich günstig für Avidan, den Führer der Hagana, auswirkten. In der Hagana gab es mehrere tausend Mann, die als Angehörige des britischen Heeres im zweiten Weltkrieg Fronterfahrung gesammelt hatten. Außerdem besaß er die Verteidigungsstellungen der Siedlungen, die seit zwanzig Jahren ausgebaut worden waren, und er verfügte auch über einen guten Geheimdienst. Dem stand gegenüber, daß die Araber zahlenmäßig und, was ihre Ausrüstung anbelangte, sogar haushoch überlegen waren. Diese Überlegenheit nahm täglich durch das beständige Einsickern der blutgierigen Truppen Kawukys zu. Schließlich besaßen die Araber in Abdul Kader, einem Neffen des Mufti, einen hervorragenden militärischen Führer.
Zu alldem kam als weiterer erschwerender Faktor noch die Haltung der Engländer hinzu. Whitehall hoffte, daß der Jischuw um Hilfe rufen, die Idee der Teilung Palästinas fallen lassen und die Engländer bitten würde, im Lande zu bleiben. Doch die Juden waren nicht gewillt, um Hilfe zu bitten.
Theoretisch waren die Engländer verpflichtet, bei der allmählichen Räumung des Landes die Teggart-Forts derjenigen der beiden Seiten zu übergeben, die in dem jeweiligen Gebiet die Bevölkerungsmehrheit besaß. Doch die britischen Kommandeure übergaben diese Schlüsselstellungen häufig den Arabern, auch wenn sie sie rechtmäßig den Juden hätten übergeben sollen.
In den Reihen der Yarmuk-Truppen und anderer »Freikorps« tauchten ehemalige Soldaten der Nazis auf. Zum erstenmal seit ihrer Gründung trat die Hagana aus ihrer Tarnung und Zurückhaltung heraus, als die Juden zur allgemeinen Mobilmachung aufriefen.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Schüsse fielen. Im Hule-Tal eröffneten Einwohner arabischer Dörfer, zusammen mit Angehörigen der irregulären Truppen, das Feuer auf die Genossenschafts-Siedlungen Ejn Zeitim, Biriya und Ami Ad. Doch diese Angriffe waren nicht viel mehr als Schüsse aus dem Hinterhalt und wurden abgewiesen.
Die kriegerische Aktivität nahm von Tag zu Tag zu. Auf den Straßen kam es beständig zu Überfällen auf jüdische Transportfahrzeuge, so daß der Güterverkehr, der für den Jischuw von so vitaler Bedeutung war, in Gefahr geriet.
Innerhalb der Städte war die feindliche Aktivität noch intensiver. In Jerusalem flogen beständig Sprengstücke detonierender Bomben durch die Luft. Die Araber schossen von den heiligen Mauern der Altstadt; das Stadtgebiet war in einzelne Gefechtszonen aufgeteilt, und die Verbindung zwischen den verschiedenen Stadtteilen konnte nur unter Lebensgefahr aufrechterhalten werden. Auf den Straßen zwischen Tel Aviv und Jaffa wurden Barrikaden errichtet.
In Haifa kam es zu den bisher schwersten Unruhen. Als Antwort auf einen von den Makkabäern inszenierten Überfall stürmten Araber die Ölraffinerie, in der Juden und Araber arbeiteten, und töteten mehr als fünfzig Juden.
Abdul Kader organisierte seine Araber in anderem Stil als Kawuky. Er arbeitete in der Umgebung von Jerusalem und begriff sehr schnell, daß weder die palästinischen Araber noch die Irregulären hinreichend organisiert und militärisch ausgebildet waren, um verlustreiche Angriffe ausführen zu können, während die Juden an ihren Siedlungen festhielten und sie, selbst unter empfindlichsten Blutopfern, nicht preisgeben würden. Er mußte daher versuchen, schnelle Siege zu erringen, um seine Leute zu ermutigen. Er entschied sich für eine doppelte Taktik: Isolierung und Aushungerung jüdischer Siedlungen, und Überfälle auf jüdische Transporte.
Kaders Strategie erwies sich als richtig. Die Araber hatten Bewegungsfreiheit, während die Juden gezwungen waren, ihre engbegrenzten Stellungen zu halten. Tag für Tag wuchs die Zahl der jüdischen Siedlungen, die von den Arabern belagert wurden.
Abdul Kader konzentrierte seine kriegerischen Bemühungen auf die Stadt Jerusalem. Die Straße von Tel Aviv nach Jerusalem führte über die gefährlichen Hügel von Judäa und war mit arabischen Dörfern bespickt, die mehrere entscheidende Höhenstellungen beherrschten. Kader wollte gern die hunderttausend Juden der Neustadt von Jerusalem abschneiden und aushungern. Damit konnte er dem Jischuw einen lebensgefährlichen Schlag versetzen.
Die Juden setzten sich dagegen zur Wehr, indem sie behelfsmäßige Panzerwagen zur Sicherung größerer Wagenkolonnen einsetzten. Doch diese Geleitzüge waren verwundbar, und mit der Zeit war die Straße nach Jerusalem voll von zusammengeschossenen Fahrzeugen. In Jerusalem wurden die Lebensmittel knapp, die Menschen mußten in gepanzerten Autobussen durch die Stadt fahren, und die Kinder spielten auf der Straße in Reichweite der Gewehre der Heckenschützen.
Abdul Kader konnte in Ruhe den Winter abwarten. Während seine Stärke fast täglich durch das Einsickern von Irregulären und anhaltende Waffenlieferungen zunahm, war für die in Jerusalem belagerten Juden kein Anzeichen einer Hilfe von außen in Sicht. Kader wollte dann im Frühjahr ohne große Verluste die ausgehungerten und durch die Blockade von der Umwelt abgeschnittenen Siedlungen nacheinander erobern.
Die im Namen der Menschlichkeit an die Engländer gerichteten Appelle, durch Patrouillentätigkeit auf der Straße von Jerusalem nach Tel Aviv die Aushungerung der Zivilbevölkerung zu verhindern, verhallten ungehört.
Durch die rasche Aktion der Araber unter der Führung eines fähigen Militärs geriet der Jischuw gleich zu Beginn des Krieges in einen schweren Nachteil. Die Hagana ordnete an, aus jedem Kibbuz und jedem Moschaw ein Miniatur-Tobruk zu machen. Die Juden hatten ihr Land mit Blut erkauft; wenn die Araber es ihnen nehmen wollten, so sollten sie auch mit Blut dafür zu zahlen haben.
Die Straßenkämpfe eröffneten die erste Phase des Krieges. Die Entscheidung, ob die Juden einen unabhängigen Staat ausrufen würden oder nicht, hing noch immer in der Schwebe.
Ari ben Kanaan erholte sich nur langsam von seiner Verwundung. Für Avidan, der Ari gern als Kommandeur einer der drei Palmach-Brigaden eingesetzt hätte, bedeutete das ein schwieriges Problem. Diese Brigaden waren die Chanita-Brigade — »die Lanzenspitze« — in Galiläa, die zweite Brigade in den Hügeln von Judäa, und die dritte — »die Wüstenratten« — im Süden.
Die Offiziere des Palmach, vom Brigadekommandeur abwärts, waren junge Männer. Viele unter ihnen waren halsstarrige Bursehen, die sich als Angehörige einer Elitetruppe betrachteten. Der Palmach rekrutierte sich im wesentlichen aus jungen Männern und Frauen aus den Kibbuzim. Diese jungen Leute waren auch als Soldaten Pioniersiedler geblieben, befanden sich politisch häufig im Gegensatz zum Jischuw-Zentralrat und respektierten auch keineswegs immer die Autorität der Hagana.
Ari ben Kanaan besaß eine für sein Alter große Reife. Er begriff, daß es notwendig war, sich einer einheitlichen Strategie unterzuordnen und Befehle auszuführen, statt einen Privatkrieg zu führen. Deshalb hätte ihn Avidan gern als Palmach-Kommandeur verwendet, doch Ari war dazu einfach noch nicht wieder kräftig genug.
Avidan setzte Ari daher als Gebietskommandeur der Hagana an einem der wichtigsten Punkte von Palästina, im Hule-Tal, ein. Sein Kommandobereich, zu dem auch Safed gehörte, begann am nördlichen Rande des Tiberias-Sees und endete im Hule-Tal in einem schmalen Landstreifen, der sich wie ein Finger zwischen die libanesische und die syrische Grenze schob. Etwas weiter südlich, am Yarmukfluß, grenzte er an einen dritten arabischen Staat, an Transjordanien.
Aris Gebiet war eine der Hauptstellen für die Einsickerung der irregulären Truppen Kawukys. Wenn es zum Krieg kam und die regulären arabischen Armeen eine Invasion in Palästina unternehmen sollten, war das Hule-Tal zweifellos eines ihrer ersten Angriffsziele. Die Araber würden versuchen, ihre aus mehreren Richtungen vorstoßenden Streitkräfte hier zu vereinigen, und wenn es ihnen gelingen sollte, das Hule-Gebiet zu erobern, so würden sie es als Ausgangsbasis benutzen, um von hier aus ganz Galiläa zu erobern und den jüdischen Gegner in zwei getrennte Hälften zu zerteilen, indem sie zwischen Haifa und Tel Aviv einen Keil bis zum Meer vortrieben.
Es gab in Aris Gebiet ein Dutzend oder mehr alter Kibbuzim und einige Moschawim, darunter seinen Heimatort Yad El. In allen diesen Siedlungen waren die zähen Pioniere und Farmer durchaus in der Lage, mit den Palästina-Arabern und den eingesickerten Irregulären fertigzuwerden. Unten im Tal lagen die Siedlungen so nahe wie Maulwurfshügel beieinander, so daß es für die Araber schwierig war, sich ihrer gewohnten Taktik der Isolierung und Belagerung hier zu bedienen.
Ein weiteres Problem waren die Berge an der libanesischen Grenze. Hier bildete Fort Esther die Schlüsselstellung. Entsprechend einer Vereinbarung mit den Engländern sollte Fort Esther beim Abzug der britischen Truppen an Ari übergeben werden, da das Hule-Gebiet vorwiegend von Juden bewohnt war. Wenn sich Fort Esther in der Hand der Hagana befand, hatte Ari eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Grenze zu kontrollieren.
Aris Hauptquartier befand sich in dem zentral gelegenen Kibbuz Ein Or — »Quelle des Lichts« — an dessen Gründung sein Onkel Akiba beteiligt gewesen war. Ari unterstanden ein paar hundert Mann von der Palmach-Brigade Chanita; David, Seew Gilboa und Joab Yarkoni waren seine Adjutanten. Die Stärke der Hagana war in allen Siedlungen seines Gebietes beachtlich; die Beteiligung war vollständig, und die Leute waren gut ausgebildet.
Aber genau wie allen übrigen Juden in Palästina machte ihm der Mangel an Waffen zu schaffen. Tag für Tag lagen ihm die Hagana-Führer der Siedlungen in den Ohren und wollten Gewehre haben. Er hatte keine und Avidan hatte auch keine.
Es gab zwei ausgesprochen schwache Stellen in Aris Gebiet: Gan Dafna und Safed. Gan Dafna glaubte Ari schützen zu können, wenn erst einmal Fort Esther in seiner Hand war. Solange die Straße nach Gan Dafna durch Abu Yesha offenblieb, bestand für das Jugenddorf keine Gefahr.
Safed dagegen machte ihm ernstlich Kopfschmerzen. Kein anderer Gebietskommandeur in Palästina hatte ein so schwieriges Problem zu lösen. Als sich die Juden entschlossen, um jeden Preis alle Siedlungen zu halten, nahm man dabei einige Orte aus, die man als »unhaltbar« betrachtete. Eine dieser Ausnahmen war Safed. Die Stadt war eine Insel in einem Meer von vierzigtausend Arabern, die in den Dörfern rings um Safed wohnten. In der Stadt selbst lebten zwölfmal mehr Araber als Juden. Die meisten Juden von Safed waren Kabbalisten, aus denen man beim besten Willen keine Soldaten machen konnte. Alles in allem verfügte die Hagana in Safed über zweihundert einigermaßen brauchbare Leute, denen mehr als zweitausend Araber und Irreguläre gegenüber standen.
Der Mufti hatte Safed als eines seiner ersten Angriffsziele gewählt. Mehrere hundert schwerbewaffnete Angehörige der irregulären arabischen Streitkräfte warteten nur auf den Abzug der Engländer. Es schien so offensichtlich, daß Safed nicht zu verteidigen war, daß die Engländer Ari sogar gebeten hatten, ihnen zu erlauben, die Juden zu evakuieren.
Remez, Hotelbesitzer und Führer der Hagana in Safed, ging vor dem Schreibtisch auf und ab. Sutherland saß ruhig in einer Ecke und rauchte eine Zigarre. »Nun?« fragte Ari schließlich. Remez blieb stehen und stützte sich mit den Händen auf den Schreibtisch. »Wir haben uns entschlossen, in Safed zu bleiben. Wir wollen es bis zum letzten Mann verteidigen.«
»Freut mich.«
»Nur, Ari, gebt uns mehr Waffen.«
Ari sprang wütend auf. Zwanzigmal an jedem Tag hörte er dieses »Gebt uns mehr Waffen«.
»Sutherland, beten Sie zu Christus, Sie, Remez, beten zu Konfuzius, und ich werde zu Allah beten. Vielleicht regnet es dann Gewehre, wie es einst Manna vom Himmel geregnet hat.«
»Haben Sie eigentlich Vertrauen zu Major Hawks?« fragte Sutherland. Hawks war der britische Gebietskommandeur.
»Er hat sich immer als ein guter Freund erwiesen«, sagte Ari.
»Na schön«, sagte Sutherland, »dann sollten Sie vielleicht doch lieber auf ihn hören. Er garantiert Ihnen den Schutz der Engländer, wenn Sie Safed evakuieren. Wenn nicht, garantiert er, daß es nach dem Abzug seiner Truppen ein Massaker geben wird.«
Ari stieß hörbar die Luft aus. »Hat Hawks gesagt, wann er weggeht?«
»Nein, er weiß es noch nicht.«
»Solange Hawks in Safed bleibt, sind wir relativ sicher. Die Araber werden nicht allzuviel riskieren, wenn er noch da ist. Vielleicht ergibt sich eine Wendung zum Besseren, bevor er mit seinen Truppen abzieht.«
»Es mag sein, daß Hawks das Herz am richtigen Fleck hat, aber er kann auch nicht immer, wie er will«, sagte Sutherland.
»Die Araber haben schon damit angefangen, aus dem Hinterhalt auf uns zu schießen und unsere Transportkolonnen anzugreifen«, sagte Remez.
»Na und? Ihr werdet doch nicht gleich beim ersten Schuß davonlaufen?«
»Ari«, entrüstete sich Remez, »ich bin in Safed geboren. Dort habe ich mein ganzes Leben verbracht. Noch heute erinnere ich mich an den Gesang, der 1929 aus den arabischen Vierteln zu uns herübertönte. Niemand wußte, was er zu bedeuten hatte, bis der aufgeputschte Mob auf einmal in unsere Häuser eindrang. Sie waren unsere Freunde gewesen, aber sie waren verrückt geworden. Ich sehe noch die armseligen Kabbalisten vor mir, die man auf die Straße zerrte und ihnen den Kopf abschnitt. Damals war ich noch ein Kind. Und dann haben wir sie 1936 wieder singen gehört, aber damals wußten wir schon, was dieser Gesang zu bedeuten hatte. Jahrelang sind wir in die alte türkische Festung gelaufen, um uns zu verkriechen, wenn wir aus dem arabischen Sektor nur ein verdächtiges Geräusch hörten. Aber diesmal bleiben wir, wo wir sind. Diesmal werden wir nicht davonlaufen, sondern kämpfen. Diesmal werden es die Araber nicht leicht haben, das kannst du mir glauben, Ari. Aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Zu viel dürft ihr von uns auch nicht verlangen.«
Ari bedauerte, so scharf zu Remez gesprochen zu haben. Der Entschluß, in Safed zu bleiben, erforderte wirklich ungeheuren Mut.
»Gehen Sie jetzt wieder zurück, Remez, versuchen Sie, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie können sich darauf verlassen, daß Major Hawks dafür sorgen wird, daß die Araber es nicht allzu arg treiben. Inzwischen werde ich Sie bevorzugt mit allem beliefern, was ich bekomme.«
Als Remez und Sutherland gegangen waren, setzte sich Ari an seinen Schreibtisch und biß die Zähne aufeinander. Was konnte er schon tun? Vielleicht konnte er fünfzig Mann vom Palmach nach Safed schicken, wenn die Engländer abzogen. Das war wenig, aber besser als nichts. Was konnte man überhaupt tun? Es gab an die zweihundert Safeds in Palästina. Fünfzig Mann hier, zehn Mann da. Wenn es Kawuky, Safwat und Kader klar wurde, wie verzweifelt die jüdische Situation war, dann würden sie überall in Palästina frontal angreifen. Die Juden hatten einfach nicht genügend Munition, um anhaltende und entschlossene Angriffe abzuwehren. Ari machte sich heftige Sorgen, was geschehen werde, wenn die Araber erst einmal festgestellt hatten, wie mager die Ausrüstung der Juden war.
David ben Ami, der eine Inspektionsreise durch die nördlichsten Siedlungen gemacht hatte, kam herein.
»Schalom, Ari«, sagte David. »Ich traf Remez und Sutherland auf der Straße. Remez sah ein bißchen grün um die Nase aus.«
»Er hat auch allen Grund dazu. Nun, hast du irgend etwas Interessantes festgestellt?«
»Die Araber haben begonnen, aus dem Hinterhalt auf Kfar Gileadi und Metulla zu schießen. Kfar Szold befürchtet, daß die Syrer irgend etwas im Schilde führen könnten. Alle haben sie sich eingegraben und sind in Stellung gegangen, überall sind die Verteidigungsanlagen rings um die Kinderheime ausgebaut. Und alle wollen Waffen haben.«
»Waffen! Hast du sonst nichts Neues zu berichten? Wo sitzen diese Helden, die aus weiter Entfernung auf unsere Siedlungen schießen?« »In Ata.«
»Ach, das liebe alte Ata«, sagte Ari. »Wenn die Engländer hier abziehen, wird das mein erstes Angriffsziel sein. Als ich ein Junge war, haben sie versucht, mich zu verprügeln, wenn ich hinkam, um in der Mühle unser Korn mahlen zu lassen. Seitdem haben sie dauernd nach einer Gelegenheit gesucht, sich mit mir anzulegen. Ich vermute, daß die Hälfte der Leute von Kawuky bei Ata herüberkommt.«
»Oder bei Abu Yesha«, sagte David.
Ari machte ein böses Gesicht. David wußte, daß er einen wunden Punkt berührt hatte.
»Ich habe zuverlässige Freunde in Abu Yesha«, sagte Ari.
»Dann werden sie dir ja sicher erzählt haben, daß die Irregulären dort einsickern.«
Ari sagte nichts.
»Ich weiß, Ari, wie nahe dir diese Leute stehen. Aber du mußt hingehen und dem Muktar den Standpunkt klarmachen.«
Ari stand auf und ging ans Fenster. »Ich werde mit Taha reden.« David nahm die letzten Meldungen, die auf Aris Schreibtisch lagen, überflog sie rasch und legte sie wieder hin. Er kam zu Ari heran, blieb neben ihm stehen und sah zum Fenster hinaus gen Jerusalem. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck tiefer Trauer.
Ari schlug ihm auf die Schulter. »Es wird schon werden.«
David schüttelte langsam den Kopf. »Die Lage in Jerusalem wird allmählich verzweifelt«, sagte er mit tonloser Stimme. »Die Transportkolonnen haben es immer schwerer, durchzukommen. Wenn es so bleibt, dann haben wir in einigen Wochen eine Hungersnot.«
Ari wußte, wie sehr David die Belagerung seiner geliebten Stadt ans Herz ging. »Du möchtest gern nach Jerusalem, nicht wahr?«
»Ja«, sagte David, »aber ich möchte dich nicht im Stich lassen.« »Wenn dein Wunsch so stark ist, werde ich dich selbstverständlich nach Jerusalem abkommandieren.«
»Danke, Ari. Aber wird dir das möglich sein?«
»Sicher — sobald dieses verdammte Bein aufhört, wehzutun. Versteh mich recht, David — ich lasse dich nicht gern weg.«
»Ich bleibe hier, bis dein Bein wieder in Ordnung ist.«
»Danke. Übrigens, wann warst du das letztemal bei Jordana?«
»Das ist schon ein paar Wochen her.«
»Warum gehst du dann nicht morgen nach Gan Dafna, um die Verteidigungsanlagen zu inspizieren? Bleib ein paar Tage dort und sieh dir alles gründlich an.«
David lächelte. »Du hast eine sehr nette Art, einen zu etwas zu überreden.«
Es klopfte an der Tür zu Kittys Büro.
»Herein«, sagte sie.
Jordana bat Kanaan trat ein. »Ich hätte gern etwas mit Ihnen besprechen, Mrs. Fremont, falls Sie einen Augenblick Zeit haben.« »Bitte.«
»David ben Ami wird heute vormittag hierherkommen und die Verteidigungsanlagen inspizieren. Wir wollen anschließend eine Besprechung aller Angehörigen des Stabes durchführen.«
»Ich werde erscheinen«, sagte Kitty.
»Mrs. Fremont — ich wollte gern vorher mit Ihnen sprechen. Sie wissen ja, daß ich hier der militärische Befehlshaber bin, und Sie und ich werden in Zukunft eng zusammenarbeiten müssen. Ich möchte Ihnen gern sagen, daß ich volles Vertrauen zu Ihnen habe. Ich betrachte es sogar als einen ausgesprochenen Vorteil für Gan Dafna, daß Sie hier sind.«
Kitty sah Jordana erstaunt und neugierig an.
»Ich glaube«, fuhr Jordana fort, »daß es für die Moral unserer Gemeinschaft gut wäre, wenn wir unsere persönlichen Gefühle beiseite legten.«
»Ich glaube, da haben Sie recht.«
»Gut. Ich freue mich, daß wir uns in diesem Punkte einig sind.« »Sagen Sie bitte, Jordana — wie sieht es eigentlich mit unserer Lage hier aus?«
»Eine unmittelbare Gefahr besteht für Gan Dafna kaum. Natürlich wird es für uns alle eine wesentliche Beruhigung sein, wenn Fort Esther an die Hagana übergeben wird.«
»Aber nehmen wir einmal an, es geht irgend etwas schief und die Araber bekommen Fort Esther. Was dann? Und — nehmen wir einmal an, die Straße durch Abu Yesha wird gesperrt.«
»Dann werden die Aussichten sehr unangenehm.«
Kitty stand auf und ging langsam durch den Raum. »Bitte verstehen Sie mich recht. Ich möchte mich nicht in militärische Dinge einmischen, aber wenn man die Sache realistisch betrachtet — könnte es doch sein, daß wir hier belagert werden.«
»Diese Möglichkeit besteht«, sagte Jordana.
»Wir haben hier viele Babys. Könnten wir diese Babys und einige der kleineren Kinder nicht evakuieren?«
»Wohin sollten wir sie evakuieren?«
»Das weiß ich nicht. In eine Siedlung, die sicherer ist.«
»Ich weiß es auch nicht, Mrs. Fremont. Palästina ist weniger als fünfzig Meilen breit. Es gibt keine Siedlung, die ,sicher' wäre. Mit jedem Tag fallen weitere Siedlungen unter Belagerungszustand.« »Dann könnten wir sie vielleicht in eine Stadt bringen.«
»Jerusalem ist fast gänzlich abgeschnitten. In Haifa und zwischen Tel Aviv und Jaffa sind die Kämpfe erbitterter als irgendwo sonst in Palästina.«
»Dann gibt es also keinen Ort, an den man die Kinder bringen könnte?«
Jordana antwortete nicht. Sie brauchte nicht zu antworten.
III.
Weihnachtsabend. Weihnachten 1947. Die Erde war schlammig und die Luft war frisch und kalt. Kitty ging rasch über den Rasen auf ihre Hütte zu. Ihr Atem bildete kleine Wolken in der Luft.
»Schalom, Giweret Kitty«, rief Dr. Liebermann.
»Schalom, Doktor.« Sie lief rasch die Stufen hinauf und ins Haus, wo es warm war und Karen mit einem heißen Tee auf sie wartete.
»Brrr«, sagte Kitty, »es ist kalt draußen.«
Der Raum war festlich. Karen hatte ihn phantasievoll mit Tannenzapfen und mit bunten Bändern ausgeschmückt. Man hatte ihr sogar erlaubt, einen der sorgsam gehüteten kleinen Bäume zu schlagen, den sie mit bunten Papierketten dekoriert hatte.
Kitty setzte sich auf das Bett, streifte ihre Schuhe ab und zog pelzgefütterte Hausschuhe an. Der Tee schmeckte wunderbar.
Karen stand am Fenster.
»Ich habe den ganzen Tag an Kopenhagen und die Hansens denken müssen. Weihnachten in Dänemark ist etwas Wunderbares. Hast du das Paket gesehen, das sie mir geschickt haben?«
Kitty ging zu Karen, legte den Arm um ihre Schulter und gab ihr einen Kuß auf die Backe. »Weihnachten macht die Leute wehmütig.«
»Fühlst du dich sehr einsam, Kitty?«
»Seit dem Tod von Tom und Sandra war Weihnachten für mich immer etwas, woran ich am liebsten gar nicht denken wollte — bis jetzt.«
Karen warf die Arme um Kitty und drückte sich an sie. Dann sah sie auf ihre Uhr und seufzte. »Ich muß gleich essen. Ich habe heute abend Wache.«
»Zieh dich recht warm an. Es ist kalt draußen. Ich muß noch einige Krankenberichte bearbeiten und werde aufbleiben, bis du zurückkommst.«
Karen zog sich warme Sachen an. Kitty band Karens Haare zu einem Knoten zusammen und zog ihr die strumpfartige braune Palmachmütze so über den Kopf, daß sie die Ohren bedeckte. Auf einmal waren draußen singende Kinder zu hören.
»Was um alles in der Welt ist denn das?« fragte Kitty.
»Das ist für dich«, sagte Karen lächelnd. »Sie haben seit zwei Wochen heimlich geübt.«
Kitty ging ans Fenster. Draußen standen fünfzig ihrer Kinder. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen und sangen ein Weihnachtslied.
Kitty zog ihren Mantel an und ging zusammen mit Karen hinaus an die Gartenpforte. Hinter den Kindern konnte sie die Lichter aus den Häusern der Siedlungen sehen, die sechshundert Meter tiefer unten im Tal lagen. Sie konnte die Worte des Weihnachtsliedes nicht verstehen, doch die Melodie kam ihr bekannt vor; es war ein sehr altes Lied.
»Frohe Weihnachten, Kitty«, sagte Karen.
Kitty rollten die Tränen über die Wangen. »Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal , Stille Nacht' in hebräischer Sprache zu hören. Es ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich jemals bekommen habe.«
Karen hatte Wache in einem der Gräben außerhalb von Gan Dafna. Sie ging zum Dorfausgang hinaus und die Straße entlang zu einer Stelle, wo man von den Verteidigungsanlagen aus einen Blick auf das Tal hatte.
»Halt!«
Sie blieb stehen.
»Wer da?«
»Karen Clement.«
»Parole?«
»Chag sameach.«
Karen löste den Wachtposten ab, sprang hinunter in den Graben, schob einen Patronenstreifen in die Kammer des Gewehrs, lud durch, sicherte, und zog sich ihre Fäustlinge an.
Es war schön, auf Wache zu stehen, dachte Karen. Sie sah durch den Stacheldraht nach Abu Yesha. Es war schön, hier draußen allein zu sein und vier Stunden lang nichts anderes zu tun zu haben, als in das Hule-Tal hinunterzusehen und seinen Gedanken nachzuhängen. Durch die stille Winterluft drangen leise die Stimmen der Kinder, die vor Kittys Bungalow sangen. Es war Weihnachten, ein ganz besonders schönes Weihnachten.
Danach verstummte der Gesang, und ringsum war tiefe Stille.
Karen hörte, wie sich in den Bäumen hinter ihr etwas bewegte. Sie drehte sich leise um und spähte durch die Dunkelheit. Da bewegte sich doch etwas. Sie erstarrte und hielt angespannt Ausschau. Ja, da zwischen den Bäumen bewegte sich ein dunkler Schatten — vielleicht ein hungriger Schakal, dachte sie.
Sie entsicherte ihr Gewehr, hob es an die Schulter und sah über Kimme und Korn. Der dunkle Schatten kam näher.
»Halt!« rief sie laut.
Die undeutliche Gestalt blieb stehen.
»Parole?«
»Karen!« rief eine Stimme.
»Dov!«
Sie kletterte aus dem Graben heraus und lief auf ihn zu, und er lief ihr entgegen, und sie fielen sich in die Arme.
»Dov! Bist du es wirklich? Ich kann es kaum glauben.«
Sie sprangen beide in den Graben hinunter und Karen versuchte, sein Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen.
»Dov, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll —.«
»Ich bin vor einer Stunde gekommen«, sagte er. »Ich habe draußen vor eurem Haus gewartet, bis du herauskamst und auf Wache gingst. Dann bin ich dir nachgegangen.«
Karen sah sich erschreckt um. »Du bist hier in Gefahr! Du mußt dich vorsehen, daß die Engländer dich nicht erwischen!«
»Nein, Karen, das ist jetzt schon in Ordnung. Die Engländer können mir nichts mehr anhaben.«
Sie streckte die Hand nach ihm aus, und ihre Finger zitterten.
»Dir ist kalt, Dov. Du hast nicht mal einen Pullover an. Du mußt doch frieren.«
»Nein, nein — ich friere nicht.«
Plötzlich kam der Mond hinter einer Wolke hervor, und sie konnten einander sehen.
»Ich habe mich in den Höhlen außerhalb von Hamischmar versteckt gehalten.«
»Ich weiß.«
»Ich — ich dachte, du wärst in Amerika.«
»Wir konnten nicht weg.«
»Du wunderst dich wahrscheinlich, was ich hier will. Karen, ich — ich möchte gern nach Gan Dafna zurück. Als ich damals fortging, habe ich ein paar Uhren und Ringe mitgenommen, und man hält mich hier vielleicht für einen Dieb.«
»Aber nein, Dov. Hauptsache, du lebst und bist in Sicherheit, alles andere ist ganz unwichtig.« »Weißt du, ich — ich werde alles zurückzahlen.«
»Das ist ganz unwichtig. Niemand ist dir böse.«
Dov senkte den Kopf. »Die ganze Zeit, als ich im Gefängnis war, und später, als ich mich dann tagelang oben in den Berghöhlen verborgen hielt, habe ich immer darüber nachdenken müssen. Dov, habe ich mir gesagt, kein Mensch ist wütend auf dich. Es ist einzig und allein Dov, der wütend ist — wütend auf sich selbst. Als du mich im Gefängnis besucht hattest, da sagte ich mir — ich sagte mir, daß ich nicht mehr sterben, daß ich am Leben bleiben wollte. Ich wollte nicht mehr sterben, und ich wollte auch niemanden mehr töten.«
»Oh, Dov —.«
»Karen, ich — ich habe nie ein anderes Mädchen gehabt. Ich hab' das nur so gesagt, damit du nach Amerika fährst.«
»Ich weiß.«
»Hast du das wirklich die ganze Zeit gewußt?«
»Ich wollte es gern glauben, Dov, weil ich glauben wollte, daß du mich gern hast.«
»Karen — ich wollte nach Gan Dafna zurückkommen, und ich wollte erreichen, daß du auf mich stolz sein kannst. Ich wollte es, obwohl ich dachte, du seist gar nicht mehr da.«
Karen sah zu Boden.
»Für dich tue ich alles«, sagte er leise.
Sie hob den Arm und berührte seine Wange mit ihrer Hand.
»Dov, du bist so kalt. Bitte, geh zu unserem Bungalow. Du kannst mit Kitty über alles reden. Sie weiß Bescheid über uns. Und sobald meine Wache zu Ende ist, gehen wir zusammen zu Dr. Liebermann. Aber sei vorsichtig. Die Parole ist: Frohes Fest.«
»Karen — ich habe die ganze Zeit so viel an dich denken müssen. Ich will nie wieder etwas tun, was nicht richtig ist oder was dir wehtun könnte.«
»Das weiß ich.«
»Darf ich dir einen Kuß geben?«
»Ja.«
Ihre Lippen berührten sich flüchtig, suchend und scheu. »Ich liebe dich, Karen«, sagte Dov. Dann stieg er aus dem Graben und lief rasch davon, auf die Häuser von Gan Dafna zu.
»Internationales Recht«, sagte Barak ben Kanaan ärgerlich zu dem Delegierten der Vereinigten Staaten, »das ist das, was der Übeltäter mißachtet, während der Rechtschaffene ablehnt, es mit Gewalt durchzusetzen.«
Doch durch Reden, und waren die Worte selbst noch so gut gewählt, ließ sich nicht mehr viel ausrichten. Sollten die Juden am 15. Mai ihre Unabhängigkeit ausrufen, dann hatten sie es allein mit sieben arabischen Armeen aufzunehmen. Kawukys irreguläre Truppen und die Araber von Palästina unter der militärischen Führung von Safwat und Kader steigerten ihre Aktivität.
Das Jahr 1948 brach an — das Jahr der Entscheidung.
Im Verlauf der ersten Monate des neuen Jahres wurden die Araber immer dreister, und ihre Überfälle nahmen in dem Maße zu, wie die Engländer ihren riesigen militärischen Apparat immer weiter abbauten und eine Stellung nach der anderen räumten.
GALILÄA
Irreguläre belagerten den hoch in den Bergen an der libanesischen Grenze gelegenen Kibbuz Manara. Ein halbes Dutzend anderer isolierter jüdischer Siedlungen war abgeschnitten. Die Araber unternahmen fünf heftige Angriffe auf Ejn Zejtim — die Quelle der Oliven —, aber jeder dieser Angriffe wurde zurückgewiesen.
Sie überschritten die Grenze nach Palästina und wandten sich gegen die nördlichsten Vorpostenstellungen der Juden, den Kibbuz Dan und Kfar Szold. Major Hawks, der britische Kommandant, griff jedoch sofort mit seinen Truppen ein und half den Juden, die Syrer wieder über die Grenze zurückzuwerfen.
Araber aus Ata, von syrischen Grenzbewohnern und Irregulären unterstützt, griffen Lachawot Habaschan an. Ramat Naftali, nach einem der Stämme des alten Israel benannt, wurde überfallen. In Safed nahm die arabische Aktivität zu, und es war klar, daß die Araber nur darauf warteten, bis sich Major Hawks zurückzog. Die Blockade gegen die Juden wurde drückend, als Lebensmittel und Wasser in der Stadt der Kabbalisten knapp wurden. Geleitzüge in das jüdische Viertel kamen nur durch, wenn die Engländer behilflich waren.
HAIFA
Diese Hafenstadt als Schlüsselstellung für Palästina war ein von beiden Seiten begehrtes Objekt. Noch befanden sich die Hafenanlagen in den Händen der Engländer, weil sie für ihren Rückzug unentbehrlich waren. In Haifa besaßen die Juden auf dem Berg Karmel, oberhalb des arabischen Bezirks, eine ihrer wenigen überlegenen Positionen. Der sehr araberfreundliche englische Kommandant zwang die Juden jedoch, strategisch wichtige Punkte, die sie erobert hatten, wieder zu räumen.
Die Makkabäer rollten daraufhin mit Sprengstoff gefüllte Fässer die Hügel hinunter in das arabische Gebiet. Gleichzeitig gelang es den Juden, einen umfangreichen arabischen Waffentransport aus dem Libanon in einen Hinterhalt zu locken und den arabischen Kommandanten zu töten.
Jeder normale Verkehr zwischen den Sektoren hörte auf. Amin Azzadin, ein Offizier der Arabischen Legion, erschien in Haifa und übernahm das Kommando über die ständig zunehmenden Irregulären, während die Engländer die Juden in Schach hielten, so daß die Araber ihre Kräfte zu einem Angriff auf den Berg Karmel konzentrieren konnten.
SCHARONEBENE
Dieses zentral gelegene Tal, in dem schon die Kreuzfahrer gekämpft hatten, war das am dichtesten besiedelte jüdische Gebiet. Es lag dem stark von Arabern bevölkerten Gebiet von Samaria gegenüber. Obwohl beide Seiten etwa die gleiche Stärke besaßen, war es in diesem Gebiet relativ ruhig.
TEL AVIV — JAFFA
Zwischen den beiden benachbarten Städten war ein Schlachtfeld entstanden, in dem Straßenkämpfe und Patrouillentätigkeit nicht aufhörten. Die Makkabäer kämpften hier innerhalb der Reihen der Hagana. Von beiden Seiten fanden andauernd Überfälle statt. Als Beobachtungsposten und für ihre Scharfschützen benutzten die Araber ein Minarett einer Moschee, die von den Juden nicht angegriffen werden konnte, weil die Engländer sie daran hinderten.
DER SÜDEN
In der weitgestreckten Negev-Wüste gab es nur wenige und weit voneinander entfernte jüdische Siedlungen, während die Araber dort zwei starke Stützpunkte in Ber Scheba und dem seit Samson berühmten Gaza besaßen. Die Araber waren deshalb in der Lage, die jüdischen Siedlungen endlos zu belagern und sie langsam auszuhungern.
Zwar gelang es den einzelnen jüdischen Siedlungen, die Angriffe abzuwehren, aber in dieser Gegend waren die Araber kühner und der Druck auf die Stellungen nahm ständig zu. Doch jetzt begann eine jüdische Luftwaffe zu entstehen. Sie bestand anfänglich zwar nur aus zwei Flugzeugen, die eigentlich für Verbindungsaufgaben gedacht waren, hier aber auch zu Bombenangriffen verwendet werden mußten. Während eine der beiden Maschinen in das belagerte Jerusalem flog, wurde die andere zum primitivsten aller Bombenflugzeuge: Sprenggranaten wurden einfach durch die Luken auf ihre Ziele geworfen.
JERUSALEM
Abdul Kader verstärkte seinen Griff um die Kehle des jüdischen Jerusalems. Bab el Wad, die gewundene und verwundbare Straße über die Hügel von Judäa, wurde von den Arabern abgeriegelt. Die Juden konnten nur noch durchkommen, wenn sie umfangreiche Geleitzüge organisierten. Aber auch dann hatten sie einen hohen Preis zu bezahlen. Die Engländer verharrten bei ihrer Ablehnung, die Straße offenzuhalten.
Südlich von Jerusalem, in den an der Straße nach Bethlehem gelegenen Hügeln von Hebron, hatten die Juden vier isolierte Siedlungen, die als die Ezion-Gruppe bekannt sind. Ihre Position war ebenso schlecht und an allen Stellen verwundbar wie die von Safed. Die Ezion-Gruppe war vom jüdischen Palästina vollkommen abgeschnitten. Was ihre Lage bald noch mehr verschlechtern sollte, war eine hermetische Absperrung der Straße, die der Arabischen Legion dadurch gelang, daß sie nach außen hin als Hilfstruppe der Engländer in Erscheinung trat und daher unbehindert blieb.
Innerhalb Jerusalems hatte die Lebensmittel und Wasserknappheit zu einer kritischen Lage geführt. Der Tag bestand jetzt nur noch aus Bombardements, der Tätigkeit von Scharfschützen und Panzerwagen; offene Kriegführung war an der Tagesordnung.
Ihren Höhepunkt erreichten die Kämpfe, als ein Geleitzug des Roten Kreuzes von dem auf dem Skopusberg gelegenen Klinikviertel der Hadassa von den Arabern überfallen und siebenundsiebzig unbewaffnete jüdische Ärzte massakriert wurden. Ihre Leichen wurden grauenhaft verstümmelt aufgefunden. Auch diesmal rührten die Engländer keinen Finger.
Seew Gilboa, der von Ari damit beauftragt worden war, Fort Esther von den Engländern zu übernehmen, meldete sich in Aris Dienstzimmer. »Wir sind fahrbereit«, sagte Seew.
»Gut. Am besten fahrt ihr gleich los. Major Hawks hat gesagt, er wolle das Fort Punkt vierzehn Uhr übergeben. Übrigens, stimmt das, was ich da von dir und Liora gehört habe? Sie soll wieder ein Kind erwarten?«
»Ja, das stimmt.«
»Ich werde dir keinen Wochenendurlaub mehr geben können, wenn du nicht aufhörst, dummes Zeug zu machen«, sagte Ari lächelnd. Seew lief hinaus, sprang in das Führerhaus des Lastwagens und fuhr los. Hinten auf dem Wagen saßen zwanzig Jungen und Mädchen vom Palmach, die Fort Esther besetzen sollten. Seew fuhr die Hauptstraße entlang und bog dann in die schmale Straße ab, die hinauf in die Berge an der libanesischen Grenze und nach Fort Esther führte.
Seew dachte an seinen letzten Besuch in seinem Heimatort, dem Kibbuz Sde Schimschon — »Samsonsfeld«. Liora hatte ihm erzählt, daß sie wieder ein Kind erwarte. Das war ja großartig! Wenn er nicht als Soldat Dienst tat, züchtete Seew Schafe — doch das schien lange her. Wie wunderbar würde es sein, mit seinen Söhnen hinauszugehen, am Berghang zu sitzen und der grasenden Herde zuzusehen ...
Doch dann schaltete er Gedanken dieser Art ab; hier wartete so viel Arbeit auf ihn. Wenn die Engländer Fort Esther übergeben hatten, mußte er den belagerten Kibbuz Manara entsetzen und Streifen einteilen, die die Grenze entlang patrouillierten, um den Strom der einsickernden Irregulären zu drosseln.
Die zwanzig jungen Leute begannen zu singen, während der Wagen die Haarnadelkurven der Bergstraße hinauffuhr. Seew sah auf seine Uhr. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zu der verabredeten Zeit. Er bog um die letzte Kurve. Einige Meilen vor ihm tauchte der große viereckige Zementblock am Horizont auf. Als er bis auf ein paar hundert Meter an Fort Esther heran war, fühlte er instinktiv, daß irgend etwas nicht so war wie es sein sollte. Er verlangsamte die Fahrt und streckte den Kopf aus dem Fenster. Wenn die Engländer wirklich abziehen sollten, dann mußte doch irgendeine Bewegung zu sehen sein. Irgend etwas stimmte hier nicht. Seew richtete den Blick auf den Wachtturm mit den Schießscharten. In dem Augenblick, in dem sein Auge die Flagge der irregulären Streitkräfte Kawukys über dem Turm erspähte, begann Fort Esther Feuer zu speien.
Seew trat kräftig auf die Bremse und schrie: »Deckung! Runter vom Wagen!«
Seine Leute sprangen vom Wagen und begaben sich mit einem Satz in Deckung. Der Lastwagen ging in Flammen auf. Seew zog sich mit seinem Trupp rasch zurück, bis sie außer Schußweite waren, dann ließ er sammeln und begab sich im Laufschritt den Berg hinunter nach Ejn Or.
Als Ari hörte, daß Fort Esther an die Araber übergeben worden war, brauste er sofort los nach Safed und zu dem Teggart-Fort am Berge Kanaan.
Er begab sich sofort in das Dienstzimmer des britischen Gebietskommandeurs, Major Hawks. Hawks, ein Mann von massiver Statur und dunklem Typ, sah bleich und übernächtig aus. »Sie Judas!« fauchte Ari.
»Es war nicht meine Schuld«, sagte Hawks mit kläglicher Stimme. »Das müssen Sie mir glauben.«
»Nein, das nehme ich Ihnen nicht ab. Nicht Ihnen.«
Hawks hielt sich den Kopf mit den Händen. »Ich bekam gestern abend um zehn Uhr einen Anruf von unserem Oberkommando in Jerusalem. Man befahl mir, meine Leute unverzüglich aus Fort Esther abzuziehen.«
»Sie hätten mich benachrichtigen können!«
»Nein, das konnte ich nicht«, murmelte Hawks. »Ich durfte es nicht. Ich bin schließlich Soldat, Ben Kanaan. Ich — ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Heute morgen habe ich Jerusalem angerufen und gebeten, man möge mir erlauben, nach Fort Esther zu gehen und es den Arabern wieder abzunehmen.«
Ari sah den Engländer voll Verachtung an.
»Sie mögen von mir denken, was Sie wollen — und vermutlich haben Sie recht damit — aber ich konnte nicht anders handeln.«
»Es ist schließlich Ihr Beruf und Ihr Brot, Hawks. Ich denke, Sie sind nicht der erste Soldat, dem es gelang, die Stimme seines Gewissens zum Schweigen zu bringen.«
»Was nützt es, jetzt noch darüber zu reden? Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Sie mögen durch das, was Sie getan haben, Ihrer soldatischen Pflicht Genüge geleistet haben, Hawks, aber Sie tun mir leid. Denn Sie sind es, der die Belagerung von Gan Dafna auf seinem Gewissen haben wird, vorausgesetzt, daß Sie noch ein Gewissen haben.«
Hawks wurde bleich. »Sie werden die Kinder doch wohl nicht da oben lassen? Sie müssen sie wegbringen!«
»Das hätte Ihnen eigentlich klar sein müssen. Nachdem jetzt Fort Esther in der Hand der Araber ist, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Gan Dafna um jeden Preis zu halten, wenn wir nicht das ganze Hule-Tal verlieren wollen.«
»Hören Sie, Ari, ich bin bereit, den Geleitschutz zu stellen, um die Kinder in Sicherheit zu bringen.«
»Und wohin? Sie sind nirgends sicher.«
Ari sah, wie Hawks die Hände zur Faust ballte und damit auf den Schreibtisch schlug, während er vor sich hinmurmelte. Es schien nicht nötig, diesem Mann noch weitere Vorwürfe zu machen. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihm das, was er tun hatte müssen, zu schaffen machte.
Auf der Fahrt nach Safed hatte Aris Gehirn eifrig an einem Plan gearbeitet, der zwar riskant war, ihm aber unter Umständen doch geeignet erschien, die Schlüsselstellung Gan Dafna zu retten.
Er beugte sich über Hawks Schreibtisch. »Ich möchte Ihnen eine Chance geben, einen Teil des Schadens, den Sie angerichtet haben, wiedergutzumachen.«
»Was könnte ich jetzt noch tun, Ben Kanaan?«
»Als Gebietskommandeur sind Sie durchaus dazu berechtigt, nach Gan Dafna zu kommen und uns den guten Rat zu geben, den Ort zu evakuieren.«
»Ja, aber —.«
»Dann tun Sie das bitte. Fahren Sie morgen nach Gan Dafna hinauf und nehmen Sie fünfzig Lastwagen mit. Sichern Sie die Wagenkolonne vor und hinten mit Panzerwagen. Wenn Sie jemand fragt, was Sie vorhaben, dann erzählen Sie den Leuten, Sie beabsichtigen, die Kinder zu evakuieren.«
»Ich verstehe Sie nicht ganz. Sind Sie denn bereit, Gan Dafna zu räumen?«
»Nein. Aber alles übrige überlassen Sie bitte mir. Sie brauchen weiter nichts zu tun, als mit Ihrer Wagenkolonne nach Gan Dafna zu kommen.«
Hawks verlangte von Ari keine Auskunft darüber, was er vorhatte. Er tat, worum Ari ihn gebeten hatte, und fuhr mit einer Kolonne von fünfzig Lastwagen und einem Geleitschutz von Panzerwagen nach Gan Dafna. Die Kolonne, die eine halbe Meile lang war, passierte auf dem Weg zum Hule-Tal sechs arabische Ortschaften. Sie lief die Berge hinauf und vor den Augen der Irregulären von Fort Esther durch Abu Yesha und langte gegen Mittag in Gan Dafna an. Major Hawks begab sich zu Dr. Liebermann und forderte ihn formell auf, den Ort zu evakuieren; dieser lehnte auf Aris Rat, offiziell ab. Nach dem Mittagessen setzte sich die Wagenkolonne von Gan Dafna aus wieder in Bewegung und kehrte zum Stützpunkt in Safed zurück. Inzwischen vertraute Ari einigen seiner arabischen Freunde in Abu Yesha unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß Major Hawks tonnenweise Waffen in Gan Dafna zurückgelassen habe, angefangen von Maschinengewehren bis zu Granatwerfern. »Schließlich und endlich«, sagte Ari, »ist es ja bekannt, daß Hawks ein Freund der Juden war, und er hat auf eigene Faust etwas für uns getan, um uns dafür zu entschädigen, daß Fort Esther den Arabern übergeben wurde.«
Die Saat war gesät. Innerhalb von Stunden hatte sich in dem ganzen Gebiet das Gerücht verbreitet, daß Gan Dafna von Waffen starre und uneinnehmbar sei. Dies erschien besonders durch die Tatsache glaubwürdig, daß keine Evakuierung der Kinder stattfand; denn die Araber wußten nur zu genau, daß die Juden die Kinder fortgeschafft hätten, wenn ernstliche Gefahr für Gan Dafna bestanden hätte. Nachdem sich genügend herumgesprochen hatte, wie stark Gan Dafna war, begab sich Ari nach Abu Yesha, um dort in dem steinernen Haus am Strom seinen alten Freund Taha, den Muktar, zu besuchen. Mochte die Stimmung auch noch so gespannt sein, das änderte nichts an dem jahrhundertealten Brauch, daß ein Mann im Hause eines Arabers gastlich bewirtet werden mußte. Doch obwohl Taha allen Formen der Gastlichkeit genügte, spürte Ari eine Kälte, wie er sie bei Taha noch nie erlebt hatte.
Sie aßen und sprachen über belanglose Dinge. Als Ari meinte, daß der Formalität allmählich Genüge geleistet sei, kam er auf den eigentlichen Anlaß seines Besuches zu sprechen.
»Es ist an der Zeit«, sagte Ari, »daß ich deine Einstellung kennenlerne.«
»Meine persönliche Einstellung ist im Augenblick wenig wichtig.« »Es tut mir leid, Taha, aber als Gebietskommandeur der Hagana muß ich dich danach fragen.«
»Ich habe dir mein Wort gegeben, daß Abu Yesha neutral bleibt.« Ari stand auf. Er sah Taha fest in die Augen und sprach Worte, die für das Ohr eines Arabers hart waren.
»Du hast mir dein Wort gegeben«, sagte er, »aber du hast es gebrochen.«
Taha sah ihn an, und in seinen Augen blitzte es zornig.
»Wir sind darüber unterrichtet, daß Kawukys Leute scharenweise über Abu Yesha eingesickert sind.« »Und was erwartest du von mir?« gab Taha heftig zurück. »Soll ich ihnen vielleicht sagen, sie möchten bitte nicht mehr kommen? Ich habe sie dazu nicht aufgefordert.«
»Ich auch nicht. Sieh mal, mein Freund — es gab einmal eine Zeit, da haben wir beide nicht so miteinander gesprochen.«
»Die Zeiten ändern sich, Ari.«
Ari ging ans Fenster und sah zu der Moschee am anderen Ufer des Flusses hinaus. »Ich habe dieses Stückchen Erde hier immer sehr gern gehabt. Wir beide haben in diesem Raum und an diesem Fluß viele glückliche Tage verlebt. Weißt du noch, wie wir beide nachts da draußen gezeltet haben?«
»Das ist lange her.«
»Es mag sein, daß ich ein allzu gutes Gedächtnis habe. In den Zeiten der blutigen Unruhen haben wir uns oft darüber unterhalten, wie lächerlich es sei, daß alle Menschen meinten, sie müßten gegeneinander kämpfen. Wir haben ewige Blutsbrüderschaft geschlossen. Taha — ich habe die ganze letzte Nacht nicht geschlafen, weil ich mir überlegte, was ich dir heute sagen sollte. Dabei fiel mir alles wieder ein, was wir beide, du und ich, gemeinsam getan und erlebt haben.«
»Es paßt nicht zu dir, Ari, sentimental zu werden.«
»Es paßt genausowenig zu mir, dir drohen zu müssen. Mohammed Kassi und die Männer in Fort Esther sind genau das gleiche Kaliber wie die Männer, die deinen Vater ermordet haben, während er im Gebet versunken war. In dem Augenblick, wo die Engländer hier abziehen, wird er von Fort Esther herunterkommen und von dir verlangen, daß du die Straße nach Gan Dafna sperrst. Wenn du es zuläßt, wird er deinen Leuten Gewehre in die Hand drücken und ihnen befehlen, Yad El anzugreifen.«
»Und was erwartest du von mir?«
»Und was erwartest du von mir?« gab Ari die Frage zurück.
Ein feindliches Schweigen entstand im Raum. »Du bist der Muktar von Abu Yesha. Du kannst deinen Leuten sagen, was sie zu tun und zu lassen haben, genau wie dein Vater das getan hat. Du mußt aufhören, gemeinsame Sache mit diesen Irregulären zu machen.« »Oder?«
»Oder wir werden dich als unseren Feind betrachten.«
»Und was dann? Sag es mir, Ari.«
»Dann hätte dein Verhalten zur Folge, daß Abu Yesha zerstört wird.«
Weder Ari noch Taha hielten das, was Ari gesagt hatte, für vollen Ernst. Ari war müde, er ging zu Taha hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Bitte«, sagte Ari, »hilf mir.«
»Ich bin Araber«, sagte Taha.
»Du bist ein Mensch. Du weißt, was recht und unrecht ist.«
»Willst du mir erzählen, ich sei dein Bruder?«
»Du bist es immer gewesen«, sagte Ari.
»Wenn ich dein Bruder bin, dann gib mir Jordana. Ja, das ist das Richtige — gib sie mir, daß sie das Bett mit mir teile und die Mutter meiner Kinder werde.«
Aris Faust schoß vor und traf Tahas Kinn. Der Araber ging betäubt zu Boden, auf Hände und Knie. Er sprang auf, riß den Dolch, der an seinem Gürtel hing, aus der Scheide und ging in geduckter Haltung auf Ari los.
Ari stand unbeweglich und machte keinerlei Anstalten, sich zu verteidigen. Taha hob den Dolch, dann erstarrte er, wandte sich ab und warf den Dolch von sich.
»Mein Gott, was habe ich getan?« flüsterte Ari. Er ging auf Taha zu mit einem Gesicht, dessen Ausdruck um Verzeihung bat.
»Du hast mir alles gesagt, was ich wissen muß. Hinaus aus meinem Haus, Jude!«
IV.
In Flushing Meadow, New York, hatten die Dinge eine sehr schlimme Wendung genommen. Da zur Durchsetzung des Beschlusses der UNO offensichtlich eine bewaffnete Intervention notwendig war, hatten die Amerikaner, aus Furcht, die Russen an einer internationalen Polizeitruppe im Nahen Osten beteiligen zu müssen, ihre bisherige Haltung zugunsten einer Teilung Palästinas aufgegeben.
Der Jischuw machte verzweifelte Anstrengungen, die Amerikaner von dieser defätistischen Haltung wieder abzubringen. Mitten in diesen wichtigen Verhandlungen wurde Barak ben Kanaan durch ein dringendes Telegramm aufgefordert, sich sofort nach Frankreich zu begeben. Infolge der Dringlichkeit der Arbeit in Flushing Meadow war Barak über diese Anordnung zwar sehr erstaunt, doch er flog unverzüglich nach Frankreich.
Hier wurde er von zwei Beauftragten des Jischuw empfangen. Man hatte ihn gerufen, damit er an höchst geheimen Verhandlungen über den Einkauf lebenswichtiger Waffen teilnahm. Man war beim Jischuw-Zentralrat der Meinung, daß Waffen infolge des Abschwenkens der Amerikaner im Augenblick wichtiger waren als alles andere, und daß für eine derartige Transaktion niemand geeigneter war als Barak. Von ihrem guten Freund, dem tschechischen Außenminister Jan Masaryk, hatten sie Informationen darüber bekommen, bei welchen Stellen in einem halben Dutzend europäischer Länder Waffen gekauft werden konnten.
Nach mehreren Wochen vorsichtiger und streng vertraulicher Verhandlungen wurden die Lieferungsverträge abgeschlossen. Das nächste Problem bestand darin, die Waffen nach Palästina zu schaffen, das sich noch immer unter britischer Blockade befand.
Als erstes erwarb man ein Flugzeug, das über einen genügend großen Laderaum zum Transport der Waffen verfügte. Ein Beauftragter der Aliyah Bet ermittelte in Wien einen ausrangierten überzähligen amerikanischen Bomber vom Typ Liberator. Eine Firma, die sich »Alpine Luftfrachtgesellschaft« nannte, kaufte ihn. Als nächstes mußte man eine Crew finden. Sechs Mann, vier südafrikanische und zwei amerikanische Juden, die im Kriege Flieger gewesen waren, wurden für diese Aufgabe ausgesucht und zu strengster Geheimhaltung verpflichtet.
Die letzte und schwierigste Aufgabe war, auf dem engen Raum des kleinen Palästina einen heimlichen Flugplatz zu schaffen, ohne daß ihn die Engländer entdeckten. Man entschied sich für einen von den Engländern nicht mehr benutzten Jagdfliegerstützpunkt im Jesreel-Tal. Er lag in einem Gebiet mit rein jüdischer Bevölkerung, und hier schien es am ehesten möglich, daß es der Maschine gelang, unbemerkt zu landen und wieder zu starten.
Inzwischen wurde in Europa der Transport und die Lagerung der angekauften Waffen mit der gleichen Heimlichkeit besorgt, die auch hinsichtlich des wahren Charakters der »Alpinen Luftfrachtgesellschaft« geübt wurde.
Es war ein Wettrennen mit der Zeit. Zwei Wochen sollte es dauern, bis die erste Waffenladung Europa verlassen konnte. War es dann nicht vielleicht zu spät?
Bisher war den Arabern wie durch ein Wunder noch nicht eine einzige Siedlung in die Hände gefallen; doch aus den jüdischen Transportkolonnen machten die Araber Kleinholz. Die Araber hatten die Leitungen unterbrochen, die das Wasser zu den Siedlungen in der Negev-Wüste brachten. Es gab Orte, in denen die Siedler gezwungen waren, von Kartoffelschalen und Oliven zu leben.
Der Brennpunkt des Kampfes aber war Jerusalem, wo sich die Auswirkung der arabischen Taktik des Isolierens und Aushungerns ernstlich bemerkbar zu machen begann. Bab el Wad, die Straße von Tel Aviv nach Jerusalem, war mit den Trümmern ausgebrannter Lastwagen besät. Nur durch gelegentliche riesige Transportkolonnen, deren Geleitschutz hohe Opfer an Menschenleben und Material erforderte, konnte die verzweifelte Lage der Juden in Jerusalem vorübergehend gelindert werden. Kawuky, Safwat und Kader brauchten dringend einen Sieg. Die Araber in Palästina wurden allmählich unruhig, da noch immer nichts von dem »großartigen Siegeszug« zu sehen war, den man lautstark angekündigt hatte.
In dieser Situation beschloß Kawuky, der sich selbst zum Generalissimus der »Yarmuk-Streitkräfte« des Mufti ernannt hatte, den Ruhm der Eroberung der ersten jüdischen Siedlung an sich zu bringen. Er wählte sein Angriffsziel mit Bedacht.
Kawukys Wahl fiel auf den Kibbuz Tirat Zwi. Die Einwohner von Tirat Zwi waren orthodoxe Juden, von denen viele im Konzentrationslager gewesen waren. Der Kibbuz befand sich im südlichen Teil des Beth-Shaan-Tales und war absichtlich dort angelegt worden, um in einem Gebiet, dessen Bevölkerung bis dahin ausschließlich arabisch gewesen war, als Gegengewicht zu wirken. Südlich von Tirat Zwi lag das »Dreieck«, der Teil von Palästina, dessen Bevölkerung rein arabisch war. Die Grenze Jordaniens befand sich in Schußweite, und ein kleines Stück nach Norden vollendete die feindliche arabische Stadt Beth Shaan die isolierte Lage des Kibbuz Tirat Zwi.
Kawuky war entzückt von der Wahl, die er getroffen hatte. Die religiösen Juden von Tirat Zwi würden bei dem ersten massierten Angriff in die Knie gehen. Kawuky versammelte in dem Aufmarschgebiet bei Nablus Hunderte von Arabern und marschierte mit ihnen zum Angriff auf Tirat Zwi.
Kawuky verkündete seinen Sieg im voraus; er wurde sogar offiziell bekanntgegeben, bevor er überhaupt angegriffen hatte. Als er seine Truppen in die Ausgangsstellung führte, kamen die arabischen Frauen von Beth Shaan an den Rand des Schlachtfeldes, ausgerüstet mit Säcken und anderen Behältern, und warteten darauf, den Kibbuz nach dem Angriff plündern zu können.
Der Angriff kam, als ein wolkenverhangener Tag dämmerte. Die Juden hatten hundertsiebenundsechzig Männer und Frauen in kampffähigem Alter an der Front, in Schützengräben und hinter eilig aufgeworfenen Verschanzungen, die der Stellung der Araber gegenüberlagen. Die Kinder waren in einem Gebäude untergebracht, das sich im Zentrum des Kibbuz befand. Außer ihren Gewehren stand den Verteidigern nichts als ein einziger Granatwerfer Kaliber Fünf zur Verfügung.
Eine Trompete ertönte. Offiziere der Arabischen Legion führten mit gezogenem Säbel den Angriff an. Hinter ihnen strömten die Irregulären über das offene Feld heran, in einem massierten Frontalangriff, der darauf ausging, den Kibbuz durch das bloße Gewicht der zahlenmäßigen Überlegenheit zu überrennen.
Die Juden warteten, bis die Angreifer auf zwanzig Meter herangekommen waren. Dann eröffneten sie auf ein Zeichen ein mörderisches zusammengefaßtes Feuer. Die Araber wurden reihenweise niedergemäht.
Der Schwung des arabischen Angriffs trieb eine zweite, eine dritte und eine vierte Welle heran. Die Juden ließen auch diese weiteren Wellen bis auf nächste Entfernung herankommen und empfingen sie dann mit ihrem disziplinierten, zusammengefaßten Abwehrfeuer.
Das Schlachtfeld war mit toten Arabern übersät, und die Verwundeten riefen: »Wir sind Brüder! Gnade, im Namen Allahs!« Der Rest stürzte in wilder Flucht davon und begab sich ungeordnet auf den Rückzug. Kawuky hatte ihnen einen leichten Sieg und fette Beute versprochen. Er hatte ihnen vorgespiegelt, daß dieses erbärmliche Häufchen orthodoxer Juden schon bei ihrem bloßen Erscheinen die Flucht ergreifen würde. Mit einem solchen Widerstand hatten sie nicht gerechnet. Die Araberinnen, die mit ihren Säcken gewartet hatten, flohen gleichfalls.
Die Offiziere der Arabischen Legion sammelten die Flüchtlinge, die sie nur dadurch zum Stehen bringen konnten, indem sie auf sie schossen. Sie führten ihre Truppe erneut zum Angriff vor, doch die Irregulären hatten keinen rechten Mut mehr.
Für die Juden in Tirat Zwi sah die Sache sehr übel aus. Sie hatten nicht mehr genug Munition, um einen nochmaligen Angriff abzuschlagen, falls die Araber erneut in großer Zahl und mit Entschiedenheit angriffen. Sollten die Araber aber ihre Taktik ändern und einen anhaltenden Angriff mit einer seitlichen Umgehung verbinden, so konnten die Juden erst recht nicht standhalten. In aller Eile organisierten sie einen Verteidigungsplan. Die Munition wurde zum größten Teil an zwanzig Scharfschützen verteilt. Alle anderen zogen sich zu dem Haus zurück, in dem die Kinder untergebracht waren und machten sich zur letzten Gegenwehr mit Bajonetten, Holzknüppeln und Gewehrkolben bereit. Sie beobachteten durch Feldstecher, wie sich die Araber zum Angriff massierten, und stellten fest, daß der Gegner zahlenmäßig noch immer stark genug war, um den Kibbuz zu überrennen.
Die Araber kamen diesmal etwas langsamer über das offene Feld heran, wobei einige der Offiziere den Soldaten folgten und sie mit vorgehaltener Pistole zwangen, anzugreifen. Plötzlich öffnete sich der Himmel zu einem überraschenden Wolkenguß. Innerhalb von Minuten verwandelte sich der Acker in einen grundlosen Morast. Statt sich zu beschleunigen, begann der Angriff der Araber im Schlamm steckenzubleiben, genau wie einst die Wagen der Kanaaniter im Kampf gegen Deborah.
Als die ersten Offiziere den Kibbuz erreichten, nahmen die Scharfschützen sie aufs Korn und bliesen sie um. Kawukys ruhmreiche »Yarmuk-Streitkräfte« hatten für diesmal genug.
Kawuky tobte vor Wut über die Blamage von Tirat Zwi. Er mußte rasch einen Sieg erreichen, um das Gesicht zu wahren. Diesmal entschloß er sich, ein gewagtes Spiel zu spielen.
Vom strategischen Standpunkt aus war die Straße zwischen Tel Aviv und Haifa für den Jischuw wichtiger als die Straße nach Jerusalem. War die Verbindung zwischen Tel Aviv und Haifa unterbrochen, dann waren Galiläa und Scharon voneinander getrennt, und die Juden der Möglichkeit des einheitlichen Handelns beraubt. An der Hauptverkehrsstraße von Tel Aviv nach Haifa lagen arabische Ortschaften, die die Juden zwangen, die weiter im Innern gelegenen Nebenstraßen zu benutzen, um den Güterverkehr zwischen den beiden Städten aufrechtzuerhalten. An einer der wichtigsten dieser Umgehungsstraßen lag der Kibbuz Mischmar Ha'Emek — »der Talwächter«. Kawuky, dessen Ehrgeiz darauf ausging, Tel Aviv von Haifa zu trennen, beschloß, Mischmar Ha'Emek anzugreifen.
Diesmal war Kawuky entschlossen, die Fehler von Tirat Zwi nicht zu wiederholen. Er massierte mehr als tausend Mann und ging mit ihnen in den Bergen rings um Mischmar Ha'Emek in Stellung, unterstützt durch zehn Kanonen Gebirgsartillerie Kaliber 7,5.
Als er Mischmar Ha'Emek eingeschlossen hatte, eröffnete Kawuky heftiges Artilleriefeuer, dem die Juden nichts entgegenzusetzen hatten als ein einziges Maschinengewehr.
Nachdem der Kibbuz einen Tag lang unter Beschuß gelegen hatte, riefen die Engländer einen Waffenstillstand aus, begaben sich nach Mischmar Ha'Emek und wiesen die Juden an, den Ort zu evakuieren. Als die Einwohner dieses Ansinnen ablehnten, zogen die Engländer wieder ab. Sie wuschen ihre Hände in Unschuld. Kawuky erfuhr von den Engländern, daß die Juden in Mischmar Ha'Emek relativ schwach waren. Was Kawuky nicht wußte, da er nicht über einen Intelligence Service zur Feindaufklärung verfügte, war, daß es im Emek-Tal von Leuten wimmelte, die für die Hagana ausgebildet wurden. Im Laufe der zweiten Nacht begaben sich zwei Bataillone der Hagana leise und unbemerkt in den Kibbuz.
Am Tage darauf trat Kawuky mit seinen Leuten zum Angriff an. Statt einen Kibbuz zu betreten, dessen Bewohner sich erschreckt verkrochen, stieß er auf zwei Bataillone ausgebildeter Soldaten, die darauf brannten, sich mit dem Gegner zu messen. Kawukys Angriff wurde zerschlagen.
Er sammelte seine Leute und versuchte es mit einem allmählichen, aber pausenlos vorgetragenen Angriff. Er war genauso erfolglos. Kawuky griff wieder und wieder an, doch mit jedem Angriff sank die Angriffslust der Irregulären. Sie gingen vor, wichen aber zurück, sobald sie auf ernstlichen Widerstand stießen.
Gegen Ende des Tages hatte Kawuky seine Leute nicht mehr in der Hand. Sie fingen an, sich aus dem Kampfgebiet davonzumachen.
Die Juden in Mischmar Ha'Emek beobachteten diese Entwicklung, brachen vor und stießen den fliehenden Arabern nach. Diese Wendung war völlig unerwartet. Die Araber waren so konsterniert, als sie die zum Angriff vorgehenden Juden sahen, daß sie die Flucht ergriffen, während die Männer der Hagana ihnen buchstäblich auf den Fersen folgten. Das Rückzugsgefecht erstreckte sich meilenweit bis nach Meggiddo, der Stelle, an der Hunderte Schlachten durch die Jahrhunderte hindurch stattgefunden hatten. Und hier, auf dem historischen Schlachtfeld, schlugen die Juden Kawukys Streitkräfte vernichtend. Das Gemetzel endete erst, als die Engländer aufkreuzten und einen Waffenstillstand erzwangen. Die Juden hatten ihren ersten klaren Sieg in ihrem Freiheitskrieg errungen.
Im Korridor von Jerusalem leistete die Hügelbrigade des Palmach eine geradezu titanische Arbeit, um die Straße offenzuhalten. Diese kaum Zwanzigjährigen, mit Kommandeuren, die nicht viel älter waren als sie, patrouillierten durch die tiefen Schluchten und Einöden von Judäa und unternahmen ständig Überraschungsangriffe auf arabische Stützpunkte.
In Tel Aviv wurde ein riesiger Geleitzug vorbereitet, um Jerusalem zu retten. Aufgabe der Hügelbrigade war es, das arabische Dorf Kastei einzunehmen, das um eine alte Kreuzritterfestung gebaut war — eine der wichtigsten Höhenstellungen der Straße.
Der Sturm auf Kastei wurde zur ersten jüdischen Offensivaktion im Freiheitskrieg. Die Brigade mußte das Dorf in der Dunkelheit von der Flanke her angreifen. Müde und erschöpft vom Aufstieg erreichte sie Kastei, eröffnete trotzdem sofort das Feuer und vertrieb die Araber nach blutigen Nahkämpfen aus dem Ort.
Die Einnahme von Kastei trug wesentlich dazu bei, die gedrückte Stimmung des Jischuw zu heben. Nach diesem Sieg gelang es dem Geleitzug, Schritt für Schritt weiter durch Bab el Wad vorzudringen und die Neustadt von Jerusalem zu erreichen. Der belagerten Stadt wurde lebenswichtige Erleichterung zuteil.
Kawuky raste. Er mußte einen Sieg haben. Monatelang hatte er offizielle Verlautbarungen veröffentlichen lassen, in denen er sich einer pausenlosen Folge militärischer Triumphe gerühmt hatte. Daß es ihm nicht möglich gewesen war, auch nur eine jüdische Siedlung einzunehmen, hatte er mit »britischen Interventionen« zu erklären versucht. Wenn die Engländer aber aus dem Hule-Gebiet abzogen, hatte er kein Alibi mehr.
Er beorderte Mohammed Kassi, den Kommandeur der irregulären Streitkräfte im Hule-Gebiet, der in Fort Esther saß, zu sich in sein Hauptquartier in Nablus.
»Ich habe aus Damaskus eine Nachricht von Seiner Heiligkeit, dem Mufti, erhalten«, sagte Kawuky. »Am 15. Mai, einen Tag nach der Beendigung des britischen Mandats, beabsichtigt Hadsch Amin el Husseini im Triumph nach Palästina zurückzukehren.«
»Und welch ein glorreicher Tag wird das für den ganzen Islam sein«, sagte Mohammed Kassi.
»Seine Heiligkeit hat bis zur völligen Vernichtung der Zionisten Safed als seinen vorläufigen Sitz erwählt. Nachdem jetzt der gute Freund der Juden, Major Hawks, aus Safed abgezogen ist, wird sich die Stadt innerhalb einer Woche in unserer Hand befinden.«
»Ich bin erfreut, diese gute Nachricht zu hören!«
»Dennoch«, fuhr Kawuky fort, »wird Safed für die Rückkehr Seiner Heiligkeit nicht sicher genug sein, solange noch ein einziger Jude im Hule-Tal ist. Juden bedeuten einen Dolch in unserem Rücken. Wir müssen sie ausradieren.«
Mohammed Kassi wurde ein wenig bleich.
»Das Hule-Tal liegt, wie mir scheint, in Ihrem Kommandobereich, mein Bruder. Ich möchte, daß Sie unverzüglich Gan Dafna einnehmen. Sobald Gan Dafna in unserer Hand ist, werden wir die übrigen Zionisten des Hule-Tals an der Kehle haben.« »Generalissimus, ich darf Ihnen versichern, daß jeder einzelne meiner Freiwilligen vom Mut eines Löwen erfüllt und entschlossen ist, sich mit allen Kräften für die ehrenvolle Aufgabe einzusetzen, den Zionismus zu vernichten. Sie haben alle gelobt, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.«
»Das ist gut. Sie kosten uns allein an Löhnung ohnehin fast einen Dollar pro Mann und Monat.«
Kassi strich sich seinen Bart und hob seinen mit einem großen Brillantring geschmückten Zeigefinger in die Höhe. »Dennoch, es ist allgemein bekannt, daß Major Hawks in Gan Dafna dreitausend Gewehre, hundert Maschinengewehre und Dutzende von schweren Granatwerfern hinterlassen hat!«
Kawuky sprang wütend von seinem Stuhl hoch. »Sie zittern vor Kindern!«
»Ich schwöre beim Barte des Propheten, daß die Juden tausend Mann vom Palmach als Verstärkung nach Gan Dafna geschickt haben. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«
Kawuky schlug Mohammed Kassi zweimal mit der Hand ins Gesicht. »Sie werden Gan Dafna einnehmen! Sie werden es dem Erdboden gleichmachen — oder ich werde Ihren Kadaver den Aasgeiern zum Fraß vorwerfen!«
V.
Mohammed Kassis erste Maßnahme bestand darin, hundert seiner Leute nach Abu Yesha zu schicken. Unverzüglich begaben sich daraufhin einige der Dorfbewohner nach Ejn Or, um Ari die Sache zu melden. Ari wußte, daß die Einwohner von Abu Yesha überwiegend auf selten der Juden standen. Er wartete darauf, daß sie etwas gegen die Irregulären unternahmen.
Die Araber von Abu Yesha waren über die Anwesenheit der Irregulären alles andere als erfreut. Jahrzehntelang hatten sie mit den Leuten von Yad El in guter Nachbarschaft gelebt; selbst ihre Häuser waren von den Juden erbaut worden. Sie waren weder erbittert, noch wünschten sie zu kämpfen. Sie warteten nur darauf, von Taha, ihrem Muktar, zusammengerufen zu werden, um gemeinsam Kassis Leute aus Abu Yesha hinauszuwerfen.
Taha hüllte sich in sonderbares Schweigen. Er gab weder Zustimmung noch Ablehnung zu erkennen. Als die Dorfältesten in ihn drangen, die Männer von Abu Yesha zu einer gemeinsamen Aktion aufzurufen, lehnte Taha es ab, sich dazu zu äußern. Sein Schweigen besiegelte das Schicksal von Abu Yesha, weil die Fellachen ohne Führung hilflos waren.
Kassi zögerte nicht, Tahas passive Haltung zu nützen. Während Taha weiterhin schwieg, wurden Kassis Leute von Tag zu Tag dreister und aktiver. Die Straße nach Gan Dafna wurde gesperrt. Viele Leute in Abu Yesha waren darüber empört, doch es blieb beim leisen Murren von einzelnen. Dann wurden vier Araber aus Abu Yesha von den Irregulären dabei erwischt, wie sie Nahrungsmittel nach Gan Dafna brachten. Kassi ließ sie enthaupten und ihre Köpfe als Warnung auf dem Dorfplatz aufpflanzen. Von da an war jeglicher Widerstand in Abu Yesha gebrochen.
Ari hatte sich geirrt. Er war überzeugt gewesen, daß die Leute von Abu Yesha Taha zwingen würden, Farbe zu bekennen, zumal die Sicherheit von Gan Dafna auf dem Spiele stand. Als die Araber von Abu Yesha nichts unternahmen und die Straße nach Gan Dafna gesperrt wurde, sah sich Ari einer ungeheuren kritischen Situation gegenüber.
Nach der Sperrung der Straße fing Kassi an, Gan Dafna von Fort Esther aus Tag und Nacht mit seinen Gebirgsgeschützen zu bombardieren.
Auf ein Ereignis dieser Art hatten sich die Juden von Gan Dafna vom ersten Tage vorbereitet. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Jetzt schaltete man rasch und ohne jeden Lärm auf den Ernstfall um. Alle Kinder im Alter von mehr als zehn Jahren hatten bestimmte Funktionen bei der Verteidigung der Siedlung. Der Wassertank wurde durch Sandsäcke geschützt, und die Generatoren, die Waffenkammer, das Verpflegungslager und das Krankenrevier wurden unter der Erde untergebracht.
In den Bunkern ging das Leben wie bisher weiter. Unterricht, Mahlzeiten, Spielstunden und alles, was zum Tagesablauf von Gan Dafna gehörte, wurde unter der Erde fortgesetzt. Die Kinder schliefen in engen Kojen in Schlafräumen, deren Wände aus Betonrohren von einem Durchmesser von drei Meter fünfzig bestanden, und die nach oben durch eine mehrere Meter dicke Schicht aus Erde und Sandsäcken gesichert waren.
Wann immer der Artilleriebeschuß aufhörte, kamen die Kinder und das Personal aus den Bunkern heraus nach oben, um zu spielen, die steifen Glieder zu lockern und Rasenflächen und Gärten in Ordnung zu halten. Innerhalb einer Woche hatte das Personal den Kindern die Überzeugung beigebracht, das Heulen der Granaten und das Krachen der Explosionen sei nichts anderes als eine kleine Unannehmlichkeit des täglichen Lebens.
Kassi setzte das Bombardement von Gan Dafna Tag für Tag fort. Seine Gebirgsgeschütze legten ein Gebäude der Siedlung nach dem anderen in Trümmer. Gan Dafna hatte seine ersten Verluste, als eine Granate in der Nähe des Eingangs zu einem Schutzraum explodierte und dabei zwei Kinder ums Leben kamen.
Unten im Tal, im Kibbuz Ejn Or, setzte sich Ari mit dem Problem auseinander, vor das ihn die bedrohte Lage des Jugenddorfes gestellt hatte. Gan Dafna war völlig abgeschnitten; der einzige Weg, es zu erreichen, war eine gefährliche und höllisch anstrengende Kletterei über die steile westliche Flanke des Berges. Man mußte einen Höhenunterschied von mehr als sechshundert Metern bewältigen, noch dazu bei Nacht. Die Telefonleitung war unterbrochen, und die Nachrichtenverbindung mit Gan Dafna mußte durch Blink-Signale von Yad El aus aufrechterhalten werden. Die Lebensmittel-Vorräte reichten für einen Monat, und auch der Wasservorrat war ausreichend, falls der Tank nicht getroffen wurde.
Die Nachrichtenverbindung und das Versorgungsproblem waren jedoch nicht Aris größte Sorge. Stärker beunruhigte ihn die Gefahr eines Massakers. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern werde, bis die Wahrheit über die »bewaffnete Macht« Gan Dafnas bekannt wurde. Es gelang ihm, ein Dutzend spanischer Gewehre, Modell 1880, dreiundzwanzig in Palästina hergestellte Maschinenpistolen und eine ausrangierte ungarische Panzerabwehrkanone mit fünf Schuß Munition zusammenzubringen. Er schickte Seew Gilboa mit zwanzig Palmach-Soldaten als Verstärkung nach Gan Dafna. Sie waren zugleich beauftragt, die zusätzlichen Waffen mit hinaufzunehmen. Seews Leute wurden zu menschlichen Packeseln. Die Panzerabwehrkanone mußte auseinandergenommen und stückweise transportiert werden.
Am nächsten Tag traf ein Kurier vom Hauptquartier der Hagana in Tel Aviv bei Ari ein. Ari rief sofort die militärischen Befehlshaber der Siedlungen in seinem Gebietsabschnitt zusammen. Man hatte in Tel Aviv eine allgemeine Entscheidung über die Kinder in den Siedlungen an der Grenze getroffen. Es wurde nahegelegt, alle Kinder aus diesen Siedlungen in das Gebiet Scharon-Tel Aviv in der Nähe der Küste zu evakuieren, wo die Situation nicht so kritisch war und wo jedes Haus, jeder Kibbuz und Moschaw bereit war, sie aufzunehmen. Man konnte zwischen den Zeilen lesen: die Situation hatte sich so bedrohlich gestaltet, daß die Hagana offensichtlich daran dachte, die Kinder eventuell per Schiff zu evakuieren, falls es den Arabern gelingen sollte, bis zur Küste vorzustoßen.
Diese Empfehlung war kein Befehl. Die Entscheidung blieb jeder Siedlung selbst überlassen. Einerseits würden die Siedler mit noch größerer Entschlossenheit kämpfen, wenn ihre Kinder bei ihnen waren; andererseits war der Gedanke an ein Massaker grauenhaft. Für diese Pioniere und Neusiedler war die Evakuierung ihrer Kinder doppelt schmerzlich, sie wurde ihnen zum Symbol dafür, daß ihre Flucht noch immer nicht zu Ende war. Die meisten von ihnen waren nach schrecklichen Erlebnissen hierhergeflüchtet; ihre Siedlungen bedeuteten für sie die letztmögliche Zuflucht. Außerhalb von Palästina hatten sie nichts mehr zu hoffen.
Jede Siedlung traf ihre Entscheidung. Einige der älteren Siedlungen lehnten es rundheraus ab, ihre Kinder ziehen zu lassen. Andere erklärten, sie seien entschlossen, gemeinsam Widerstand zu leisten und gemeinsam zu sterben; sie wollten nicht, daß ihre Kinder die Leiden einer Flucht kennenlernen sollten. Siedlungen in den Bergen, die abgeschnitten waren und bereits die Härten der Belagerung zu ertragen hatten, brachten es irgendwie fertig, einen Teil der Kinder hinauszuschmuggeln, um sie aus der Gefahrenzone abtransportieren zu lassen.
Aber für die Kinder von Gan Dafna war jedermann verantwortlich. Aris Spione hatten ihm berichtet, Kawuky würde Mohammed Kassi immer stärker unter Druck setzen, um ihn zu veranlassen, Gan Dafna anzugreifen. In Gan Dafna wurden die Lebensmittel knapp und auch das Heizmaterial war fast vollkommen aufgebraucht. Der Wassertank hatte durch Einschläge in nächster Nähe mehrere lecke Stellen bekommen. Bei den Menschen begannen sich Folgen des Bunkerlebens bemerkbar zu machen, wenn sich auch niemand beklagte.
Die Hagana-Kommandeure der Siedlungen im Hule-Tal waren mit Ari einer Meinung, daß die jüngeren Kinder aus Gan Dafna fortgeschafft werden sollten. Es fragte sich nur, wie. Wieder einmal sah sich Ari genötigt, einen Plan zur Überwindung unüberwindlich scheinender Schwierigkeiten zu entwickeln. Da ihm keine andere Wahl blieb, faßte er einen phantastischen Entschluß, waghalsiger und riskanter als alles, was er bisher unternommen hatte.
Nachdem Ari die Einzelheiten seines Planes entwickelt hatte, ließ er David mit dem Auftrag zurück, ein Kommando für das Unternehmen aufzustellen, und machte sich selbst auf den Weg nach Gan Dafna. Jeder Schritt auf dem steilen Weg verursachte ihm heftige Schmerzen. Das angeschossene Bein versagte ihm im Laufe der Nacht mehrmals den Dienst. Dieses Handikap konnte er durch seine genaue Kenntnis des Weges wettmachen. Er war als Junge oft hier hinaufgeklettert. Er erreichte Gan Dafna, als der Morgen graute, und berief sofort die Gruppenführer und Abteilungsleiter zu einer Besprechung in den Kommandobunker. Unter den Versammelten befanden sich Seew, Jordana, Dr. Liebermann und Kitty Fremont.
»In Gan Dafna sind zweihundertfünfzig Kinder im Alter von weniger als zwölf Jahren«, sagte Ari ohne jede Einleitung. »Diese zweihundertfünfzig Kinder werden morgen abend evakuiert.«
Er sah in ein Dutzend verblüffte Gesichter.
»Im Augenblick versammelt sich eine Einsatzgruppe in Yad El«, fuhr Ari fort. »David ben Ami wird diese Gruppe von vierhundert Mann heute abend über den Westhang heraufführen. Wenn alles planmäßig verläuft und sie nicht entdeckt wird, müßten sie morgen bei Tagesanbruch hier sein. Zweihundertfünfzig Mann dieser Gruppe werden morgen abend die Kinder auf dem Rücken hinuntertragen. Der Rest von hundertfünfzig Mann wird den Transport sichern. Ich möchte noch erwähnen, daß diese Gruppe mit sämtlichen automatischen Schnellfeuerwaffen ausgerüstet sein wird, die es im Hule-Tal gibt.«
Die Leute im Bunker starrten Ari an, als ob sie einen Wahnsinnigen vor sich hätten. Eine Minute lang herrschte betretenes Schweigen. Schließlich erhob sich Seew Gilboa. »Ari«, sagte er, »ich habe dich vielleicht nicht ganz richtig verstanden. Hast du tatsächlich vor, zweihundertfünfzig Kinder bei Nacht den Berg hinuntertragen zu lassen?«
»Ja, so ist es.«
»Das ist schon am Tage für einen Mann ein gefährlicher Weg«, sagte Dr. Liebermann. »Und nun erst bei Nacht, mit einem Kind auf dem Rücken — einige der Leute werden bestimmt abstürzen.«
»Diese Gefahr besteht, aber das müssen wir eben riskieren.«
»Hör mal, Ari«, sagte Seew, »sie kommen verdammt nahe an Abu Yesha vorbei. Kassis Leute werden sie bestimmt entdecken.«
»Wir werden jede mögliche Vorsichtsmaßnahme beachten.«
Alle begannen plötzlich gleichzeitig zu reden und zu diskutieren. »Ruhe!« rief Ari. »Hier ist keine Volksversammlung. Ihr habt über diese Sache strengstes Stillschweigen zu bewahren. Keine unnötige Aufregung! Und jetzt verschwindet, alle miteinander. Ich habe eine Menge zu tun.«
Der Beschuß von Fort Esther war den ganzen Tag über besonders heftig. Ari nahm sich jeden Abschnittsleiter einzeln vor, um die Evakuierung bis in jede Einzelheit genau zu besprechen und den zeitlichen Ablauf von Minute zu Minute festzulegen.
Die zwölf Leute, die Kenntnis von dem Plan hatten, gingen bedrückt und mit düsteren Befürchtungen herum. Tausend Dinge konnten schiefgehen. Es konnte jemand ausrutschen, die Hunde in Abu Yesha konnten sie hören oder riechen, Kassi konnte das Manöver entdecken und alle Siedlungen im Hule-Tal angreifen, wenn er feststellte, daß sie ohne automatische Schnellfeuerwaffen geblieben waren.
Und doch war allen bewußt, daß Ari kaum etwas anderes übrigblieb. In einer Woche oder in zehn Tagen würde die Lage in Gan Dafna ohnehin verzweifelt sein.
Am Abend teilte David ben Ami, der mit der Einsatzgruppe in Yad El bereitstand, durch einen verschlüsselten Blinkspruch mit, daß er sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg machen werde. Die ganze Nacht hindurch arbeiteten sich die vierhundert Freiwilligen den steilen Hang hinauf und erreichten Gan Dafna kurz vor Morgengrauen, erschöpft und entnervt durch die Anstrengung der Klettertour. Ari empfing sie außerhalb des Ortes und führte sie zu einem dichten Gebüsch, in dem sie sich den Tag über versteckt halten sollten. Kassis Leute sollten sie nicht sehen, und er wollte nicht, daß ihr Erscheinen in Gan Dafna irgendwelche vagen Vermutungen auslöste.
Den ganzen Tag über hielten sich die Freiwilligen verborgen.
Zehn Minuten vor sechs Uhr, genau vierzig Minuten vor Sonnenuntergang: der entscheidende Teil des Unternehmens beginnt. Fünf Minuten vor sechs: die Kinder, die evakuiert werden sollen, werden gefüttert. Jedes Kind trinkt mit seiner Milch ein Schlafmittel. Viertel nach sechs: die Kinder werden in ihren unterirdischen Schlafräumen zu Bett gebracht. Man läßt sie gemeinsam Lieder singen, bis sie, durch das Narkotikum betäubt, in einen tiefen Schlaf fallen.
Sechs Uhr zweiunddreißig: die Sonne geht hinter Fort Esther unter. Sechs Uhr vierzig: Ari ruft sämtliche Angehörige des Stabs von Gan Dafna zu einer Besprechung vor den Schlafbunker der Kinder zusammen.
»Hören Sie bitte alle sehr genau zu«, sagte er mit zwingendem Ernst. »In einigen Minuten werden wir mit der Evakuierung der jüngeren Kinder beginnen. Jeder von Ihnen wird namentlich aufgerufen und erhält einen bestimmten Auftrag. Alles ist auf die Minute genau festgelegt, und die geringste Störung des planmäßigen Ablaufs kann unter Umständen sowohl das Leben der Kinder und ihrer Begleiter als auch Ihr eigenes Leben gefährden. Ich wünsche keinerlei Diskussion. Ich werde gegen jeden, der sich nicht strikt an seinen Auftrag hält, drastische Maßnahmen ergreifen.«
Sechs Uhr fünf und vierzig: Jordana bat Kanaan stellt rund um Gan Dafna eine Wache auf, die aus allen zurückbleibenden Kindern besteht. Diese Wache ist um das Vierfache stärker als normalerweise. Gleichzeitig gehen Seew Gilboa und seine zwanzig Mann Palmach, die zum Schutz von Gan Dafna abkommandiert worden sind, mit einem Spezialauftrag zur Sicherung des Unternehmens auf das Gebirge vor.
Sobald die Meldung kommt, daß alle Posten des dichten Sicherungrings um die Siedlung an Ort und Stelle seien, begeben sich fünfundzwanzig Angehörige des Stabes in die Bunker, um die schlafenden Kinder warm anzuziehen. Kitty geht von einem Kind zum andern und überzeugt sich, daß das Schlafmittel gewirkt hat. Jedem Kind wird der Mund mit einem breiten Klebestreifen zugeklebt, damit es selbst im Schlaf nicht schreien kann.
Sieben Uhr dreißig: die bewußtlosen Kinder sind angezogen und transportbereit. Ari bringt die Einsatztruppe aus ihrem Versteck. Von den Schlafbunkern aus wird eine Kette gebildet, und die schlafenden Kinder werden eins nach dem andern herausgereicht. Aus Gurten hat man behelfsmäßige Tragsitze zusammengenäht, so daß die Männer die Kinder wie Rucksäcke auf dem Rücken tragen können. Dadurch haben sie beide Hände frei für das Gewehr, und um sich beim Abstieg zu stützen.
Acht Uhr dreißig: die zweihundertfünfzig Mann mit ihren kleinen schlummernden Bündeln auf dem Rücken werden einer letzten Kontrolle unterzogen. Man überzeugt sich, daß die Kinder einwandfrei festgegurtet sind. Dann setzt sich die Reihe der Träger in Bewegung und zieht zum Haupteingang hinaus, wo das Sicherungskommando von einhundertfünfzig Mann mit automatischen Waffen bereitsteht. Unter Aris Führung entfernen sie sich über den Rand des Abhangs. Einer nach dem andern verschwindet langsam mit dem Kind auf dem Rücken im Dunkel der Nacht.
Die Zurückbleibenden standen schweigend am Tor von Gan Dafna. Es gab für sie jetzt nichts mehr zu tun, als den Morgen abzuwarten. Sie begaben sich langsam zurück in die Bunker, um die Nacht schlaflos zu verbringen, stumm und bebend vor Angst um die Kinder und um das Schicksal dieses seltsamen Geleitzuges.
Kitty Fremont stand, als der Zug verschwunden war, noch über eine Stunde lang allein draußen am Tor und starrte in die Dunkelheit.
»Es wird heute eine sehr lange Nacht werden«, sagte eine Stimme hinter ihr, »und es ist kalt hier draußen. Wollen Sie nicht lieber hineingehen?«
Kitty drehte sich um. Jordana stand vor ihr. Zum erstenmal, seit sie sie kennengelernt hatte, war Kitty wirklich froh, das rothaarige Sabre-Mädchen zu sehen. Seit sie sich entschlossen hatte, in Gan Dafna zu bleiben, hatte sie in zunehmendem Maße Bewunderung für Jordana empfunden. Denn Jordana trug die größte Verantwortung dafür, daß in Gan Dafna alles ruhig blieb. Sie hatte die Soldaten ihrer Gadna-Jugend mit einer Zuversichtlichkeit erfüllt, die ansteckend wirkte; diese halben Kinder zeigten den kriegerischen Mut erprobter Veteranen. In allen Schwierigkeiten, die sich seit der Sperrung der Straße ergeben hatten, war Jordana unverändert ruhig und energisch geblieben. Für eine junge Frau von noch nicht zwanzig war das eine schwere Bürde. Doch Jordana vermittelte den Menschen in ihrer Umgebung ein Gefühl der Sicherheit.
»Ja, es wird wirklich eine sehr lange Nacht werden«, sagte Kitty. »Dann könnten wir uns doch gegenseitig Gesellschaft leisten«, sagte Jordana. »Ich muß Ihnen etwas verraten. Ich habe im Bunker eine halbe Flasche Cognak versteckt. Heute nacht ist die richtige Gelegenheit, sie auszutrinken. Hätten Sie Lust, in meinem Bunker auf mich zu warten? Ich muß nur noch die Wachen hereinholen. In einer halben Stunde bin ich zurück.«
Kitty stand unbeweglich. Jordana nahm ihren Arm. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich drängend, »im Augenblick können wir sowieso nichts machen.«
Kitty hatte nervös im Kommandobunker gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht, bis Jordana endlich von ihrem Rundgang zurückgekommen war. Jordana nahm die braune Hagana-Mütze ab, und die langen roten Locken fielen ihr auf die Schultern. Sie rieb sich die vor Kälte erstarrten Hände und holte dann die Cognakflasche hervor, die sie an einer Stelle der Bunkerwand verborgen hatte, wo das Erdreich locker war. Sie wischte den Sand von der Flasche und schenkte Kitty und sich einen kräftigen Schluck ein.
»Le Chajim!« sagte Jordana und setzte das Glas an die Lippen.
»Ah, das tut gut.«
»Wie lange wird es dauern, bis sie an Abu Yesha vorbeikommen?« »Das wird erst nach Mitternacht sein«, antwortete Jordana.
»Ich habe mir immer wieder gesagt, daß alles gutgehen wird; doch nun fange ich an, an die tausend Dinge zu denken, die schiefgehen könnten.«
»Es ist unmöglich, nicht daran zu denken«, sagte Jordana. »Doch das steht jetzt in Gottes Hand.«
»In Gottes Hand?« sagte Kitty. »Ja, Gott vollbringt in diesem Lande wirklich besondere Dinge.«
»Wer hier in Palästina nicht religiös wird, der wird es vermutlich nirgendwo«, sagte Jordana. »Ich kann mich nicht erinnern, daß wir uns jemals durch irgend etwas anderes als durch unseren Glauben am Leben erhalten hätten. Er ist unsere einzige Stütze.«
Diese Worte klangen seltsam aus dem Mund von Jordana bat Kanaan. Äußerlich schien Jordana nicht tief gläubig; doch was hätte ihr sonst die Kraft und Standhaftigkeit geben sollen, unter dieser beständigen Spannung und Bedrohung zu leben, wenn nicht ihr unerschütterlicher Glaube?
»Kitty«, sagte Jordana plötzlich, »ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich habe mir sehr gewünscht, daß wir beide Freunde werden.«
»So?« sagte Kitty. »Und warum, Jordana?«
»Weil ich etwas von Ihnen gelernt habe — etwas, worüber ich eine ganz falsche Ansicht hatte. Ich habe gesehen, wie Sie hier mit den Kindern gearbeitet haben, und ich weiß, was Sie für Ari getan haben. Als Sie sich dazu entschlossen, in Gan Dafna zu bleiben, da ist mir etwas klargeworden. Ich begriff plötzlich, daß eine Frau wie Sie genausoviel Mut haben kann, wie — wie wir hier. Ich hatte immer geglaubt, Weiblichkeit sei ein Zeichen von Schwäche.«
»Das ist lieb von Ihnen, Jordana«, sagte Kitty mit schwachem Lächeln. »Doch ich fürchte, gerade heute nacht könnte ich recht gut ein bißchen was von eurer Art von Mut gebrauchen. Ich habe das Gefühl, daß ich drauf und dran bin, die Nerven zu verlieren.«
Kitty brannte sich eine Zigarette an, und Jordana schenkte ihr noch einen Cognak ein.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Jordana. »Sie wären doch die richtige Frau für Ari.«
Kitty schüttelte den Kopf. »Nein, Jordana«, sagte sie. »Wir sind, wie man bei uns sagt, zwei nette Leute, die aber nicht füreinander geschaffen sind.«
»Das ist wirklich schade, Kitty.«
Kitty sah auf ihre Uhr. Sie wußte aus den Besprechungen, daß sich die Männer jetzt dem ersten fast senkrecht abfallenden Steilhang nähern mußten. Man würde die Männer, die die Kinder auf dem Rücken trugen, anseilen und einen nach dem andern den Steilhang hinunterlassen. Es ging fast zehn Meter senkrecht nach unten. Vom Ende des Steilhangs würden sie den Hang im lockeren Erdreich rund hundert Meter weit hinunterrutschen müssen.
»Erzählen Sie mir ein bißchen was von sich und David«, sagte Kitty hastig. »Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»An der hebräischen Universität. Ich lernte ihn am zweiten Tag kennen. Ich sah ihn, und er sah mich, und wir liebten uns vom ersten Augenblick an und haben nie aufgehört, uns zu lieben.«
»So war es auch bei meinem Mann und mir«, sagte Kitty.
»Ich brauchte natürlich das ganze erste Semester, um ihm klarzumachen, daß er mich liebte.«
»Bei mir dauerte es noch länger«, sagte Kitty lächelnd.
»Ja, Männer können in solchen Dingen schrecklich schwer von Begriff sein. Doch bis zum Sommer wußte er sehr genau, zu wem er gehörte. Wir machten damals gemeinsam eine archäologische Expedition in die Negev-Wüste. Wir versuchten, den genauen Weg festzustellen, auf dem Moses mit den zehn Stämmen durch die Wildnis von Zin und Paran gezogen war.«
»Die Gegend dort soll ziemlich verlassen sein.«
»Durchaus nicht«, sagte Jordana. »Man stößt dort auf die Ruinen zahlreicher Städte der Nabatäer. Die Zisternen dieser Städte enthalten noch immer Wasser. Wenn man Glück hat, kann man alle möglichen Altertümer finden.«
»Das klingt aufregend.«
»Es ist aufregend«, sagte Jordana. »Doch es ist eine sehr mühsame Arbeit. David findet es wunderbar, Ausgrabungen zu machen. Er fühlt sich überall von der historischen Größe unseres Volkes umgeben. Es geht ihm damit genau wie so vielen anderen — und das ist der Grund, weshalb die Juden so tief mit diesem Land verbunden sind. David hat wunderbare Pläne. Nach dem Krieg wollen wir beide wieder an die Universität gehen. Ich werde meine Abschlußprüfung machen und David seinen Doktor, und dann wollen wir eine große hebräische Stadt ausgraben. Er will die Ruinen von Chazor freilegen, der alten hebräischen Stadt hier im Hule-Tal. Das sind natürlich nur Träume. Dazu braucht man viel Geld — und Frieden.« Jordana lachte ironisch. »Frieden«, sagte sie, »das ist natürlich ein abstrakter Begriff, eine Illusion. Ich möchte wissen, wie das wohl sein mag — Frieden!«
»Vielleicht fänden Sie ihn langweilig.«
»Ich weiß nicht«, sagte Jordana. »Einmal im Leben würde ich doch gern wissen wollen, wie Menschen unter normalen Verhältnissen leben.«
»Wollen Sie auch reisen?«
»Reisen? Nein. Ich tue, was David tut, und gehe dorthin, wo David hingeht. Aber einmal, Kitty, möchte ich gern in die Welt hinaus. Mein ganzes Leben lang hat man mir erzählt, daß unser gesamtes Dasein hier in Palästina beginnt und endet. Und doch — manchmal habe ich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Viele meiner Kameradinnen sind aus Palästina fortgegangen. Früher oder später sind sie wieder zurückgekommen. Wir Sabres scheinen eine sonderbare Sorte von Menschen zu sein, deren Lebenszweck es ist, zu kämpfen. Wir sind nicht imstande, uns anderswo einzugewöhnen — doch die Frauen werden hier so rasch alt.«
Jordana unterbrach sich. »Es muß am Cognak liegen«, sagte sie. »Sie wissen ja, die Sabres vertragen überhaupt nichts.«
Kitty lächelte Jordana zu. Zum erstenmal verspürte sie Mitleid mit dem Mädchen. Sie drückte ihre Zigarette aus und sah wieder auf ihre Uhr. Die Minuten schlichen dahin.
»Wo werden sie jetzt sein?« fragte sie.
»Noch immer an dem ersten Steilhang. Es dauert mindestens zwei Stunden, alle einzeln abzuseilen.«
Kitty stieß einen leisen Seufzer aus, und Jordana starrte vor sich hin. »Woran denken Sie?« fragte Kitty.
»Ich denke an David — und an die Kinder. In dem ersten Sommer damals in der Wüste fanden wir einen Friedhof, der mehr als viertausend Jahre alt war. Es gelang uns, das vollkommen erhaltene Skelett eines kleinen Kindes freizulegen. Vielleicht war es auf dem Weg in das Gelobte Land gestorben. David weinte, als er das Skelett sah. Er ist nun einmal so. Der Gedanke an die Belagerung von Jerusalem bedrückt ihn bei Tag und bei Nacht. Er wird bestimmt versuchen, irgend etwas Verzweifeltes zu unternehmen. Das weiß ich. — Wollen Sie sich nicht lieber hinlegen, Kitty? Es wird noch lange dauern, bis wir irgend etwas wissen.«
Kitty trank ihr Glas leer. Dann streckte sie sich auf dem Feldbett aus und schloß die Augen. Im Geist sah sie die lange Reihe der Männer vor sich, die nacheinander am Seil den Abhang hinuntergelassen wurden, und die schlafenden Kinder, die auf ihrem Rücken hingen. Und dann sah sie Kassis Araber vor sich, die im Hinterhalt lauerten und darauf warteten, bis die Reihe der Träger in die Falle ging.
Es war ihr unmöglich, zu schlafen.
»Ich glaube, ich werde einmal zum Bunker von Dr. Liebermann hinübergehen und nachsehen, wie es dort aussieht.«
Sie zog eine dicke Jacke an und ging nach draußen. Den ganzen Abend über war von Fort Esther kein Schuß gefallen. Kitty kam ein erschreckender Gedanke: vielleicht hatte Mohammed Kassi irgend etwas erfahren und war mit der Mehrzahl seiner Leute aus Fort Esther abmarschiert. Das Ganze gefiel ihr nicht. Der Mond war viel zu hell, die Nacht zu klar und still. Ari hätte eine neblige Nacht abwarten sollen, um die Kinder fortzuschaffen. Kitty sah hinauf und konnte oben am Berg die Umrisse von Fort Esther ausmachen. Sie müssen es gesehen haben, dachte sie.
Sie betrat einen der Bunker des Lehrkörpers. Dr. Liebermann und die übrigen Angehörigen des Stabes hockten auf ihren Kojen und starrten vor sich hin, von der Spannung wie gelähmt. Niemand sprach ein Wort. Es war so deprimierend, daß sie es nicht aushielt und wieder hinausging.
Karen und Dov standen Wache.
Kitty ging zurück zu dem Kommandobunker, aber Jordana war nicht mehr da. Sie streckte sich wieder auf dem Feldbett aus und legte sich eine Wolldecke über die Beine. Wieder erschien vor ihrem Geist das Bild der Männer, die mühsam Schritt für Schritt den Abhang hinunterstiegen. Die Anspannung des Tages hatte ihre Kräfte verbraucht. Sie versank in einen unruhigen Halbschlaf. Die Stunden verstrichen. Mitternacht — ein Uhr.
Kitty warf sich auf ihrem Lager hin und her. Ein Angsttraum peinigte sie. Sie sah Kassis Leute, die schreiend, mit gezogenen im Mondlicht schimmernden Säbeln, die Trägerkolonne angriffen. Die Verteidiger waren tot, alle Kinder waren in die Hände der Araber gefallen, die dabei waren, ein riesiges Massengrab für sie auszuheben.
Kitty fuhr mit einem Ruck hoch. Sie war schweißgebadet, und ihr Herz hämmerte wie wild. Sie zitterte am ganzen Leibe und drehte langsam den Kopf hin und her. Plötzlich drang ein Geräusch an ihr Ohr. Sie lauschte angespannt, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Was sie hörte, war das Geräusch entfernten Gewehrfeuers!
Sie erhob sich taumelnd. Ja, wahrhaftig! Das war Gewehrfeuer — und es kam aus der Richtung von Abu Yesha! Es war kein Traum! Der Transport war entdeckt worden!
Jordana betrat den Bunker in dem Augenblick, als Kitty gerade zur Tür stürzte.
»Lassen Sie mich hinaus!« schrie sie.
»Nein, Kitty, nein —.«
»Diese Mörder! Sie bringen meine Kinder um!«
Jordana mußte ihre ganz Kraft aufwenden, um Kitty gegen die Wand zu drücken.
»Hören Sie zu, Kitty! Dieses Gewehrfeuer, das Sie hören, ist ein Ablenkungsmanöver Seew Gilboas und seiner Leute. Sie greifen Abu Yesha von der entgegengesetzten Seite an, um Kassis Truppen von der Transportkolonne abzulenken.«
»Sie lügen!«
»Nein, ich sage die Wahrheit, ich schwöre es Ihnen. Ich hatte Anweisung, bis unmittelbar vor Beginn des Angriffs niemandem etwas davon zu sagen. Ich kam hier herein und sah, daß Sie schliefen, und bin dann wieder gegangen, um erst den anderen Bescheid zu sagen.«
Jordana führte Kitty zu dem Feldbett und zwang sie mit sanfter Gewalt, sich hinzusetzen. »Es ist noch ein kleiner Rest Cognak übrig. Da, trinken Sie.«
Kitty zwang sich, den Cognak hinunterzugießen, und versuchte, sich zu beruhigen. Jordana setzte sich neben sie und streichelte ihr die Hand. Kitty ließ ihren Kopf auf Jordanas Schulter sinken und weinte leise vor sich hin, bis sie sich ausgeweint hatte. Dann stand sie auf und zog sich eine Wolljacke an.
»Karen und Dov werden bald von ihrer Wache zurückkommen. Ich will in meinen Bunker gehen und einen Tee für sie kochen.«
Die Stunden der Dunkelheit zogen sich endlos in die Länge — die Nacht nahm kein Ende. Draußen in der Finsternis krochen die Männer auf dem Bauch an Abu Yesha vorbei, während Seew mit seinen Leuten auf der anderen Seite des Dorfes seinen Feuerüberfall inszenierte. Sie stiegen und rutschten eilig abwärts — abwärts.
Zwei Uhr morgens.
Alle, die in Gan Dafna warteten, sogar Jordana, waren am Ende ihrer Kräfte und hockten erschöpft und schweigend herum. Um Viertel nach fünf kamen sie aus den Bunkern heraus. Der Morgen war eisig kalt. Der Boden war von dünnem Rauhreif bedeckt. Alle gingen durch das Haupttor zu der Stelle hinaus, wo der Melder am Rande des Abhangs lag und nach unten spähte.
Die Dunkelheit hob sich langsam, und die Lichter im Tal erloschen. Eine nebliggraue Morgendämmerung enthüllte die ferne Tiefe.
Der Melder sah durch das Fernglas, spähte nach einem Lebenszeichen im Tal. Nichts.
»Da!«
Der Melder zeigte hinunter. Alle Blicke richteten sich auf Yad El, von wo die Morsezeichen einer Blinklampe heraufleuchteten.
»Was senden die denn da? Was heißt das?«
»Das heißt — X, 14, 16.«
Einen Augenblick lang herrschte ratlose Verwirrung. Der Blinkspruch wurde wiederholt: X, 14, 16.
»Sie sind in Sicherheit!« sagte Jordana und lächelte Kitty glücklich und erregt zu. »Exodus, Kapitel vierzehn, Vers sechzehn: Du aber hebe deinen Stab auf, und recke deine Hand über das Meer, und spalte es, daß die Kinder Israels hineingehen, mitten hindurch auf dem Trockenen.«
VI.
Vier Tage nach der Evakuierung liefen bei Ari mehrere Berichte ein. Die Kommandeure der Siedlungen in seinem Gebiet meldeten, daß der arabische Druck nachgelassen habe. Als Ari von Freunden aus Abu Yesha erfuhr, daß Kassi die Hälfte von den hundert dort stationierten Irregulären nach Fort Esther zurückbeordert hatte, wußte er, daß der Angriff auf Gan Dafna jeden Tag zu erwarten war. Ari nahm weitere zwanzig Leute vom Palmach — die allerletzten, die im Gebiet von Galiläa entbehrlich waren — und machte noch einmal die Klettertour hinauf nach Gan Dafna, um dort persönlich das Kommando zu übernehmen.
Insgesamt standen ihm vierzig Mann vom Palmach zur Verfügung, rund dreißig kampffähige Mitglieder des Stabspersonals und des Lehrkörpers, und Jordanas Gadna-Jugend, knapp über zweihundert. An Waffen hatte er hundertundfünfzig antiquierte Gewehre oder in Palästina hergestellte Maschinenpistolen, zwei Maschinengewehre, einige hundert selbst hergestellte Handgranaten, Landminen und Brandbomben, und außerdem noch die altertümliche ungarische Panzerabwehrkanone mit fünf Schuß Munition. Den Berichten seiner Feindaufklärung zufolge verfügte sein Gegner, Mohammed Kassi, über achthundert Mann, einen unbegrenzten Vorrat an Munition sowie Artillerie-Unterstützung, wozu noch einige weitere hundert Araber aus Ata und anderen feindlichen Dörfern an der libanesischen Grenze kamen.
Aris Munitionsvorrat war bedrohlich knapp. Er war sich darüber klar, daß der Angriff des Gegners sofort zerschlagen werden mußte. Aris einzige Überlegenheit war seine genaue Kenntnis des Gegners. Mohammed Kassi, der irakische Straßenräuber, verfügte über keinerlei taktische Ausbildung. Er hatte sich Kawuky in der Hoffnung angeschlossen, durch Plünderung reich zu werden. Ari hielt Kassis Leute nicht für sonderlich tapfer, doch es waren Leute, die man leicht in Raserei versetzen konnte. Sollten sie jemals im Laufe der Schlacht die Oberhand gewinnen, so verwandelten sie sich sicherlich in eine mordgierige Meute. Ari beabsichtigte, sich die Unwissenheit und Ahnungslosigkeit der Araber zunutze zu machen.
Er baute seinen Defensivplan auf der Annahme auf, daß Kassi einen Frontalangriff auf der direkten und kürzesten Linie von Fort Esther versuchen würde. Immer war die Taktik der Araber der frontale Angriff gewesen, schon damals, als er als Junge gegen sie gekämpft hatte. Ari konzentrierte seine Verteidigung auf einen einzigen Punkt. Dieser entscheidende Punkt in Aris Defensivplan war eine Schlucht, die sich zu einem Hohlweg verengte und wie ein Trichter nach Gan Dafna hinunterführte. Gelang es Ari, Kassis Leute in diese Schlucht zu locken, hatte er eine Chance. Seew Gilboa unterhielt Spähtrupps in den Felsen und dem Unterholz unmittelbar vor Fort Esther, die die Bewegungen der Araber beobachteten. Sie stellten fest, daß Kassi seine Leute massierte und zum Angriff bereitstellte.
Drei Tage nach Aris Ankunft in Gan Dafna erschien atemlos ein junger Melder mit der Nachricht in seinem Gefechtsstand, daß Kassis Leute, annähernd tausend Mann stark, das Fort verlassen hätten und den Hang herunterkämen. Innerhalb von zwei Minuten war »Alarmstufe schwarz« durchgegeben, und alle Männer, Frauen und Jugendlichen von Gan Dafna begaben sich auf ihre Posten und machten sich gefechtsbereit.
Ein tiefer Sattel bot Kassis Leuten Deckung, bis sie bei einer Kuppe unmittelbar oberhalb von Gan Dafna angekommen waren, rund sechshundert Meter von der Nordseite des Ortes und zweihundert Meter von der trichterförmigen Schlucht entfernt.
Aris Leute verschwanden in den Feuerstellungen und warteten.
Nach kurzer Zeit begannen oben am Rand der Kuppe Köpfe aufzutauchen, und innerhalb weniger Minuten wimmelte die Gegend von Arabern. Sie blieben stehen und starrten auf den seltsam stillen Ort hinunter. Den arabischen Offizieren war die Ruhe verdächtig. Auf beiden Seiten war bisher nicht ein Schuß gefallen. Von Fort Esther aus betrachtete Mohammed Kassi durch einen starken Feldstecher die Szene und lächelte, als er seine Leute sprungbereit oberhalb von Gan Dafna sah. Da die Juden bisher nicht geschossen hatten, wuchs seine Zuversicht, daß seine Männer den Ort widerstandslos überrennen würden. Ein Kanonenschuß von Fort Esther gab das Zeichen zum Angriff.
Die Verteidiger von Gan Dafna konnten hören, wie die arabischen Offiziere ihren Leuten Befehle zuriefen. Doch noch immer bewegte sich keiner von der Kuppe nach unten. Sie waren durch die völlige Stille des Ortes vor ihnen konsterniert. Immer mehr Araber begannen laut zu rufen und nach unten zu zeigen. Ihr Fluchen und wütendes Schreien schwoll an.
»Sie versuchen, sich zur Weißglut aufzuputschen«, sagte Ari.
Die disziplinierten jüdischen Soldaten zeigten weder ihre Gesichter noch die Waffen, obwohl es ihnen schwerfiel, sich angesichts der wild gestikulierenden und laut schreienden Feinde zurückzuhalten. Nachdem sie eine ganze Weile lang heftig palavert hatten, begannen die Irregulären plötzlich mit wildem Geschrei von der Kuppe nach unten zu stürmen, und Säbel und Bajonette blitzten stählern vor dem Hintergrund des Himmels.
Jetzt würde sich zeigen, ob die erste Phase von Aris Plan funktionierte. Nacht für Nacht hatte er Patrouillen vorgeschickt, um Landminen zu verlegen, die von Gan Dafna aus zur Detonation gebracht werden konnten. Diese Minen bildeten einen Korridor, durch den die Araber in die Mitte der Schlucht getrieben werden sollten.
Seew Gilboa, der am weitesten vorn lag, wartete, bis der Angriff der Araber in vollem Gange war. Als die wütende Meute das Minenfeld erreicht hatte, hob er eine grüne Signalflagge in die Höhe, und Ari betätigte von Gan Dafna aus die Zündung.
Zwanzig Minen, zehn auf jeder Seite, gingen gleichzeitig hoch. Das Dröhnen der Detonation lief donnernd die Berge entlang. Die Minen explodierten, die Angreifer drängten sich zusammen und stürmten im nächsten Augenblick in die Schlucht hinab.
Rechts und links der Schlucht hatte Ari seine vierzig Palmach-Leute placiert, die beiden Maschinengewehre und den gesamten Vorrat an Handgranaten und Brandbomben.
Als die Araber direkt unter ihnen vorbeirasten, eröffnete der Palmach mit den Maschinengewehren das Feuer und machte die Schlucht zum Schauplatz einer blutigen Treibjagd. Flammenwerfer verwandelten Dutzende der Irregulären in lebende Fackeln, während gleichzeitig ein Regen von Handgranaten auf die Angreifer niederging.
Außerdem brannte der Palmach Bündel von Knallkörpern ab, und aus Lautsprechern, die in den Bäumen aufgehängt waren, ertönte das Geräusch donnernder Explosionen. Der unablässige Lärm der wirklichen und der scheinbaren Waffen war ohrenbetäubend und schreckenerregend.
In Fort Esther gab Mohammed Kassi, rasend vor Wut, der Artillerie den Befehl, die Ränder der Schlucht vom Feind zu säubern. Die arabischen Kanoniere eröffneten aufgeregt das Feuer, doch die Hälfte der Schüsse traf ihre eigenen Leute. Schließlich gelang es ihnen, das eine der beiden Maschinengewehre zum Schweigen zu bringen.
Die erste arabische Welle war im Abwehrfeuer liegengeblieben, doch immer neue Angreifer strömten heran. Man hatte sie zu solcher Weißglut aufgestachelt, daß sie jetzt weiterstürmten, sinnlos vor Furcht.
Auch das zweite Maschinengewehr verstummte. Sein Lauf war ausgebrannt. Die Palmach-Männer verließen ihre Feuerstellungen an den Rändern der Schlucht und begaben sich eiligst nach Gan Dafna zurück, um dort den Angriff zu erwarten.
Die erste arabische Welle, wirre Knäuel laut schreiender Männer, näherte sich dem Dorf bis auf hundert Meter. David ben Ami entfernte die Tarnung der verbarrikadierten und mit Sandsäcken geschützten ungarischen Panzerabwehrkanone, jede der fünf Granaten enthielt zweitausend Schrotkugeln. Wenn die Sache richtig funktionierte, mußte die Kanone die Wirkung einer ganzen Kompanie haben, die gleichzeitig schoß.
Die vorderste dichtgedrängte Masse Araber kam heran auf fünfzig Meter — vierzig Meter — dreißig — zwanzig —.
David ben Ami lief der Schweiß über das Gesicht, während er das Visier der Kanone auf kürzeste Distanz einstellte.
Zehn Meter —.
»Feuer eins!«
Die uralte Panzerabwehrkanone machte einen Ruck und spie den Angreifern Schrotkugeln ins Gesicht. Markerschütternde Schreie ertönten, und während David die Kanone rasch von neuem lud, erblickte er wenige Meter vor sich Haufen von Toten oder Verwundeten und voll panischen Entsetzens gestikulierende Araber, die in wilder Flucht zurücktaumelten.
Die zweite Welle kam hinter der ersten heran.
»Feuer zwei!«
Die zweite Welle blieb im Feuer liegen.
»Feuer drei!«
Der dritte Schuß sprengte den Lauf der Kanone, doch sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Mit drei Schuß ihrer Schrotladungen hatte sie annähernd zweihundert der Angreifer kampfunfähig gemacht. Der Schwung des Angriffes war erlahmt.
Ein letztes Mal versuchte der Gegner zu stürmen. Noch einmal erreichten hundert Araber den Rand Gan Dafnas, doch sie wurden von Jordanas Gadna-Kämpfern, die in den Schützengräben standen, mit einer zusammengefaßten Salve empfangen.
Blutend und verwirrt zogen sich die überlebenden Araber in wilder Hast durch die mit Toten besäte Schlucht zurück. Als Seew Gilboa sah, daß der Gegner wich, rief er den Palmach-Soldaten zu, ihm zu folgen. Mit seinen vierzig Mann setzte er mehreren hundert fliehenden Arabern nach. Er trieb sie über die Kuppe zurück und blieb ihnen weiter auf den Fersen.
Ari, der durch den Feldstecher sah, rief wütend: »Dieser verdämmte Idiot! Er versucht, Fort Esther zu nehmen. Ich hatte ihm gesagt, daß er bei der Kuppe haltmachen soll.«
»Was ist nur in Seew gefahren?« stieß David mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Los, komm mit«, rief Ari. »Wir müssen versuchen, ihn aufzuhalten.«
Ari gab Jordana eilig die Anweisung, mit ihrer Gadna-Gruppe die Waffen der gefallenen und verwundeten Araber einzusammeln und sich mit den Jugendlichen dann nach Gan Dafna zurückzuziehen.
Sein Plan hatte sich als richtig erwiesen. Zwar hatte er in weniger als fünfzehn Minuten den größten Teil seiner Waffen und seiner Munition verausgabt, doch lag fast die Hälfte von Kassis Truppen tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld.
Mohammed Kassi sah, wie seine Leute zurück zum Fort flohen. Seew Gilboa war seinen Männern um fünfundzwanzig Meter voraus. Die arabischen Kanoniere von Fort Esther eröffneten das Feuer auf ihre eigenen fliehenden Leute, um den Palmach abzuwehren, der sie verfolgte. Einigen der Araber gelang es, in das Fort hineinzukommen. Die anderen, die den verfolgenden Juden zu nahe waren, wurden ausgesperrt und beschossen. Seew hatte inzwischen das äußere Stacheldrahtnetz passiert, das vierzig Meter von dem Fort entfernt war.
»Deckung!« schrie er seinen Leuten zu. Er warf sich auf den Boden und feuerte mit seiner Maschinenpistole auf die Schießscharten des Forts, bis seine Leute in Deckung waren. Als er erkannte, daß sein Angriff vergeblich war, machte er kehrt und versuchte, über den Hügel zurückzukriechen. Vom Fort kam jetzt aber ein Hagel von Geschossen, und Seew wurde getroffen. Er stand auf und begann zu laufen, wurde ein zweites Mal getroffen, fiel in den Stacheldraht und blieb hilflos darin hängen.
Seine Leute, die sich weiter hinten eingegraben hatten, wollten gerade wieder vorgehen, um Seew zu holen, als Ari und David bei ihnen ankamen.
»Da vorn ist Seew«, sagte man ihnen. »Er hängt im Stacheldraht.« Ari schaute aus seiner Deckung hinter einem großen Felsblock nach vorn. Bis zu Seew waren es hundert Meter über offenes Gelände. Hier und dort lagen zwar Felsblöcke, hinter denen er Deckung finden konnte, doch die letzte Strecke bis zu Seew war freies Feld.
Das Schießen von Fort Esther hörte plötzlich auf, und es wurde sehr still.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte David.
»Sie wollen Seew als Köder benutzen. Sie sehen, daß er bewegungsunfähig ist, und hoffen, daß wir versuchen werden, zu ihm zu kommen, um ihn zurückzuholen.«
»Diese Hunde — warum erschießen sie ihn nicht einfach?«
»Ist dir das denn nicht klar, David? Er hat seine Waffe verloren. Sie werden warten, bis wir uns zurückziehen, und dann werden sie versuchen, ihn lebend in ihre Hand zu bekommen. Sie werden an ihm für alle Leute Rache nehmen, die sie heute verloren haben.« »Mein Gott«, sagte David leise. Er sprang aus der Deckung, doch Ari schnappte ihn und zog ihn zurück.
»Gebt mir mal ein paar Handgranaten«, sagte Ari. »Gut. David, führe die Leute nach Gan Dafna zurück.«
»Ich lasse dich nicht allein dort hinaufgehen, Ari —.«
»Du tust, was ich dir befehle, verdammt noch mal!«
David wandte sich schweigend um und gab das Zeichen zum Rückzug. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er, wie Ari bereits den Hügel hinauflief.
Die Araber beobachteten, wie Ari herankam. Sie wußten, daß jemand versuchen würde, den Verwundeten zu holen. Sie wollten warten, bis er nahe genug heran war, und versuchen, auch ihn zu verwunden. Dann würden die Juden noch einen Mann vorschicken — und noch einen.
Ari sprang auf, rannte einige Meter vor und warf sich hinter einem Felsblock flach auf die Erde. Vom Fort fiel kein Schuß.
Ari robbte weiter vor bis zur nächsten Deckung. Er war jetzt nur noch zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo Seew im Stacheldraht hing. Er nahm an, daß die Araber vorhatten, solange zu warten, bis er bei Seew angelangt war und ein nicht mehr zu verfehlendes Ziel bot.
»Zurück!« rief Seew. »Hau ab!«
Ari spähte vorsichtig um den Rand des Felsblocks, hinter dem er lag. Er konnte Seew jetzt ganz deutlich sehen. Das Blut lief ihm über das Gesicht, strömte aus seinem Leib. Ari richtete den Blick auf Fort Esther. Er sah, wie die Sonne auf den Läufen der Gewehre schimmerte, die auf Seew gerichtet waren.
»Zurück!« rief Seew noch einmal. »Meine Därme hängen 'raus. Ich hab' keine zehn Minuten mehr — hau ab!«
Ari machte die Handgranaten von seinem Koppel los.
»Seew — ich werfe dir ein paar Handgranaten zu«, rief er auf deutsch. Er stellte die Zündung von zwei Handgranaten fest, damit sie nicht explodieren konnten, erhob sich rasch und warf sie zu dem Verwundeten hin. Die eine landete unmittelbar neben Seew, der sie ergriff und an sich drückte.
»Ich habe sie — und jetzt hau ab!«
Ari lief, so rasch er konnte, den Hügel wieder hinunter. Die Araber, die darauf gewartet hatten, daß er bis zu Seew herankäme, waren so überrascht, daß sie das Feuer erst eröffneten, als er bereits außer Schußweite war und sich langsam wieder auf den Rückweg nach Gan Dafna machte.
Seew Gilboa war allein. Sein Leben ging zu Ende. Die Araber ließen eine halbe Stunde verstreichen. Sie warteten, ob die Juden irgend etwas unternehmen würden, um dem Verwundeten zu Hilfe zu kommen. Sie wollten ihn lebend in ihre Hände bekommen. Schließlich öffnete sich das Tor von Fort Esther. Einige dreißig Araber strömten heraus und kamen von verschiedenen Seiten auf den Verwundeten zu.
Seew riß die Zündung der Handgranate an und hielt sie dicht an seinen Kopf.
Ari hörte das Krachen der Detonation und blieb stehen. Er wurde kreidebleich. Er schwankte. Sein Zwerchfell zog sich krampfhaft zusammen. Dann kroch er auf Händen und Füßen weiter, zurück nach Gan Dafna.
Ari saß allein in dem Bunker, in dem sich sein Gefechtsstand befand. Sein Gesicht war bleich und starr. Nur das Zittern seiner Backenmuskeln ließ erkennen, daß Leben in ihm war. Seine Augen blickten stumpf aus dunklen Höhlen.
Die Juden hatten vierundzwanzig Leute verloren: elf Jungens und drei Mädchen vom Palmach, sechs Angehörige des Stabspersonals und vier Kinder. Dazu kamen zweiundzwanzig Verwundete. Von Mohammed Kassis Leuten waren vierhundertachtzehn tot und hundertsiebenundsiebzig verwundet.
Die Juden hatten soviel Waffen und Munition erbeutet, daß Kassi es kaum wagen würde, Gan Dafna noch einmal anzugreifen. Doch die Araber saßen nach wie vor in Fort Esther und beherrschten die Straße, die durch Abu Yesha führte.
Kitty Fremont betrat den Bunker. Auch sie war am Ende ihrer Kräfte. »Alle verwundeten Araber sind nach Abu Yesha gebracht worden, bis auf diejenigen, die Sie vernehmen wollten.«
Ari nickte. »Und wie steht es mit unseren Verwundeten?«
»Zwei von den Kindern werden wohl kaum durchkommen. Bei den übrigen besteht keine Gefahr. Da — ich habe Ihnen ein bißchen Cognak mitgebracht«, sagte Kitty.
»Danke — danke —.«
Ari nahm einen Schluck und blieb stumm.,
»Und hier habe ich ein paar Sachen von Seew Gilboa«, sagte Kitty. »Es ist nicht viel — nur ein paar persönliche Dinge.«
»Ein Kibbuzbewohner hat nur wenig, was ihm selbst gehört. Nicht einmal sein Leben ist sein Eigentum«, sagte Ari sarkastisch.
»Ich habe Seew sehr gern gehabt«, sagte Kitty. »Gerade gestern abend erzählte er mir noch, wie er sich darauf freue, wieder seine Schafe zu hüten. Ich könnte mir denken, daß seine Frau Wert darauf legt, diese Dinge zu bekommen. Sie wissen vielleicht, daß sie wieder ein Kind erwartet.«
»Seew war ein verdammter Idiot!« stieß Ari zwischen den Zähnen hervor. »Er hatte nicht die geringste Veranlassung dazu, dieses Fort einnehmen zu wollen.«
Ari ergriff das Taschentuch, das die magere Hinterlassenschaft Seew Gilboas enthielt, und warf es in den Kerosinofen. »Liora ist ein feiner Kerl, und sie ist zäh. Sie wird darüber hinwegkommen. Aber mir wird es schwer werden, einen Ersatz für ihn zu finden.«
Kitty musterte Ari aus schmalen Augen. »Ist das Ihr einziger Gedanke — daß es schwer für Sie sein wird, einen Ersatz für ihn zu finden?«
Ari stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Leute wie Seew, die kann man nicht aus dem Boden stampfen.«
»Ist Ihnen eigentlich überhaupt nichts heilig?«
»Sagen Sie mal, Kitty — als damals Ihr Mann gefallen war, bei Guadalcanal, hat da sein Kommandeur etwa Totenwache für ihn gehalten?«
»Ich hatte gedacht, daß die Sache hier doch etwas anders sei, Ari.
Sie kennen Seew seit Ihrer Kindheit. Seine Frau ist ein Mädchen aus Yad El. Sie ist in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft aufgewachsen.« »Na und? Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Weinen sollten Sie, weinen um dieses arme Mädchen!«
Einen Augenblick zuckte es in Aris Gesicht, und seine Lippen zitterten; doch dann war sein Gesicht wieder starr und unbeweglich. »Es ist für mich nichts Neues, einen Mann auf dem Schlachtfeld sterben zu sehen. Und jetzt verschwinden Sie hier —.«
VII.
Die Belagerung von Safed hatte genau einen Tag nach der Abstimmung der UNO-Vollversammlung vom 29. November 1947 begonnen, bei der die Mehrheit für die Teilung Palästinas gestimmt hatte. Als die Engländer im Frühling 1948 aus Safed abzogen, übergaben sie, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, den Arabern die drei Schlüsselpositionen: das unmittelbar oberhalb des jüdischen Viertels gelegene Gebäude der Polizei, die Akropolis, die die gesamte Stadt beherrschte, und das vor der Stadt am Berge Kanaan gelegene Teggart-Fort.
Safed hatte die Form eines umgekehrten Kegels. Das jüdische Viertel bildete ein schmales Segment, das etwa ein Achtel der Oberfläche dieses Kegels ausmachte, und dieses Segment war oben und unten auf beiden Seiten von Arabern umgeben. Die Juden verfügten nur über zweihundert Mann Hagana, die noch dazu mangelhaft ausgebildet waren. Ihre Weigerung, sich evakuieren zu lassen, und ihr Entschluß, bis zum letzten Mann zu kämpfen, entsprach der heroischen Tradition der alten Hebräer. Die Juden von Safed, die ihr Leben dem Studium der Kabbala gewidmet hatten und am wenigsten dazu fähig gewesen waren, sich zur Wehr zu setzen, waren die ersten Opfer der vom Mufti inszenierten blutigen Ausschreitungen gewesen. Es war nicht das erste Mal, daß eine fanatisierte arabische Meute über sie hergefallen war, und sie hatten sich stets geduckt und ängstlich verkrochen. Diesmal aber waren sie entschlossen, sich zum Kampf zu stellen und nötigenfalls kämpfend zu sterben. Einen Tag, nachdem die Engländer abgezogen waren, schleuste Ari Joab Yarkoni mit dreißig jungen Männern und zwanzig jungen Frauen vom Palmach heimlich in das jüdische Viertel von Safed. Ihre Ankunft wurde mit einem ausgelassenen Fest gefeiert. Es war Sabbat, Yarkonis Leute waren vom Marsch durch feindliches Gebiet erschöpft und hungrig. Zum erstenmal seit Jahrhunderten brachen die strenggläubigen Kabbalisten die Vorschriften des Sabbats, indem sie für die Männer und Frauen, die zu ihrer Verstärkung gekommen waren, eine warme Mahlzeit bereiteten. Kawuky, der Safed als vorläufigen Sitz des Mufti sicherzustellen wünschte, gab seinen Streitkräften den Befehl, das jüdische Viertel zu erobern. Wiederholt versuchten die Araber einzudringen, aber jedesmal wurden sie wieder hinausgeworfen. Sie waren sich sehr bald darüber klar, daß sie das jüdische Viertel nur in einem harten Kampf um jede Straße und jedes Haus besetzen konnten. Sie überlegten sich die Sache noch einmal, verlegten sich dann wieder auf ihre alte Taktik der Belagerung und schossen nur aus sicherer Entfernung.
Die militärische Führung der Juden lag bei Remez und Joab Yarkoni. Brigadier Sutherland hatte seine Villa auf dem Berge Kanaan verlassen. Er war der einzige Gast in dem Touristenhotel von Remez. Man holte ihn gelegentlich heran, um ihn um seinen Rat zu bitten, doch er stellte fest, daß die Juden ihre Sache auch ohne ihn sehr gut machten.
Remez hielt es für seine erste Aufgabe, eine bestimmte Zone als Gefechtsfront und Schußfeld freizulegen. Das jüdische Viertel und die anschließenden arabischen Wohnviertel lagen so dicht beieinander, daß es für arabische Spähtrupps leicht war, sich einzuschleichen und die ohnehin schwache Defensive aufzusplittern. Remez wollte einen klaren Zwischenraum zwischen seinen eigenen Leuten und dem arabischen Gegner schaffen. Yarkoni drang mit einem Stoßtrupp in das arabische Viertel ein, besetzte ein Dutzend der an der Grenze gelegenen Häuser und begann, aus den Fenstern dieser Häuser auf die Araber zu schießen. Dann zog er sich wieder zurück. Sobald die Araber in die eroberten Häuser zurückkamen, griff Yarkoni von neuem an und eroberte dieselben Häuser am Rande des arabischen Viertels zurück. Schließlich sprengten die Araber diese Häuser in die Luft, damit die Juden sie nicht weiter als Schießstände benutzen konnten. Das war genau das, was Remez gewollt hatte — dadurch entstand zwischen den beiden Sektoren ein freier Raum, der für die Juden besser und leichter zu verteidigen war. Dann inszenierten Remez und Yarkoni die zweite Phase ihres Planes. Yarkoni machte sich daran, die Araber Tag und Nacht zu beunruhigen. Jeden Tag schickte er drei oder vier Patrouillen in den arabischen Sektor, die plötzlich zuschlugen und sich dann sofort wieder zurückzogen. Der Angriff erfolgte jedesmal an einer anderen Stelle. Wann immer die Araber ihre Leute an einem bestimmten Platz konzentriert hatten, waren die Juden durch ihr Spionagesystem genau darüber unterrichtet. Sie wußten stets, wo sie anzugreifen und welche Orte sie zu meiden hatten.
Doch was die Araber in geradezu hysterische Angst versetzte, waren die Nachtpatrouillen des Palmach. Yarkoni, der in Marokko aufgewachsen war, kannte seinen Gegner genau. Die Araber waren zumeist abergläubische Menschen, die eine übertriebene Furcht vor der Dunkelheit hatten. Das machte sich Yarkoni zunutze. Seine Nachtpatrouillen, die nichts weiter taten, als mit harmlosen Feuerwerkskörpern zu knallen, hielten die arabische Bevölkerung in beständiger Furcht.
Remez und Yarkoni waren sich darüber klar, daß ihre Taktik aus Verzweiflungsmaßnahmen bestand. Sie waren nicht in der Lage, dem Gegner ernsthaften Schaden zuzufügen, und das rein zahlenmäßige Übergewicht der Araber, ihre bessere Ausrüstung und Positionsvorteile machten sich immer bedrohlicher bemerkbar. Wenn Palmach oder Hagana einen Mann verloren, so konnte er nicht ersetzt werden. Fast genauso schwierig war es, Nahrung heranzuschaffen. Die Munition war so knapp, daß jeder Soldat, der unüberlegt einen Schuß abgab, bestraft werden mußte.
Ungeachtet dieser absoluten Überlegenheit des Gegners verteidigten und hielten die Juden jeden Zentimeter ihres Viertels, und ihr großartiger Kampfgeist blieb unverändert. Ihre einzige Verbindung mit der Außenwelt stellte ein Funkgerät dar; dennoch ging der Schulunterricht unverändert und regelmäßig weiter, jeden Tag erschien eine Ausgabe der kleinen Zeitung, und die Frommen versäumten keine Minute in der Synagoge.
Den ganzen Winter hindurch und in den Frühling hinein hielt die Belagerung an. Yarkoni besprach eines Tages mit Sutherland und Remez die Lage. Das Ergebnis war bitter. Die Juden hatten fünfzig ihrer besten Soldaten verloren, sie waren bei den letzten zwölf Sack Mehl angelangt, und die Munition reichte keine fünf Tage mehr. Yarkoni hatte nicht einmal mehr Knallkörper für seine Nachtpatrouillen. Die Araber, die die Schwäche spürten, wurden allmählich dreister.
»Ich hatte Ari versprochen, ihn nicht mit unseren Schwierigkeiten hier zu behelligen«, sagte Yarkoni. »Doch ich fürchte, ich muß ihn jetzt aufsuchen und mit ihm reden.«
Noch in der gleichen Nacht stahl er sich aus Safed fort und suchte Ari in seinem Hauptquartier auf. Er gab ihm einen genauen Lagebericht und sagte zum Schluß: »Es ist mir sehr unangenehm, dich damit zu behelligen, Ari, aber in drei Tagen werden wir anfangen müssen, Ratten zu essen.«
Ari brummte vor sich hin. Die standhafte Verteidigung der Juden von Safed war für den gesamten Jischuw ein begeisternder Ansporn gewesen. Safed war nicht nur ein strategisch wichtiger Punkt, es hatte sich auch zu einem Symbol des entschlossenen Widerstandes entwickelt. »Wenn es uns gelingen sollte, die Schlacht um Safed zu gewinnen, dann wäre das ein verheerender Schlag für die Moral der Araber in ganz Galiläa«, sagte er.
»Ari — jedesmal, wenn wir einen Schuß abgeben müssen, gibt es vorher eine Diskussion darüber.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Ari. »Komm mit.«
Ari teilte eine Nachtpatrouille ein, die wenigstens einen kleinen Nachschub an Verpflegung nach Safed hineinbringen sollte, und ging dann mit Joab zur Waffenkammer. Dort zeigte er dem verblüfften Marokkaner ein seltsames Gebilde aus Gußeisen und Schrauben.
»Was zum Teufel ist das?« fragte Joab.
»Joab — was du vor dir siehst, ist eine Davidka.«
»Eine Davidka?«
»Ja, ein Kleiner David, ein Erzeugnis jüdischen Erfindungsgeistes.« Joab strich sich nachdenklich über das Kinn. In gewisser Hinsicht mochte das Ding Ähnlichkeit mit einer Waffe haben. Und doch gab es auf der ganzen Welt nichts, was man mit diesem Gebilde hätte vergleichen können.
»Und was kann man mit diesem Ding anfangen?« fragte Joab.
»Wie mir gesagt wurde, kann man damit Granaten abschießen, wie mit einem Mörser.«
»Und wie funktioniert das?«
»Keine Ahnung. Wir haben es noch nicht ausprobiert. Doch nach einem Bericht aus Jerusalem soll es sich als sehr wirkungsvoll erwiesen haben.«
»Für wen — für die Juden oder für die Araber?«
»Hör zu, Joab. Ich habe diese Waffe für eine besondere Gelegenheit aufgespart. Jetzt ist diese Gelegenheit da. Der Kleine David ist dein — nimm ihn mit nach Safed.«
Die Nachtpatrouille, die die Notrationen nach Safed trug, brachte auch den Kleinen David und fünfzehn Kilo Munition mit. Sofort nach seiner Rückkehr rief Joab Yarkoni die Führer der Hagana und des Palmach zusammen, und stundenlang stellte man Vermutungen darüber an, wie das Monstrum wohl funktionierte. Zehn Leute waren dabei anwesend, und es gab zehn verschiedene Ansichten.
Schließlich kam jemand auf den Gedanken, Brigadier Sutherland kommen zu lassen. Er wurde im Hotel aus dem Bett geholt und zum Hauptquartier gebracht. Er betrachtete den Kleinen David mit ungläubigem Staunen.
»Nur ein Jude konnte sich so etwas ausdenken«, sagte er schließlich. »Wie ich höre, soll sich das Ding in Jerusalem als sehr wirkungsvoll erwiesen haben«, sagte Joab entschuldigend.
Sutherland betätigte sämtliche Hebel, Griffe und Visiereinrichtungen, und im Verlauf der nächsten Stunden entwickelten sie ein Abschußverfahren, das möglicherweise zum Ziel führen würde — allerdings nur möglicherweise.
Am nächsten Morgen wurde die Davidka an eine freie Stelle gebracht und so aufgestellt, daß sie ungefähr in die Richtung des von den Arabern besetzten Polizeigebäudes und einiger in der Nähe gelegener Häuser zeigte, die von den Arabern benutzt wurden, um von dort aus Schüsse auf das jüdische Viertel abzugeben.
Die Munition des Kleinen David sah genauso sonderbar aus wie das Geschütz. Sie hatte die Form einer Keule, deren oberes Ende aus einem Eisenzylinder bestand, der mit Dynamit gefüllt und mit Zündköpfen versehen war. Der dicke Stiel der Keule sollte angeblich in das Rohr des Mörsers hineinpassen. Beim Abschuß sollte der Stiel mit solcher Gewalt herausgeschleudert werden, daß er die ganze vorderlastige Dynamitladung auf das Ziel zuwirbelte. Sutherland fürchtete, daß die sonderbare Keule nur ein paar Meter weit fliegen und unmittelbar vor ihnen in die Luft gehen würde.
»Falls dieser Sprengkopf einfach nur aus dem Ende des Rohres herausfällt — wie ich mit Sicherheit annehme«, sagte er, »dann werden wir höchstwahrscheinlich die gesamte jüdische Bevölkerung von Safed einbüßen.«
»Dann schlage ich vor, daß wir eine lange Leine daran festmachen, damit wir das Ding aus sicherer Entfernung abschießen können«, sagte Remez.
»Und wie zielen wir damit?« fragte Yarkoni.
»Es hat nicht viel Sinn, mit diesem Monstrum zielen zu wollen«, sagte Sutherland. »Stellt es einfach so auf, daß es ungefähr in die richtige Richtung zeigt, und dann wollen wir beten, daß alles gut geht.« Der Rabbi und viele der frommen Kabbalisten versammelten sich um den Kleinen David und debattierten lang und breit darüber, ob diese Waffe für sie alle den Tag des Gerichts bedeutete oder nicht. Schließlich sprach der Rabbi über dem Geschütz segnende Worte und bat Gott, sie gnädigst zu verschonen, denn sie hätten wahrlich in Frömmigkeit gelebt und alle Gesetze beachtet.
»Also los — damit wir es bald hinter uns haben«, sagte Remez pessimistisch.
Die Kabbalisten entfernten sich eilig und begaben sich in Sicherheit. In das Rohr des Mörsers wurden Zündhütchen geschoben. Eins der keulenähnlichen Geschosse wurde vorsichtig hochgehoben. Man steckte den langen Stiel in das Rohr. Der mit Dynamit gefüllte eiserne Zylinder schwebte bedrohlich über dem Ende des Rohres. An dem Abschußmechanismus wurde eine lange Leine befestigt. Alles begab sich in Deckung. Die Erde stand still.
»In Gottes Namen — schießt«, befahl Yarkoni mit unsicherer Stimme.
Remez riß an der Leine — und das Unerwartete geschah: der Kleine David schoß. Der Stiel fuhr zischend aus dem Rohr, und der Dynamitkübel flog, sich um sich selbst drehend, im Bogen den Berg hinauf. Während er durch die Luft wirbelte und kleiner und kleiner wurde, machte er ein unheimlich zischendes Geräusch. Dann schlug das Geschoß krachend in ein arabisches Haus in der Nähe des Polizeigebäudes ein.
Sutherland fiel der Unterkiefer herunter.
Yarkonis Schnurrbart ging in die Höhe.
Remez machte große Augen.
Die alten Kabbalisten unterbrachen ihr Gebet lange genug, um dem Geschoß erstaunt nachzusehen.
Die Keule explodierte mit Donnergetöse und ließ die Stadt bis in ihre Grundfesten erzittern. Es hörte sich an, als sei der halbe Hang in die Luft gesprengt worden.
Nach einer kurzen Pause schweigender Verblüffung brachen die Verteidiger des jüdischen Viertels in laute Freudenrufe aus, umarmten und küßten sich, beteten und jubelten.
»Beim Zeus!« war alles, was Sutherland sagen konnte. »Beim Zeus!«
Die Palmach-Angehörigen bildeten einen Ring um den Kleinen David und tanzten eine Horra.
»Kommt, Leute, wir wollen einen zweiten Schuß abgeben.«
Die Araber hörten, wie die Juden jubelten, und sie wußten, warum. Schon das Geräusch der fliegenden Bombe genügte, um tödlichen Schrecken zu verbreiten, ganz zu schweigen von der Explosion. Weder von den Palästina-Arabern noch von den Irregulären hatte jemand mit etwas Derartigem gerechnet; jeder Schuß, den der Kleine David abgab, hatte Verheerung und Chaos zur Folge.
Joab Yarkoni meldete Ari, daß der Kleine David bei den Arabern eine Panik ausgelöst habe.
Ari, der jetzt eine Chance spürte, entschloß sich zu einem riskanten Versuch, die gegebene Situation auszunutzen. Er brachte mit ein paar Mann aus jeder Siedlung zwei Kompanien Hagana zusammen und begab sich mit ihnen und weiterer Munition für den Kleinen David bei Nacht in das jüdische Viertel von Safed.
Drei Tage nach der Ankunft des Kleinen David in Safed öffnete sich der Himmel, und es regnete in Strömen. Ari ben Kanaan benutzte diesen Wolkenbruch für den größten Bluff dieses Krieges, in dem der Bluff eine wirksame Waffe war. Durch Remez ließ er alle arabischen Spitzel zusammenrufen und gab ihnen eine vertrauliche Information.
»Falls ihr es noch nicht wissen solltet, Brüder«, sagte er ihnen auf Arabisch, »— wir haben eine geheime Waffe. Ich bin nicht befugt, über die Art dieser Waffe genauere Angaben zu machen, doch soviel darf ich vielleicht sagen, daß es, wie euch allen ja bekannt ist, jedesmal nach einer Atom-Explosion zu regnen pflegt. Ist es nötig, noch mehr zu sagen?«
Innerhalb weniger Minuten hatten die Spitzel die Nachricht verbreitet, daß der Kleine David eine Geheimwaffe war. Innerhalb einer Stunde hatte es sich bei sämtlichen Arabern von Safed herumgesprochen: Die Juden besaßen die Atombombe!
Der Kleine David fauchte und krachte, der Regen steigerte sich zum Wolkenbruch und die Panik war da. Nach zwei Stunden waren die Straßen, die aus Safed herausführten, dicht bevölkert von fliehenden Arabern.
Ari ben Kanaan ging mit dreihundert Mann Hagana zum Angriff vor. Der Angriff erfolgte spontan, und Aris Leute wurden durch Irreguläre und eine Handvoll erbitterter Safed-Araber wieder aus der Akropolis hinausgeworfen. Die Hagana hatte schwere Verluste, doch die Flucht der arabischen Bevölkerung von Safed hielt an. Drei Tage später, als fast die gesamte arabische Zivilbevölkerung Safed verlassen hatte und Hunderte von Irregulären desertiert waren, unternahmen Ari ben Kanaan, Remez und Joab Yarkoni einen besser vorbereiteten, aus drei verschiedenen Richtungen vorgetragenen Angriff auf die Akropolis und eroberten sie.
Jetzt waren die Rollen vertauscht. Die Juden saßen oben auf dem Gipfel über dem Gebäude der arabischen Polizei. Jetzt war für die Araber, die sich jahrzehntelang wie eine fanatisierte Meute auf die wehrlosen Kabbalisten gestürzt hatten, die Gelegenheit gekommen, sich zum Kampf zu stellen; doch sie zogen es vor, sich dem Zorn der Juden durch die Flucht zu entziehen. Das Polizeigebäude fiel in die Hand der Hagana, und Ari ging sofort danach mit seinen Leuten hinaus vor die Stadt, um das riesige Teggart-Fort am Berge Kanaan, die stärkste Bastion der Araber, zu blockieren. Als er bei dem Fort ankam, stellte er zu seiner Verblüffung fest, daß die Araber diese fast uneinnehmbare Festung einfach aufgegeben hatten und abgezogen waren. Die Eroberung von Safed war abgeschlossen.
Dieser Sieg erschien wie ein Wunder. Die Juden von Safed, deren Position so bedrohlich gewesen war, daß man ihre Verteidigung für unmöglich gehalten hatte, hatten die Stellung nicht nur gehalten, sondern mit ein paar hundert Mann und einer sonderbaren Waffe, dem sogenannten Kleinen David, sogar die Stadt erobert.
Es wurde lang und breit darüber diskutiert, und viele verschiedene Theorien wurden darüber aufgestellt, wie es eigentlich zu diesem gekommen war. Selbst die Kabbalisten von Safed waren in dieser Frage verschiedener Meinung. Rabbi Chajim, ein Vertreter der Aschkenasim, der europäischen Juden also, war davon überzeugt, daß Gott eingegriffen hatte, wie im Buche Hiob geweissagt: Wenn er aber seinen Bauch füllen will, wird Gott ihn treffen mit seinem Zorn, und es wird Feuer auf ihn regnen, während er isset. Er wird fliehen vor der eisernen Waffe —.
Rabbi Meir, ein Vertreter der Sephardim, der aus Spanien vertriebenen Juden, widersprach Chajim, war aber ebenso sicher, daß Gott eingegriffen hatte, wie bei Ezechiel zu lesen:
Deine Mauern werden erzittern von dem Getöse — er wird durch deine Tore schreiten, wie Männer eindringen in eine Stadt, in deren Mauer man eine Bresche gelegt hat — deine starke Festung wird dem Erdboden gleichgemacht werden.
Bruce Sutherland kehrte zu seinem Landhaus am Berge Kanaan zurück. Die Araber hatten es verwüstet, den schönen Rosengarten zertrampelt, und alles gestohlen, sogar die Türklinken. Doch Sutherland trug es mit Fassung. Das alles ließ sich reparieren. Er ging mit Yarkoni und Remez auf die Terrasse hinter dem Haus, und die drei Männer sahen über das Tal hinüber nach Safed. Sie tranken eine Menge Brandy und lachten leise in sich hinein. Weder sie noch irgendein Mensch ahnten, daß die wilde Flucht der Einwohner von Safed ein neues, tragisches Kapitel eröffnet hatte. Diese Flucht war der Beginn des arabischen Flüchtlingsproblems.
Irgendwo über Galiläa suchten die Piloten eines ausrangierten Bombers vom Typ Liberator nach zwei blauen Signalfeuern. Schließlich landete die Maschine mehr oder weniger blind, nur von einigen Taschenlampen eingewiesen. Rumpelnd rollte der alte Bomber über die Unebenheiten der Landebahn. Die Motoren wurden eilig abgestellt.
Ein Schwarm von Menschen stürzte sich auf das Flugzeug und löschte die Ladung, die erste Lieferung moderner Waffen: Gewehre, Maschinengewehre, Granatwerfer und mehrere hunderttausend Schuß Munition.
Innerhalb von Minuten hatten die Arbeitskommandos die Maschine entladen. Sie beluden eine Reihe Lastwagen, die sich eilig nach verschiedenen Richtungen entfernten. In einem Dutzend Kibbuzim standen Gadna-Jungscharen bereit, um die Waffen zu reinigen und zu den im Kampf befindlichen Siedlungen hinauszubringen. Die Maschine wendete und flog zurück nach Europa, um von dort weitere Waffen herbeizuschaffen.
Am Morgen erschien ein britisches Kommando und stellte Untersuchungen an, da die Araber gemeldet hatten, ein Flugzeug sei gelandet. Die Engländer konnten nicht die geringste Spur eines Flugzeugs entdecken und waren überzeugt, daß den Arabern wieder einmal ihre Phantasie durchgegangen war.
Als die vierte und die fünfte Waffenladung ankam, begannen die Juden, Siege einzuheimsen. Tiberias am See Genezareth fiel in die Hand der Juden. Sie eroberten das Teggart-Fort und wehrten wiederholt Angriffe irregulärer irakischer Streitkräfte ab.
Nach dem Fall von Safed starteten die Juden ihre erste koordinierte Offensive, das Unternehmen ,Eiserner Besen', um das Land Galiläa von feindlichen Stützpunkten zu säubern. Mit Maschinengewehren bestückte Jeeps preschten in die Ortschaften und trieben die Araber in wilder Flucht vor sich her. Der Fall von Safed hatte der Moral der Araber einen heftigen Stoß versetzt, und dieses psychologische Moment begünstigte auch das Gelingen der Operation ,Eiserner Besen'.
Nachdem die Juden eine ganze Reihe einzelner, örtlich begrenzter Siege errungen und die Erfahrung gewonnen hatten, daß sie auch in einer Offensive erfolgreich sein konnten, nahmen sie sich die lebenswichtige Hafenstadt Haifa vor.
Über die Hänge des Karmelberges trug die Hagana einen Angriff vor, dessen vier Stoßkeile sich jeweils gegen eine arabische Schlüsselposition richteten. Die arabischen Streitkräfte, bestehend aus Heimwehr und aus syrischen, libanesischen und irakischen Irregulären, leisteten wirkungsvoll Widerstand und waren zunächst in der Lage, die Kräfte des angreifenden Gegners zu binden. Die Engländer, die noch immer das Hafengebiet kontrollierten, ordneten einen Waffenstillstand nach dem anderen an, um den Angriffen der Juden Einhalt zu gebieten, und nahmen ihnen dabei gelegentlich sogar strategisch wichtige Stellungen wieder ab, die die Juden vorher in schweren Kämpfen erobert hatten.
Die Araber setzten dem unablässigen jüdischen Druck weiterhin wirkungsvollen Widerstand entgegen. Doch als dann die Kämpfe besondere Heftigkeit erreichten, machte sich der arabische Kommandeur mit seinem gesamten Stab heimlich aus dem Staube. Die arabische Verteidigung, die nun ohne Führung war, fiel in sich zusammen. Als die Juden in die arabischen Stadtviertel eindrangen, befahlen die Engländer erneut einen Waffenstillstand.
In diesem Augenblick aber nahm die Sache eine verblüffende Wendung: die Araber erklärten plötzlich und völlig überraschend, daß die gesamte Bevölkerung wünsche, die Stadt zu verlassen. Das Ganze ging auf die gleiche sonderbare Weise vor sich wie in Safed und vielen der kleineren Ortschaften. Es war ein seltsames Schauspiel, zu sehen, wie die gesamte arabische Bevölkerung in Richtung auf die libanesische Grenze flüchtete, ohne daß sie verfolgt wurde.
Akko, eine rein arabische Stadt, dazu überfüllt von arabischen Flüchtlingen, fiel nach einer mit halbem Herzen geführten Verteidigung, die nur drei Tage dauerte, in die Hand der Hagana. Wie eine ansteckende Krankheit griff die Mutlosigkeit auf den arabischen Teil der Stadt Jaffa über, wo die Makkabäer, die den mittleren Frontabschnitt innehatten, einen Angriff vortrugen, durch den dieser älteste Hafen der Welt in die Hand der Juden fiel. Auch aus Jaffa flohen die Araber.
Im Korridor von Jerusalem gelang es Abdul Kader, die Juden aus der entscheidenden Höhenstellung von Kastei zu vertreiben, doch Hagana und Palmach griffen sofort wieder an und warfen die Araber hinaus. Kader sammelte seine Leute und griff Kastei abermals an. Bei diesem Angriff fand er den Tod. Der Verlust ihres einzigen wirklich befähigten Kommandeurs war ein weiterer schwerer Schlag für die demoralisierten Araber.
So kam der Mai des Jahres 1948 heran. Die Engländer hatten nur noch zwei Wochen Zeit, um das Land zu räumen und das Mandat aufzugeben.
An den Grenzen von Palästina standen die rachelüsternen Armeen Syriens, des Yemen, des Libanon, Transjordaniens, Ägyptens, SaudiArabiens und des Irak auf dem Sprung, um einzumarschieren und die siegreichen Juden zu vernichten.
Die Stunde der Entscheidung — ob die Juden einen unabhängigen Staat proklamieren sollten oder nicht — war gekommen.
VIII.
In der Zeit vom November 1947 bis zum Mai 1948 hatten die Juden Palästinas der Welt das erstaunliche Schauspiel geliefert, daß sie sich, mit nur wenig mehr als gar nichts, erfolgreich gegen eine überwältigende Übermacht zur Wehr setzen konnten. Im Verlauf dieses Zeitabschnittes hatten sie aus der Hagana, die bis dahin eine illegale Heimwehr gewesen war, die Keimzelle einer regulären Armee gemacht. Sie hatten weitere Soldaten und Offiziere ausgebildet, taktische Lehrgänge eingerichtet, Kommandostäbe organisiert, Nachschublager, Transportkolonnen, und Hunderte weitere Dinge, wie sie der Übergang vom Partisanenkampf zur staatlich organisierten Kriegführung einer regulären Armee erforderte. Sie besaßen eine Luftwaffe, die über einige Maschinen vom Typ Spitfire verfügte; ihre Bemannung bestand aus Juden, die im Krieg bei der amerikanischen, britischen oder südafrikanischen Luftwaffe gedient hatten. Ihre Flotte, die im Anfang aus einigen baufälligen Blockadebrechern bestanden hatte, war inzwischen durch einige Korvetten und PT-Boote ergänzt worden.
Die Juden hatten die Herausforderung des Gegners angenommen und sich siegreich behauptet. Dennoch waren sie sich darüber klar, daß sie bisher nur einen Kleinkrieg gegen einen Gegner geführt hatten, der kein allzu großes Verlangen danach gehabt hatte, zu kämpfen. Zwar hatten die leichten Waffen, die der alte Bomber aus Europa herangebracht hatte, den Juden dabei geholfen, sich gegen die Araber von Palästina und Kawukys Irreguläre zu behaupten, doch als jetzt die Stunde der Entscheidung herankam, wurde es den Juden klar, daß sie mit diesen leichten Waffen den Kampf gegen reguläre Armeen würden aufnehmen müssen, gegen Armeen, die mit Tanks und schwerer Artillerie ausgerüstet waren und die auch über eine moderne Luftwaffe verfügten.
Wer geglaubt hatte, daß die arabischen Staaten nur blufften, dem wurde durch die Arabische Legion von Transjordanien bald demonstriert, daß er sich geirrt hatte. Die Legion war in Palästina als britische Polizeitruppe eingesetzt. Diese »Polizeitruppe« ging zum offenen Angriff gegen die an der Straße nach Bethlehem gelegenen isolierten Siedlungen der Ezion-Gruppe vor. Die vier Dörfer der Ezion-Gruppe wurden von orthodoxen Juden bewohnt, die, genau wie die Bewohner aller anderen jüdischen Siedlungen, entschlossen waren, sich ihrer Haut zu wehren. Die Arabische Legion, die von britischen Offizieren geführt wurde, bombardierte erbarmungslos die vier Siedlungen und schnitt sie völlig von jeder Hilfe von außen ab. Erstes Angriffsziel der Legion war der Kibbuz Ezion. Nach heftiger Artillerievorbereitung griff die Legion diese Siedlung an, deren Verteidiger durch die Belagerung erschöpft und halb verhungert waren. Die orthodoxen Juden des Kibbuz Ezion hielten stand, bis sie ihre letzten Patronen verschossen hatten; erst dann ergaben sie sich. Arabische Zivilisten, die sich der Legion angeschlossen hatten, stürmten die Siedlung und massakrierten fast sämtliche Überlebenden. Die Legion unternahm einen Versuch, dem Blutbad Einhalt zu gebieten, doch nur vier Juden blieben am Leben.
Die Hagana richtete daraufhin sofort einen Appell an das Internationale Rote Kreuz, mit der Bitte, die Kapitulation der anderen drei Siedlungen der Ezion-Gruppe, in denen die Munition gleichfalls zu Ende ging, zu überwachen. Nur dadurch konnte verhindert werden, daß es auch dort zu einem Blutbad kam.
Danach griff die Arabische Legion von neuem in der Negev-Wüste an, in der Nähe des Toten Meeres. Diesmal richtete sich der Angriff gegen einen Kibbuz, den die Juden am niedrigsten und heißesten Punkt der Erde errichtet hatten. Er hieß Beth Ha'Arava — Haus in der Schlucht. Im Sommer betrug die Temperatur hier über fünfzig Grad im Schatten. In dem alkalischen Erdreich war im Verlauf der gesamten Geschichte noch nie irgend etwas gewachsen. Die Juden wuschen das Erdreich, Morgen um Morgen, um es von Salzen zu reinigen, und durch diese mühsame Arbeit und durch die Anlage von Kanälen, Dämmen und Zisternen hatten sie hier eine moderne Farm erstehen lassen.
Da die nächsten Juden hundert Meilen entfernt waren und sie sich einer unüberwindlichen Übermacht gegenübersahen, ergaben sich die Siedler von Beth Ha'Arava der Arabischen Legion. Als sie das »Haus in der Schlucht« verließen, steckten sie es an und verbrannten die Felder, die sie der Wüste mit übermenschlicher Anstrengung abgewonnen hatten.
Die Araber hatten schließlich also doch noch die Siege errungen, mit denen sie schon so lange geprahlt hatten.
Am Abend des 13. Mai 1948 verließ der britische Hohe Kommissar für Palästina in aller Stille das umkämpfte Jerusalem. Der Union Jack, an dieser Stelle ein Symbol des Mißbrauchs der Macht, wurde eingeholt — für immer.
Am 14. Mai 1948 versammelten sich in Tel Aviv die Führer des Jischuw und der Zionistischen Weltorganisation im Hause von Meir Dizengoff, dem Gründer und ersten Bürgermeister der Stadt. Vor dem Haus standen mit Maschinenpistolen ausgerüstete Posten, die die ungeduldig drängende Menschenmenge in Schach hielten. In Kairo, New York, Jerusalem, in Paris, London und Washington richteten sich die Augen und die Ohren der Menschen auf dieses Haus.
»Hier spricht Kol Israel — die Stimme Israels«, sagte der Sprecher des Rundfunks langsam und gewichtig. »Man hat mir soeben ein mit der Beendigung des britischen Mandats zusammenhängendes Dokument übergeben, dessen Wortlaut ich Ihnen jetzt zu Gehör bringe.«
»Ruhe!« sagte Dr. Liebermann zu den Kindern, die sich in seiner Wohnung versammelt hatten. »Ruhe!«
»Das Land Israel«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher, »ist die Geburtsstätte des jüdischen Volkes. Hier entwickelte sich seine geistige, religiöse und nationale Besonderheit. Hier erreichte es seine Unabhängigkeit und schuf eine Kultur von nationaler und universaler Bedeutung. Hier schrieb es die Bibel und überlieferte sie der Welt.«
Im Hotel in Safed unterbrachen Bruce Sutherland und Joab Yarkoni ihre Schachpartie und hörten, gemeinsam mit Remez, in atemloser Spannung auf die Worte des Sprechers.
»Nach ihrer Vertreibung aus Israel bewahrten die in alle Welt zerstreuten Juden überall in der Diaspora diesem Land die Treue, und unablässig erflehten und erhofften sie den Tag der Rückkehr und die Wiederherstellung ihrer nationalen Freiheit.«
In Paris wurde das Geräusch der atmosphärischen Störungen stärker und übertönte die Stimme, während Barak ben Kanaan und die anderen Beauftragten des Jischuw in fieberhafter Aufregung vor dem Lautsprecher saßen.
»Jahrhundertelang blieb in den Juden die Sehnsucht lebendig, in das Land ihrer Väter heimzukehren und wieder eine Nation zu werden. In den letzten Jahrzehnten kamen sie in Massen hierher zurück. Sie machten die Wüste urbar, erweckten ihre alte Sprache zu neuem Leben, errichteten Siedlungen, bauten Städte und bildeten eine unablässige wachsende Gemeinschaft mit eigenem wirtschaftlichem und kulturellem Leben. Sie kamen hierher auf der Suche nach Frieden, waren jedoch entschlossen, sich ihrer Haut zu wehren. Sie brachten die Segnungen des Fortschritts allen Bewohnern des Landes
—.«
In Safed lauschten die Kabbalisten, in der Hoffnung auf Worte, die eine Erfüllung der alten Prophezeiungen darstellen würde. Im Jerusalem-Korridor lauschten die müden Palmach-Soldaten der Hügelbrigade, und auch in den abgeschnittenen und belagerten Siedlungen der glühenden Negev-Wüste lauschten die Menschen.
»— wurde ihnen zugestanden durch die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 und bestätigt durch das Mandat des Völkerbunds, das die ausdrückliche internationale Anerkennung enthielt —.«
In Ejn Or kam David ben Ami in das Dienstzimmer des Kommandeurs gestürzt. Ari legte den Finger an den Mund und zeigte auf das Radio.
»Die jüngste Vernichtungswelle, der Millionen europäischer Juden zum Opfer fielen, bewies von neuem die Notwendigkeit —«
Sara ben Kanaan saß in Yad El am Lautsprecher, und während sie zuhörte, mußte sie daran denken, wie sie das erste Mal Barak auf einem weißen Araberhengst nach Rösch Pina hatte hereinreiten sehen.
»— Wiedererrichtung eines jüdischen Staates, dessen Tore allen Juden offenstehen und durch den das jüdische Volk als gleichberechtigtes Mitglied in den Kreis der Völkerfamilie —«
Dov und Karen saßen schweigend im Speisesaal, hielten sich bei den Händen und lauschten atemlos.
»Im zweiten Weltkrieg hat sich die jüdische Bevölkerung von Palästina mit ihrer ganzen Kraft eingesetzt. Am 29. November 1947 hat die Generalversammlung der UNO eine Resolution angenommen, welche die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina fordert. Niemand kann das Recht des jüdischen Volkes auf staatliche Unabhängigkeit bestreiten. Genau wie alle anderen Nationen hat auch das jüdische Volk ein natürliches Recht auf staatliche Souveränität.«
»Wir proklamieren hiermit die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina, des Staates Israel.«
Kitty Fremont fühlte ihr Herz klopfen — und Jordana lächelte.
»Der Staat Israel steht den Juden in aller Welt zur Einwanderung offen; er wird die Erschließung und Entwicklung des Landes zum Nutzen aller seiner Einwohner fördern; er beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens, gemäß den Konzeptionen der Propheten Israels; er gewährleistet die volle soziale und politische Gleichberechtigung aller seiner Bürger, gleichgültig welcher Religion, welcher Rasse, welchen Geschlechts; er garantiert die Freiheit des religiösen und des kulturellen Lebens, den Schutz der heiligen Stätten aller Religionen und wird die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Grundsätze loyal befolgen —«
»— richten wir dennoch an die arabischen Einwohner des Staates Israel die Aufforderung, den Frieden zu wahren und sich zu beteiligen an der Entwicklung des Staates, und zwar auf der Grundlage der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen staatlichen Körperschaften —«
»— bieten wir allen benachbarten Staaten und ihren Völkern in Frieden und Freundschaft die Hand und fordern sie auf zu friedlicher Zusammenarbeit —«
»Im Vertrauen auf Gott, den Allmächtigen, setzen wir unsere Unterschrift unter diese Deklaration bei dieser Sitzung des Provisorischen Staatsrats, auf dem Boden der Heimat, in der Stadt Tel Aviv, an diesem Vorabend des Sabbat, dem 5. Ijjar 5708, dem 14. Mai 1948.«
So war nach zweitausend Jahren die Wiedergeburt des Staates Israel Wirklichkeit geworden. Bereits wenige Stunden später erfolgte die Anerkennung des neuen Staates durch die USA. Doch während die begeisterte Menschenmenge auf den Straßen von Tel Aviv Horra tanzte, stiegen bereits ägyptische Bomber auf, um die Stadt zu zerstören, und die Armeen der arabischen Welt überschritten die Grenzen des neugeborenen Staates.
IX.
Als die einzelnen arabischen Armeen die Grenzen des Staates Israel verletzten, rühmten sie sich schon im voraus ihres unmittelbar bevorstehenden Sieges und gaben eine Reihe großsprecherischer Kommuniqués heraus, die lebhafte Schilderungen der in ihrer Vorstellung bereits errungenen Triumphe enthielten. Die Araber erklärten zugleich, daß sie einen wunderbaren »Plan« ausgearbeitet hätten, um die Juden mit vereinten Kräften ins Meer zu werfen. Falls es einen solchen Plan überhaupt gab, konnte er jedenfalls nicht in die Tat umgesetzt werden, weil jedes einzelne arabische Land seine eigene Vorstellung davon hatte, wer das Kommando führen und nach dem Sieg über Palästina herrschen sollte. Sowohl Bagdad als auch Kairo erhoben Ansprüche darauf, über die arabische Welt und ein »Großarabisches Reich« zu herrschen. Doch auch Saudi-Arabien wollte als das Land, das die heiligen Städte Mekka und Medina besaß, auf den Führungsanspruch nicht verzichten. Transjordanien wiederum erhob auf Palästina als einen Teil des Mandatsgebiets Ansprüche, und schließlich bestand Syrien auch weiterhin darauf, daß Palästina nur der südliche Teil einer Provinz des Ottomanischen Reichs sei. Das waren die politischen Voraussetzungen, unter denen die »vereinigten« Araber angriffen.
NEGEV-WÜSTE
Von Stützpunkten auf der Halbinsel Sinai aus ging eine von viel rühmenden Worten angekündigte ägyptische Streitmacht durch das in den Händen der Araber befindliche Gaza an der Küste zum Angriff vor. Von den zwei ägyptischen Kolonnen, die durch Tanks, Panzerwagen, Artillerie und moderne Luftgeschwader verstärkt waren, ging die erste auf der Küstenstraße vor, die längs der Eisenbahn in genau nördlicher Richtung zu der provisorischen jüdischen Hauptstadt Tel Aviv führte. Die Ägypter waren fest davon überzeugt, daß die Bewohner der jüdischen Siedlungen beim bloßen Anblick eines so furchterregenden, machtvollen Gegners die Flucht ergreifen würden.
Bei dem ersten Kibbuz, Nirim, griffen die Ägypter Hals über Kopf an und wurden blutig abgewiesen. Bei der zweiten und dritten Siedlung stießen sie auf den gleichen erbitterten Widerstand. Diese unerfreuliche Erfahrung veranlaßte den ägyptischen Führungsstab, seinen Plan zu revidieren. Man beschloß, die Siedlungen, bei denen man auf zäheren Widerstand stoßen würde, links liegen zu lassen und die Küste entlang weiter nach Norden vorzugehen. Allerdings entstand dadurch die Gefahr, daß die Entfernungen für den Nachschub allzu groß wurden und die Verteidiger dieser jüdischen Widerstandsnester ihnen in den Rücken fallen konnten; an bestimmten, strategisch wichtigen Punkten mußten sie also wohl oder übel haltmachen und kämpfen.
Die ägyptische Artillerie und die ägyptische Luftwaffe machten einige Siedlungen dem Erdboden gleich. Nach heftigen Kämpfen eroberten die Ägypter drei Siedlungen. Doch die meisten Siedlungen hielten stand und mußten vom Gegner umgangen werden.
Die für den Vormarsch der Ägypter strategisch wichtigste Siedlung war der Kibbuz Negba — das Tor zur Negev-Wüste —, in der Nähe der Stelle gelegen, wo von der Straße nach Tel Aviv eine Straße abzweigte, die ins Innere des Landes führte. Das war einer der Punkte, den die Ägypter unbedingt erobern mußten.
Eine knappe Meile von Negba entfernt befand sich Fort Suweidan — das Scheusal auf dem Berg. Fort Suweidan war von den Engländern den Arabern übergeben worden. Die Araber konnten den Kibbuz Negba von dem Fort aus in Trümmer schießen, während man in Negba auch nicht über eine einzige Schußwaffe verfügte, mit der man das Fort hätte erreichen können.
Die Siedler von Negba erkannten schnell, wie wichtig die von ihnen kontrollierte Straßenkreuzung für die Invasionsarmee war. Sie wußten aber auch, daß sie nicht unbesiegbar waren. Doch obwohl sie wußten, was ihnen bevorstand, beschlossen sie, zu bleiben und zu kämpfen. Auch als die Kanonen von Fort Suweidan das letzte Gebäude in Trümmer gelegt hatten, die tägliche Wasserration auf ein paar Tropfen reduziert werden mußte und die Knappheit an Lebensmitteln einer Hungersnot gleichkam, hielten die Verteidiger von Negba weiterhin stand. Immer wieder griffen die Ägypter an, und jedesmal wurden sie von den Juden abgewiesen. Bei einem dieser Angriffe, bei dem die Ägypter mit Panzerunterstützung vorgingen, verfügten die Juden nur noch über fünf Schuß Panzerabwehrmunition, doch damit erledigten sie vier Panzer. Wochenlang leistete Negba den Ägyptern Widerstand. Seine Verteidiger kämpften, wie die alten Hebräer von Massada gekämpft hatten, und Negba wurde zum ersten Symbol der Widerstandskraft des neuen Staates.
Die ägyptische Angriffskolonne, die an der Küste vorging, ließ im Fort Suweidan eine starke Besatzung zurück und setzte ihren Vormarsch fort, wobei sie bedrohlich nahe an Tel Aviv herankam. Bei Aschdod, nur zwanzig Meilen von Tel Aviv entfernt, verstärkten die Israelis ihre Verteidigungsstellungen. So eilig man im Hafen die Schiffe entladen konnte, die Waffen heranbrachten, so eilig wurden diese Waffen, zusammen mit neu angekommenen Einwanderern, nach Aschdod geschafft, um der ägyptischen Kolonne den Weg zu verlegen.
Die Ägypter machten halt, um sich neu zu formieren, den Nachschub heranzubringen, die Verbindungswege zum Hinterland abzusichern und um den entscheidenden Angriff vorzubereiten, der ihnen den Weg nach Tel Aviv öffnen sollte.
Die andere Hälfte der ägyptischen Invasionsarmee stieß vor ins Innere des Landes, in die Negev-Wüste. Während sie unbehelligt durch die arabischen Ortschaften Ber Scheba, Hebron und Bethlehem vorrückte, berichteten Radio Kairo und die ägyptische Presse triumphierend von »Sieg auf Sieg«.
Es war geplant, diese zweite Kolonne an der »glorreichen« Eroberung von Jerusalem zu beteiligen; ihre Aufgabe war es, die Stadt vom Süden her anzugreifen, während gleichzeitig vom Norden her ein Angriff der Arabischen Legion erfolgen sollte. Die Ägypter beschlossen jedoch, den Ruhm nicht mit anderen zu teilen, und machten sich allein auf den Weg nach Jerusalem.
Sie formierten sich bei Bethlehem und griffen den Kibbuz Ramat Rachel an — Hügel der Rachel —, eine vorgeschobene Stellung zur Verteidigung der Neustadt Jerusalems gegen einen vom Süden erfolgenden Angriff, an der Stelle errichtet, an der Rachel einst über die Verbannung der Kinder Israels geweint hatte.
Die Siedler von Ramat Rachel wehrten den Angriff der Ägypter so lange ab, bis sie ihre Stellung nicht länger halten konnten, und zogen sich dann langsam nach Jerusalem zurück. Am südlichen Stadtrand stieß Verstärkung der Hagana zu ihnen, und gemeinsam mit den Leuten der Hagana eroberten sie ihren Kibbuz zurück, warfen die Ägypter hinaus und jagten sie nach Bethlehem.
JERUSALEM
Als die Engländer aus Jerusalem abzogen, besetzte die Hagana rasch die dadurch freigewordenen Stadtteile und unternahm Angriffe auf diejenigen Stadtviertel, die von Kawukys Irregulären besetzt waren. Es waren Kämpfe um einzelne Straßen, bei denen Jungens und Mädchen der Gadna als Meldegänger beteiligt waren und Männer in Straßenanzügen das militärische Kommando führten. Nächstes Ziel der Hagana war die Einnahme eines arabischen Vororts, der die Juden auf dem Skopus von denen der Neustadt trennte. Nachdem das erreicht war, sahen sich die Juden einer schwierigen Frage gegenüber. An sich wäre es ihnen jetzt möglich gewesen, die Altstadt zu besetzen. Befand sich auch diese in ihrer Hand, hatten sie eine geschlossene, gut zu verteidigende Front, während sie ohne die Altstadt verwundbar waren. Überlegungen politischer Art und die Sorge, daß die heiligen Stätten dabei Schaden leiden könnten, bewegen die Hagana jedoch, die Altstadt nicht zu besetzen, obwohl innerhalb ihrer Mauern mehrere tausend frommer Juden lebten.
Ein Beobachtungsposten im Turm einer in der Altstadt gelegenen armenischen Kirche wurde auf die Bitte der Mönche von den Juden geräumt. Kaum waren die Juden abgezogen, als sich die Irregulären in diesem Turm einnisteten und sich weigerten, ihn zu räumen. Dennoch waren die Juden davon überzeugt, daß es auch die Araber nicht wagen würden, die Altstadt anzugreifen, diesen von drei Religionen verehrten heiligsten Ort der ganzen Welt.
Diese Hoffnung sollte sich jedoch als trügerisch erweisen. Glubb Pascha, der britische Kommandeur der Arabischen Legion, hatte die feierliche Zusicherung gegeben, daß die Legion nach Jordanien zurückkehren werde, wenn die Engländer Palästina geräumt hätten. Doch als die Engländer aus Jerusalem abgezogen waren, eilte die Arabische Legion in offener Verletzung des gegebenen Versprechens herbei, griff die Stadt an und konnte den Juden einen Teil des Viertels, den die Hagana schon besetzt hatte, wieder abnehmen. Die Verteidigung des Vororts, der die Neustadt mit dem Skopus-Berg verband, war den Makkabäern übertragen worden; sie verloren ihn an die Legion, so daß die jüdischen Streitkräfte auf dem Skopus isoliert waren. Und dann gab Glubb der Arabischen Legion den Befehl, die Altstadt anzugreifen und restlos zu zerstören.
Nach den Erfahrungen, die sie in all den Jahren mit den Arabern gemacht hatten, gaben sich die Juden keinerlei Illusionen mehr hin. Doch dieser Angriff auf das Allerheiligste übertraf alles andere. Der eindringenden Legion stand nichts entgegen außer ein paar tausend strenggläubiger Juden, die keinen Finger zu ihrer Verteidigung rühren konnten. Die Hagana schickte eilig so viele ihrer Leute, wie sie irgend entbehren konnte, in die Altstadt hinein. Mehrere hundert zorniger Makkabäer gingen freiwillig mit ihnen. Für sie gab es, nachdem sie erst einmal innerhalb der Mauern der Altstadt waren, kein Entrinnen mehr.
JERUSALEM-KORRIDOR
Die Straße von Jerusalem nach Tel Aviv bildete weiterhin den Schauplatz der erbittertsten Kämpfe des ganzen Krieges. Die HügelBrigade des Palmach hatte ein halbes Dutzend der beherrschenden Höhenstellungen in den Hügeln von Judäa erobert. Kastei befand sich fest in ihrer Hand, und sie hatten Comb, Suba und genügend andere Schlüsselstellungen angegriffen und erobert, um Bab el Wad, die bedrohte Zufahrt nach Jerusalem, offenzuhalten.
Und dann kam es zu einem der unrühmlichsten Ereignisse der jüdischen Geschichte. Die Verteidigung des arabischen Bergdorfes Neve Sadij war den Makkabäern übertragen worden. Durch eine Reihe sonderbarer und unerklärlicher Vorgänge brach unter den Makkabäern eine Panik aus, und es begann eine wilde und grundlose Schießerei, die nicht mehr aufzuhalten war, nachdem sie einmal angefangen hatte. Mehr als zweihundert arabische Zivilisten kamen dabei ums Leben. Durch das Massaker von Neve Sadij hatten die Makkabäer, die sich so große Verdienste erworben hatten, der jungen Nation einen Makel angeheftet, dessen Beseitigung Jahrzehnte erfordern sollte.
Zwar hatte die Hügel-Brigade den Bab el Wad geöffnet, doch die Engländer machten es den Arabern leicht, Jerusalem zu blockieren, indem sie der Legion das Teggart-Fort von Latrun übergaben. Das ehemalige britische Gefängnis für politische Häftlinge, in dem irgendwann einmal alle führenden Männer des Jischuw gesessen hatten, versperrte als massiver Block den Zugang zum Bab el Wad. Daher wurde Latrun zum wichtigsten Angriffsziel der Israelis. Man machte einen verzweifelten Plan zur Eroberung des Forts und stellte hierfür eine Spezialbrigade auf. Sie bestand größtenteils aus jüdischen Einwanderern, die aus der Internierung auf Zypern oder aus europäischen DP-Lagern gekommen waren. Die Offiziere waren für eine so schwierige militärische Operation gleichfalls ungeeignet. Nach kurzer Ausbildung begab sich diese Brigade in den Korridor und versuchte einen nächtlichen Angriff auf Latrun. Er war mangelhaft geplant, wurde schlecht geführt, und die Arabische Legion schlug ihn ab.
In den beiden darauffolgenden Nächten unternahm die Brigade zwei weitere Angriffe, die jedoch ebenso erfolglos blieben. Darauf trat die Hügelbrigade des Palmach, die schon sehr durch die Aufgabe überanstrengt war, die lange Strecke des Bab el Wad, der Straße nach Jerusalem, zu sichern, zu einem Angriff auf Latrun an, der beinahe zum Erfolg führte.
Ein ehemaliger Colonel der amerikanischen Armee, Mickey Marcus, der sich aus Gründen der Tarnung Stone nannte, war in die israelische Armee eingetreten. Man schickte ihn in den Korridor, wo seine taktischen Erfahrungen und organisatorischen Fähigkeiten dringend benötigt wurden. Es gelang ihm in allerkürzester Zeit, den Nachschub neu zu organisieren und die motorisierte Jeep-Kavallerie zu verbessern, die die Israelis bei dem Unternehmen ,Eiserner Besen' verwendet hatten. Vor allem aber richtete er sein ganzes Bemühen darauf, möglichst rasch eine gut ausgebildete und gut geführte Truppe zu bilden, die in der Lage war, strategisch zu operieren und das Hindernis von Latrun zu beseitigen. Dieses Ziel war fast erreicht, als sich ein weiteres tragisches Unglück für Israel ereignete:
Marcus fand den Tod und Jerusalem blieb abgeriegelt.
HULE-TAL — SEE GENEZARETH
Die syrische Armee drang von der Ostseite des Sees Genezareth und vom Jordan her in mehreren Kolonnen vor, von Panzern und durch Luftstreitkräfte unterstützt.
Die erste syrische Kolonne richtete ihren Angriff gegen die drei ältesten Kollektivsiedlungen in Palästina: Schoschana, wo Ari ben Kanaan geboren war, Dagania A und B, die dicht beieinander am Einfluß des Jordan in den See lagen.
Die Juden hatten dort so wenig Leute, daß sie täglich mit Lastwagen zwischen Tiberias und diesen Siedlungen hin- und herfuhren, um bei den Syrern den Eindruck zu erwecken, daß sie Verstärkung heranbrachten.
Die Leute von Schoschana hatten so wenig Waffen, daß sie eine Abordnung zu Ari ben Kanaan schickten. Die drei Siedlungen der Schoschana-Gruppe lagen an sich nicht mehr in seinem Befehlsbereich, doch hoffte man, daß er bereit sein werde, etwas für seinen Geburtsort zu tun. Doch Ari, der mit Kassi bei Gan Dafna, in Safed und mit einer der anderen syrischen Kolonnen alle Hände voll zu tun hatte, erklärte der Delegation, das einzige, das sie möglicherweise retten könnte, sei die Wut. Er gab ihnen den Rat, Molotow-Cocktails herzustellen und die Syrer in das Innere der Ortschaften hereinzulassen. Wenn irgend etwas imstande sei, den Kampfgeist der Juden aufs äußerste zu steigern, dann würde es der Anblick von Arabern auf ihrem geliebten Grund und Boden sein.
Als erstes griffen die Syrer Dagania an. Die Hagana-Kommandeure gaben den Verteidigern den Befehl, nicht eher zu schießen, als bis die Panzer, in deren Schutz die feindliche Infanterie herankam, im Zentrum der Siedlung angelangt waren. Der Anblick syrischer Panzer, die ihre Rosengärten niederwalzten, versetzte die Juden in so erbitterte Wut, daß sie ihre Molotow-Cocktails aus einer Entfernung von nur wenigen Metern mit tödlicher Sicherheit warfen und die Panzer erledigten. Die syrische Infanterie, die hinter den Panzern herankam, war für die Siedler kein ernst zu nehmender Gegner. Sie floh.
Die zweite syrische Kolonne griff weiter südlich an, im Jordantal und im Beth-Schäan-Tal. Es gelang ihnen, Schaar Hagolan und den Kibbuz Massada am Yarmuk-Fluß einzunehmen. Als die Juden zum Gegenangriff antraten, steckten die Syrer die Häuser in Brand, plünderten alles, was nicht niet- und nagelfest war, und flohen. Fort Gescher, das die Hagana schon zu einem früheren Zeitpunkt erobert hatte, hielten die Juden, genau wie die übrigen Siedlungen dieses Gebietes.
Die dritte Kolonne ging über den Jordan in das Hule-Tal vor, in den Kommandobereich Ari ben Kanaans. Sie eroberte Mischmar Hajarden — den Wächter des Jordan. Dann formierte sie sich neu zu einem Angriff, der sie in das Zentrum des Hule-Gebietes bringen sollte, um sich hier mit den Irregulären Kawukys zu vereinigen. Doch Yad El, Ayelet Haschachar, Kfar Szold, Dan und die anderen Wehrsiedlungen leisteten dem Gegner zähen Widerstand. Sie ließen das Artilleriefeuer, das sie nicht erwidern konnten, über sich ergehen und kämpften wie die Tiger, sobald die Syrer näher herankamen.
Es war Ari gelungen, die Vereinigung arabischer Streitkräfte im Hule-Gebiet zu verhindern. Und als eine neue Waffenlieferung bei ihm eintraf, ging er rasch zur Offensive über. Er entwickelte einen »Defensiv-Offensiv-Plan«: diejenigen Siedlungen, die nicht unmittelbar vom Gegner bedrängt wurden, gingen ihrerseits zum Angriff vor, statt dazusitzen und abzuwarten, bis sie angegriffen wurden. Durch diese Methode gelang es Ari, die Syrer völlig durcheinanderzubringen. Er konnte jeweils an die Stellen, wo der Druck besonders heftig war, Verstärkungen zur Unterstützung der Verteidiger heranbringen. Er baute sein Nachrichten- und Transportwesen so weit aus, daß das Hule-Gebiet zu einer der stärksten jüdischen Positionen in Israel wurde. Die einzige strategisch wichtige Stellung in seinem Befehlsbereich, die sich noch in der Hand des Feindes befand, war Fort Esther.
Die ganze syrische Invasion verpuffte wirkungslos. Mit Ausnahme von Mischmar Hajarden und ein oder zwei kleineren Siegen war sie ein Fiasko. Die Syrer beschlossen daher, ihre Bemühungen auf einen einzelnen Kibbuz zu konzentrieren. Ziel ihres Angriffes war Ejn Gev am östlichen Ufer des Sees von Genezareth, der Ort der winterlichen Konzerte.
Die Syrer beherrschten die Höhen, die Ejn Gev auf drei Seiten umgaben. Die vierte Seite war der See. Ejn Gev war völlig abgeschnitten, bis auf die Bootsverbindung bei Nacht, von Tiberias her quer über den See. Als die Artillerie der Syrer den Kibbuz erbarmungslos bombardierte, waren die Juden gezwungen, in Bunkern unter der Erde zu leben. Dennoch führten sie den Schulunterricht weiter, gaben eine Zeitung heraus, und sogar ihr Symphonie-Orchester übte und spielte weiter. Nachts kamen sie aus den Bunkern heraus und bestellten ihre Felder. Der Ausdauer der Verteidiger von Ejn Gev konnte nur die heldenhafte Verteidigung von Negba an die Seite gestellt werden.
Die Syrer legten sämtliche Gebäude in Trümmer. Sie steckten die Felder in Brand. Die Juden besaßen nicht ein einziges Geschütz, mit dem sie das Feuer hätten erwidern können.
Nach wochenlanger Artillerievorbereitung gingen die Syrer zum Angriff vor. Zu Tausenden stießen sie von ihren Höhenstellungen herunter. Dreihundert Kibbuz-Bewohner in kampffähigem Alter standen ihnen entgegen. Sie eröffneten ein gezieltes, zusammengefaßtes Abwehrfeuer, und Scharfschützen nahmen sich die syrischen Offiziere aufs Korn. In immer neuen Wellen griffen die Syrer an und drängten die Juden an das Ufer des Sees zurück. Doch die Verteidiger gaben nicht auf. Sie hatten noch zwölf Schuß Munition, als der syrische Angriff zusammenbrach. Ejn Gev — und damit der Anspruch des Staates Israel auf den See Genezareth .— war siegreich verteidigt worden.
SCHARON, TEL AVIV, DAS DREIECK
Ein ausgedehnter Landstrich in Samaria, an dessen drei Enden die rein arabischen Orte Jenin, Tulkarem und Ramleh lagen, bildete das »Dreieck«. Nablus, von Anfang an Stützpunkt für Kawukys Irreguläre, wurde Hauptstützpunkt der irakischen Armee. Die Iraker hatten versucht, den Jordan zu überschreiten und in das Bet-Schäan-Tal vorzudringen, waren aber heftig zurückgeschlagen worden und hatten sich dann im arabischen Teil von Samaria festgesetzt. Westlich von dem Dreieck lag das Scharon-Tal. Dieses Gebiet war sehr verwundbar; in der Hand der Juden befand sich nur ein zehn Meilen schmaler Landstreifen längs der von der jordanischen Grenze bis zur Mittelmeerküste verlaufenden Straße von Tel Aviv nach Haifa. Gelang es den Irakern hier durchzustoßen, dann hatten sie Israel in zwei getrennte Hälften zerschnitten. Doch die Iraker waren nicht geneigt, zu kämpfen. Der Gedanke, das dichtbesiedelte Scharon-Tal angreifen zu sollen, war ihnen zuwider.
Tel Aviv hatte mehrere Angriffe durch ägyptische Luftstreitkräfte zu erleiden, allerdings nur so lange, bis Flak kam, die weitere Angriffe verhinderten. Die arabische Presse brachte allerdings mindestens ein Dutzend Berichte darüber, wie Tel Aviv durch ägyptische Bomber dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Es gelang den Juden, ein paar Maschinen in Dienst zu stellen, und sie errangen einen großen Luftsieg, indem sie einen ägyptischen Kreuzer vertrieben, der an der Küste erschienen war, um Tel Aviv zu beschießen.
WEST-GALILÄA
Kawukys Irreguläre hatten es im Laufe von sechs Monaten immer noch nicht fertiggebracht, auch nur eine einzige jüdische Siedlung zu erobern. Kawuky verlegte sein Hauptquartier in das vorwiegend arabisch besiedelte Gebiet in der Mitte von Galiläa, in der Gegend von Nazareth. Hier wartete er auf die Vereinigung mit den syrischen, libanesischen und irakischen Streitkräften, die aber niemals erfolgen sollte. Im Gebiet von Nazareth gab es viele Araber christlichen Glaubens, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollten und Kawuky wiederholt aufforderten, sich aus dem Teggart-Fort von Nazareth zu entfernen.
Der größte Teil von West-Galiläa war vom Feind gesäubert worden, bevor die Invasion der arabischen Armeen erfolgte. Haifa war in die Hand der Juden gefallen, und die Operation »Eiserner Besen« der Chanita-Brigade hatte mit vielen feindlichen Stützpunkten aufgeräumt. Nach dem Fall der arabischen Stadt Akko beherrschten die Juden das gesamte Gebiet bis hinauf zur libanesischen Grenze. Bis auf Kawuky war Galiläa frei vom Feind.
Der angekündigte großangelegte »Plan« der Araber war zu einem völligen Fehlschlag geworden. Der neugeborene jüdische Staat hatte die erste Erschütterung der Invasion mannhaft bestanden. Überall auf der ganzen Welt schüttelten die militärischen Fachleute ungläubig staunend die Köpfe. An hundert Fronten hatten die Juden einen Krieg gegen die irregulären Streitkräfte geführt und sich dort an einem Dutzend weiterer Fronten siegreich im Kampf gegen zahlenmäßig stark überlegene reguläre Truppen des Gegners behauptet.
Der größte Erfolg von der arabischen Seite war von der Legion errungen worden, die noch immer Latrun in ihrer Hand hatte, die Schlüsselstellung für die Blockade Jerusalems. Die übrigen arabischen Armeen hatten zusammen nur eine Handvoll von Siedlungen, aber keinerlei größere Ortschaften oder Städte erobert. Es war ihnen allerdings gelungen, bedrohlich nahe an Tel Aviv heranzukommen.
Waffen kamen jetzt in großen Mengen nach Israel herein, und mit jedem Tag verbesserte sich die militärische Ausrüstung der Juden. Am Tag der Proklamation eines unabhängigen jüdischen Staates war der erste Spatenstich für sechs neue Siedlungen erfolgt, und während der ganzen Zeit der Invasion begründeten neue Einwanderer weitere Gemeinschaftssiedlungen. Ein Staat nach dem andern erkannte Israel an.
X.
Barak ben Kanaan hatte in Europa eine Reihe diplomatischer Aufgaben erfüllt und Verträge über Waffenlieferungen abgeschlossen. Er war allmählich krank vor Heimweh und bat darum, nach Israel zurückkehren zu dürfen. Er war jetzt über Achtzig, und seine Kräfte begannen merklich nachzulassen, wenn er das auch nicht zugeben wollte.
Er kam nach Neapel, um von hier aus mit dem Schiff weiterzufahren. Er wurde von Israelis begrüßt, die in Neapel ein Büro unterhielten. Es waren größtenteils Agenten von Aliyah Bet, die jetzt damit beschäftigt waren, die DP-Lager in Italien zu räumen, so rasch es der Schiffsraum erlaubte, den sie beschaffen konnten. Denn alle Arbeitskräfte wurden in Israel dringend benötigt. Einwanderer in wehrfähigem Alter wurden sofort nach ihrer Landung in Ausbildungslager überführt. Alle anderen wurden zu einem großen Teil an die Grenzen geschickt, um dort Wehrsiedlungen zu errichten.
Baraks Ankunft in Neapel wurde zum Anlaß für eine Zusammenkunft, und die Lampen in den Quartieren der Israelis brannten bis spät um Mitternacht. Bei vielen Cognaks wollten alle immer wieder die Geschichte des »Wunders von Lake Success« hören.
Dann kam die Rede auf den Krieg. Besonders besorgt waren alle über die Belagerung von Jerusalem; eben war die Nachricht durchgekommen, daß ein neuer Versuch, Latrun zu erobern, fehlgeschlagen war. Niemand wußte, wie lange die hunderttausend eingeschlossenen Zivilisten noch aushalten konnten.
Gegen zwei Uhr morgens kam man auf einen kleinen Privatkrieg zu sprechen, den die Israelis hier in Neapel um ein Schiff namens Vesuvius führten, einen italienischen Frachter von viertausend Tonnen. Die Vesuvius war von den Syrern gechartert worden, um Waffen nach Tyra zu bringen. Die Ladung umfaßte zehntausend Gewehre, eine Million Schuß Munition, tausend Maschinengewehre, tausend Granatwerfer und alle möglichen anderen Waffen.
Vor einem Monat war die Vesuvius kurz vor dem Auslaufen gewesen. Durch einen befreundeten Beamten des italienischen Zolls hatten die Israelis Kenntnis von dem Schiff und seiner Ladung erhalten, und in der Nacht vor der festgesetzten Ausreise schwammen israelische Froschmänner an das Schiff heran und befestigten unterhalb der Wasserlinie Haftminen an seinem Rumpf. Die Minen sprengten zwar drei ansehnliche Löcher in die Bordwand der Vesuvius, brachten jedoch nicht, wie man gehofft hatte, die an Bord befindliche Munition zur Explosion. Das Schiff sank zwar teilweise unter die Wasseroberfläche, ging aber nicht unter.
Der syrische Oberst Fawdzi, der die Verantwortung für diese Ladung hatte, die einen Wert von vielen Millionen Dollar besaß, ließ das Schiff ins Trockendock bringen, wo die Löcher in der Bordwand repariert wurden. Er holte fünfzig arabische Studenten aus Rom und Paris herbei, die die Umgebung des Schiffes bewachten, und ersetzte die Crew von zwölf Mann durch Araber. Nur der Kapitän und der Erste und Zweite Offizier waren Italiener von der Reederei, der die Vesuvius gehörte. Der Kapitän, der den aufgeblasenen Oberst Fawdzi nicht riechen konnte, versprach den Israelis heimlich, daß er ihnen helfen wolle, allerdings nur, wenn sie ihm zusicherten, sein Schiff nicht noch einmal zu beschädigen. Und jetzt hatten sie gerade wieder die Mitteilung bekommen, daß die Vesuvius bereit zum Auslaufen sei.
Die Israelis mußten unter allen Umständen zu verhindern versuchen, daß die Waffen nach Tyra gelangten — doch wie sollten sie das Schiff aufhalten? Sie hatten sowohl den italienischen Beamten als auch dem Kapitän die Zusicherung gegeben, das Schiff im Hafen nicht in die Luft zu sprengen. Doch wenn die Vesuvius erst einmal auf hoher See war, konnte die israelische Flotte, die nur aus drei Korvetten bestand, sie nie und nimmer finden.
Barak ben Kanaan war von der Schwierigkeit des Problems sehr beeindruckt. Er hatte schon oft anscheinend unlösbaren Problemen ähnlicher Art gegenübergestanden und sie zu lösen gewußt. Sein Kopf begann zu arbeiten. Als der Tag anbrach, hatte er die Einzelheiten eines neuen phantastischen Planes entwickelt. Zwei Tage später verließ die Vesuvius ihren Liegeplatz im Hafen von Neapel, und Fawdzi hatte als besondere Vorsichtsmaßnahme den italienischen Zweiten Offizier aus der Funkbude entfernt. Doch die Israelis waren nicht auf Funkverbindung angewiesen. Sie waren auch so über den genauen Zeitpunkt des Auslaufens der Vesuvius informiert. Das Schiff hatte das Hafengebiet kaum verlassen, als ein Zollkutter mit dröhnendem Lautsprecher angebraust kam.
Fawdzi, der kein Italienisch verstand, kam in das Ruderhaus gestürmt und verlangte von dem Kapitän Auskunft, was das Ganze zu bedeuten hatte.
Der Kapitän zog die Schultern hoch und sagte nur: »Wer weiß?« »Hallo, Vesuvius!« ertönte es aus dem Lautsprecher. »Halten Sie sich bereit, ein Zollkommando an Bord zu nehmen!«
Eine Jakobsleiter wurde ausgebracht, und zwanzig Mann in italienischer Zolluniform kamen eilig an Bord.
»Ich verlange Auskunft, was das zu bedeuten hat!« schrie Oberst Fawdzi wütend.
Der Anführer des Zollkommandos, ein rotbärtiger Riese, der eine auffallende Ähnlichkeit mit Barak ben Kanaan hatte, trat vor und sagte zu Fawdzi auf Arabisch: »Wir haben Kenntnis davon erhalten, daß ein Mann Ihrer Crew in einem der Laderäume einen Zeitzünder angebracht hat«.
»Unmöglich!« schrie Fawdzi.
»Wir haben erfahren, daß der Mann von den Juden bestochen wurde«, erklärte der Mann mit dem roten Bart ernsthaft. »Wir müssen uns aus dem Hafengebiet entfernen, bevor das Schiff explodiert.«
Fawdzi wurde unsicher und verwirrt. Er hatte keine Lust, mit der Vesuvius in die Luft zu fliegen; ebensowenig gefiel ihm die Vorstellung, mit dieser sonderbaren Bande italienischer »Zollbeamter« an Bord hinaus auf See zu gehen. Andererseits konnte er sich auch nicht gut als Feigling erweisen und darum bitten, von Bord gebracht zu werden.
»Rufen Sie Ihre Crew zusammen«, sagte der bärtige Riese. »Wir werden feststellen, wer der Attentäter ist, und er wird uns mitteilen, wo sich die Höllenmaschine befindet.«
Die arabische Crew wurde im Laufgang versammelt und »verhört«. Im Verlauf dieses Verhörs passierte die Vesuvius die Drei-MeilenGrenze, und der Zollkutter kehrte nach Neapel zurück. Die getarnten Aliyah-Bet-Agenten nahmen Fawdzi und seine Crew fest. Einige Zeit später, als sie ein Stück weiter auf See hinaus waren, gaben sie der Crew einen Kompaß und eine Karte und setzten sie in einem Ruderboot aus. Oberst Fawdzi wurde an Bord in seiner Kabine eingesperrt. Die Israelis übernahmen das Schiff, das nun mit voller Fahrt auf die hohe See hinaussteuerte.
Sechsunddreißig Stunden später kamen zwei Korvetten, die den Totenkopf geflaggt hatten, an die Vesuvius heran, machten links und rechts von dem Frachter fest, übernahmen die Ladung und die israelische Crew und entfernten sich eiligst, nachdem sie das Funkgerät unbrauchbar gemacht hatten. Die Vesuvius kehrte daraufhin nach Neapel zurück.
Oberst Fawdzi tobte vor Wut und verlangte eine genaue Untersuchung dieser Seeräuberei. Der italienische Zoll, der von den Arabern beschuldigt wurde, den Juden Kutter und Umformen zur Verfügung gestellt zu haben, erklärte, ihm sei von der ganzen Sache nichts bekannt. Die Bewegung jedes einzelnen Zollkutters sei genau im Logbuch aufgezeichnet und für jedermann leicht nachzuprüfen. Die arabische Crew war nicht bereit, irgend etwas zuzugeben, was sie kompromittiert hätte, und so schilderten die zwölf Mann die Geschichte in zwölf verschiedenen Versionen. Der italienische Kapitän dagegen und sein Erster und Zweiter Offizier beschworen, daß die arabische Crew desertiert sei, als sie festgestellt habe, daß sich im Laderaum Sprengstoff befand. Bald hatte ein ganzes Heer von Anwälten die Sache durch einander widersprechende Darstellungen derart verwickelt, daß es völlig unmöglich war, den wahren Sachverhalt noch festzustellen. Die Israelis in Neapel machten die Verwirrung vollständig, indem sie das Gerücht in Umlauf brachten, daß Fawdzi ein jüdischer Agent und die Vesuvius ein jüdisches Schiff war, das die Araber gestohlen hätten.
Oberst Fawdzi tat das einzige, was ihm in dieser Lage noch übrigblieb. Er täuschte Selbstmord vor und verschwand spurlos. Und offenbar weinte ihm auch niemand eine Träne nach.
Zwei Tage nach der Übernahme der Ladung der Vesuvius brachten die Korvetten, die jetzt den Davidstern gehißt hatten, Barak im Triumph nach Israel zurück.
XI.
Ari ben Kanaan bekam den Befehl, sich in Tel Aviv zu melden. Das Oberkommando befand sich in einer Pension in Ramat Gan. Auf dem Dach des Gebäudes wehte der Davidstern, und überall standen uniformierte Posten der neuen israelischen Armee, die die Personalausweise prüften.
Vor dem Gebäude parkten an die hundert Jeeps und Motorräder, und überall herrschte lebhafte militärische Geschäftigkeit. Pausenlos kamen Telefongespräche an.
Von einer Ordonnanz wurde Ari durch den Beratungsraum des Generalstabs geführt, wo die Kampffronten auf großen Karten abgesteckt waren, dann durch den Nachrichtenraum, wo an zahlreichen Geräten Funker saßen, die die Nachrichtenverbindung mit den Frontabschnitten und den Siedlungen aufrechterhielten. Ari sah sich um und mußte daran denken, wie wenig Ähnlichkeit dies hier mit dem einstigen Hauptquartier der Hagana hatte, das aus einem ramponierten Schreibtisch bestand, der von Keller zu Keller geschleppt wurde.
Avidan, bisher Kommandeur der Hagana, hatte das offizielle Kommando an jüngere Männer von Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig abgegeben, die sich als Offiziere im britischen Heer Kriegserfahrung erworben hatten oder, wie Ari, in jahrelangem Kampf gegen die Araber gestanden waren. Avidan war jetzt Verbindungsoffizier zwischen der Armee und der provisorischen Regierung, und obwohl er keinen offiziellen Posten bekleidete, war er immer noch ein sehr angesehener und einflußreicher Mann.
Er begrüßte Ari mit großer Herzlichkeit. Es war für Ari schwer, festzustellen, ob Avidan müde oder eben aufgewacht, ob er bekümmert oder heiter war, denn Avidans Gesicht zeigte immer den gleichen Ausdruck feierlichen Ernstes. Sie gingen in sein Dienstzimmer, und Avidan gab Anweisung, ihn nicht zu stören. »Einen tollen Laden habt ihr hier«, sagte Ari.
»Ja«, sagte Avidan, »es sieht sehr anders aus als früher, und ich kann mich noch gar nicht so richtig daran gewöhnen. Manchen Morgen fahre ich hierher und erwarte allen Ernstes, daß plötzlich die Engländer ankommen und uns alle miteinander ins Gefängnis stecken könnten.«
»Keiner von uns hat erwartet, daß du deinen Abschied nehmen würdest.«
»Diese neue Armee zu organisieren und einen großen Krieg zu führen ist Sache eines jüngeren Mannes.«
»Wie ist die Lage?« fragte Ari.
»Jerusalem — und Latrun. Das sind die entscheidenden Probleme. Wir werden uns in der Altstadt nicht mehr sehr lange halten können. Und der Himmel mag wissen, wie lange die Neustadt noch standhalten kann, wenn es uns nicht bald gelingt, den Leuten dort Hilfe zu bringen. In deinem Abschnitt hast du unserer Sache jedenfalls wirklich sehr wertvolle Dienste geleistet.«
»Wir haben halt Glück gehabt.«
»Nein, Ari, Safed war nicht einfach nur Glück, genausowenig wie die großartige Verteidigung von Gan Dafna. Sei nicht unnötig bescheiden. Aber — Kawuky sitzt noch immer in Zentralgaliläa. Wir möchten den Kerl los sein. Das ist der Grund, weshalb ich dich gebeten habe, hierherzukommen. Ich möchte deinen Befehlsbereich erweitern, weil ich dich für den einzig geeigneten Mann halte, um die Operation gegen Kawuky zu leiten. Ich denke, daß es uns in einigen Wochen möglich sein wird, dir ein Bataillon und auch einiges an Waffen und Munition zur Verstärkung zugehen zu lassen.«
»Und wie stellst du dir die Sache vor?«
»Ich denke, wenn wir Nazareth in unsere Hand bekommen, ist das Problem gelöst. Wir kontrollieren dann ganz Galiläa und sämtliche Straßen in ostwestlicher Richtung.«
»Und was ist mit den arabischen Dörfern in diesem Gebiet?«
»Die Bewohner sind, wie du weißt, größtenteils Christen. Sie haben bereits Abordnungen hergeschickt, um mit uns zu verhandeln. Und sie haben Kawuky aufgefordert, sich aus ihrer Gegend zu entfernen. Jedenfalls haben sie kein Interesse daran, zu kämpfen.«
»Gut.«
»Doch bevor wir darangehen, diese Operation einzuleiten, möchten wir, daß du den letzten feindlichen Widerstand in deinem Gebiet beseitigst.«
»Fort Esther?« fragte Ari.
Avidan nickte.
»Dazu brauche ich Artillerie — das habe ich euch schon geschrieben. Wenigstens drei oder vier Davidkas.«
»Warum verlangst du nicht gleich Gold?«
»Da oben an der Grenze liegen zwei Dörfer, die den Zugang zu Fort Esther versperren. Ich kann einfach nichts machen, wenn ich nicht wenigstens ein paar weittragende Geschütze habe.«
»Also gut, du sollst sie haben.« Avidan stand unvermittelt auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen.
Ari hatte schon die ganze Zeit eine sonderbare Ahnung darüber gehabt, weshalb ihn Avidan nach Tel Aviv gerufen hatte. Es mußte sich um mehr handeln als um die Planung der neuen Operation, und er wußte, daß Avidan jetzt davon anfangen werde.
»Ari«, sagte Avidan mit bedächtigem Ernst, »du hast vor zwei Wochen den Befehl bekommen, Abu Yesha einzunehmen.«
»Deshalb also hast du mich herbestellt?«
»Ich fand, es sei das beste, wenn wir die Sache miteinander besprächen, ehe darüber im Generalstab eine große Diskussion entsteht.«
»Ich habe euch einen Bericht geschickt, daß Abu Yesha meiner Meinung nach keine Bedrohung für uns darstellt.«
»Wir sind anderer Meinung.«
»Als Gebietskommandeur sollte ich die Sache doch wohl am besten beurteilen können.«
»Komm, komm, Ari. Abu Yesha ist ein Stützpunkt für Mohammed Kassi. Es ist eine Stelle, an der Irreguläre einsickern, und es blockiert zugleich die Straße nach Gan Dafna.«
Ari sah mit verschlossener Miene beiseite.
»Wir kennen einander zu lange«, sagte Avidan, »als daß wir uns etwas vormachen könnten.«
Ari schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Ich kenne die Leute von Abu Yesha, seit ich gehen lernte. Wir haben gemeinsam Hochzeiten gefeiert. Wir sind zusammen zu Beerdigungen gegangen.
Wir haben ihnen ihre Häuser gebaut, und sie schenkten uns das Land für Gan Dafna.«
»Das alles weiß ich, Ari. Dutzende unserer Siedlungen stehen dem gleichen Problem gegenüber. Aber wir kämpfen nun einmal um unsere Existenz. Wir haben die arabischen Armeen nicht aufgefordert, unsere Grenzen zu überschreiten.«
»Ich kenne aber diese Leute«, sagte Ari heftig, fast schreiend. »Sie sind nicht unsere Feinde. Sie sind einfache Bauern, die friedlich sind und keinen anderen Wunsch haben, als in Ruhe gelassen zu werden.« »Ari!« sagte Avidan mit scharfer Stimme. »Es gibt hier bei uns arabische Dörfer, die den Mut besaßen, sich Kawuky und den arabischen Armeen zu widersetzen. Die Leute von Abu Yesha haben sich anders entschieden. Du machst dir etwas vor, wenn du meinst, Abu Yesha sei nicht feindlich. Es muß verschwinden —.«
»Ohne mich«, sagte Ari, stand auf und wollte gehen.
»Bleib«, sagte Avidan ruhig. »Bitte geh nicht fort.« Der große, kahlköpfige Mann schien jetzt wirklich müde zu sein. Er ließ die Schultern hängen. »Tausendmal haben wir die Araber von Palästina gebeten, sich nicht an diesem Kampf zu beteiligen. Niemand von uns hat den Wunsch, sie von Heim und Hof zu vertreiben. Die Dörfer, die sich loyal verhalten haben, hat man in Ruhe gelassen. Doch bei den anderen blieb uns keine andere Wahl. Der Gegner hat sie als Waffendepots verwendet, als Ausbildungslager, als Stützpunkte für Angriffe auf unsere Transportkolonnen und für die Belagerung unserer Siedlungen. Wir haben wochenlang über dieses Problem diskutiert. Wir haben keine andere Wahl, als den Gegner zu vernichten oder selbst vernichtet zu werden.«
Ari ging ans Fenster und steckte sich eine Zigarette an. Bedrückt starrte er durch die Scheibe. Avidan hatte recht.
»Ich könnte natürlich das Kommando in deinem Bereich einem anderen übertragen«, sagte Avidan. »Aber das möchte ich nicht gern. Solltest du dich allerdings nicht in der Lage fühlen, diesen Befehl auszuführen, dann würde ich dir vorschlagen, daß du um Versetzung bittest.«
»Wohin sollte ich mich versetzen lassen? In ein Gebiet, wo irgendein anderes Abu Yesha liegt, das nur einen anderen Namen hat?«
»Ari, ehe du eine endgültige Antwort gibst — ich habe dich gekannt, seit du ein Baby warst. Seit deinem fünfzehnten Jahr bist du ein Kämpfer gewesen. Wir haben nicht genug Leute von deinem Kaliber. In all diesen Jahren habe ich es nie erlebt, daß du einem Befehl nicht gehorcht hättest.«
Ari wandte sich um. Sein Gesicht zeigte Sorge, Trauer und Resignation. »Ich werde tun, was getan werden muß«, sagte er tonlos.
»Ich weiß es«, sagte Avidan. »Übrigens, du bist zum Colonel befördert.«
Ari lachte kurz und bitter.
»Auch mir tut es leid«, sagte Avidan. »Glaube mir, es tut mir wirklich leid.«
Colonel Ari ben Kanaan, sein 1a und sein Adjutant, die Majore Ben Ami und Joab Yarkoni, legten die Einzelheiten der Operation Purim für die Eroberung von Fort Esther und die Ausschaltung von Abu Yesha als arabischen Stützpunkt fest. Mit dieser Operation sollte die Sicherung dieses Gebietes abgeschlossen werden.
Die Artillerie, die Avidan versprochen hatte, kam niemals an, doch Ari hatte das auch nicht ernstlich erwartet. Er ließ den Kleinen David aus Safed, zusammen mit fünfzig Schuß Munition, heranschaffen. Ohne Artillerie war es unmöglich, Fort Esther von Gan Dafna aus anzugreifen. Kassi hatte immer noch einige vierhundert Mann in dem Gebiet, überlegene Waffen in Fort Esther und außerdem die bessere strategische Position.
Ari machten drei arabische Dörfer zu schaffen. Das erste auf dem Weg nach Fort Esther war Abu Yesha, und hoch oben in den Bergen lagen an der libanesischen Grenze zwei Dörfer, die den Zugang zu dem Fort versperrten. Kassi hatte in beiden Dörfern Leute stationiert. Ari plante, das Fort von der Rückseite her anzugreifen. Dazu aber mußte er an den beiden Dörfern vorbei, die rechts und links von dem Fort lagen.
Für den Angriff auf Fort Esther teilte Ari seine Leute in drei Gruppen ein. Mit der ersten Gruppe ging er selbst bei Einbruch der Dunkelheit los. Auf schmalen Saumpfaden führte er seine Leute die Hänge zur libanesischen Grenze hinauf. Es war ein schwerer und gefährlicher Weg. Sein Ziel war, nahe an das erste der beiden Bergdörfer heranzukommen. Er mußte einen weiten Umweg machen, um unbemerkt in die Rückseite des Dorfes zu gelangen. Der Marsch wurde durch den Anstieg im Gebirge, die Dunkelheit, und das Gewicht der Davidka mit der Munition erschwert. Fünfunddreißig Männer und fünfzehn Mädchen trugen je einen Schuß der Davidka-Munition. Weitere fünfzig Mann sicherten die Transportkolonne.
Aris Bein schmerzte noch immer, doch er führte die Kolonne in mörderischem Tempo über die Hänge hinauf. Sie mußten ihr Ziel vor Tagesanbruch erreichen, wenn die Operation nicht fehlschlagen sollte.
Gegen vier Uhr morgens kamen sie erschöpft auf dem Gipfel an. Doch für eine Rast war keine Zeit. Im Eilmarsch ging es über den Gipfel weiter auf das erste Dorf zu. Sie umgingen es in weitem Bogen und trafen mit einer Patrouille eines ihnen freundlich gesinnten Beduinenstammes zusammen. Die Beduinen teilten Ari mit, daß die Gegend feindfrei war.
Ari führte seine Gruppe eilig in die Ruinen eines kleinen Kreuzritterkastells, das zwei Meilen hinter dem Dorf lag. Als es anfing hell zu werden, gingen sie mit letzter Kraft eilig in Deckung. Den ganzen Tag über hielten sie sich verborgen, während die Beduinen Wache hielten.
Am nächsten Abend brachen die beiden anderen Gruppen von Ejn Or aus auf. Major David ben Ami führte seine Leute auf dem nun schon vertrauten Weg über die Hänge nach Gan Dafna hinauf. Er erreichte den Ort bei Tagesanbruch und tauchte mit seiner Gruppe unsichtbar im Buschwerk unter.
Die dritte Gruppe, angeführt von Major Joab Yarkoni, stieg auf dem gleichen Weg wie Ari in einem weiten Bogen auf schmalen Saumpfaden in die Berge hinauf. Seine Leute kamen rascher vorwärts, weil sie nicht den Kleinen David und seine Munition zu schleppen hatten. Dafür hatten sie jedoch eine größere Entfernung zurückzulegen, weil sie sowohl an dem ersten Dorf, in dem Ari in Deckung lag, als auch an Fort Esther vorbei mußten, um sich nahe an das zweite Dorf heranzuarbeiten. Die Beduinen nahmen auch Yarkonis Gruppe oben auf dem Gipfel in Empfang und brachten sie unbemerkt ans Ziel.
Gegen Abend des zweiten Tages schickte Ari den Anführer der Beduinen mit einem Ultimatum zur Übergabe in das Dorf. Der Muktar des Dorfes und die rund achtzig Mann von Kassis Leuten, die sich dort befanden, hielten das Ultimatum für einen Bluff: es schien ihnen unmöglich, daß die Juden unbemerkt heraufgekommen sein und das Dorf umgangen haben sollten. Der Beduine kam mit der Meldung zurück, daß es nötig sei, die Dorfbewohner durch einen sinnfälligen Beweis zu überzeugen, und Ari ließ die Davidka zwei Schuß abgeben.
Zwei Dutzend Lehmhütten flogen in die Luft. Die Araber waren überzeugt. Nach dem zweiten Schuß des Kleinen David flohen die Irregulären, angeführt von ihren Offizieren, in wilder Eile über die libanesische Grenze, und im Dorf sah man überall weiße Fahnen. Ari schickte rasch einen Teil seiner Gruppe in das Dorf hinein und eilte mit dem Rest zu dem zweiten Dorf, gegen das Yarkoni bereits den Angriff eröffnet hatte.
Zwanzig Minuten nach Aris Ankunft und nach drei Schuß der Davidka ergab sich das Dorf, und weitere hundert von Kassis Leuten flohen nach dem Libanon. Die beiden Dörfer hatten sich so rasch ergeben, daß man es in Fort Esther gar nicht bemerkt hatte. Man hielt dort das entfernte Geräusch der Davidgranaten und der Gewehrschüsse für eine Schießerei der eigenen Leute.
Im Morgengrauen des dritten Tages ging David ben Ami mit seiner Gruppe von Gan Dafna aus vor und legte sich mit ihr außerhalb von Abu Yesha, wo Kassi weitere hundert Mann hatte, in einen Hinterhalt. Nachdem Ben Amis Leute in Stellung gegangen waren, um zu verhindern, daß Verstärkung von Abu Yesha kam, näherten sich Ari und Yarkoni mit ihren Gruppen der Rückseite von Fort Esther. Als sie mit dem Kleinen David das Feuer eröffneten, hatte Kassi nur hundert Mann innerhalb des Forts. Der Rest war in den Libanon geflohen oder befand sich in Abu Yesha. Schuß auf Schuß zischte und fauchte durch die Luft und explodierte vor den Betonmauern des Forts. Jeder Schuß kam ein wenig näher an das Ziel, das eiserne Tor an der Rückseite des Forts, heran. Nach dem zwanzigsten Schuß war das Tor aus den Angeln gesprengt, und die nächsten fünf Schüsse gingen bereits in den Hof des Forts.
Ari ben Kanaan ging mit der ersten Welle vor. Die Angreifer krochen flach über die Erde, unter dem Schutz von Maschinengewehrfeuer und den Schüssen der Davidka.
Der tatsächliche Schaden, den das Fort durch den Beschuß erlitt, war unbedeutend; doch der Lärm und der plötzliche Angriff waren für Kassi und seine Helden zuviel gewesen. Sie verteidigten sich nur schwach und warteten auf Verstärkung. Die einzigen, die ihnen noch zu Hilfe hätten kommen können, verließen Abu Yesha und liefen direkt in David ben Amis Falle. Kassi sah es durch das Fernglas. Er war abgeschnitten. Die Juden waren am hinteren Tor angelangt. Über Fort Esther ging die weiße Fahne hoch.
Yarkoni ging mit zwanzig Mann in das Fort hinein, entwaffnete die Araber und jagte sie nach dem Libanon davon. Kassi, der jetzt ganz fügsam war, und drei seiner Offiziere wurden in die Arrestzellen gesperrt. Auf dem Fort hißte man den Davidstern. Ari ging mit dem Rest der Leute die Straße hinunter, zu den Stellungen Davids und seiner Leute. Der Zeitpunkt war gekommen, Abu Yesha endgültig als arabischen Stützpunkt zu schwächen, ja ganz und gar auszuschalten.
Die Bewohner von Abu Yesha hatten den Kampf gesehen und gehört. Sie waren sich klar darüber, daß ihr Dorf als nächstes an der Reihe war. Ari schickte einen Trupp mit einem Parlamentär in den Ort, um den übriggebliebenen Bewohnern mitteilen zu lassen, sie hätten zwanzig Minuten Zeit, um den Ort zu verlassen. Andernfalls müßten sie die Konsequenzen tragen. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er viele seiner alten Freunde sehen, die Abu Yesha verließen und sich auf die mühsame Wanderschaft in die Berge des Libanon machten. Ari fühlte sich elend, als er sie davonziehen sah.
Es verging mehr als eine ganze Stunde.
»Es hat keinen Zweck, noch länger zu warten«, sagte David.
»Ich — ich möchte die Gewißheit haben, daß alle heraus sind.«
»In der letzten halben Stunde hat niemand mehr den Ort verlassen, Ari. Alle, die herauswollten, sind fort.«
Ari wandte sich ab und entfernte sich ein Stück von seinen Leuten, die auf den Befehl zum Angriff warteten. David ging ihm nach. »Ich werde das Kommando übernehmen«, sagte er.
»In Ordnung«, sagte Ari leise.
Ari stand einsam am Hang, während David die Männer zu dem Bergsattel führte, in dem Abu Yesha lag. Sein Gesicht wurde bleich, als er die ersten Schüsse hörte. David ließ die Leute, als sie an die ersten Häuser des Dorfes kamen, sich in Schützenkette entwickeln. Sie wurden von heftigem MG- und Gewehrfeuer empfangen. Die Juden warfen sich zu Boden und arbeiteten sich einzeln vorwärts.
In Abu Yesha hatten rund hundert Araber, angeführt von Taha, beschlossen, sich zum Kampf zu stellen. Dabei ergab sich eine Situation, die in diesem Krieg eine seltene Ausnahme darstellte: die Juden waren zahlenmäßig und waffenmäßig überlegen. Einem heftigen Sperrfeuer von automatischen Schußwaffen folgte ein Hagel von Granaten auf die vordersten arabischen Stellungen. Das erste arabische Maschinengewehr wurde zum Schweigen gebracht, die Verteidiger wichen zurück, und die Juden konnten im Ort selbst Fuß fassen.
Der Kampf ging um jede Straße, um jedes Haus, und er war hart und blutig. Diese Häuser waren nicht aus Lehm, sondern aus Stein, und die Bewohner des Ortes, die geblieben waren, wehrten sich in erbittertem Nahkampf.
Die Stunden vergingen. Ari ben Kanaan bewegte sich nicht von der Stelle. Das unablässige Geräusch des Gewehrfeuers, das Krachen der Handgranaten, und sogar die Schreie der Menschen drangen an sein Ohr.
Eine Position nach der anderen mußten die Araber von Abu Yesha räumen, während der unbarmherzig nachdrängende Gegner sie immer mehr aufsplitterte und isolierte. Schließlich wurden alle, die noch lebten, in einer Straße am Ende des Ortes zusammengedrängt. Mehr als fünfundsiebzig Araber waren gefallen, nachdem sie sich bis zuletzt in einem der erbittertsten Kämpfe, der jemals von Arabern zur Verteidigung eines ihrer Dörfer geführt worden war, zur Wehr gesetzt hatten.
Die letzten acht Mann verschanzten sich im Palast des Muktar, der gegenüber der Moschee am Ufer des Stromes stand. David forderte die Davidka an, um dieses letzte Bollwerk in Trümmer legen zu lassen. Die letzten acht Mann, darunter auch Taha, fanden den Tod. Es war fast schon dunkel, als David ben Ami bei Ari ankam.
»Es ist alles vorbei«, sagte er mit müder Stimme.
Ari starrte ihn wortlos an.
»Es waren annähernd hundert, die dageblieben waren. Alle tot. Unsere Verluste — vierzehn Jungens, drei Mädchen. Ein weiteres Dutzend Verwundeter sind oben in Gan Dafna.«
Ari schien überhaupt nicht gehört zu haben, was David sagte.
»Was wird aus ihren Feldern werden?« sagte er leise. »Und was wird aus ihnen — wohin sollen sie gehen?«
David ergriff Ari an der Schulter. »Geh nicht hinunter, Ari«, sagte er.
Ari richtete den Blick auf die flachen Dächer des Dorfes. Alles war so still.
»Ist das Haus am Strom —.«
»Nein«, sagte David. »Versuche, es in Erinnerung zu behalten, wie es war.«
»Was soll aus ihnen werden?« fragte Ari. »Sie sind meine Freunde.« »Wir erwarten deinen Befehl, Ari.«
Ari sah David an und schüttelte langsam den Kopf.
»Dann muß ich den Befehl geben«, sagte David.
»Nein«, flüsterte Ari, »ich werde ihn geben.« Er richtete zum letztenmal den Blick auf das Dorf. Dann sagte er: »Macht Abu Yesha dem Erdboden gleich.«
XII.
David schlief in Jordanas Armen. Sie drückte seinen Kopf fest an ihre Brust. Sie konnte nicht schlafen. Mit weit geöffneten Augen starrte sie in die Dunkelheit.
Ari hatte sie von Gan Dafna beurlaubt, damit sie mit David über das Wochenende nach Tel Aviv fahren konnte. Morgen mußte sie Abschied von ihm nehmen, und Gott allein wußte, wann sie ihn wiedersehen würde, falls sie ihn überhaupt jemals wiedersehen sollte. Jordana hatte schon die ganze Zeit geahnt, daß sich David freiwillig für eine heikle Aufgabe melden werde. Seit dem Beginn der Belagerung hatte ihm die Sorge um Jerusalem keine Ruhe gelassen. Jedesmal, wenn sie in seine Augen sah, hatte sie den abwesenden Ausdruck schmerzlicher Trauer darin gesehen.
Er bewegte sich unruhig im Schlaf. Sie küßte ihn sanft auf die Stirn und strich ihm mit den Fingern durch das Haar, und er lächelte im Schlaf und lag wieder ruhig.
Ein Sabre-Mädchen durfte dem Geliebten nicht verraten, daß sie krank vor Sorge um ihn war. Sie durfte nur lächeln und ihm Mut machen, aber die Furcht in ihrem Herzen mußte sie verschließen. Die Angst um ihn preßte ihr das Herz zusammen. Sie hielt ihn in ihren Armen und wünschte sich, daß diese Nacht kein Ende nahm.
Es hatte an dem Tag angefangen, an dem die Vollversammlung der UNO der Teilung zugestimmt hatte. Am nächsten Tag rief der Großarabische Aktionsausschuß zu einem Generalstreik auf, bei dem es zu wilden Brandstiftungen und Plünderungen im jüdischen Geschäftsviertel von Jerusalem kam. Und kurze Zeit darauf, als Abdul Kader mit Hilfe der an der Straße liegenden arabischen Ortschaften den jüdischen Güterverkehr von Tel Aviv nach Jerusalem blockierte, begann die Belagerung der Stadt. In Jerusalem entwickelten sich die Feindseligkeiten zu einem regelrechten Krieg. Der Kommandeur der Hagana von Jerusalem sah sich Problemen gegenüber, die über rein militärische Fragen hinausgingen. Er trug die Verantwortung für die Ernährung und den Schutz der Zivilbevölkerung. Seine Aufgabe wurde durch den Umstand erschwert, daß sich ein großer Teil dieser Bevölkerung, fanatisch orthodoxe Juden, nicht nur zu kämpfen weigerte, sondern sich auch den Bemühungen der Hagana widersetzte.
Ein weiteres Problem waren die Makkabäer, die nur teilweise gemeinsame Sache mit der Hagana machten und im übrigen ihren Privatkrieg führten. Die Hügel-Brigade des Palmach, die ein allzu großes Gebiet in den Hügeln von Judäa zu sichern hatte und überbeansprucht war, nahm gleichfalls nur widerstrebend Befehle von dem Kommandeur der Hagana von Jerusalem entgegen. Alles zusammen ergab eine verzweifelt schwierige Situation, die es dem Kommandeur der Hagana praktisch unmöglich machte, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.
Das schöne Jerusalem wurde zu einem blutigen Schlachtfeld. Die Ägypter griffen von Süden her an, belegten die Stadt mit Artilleriefeuer und ließen sie von ihren Flugzeugen bombardieren. Die Arabische Legion machte die heiligen Mauern der Altstadt zum kriegerischen Bollwerk. Die Zahl der jüdischen Verluste stieg in die Tausende.
Als die Arabische Legion das Teggart-Fort von Latrun besetzte, versprach sie, das Wasserwerk weiter in Betrieb zu halten, damit der Trinkwasserbedarf der Zivilbevölkerung gedeckt werden könne. Doch statt sich an ihr Versprechen zu halten, sprengten die Araber die Pumpstation und legten die Wasserversorgung lahm.
Man wußte, daß unter der Stadt zwei- bis dreitausend Jahre alte Zisternen lagen. Die Juden legten sie frei und entdeckten, daß diese uralten Zisternen wie durch ein Wunder noch immer Wasser enthielten.
Bis eine notdürftige Wasserleitung gebaut werden konnte, war es allein das Wasser dieser Zisternen, das die Juden vor dem Verdursten bewahrte.
Die Tage wurden zu Wochen und die Wochen zu Monaten, und noch immer hielt Jerusalem aus. Tag für Tag traten Männer, Frauen und Kinder zum Kampfe an, mit einer mutigen Entschlossenheit, die durch nichts zu brechen war.
Gleichzeitig mit der Legion drang der arabische Mob in die Altstadt ein, zerstörte Synagogen und heilige Stätten und plünderte jedes jüdische Haus, das ihm in die Hände fiel.
Die frommen Juden und ihre Verteidiger von der Hagana und von den Makkabäern wurden weiter und weiter zurückgedrängt, bis sich nur noch zwei Gebäude in ihrer Hand befanden. Es konnte sich nur noch um Tage handeln, bis sie samt und sonders vernichtet waren. Jordana wurde wach durch das Licht des neuen Tages. Sie reckte sich und streckte die Hand nach David aus. Er war nicht da.
Als sie erschreckt die Augen öffnete, sah sie, daß er am Bettrand stand und sich über sie beugte. Er trug zum erstenmal die Uniform der Armee des Staates Israel. Sie lächelte und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Er kniete sich zu ihr und strich über ihr rotes Haar. »Ich habe dich eine Stunde lang angesehen«, sagte er. »Du siehst sehr schön aus im Schlaf.«
Sie öffnete die Arme, zog ihn an sich und küßte ihn. »Schalom, Major Ben Ami«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Es ist spät, mein Liebes«, sagte er. »Ich muß fort.«
»Ich ziehe mich schnell an«, sagte sie.
»Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt gleich und allein.«
Jordana stockte das Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, ihn fassen, ihn halten zu müssen; doch dann beherrschte sie sich und lächelte.
»Ja, natürlich, Liebster«, sagte sie.
»Ich liebe dich, Jordana.«
»Schalom, David. Geh jetzt — bitte geh rasch.«
Sie drehte das Gesicht zur Wand und fühlte seinen Kuß auf ihrer Wange. Und dann hörte sie, wie die Tür geschlossen wurde.
»David, David«, flüsterte sie. »Bitte komm zu mir zurück.«
Avidan fuhr mit David ben Ami zur Wohnung des Generalstabschefs Ben Zion, die in der Nähe des Hauptquartiers lag. General Ben Zion war ein Mann von einunddreißig Jahren. Er stammte gleichfalls aus Jerusalem. Bei ihm befand sich sein Adjutant, Major Altermann.
»Avidan hat uns mitgeteilt, Sie hätten uns einen interessanten Vorschlag zu machen«, sagte Altermann.
»Ja«, antwortete David. »Es handelt sich um Jerusalem. Das Schicksal der Stadt beschäftigt mich seit Monaten.«
Ben Zion nickte. Er hatte seine Frau, seine Kinder und seine Eltern in Jerusalem.
»Wir haben die Straße bis nach Latrun ziemlich fest in unserer Hand«, fuhr David fort. »Hinter Latrun, im Bab el Wad, beherrscht der Palmach fast alle wichtigen Höhenstellungen.«
»Daß Latrun das entscheidende Hindernis ist, ist für uns alle nichts Neues«, sagte Altermann ironisch.
»Lassen Sie ihn ausreden«, sagte Ben Zion scharf.
»Ich habe über die Sache nachgedacht«, sagte David. »Ich kenne die Gegend bei Latrun so genau wie das Lächeln meiner Mutter. Monatelang habe ich in Gedanken die Strecke abgeschritten, immer wieder, Meter um Meter. Ich bin fest davon überzeugt, daß es möglich ist, Latrun zu umgehen.«
Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Ben Zion.
»Wenn man einen Bogen um Latrun schlägt, so beträgt die Entfernung von Straße zu Straße sechzehn Kilometer.«
»Aber diese sechzehn Kilometer sind nur eine Linie auf der Karte. Es gibt keine Straße dort, die Schluchten sind wild und unpassierbar.«
»Es gibt eine Straße dort«, sagte David.
»Sag mal, David — wovon redest du eigentlich?« fragte Avidan. »Über einen Teil dieses Gebietes führt eine Straße aus römischer Zeit. Sie ist zweitausend Jahre alt und völlig verschüttet und überwachsen, doch sie ist da. Für den Rest der Strecke kann man dem Verlauf der Wadis folgen. Das weiß ich so sicher, wie ich hier stehe.«
David ging an die Wandkarte und zeichnete um Latrun einen Halbkreis, der die beiden Straßen miteinander verband.
Avidan und Ben Zion starrten schweigend auf die Karte. Altermann lächelte ironisch.
»David«, sagte Avidan skeptisch und sachlich, »nehmen wir einmal an, es gelingt dir tatsächlich, diese angeblich vorhandene römische Straße zu finden, und nehmen wir weiter an, es gelingt dir auch, einen Saumpfad durch die Wadis zu finden — was ist damit gewonnen? Das bedeutet noch lange keine Hilfe für das belagerte Jerusalem.«
»Mein Vorschlag geht dahin«, sagte David ohne Zögern, »daß wir über die römische Straße eine neue Straße bauen und die Einnahme Latruns unnötig machen, indem wir es umgehen.«
»Hören Sie mal, David«, sagte Ben Zion skeptisch. »So, wie Sie die Strecke auf der Karte eingezeichnet und geplant haben, müßten wir diese Straße unmittelbar vor der Nase der Arabischen Legion in Latrun bauen.«
»Stimmt«, sagte David. »Wir brauchen nicht viel mehr als einen Pfad, der gerade breit genug ist für einen Lastwagen. Josua ließ die Sonne bei Latrun stillstehen, vielleicht können wir den Nächten befehlen, stillzustehen. Wenn ein Arbeitskommando von Jerusalem und ein anderes von Tel Aviv aus baut, und wenn wir lautlos bei Nacht arbeiten, dann können wir die Umgehungsstraße innerhalb eines Monats fertigstellen. Und was die Arabische Legion angeht, so wissen Sie genauso gut wie ich, daß Glubb mit seinen Leuten nicht aus Latrun herauskommen und sich zum offenen Kampf stellen wird.«
»Das ist nicht so sicher«, sagte Altermann. »Vielleicht stellt er sich zum Kampf, wenn es um die Straße geht.«
»Wenn Glubb sich nicht davor scheute, mit der Legion zum Kampf anzutreten, warum hat er dann nicht vom Dreieck aus angegriffen und versucht, Israel in zwei Teile zu zerschneiden?«
Das war eine Frage, die niemand beantworten konnte. Vielleicht hatte David recht; doch das war nur eine Vermutung. Ben Zion und Avidan saßen schweigend und dachten über Davids Vorschlag nach. »Und was wollen Sie von mir?« sagte Ben Zion schließlich.
»Geben Sie mir einen Jeep und eine Nacht Zeit, um die Strecke abzufahren.«
Avidan machte sich Sorgen. In der ersten Zeit der Hagana war es für ihn jedesmal schmerzlich, wenn er einen Verlust gehabt hatte. Es war ihm nahegegangen wie der Verlust eines Sohnes oder einer Tochter. Jetzt, im Krieg, gingen die Verluste der Juden in die Tausende, und für ein kleines Land war das eine verheerende Zahl. Die meisten dieser Todesopfer, Männer wie Frauen, gehörten zur Elite der jungen Generation. Keine Nation, gleichgültig, wie groß oder wie klein, konnte es sich leisten, das Leben von Leuten wie David ben Ami leichtfertig aufs Spiel zu setzen, mußte Avidan denken. Vielleicht bildete David sich nur ein, Kenntnis von einer Straße nach Jerusalem zu haben, weil er wollte, daß sie existierte. »Einen Jeep und vierundzwanzig Stunden«, bat David.
Avidan sah Ben Zion an. Altermann schüttelte den Kopf. Was David vorhatte, schien undurchführbar. Der Gedanke an Jerusalem bedrückte jedes Herz. Jerusalem war das eigentliche Zentrum, der lebendige Kern des Judentums. Dennoch — Ben Zion fragte sich, ob es nicht von Anfang an Wahnsinn gewesen sei, die Stadt halten zu wollen.
David sah mit brennenden Augen von Avidan zu Ben Zion. »Ihr müßt mir eine Chance geben!« rief er heftig.
Es klopfte. Altermann ging an die Tür und nahm eine Meldung entgegen, die er Ben Zion reichte. Das Blut wich aus dem Gesicht des Generalstabschefs. Er reichte die Meldung an Avidan weiter.
Keiner der Anwesenden hatte Avidan jemals fassungslos gesehen; doch jetzt begann seine Hand zu zittern, Tränen stiegen ihm in die Augen.
»Soeben hat die Altstadt kapituliert«, sagte er. Seine Stimme war kaum zu hören.
»Nein!« rief Altmann.
Ben Zion ballte die Hände zur Faust. »Ohne Jerusalem gibt es keine jüdische Nation!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. Er wandte sich um. »Fahren Sie, David — finden Sie einen Weg nach Jerusalem!«
Als Moses mit den Kindern Israels an das Ufer des Roten Meeres kam, da fragte er nach einem Mann, dessen Glaube an die Allmacht Gottes so fest war, daß er bereit sein werde, als erster ins Meer zu gehen. Der Mann, der damals vortrat, hieß Nachschon.
Und »Nachschon« wurde jetzt der Deckname für das gewagte Unternehmen Ben Amis.
Bei Einbruch der Dunkelheit startete David in der südlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Rechovot und fuhr nach Judäa. Am Fuß der Berge, kurz vor Latrun, bog er von der Straße in die Wildnis der steilen, steinigen Schluchten und Wadis ab. David ben Ami wurde auf seinem Weg von einer leidenschaftlichen Besessenheit vorangetrieben, doch seine Leidenschaft wurde durch das Bewußtsein von der Schwierigkeit und Wichtigkeit seiner Aufgabe gezügelt und von seiner genauen Kenntnis des Landes kontrolliert.
David fuhr mit gedrosseltem Motor und im ersten Gang langsam und vorsichtig, als er in die Nähe von Latrun kam. Die Gefahr, einer Patrouille der Legion zu begegnen, war groß.
Seine Aufmerksamkeit verschärfte sich noch, als er in der Ferne das Fort sah. Langsam steuerte er das Fahrzeug einen steilen Hang hinunter. Er war auf der Suche nach der vom Schutt der Jahrtausende bedeckten Römerstraße. An einer Stelle, wo zwei Wadis aufeinanderstießen, hielt er an, stieg aus und kratzte mehrere Steine hervor. Ihre Struktur gab ihm die Bestätigung, daß sich die Straße hier befand. Nachdem er erst einmal die allgemeine Richtung des Marschweges der römischen Legionen festgestellt hatte, war es ihm möglich, sich auf diesem Weg mit größerer Geschwindigkeit vorwärtszubewegen.
David ben Ami fuhr im Bogen um Latrun herum, sich und seinem Fahrzeug das Äußerste abverlangend. Immer wieder stellte er den Motor ab und saß unbeweglich, um auf ein feindliches Geräusch zu lauschen, das er gehört zu haben meinte. Oftmals kroch er auf Händen und Knien über den Boden, um in der Dunkelheit die Richtung des Weges durch die trockenen, felsigen Wadis zu ertasten. Die sechzehn Kilometer schienen endlos. Die Nacht verging zu schnell, und die Gefahr, auf eine arabische Patrouille zu stoßen, wurde immer größer.
Ben Zion und Avidan, die die ganze Nacht über gewartet hatten, waren bei Morgengrauen müde und voller Sorge. Davids Wagnis hielten sie für einen sinnlosen Versuch, und in ihrem Innern waren sie davon überzeugt, daß sie ihn nie wieder sehen würden.
Das Telefon klingelte. Avidan hob den Hörer ab, und sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an.
»Die Funkstelle ruft an«, sagte er zu Ben Zion. »Sie haben eben einen Funkspruch aus Jerusalem bekommen.«
»Inhalt?«
»J—35—8.«
Ben Zion schlug eine Bibel auf und begann ungeduldig darin zu blättern. Dann stieß er einen langen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Stelle fand. »Jesia, Kapitel fünfunddreißig, Vers acht: Und es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg. Es wird da kein Löwe sein, und wird kein reißend Tier drauftreten noch daselbst gefunden werden, sondern man wird frei sicher daselbst gehen.«
Der erste Schritt auf dem Weg des Unternehmens »Nachschon« war getan: David ben Ami hatte den Weg gefunden, auf dem Latrun umgangen werden konnte! Es bestand wieder Hoffnung für Jerusalem.
Tausende von Freiwilligen wurden in Jerusalem zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Heimlich brachen sie auf und strömten aus der Stadt, um mit ihren Händen einen Weg durch die Wildnis zu bahnen, längs der Route, die David gefunden hatte. David kehrte nach Tel Aviv zurück, von wo sich eine zweite Gruppe freiwilliger Arbeiter aufmachte, die auf der anderen Seite zu bauen anfing. Die beiden Arbeitskommandos hielten sich bei Tage verborgen und arbeiteten nachts, direkt vor den Wachen der Arabischen Legion in Latrun. Sie arbeiteten fieberhaft und schweigend. Das gesamte Erdreich mußte Sack für Sack auf dem Rücken weggeschleppt werden. Durch die Wadis und Schluchten arbeiteten sich die beiden Gruppen Schritt für Schritt die alte Römerstraße entlang aufeinander zu. David ben Ami erbat seine Versetzung nach Jerusalem; sie wurde ihm gewährt.
Jordana hatte sich die ganze Zeit, seit sie in Tel Aviv Abschied von David genommen hatte, in einem Zustand hochgradiger Nervosität befunden. Sie kehrte nach Gan Dafna zurück, wo ungeheure Arbeit zu leisten war, um die zerstörte Siedlung wiederaufzubauen. Die meisten Gebäude lagen in Trümmern. Die jüngeren Kinder, die man damals evakuiert hatte, waren inzwischen zurückgekommen. Kittys Bungalow hatte nur geringfügigen Schaden erlitten. Jordana war mit Kitty und Karen dort eingezogen. Zwischen den beiden Frauen hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt.
Kitty konnte nicht übersehen, in welchem Zustand sich Jordana befand, als sie von Tel Aviv zurückkam, obwohl Jordana versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Eines Abends, zwei Wochen nach dem Abschied von David, saß sie mit Kitty im Speiseraum, um noch eine Kleinigkeit zu essen und einen Tee zu trinken. Während Kitty sprach, wurde Jordana plötzlich blaß, stand auf und rannte hinaus. Kitty lief ihr nach und erreichte sie gerade noch, ehe sie zu Boden sank. Kitty fing sie auf und brachte sie mit Mühe in ihr Büro, legte sie auf das Feldbett und flößte ihr mit Gewalt einen Schluck Cognak ein. Es dauerte zehn Minuten, bis Jordana wieder zu sich kam. Sie richtete sich benommen auf.
»Was war los?« fragte Kitty.
»Ich weiß nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich hörte Ihnen zu, aber plötzlich konnte ich Ihre Stimme nicht mehr hören und auch Ihr Gesicht nicht mehr sehen. Mir wurde schwarz vor den Augen, und es durchfuhr mich kalt.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich — ich hörte David schreien — es war entsetzlich.«
»Also, jetzt hören Sie mal zu, meine Dame. Ihre Nerven sind kurz vorm Zerreißen. Ich möchte, daß Sie ein paar Tage ausspannen. Gehen Sie nach Yad El zu Ihrer Mutter —«
Jordana sprang auf. »Nein!« sagte sie.
»Setzen Sie sich!« fuhr Kitty sie an.
»Das ist ja alles Unsinn. Ich benehme mich einfach unmöglich.« »Das ist eine ganz normale Reaktion. Sie wären nicht in einem solchen Zustand, wenn Sie sich ab und zu ein wenig Luft gemacht und ein wenig geheult hätten, statt zu versuchen, alles krampfhaft zu unterdrücken.«
»David wäre entsetzt, wenn er wüßte, wie ich mich benehme.« »Hören Sie doch auf damit, Jordana. Zum Teufel mit Ihrem SabreStolz. Ich gebe Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel, und dann bringen wir Sie ins Bett.«
»Nein!« sagte Jordana und lief hinaus.
Kitty seufzte resigniert. Was sollte man mit einem Mädchen anfangen, das der Meinung war, jede Äußerung einer Gefühlsregung werde von den anderen als Schwäche ausgelegt?
Drei Tage nach diesem Zwischenfall kam Kitty eines Abends, nachdem sie Karen zu Dov geschickt hatte, in ihren Bungalow. Jordana arbeitete an Berichten und schien ihr Eintreten gar nicht bemerkt zu haben. Kitty nahm auf einem Stuhl an der anderen Seite des Schreibtisches Platz. Jordana hob den Blick von ihrer Arbeit und lächelte. Aber sie wurde ernst, als sie Kittys Gesicht sah. Kitty nahm ihr die Feder aus der Hand.
Eine Weile saßen beide schweigend.
Schließlich sagte Jordana. »David ist tot.«
»Ja.«
»Wie geschah es?« fragte Jordana mit tonloser Stimme.
»Ari hat mich vor ein paar Minuten angerufen. Die genauen Umstände weiß man nicht. Allem Anschein nach hat er eine Gruppe organisiert, teils Palmach, teils Makkabäer, teils Hagana — auf eigene Faust. Er hat mit dieser Gruppe einen Angriff unternommen und versucht, die Altstadt zurückzuerobern. Es gelang ihnen, den Zionsberg zu erobern —.«
»Weiter«, sagte Jordana.
»Sie kämpften auf verlorenem Posten. Es war ein Selbstmordkommando.«
Jordana saß unbeweglich.
»Was kann ich tun, was kann ich sagen?« sagte Kitty.
Jordana stand auf. »Machen Sie sich um mich keine Sorge«, sagte sie mit fester Stimme.
Niemand sah Jordana bat Kanaan eine Träne vergießen. Sie versteckte sich mit ihrem Kummer in den Ruinen von Abu Yesha. Dort saß sie unbeweglich vier Tage und vier Nächte lang, ohne zu essen oder zu trinken. Dann kehrte sie nach Gan Dafna zurück. Genau wie Ari nach dem Tode von Dafna erwähnte auch Jordana nie mehr Davids Namen.
Einen Monat, nachdem David ben Ami den Weg nach Jerusalem gefunden hatte, war eines Nachts die »Burma-Straße« zur Umgehung von Latrun vollendet. Eine mit Panzerfahrzeugen gesicherte Transportkolonne brauste über diese Umgehungsstraße nach Jerusalem, und die Belagerung der Stadt war für alle Zeiten beendet.
Bis jetzt hatte noch niemand mit Sicherheit gewußt, ob der Staat Israel am Leben bleiben würde. Doch in dem Augenblick, als die Männer der Arbeitskolonne von Jerusalem den Männern der Arbeitskolonne von Tel Aviv die Hand reichten, hatten die Juden ihren Freiheitskrieg gewonnen.
XIII.
Dem jungen Staate Israel standen noch viele Monate erbitterte und blutiger Kämpfe bevor, doch die Fertigstellung der »Burma-Straße« gab den Juden einen moralischen Auftrieb in einem Augenblick, als sie ihn am dringendsten benötigten.
Nachdem die Juden die erste Invasion der arabischen Streitkräfte aufgehalten hatten, gelang es dem Sicherheitsrat der UNO, einen einstweiligen Waffenstillstand herbeizuführen. Er war beiden Seiten sehr willkommen. Die Araber hatten es zweifellos nötig, ihre Streitkräfte neu zu organisieren. Sie hatten der Welt gegenüber das Gesicht verloren, da es ihnen nicht gelungen war, das Land zu überrennen. Und die Israelis brauchten Zeit, um weitere Waffen hereinzubekommen und ihre militärische Einsatzfähigkeit zu verbessern.
Die Provisorische Regierung war nicht völlig Herr der Lage, denn der Palmach, die Makkabäer und die orthodoxen Juden waren nur bedingt zur Mitarbeit bereit. Der Palmach verzichtete allerdings auf die Sonderstellung seiner Elitekorps und trat geschlossen in die israelische Armee ein, als die Regierung drohte, den Palmach wegen der Ablehnung, Befehle vom Oberkommando entgegenzunehmen, aus der kämpfenden Truppe auszuschließen. Auch die Makkabäer stellten Sonderbataillone innerhalb der israelischen Armee auf, bestanden jedoch darauf, daß diese Bataillone von Offizieren der Makkabäer befehligt würden. Nichts konnte dagegen die starre Haltung der religiösen Fanatiker verändern, die an der wörtlichen Interpretation der Bibel festhielten und weiterhin auf den Messias warteten.
Gerade, als die Vereinigung dieser verschiedenartigen Elemente Wirklichkeit zu werden versprach, kam es zu einem tragischen Ereignis, das die trennende Kluft zwischen der Regierung und den Makkabäern verewigen sollte. Amerikanische Gönner der Makkabäer hatten große Mengen dringend benötigter Waffen angekauft und für die Beförderung dieser Waffen eine Transportmaschine erworben, der man den Namen Akiba gab. Nicht nur Waffen standen bereit, sondern auch mehrere hundert Freiwillige für die Sonderbataillone der Makkabäer. Zwar sahen die Waffenstillstandsbedingungen vor, daß auf beiden Seiten keinerlei Verstärkungen vorgenommen werden sollten; doch hielten sich weder die Araber noch die Juden an diese Vorschrift der UNO.
Die Existenz der Akiba wurde durch Israelis in Europa bekannt. Die Provisorische Regierung forderte, die Transportmaschine und die Waffen der nationalen Armee zur Verfügung zu stellen. Israel sei eine geeinte Nation und kämpfe einen gemeinsamen Krieg; die Makkabäer-Bataillone seien schließlich nur ein Teil der israelischen Armee. Die Makkabäer waren damit nicht einverstanden. Sie legten auf die Beibehaltung ihrer Sonderstellung Wert und machten geltend, diese Waffen seien ausdrücklich für die Angehörigen ihrer Organisation bestimmt. Es kam zu einem erbitterten Streit zwischen der Provisorischen Regierung, die den Standpunkt vertrat, daß es nur eine zentrale Autorität geben könne, und den Makkabäern, die anderer Meinung waren.
Von Europa aus startete die Akiba mit der ersten Waffenladung und den ersten Freiwilligen. Die Regierung, die sowohl die Waffen als auch die Freiwilligen dringendst benötigte, sah sich gezwungen, den Makkabäern den Befehl zu erteilen, zu veranlassen, daß die Maschine ohne zu landen nach Europa zurückkehrte. Dieser Befehl löste bei den Makkabäern wütende Empörung aus. Als die Akiba Palästina unter Mißachtung der Anordnung der Regierung anflog, wimmelte der Flugplatz von Vertretern der Regierung, Makkabäern und Beobachtern der Vereinten Nationen. Die Regierung ließ der Maschine durch Funkspruch eine letzte Warnung zugehen und forderte sie auf, nach Europa zurückzufliegen. Die Akiba lehnte es ab, dieser Anweisung Folge zu leisten. Auf Befehl der Provisorischen Regierung stiegen Jagdflieger auf, und die Akiba wurde abgeschossen.
Zwischen der Armee und den Makkabäern kam es zu Kämpfen, und die Makkabäer zogen ihre Bataillone voller Zorn aus der Armee zurück. Doch dieser unglückliche Zwischenfall bewirkte eine endgültige Klärung der Situation. In den Jahren des britischen Mandats hatten die Makkabäer durch ihre beständige Aktivität beigetragen, die Engländer dazu zu veranlassen, Palästina zu räumen. Nach dem Abzug der Engländer aber waren Terrormethoden nicht mehr angebracht. Die Makkabäer schienen unfähig, sich an die Disziplin zu gewöhnen, die in einer regulären Armee notwendig ist. Dadurch war ihr Wert als kämpfende Truppe sehr beeinträchtigt. Ihren einzigen Sieg hatten sie in Jaffa errungen, einer Stadt, in der die Kampfstimmung von Anfang an schwach gewesen war. An anderen Orten hatten sie völlig versagt. Unvergessen war auch ihr Massaker von Neve Sadij geblieben, das stets einen Fleck auf der Ehre der jüdischen Kämpfer darstellen würde. Die Makkabäer waren Aktivisten von großem persönlichem Mut, doch sie lehnten jede Autorität ab. Nach dem unglücklichen Zwischenfall mit der Akiba verharrten sie in trotziger Ablehnung. Ihre Auffassung bestand darin, daß alle Probleme mit Gewalt gelöst werden konnten.
Monatelang verhandelten Graf Bernadotte und sein amerikanischer Mitarbeiter, Ralph Bunche, als Beauftragte der UNO mit den Juden und den Arabern, ohne jedoch eine Einigung erreichen zu können. Sie konnten innerhalb eines Monats nicht abbauen, was sich im Verlauf von drei Jahrzehnten angesammelt hatte.
In Zentralgaliläa hatte Kawuky immer wieder die Waffenstillstandsbedingungen verletzt. Jetzt wurden die Ägypter wortbrüchig, indem sie vor Ablauf des Waffenstillstandes die Kampfhandlungen wieder aufnahmen. Das erwies sich als schwerer Fehler, denn damit war das Startzeichen für einen neuen israelischen Feldzug gegeben. Hatten die Militärexperten der ganzen Welt über die Fähigkeit der Juden gestaunt, einer Invasion standzuhalten, so waren sie jetzt völlig verblüfft, als die Armee des Staates Israel ihrerseits zur Offensive überging.
Diese neue Phase des Krieges wurde eröffnet, als die israelische Luftwaffe Kairo, Damaskus und Amman bombardierte, um die Araber davor zu warnen, weiterhin Luftangriffe auf Tel Aviv und Jerusalem zu unternehmen. Die Araber bombardierten von da an keine jüdischen Städte mehr. Korvetten der israelischen Marine gingen zum Angriff auf den Feind über, indem sie die libanesische Hafenstadt Tyra, einen der Hauptumschlagplätze für die Einfuhr von Waffen, beschossen.
Im Kibbuz Ejn Gev am See Genezareth gingen die Farmer, die einen syrischen Angriff abgewiesen und monatelang der Belagerung standgehalten hatten, nunmehr ihrerseits zum Angriff über. In einem kühnen nächtlichen Manöver erstiegen sie den Berg Sussita und warfen die Syrer aus ihren Höhenstellungen.
In Zentralgaliläa ging Ari ben Kanaan zum Angriff gegen Kawuky auf Nazareth vor. Er verlangte seinen Leuten das Äußerste ab und setzte die ihm zur Verfügung stehenden Waffen so außerordentlich wirkungsvoll ein, daß es ihm gelang, die Streitkräfte der Irregulären völlig zu überrennen. Der Generalissimus des Mufti bekam eine verdiente Lektion und verlor Nazareth. Nachdem Nazareth gefallen war, streckten die feindlichen arabischen Ortschaften in Zentralgaliläa die Waffen, und Kawuky floh an der Spitze seiner Truppen zur libanesischen Grenze. Die Israelis beherrschten damit das gesamte Gebiet von Galiläa.
In der Negev-Wüste boten die Israelis den Ägyptern Schach. Samson hatte einst tausend Füchse mit brennenden Schwänzen auf die Felder der Philister losgelassen. Jetzt unternahmen blitzschnelle Einheiten von Jeeps mit Maschinengewehren, genannt »Samsons Füchse«, verheerende Angriffe auf ägyptische Nachschubwege und arabische Ortschaften. Sie machten der qualvollen Belagerung von Negba ein Ende.
Doch den größten Erfolg errangen die Israelis im Gebiet des Scharon-Tals. Unter besonders wirkungsvollem Einsatz von JeepEinheiten und angeführt von der ehemaligen Chanita-Brigade des Palmach stießen die Juden nach Lydda und Ramie vor. Diese zwei arabischen Städte hatten eine beständige Bedrohung der Straße nach Jerusalem gebildet. Sie eroberten den Flughafen Lydda, den größten in Palästina, und gingen dann in das im Land Samaria gelegene »Dreieck« vor, um Latrun einzukreisen. Kurz vor dem Erfolg des Unternehmens verlangten die Araber einen zweiten Waffenstillstand. Alle diese Siege hatten die Israelis innerhalb von zehn Tagen errungen.
Während Bernadotte und Bunche die Verhandlung über den zweiten Waffenstillstand führten, herrschte große Aufregung in der arabischen Welt. Abdullah von Jordanien war der erste, der erkannte, was die Stunde geschlagen hatte. Heimlich nahm er Unterhandlungen mit der Provisorischen Regierung auf und erklärte sich damit einverstanden, daß sich die Arabische Legion nicht mehr an Kampfhandlungen beteiligte. Dadurch konnten die Juden ihre Aufmerksamkeit auf die Ägypter konzentrieren. Sie verpflichteten sich dafür gegenüber Abdullah, keinen Angriff auf die Altstadt von Jerusalem oder das von der Legion beherrschte Dreieck von Samaria zu unternehmen.
Der alte Brigant Kawuky brach den Waffenstillstand erneut, indem er vom Libanon aus angriff. Als der zweite Waffenstillstand zu Ende ging, machte die »Operation Hiram«, so genannt nach dem libanesischen König der Bibel, mit den Träumen des Mufti und seinem Generalissimus Kawuky ein für allemal Schluß. Die israelische Armee stieß über die libanesische Grenze vor und trieb die Reste der zerschlagenen irregulären Streitkräfte vor sich her. In den libanesischen Ortschaften gingen die weißen Fahnen hoch. Nachdem Kawuky endgültig erledigt war, zogen sich die Juden auf ihr eigenes Territorium zurück, obwohl sie kaum Widerstand gefunden hätten, wenn sie gleich bis nach Beirut oder Damaskus marschiert wären.
In der arabischen Welt war man inzwischen eifrig bemüht, die israelischen Erfolge zu bagatellisieren oder zu leugnen. Abdullah von Transjordanien machte öffentlich den Irak für den arabischen Mißerfolg verantwortlich. Nach seiner Meinung hätte es den Irakern gelingen müssen, vom Dreieck aus anzugreifen und das jüdische Gebiet in zwei Hälften zu teilen. Das Mißlingen dieser Operation habe die Araber lächerlich gemacht. Der Irak, der seinerseits davon träumte, ein Großarabisches Reich anzuführen, redete sich auf seine überbeanspruchten Nachschublinien hinaus, die über transjordanisches Gebiet führten. Die Syrer waren die lautstärksten Schreier von allen: sie schoben die Schuld auf den amerikanischen und westlichen Imperialismus. Die Saudi-Araber, die innerhalb der ägyptischen Armee kämpften, beschuldigten alle übrigen arabischen Länder, während die Ägypter Vorwürfe gegen Transjordanien mit der Begründung erhoben, daß Abdullah sie durch sein Abkommen mit den Juden »verkauft« habe. Eine der bemerkenswertesten Nebenerscheinungen des Freiheitskrieges war die Art und Weise, wie die ägyptische Presse und Radio Kairo die ägyptischen Niederlagen in Siege umzudeuten versuchte. Die ägyptische Öffentlichkeit wurde in dem Glauben gehalten, daß die ägyptischen Truppen den Krieg gewannen. Nur der Libanon und der Jemen hielten sich aus der Sache heraus. Sie waren von allem Anfang nicht sehr an einem Krieg interessiert gewesen.
Der Mythos der arabischen Einigkeit platzte, als die Juden den vereinten arabischen Streitkräften weiterhin eine Niederlage nach der anderen beibrachten. An die Stelle des ursprünglichen Austausches von Küssen, Händedrücken und Gelübden ewiger Brüderschaft traten feindliche Mienen, drohende Worte und politische Attentate. Abdullah wurde, als er vom Gebet aus der Omar-Moschee in der Jerusalemer Altstadt kam, von fanatischen Moslems ermordet. Intrige und Mord, das alte arabische Spiel, waren wieder einmal in vollem Gange.
In der Negev-Wüste führte die israelische Armee, deren Kräfte inzwischen unter einheitlicher Führung zusammengefaßt waren, den Krieg seiner letzten Phase entgegen. Fort Suweidan, das Ungetüm auf dem Berg, das den Kibbuz Negba gequält hatte, fiel, obwohl die Ägypter gerade hier mit besonderer Tapferkeit gekämpft hatten.
Eine von den Juden belagerte ägyptische Stellung bei Fallacha wurde später unter Waffenstillstandsverhandlungen evakuiert. Einer der ägyptischen Offiziere in diesem Raum war ein junger Hauptmann, der bald durch seine Führerschaft im Putsch gegen König Faruk bekannt werden sollte. Sein Name war Gamal Abdel Nasser.
Der Stolz der ägyptischen Flotte, der Kreuzer Faruk, hatte den Versuch gemacht, kurz vor Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen eine jüdische Stellung zu bombardieren, um dadurch einen taktischen Vorteil zu erringen. Er wurde durch israelische Motorboote versenkt, die man vorher mit Dynamit gefüllt hatte und dann ferngesteuert auf den Kreuzer als Ziel lenkte.
Ber Scheba — die Sieben Quellen, die Stadt Vater Abrahams — erlag im Herbst 1948 einem Überraschungsangriff der Israelis.
Die Ägypter gruben sich unterhalb von Ber Scheba ein und verschanzten sich in einer Verteidigungsstellung, die uneinnehmbar schien. Doch auch hier kam den Juden ihre genaue Kenntnis des Landes zu Hilfe. Sie entdeckten einen jahrtausendealten Pfad der Nabatäer, der es ihnen ermöglichte, die ägyptischen Stellungen zu umgehen und sie vom Rücken her anzugreifen.
Von da an entstand eine wilde Flucht. Die israelische Armee jagte die Ägypter vor sich her. Sie ging an dem Gebiet von Gaza vorbei und stieß über die Grenze der Halbinsel Sinai vor.
Die Engländer waren angesichts des ägyptischen Debakels und der Möglichkeit, daß die Israelis in die Nähe des Suez-Kanals vordringen könnten, außerordentlich beunruhigt. Sie forderten die Juden auf, haltzumachen, wenn sie es nicht mit der britischen Armee zu tun bekommen wollten. Als Warnung ließen sie Kampfflieger vom Typ Spitfire aufsteigen, die die Israelis aus der Luft angreifen sollten. Irgendwie schien es nur logisch, daß die letzten Schüsse im Freiheitskrieg gegen die Briten gerichtet sein sollten. Die israelische Luftwaffe schoß sechs der britischen Kampfflieger ab. Dann gab Israel dem internationalen Druck nach und ließ die Ägypter entweichen. Die zerschlagene ägyptische Armee formierte sich neu, marschierte nach Kairo und inszenierte mit unglaublicher Unverschämtheit eine »Siegesparade«.
Der Sieg im Freiheitskrieg war zu einem historischen Faktum geworden!
Die arabische Bevölkerung Palästinas hatte sich mit der Rückkehr der Juden seit langem vertraut gemacht und war bereit, mit ihnen in Frieden zu leben und an dem Fortschritt teilzuhaben, der nach einem Jahrtausend des Stillstands ins Land kam. Diese Menschen wollten nicht kämpfen. Sie wurden jedoch von Führern, die im Augenblick der Gefahr als erste die Flucht ergriffen, betrogen und irregeführt. Ihr Mut war der Fanatismus von Wahnsinnigen gewesen. Man hatte sie gegen die Juden aufgehetzt und ihnen Furcht vor einem militanten Zionismus eingejagt, den es nie gab. Die arabischen Führer hatten die Unwissenheit der breiten Massen für ihre eigenen durchsichtigen Zwecke ausgenützt.
Gewiß hatten manche der arabischen Armeen Kampfwert bewiesen. Man hatte ihnen leichte Siege, fette Beute und Frauen versprochen. Sie hatten an eine arabische Einheit geglaubt, die sich jedoch als trügerische Illusion gezeigt hatte. Ihren Führern war aber offenbar die »Sache« doch nicht so groß erschienen, als daß auch sie ihr Blut für sie zu opfern bereit gewesen wären.
An der jüdischen Bereitschaft, für Israel zu sterben, konnte es hingegen niemals Zweifel geben. Am Ende hatten die Juden unter Opfern an Blut und Eigentum das erkämpfen müssen, was ihnen schon vorher rechtmäßig gehörte und vom Gewissen der Welt gegeben worden war.
Von nun an sollte die Fahne mit dem Davidstern, der zweitausend Jahre hindurch nicht gezeigt werden konnte, wieder wehen, von Elath bis Metulla, um nie mehr herabgeholt zu werden.
Zu den Folgen des Freiheitskrieges gehörte eine der meist diskutierten und strittigsten Fragen des Jahrhunderts: das arabische Flüchtlingsproblem. Mehr als eine halbe Million der in Palästina ansässigen Araber waren in die angrenzenden arabischen Staaten geflohen. Jede sachliche Erörterung der Situation dieser Menschen ging in einem wilden Streit der Meinungen unter, in Anklagen und Diskriminierungen, in Verwirrung und Nationalismus. Die Entstellung des Sachverhalts nahm derartige Formen an, daß die Angelegenheit schließlich zu einem bedrohlichen politischen Zündstoff wurde.
Wieder einmal erging an Barak ben Kanaan die Aufforderung, seine Kräfte in den Dienst seines Landes zu stellen. Die Regierung von Israel forderte ihn auf, eine ausführliche Darstellung dieser anscheinend hoffnungslos verwickelten Situation zu geben. Er untersuchte die Sache mit größter Gründlichkeit, und sein Bericht über das Ergebnis seiner Ermittlungen füllte mehrere hundert Seiten.