III. Untergetaucht

Es war ein Privatsanatorium für Millionäre. Man hört sonst nie etwas von übergeschnappten Millionären. Verrückt werden kann ein Filmstar, ein Staatsmann und sogar ein König, niemals aber ein Millionär. Zu dieser Ansicht gelangt man jedenfalls bei der Lektüre der auflagenstarken Zeitungen, die Meldungen über Revolutionen und den Sturz von Regierungen kleingedruckt irgendwo auf den Innenseiten bringen, während die Aufmacher auf der ersten Seite vom geistigen Befinden sorgfältig ausgezogener, hochbusiger Mädchen oder von der Schlange handeln, die einem Zirkuselefanten in den Rüssel gekrochen ist und ebendieses Tier dadurch veranlaßte, in einen Supermarkt einzubrechen und dort dreitausend Dosen Campbell-Saucen mitsamt einer Kasse und der Kassiererin zu zertrampeln. Ein verrückter Millionär wäre für solch ein Blatt das gefundene Fressen. Die Millionäre freilich wünschen kein Aufsehen, weder wenn sie einigermaßen normal sind noch wenn sie durchdrehen. Eine Macke kann der Karriere eines Filmstars vielleicht sogar förderlich sein, der eines Millionärs jedoch nicht. Ein Filmstar, zumal ein weiblicher, ist nicht dadurch berühmt, daß er in vielen Filmen gut gespielt hat. Das war vielleicht früher einmal so. Heute kann ein Star spielen wie ein Hackklotz, er kann heiser sein, als hätte er seine Stimme im Suff ertränkt (das wird sowieso gedoubelt), der von Plakaten und Leinwänden strahlende Körper kann sich nach intensivem Waschen als über und über sommersprossig erweisen, aber er muß das gewisse Etwas haben, das der Star auch tatsächlich bekommt, sofern er sich nur oft genug scheiden läßt. Dann bringt man es zum hermelingefütterten Roadster, kassiert 25 000 Dollar für ein Nacktfoto im PLAYBOY, hat ein Verhältnis mit vier Quäkern auf einmal, und sollte man in einem Anfall von Nymphomanie gar noch siamesische Zwillinge fortgeschrittenen Alters verführt haben, kann man für wenigstens ein Jahr mit festen Verträgen rechnen. Auch ein Politiker hat heutzutage hauptsächlich deswegen bekannt zu sein, daß er eine Stimme hat wie Caruso, Polo spielt wie der Teufel, lächelt wie Ramon Novarro und übers Fernsehen alle seine Wähler liebt. Millionären hingegen könnte das eher schaden, den Kredit beschneiden oder gar einen Börsenkrach auslösen. Der Millionär muß stets distanziert, ruhig und berechenbar sein. Ist er das nicht, muß er sich mitsamt seiner Unberechenbarkeit gut verstecken. Da es heute jedoch außerordentlich schwer ist, sich vor der Presse zu verstecken, sind die Sanatorien der Millionäre unsichtbare Festungen. Unsichtbar heißt, daß ihre Unzugänglichkeit getarnt ist und nach außen hin nicht auffällt: keinerlei uniformierte Wächter, keine Kettenhunde mit Schaum vorm Maul, kein Stacheldraht. Gerade das nämlich reizt die Journalisten, ja, es macht sie geradezu scharf. Ein solches Sanatorium soll deshalb eher unscheinbar aussehen, vor allem darf es nicht wagen, sich als Domizil für Geisteskranke zu bezeichnen! In meinem Falle handelte es sich um ein Heim für überarbeitete Leute, die herzkrank waren oder an Geschwüren litten. Wie sollte ich auf den ersten Blick erkennen, daß dies nur eine Fassade war, hinter der sich der Wahnsinn verbarg?

Wir wurden erst eingelassen, als Doktor Hous, ein Vertrauter Tarantogas, uns abholen kam. Er bat mich, im Park spazierenzugehen, bis er mit Tarantoga gesprochen habe. Ich schloß daraus, daß er mich für meschugge hielt. Der Professor hatte ihn offenbar nicht angemessen informieren können, übrigens aus einem ganz vernünftigen Grund: Wir hatten Australien rasch und ohne Aufsehen verlassen wollen.

Hous ließ mich allein zwischen den Blumenbeeten, Springbrunnen und Hecken zurück, unseres Gepäcks nahmen sich zwei hübsche Mädchen an, die in ihren eleganten Kostümen überhaupt nicht wie Krankenschwestern aussahen. Auch das gab mir zu denken, und den Rest besorgte ein schmerbäuchiger Greis im Pyjama, der bei meinem Anblick in der Hollywoodschaukel beiseite rückte, um mir Platz zu machen. Um seine Höflichkeit nicht zu ignorieren, ließ ich mich neben ihm nieder. Wir schaukelten schweigend eine Weile, bis er schließlich fragte, ob ich für ihn Urin abgeben könne (er drückte es übrigens in deftigeren Worten aus). Ich war so verblüfft, daß ich, statt geradewegs abzulehnen, nach dem Grunde fragte. Das traf ihn sehr, er kroch von der gepolsterten Schaukel und ging, auf dem linken Bein hinkend, davon. Dabei sprach er laut mit sich selbst, wahrscheinlich über mich, aber ich zog es vor, nicht hinzuhören. Ich sah mir den Park an und warf hin und wieder einen Blick auf meinen linken Arm und mein linkes Bein, etwa so, wie man einen Rassehund mustert, den man erst kürzlich zum Geschenk erhalten und der es schon geschafft hat, mehrere Leute zu beißen. Es beruhigte mich durchaus nicht, daß Arm und Bein sich passiv verhielten und mit mir schaukelten, ich dachte an die Erlebnisse der jüngsten Zeit und daran, daß direkt neben meinem Denken, in meinem Kopf, ein anderes Denken lauerte, gewissermaßen auch das meine, aber völlig unzugänglich. Das war durchaus nicht besser als Schizophrenie, denn von dieser kann man geheilt werden, es war auch nicht besser als der Veitstanz, denn da weiß der Kranke, daß er höchstens mal tanzen wird. Ich aber war lebenslang zu Unfug im eigenen Wesen verurteilt.

Auf den Parkwegen spazierten Patienten, manchen wurde in einiger Entfernung ein leisegängiger Wagen von der Art nachgeführt, wie man sie zum Transport des Golfbestecks benutzt — sicherlich für den Fall, daß der Spaziergänger ermüdete. Ich sprang aus der Schaukel, um nachzusehen, ob Doktor Hous seine Beratung mit Tarantoga beendet hatte. So lernte ich Gramer kennen. Er wurde huckepack von einem betagten Diener getragen, der ganz schweißüberströmt und im Gesicht blau angelaufen war, denn Gramer wog gut zwei Zentner. Mir tat der alte Mann leid, aber ich sagte nichts und trat nur beiseite in der Erkenntnis, daß ich mich in meiner gegenwärtigen Lage lieber nirgends einmischte. Gramer ließ sich jedoch von dem Pfleger rutschen und stellte sich mir vor. Offenbar reizte es ihn, ein neues Gesicht zu sehen. Er brachte mich in Verlegenheit, denn ich hatte vergessen, unter welchem Namen ich in der Sanatoriumskartei auftreten sollte. Obwohl ich mit Tarantoga alles abgesprochen hatte, fiel mir jetzt nur der Vorname ein: Jonathan. Gramer gefiel diese Vertraulichkeit — ein Fremder, und sagt nur seinen Vornamen! — und bat mich, ihn Adelaide zu nennen.

Er wurde sehr gesprächig. Seit die Depression ihn verlassen habe, langweile er sich entsetzlich. Als er noch in ihr steckte, habe er sich vor Qualen nicht langweilen können. Diese Depression sei daher gekommen, daß er nie einschlafen konnte, wenn er, schon im Bett liegend, zuvor nicht noch ein bißchen vor sich hin geträumt habe. Am Anfang träumte er davon, daß die Aktien, die er gekauft hatte, in die Höhe gingen, während die anderen, die er abgestoßen hatte, auf die Schnauze fielen. Dann träumte er davon, eine Million zu haben. Als er sie hatte, träumte er von zwei Millionen, dann von drei. Von fünf an war das kein anregender Traum mehr. Die Phantasie brauchte neue Objekte. Das sei immer schwieriger gewesen, sagte Gramer mit trüber Miene. Von dem, was man habe oder was man ohne weiteres haben könne, lasse sich nicht träumen. Eine Zeitlang hatte er davon geträumt, seine dritte Frau loszuwerden, ohne sie mit einem Cent abfinden zu müssen, aber dann hatte auch das geklappt.

Hous zeigte sich immer noch nicht, und Gramer nahm mich endgültig in die Klammer. Er habe sich vor dem Einschlafen die Leute vorgenommen, mit denen er auf Kriegsfuß stand, aber das sei ein Fehler gewesen. Es habe in ihm solche Orgien des Hasses entfacht, daß ihm der Schlaf vergangen sei, er habe Tabletten nehmen müssen, die Ärzte hatten ihm das wegen seiner vergrößerten Leber verboten, und so blieb ihm keine andere Wahl, als sich des Traumes dadurch zu entledigen, daß er sich dessen Gegenstands entledigte. Er versicherte mir, daß dies oberhalb der Hunderttausenddollargrenze eine Kleinigkeit sei. Nein, nein, keinerlei Auftrag an eine MURDER INCORPORATED, um Gottes willen, das ist Blödsinn, extra erfunden für den Film. Er hatte einen Fachmann angeheuert, der das sehr sachkundig erledigte. Wie? Na ja, jedesmal anders. Killen ist keine Kunst. Die Leiche ist weg, und was kannst du ihr tun? Auch in körperlichen Qualen fand er für sich keine Genugtuung. Feinde, Neider und böswillige Konkurrenten muß man zugrunde richten und ihnen sein Mitgefühl ausdrücken, mehr aber nicht. Das ist so was wie eine strategische Treibjagd, sehr effektvoll und sehr effektiv! Seine intellektuellen Neigungen, die er vor seinen Millionärskollegen verbergen mußte, trieben ihn zur Lektüre, er hatte sogar de Sade gelesen! Das mußte ein armes Schwein gewesen sein. Vom Pfählen, Schinden und Gliederausreißen zu träumen, dabei aber im Knast zu sitzen und nichts zur Verfügung zu haben als Fliegen! Der Habenichts hat es gut, es lockt ihn alles, und alles gefällt ihm. Jede Frau ist ihm, sofern sie schön ist, unerreichbar. Von daher rührt der Boom der Porno-Industrie. Aufblasbare Schmusepüppchen, grell illustrierte Orgienreports, Kopulanzen, Salben und Pasten — lauter Ersatz und reine Ablenkung. Nichts ist so anstrengend wie eine Orgie, mag sie auch noch so perfekt arrangiert sein. Nichts, worüber sich reden oder gar träumen ließe. Ach, eine Sehnsucht zu haben und sie nicht stillen zu können!

Ich muß während dieser Eröffnungen ein betretenes Gesicht aufgesetzt haben, aber Adelaide nickte nur und meinte, nachdem er seine Lust befriedigt habe, sich zu rächen, an wem er wollte, habe er wohl unwissentlich den Ast angesägt, auf dem er selber sitze. Da ihm zum Träumen nichts geblieben sei, habe er weiter an chronischer Schlaflosigkeit gelitten.

Damals hatte er sich einen Spezialisten zur Erfindung neuer Träume, einen Schriftsteller oder Dichter, gemietet. Der hatte ihm zwar einige ansprechende Themen geliefert, aber ein Traum, der solide sein will, verlangt nach Erfüllung, und ist diese erfolgt, so verschwindet er. Es ging also um nahezu unerfüllbare Träume.

Ich warf ein, das könne ja wohl nicht allzu schwer sein. Einen Kontinent verschieben. Den Mond in vier gleiche Teile zersägen. Ein Bein des Präsidenten der Vereinigten Staaten essen, angerichtet in der Sauce, die chinesische Restaurants zu Pekingente reichen (ich kam in Fahrt, denn ich hatte das Gefühl, mit einem Verrückten zu reden). Geschlechtsverkehr mit einem Glühwürmchen treiben, und zwar immer dann, wenn es besonders hell leuchtet. Auf dem Wasser gehen und überhaupt Wunder tun. Ein Heiliger im Herrn werden oder gleich den Platz mit dem Herrgott tauschen. Terroristen bestechen, daß sie endlich diese Minister, Botschafter und sonstigen Kapitalisten in Ruhe lassen und sich die Leute vorknöpfen, die es tatsächlich verdienen. Einschließlich der Letzten Ölung.

Adelaide sah mich mit einer Sympathie an, die bald in Bewunderung überging. „O Jonathan“, seufzte er, „hätte ich dich doch eher kennengelernt! Es ist etwas an dem, was du sagst, aber es stimmt nicht ganz. Man kann zu diesen Kontinenten, Monden und Wundern nämlich kein persönliches Verhältnis haben. Der wahre Träumer ist emotionell beteiligt, ohne das geht es nicht. Auch ein Würmchen hat keinen Reiz, wenigstens nicht für mich. Ein guter Traum schlägt weder in ohnmächtige Wut noch in verstärkte Geilheit um, er hat etwas Irisierendes, weißt du, er ist ein bißchen da und ein bißchen nicht da, und dabei schläfst du ein. Tagsüber, im Wachen, habe ich dafür nie Zeit gehabt. Der Schreiberling, den ich mir gemietet hatte, bezeichnete die Zahl der erreichbaren Träume als umgekehrt proportional zur Zahl der verfügbaren Zahlungsmittel. Wer alles hat, kann von nichts mehr träumen. Mit dem Herrgott den Platz tauschen? Gott behüte! Aber dich würde ich trotzdem sofort engagieren.“

Auf dem ausladenden Blatt eines niedrigen, stachellosen Kaktus saß eine dicke Schnecke. Sie sah eklig aus, und das war es wohl, was Adelaide bewog, sie dem Pfleger zu zeigen. „Iß das“, sagte er und zog zugleich ein Scheckheft und einen Kugelschreiber aus dem Pyjama.

„Für wieviel macht er das?“ fragte ich neugierig. Der Pfleger hatte schweigend die Hand nach der Schnecke ausgestreckt, aber ich hielt ihn zurück.

„Du kriegst tausend Dollar mehr, als Mr. Gramer dir bietet, wenn du das NICHT ißt“, erklärte ich und zog mein Notizbuch aus der Tasche. Es hatte den gleichen grünen Plastikeinband wie Adelaides Scheckheft.

Der Pfleger stand starr. Der Millionär schaute etwas zögernd drein, für mich ein riskanter Augenblick, weil ich nicht wußte, ob er weiterbieten würde. Meine augenblicklichen Guthaben reichten gewiß nicht an den Tarif heran, den Gramer für Schnecken festgesetzt hatte. Ich mußte einen weiteren Trumpf ausspielen.

„Für wieviel wollen SIE das essen, Adelaide?“ fragte ich und öffnete mein Notizbuch, als wollte ich einen Scheck ausschreiben. Das packte ihn. Diener und Schnecke hörten für ihn auf zu existieren.

„Ich gebe dir einen Blankoscheck, wenn du sie ungekaut runterschluckst und mir sagst, wie sie sich in deinem Bauch bewegt!“ sagte er, vor Erregung heiser.

„Tut mir leid“, gab ich lächelnd zurück, „ich habe schon gefrühstückt und pflege niemals zwischen den Mahlzeiten zu essen. Außerdem dürften deine Konten gesperrt sein, Adelaide. Entmündigung, unter Vormundschaft und so weiter. Habe ich recht?“

„Nein, du irrst dich. Chase Manhattan zahlt auf jeden meiner Schecks.“

„Na schön, aber ich habe wirklich keinen Appetit. Kommen wir lieber auf die Träume zurück.“

Das Gespräch hatte mich so in Anspruch genommen, daß ich neben allem anderen auch meine linke Körperhälfte vergessen hatte. Sie meldete sich von selbst: Wir hatten die kritische Schnecke bereits hinter uns gelassen, als ich dem Millionär plötzlich ein Bein stellte und mit einem Faustschlag ins Genick nachhalf, daß er der Länge lang auf den Rasen fiel. Ich erzähle das in der ersten Person, obwohl meine linken Extremitäten die Täter waren. Es galt, das Gesicht zu wahren.

„Entschuldige bitte“, sagte ich und suchte alle verfügbare Herzlichkeit in meine Stimme zu legen, „entschuldige, aber das war mein Traum.“ Ich half ihm beim Aufstehen. Er war weniger beleidigt als verstört. So war er offenbar noch nie behandelt worden, weder innerhalb noch außerhalb des Sanatoriums.

„Du läßt dir wirklich was einfallen“, sagte er und klopfte die Erdkrumen vom Pyjama. „Mach das aber nicht wieder, sonst bekomme ich einen Bandscheibenvorfall. Außerdem könnte ich anfangen, mal von dir zu träumen“, setzte er mit einem fiesen Grinsen hinzu. „Was hast du eigentlich?“

„Nichts.“

„Das ist klar, aber warum bist du hier?“

„Ich muß ein bißchen ausspannen.“

In der Tiefe einer schattigen Allee erblickte ich Doktor Hous. Durch Winken bedeutete er mir, ich solle kommen, dann wandte er sich um und verschwand in einem Pavillon.

„Für mich wird es Zeit, Adelaide“, sagte ich und klopfte dem Millionär auf die Schulter. „Das nächste Mal träumen wir weiter.“

Aus der offenen Tür wehte es angenehm kühl. Die Klimaanlage lief völlig geräuschlos, die Wände waren von einem blassen Grün, es herrschte eine Stille wie im Innern einer Pyramide. Teppichboden, weiß wie Eisbärenfell, dämpfte jeden Schritt. Hous erwartete mich in seinem Arbeitszimmer. Auch Tarantoga war da, er machte mir einen recht verlegenen Eindruck, wie er eine pralle Mappe auf den Knien hielt, Papiere herausnahm und wieder hineinstopfte. Hous wies auf einen Sessel, ich nahm mit dem unangenehmen Gefühl Platz, auf eine Sache zurückkommen zu müssen, die ich nur loswerden konnte, wenn ich mich selber los wurde.

Hous blieb an seinem Schreibtisch sitzen und nahm sich eine Zeitung vor. Tarantoga fand endlich die gesuchten Papiere.

„Ja, mein lieber Ijon, so sieht das nun aus … Ich war bei zwei hochrenommierten Juristen, um deine Lage unter rechtlichem Aspekt definieren zu lassen. Den eventuellen Mandanten habe ich natürlich nicht mit Namen genannt, auch von deiner Mission habe ich nichts gesagt, sondern die Geschichte so vorgetragen, daß nur der Kern des Falles blieb: Jemand hatte Zugang zu Problemen höchster Geheimhaltungsstufe, er sollte sich damit vertraut machen und einem Organ der Regierung Bericht erstatten. Zwischen dem ersteren und dem letzteren wurde er einer Kallotomie unterzogen. Er hat einen Teil dessen, was er erkundet hatte und weitergeben sollte, vergessen, weil es höchstwahrscheinlich in der rechten Halbkugel seines Gehirns steckt. Inwieweit ist er gegen seine Auftraggeber verpflichtet? Wie weit dürfen sie legal gehen, um diese Informationen zu bekommen? Beide erklärten die Angelegenheit für schwierig, es handle sich um einen Präzedenzfall. Ein Gericht, das zu entscheiden hätte, werde Sachverständige berufen und könne deren Ansicht folgen, müsse es aber nicht. Jedenfalls brauchst du dich ohne Gerichtsurteil keinerlei Untersuchungen oder Tests unterziehen zu lassen, falls jene Institution diese verlangen sollte.“

Doktor Hous blickte von seiner Zeitung auf.

„Das ist eine merkwürdig lustige Geschichte“, sagte er, entnahm einer Schublade eine Tüte Pfefferkuchen und leerte sie auf einen Teller, den er mir hinschob. „Ich weiß, Herr Tichy, Sie finden das durchaus nicht lustig, aber jedes Paradoxon von der Art des Circulus vitiosus bereitet nun mal Spaß. Wissen Sie, was Lateralisierung ist?“

„Natürlich“, erwiderte ich und sah voller Abneigung meiner linken Hand zu, die einen Pfefferkuchen ergriff, obgleich ich nicht den geringsten Appetit hatte. Um mich nicht zum Narren zu machen, nahm ich das Gebäck dennoch in den Mund. „Ich habe genug darüber gelesen. Beim normalen Menschen ist die linke Gehirnhalbkugel dominierend, weil sie für die Sprache zuständig ist. Die rechte ist im allgemeinen stumm, versteht aber einfache Sätze und kann manchmal sogar ein bißchen lesen, das eine wie das andere jedoch in unterschiedlichem Grade. Ist die linke Lateralisierung nicht stark ausgeprägt, kann die rechte Halbkugel über entsprechend mehr Selbständigkeit verfügen — auch im Gebrauch der Sprache. Sehr selten kommt es vor, daß es eine Lateralisierung fast gar nicht gibt. Dann befinden sich die Sprachzentren in beiden Halbkugeln, was zum Stottern oder zu anderen Störungen führen kann …“

„Sehr gut.“ Hous lächelte mir freundlich zu. „Aus dem, was ich erfahren habe, ziehe ich den Schluß, daß Ihr linkes Gehirn (so nennen wir das nämlich zuweilen auch) deutlich dominiert, das rechte aber überdurchschnittlich aktiv ist. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht, dazu bedürfte es längerer Untersuchungen.“

„Und wo liegt das Paradoxon?“ fragte ich und suchte möglichst unauffällig die linke Hand wegzuschieben, die mir wieder einen Pfefferkuchen in den Mund stecken wollte.

„Ob eine Befragung Ihres rechten Gehirns einen realen Nutzen bringt, hängt davon ab, wie groß die rechtsseitige Lateralisierung ist. Um zu erfahren, ob eine solche Befragung überhaupt der Mühe wert ist, muß zuerst die Größe der Lateralisierung bestimmt werden. Das heißt, Sie müssen untersucht werden, aber um Sie untersuchen zu können, braucht man Ihr Einverständnis. Das bedeutet, daß die vom Gericht berufenen Sachverständigen nicht mehr sagen können als ich jetzt: Der Befund wird vom Ausmaß der Lateralisierung bei Ijon Tichy abhängen, die man ohne Untersuchung nicht bestimmen kann. Man müßte Sie also untersuchen, um darüber befinden zu können, ob man Sie untersuchen muß. Verstehen Sie?“

„Ja. Und was raten Sie mir, Doktor?“

„Ich kann Ihnen nichts raten, weil ich in der gleichen Situation bin wie jene Sachverständigen mitsamt dem Gericht. Niemand auf der Welt, Sie eingeschlossen, weiß, was Ihr rechtes Gehirn enthält. Sie sind auf die Idee gekommen, die Taubstummensprache anzuwenden, auch das ist bereits versucht worden, aber ohne wesentliche Resultate, weil die rechte Lateralisierung in diesen Fällen zu schwach war.“

„Mehr können Sie mir also wirklich nicht sagen?“

„Doch. Wenn Sie Ärger vermeiden wollen, tragen Sie Ihren linken Arm in der Binde oder noch besser in Gips. Er verrät Sie.“

„Was verstehen Sie darunter?“

Hous wies schweigend auf den Teller mit den Pfefferkuchen.

„Das rechte Gehirn hat Süßigkeiten im allgemeinen lieber als das linke. Das ist statistisch erwiesen. Ich wollte Ihnen eine simple Methode demonstrieren, deren sich jemand bedienen könnte, um über den Daumen Ihre Lateralisierung zu bestimmen. Als Rechtshänder müßten Sie die Pfefferkuchen mit der Rechten ergreifen — oder gar nicht.“

„Wie lange und wozu soll ich den Arm in Gips legen? Was habe ich davon?“

Hous zuckte kaum merklich die Achseln.

„Schön, ich will Ihnen sagen, was ich eigentlich nicht sagen dürfte. Sie haben gewiß von den Piranhas gehört?“

„Ja, das sind so kleine, sehr blutgierige Fische.“

„Genau. Normalerweise greifen sie den Menschen im Wasser nicht an, aber wenn er nur die kleinste Schramme hat, reicht ein Blutstropfen aus, daß sie sich auf ihn stürzen. Die sprachliche Tüchtigkeit des rechten Gehirns ist nicht größer als die eines dreijährigen Kindes, und auch das recht selten. Bei Ihnen ist sie beträchtlich. Wenn sich das herumspricht, können Sie ernsthaft in Schwierigkeiten kommen.“

„Wenn er nun direkt zur Lunar Agency geht?“ warf Tarantoga ein. „Wenn er sich dort betreuen läßt? Schließlich haben sie an ihm was gutzumachen, er hat für sie den Kopf hingehalten.“

„Das ist vielleicht nicht die schlechteste Lösung, aber auch keine gute. Eine gute Lösung gibt es nicht.“

„Wieso nicht?“ fragten Tarantoga und ich wie aus einem Munde.

„Je mehr sie aus dem rechten Gehirn herausholen, um so größer wird ihr Appetit nach mehr, und das kann — nennen wir es bei einem freundlichen Namen — langfristige Isolation bedeuten.“

„Ein, zwei Monate?“

„Oder ein Jahr und länger. Das rechte Gehirn verständigt sich mit der Welt normalerweise hauptsächlich über das linke, durch Sprache und Schrift. Es gab bisher keinen Fall, wo es, noch dazu fließend, sprechen gelernt hätte. In diesem Fall ist der Einsatz so hoch, daß man in dieses Wissen größere Bemühungen investieren wird als sämtliche Spezialisten bisher.“

„Irgendwas müssen wir aber anfangen“, murmelte Tarantoga. Hous stand auf.

„Gewiß, aber nicht unbedingt heute, hier und jetzt. Vorläufig haben wir keine Eile. Herr Tichy kann gern einige Monate hierbleiben, wenn er es wünscht. Vielleicht bringt die Zeit eine Klärung.“

Zu spät erkannte ich, daß Doktor Hous leider recht hatte.


„In der Erkenntnis, daß mir niemand besser helfen wird als ich selber, habe ich alles bisher Vorgefallene aufgeschrieben und auf Band gesprochen. Dann habe ich die Notizen verbrannt, und den Recorder mit den Kassetten werde ich nun in einem hermetisch verschlossenen Einweckglas unter dem Kaktus vergraben, auf dem ich der Schnecke begegnet bin. Ich sage das alles noch, um das Band bis zum Ende auszunutzen. Der Ausdruck ›Ich begegnete der Schnecke‹ erscheint mir nicht glücklich, obwohl ich nicht weiß, warum. Schließlich kann man einer Kuh begegnen, einem Affen, einem Elefanten, aber schwerlich einer Schnecke. Sollte man von einer Begegnung nur reden dürfen, wenn das betreffende Geschöpf mich bemerken kann? Wohl nicht. Ich weiß nicht, ob die Schnecke mich bemerkt hat, die Fühler jedenfalls hatte sie ausgefahren. Ist das eine Frage der Größe? Niemand wird sagen: ›Ich bin einem Floh begegnet.‹ Man kann aber einem wirklich sehr kleinen Kind begegnen. Ich weiß nicht, warum ich das letzte Stück Tonband für solchen Blödsinn verschwende. Gleich werde ich das Einweckglas vergraben, fernere Notizen mache ich nach einem selbst erfundenen Kode. Ich werde meine rechte Gehirnhalbkugel nicht anders nennen als SIE, vielleicht auch einfach ICHAUCH. Das ist nicht mal schlecht, ICHAUCH, AUCHICH, ICH und ICH. Vielleicht ist das aber auch zu leicht zu entschlüsseln. Weil das Band nun doch zu Ende geht, greife ich zum Spaten.“


8. Juli. Entsetzliche Hitze. Alle laufen in Pyjama oder Badehose herum. Ich auch. Durch Gramer habe ich zwei andere Millionäre kennengelernt: Struman und Padderhorn. Beide sind Melancholiker. Struman, um die Sechzig, hat ein schlaffes Gesicht, einen dicken Bauch und krumme Beine. Er redet nur im Flüsterton, das macht den Eindruck, als wolle er einem gleich weiß Gott was für ein Geheimnis verraten. Er behauptet, sein Fall sei aussichtslos. Zuletzt hat sich seine Depression dadurch verstärkt, daß er vergessen hat, warum er so schrecklich leidet. Er hat drei Töchter, alle drei sind verheiratet und treiben swinging. Irgendwelche Burschen machen davon Fotos, die er ihnen für schweres Geld abkaufen muß, damit sie sie nicht durch einen „Hustler“ an die Öffentlichkeit bringen. In dem Wunsche, ihm zu helfen, deutete ich an, vielleicht sei dies der Grund seines Leidens, aber er bestritt es: Daran sei er schon gewöhnt. Übrigens sei er unter Kuratel gestellt, da überließe er, wenn die Töchter im zoologischen Garten swinging trieben, die Sorge den Kuratoren.

Ich weiß nicht, warum ich das notiere. Ein nackter Millionär ist eine fürchterlich uninteressante Figur. Padderhorn sagt überhaupt nichts. Er soll eine Fusion mit Japanern eingegangen und schlecht damit gefahren sein. Eine deprimierende Gesellschaft, aber Gagerstine ist noch schlimmer. Er grinst in sich hinein und sabbert. Angeblich ist er Exhibitionist. Ich muß mich von diesen Kotzpillen fernhalten. Doktor Hous sagte mir, morgen käme jemand, dem ich trauen könne wie ihm selbst. Er spiele einen jungen Arzt beim Praktikum, sei in Wirklichkeit aber Ethnologe und wolle eine Arbeit über Millionäre schreiben. Es gehe um die Dynamik kleiner Gruppen oder so etwas Ähnliches.


9. Juli. Nach Tarantogas Abreise bin ich nun allein mit Doktor Hous, seinem Assistenten und den durch den Park schlappenden Millionären. Hous hat mir unter vier Augen erklärt, er wolle das Ausmaß meiner rechten Lateralisierung nicht weiter untersuchen, denn das, was man nicht wisse, könne einem nicht gestohlen werden. Der Assistent ist tatsächlich ein junger Ethnologe. Er hat mir einen Eid abgenommen und es mir verraten, nachdem er erfahren hatte, daß ich nicht zu den Geldknöpfen gehöre. Er betreibt Feldstudien. Seine Arbeit soll Gewohnheiten und Mentalität der Millionäre untersuchen, nach der Methode, mit der die Glaubensvorstellungen primitiver Völker erforscht werden. Hous weiß, daß der junge Mann nichts mit Medizin zu tun hat, und ihn wohl deshalb zu sich genommen. Ich führte mit dem Ethnologen abendelange Gespräche, wir saßen in dem kleineren Labor und tranken Whisky „Teachers“ aus Reagenzgläsern.

Ich erzählte, daß ich noch nie in so langweiliger Gesellschaft gewesen sei wie hier unter den Nabobs. Der Ethnologe pflichtete mir bei. Er war bedrückt, weil er annehmen mußte, daß für seine Arbeit nicht genug Material zusammenkommen würde.

„Wissen Sie was“, sagte ich einmal in dem Wunsche, ihm zu helfen, „hauen Sie einen vergleichenden Traktat herunter: Reiche Leute gestern und heute. Das Mäzenat des Staates oder irgendwelcher Stiftungen ist ja noch sehr jung, den Privatmann Maecenas hingegen gab es schon im alten Rom. Der Beschützer der Künste. Die Musen und so weiter. Auch hinterher haben reiche Leute und Fürsten den Künstlern, Bildhauern und Malern das Leben ganz erträglich gemacht. Offenbar interessierten sie sich dafür, wenn sie auch nichts studiert hatten. Die hier dagegen“ — ich wies mit dem Daumen über die Schulter nach dem inzwischen in Dunkel getauchten Park — „interessieren sich für nichts als die Börsenkurse. Ich streife mir wahrhaftig kein eitles Federkleid über, wenn ich sage, daß ich ziemlich bekannt bin. Meinen Reisetagebüchern verdanke ich eine Masse Zuschriften, aber unter den Millionen Lesern war noch kein einziger Millionär. Warum nicht? Die meisten sollt ja ihr hier in Dallas und Denver haben. Drei davon sind in diesem Sanatorium. Sie sind stinklangweilig sogar als Verrückte. Wie kommt das? Die Latifundien haben niemanden verdummt, aber was verdummt die hier? Die Börse? Das Kapital? Und wie geht das vor sich?“

„Nein, da steckt was anderes dahinter. Die damals waren auf irgendeine Weise gläubig, sie wollten sich vor dem Herrgott ein Verdienst erwerben. Zu Kasteiungen hatten sie keine Lust, da war es schon was anderes, Baumeister und Maler zu bezahlen, sollten die doch was hinhauen, ein Abendmahl, einen Moses, einen Dom mit einer Kuppel, unter die alle früheren drunterpassen. Darin sahen sie ihr Geschäft, Herr Tichy, nur daß sie es eben dort sahen.“ Er wies mit dem Zeigefinger nach der Decke, also dem Himmel. „Und da die einen angefangen hatten, folgten die anderen ihrem Beispiel. Das gehörte zum guten Ton. Ein Fürst, ein Doge oder ein Magnat sammelte um sich Gärtner, Kutscher, Literaten und Maler. Ludwig XV. hatte seinen Boucher, damit er ihm nackte Damen porträtierte. Boucher ist drittklassig, natürlich, aber er hat etwas hinterlassen, genau wie die anderen Künstler. Von den Kutschern und Gärtnern aber blieb nichts.“

„Von den Gärtnern blieb Versailles.“

„Na immerhin! Aber was kann ein Kutscher hinterlassen außer seiner Peitsche? Die machten das nicht einmal bewußt, wissen Sie, sie sahen darin einfach ihr Geschäft. Heute, im Zeitalter der Spezialisierung, hätten sie davon überhaupt nichts … Was haben Sie denn? Tut Ihnen das Herz weh?“

„Nein. Ich glaube, ich bin bestohlen worden.“

Meine Hand lag tatsächlich auf dem Herzen, denn die Innentasche meiner Jacke war leer.

„Das ist unmöglich, hier gibt es keine Kleptomanen. Sie werden die Brieftasche auf Ihrem Zimmer gelassen haben.“

„Nein. Als ich hier hereinkam, hatte ich sie in der Tasche. Ich weiß es genau, denn ich wollte Ihnen ein Foto zeigen, wo ich noch einen Bart trage. Ich habe sogar nach der Brieftasche gegriffen, sie aber nicht hervorgezogen.“

„Unmöglich. Wir sind hier nur zu zweien, und ich bin Ihnen überhaupt nicht zu nahe gekommen …“

Mir ging plötzlich ein Licht auf.

„Sagen Sie mir genau der Reihe nach, was ich gemacht habe, seit wir hereingekommen sind.“

„Sie haben sich sofort hingesetzt, und ich nahm die Flasche aus dem Schrank. Wir unterhielten uns über diesen Gramer. Sie erzählten von der Schnecke, aber ich konnte nicht sehen, was Sie taten, weil ich nach sauberen Reagenzgläsern suchte. Als ich mich umdrehte, saßen Sie … Nein. Sie standen, hier neben dem Tachistoskop. Sie sahen in das Gerät hinein, ich gab Ihnen den Whisky … Ja, wir tranken, und Sie kehrten auf Ihren Platz zurück.“

Ich stand auf und sah mir den Apparat an. Auf der einen Seite ein Pult mit einem Stuhl davor, eine kleine schwarze Wand mit einer Brille, seitlich dahinter Lampen, der Bildschirm und der flache Kasten des Projektors. Ich suchte den Schalter. Der Bildschirm wurde hell. Ich guckte hinter die Trennwand in das mit schwarzoxydierten Platten bedeckte Innere. Zwischen der Vorderwand und der Tischplatte war ein Spalt, nicht breiter als ein Briefkastenschlitz. Ich suchte die Hand hineinzuzwängen, aber er war zu eng.

„Gibt es hier eine Zange?“ fragte ich. „Sie muß möglichst lang und flach sein …“

„Ich weiß nicht, wahrscheinlich nicht. Aber hier ist eine Sonde, wollen Sie die?“

„Ja, bitte.“

Ich bog den elastischen Draht zu einem Haken und tastete damit in jenem Spalt herum, bis ich auf einen weichen Widerstand stieß. Nach mehreren vergeblichen Versuchen tauchte eine Ecke schwarzen Leders auf. Um sie zu ergreifen, brauchte ich die andere Hand, die sich jedoch sträubte. Ich rief den Studenten zu Hilfe. Es war meine Brieftasche.

„Das war die hier“, sagte ich und schwenkte die linke Hand.

„Aber wie denn? Haben Sie nichts gemerkt? Und vor allem — warum?“

„Ich habe nichts gemerkt, obwohl die Sache nicht einfach war. Die Tasche ist auf der linken Seite. Leicht und fingerfertig wie ein Taschendieb. Aber das ist ja gerade die Spezialität des rechten Gehirns: die Koordination des Bewegungsablaufs, bei allen Spielen, im Sport. Und der Zweck? Der läßt sich nur vermuten. Das ist kein verbales logisches, sondern ein etwas kindliches Denken. Wahrscheinlich sollte meine Identität verlorengehen. Wer keine Papiere, keinen Personalausweis hat, besitzt für diejenigen, die ihn nicht kennen, auch keinen Namen.“

„Ach, Sie sollten verschwinden? Das ist doch Magie, magisches Denken.“

„Etwas in der Art. Das ist aber nicht gut.“

„Warum nicht? Sie will Ihnen helfen, so gut sie kann. Kein Wunder übrigens, denn letzten Endes sind das ja auch Sie, nur ein bißchen abgesondert, isoliert.“

„Es ist nicht gut, denn daß sie mir helfen will, bedeutet doch, daß sie die Lage einzuschätzen weiß und etwas für mich befürchtet. Diesmal war das ein dummer Streich, das nächste Mal kann es ein Bärendienst sein …“


Am Abend kam Hous bei mir vorbei. Ich saß, bereits im Pyjama, auf dem Bett und betrachtete meine linke Wade. Unterhalb des Knies befand sich ein großer blauer Fleck.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Gut, nur …“

Ich erzählte ihm von der Brieftasche.

„Merkwürdig. Und Sie haben wirklich nichts gemerkt?“

Ich senkte den Blick, sah erneut den blauen Fleck und erinnerte mich plötzlich an einen kurzen Schmerz und seine Ursache. Als ich ins Innere des Tachistoskops geguckt hatte, war ich mit dem linken Bein unterhalb des Knies gegen etwas Hartes gestoßen. Es hatte weh getan, aber ich hatte nicht darauf geachtet. Da mußte es passiert sein.

„Höchst lehrreich“, bemerkte Hous. „Der linke Arm kann keine komplizierten Bewegungen ausführen, ohne daß sich die Muskelspannung auf die rechte Körperhälfte überträgt. Folglich war es notwendig, Sie abzulenken.“

Ich wies auf den blauen Fleck. „Damit?“

„Genau. Zusammenspiel des linken Beins und des linken Arms. Durch den Schmerz spürten Sie eine Sekunde nichts anderes. Das genügte.“

„Kommt so was häufig vor?“

„Nein. Außerordentlich selten.“

„Könnte jemand, der mir ernsthaft an den Kragen will, auch solche Sachen machen? Mich zum Beispiel auf der rechten Seite piken, damit sie sich nicht einmischt, wenn die linke ins Verhör genommen wird?“

„Ein Fachmann würde es anders machen. Er würde Ihnen ein Kurzzeitnarkotikum in die linke Halsschlagader, die Carotis, spritzen. Das linke Gehirn wird eingeschläfert, nur das rechte wacht. Das hält mehrere Minuten an.“

„Und das genügt?“

„Wenn es nicht genügt, führt man eine kleine Kanüle in die Schlagader ein und verabreicht das Narkotikum tropfenweise. Nach einiger Zeit schläft auch die rechte Halbkugel ein, denn die Arterien im Gehirn sind durch sogenannte Kolateralen verbunden. Da muß man ein wenig abwarten, ehe man von vorn anfangen kann.“

Ich ließ das Hosenbein hinunterrutschen und stand auf.

„Ich weiß nicht, wie lange ich es fertigbringe, hier herumzusitzen und auf sonstwas zu warten. Diese Ungewißheit ist das Schlimmste. Nehmen Sie mich in die Mangel, Doktor.“

„Können Sie das nicht selber tun? Sie verständigen sich doch schon einigermaßen durch die eine Hand mit der anderen. Haben Sie mit dieser Methode etwas erfahren?“

„Nicht viel.“

„Verweigert sie die Antwort?“

„Sie antwortet unverständlich. Ich weiß nur so viel, daß sie sich anders erinnert als ich. Vielleicht in ganzen Bildern und ganzen Szenen. Wenn sie es in Worte fassen, durch Zeichen weitergeben will, kommen Rätsel heraus, die nicht zu lösen sind. Man müßte alles aufzeichnen können, um es als ein spezifisches Stenogramm zu betrachten. So sehe ich das.“

„Es ist eher eine Aufgabe für Geheimschriftenkundler als für Mediziner. Nehmen wir an, solch eine Aufzeichnung ließe sich machen. Was hätten Sie davon?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich auch nicht. Für jetzt wünsche ich Ihnen erst mal eine gute Nacht.“

Er ging, ich löschte das Licht und legte mich hin, konnte aber nicht einschlafen. Auf einmal hob sich meine linke Hand und streichelte mir langsam mehrmals das Gesicht. Offenbar hatte sie Mitleid mit mir. Ich stand auf, schaltete die Lampe an, nahm ein Schlafmittel und sank, nachdem ich die beiden Ijon Tichys solcherart benebelt hatte, in tiefe Bewußtlosigkeit.


Meine Lage war nicht nur schlimm, sie war idiotisch. Ich saß in einem Sanatorium versteckt, ohne zu wissen, vor wem. Ich wartete, ohne zu wissen, worauf. Ich suchte mich mit mir durch die Hand zu verständigen, aber obwohl sie sogar munterer antwortete als zuvor, verstand ich sie nicht. Ich kramte in der Sanatoriumsbibliothek und schleppte Lehrbücher, Monographien und ganze Stöße von Fachzeitschriften auf mein Zimmer, um endlich herauszukriegen, wer oder was ich auf der rechten Seite war. Ich stellte der Hand Fragen, die sie mit sichtlich gutem Willen beantwortete, mehr noch, sie lernte neue Wörter und Wendungen, was mich einerseits zur weiteren Konversation ermutigte, andererseits aber in Sorge versetzte. Ich fürchtete, sie könne mir ebenbürtig oder sogar überlegen werden, ich werde nicht mehr nur mit ihr rechnen, sondern ihr gehorchen müssen, oder es werde zu einem Gerangel und Gezerre kommen, bei dem ich nicht in der Mitte bleiben, sondern zerfetzt oder endgültig halbiert würde, einem zertretenen Käfer ähnlich, bei dem ein Beinpaar vorwärts, ein anderes rückwärts strebt. Ich träumte von Flucht, von Streifzügen an dunklen Abgründen entlang, und ich wußte nicht, welche meiner Hälften das träumte. Was ich aus den Bücherstapeln erfuhr, stimmte mit der Wahrheit überein. Wenn das linke Gehirn keine Verbindung mehr mit dem rechten hat, verkümmert es. Selbst wenn es geschwätzig bleibt, wird die Sprache dürftig, was besonders daran zu erkennen ist, daß es häufig die Hilfszeitwörter „sein“ und „haben“ gebraucht. Wenn ich mir Notizen machte und sie hinterher durchlas, stellte ich fest, daß es sich mit mir so verhielt. Außer solchen Details teilten die Arbeiten der Fachleute mir aber nichts Wesentliches mit. Sie enthielten eine Menge widersprüchlicher Hypothesen, ich suchte eine jede auf mich anzuwenden, und als sie nicht zutrafen, packte mich die Wut auf diese Gelehrten, die so taten, als wüßten sie besser als ich, wie es ist, jetzt ich zu sein. Eines Tages war ich schon bereit, alle Vorsicht aufzugeben und zur Lunar Agency nach New York zu fahren. Am Morgen darauf erschien mir das als das letzte, was ich tun durfte. Tarantoga ließ nichts von sich hören, und obwohl ich selber ihn gebeten hatte, auf ein Zeichen von mir zu warten, begann mich sein Schweigen zu ärgern. Schließlich beschloß ich, mich selber männlich anzupacken, wie es einst der ungeteilte Ijon Tichy getan hätte. Ich fuhr nach Derlin, einem kleinen Nest, zwei Meilen vom Sanatorium entfernt. Von den Einwohnern hieß es, ursprünglich hätten sie es Berlin nennen wollen, dann hätten sie aber den ersten Buchstaben verwechselt.

Ich wollte eine Schreibmaschine kaufen, um die linke Hand ins Kreuzfeuer der Fragen nehmen zu können, die Antworten zu notieren und davon so viele zu sammeln, daß sich feststellen ließ, ob sie zusammen einen Sinn ergeben. Schließlich konnte ich ja ein rechtsseitiger Idiot sein, und nur der Ehrgeiz ließ nicht zu, daß ich mich davon überzeugte. Blair, Goddeck, Shapiro, Rosenkrantz, Bombardino, Klosky und Serenghi behaupteten, die Sprachlosigkeit der rechten Halbkugel sei eine Tiefe voller unbekannter Gaben der Intuition, des Vorgefühls, wortloser komplexer Orientierung, sogar etwas Geniales, der Raum, wo die Quellen all der Wunderlichkeiten liegen, mit denen der linke Rationalismus sich nicht abfinden will: Telepathie, Hellsehen, geistige Versetzungen in andere Dimensionen der Existenz, Gesichte, mystische Zustände der Verzückung und Erleuchtung. Von Kleis, Zuckerkandel, Pinotti, Veehold, Frau Meyer, Rabaudi, Ottitchkin, Nüerlö und an die achtzig weiteren Experten wurde das bestritten. Freilich, Resonator, Organisator der Gefühle, assoziatives System, Echoraum des Denkens, auch ein gewisses Erinnerungsvermögen, aber ohne die Fähigkeit, sich auszudrücken, das rechte Gehirn als alogische Mißgeburt, exzentrisch, Phantastereien treibend, Lügner und Hermeneutiker, zwar Geist, aber im Rohzustand, Mehl und Hefe zugleich, aus denen Brot jedoch erst das linke Gehirn backen kann. Andere waren der Meinung, das rechte Gehirn sei der Generator, das linke der Selektor, jenes sei durch dieses von der Welt getrennt und daher von ihm geleitet, in menschliche Sprache übersetzt, ausgedrückt, kommentiert und in die Zucht genommen — erst das linke Gehirn mache aus ihm den Menschen.

Hous hatte mir seinen Wagen angeboten, er war über mein Vorhaben weder erstaunt, noch riet er mir davon ab. Auf ein Blatt Papier zeichnete er die Hauptstraße und markierte mit einem Kreuzchen die Stelle, wo sich das städtische Kaufhaus befand. Allerdings gab er zu bedenken, daß ich es wohl nicht mehr schaffen werde, denn es sei Sonnabend, und da schließe das Geschäft um eins. So trieb ich mich den ganzen Sonntag im Park herum, wobei ich Adelaide möglichst aus dem Weg zu gehen suchte.

Am Montag konnte ich Hous nicht finden und benutzte deshalb den Bus. Er verkehrte jede Stunde; als ich zustieg, war er fast leer. Der Fahrer war ein Neger, die einzigen Fahrgäste zwei eisschleckende Kinder. Die kleine Stadt sah wie die amerikanischen Ortschaften von vor fünfzig Jahren aus: eine einzige breite Straße, Telegrafenmasten, Häuser mit Vorgärten, niedrige Hecken, an jeder Pforte ein Briefkasten. Ein paar größere Wohnhäuser gaben der Kreuzung mit der Fernverkehrsstraße einen Anschein von Stadt. Ein Briefträger unterhielt sich dort mit einem verschwitzten, dicken Burschen in grellbuntem Hemd. Sein Hund, ein großer Köter mit einem Stachelhalsband, pinkelte an einen Laternenpfahl. Direkt daneben stieg ich aus, der Bus stieß eine Wolke stinkenden Qualms aus und fuhr weg. Ich hielt Ausschau nach dem Warenhaus, das mir Doktor Hous angegeben hatte. Das große, verglaste Gebäude stand auf der anderen Straßenseite. Zwei bekittelte Angestellte brachten aus dem Lager irgendwelche Kisten und luden sie mit dem Gabelstapler auf einen Lastwagen. Die Sonne brannte unerträglich. Der Fahrer des Lastwagens hatte die Türen geöffnet und trank Bier — nicht das erste, wie der Haufen leerer Büchsen zu seinen Füßen erkennen ließ. Er war ein völlig ergrauter Neger, vom Gesicht her aber überhaupt nicht alt. Auf der Sonnenseite der Straße gingen zwei Frauen, die junge schob einen Kinderwagen, die ältere guckte unter das hochgestellte Verdeck und sagte etwas. Trotz der Hitze trug sie eine schwarze wollene Stola, die Kopf und Schultern bedeckte. Die Frauen passierten gerade das offene Tor einer Autowerkstatt. Darin blitzten frischgewaschene Fahrzeuge, man hörte das Rauschen von Wasser und das Zischen der Luft. Ich nahm das alles nur oberflächlich wahr, als ich bereits die Fahrbahn betrat, um auf die andere Seite zu dem Warenhaus zu gehen. Ich blieb stehen, weil plötzlich ein riesiger dunkelgrüner Lincoln, der einige Dutzend Schritte entfernt gehalten hatte, auf mich zugeschossen kam. Die Frontscheibe war grün getönt, so daß ich den Fahrer kaum in Umrissen sah. Er schien ein schwarzes Gesicht zu haben, und ich dachte noch, auch das werde ein Neger sein, ich hielt mich am Rand des Gehwegs, um ihn vorbeizulassen, aber er bremste heftig, direkt vor mir. Ich glaubte, er wolle etwas fragen, aber plötzlich umschlang mich jemand fest von hinten und hielt mir den Mund zu. Ich war so perplex, daß ich nicht einmal den Versuch machte, mich zu wehren. Jemand, der auf dem Rücksitz des Lincoln saß, öffnete die Tür, jetzt begann ich mich zu sträuben, schreien konnte ich nicht, die Hand auf meinem Mund erstickte jeden Laut. Der Briefträger kam herbeigestürzt, bückte sich und packte mich bei den Füßen.

Auf einmal änderte die Straße schlagartig ihr Aussehen.

Die ältere Frau ließ die Stola zu Boden gleiten und wandte sich um, in den Händen eine kurzläufige Maschinenpistole. Sie gab einen langen Feuerstoß auf die Vorderfront des Autos ab, durchsiebte Kühler und Reifen, daß es nur so stiebte. Der weißhaarige Neger trank kein Bier mehr. Er saß am Steuer seines Lastwagens, ein Schwenk genügte, und dem Lincoln war der Weg abgeschnitten. Der struppige Hund stürzte sich auf die schießende Frau, krümmte sich und lag platt auf dem Asphalt. Der Briefträger ließ mich los, sprang beiseite, riß aus seiner Tasche etwas Rundes, Schwarzes und schleuderte es auf die Frauen. Es gab einen Knall, weißer Rauch stieg auf, die junge Frau warf sich auf die Knie, als Deckung den Kinderwagen, der sich plötzlich von innen öffnete und wie aus einem riesigen Feuerlöscher einen Schaumstrahl auf den Mann sprühte, der am Steuer des Lincoln gesessen hatte und eben auf die Fahrbahn gesprungen war. Bevor er im Schaum unterging, konnte ich erkennen, daß sein Gesicht schwarz vermummt war und daß er in der Hand einen Revolver trug. Dann schlug der Strahl mit solcher Gewalt gegen die Frontscheibe, daß sie zersprang und die Scherben den Briefträger trafen. Der Dicke, der mich immer noch festhielt, ging rückwärts und benutzte mich als Schild. Aus der Garage kamen einige Männer in Overalls herübergerannt und rissen mich von dem Dicken los.

Das alles hatte keine zehn Sekunden gedauert. Das Auto, das in der Werkstatt der Straße am nächsten stand, rollte mit dem Heck aus dem offenen Tor, zwei Männer in Kitteln steckten den von klebrigem Schaum triefenden Fahrer des Lincoln in ein Netz, wobei sie sich bemühten, ihm nicht zu nahe zu kommen. Der Dicke und der Briefträger trugen schon Handschellen und wurden in das Auto gestoßen. Ich stand da wie eine Salzsäule und sah zu, wie der vierte, der Mann, der die hintere Tür des Lincoln geöffnet hatte, mit erhobenen Händen ausstieg und folgsam, einen Revolver im Rücken, zu dem Lieferwagen ging, wo der weißhaarige Neger ihm Fesseln anlegte. Mich rührte niemand auch nur an, mit mir wechselte niemand auch nur ein Wort. Die Autos fuhren weg, die ältere Frau hob ihre Stola auf, schüttelte sie aus, packte die Maschinenpistole in den Kinderwagen, stellte das Verdeck wieder auf und ging ihrer Wege, als sei nichts gewesen.

Alles war wieder still und öde. Nur der Straßenkreuzer mit den platten Reifen und den zerschossenen Scheinwerfern und der Hundekadaver legten Zeugnis davon ab, daß ich nicht geträumt hatte. Neben dem Warenhaus stand in einem Garten voller hoher Sonnenblumen ein Haus. Es war aus Holz, hatte eine Veranda und nur ein Erdgeschoß. Im offenen Fenster lehnte, die Pfeife in der Hand, die Ellenbogen lässig auf das Fensterbrett gestützt, ein braungebrannter, blonder, fast weißhaariger Mann. Er musterte mich mit einer so beredten Gelassenheit, als wollte er sagen: Da kannst du mal sehen!

Erst da wurde mir bewußt, was noch seltsamer gewesen war als dieser Versuch einer Entführung: Obwohl ich noch den Feuerstoß, die Explosionen und Schreie im Ohr hatte, war nirgendwo ein Fenster aufgegangen, hatte niemand auf die Straße geguckt. Ich stand da wie in einer verlassenen Filmkulisse. Ich stand ziemlich lange da und wußte nicht, was ich tun sollte. Den Kauf einer Schreibmaschine hielt ich nicht mehr für nötig.

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