„Herr Tichy“, sprach der Direktor, „die Einzelheiten der Mission erfahren Sie von meinen Leuten. Ich will Ihnen nur ein allgemeines Bild vermitteln, um zu verhindern, daß Sie am Ende vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Der Genfer Vertrag hat vier Dinge fertiggebracht, die unmöglich schienen: Erstens die allgemeine Abrüstung bei fortwährendem Rüstungswettlauf. Zweitens maximales Rüstungstempo — zum Nulltarif. Drittens die absolute Sicherheit jedes Staates vor einem Überraschungsangriff unter Wahrung des Rechts, Krieg zu führen, sofern das jemand wünscht. Viertens und letztens die Abschaffung sämtlicher Armeen, die dennoch weiterbestehen. Es gibt keine Streitkräfte mehr, aber die Stäbe sind geblieben und können planen, was sie wollen. Mit einem Wort: Wir haben pacem in terris. Alles klar?“
„Alles klar“, sagte ich. „Nun lese ich aber auch Zeitung, und da wird manchmal geschrieben, wir seien aus dem Regen in die Traufe gekommen. Irgendwo habe ich gelesen, daß der Mond sein Schweigen bewahrt und alle Kundschafter schluckt, weil es JEMANDEM gelungen ist, mit den dortigen Robotern ein Geheimabkommen zu schließen. Hinter alledem, was auf dem Mond vor sich geht, soll ein Staat stehen. Die Agency wisse das auch ganz genau. Was meinen Sie dazu?“
„Das ist reines Geschwafel“, erklärte der Direktor energisch. Das Dienstzimmer, in dem er residierte, war groß wie ein Tanzsaal. Auf einem Podium stand ein riesiger, von den Pockennarben der Krater übersäter Mondglobus. Von Pol zu Pol erstreckten sich in Grün, Rosa, Gelb und Orange die Sektoren der einzelnen Staaten, der Globus sah dadurch aus wie ein großer bunter Badeball oder eine vielfarbig eingefärbte geschälte Apfelsine. An der Wand hinter dem Direktor hing von der Decke die Flagge der Vereinten Nationen.
„Es ist Blödsinn, der zur Zeit in Mengen verzapft wird“, sagte der Direktor voller Nachdruck, und auf seinem dunklen Gesicht zeigte sich ein nachsichtiges Lächeln. „Unser Pressebüro steht Ihnen mit einer Übersicht dieser Hirngespinste gern zu Diensten. Sie sind alle aus den Fingern gesogen.“
„Aber diese Neopazifisten, diese Bewegung der Lunophilen — das ist doch eine Tatsache?“
„Die sogenannten Mondsüchtler? Natürlich gibt es die, aber haben Sie ihre Erklärungen oder ihr Programm gelesen?“
„Ja. Sie verlangen ein Abkommen mit dem Mond …“
„Ein Abkommen!“ prustete verächtlich der Direktor. „Sie verlangen kein Abkommen, sondern die Unterwerfung! Die haben noch die Eierschalen hinter den Ohren! Wem wollen sie sich denn unterwerfen? Sie bilden sich ein, der Mond sei JEMAND geworden, man könne ihn als vertragschließende Seite anerkennen, als Bündnispartner, der Macht und Intelligenz besitzt! Sie glauben, dort gebe es nur noch einen gigantischen Computer, der sämtliche Sektoren geschluckt hat. Die Angst, Herr Tichy, hat nicht nur große Augen, sondern auch einen kurzen Verstand.“
„Na schön, aber die Versammlung all dieser Waffen dort, all dieser Armeen, falls das wirklich Armeen sind — läßt sich ihre Vereinigung wirklich ausschließen? Wo nehmen Sie die Gewißheit her, daß so was nicht vorkommen kann? Sie sagen doch selber: Nichts Genaues weiß man nicht!“
„Selbst dort, wo man nicht nur nichts Genaues, sondern überhaupt nichts weiß, sind bestimmte Dinge nicht möglich. Der Sektor eines jeden Staates ist als evolutionäres Erprobungsgelände angelegt worden. Bitte sehen Sie selbst.“
Er nahm ein flaches Kästchen zur Hand, die einzelnen Sektoren leuchteten auf, bis der Mondglobus erstrahlte wie ein bunter Lampion.
„Die breiteren Streifen hier gehören den Supermächten. Wir haben natürlich gewußt, was wir da abladen, unsere Agentur war ja das Transportunternehmen. Wir haben auch die ganze Erschließung gemacht, die Baugruben ausgehoben, wo die SUPS draufkommen sollten, die Supersimulatoren. In jedem Sektor gibt es so ein Ding, und ringsherum liegen Produktionsstätten. Untereinander können die Sektoren nicht Krieg führen, das ist ganz ausgeschlossen. Der SUPS entwickelt neue Waffensysteme, die sofort auf einen Gegner treffen, der sie unschädlich zu machen sucht: der SEleKtivSimulator — der SEKS. Das eine wie das andere wird von Computern nachgestellt, die nach dem Prinzip ›Schwert und Schild‹ programmiert sind. Das ist ungefähr so, als hätte jeder Staat auf dem Mond einen Digitalrechner installiert, der mit sich selber Schach spielt. Nur sind die Figuren dabei Waffen, und während des Spiels kann sich alles ändern: die Züge der Figuren, deren Schlagkraft, sogar das Schachbrett — alles.“
„Moment mal.“ Ich stutzte. „Dort gibt es also nichts außer Computern, die einen Rüstungswettlauf simulieren? Das macht doch der Erde nichts, die simulierte Waffe ist doch harmloser als ein Blatt Papier!“
„Nein, nein! Die Projekte, die jeden Test optimal überstanden haben, gehen in die Produktion. Die andere Frage — und darin steckt der ganze Witz — ist der Zeitpunkt. Das sieht so aus: Der SUPS projektiert nicht nur irgendwelche neuen Einzelwaffen, sondern ganze Kampfsysteme. Diese sind unbemannt, das versteht sich inzwischen ja von selbst. Soldat und Waffe sind in eins verschmolzen. Noch besser wird das verständlich, wenn man die Entwicklungsgeschichte in der Natur als Vergleich hinzuzieht. Da gibt es einen Kampf ums Überleben, den Kampf ums Dasein, nicht wahr, das wird auch Ihnen schon aufgefallen sein. Um es bildlich auszudrücken: Der SUPS schafft die Projekte von Raubtieren, die der SEKS nach Schwachstellen absucht, damit er sie abtun kann. Hat er damit Erfolg, denkt sich der SUPS etwas Neues aus, und der andere hält wieder dagegen. Im Prinzip könnte dieser simulierte Krieg mit seinen ständigen Vervollkommnungen eine Jahrmillion so weitergehen, wenn nicht jeder dieser Komplexe nach einer gewissen Zeit tatsächlich die Waffenproduktion aufnehmen müßte. In welcher Zeitspanne das einzutreten hatte und welcher Wirkungsgrad vom jeweiligen Prototyp gefordert wurde — das hatte vorher ganz im Ermessen der Programmierer des jeweiligen Staates gelegen. Denn sehen Sie, jeder Staat wollte auf dem Mond ein Waffenlager haben, das wirklich existierte und nicht nur Sandkastenspiel oder Computersimulat war. Hier liegt der Hund begraben, kriegen Sie diesen Widerspruch mit?“
„Nicht ganz. Was für einen Widerspruch?“
„Die simulierte Evolution läuft viel schneller ab als die reale. Wer es durchhält, die Ergebnisse der Simulation gelassen abzuwarten, erhält die vollkommene Waffe — er ist aber wehrlos, solange er wartet. Wer die kürzere Simulation akzeptiert, erhält zwar die schlechtere Waffe — erhält sie aber früher! Wir nennen das den Pokerfaktor. Jeder Staat, der seine Militärmacht auf dem Mond stationierte, mußte sich im voraus entscheiden, was ihm lieber war: die bessere Waffe später oder die schlechtere früher.“
„Ich finde das irgendwie seltsam“, äußerte ich meine Bedenken. „Was passiert denn nun, wenn früher oder später die Produktion aufgenommen wird? Gehen die Waffen dann auf Lager?“
„Teilweise vielleicht, aber wirklich nur teilweise, weil dann nämlich nichts mehr simuliert wird. Dann tritt der Ernstfall ein. Natürlich nur innerhalb des jeweiligen Sektors.“
„Eine Art Manöver?“
„Nein. Bei Manövern ist der Kampf immer nur vorgetäuscht, da fallen keine Soldaten. Dort hingegen“ — der Direktor wies auf den bunten Mondlampion — „läuft echter Krieg. Innerhalb der Sektorengrenzen, das betone ich noch einmal. Gegen den Nachbarn läuft nichts!“
„Diese Waffen bekämpfen und vernichten sich erst mal im Computer, also nur scheinbar, aber nachher wirklich? Und dann?“
„Das ist es ja! Das weiß eben keiner! Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten — entweder hat der Rüstungswettlauf eine Grenze, oder er hat sie nicht. Hat er sie, dann muß es eine Endsiegwaffe geben, bei der jedes Wettrüsten — als simulierte Evolution — zum Stillstand kommt. Solche Waffen können sich gegenseitig nicht besiegen, es kommt zu einem stabilen Gleichgewicht. Die Entwicklung läuft aus und versiegt. Die Mondarsenale erfüllen bei den Waffen, die die letzte Prüfung bestanden haben, den Soll-Stand, und dann ist Ruhe. Das würden jedenfalls wir uns wünschen.“
„Und das ist nicht so?“
„Es ist mit Gewißheit anzunehmen, daß es kaum so ist. Erstens mal hat die natürliche Evolution kein Ende. Sie kann keines haben, weil es kein ›Endgültig‹, also keinen absolut überlebensfähigen Organismus gibt. Jede Art hat ihre schwache Seite. Zweitens ist auf dem Mond keine natürliche, sondern eine künstliche Evolution — noch dazu von Waffen! — im Gange. Jeder Sektor wird zu verfolgen suchen, was nebenan vor sich geht, und auf seine Weise darauf reagieren. Das militärische Gleichgewicht ist etwas anderes als das biologische. Die lebenden Arten dürfen ihre Konkurrenten nicht mit totaler Perfektion bekämpfen: Der absolut giftige Krankheitserreger würde alle Wirte töten und müßte folglich mit ihnen umkommen. Deshalb liegt das Gleichgewicht in der Natur unterhalb der Vernichtung. Andernfalls wäre die Evolution selbstmörderisch. Die Waffenentwicklung hingegen strebt die totale Überlegenheit über einen Gegner an. Waffen haben keinen Selbsterhaltungstrieb.“
„Moment mal, Direktor“, sagte ich, von einem neuen Gedanken überrascht. „Jeder Staat konnte sich doch in aller Stille auf der Erde einen ebensolchen Komplex bauen, wie er ihn auf den Mond geschickt hat. An seinem Verhalten wäre dann abzulesen, was der Zwilling dort oben macht.“
„Eben nicht!“ rief der Direktor mit einem widerborstigen Lächeln. „Gerade das ist einfach unmöglich! Der Verlauf der Evolution ist nicht voraussehbar. Wir haben uns in der Praxis davon überzeugt.“
„Wie denn?“
„So, wie Sie sagten. Wir haben identische Computer in unserem Forschungszentrum mit den identischen Programmen gefüttert und machen lassen. Eine Evolution wie aus dem Bilderbuch, aber total divergierend. Das ist so, als wollten Sie den Verlauf eines Schachturniers, das von hundert Großmeistercomputern in Moskau ausgetragen wird, dadurch voraussagen, daß Sie die Partien mit hundert identischen Geräten in New York simulieren. Was werden Sie über die Moskauer Computer erfahren? Absolut nichts! Kein Spieler, ob Mensch oder Computer, macht immer die gleichen Züge. Die Politiker wollten solche Simulatoren natürlich geliefert haben, aber es hat ihnen nichts genützt.“
„Schön. Nun hat aber bisher keiner was herausgekriegt, und alle eure Kundschafter sind verschwunden wie Steine im Wasser. Wie kann ich hoffen, daß es mir gelingt?“
„Sie bekommen Hilfsmittel, wie sie bisher noch keiner besaß. Einzelheiten erfahren Sie von meinen Mitarbeitern. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg …“
Drei lange Monate rackerte ich mich auf den Übungsständen der Lunar Agency kaputt, und ich kann ohne Übertreibung sagen, daß ich die Telematik zuletzt im kleinen Finger hatte. Es handelt sich dabei um die Kunst, einen Sendling zu bewegen. Man muß sich auskleiden bis aufs Gekröse und dann eine elastische Haut überstreifen. Sie erinnert an einen Taucheranzug, ist aber viel dünner und glänzt wie Quecksilber. Das kommt von den Leitungen, mit denen sie durchwoben ist, Elektroden, die dünner sind als Spinnweben. Eng am Körper anliegend, registrieren sie durch die Haut die Veränderungen der Muskelströme und geben sie an den Sendling weiter, der dadurch jede Bewegung mit idealer Präzision nachvollzieht. Das ist seltsam genug, aber es kommt noch besser: Man sieht nicht nur mit den Augen des Sendlings, sondern man fühlt auch, was man an seiner Stelle fühlen würde. Wenn er einen Stein aufnimmt, fühlst du dessen Form und Gewicht, als hättest du ihn selbst in der Hand. Man spürt jeden Schritt und jedes Straucheln, und stößt sich der Sendling an einem harten Gegenstand, so fühlt man auch den Schmerz. Ich hielt das für einen Mangel, aber Doktor Miguel Lopez versicherte, das müsse so sein. Andernfalls wäre der Sendling dauernd Beschädigungen ausgesetzt. Wird der Schmerz zu stark, kann der entsprechende Übertragungskanal zwar abgeschaltet werden, es empfiehlt sich jedoch, lediglich den Schmerzdämpfer zu benutzen, um sich über das Befinden des Sendlings auf dem laufenden zu halten. Der in die Kunsthaut gesteckte Mensch verliert das Gefühl für sich selbst und versetzt sich völlig in die Außenperson.
Ich trainierte an verschiedenen Modellen. Der Sendling muß durchaus keine Menschengestalt haben, er kann auch kleiner als ein Zwerg oder größer als Goliath sein, wobei das jeweils unterschiedliche Komplikationen mit sich bringt. Hat man statt der Füße plötzlich Raupenketten, so verliert man das Gefühl des direkten Bodenkontakts, es ist, als fahre man ein Auto oder einen Panzer. Ist der Sendling ein Riese von der zehnfachen Größe des Menschen, so muß man sich in ihm sehr langsam bewegen, denn seine Extremitäten wiegen etliche Tonnen und haben — auf dem Mond wie auf der Erde — die entsprechende Trägheit. Bei einem Sendling von zweihundert Tonnen hatte ich das Gefühl, unter Wasser zu marschieren, nur daß der Widerstand hier nicht vom Wasser kam, sondern von der Trägheit der massiven Glieder und des ganzen Körpers. Übrigens wäre ein solcher Klotz nur ein Hindernis, er böte ein Ziel wie ein Kirchturm.
Unter anderem hatte ich auch mit einer Serie immer kleinerer Geräte zu tun. Sie wurden zwar als Heinzelmännchen bezeichnet, erinnerten jedoch eher an Insekten. Das war ganz lustig, nur wird aus dieser Perspektive jedes Steinchen zum Berg, und man verliert im Gelände leicht die Orientierung. Die schweren Mondsendlinge sahen reichlich plump aus. Die dicksten hatten Beine, die man sehr kurz gehalten hatte, um den Schwerpunkt möglichst niedrig zu legen. So ein LEM — Lunar Efficient Missionary — hält das Gleichgewicht besser als ein Mensch im Raumanzug, denn er stolpert nicht und hat Arme wie ein Orang-Utan. Bei Zwanzigmetersprüngen erweisen sie sich als sehr hilfreich. Mich interessierte vor allem, welche Modelle man bei den früheren Erkundungen eingesetzt hatte und wie es ihnen ergangen war. Um mich in diese fehlgeschlagenen Expeditionen einweihen zu können, mußten meine Betreuer eine spezielle Genehmigung des Direktors einholen, denn alles, womit ich in Berührung kam, war geheim. Geheim war übrigens auch die gesamte Mission sowie die Tatsache, daß die frühere Versuchsreihe gescheitert war. Es ging wohl darum, nicht die Panik zu vergrößern, die von der Presse mit den unglaublichsten Hirngespinsten geschürt wurde. Der Missionsabschirmdienst (MAD) gab mich für einen Berater der Lunar Agency aus, und Journalisten hatte ich zu meiden wie die Pest.
Endlich konnte ich zwei Kundschafter befragen, die mit heiler Haut davongekommen waren. Ich durfte sie nicht sehen, sondern nur per Telefon einzeln sprechen. Wie es hieß, trug jeder inzwischen einen anderen Namen und war auch äußerlich so umgearbeitet worden, daß ihn die leibliche Mutter nicht erkannt hätte. Der erste, der sich Lon nannte und sicher ganz anders hieß, war problemlos in die Zone der Funkstille vorgestoßen und auf eine stationäre Umlaufbahn zweitausend Meilen über dem Mare Nibium gegangen. Von dort hatte er einen gepanzerten Sendling abgeschickt. Dieser war in einer völlig öden Gegend gelandet und, keine hundert Schritt weit gekommen, angegriffen worden. Ich suchte ihm ein paar konkrete Einzelheiten zu entlocken, aber er wiederholte immer nur dies: Er war über die Ebene des Mare Nibium gegangen, mutterseelenallein, auch die vorherige genaue Überprüfung eines Geländes von mehreren hundert Kilometern Durchmesser hatte nichts Verdächtiges ergeben. Plötzlich sei ganz nahe und von der Seite ein gewaltiger Roboter erschienen, mindestens doppelt so groß wie der LEM, und habe das Feuer eröffnet. Er selbst sei von einem lautlosen grellen Blitz geblendet worden, mehr wisse er nicht. Von der Umlaufbahn aus hatte er die Stelle dann fotografiert, neben einem kleinen Krater lagen, zu porösen Metallklumpen geschmolzen, die Reste des Sendlings, und ringsum erstreckte sich nichts als eine leblose Öde.
Der andere Kundschafter hatte zwei Sendlinge gehabt, der erste hatte gleich nach dem Start einen Purzelbaum geschlagen und war auf den Felsen zerschellt, der zweite war ein Zwillingspaar, ein Paar von Telematen, die gleichzeitig von einem Menschen gelenkt werden und folglich alle Bewegungen genau auf die gleiche Weise vollführen. Einer sollte vorangehen, der andere ihm in hundert Meter Abstand folgen, um zu beobachten, was den Vorderen angreifen würde. Außerdem waren beide durch Mikropen gesichert. Dieses Kurzwort für „mikroskopische Zyklopen“ bezeichnet eine Art Fernsehkamera, die aus einem ganzen Schwarm von mückengroßen, mit mikroskopisch kleinen Objektiven ausgestatteten Wächtern besteht. Eine solche Mikropenwolke hatte also die Zwillinge begleitet, sich dabei jedoch in einer Höhe von einer Meile über der Mondoberfläche gehalten, um auch die Umgebung übersehen zu können. Der Mensch bewegte die Sendlinge, während die Mikropen das Bild direkt auf die Erde in die Flugleitzentrale übertrugen. Das Ergebnis fiel für eine so gut durchdachte und abgesicherte Expedition eher dürftig aus. Beide Sendlinge gingen gleichzeitig in Trümmer, kaum daß sie mit beiden Beinen auf dem Sandboden des Mondes aufgesetzt hatten. Mein Gesprächspartner behauptete, sie seien von zwei sehr merkwürdigen Robotern angegriffen worden: Diese seien niedrig gebaut, bucklig und ungewöhnlich dick gewesen und buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht. Sie hätten sofort draufgehalten, er sei zusammengebrochen, ohne auch nur den Abzug betätigen zu können. Einen bläulichweißen Blitz, wahrscheinlich einen Laserstrahl, habe er noch wahrgenommen, dann sei er an Bord wieder zu sich gekommen. Auch er hatte die Überreste der Sendlinge fotografiert, die Bodenkontrolle bestätigte seinen Bericht jedoch nur im letzten Punkt. Die Geräte waren tatsächlich in einem Augenblick durchgeglüht und zerfetzt, wie von einem starken Laserstrahl getroffen, aber dessen Quelle war nirgends auszumachen! Ich sah mir den ganzen Film, der die Beobachtungen der Mikropen festhielt, ebenso wie die Fotos der letzten kritischen Augenblicke unter maximaler Vergrößerung an. Der Computer hatte das Bild jedes Steinchens in einem Radius von zwei Kilometern analysiert, denn soviel beträgt der Mondhorizont, und Laser ist nur auf der Geraden anwendbar. Alles sah von Grund auf sehr rätselhaft aus. Beide Sendlinge waren einwandfrei, mit beiden Beinen gleichzeitig und ohne jedes Schwanken gelandet, in gemäßigtem Tempo marschierten sie hintereinander her, plötzlich rissen beide wie ein Mann die Hand mit der Strahlenwaffe hoch, als hätten sie eine Gefahr entdeckt (die Fotografien zeigten nichts von einer solchen). Sie eröffneten das Feuer und wurden sofort selber getroffen, der eine in die Brust, der andere etwas unterhalb. Der Strahlenstoß zerfetzte sie, Wolken und Staub verdampfenden Metalls stoben auf. Diese Bilder wurden allen möglichen Analysen unterzogen, man suchte die Stelle, von der die Lasersalve gekommen war, durch Messungen zu bestimmen — man fand nichts. Die Sahara kann nicht so öde sein, wie diese Bilder es waren. Der Angreifer blieb ebenso unsichtbar wie seine Waffe. Gleichzeitig beharrte der Kundschafter fest auf seinen Aussagen: Im Moment des Angriffs hatte er zwei große, plumpe, bucklige Roboter gesehen, die ganz plötzlich aus dem Nichts erstanden, feuerten und verschwanden. Dieses Verschwinden hatte er nicht mehr mit den Augen der Sendlinge sehen können, denn die waren ja schon kaputt, aber von Bord hatte er verfolgen können, wie sich die Staubwolke an dem Ort der Katastrophe legte. Diese Beobachtungen deckten sich mit den Aufzeichnungen sämtlicher Mikropen: Diese zeigten die glühenden Reste der Sendlinge in sandfarbenen Staubschwaden, aber weiter nichts.
Viel hatte ich nicht erfahren, aber ganz ohne Wert war es nicht: Es bedeutete, daß man von der Mission mit heiler Haut zurückkommen konnte. Der unerklärliche Angriff hatte zahlreiche Hypothesen sprießen lassen, darunter auch die, daß auf dem Mond ETWAS so die Kontrolle über die beiden Sendlinge übernommen hatte, daß sie beide sich gegenseitig vernichten mußten. Die Vergrößerung der Fotos erbrachte indessen, daß sie gar nicht aufeinander, sondern nach der Seite gezielt hatten. Hochpräzise Messungen ergaben zudem, daß das Feuer, das sie als erste eröffnet hatten, von dem Laserstrahl, der sie zerstörte, fast gleichzeitig — nämlich den zehnmillionsten Teil einer Sekunde nach ihrem Feuerstoß — erwidert wurde. Durch eine Spektralanalyse der glühenden Panzerung beider Sendlinge ließ sich sogar feststellen, daß der von der Mondpartei angewandte Laser von der gleichen Leistung, aber nicht der gleichen Strahlung wie der der Zwillinge gewesen war.
Auf der Erde läßt sich die schwache Gravitation des Mondes nicht simulieren, daher nahm ich auf dem Übungsgelände nur ein Vorbereitungstraining und flog dann mehrmals wöchentlich auf die Orbitalstation der Agency, wo man eine Spezialplattform mit der um das Sechsfache geringeren Schwerkraft als auf der Erde eingerichtet hatte. Nachdem ich mich in der Haut des Sendlings ganz frei bewegen konnte, folgte das nächste Stadium mit höchst realistischen, aber völlig ungefährlichen Versuchen. Daß es besonders angenehm gewesen wäre, will ich dennoch nicht behaupten. Ich marschierte zwischen kleinen und großen Kratern über einen falschen Mond, ohne zu wissen, was mich wann auf einmal überraschen könnte.
Da meine Vorgänger bewaffnet nichts ausgerichtet hatten, beschloß der Missionsstab, mich unbewaffnet loszuschicken. Ich sollte im Sendling bleiben, solange es ging, denn jede Sekunde brachte den Mikropen, die mir wie ein Wespenschwarm folgten, eine Unmenge Beobachtungen. Tottentanz überzeugte mich davon, daß von einer wirksamen Verteidigung ohnehin keine Rede sein konnte. Ich sollte in ein totes und dennoch todbringendes Revier eindringen und unvermeidlich scheitern, alle Hoffnung aber lag darin, daß man aus diesem Scheitern Lehren ziehen konnte. Die ersten Kundschafter hatten aus leicht begreiflichen psychologischen Gründen auf Waffenbesitz bestanden. Schließlich macht es Mut, in einer Notlage den Finger am Abzug haben zu können. Unter meinen Lehrmeistern, die ich als reine Quälgeister ansah, befanden sich auch Psychologen. Sie sorgten dafür, daß ich mich an unliebsame Überraschungen aller Art gewöhnte. Obwohl ich wußte, daß mir nichts passieren konnte, stieg ich, scharf nach allen Seiten spähend, über den künstlichen Mond wie über eine glühende Herdplatte. Es ist ein großer Unterschied, ob man weiß, wie der eventuelle Gegner aussieht, oder ob nicht der nächste Felsblock, der lebloser wirkt als eine Leiche, plötzlich aufklafft und Feuer speit. Wenn alles das auch immer simuliert war, so war der Moment jeder dieser Überraschungen doch eher widerwärtig. Bei einem Treffer wurde die Verbindung zwischen mir und dem Sendling zwar unterbrochen, die automatische Schaltung wirkte jedoch mit einer winzigen Verzögerung, und daher machte ich viele Male das unbeschreibliche Gefühl durch, wie es ist, wenn man in Fetzen gerissen wird und mit den erlöschenden Augen des abgerissenen Kopfes die Eingeweide sieht, die einem aus dem aufgeschlitzten Bauch quellen. Sie waren aus Silizium und Porzellan, das tröstete ein wenig. Da ich solche Agonien einige dutzendmal erlebte, konnte ich mir die Attraktionen ausmalen, die mich auf dem Mond erwarteten. Zum wer weiß wievielten Male in Stücke gerissen, ging ich zu Sultzer, dem Haupt-Teletroniker, und packte ihm meine Zweifel auf den Tisch. Möglicherweise würde ich als Ganzes vom Mond zurückkehren und jede Menge zerspante LEMs dort hinterlassen, aber was nützte das eigentlich alles? Was kann man in wenigen Sekundenbruchteilen über unbekannte Waffensysteme in Erfahrung bringen? Wozu sollte überhaupt ein Mensch dort hinfliegen, wenn er sowieso nicht landen konnte?
Sultzer war ein kleiner, dürrer Mann, sein Kopf war kahl wie eine Billardkugel. „Tichy, Sie wissen doch, warum“, sagte er und schenkte mir ein Glas Sherry ein. „Von der Erde aus geht das nicht. 400 000 Kilometer Entfernung verzögern die Steuerung um fast drei Sekunden. Sie werden möglichst tief hinuntergehen, bis anderthalbtausend Kilometer ist es möglich, dort liegt die Untergrenze der Zone des Schweigens.“
„Das meine ich ja gar nicht. Wenn wir von vornherein voraussetzen, daß der Sendling keine Minute durchhält, kann man ihn von hier aus hinschicken und sein Ende von Mikropen aufzeichnen lassen.“
„Das haben wir schon gemacht.“
„Und?“
„Nichts.“
„Und die Mikropen?“
„Zeigten ein paar Staubwolken.“
„Konnte man nicht statt des Sendlings jemanden in einer anständigen Panzerung hinschicken?“
„Was verstehen Sie unter einer anständigen Panzerung?“
„Was weiß ich, meinetwegen eine Kugel, wie sie früher zur Erforschung von Tiefseegräben benutzt wurde. Mit entsprechenden Sehöffnungen, Meßgeräten und so weiter.“
„Auch so etwas ist gemacht worden. Nicht ganz so, wie Sie sagen, aber ähnlich.“
„Und?“
„Nicht ein Mucks.“
„Was ist damit passiert?“
„Nichts. Das Ding liegt bis heute dort. Die Funkverbindung ist ausgefallen.“
„Warum?“
„Das ist eine Frage für 64 000 Dollar. Wenn wir die Antwort wüßten, hätten wir Sie nicht zu bemühen brauchen.“
Derartige Gespräche wiederholten sich damals mehrfach. Nach Abschluß der zweiten Trainingsphase bekam ich frei. Schon drei Monate wohnte ich auf dem streng bewachten Stützpunkt, jetzt wollte ich der Kasernierung wenigstens für einen Abend entkommen. Um einen Passierschein zu erhalten, ging ich zum ABI (Abschirminspektor — so nannte er sich). Ich hatte ihn bisher nicht zu sehen bekommen. Ein erdfahler, trauriger Zivilist in kurzärmeligem Hemd empfing mich, er hörte sich mein Anliegen an, und seine Miene wurde noch trübseliger.
„Es tut mir sehr leid, aber ich darf Ihnen keinen Ausgang geben.“
„Was? Warum nicht?“
„Meine Befehle lauten so. Offiziell weiß ich weiter nichts.“
„Und inoffiziell?“
„Auch nichts. Wahrscheinlich fürchtet man für Sie.“
„Auf dem Mond verstehe ich das ja, aber HIER?“
„Hier um so mehr.“
„Soll das heißen, daß ich bis zum Start nicht mehr rausdarf?“
„Leider ja.“
„Wenn das so ist“, sagte ich sehr leise und freundlich wie immer, wenn mich die Wut packt, „werde ich nirgends hinfliegen. Von solchen Beschränkungen ist nie die Rede gewesen. Ich habe mich verpflichtet, den Kopf hinzuhalten, nicht aber im Knast zu sitzen. Ich sollte aus freiem Antrieb fliegen. Dieser Antrieb ist bei mir soeben stark im Schwinden. Wollt ihr mich mit Gewalt in die Rakete setzen, oder was wird nun?“
„Aber was reden Sie denn da?“
Ich stellte mich stur, und schließlich bekam ich meinen Ausgang. Ich wollte mich mal wieder als normaler Straßenpassant fühlen, im Treiben der Großstadt untertauchen, vielleicht ins Kino gehen, auf jeden Fall aber in einem anständigen Lokal zu Abend essen, nicht in einer Kantine mit irgendwelchen Kerlen, die Sekunde für Sekunde Ijon Tichys letzte Augenblicke in einem Sendling an sich vorüberziehen ließen, ehe der letztere in einem Feuerwerk zerstob. Doktor Lopez stellte mir sein Auto zur Verfügung. Es dunkelte bereits, als ich den Stützpunkt verließ. An der Auffahrt zum Highway sah ich im Licht der Scheinwerfer eine winkende Gestalt, daneben einen Kleinwagen mit eingeschalteten Notblinkleuchten. Ich stoppte. Es war eine junge hellblonde Frau in weißen Hosen und einem weißen Pullover. Ihr Gesicht war ölverschmiert, sie nahm an, der Motor habe sich festgefahren. Tatsächlich rührte er sich nicht einmal, wenn man den Anlasser betätigte. Ich bot ihr an, sie zur Stadt mitzunehmen. Als sie ihren Mantel aus dem Auto nahm, bemerkte ich neben dem Fahrersitz einen großen Mann. Er saß reglos wie ein Klotz.
„Das ist mein Telemacker“, erklärte sie, als ich näher hinsah. „Er hat sich verklemmt. Mir geht alles kaputt. Ich wollte ihn zur Werkstatt bringen.“
Ihre Stimme klang matt, ein bißchen schrill, beinahe kindlich. Ich mußte sie schon gehört haben, dessen war ich mir fast sicher. Ich öffnete die rechte Tür, um die Frau einsteigen zu lassen. Bevor das Lämpchen über dem Rückspiegel erlosch, sah ich aus der Nähe ihr Gesicht. Ich fiel fast vom Sitz, so sehr ähnelte sie Marilyn Monroe, dem Filmstar aus dem vergangenen Jahrhundert. Das gleiche Gesicht, der gleiche scheinbar unwissende, naive Ausdruck von Augen und Mund. Sie wollte, daß wir irgendwo bei einem Restaurant anhielten, damit sie sich waschen konnte. Ich nahm das Gas weg, langsam rollten wir an den hellen Lichtreklamen entlang.
„Hier gibt es ein kleines italienisches Lokal, das ganz ordentlich ist“, sagte sie, und tatsächlich strahlte uns gleich darauf die Aufschrift „Ristorante“ entgegen. Ich fuhr auf den Parkplatz.
Drinnen war es duster, auf einigen Tischen brannten Kerzen. Das Mädchen ging zur Toilette, ich stand einen Moment unentschlossen, dann setzte ich mich in eine der durch hölzerne Blenden abgetrennten Nischen. Der Tisch war auf drei Seiten von Holzbänken umgeben. Es waren fast kaum Gäste da. Vor dem üblichen Hintergrund bunter Flaschen spülte ein rothaariger Barkeeper Gläser, daneben führte eine mit glänzendem Messing beschlagene Pendeltür zur Küche. In der Nachbarnische saß jemand vor den Resten einer Mahlzeit und schrieb gebückt in einem Notizbuch.
„Ich habe Hunger“, sagte das Mädchen, als es zurückkam. „Über eine Stunde habe ich gestanden, keiner wollte anhalten. Essen wir? Ich lade Sie ein.“
„Gern“, sagte ich. Ein dicker Mann, der mit dem Rücken zu uns an der Bar saß, starrte in sein Glas. Zwischen den Beinen hielt er einen großen schwarzen Regenschirm. Ein Kellner nahm unsere Bestellung entgegen, stieß mit dem Fuß die Schwingtür auf und verschwand mit einem Tablett schmutzigen Geschirrs in der Küche. Die Blonde zog schweigend eine zerknautschte Packung aus der Hosentasche, brannte sich an der Kerze eine Zigarette an, hielt mir das Päckchen hin. Ich dankte mit einer Kopfbewegung. Ohne auffälliges Gaffen suchte ich herauszufinden, ob sich diese Frau hier doch in irgend etwas von der Schauspielerin damals unterschied. Ich fand nichts; und das war um so seltsamer, als viele Frauen versucht hatten, der Monroe zu gleichen, und alle daran gescheitert waren.
Die Monroe war unnachahmlich gewesen, obwohl sie sich weder durch große noch durch exotische Schönheit ausgezeichnet hatte. Viele Bücher sind über sie geschrieben worden, aber keines hat diese Mischung aus Kindlichkeit und Weiblichkeit erfassen können, durch die sie sich von allen unterschied. Einmal, noch in Europa, kam ich beim Betrachten ihrer Bilder auf den Gedanken, daß man sie eigentlich nicht als Mädchen bezeichnen dürfte. Sie war eine Frau, in der ein kleines Mädchen steckte, immer ein bißchen verwundert und überrascht, fröhlich wie ein launisches Kind und doch darunter Verzweiflung oder Furcht verbergend wie jemand, der niemanden hat, dem er sein böses Geheimnis anvertrauen kann. Sie nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und blies den Rauch sachte gegen die zwischen uns blakende Kerze. Nein, das war nicht bloß Ähnlichkeit, sondern Identität! Ich spürte, daß ich jetzt nicht zu viel auf einmal denken durfte, weil mich sonst mancherlei Verdacht überkommen könnte: Ich war ja nicht blind und konnte darüber nachgrübeln, warum sie die Zigaretten in der Hosentasche gehabt hatte — eine Frau tut das niemals. Außerdem besaß sie ja eine sogar ziemlich große, pralle Handtasche, die über der Stuhllehne hing.
Der Kellner brachte die Pizza, hatte aber den Chianti vergessen. Er entschuldigte sich und eilte aus dem Raum. Den Wein brachte ein anderer. Ich nahm das wahr, weil das Lokal nach dem Muster einer Taverne funktionierte und die Kellner ihre Servietten wie knielange Schürzen umgebunden hatten. Dieser andere jedoch trug seine Serviette über dem angewinkelten Unterarm. Nachdem er uns eingeschenkt hatte, ging er nicht weg, sondern zog sich nur um einen Schritt hinter die Trennwand zurück. Ich konnte ihn sehen, weil er sich im Messingbeschlag der Schwingtür spiegelte. Der Blonden entging das, denn sie saß tiefer in der Nische. Die Pizza war leidlich, das Gebäck ziemlich hart. Wir sprachen nicht während des Essens. Sie schob den Teller weg und griff wieder nach einer Camel.
„Wie ist denn Ihr Name?“ fragte ich.
Ich wollte einen fremden Namen hören, um den Eindruck loszuwerden, es könnte jene sein.
„Trinken wir erst mal“, sagte sie mit ihrer belegten Stimme, nahm unsere beiden Gläser und tauschte sie aus.
„Hat das etwas zu bedeuten?“ fragte ich.
„Es ist so ein Aberglaube von mir“, antwortete sie und lächelte nicht einmal dabei. „Auf gutes Gelingen!“
Mit diesen Worten hob sie das Glas zum Mund. Ich tat es ihr nach, die Pizza war scharf gewürzt gewesen, ich hätte den Wein auf einen Zug hinuntergestürzt, aber plötzlich fuhr flatternd etwas dazwischen und schlug mir das Glas aus der Hand. Der Chianti ergoß sich über die Frau und troff wie Blut von ihrem weißen Pullover. Ich wollte aufspringen, kam aber nicht hoch, weil meine Füße weit unter der Holzbank gegenüber steckten. Ehe ich sie heraushatte, ging der Krawall los. Der Kellner ohne Schürze, der mir mit der Serviette das Glas aus der Hand geschlagen hatte, war vorgesprungen und packte die Frau am Arm. Sie riß sich los und hob ihre Tasche, als wolle sie ihr Gesicht dahinter bergen. Der Barkeeper stürzte hinter dem Tresen hervor und schlug krachend zu Boden — der schläfrige dicke Glatzkopf hatte ihm ein Bein gestellt. Die Frau hantierte an ihrer Tasche herum, ein weißer Schaumstrahl brach daraus hervor wie aus einem Feuerlöscher. Der Kellner sprang zurück und faßte sich ins Gesicht, von dem ihm der weiße Brei auf die Weste quoll. Aus der Pendeltür kam der zweite Kellner und schrie auf, ebenfalls von dem Schaumstrahl getroffen. Verzweifelt rieben sich beide Gesicht und Augen, wie Schauspieler nach der Tortenschlacht einer slapstick comedy. Der Schaum verdampfte und verbreitete einen scharfen, ätzenden Geruch, weiße Dunstschwaden wogten durch das ganze Lokal. Die Frau schaute blitzschnell nach rechts und links, auf die unschädlich gemachten Kellner, und kehrte die Tasche gegen mich. Ich begriff, daß nun ich an der Reihe war, aber ich möchte heute noch wissen, warum ich keine Anstalten machte, mich zu schützen. Plötzlich war etwas Großes, Schwarzes vor mir, das unter dem Schaumstrahl prasselte wie ein Trommelfell — der Dicke hatte seinen Regenschirm vor mir aufgespannt. Die Tasche flog in die Mitte des Lokals und blitzte auf, es gab fast keinen Laut, aber dichter, dunkler Qualm quoll daraus hervor und mischte sich mit dem weißen Dunst. Der Barkeeper sprang vom Fußboden auf und rannte zur Küche. Die Pendeltür schwang noch hin und her, eben war die Frau dahinter verschwunden. Der Dicke warf dem Barkeeper den aufgespannten Schirm vor die Füße, der andere sprang darüber weg, verlor das Gleichgewicht, fegte im Vorbeitaumeln sämtliche Gläser vom Tresen und verschwand in der Küche.
Ich stand da und musterte das Schlachtfeld. Unter einem Tisch lag, noch immer qualmend, die Tasche. Der weiße Nebel biß in die Augen, lichtete sich aber schon. Der aufgespannte Regenschirm lag zwischen Glasscherben, zerbrochenen Tellern und Pizzaresten, überzogen von einer kleistrigen Schmiere und mit Wein übergossen. Alles war so schnell gegangen, daß die bastumflochtene Chiantiflasche immer noch über den Boden rollte und erst jetzt an die Wand stieß. Hinter der Trennwand zur benachbarten Nische erhob sich jemand — der Mann, der sich dort Notizen gemacht und Bier getrunken hatte. Ich erkannte ihn sofort: Es war der farblose Zivilist, mit dem ich mich vor zwei Stunden auf dem Stützpunkt in der Wolle gehabt hatte.
„Nun, Herr Tichy“, sagte er und zog melancholisch die Augenbrauen in die Höhe, „war es die Sache wert, so um den Passierschein zu kämpfen?“
„Eine fest zusammengefaltete Serviette ist auf kurze Entfernung wirksam gegen eine kurze Feuerwaffe“, sagte nachdenklich Leon Grün, der Abschirmchef, der im täglichen Umgang Lohengrin genannt wurde. „Die französischen Flics kannten dieses Mittel schon, als sie noch Pelerinen trugen. In die Handtasche hätte weder eine Parabellum noch eine Beretta gepaßt. Freilich, sie hätte auch eine Reisetasche haben können, aber es braucht ein gutes Weilchen, ehe eine größere Knarre ausgepackt ist. Trotzdem habe ich Trufli zu dem Regenschirm geraten, ich muß eine Eingebung gehabt haben. Das war Salpektin, nicht wahr, Doktor?“
Der Gefragte, ein Chemiker, kratzte sich hinterm Ohr. Wir saßen auf dem Stützpunkt, in einem verräucherten Zimmer voller Leute. Mitternacht war längst vorüber.
„Was weiß ich, Salpektin oder ein anderes Salz in Sprayform, mit freien, Radikalen. Ammoniumradikale plus Emulgierungsmittel und Zusätze zur Verminderung der Oberflächenspannung. Alles unter anständigem Druck — mindestens fünfzig Atmosphären. In der Tasche war eine Menge drin, die müssen hervorragende Fachleute haben.“
„Wer?“ fragte ich, aber keiner tat, als hätte er etwas gehört. Daher setzte ich nach, laut und nachdrücklich.
„Was sollte das? Was hatte man vor?“
„Sie sollten unschädlich gemacht werden, das Augenlicht verlieren“, sagte Lohengrin mit einem vergnüglichen Grinsen. Er brannte sich eine Zigarette an, drückte sie voller Ekel aber gleich wieder aus. „Gebt mir was zu trinken, ich komme mir vor wie ein überhitzter Brennofen. Sie kosten uns manches Stück Gesundheit, Tichy, es ist kein Kinderspiel, in dreißig Minuten einen solchen Personenschutz auf die Beine zu stellen …“
„Das Augenlicht sollte ich verlieren? Zeitweilig oder für immer?“
„Schwer zu sagen, das Zeug ist scheußlich ätzend. Vielleicht hätten Sie eine Hornhautübertragung nötig gehabt.“
„Und die beiden? Die Kellner?“
„Unser Mann hat es geschafft, die Augen zu schließen. Das war ein guter Reflex. Immerhin war die Tasche ein gewisses Novum.“
„Aber warum hat mir dieser — dieser falsche Kellner das Glas aus der Hand geschlagen?“
„Ich habe nicht mit ihm gesprochen, er ist für Unterhaltungen nicht geeignet. Ich nehme an, weil sie mit Ihnen getauscht hat.“
„War etwas in dem Glas?“
„Mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit. Wozu hätte sie das sonst machen sollen?“
„Im Wein kann nichts gewesen sein“, stellte ich fest. „Sie hat davon getrunken.“
„Im Wein nicht, aber im Glas. Hat sie nicht damit gespielt, ehe der Kellner kam?“
„Ich bin mir nicht sicher … Doch, jawohl, sie hat es in den Fingern gedreht.“
„Na bitte. Das Ergebnis der Analyse haben wir noch abzuwarten. Da alles in winzige Scherben gegangen ist, läßt sich nur mit der Chromatographie etwas machen.“
„Gift?“
„Das möchte ich meinen. Sie sollten aus dem Wege geräumt, unschädlich gemacht, aber nicht unbedingt umgebracht werden. Das ist eher weniger anzunehmen. Versetzen wir uns einmal in die Lage der anderen: Ein Toter bringt keinen Vorteil, nur Lärm, Verdächtigungen, die Presse, die Obduktion, Gerede. Das bringt nichts. Eine solide Psychose ist dagegen etwas ganz anderes, als Resultat viel eleganter. Die notwendigen Präparate gibt es heutzutage in rauhen Mengen. Dämmerzustände, Depressionen, Halluzinationen. Ich nehme an, Sie hätten gleich nach diesem Schlückchen noch gar nichts gemerkt — erst morgen oder noch später. Mit der Länge der Latenzzeit wird das einer echten Psychose immer ähnlicher. Wer kann heutzutage nicht verrückt werden? Jeder kann es. Ich als erster, Herr Tichy.“
„Und dieser Schaum? Dieser Spray?“
„Das war das letzte Mittel zum Rückzug, so etwas wie das Reserverad im Kofferraum. Sie benutzte es, weil sie nicht anders konnte.“
„Wer sind denn nun diese anderen, von denen ihr immer redet?“
Lohengrin lächelte vergnügt und trocknete sich die schweißnasse Stirn mit einem Taschentuch, das nicht gerade klinisch sauber war und das er etwas angewidert betrachtete, ehe er es wieder einsteckte.
„Sie scheinen wahrhaftig noch nicht ganz volljährig zu sein“, meinte er dann. „Von Ihrer Kandidatur sind durchaus nicht alle so begeistert wie wir, Herr Tichy.“
„Gibt es für mich einen Auswechsler? Ich habe mich nie erkundigt, ob jemand in Reserve steht. Er könnte vielleicht einen Fingerzeig bieten …“
„Nein. Jetzt gibt es nicht einen Ersatzmann, sondern einen ganzen Haufen, alle mit ähnlicher Punktzahl. Es müßten erst neue Untersuchungen angestellt, eine Selektion vorgenommen werden. Dann ließe sich etwas mutmaßen, jetzt aber nicht.“
„Eines möchte ich gerne noch wissen“, sagte ich, nicht ohne Zögern. „Wie kam es, daß diese Frau so aussah?“
„Das ist uns zum Teil bekannt.“ Lohengrin lächelte wieder. „Vor ein paar Wochen ist Ihre Wohnung in Europa auf den Kopf gestellt worden. Es ist nichts weggekommen, aber alles betrachtet worden. Daher.“
„Ich verstehe nicht …“
„Ihre Bibliothek. Sie haben ein Buch und zwei Bildbände über die Monroe. Ein kleines Faible offenbar.“
„Ihr habt in meiner Wohnung herumgestöbert, ohne mir ein Wort zu sagen?“
„Es steht alles wie zuvor, sogar vom Staub befreit, und was den Besuch angeht, so waren wir nicht die ersten. Sie haben gesehen, wie gut es war, daß unsere Leute auch ausgiebig in Ihren Büchern geblättert haben. Wir haben Ihnen nichts gesagt, um Sie nicht nervös zu machen. Sie haben ohnedies genug am Hals. Maximale Konzentration ist eine unabdingbare Voraussetzung. Wir sind sozusagen kollektive Kindermädchen.“ Er beschrieb mit der Hand einen Kreis, in den er die Anwesenden einschloß: den Dicken (jetzt ohne Regenschirm), den Chemiker und drei schweigsame Herren, deren Aufgabe offenbar darin bestand, die Wände vor dem Einsturz zu bewahren. „Ich hielt es daher für besser, Ihnen den gewünschten Passierschein zu geben, statt von Ihrer Wohnung zu petzen. Das hätte Sie ja erst recht nicht zur Ruhe gebracht, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht.“
„Na sehen Sie.“
„Schön. Meine Frage bezog sich jedoch auf die Ähnlichkeit — mein Gott, war sie ein — Mensch?“
„Wie man es nimmt. Nicht direkt. Wollen Sie sie sehen? Wir haben sie hier. Sie liegt da drüben.“ Er wies auf eine Tür hinter seinem Rücken.
Obwohl ich ihn richtig verstanden hatte, schoß mir für einen Sekundenbruchteil der Gedanke durch den Kopf, nun sei Marilyn Monroe zum zweitenmal gestorben.
„Ein Erzeugnis der Gynandroics?“ fragte ich schleppend. „Ein sogenanntes Playmate?“
„Nur der Firmenname stimmt nicht, es gibt mehr davon. Wollen Sie sie sehen?“
„Nein“, sagte ich entschieden. „Aber in diesem Falle muß sie doch jemand — gesteuert haben?“
„Natürlich. Dieser Jemand ist verduftet, er muß übrigens eine Frau von großer schauspielerischer Begabung gewesen sein. Haben Sie auf die Gestik und das Mienenspiel geachtet? Das war allerhöchste Klasse, ein Laie hätte das nicht fertiggebracht. So eine Ähnlichkeit vermitteln, wie soll ich sagen, das leben zu können — dazu hat Studium gehört. Natürlich auch Übung. Die Monroe hat Filme hinterlassen, das wird geholfen haben. Aber trotzdem …“
Er zuckte die Achseln. Er sprach als einziger, für die anderen mit.
„Soviel Mühe sollte man sich gemacht haben?“ fragte ich. „Wozu denn?“
„Eine alte Frau hätten Sie ja nicht mitgenommen.“
„Doch.“
„Aber Pizza wären Sie nicht mit ihr essen gegangen, jedenfalls war das ungewiß. Man brauchte die Gewißheit, daß Ihr Interesse geweckt wurde. Sie dürften das übrigens ganz genau selber wissen, mein Lieber! Schließen wir das Kapitel jetzt ab.“
„Was habt ihr … mit ihr gemacht?“
Eigentlich hatte ich sagen wollen: Habt ihr sie umgebracht? — obgleich ich die Sinnlosigkeit einer solchen Frage einsah. Er verstand mich.
„Nichts. Ein Sendung fällt von alleine um wie ein Klotz, sobald der Funkkontakt abbricht. Es ist ja nur eine Puppe.“
„Warum ist sie dann geflohen?“
„Weil die Untersuchung des Produkts Rückschlüsse auf die Produzenten zulassen könnte. In diesem Fall war es wenig wahrscheinlich, aber sie hatten vor, sämtliche Segel zu reffen, damit keine einzige Spur zurückblieb. So, Herr Tichy, es ist gleich um drei, man sollte sich Schonung auferlegen. Nehmen Sie es nicht übel, aber Ihre Empfindungen sind stark vom vergangenen Jahrhundert geprägt. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht und angenehme Träume.“
Der nächste Tag war ein Sonntag. Sonntags hatten wir frei. Ich rasierte mich, denn ein Bote hatte mir einen Brief gebracht. Professor Lax-Gugliborc wünschte mich zu sehen. Ich hatte schon von ihm gehört, er war Nachrichtentechniker, Spezialist für Telematik, und hatte auf dem Gelände des Stützpunkts eine eigene Arbeitsstätte. Ich kleidete mich an und machte mich Punkt zehn Uhr auf den Weg. Den hatte mir der Professor auf die Rückseite des Briefumschlags gezeichnet. Zwischen den Gebäuden, die alle nur ein Erdgeschoß hatten, fand ich zu einem hohen Drahtzaun, der einen Garten mit einem langgestreckten, leichtgebauten Haus umschloß. Ich drückte den Klingelknopf, einmal und noch einmal. Erst erschien die Leuchtschrift ICH BIN FÜR NIEMANDEN ZU SPRECHEN, dann schnarrte etwas im Schloß, und die Pforte öffnete sich. Ein schmaler Kiesweg führte zu einer Metalltür. Sie war geschlossen, eine Klinke besaß sie nicht. Ich klopfte. Drinnen rührte sich nichts. Ich klopfte noch einmal. Als ich mich schon zum Gehen wenden wollte, öffnete sich ein Türflügel, und ein hochgewachsener, hagerer Mann in fleckigem, bekleckertem blauem Kittel sah dahinter hervor. Er war fast völlig kahlköpfig, nur an den Schläfen hielt sich noch kurzgeschorenes graues Haar. Eine starke Brille mit Bifokalgläsern gab ihm einen Ausdruck, als blicke er ewig verwundert mit runden Fischaugen in die Welt. Er hatte eine lange, witternde Nase und eine massive Stirn.
Wortlos ließ er mich ein und schloß hinter mir ab, und das nicht nur einmal. Der Flur lag im Dunkel, mein Gastgeber ging voran. Mich an der Wand entlangtastend, folgte ich ihm. Das war alles so verschwörerisch und kauzig. In der warmen, trockenen Luft hing der Geruch von Chemikalien. Eine Schiebetür ging auf, er ließ mir den Vortritt.
Ich stand in einem großen Arbeitsraum, der auf eine geradezu unwahrscheinliche Weise einer Rumpelkammer glich. Überall stapelten sich Apparate aus brüniertem Metall, durch Kabel verbunden, die sich auf dem Fußboden knäuelten. In der Mitte ein Labortisch, ebenfalls voller Geräte, Papiere und Instrumente, daneben ein Käfig, ein richtiger Papageienkäfig aus dünnem Draht, allerdings so groß, daß ein Gorilla hineingepaßt hätte. Am merkwürdigsten waren Figuren, die reihenweise an den Wänden lagen und an nackte Schaufensterpuppen erinnerten, manche ganz ohne Kopf, andere mit geöffneter Schädeldecke, wieder andere mit einem Brustkorb, der aufgeklappt war wie eine kleine Tür. Ihr Inneres steckte voller Strippen und Platten, und unter dem Tisch lagen auf einem Haufen für sich zahlreiche Arme und Beine.
Dieser vollgepfropfte Raum besaß keinerlei Fenster. Der Professor fegte Kabelrollen und Elektronikbauteile von einem Stuhl und bewegte sich mit einer Behendigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Schließlich kroch er auf allen vieren unter den Tisch, zog einen Recorder hervor und schaltete ihn ein. In der Hocke verharrend, sah er mir von unten in die Augen und legte einen Finger auf den Mund, während aus dem Gerät seine quäkende Stimme drang.
„Ich habe Sie zu einer Lektion hergebeten, Tichy. Es wird Zeit, Ihnen das Notwendigste über die Nachrichtentechnik mitzuteilen. Bitte nehmen Sie Platz und hören Sie zu. Sie dürfen sich keinerlei Notizen machen …“
Während die Stimme weitersprach, öffnete der Professor den großen Drahtkäfig und forderte mich mit einer Geste zum Eintreten auf. Als ich zauderte, stieß er mich ohne Umstände hinein und folgte mir. Drinnen nahm er mich bei der Hand und zerrte daran zum Zeichen, daß ich mich auf den Boden setzen sollte. Ich gehorchte. Er selbst ließ sich mir gegenüber nieder, mit gekreuzten Beinen, deren spitze Knie unter dem Kittel hervorstarrten. Es war wie in einer Filmklamotte mit einem übergeschnappten Gelehrten. Auch durch den Käfig schlängelten sich nach allen Seiten Drähte, der Professor steckte zwei zusammen, und ein monotones Summen ertönte. Aus dem Recorder, der draußen neben dem Stuhl lag, quäkte weiter die Stimme. Lax zog hinter seinem Rücken zwei dicke schwarze Halsbänder hervor, eines zog er sich über den Kopf und legte es um wie einen Kragen, das andere reichte er mir, damit ich es ihm nachtat. Dann steckte er sich einen Kontakt von der Form einer kleinen Olive ins Ohr. Auch darin folgte ich ihm. Der Recorder quasselte laut, ich aber hörte im Ohr, was der Professor sagte.
„Jetzt können wir reden. Sie dürfen Fragen stellen, aber sie müssen intelligent sein. Niemand kann uns zuhören, wir sind abgeschirmt. Sie brauchen sich über nichts zu wundern. Selbst Vertraute genießen kein Vertrauen, und das mit Recht.“
Wir saßen auf dem Boden des Käfigs, so eng voreinander, daß unsere Knie sich fast berührten. Draußen lief nach wie vor der Recorder.
„Darf ich reden?“ fragte ich.
„Sie dürfen. Elektronik hilft immer gegen Elektronik. Sie sind mir durch Ihre Bücher bekannt. Das alles hier ist nur Gerümpel, Dekoration. Sie haben die Beförderung zum Heros erhalten. Die Mission zur Monderkundung. Sie werden fliegen.“
„Ja“, sagte ich. Er bewegte beim Sprechen kaum die Lippen, aber ich verstand ihn über den Hörer im Ohr vorzüglich. Das Ganze war sonderbar, keine Frage, aber ich beschloß, mich an die mir aufgezwungenen Spielregeln zu halten.
„Es ist bekannt, daß Sie fliegen werden. Tausend Leute werden Sie von der Erde aus unterstützen. Die hochzuverlässige Lunar Agency. Nur daß diese im Innern zerrissen ist.“
„Die Agentur?“
„Jawohl. Man wird Sie mit einer Serie neuer Sendlinge ausrüsten, aber nur einer taugt wirklich etwas: der meine. Eine völlig neue Technologie. ›Denn du bist Staub und sollst zu Staub werden und wieder erstehen.‹ Ich werde es Ihnen vorführen, aber zuvor erhalten Sie von mir ein Viatikum, eine heilsame Lehre für die Reise.“
Er hob den Finger. Seine Augen, klein und rund hinter den dicken Gläsern, lächelten gutmütig-verschlagen.
„Sie werden hören, was man von Ihnen wollte, erst einmal aber das, was man nicht wollte. Ich tue das, weil ich es so will. Ich bin ein Mann von altmodischen Grundsätzen. Bitte hören Sie zu. Die Agentur ist eine internationale Einrichtung, aber sie kann keine Engel aufbieten. Auf weitere Entfernung, beispielsweise auf dem Mars, hätten Sie selbst handeln müssen. Einer allein gegen Theben. Auf dem Mond hingegen werden Sie nur die äußerste Spitze einer Pyramide sein. Sie werden ein Team zur strategischen Unterstützung hinter sich haben. Wissen Sie, wer diesem Team angehört?“
„Nicht ganz. Die meisten kenne ich: die Brüder Cybbilkis, Tottentanz, Doktor Lopez … Außerdem noch Sultzer und die anderen … Aber was soll das, worum geht es denn?“
Er wiegte schwermütig den Kopf. Wir mußten ziemlich lächerlich aussehen — in diesem hohen Käfig sitzend, unter dem an das Summen von Insekten erinnernden Dauerton, in den sich von draußen die Stimme des Recorders mischte.
„Alle diese Burschen vertreten vielfältige, entgegengesetzte Interessen. Anders kann es nicht sein.“
„Darf ich alles sagen?“ fragte ich, weil ich schon ahnte, worauf der Sonderling hinauswollte.
„Ja. Demzufolge, was Sie von mir hören werden, sollten Sie niemandem über den Weg trauen, also auch mir nicht. Jemandem müssen Sie am Ende aber doch vertrauen. Die ganze Idee mit diesem Umzug“ — er wies mit dem Finger zur Decke — „war natürlich auch mit der Doktrin der Unkenntnis ohne jeden Sinn. Das mußte ganz einfach so enden — falls es schon zu Ende ist. Man hat sich die Suppe selber eingebrockt. Allerdings war es auch gar nicht anders möglich. Der Direktor hat Ihnen von den vier verwirklichten Unmöglichkeiten erzählt, nicht wahr?“
„Ja.“
„Es gibt noch eine fünfte. Man will die Wahrheit wissen, will es aber auch nicht. Das heißt, nicht jede Wahrheit. Und nicht jeder dieselbe. Verstehen Sie?“
„Nein.“
So unterhielten wir uns. Wir saßen uns zwar gegenüber, sprachen aber miteinander wie übers Telefon. Der Summton hielt an, der Recorder redete. Lax hielt die Arme auf die Knie gestützt, seine Augen blinzelten hinter der starken Brille.
„Ich habe mich so eingerichtet, um die Abhörkanäle zu verstopfen“, sagte er ohne Eile. „Ganz gleich, wem sie gehören und für wen sie arbeiten. Ich will tun, was ich kann, weil ich meine, daß es sich so gehört. Normaler Anstand. Dank ist überflüssig. Man wird Sie unterstützen, aber es wird der Gesundheit zuträglicher sein, gewisse Tatsachen für sich zu behalten. Das braucht keine Beichte zu werden. Wir wissen nicht, was auf dem Mond passiert ist. Sibelius und seinesgleichen sind der Ansicht, die Evolution habe dort den Rückwärtsgang eingelegt: die Entwicklung der Instinkte statt der Intelligenz. Eine intelligente Waffe ist keine optimale Waffe. Sie kann beispielsweise Furcht empfinden. Ihr kann die Lust vergehen, eine Waffe zu sein. Sie kann auf mancherlei Konzepte kommen. Der Soldat aber darf, ob lebend oder tot, keinerlei eigene Konzepte haben. Intelligenz bedeutet die Möglichkeit mehrdimensionalen Handelns, also Freiheit. Damit ist aber nichts, es verhält sich dort oben ganz anders. Das Niveau der menschlichen Intelligenz ist bereits übertroffen.“
„Woher wissen Sie das?“
„Wer Evolution sät, erntet Vernunft — daher. Die Vernunft aber will niemandem dienstbar sein, es sei denn, sie muß. Dort muß sie nicht. Ich habe aber nicht vor, von dem zu sprechen, was dort ist, denn das weiß ich nicht. Es geht um das Hier.“
„Das heißt?“
„Die Lunar Agency sollte unmöglich machen, daß sich Informationen vom Mond verschaffen ließen. Nun ist das Ende vom Lied, daß sie selber eben das tun soll. Deswegen fliegen Sie hin. Entweder kehren Sie mit leeren Händen oder mit Neuigkeiten zurück, die größere Zerstörungskraft haben als Atombomben. Was ziehen Sie vor?“
„Moment. Bitte sprechen Sie nicht in Andeutungen. Halten Sie Ihre Kollegen für die Vertreter irgendwelcher Geheimdienste? Für Agenten? Ja?“
„Nein. Aber Sie können es dahin kommen lassen.“
„Ich?“
„Jawohl. Das seit dem Genfer Vertrag bestehende Gleichgewicht ist labil. Sie können nach Ihrer Rückkehr die alte Bedrohung in eine neue verwandeln. Sie dürfen nicht der Erlöser der Welt werden, kein Verkünder des Friedens.“
„Warum nicht?“
„Das Programm, die irdischen Konflikte auf den Mond auszulagern, war schon im Keim verdorben. Anders konnte es nicht sein. Rüstungskontrolle war durch die Wende zur Mikrominiaturisierung unmöglich geworden. Raketen und künstliche Satelliten lassen sich zählen, künstliche Bakterien aber nicht, ebensowenig wie sich feststellen läßt, ob eine Naturkatastrophe künstlich ausgelöst wurde oder was den Rückgang des Bevölkerungszuwachses in der Dritten Welt verursacht hat. Dieser Rückgang war zwar notwendig, ließ sich aber im guten nicht realisieren. Man kann sich eine Handvoll Personen vorknöpfen und ihnen klarmachen, was für sie nützlich oder verderblich ist. Die ganze Menschheit aber können Sie nicht bei der Hand nehmen und ihr das auseinandersetzen. Stimmt’s?“
„Was hat denn das mit dem Mond zu tun?“
„Daß die Vernichtung nicht unmöglich gemacht, sondern nur in Raum und Zeit verschoben wurde. Das konnte nicht ewig währen. Ich habe eine neue Technologie entwickelt, die sich in der Telematik anwenden läßt: für den Bau von Dispersanten, Sendlingen also, die zur reversiblen Dispersion fähig sind. Ich wollte nicht, daß sie der Agentur dient, aber es ist nun mal geschehen.“
Er hob die Hände, als wolle er sich ergeben.
„Einer meiner Mitarbeiter muß es weitergegeben haben, ich weiß nicht, welcher, und halte das auch nicht für besonders wichtig. Unter großem Druck muß sich ein Leck bilden. Jede Loyalität hat ihre Grenzen.“
Er strich mit der Hand über die blanke Kopfhaut. Der Recorder schwatzte immer noch.
„Ich kann eines tun: den Beweis führen, daß die dispersive Telematik noch nicht anwendungsreif ist. Das kann ich machen, für ein Jahr vielleicht. Dann kommen sie hinter den Betrug. Was wollen Sie, das ich tun soll?“
„Warum soll denn ich das entscheiden?“
„Wenn Sie mit leeren Händen wiederkommen, wird sich niemand für Sie interessieren. Klar?“
„Es sieht so aus.“
„Kommen Sie aber mit Neuigkeiten, sind die Konsequenzen unabsehbar.“
„Für mich? Mich wollen Sie retten? Aus reiner Sympathie?“
„Nein. Um Zeit zu gewinnen.“
„Bei der Erkundung des Mondes? Sie halten es also für ausgeschlossen, daß dort diese — diese Invasion gegen die Erde vorbereitet wird? Glauben Sie, daß dies nur eine kollektive Hysterie ist?“
„Natürlich. Kollektive Hysterie oder nicht, auf jeden Fall Gerüchte und Bewegungen, die von einem oder mehreren Staaten in voller Absicht losgelassen werden.“
„Zu welchem Zweck?“
„Um die Doktrin der Unkenntnis platzen zu lassen und zur alten Politik à la Clausewitz zurückkehren zu können.“
Ich schwieg, denn weder wußte ich, was ich sagen, noch, was ich von seinen Worten denken sollte.
„Das ist doch alles nur Ihre Vermutung“, meinte ich endlich.
„Genau. Auch der Brief, den Einstein an Roosevelt richtete, beruhte nur auf der Vermutung, daß die Atombombe sich bauen ließ. Einstein hat das bis an sein Ende bereut.“
„Ich verstehe — Sie möchten eine solche Reue nicht erleben müssen.“
„Die Atombombe wäre auch ohne Einstein entstanden. Meine Technologie ohne mich ebenfalls. Aber je später, desto besser.“
„Après nous le deluge?“
„Nein, damit hat das nichts zu tun. Die Angst vor dem Mond ist mit Absicht entfacht worden, dessen bin ich sicher. Wenn Sie von einer gelungenen Erkundung zurückkommen, tauschen Sie diese Angst gegen eine andere aus, die schlimmer sein kann, weil sie realer ist.“
„Jetzt fällt bei mir endlich der Groschen. Sie wollen, daß meine Erkundung nicht gelingt?“
„Ja, aber nur mit Ihrem Einverständnis.“
„Wieso?“
Sein Gesicht verlor auf einmal das Eichhörnchenhafte, die durch die Knopfaugen boshaft wirkende Häßlichkeit: er lachte, lautlos, aber mit offenem Munde.
„Den Grund habe ich Ihnen schon gesagt. Ich bin ein Mann mit altmodischen Prinzipien. Zu diesen gehört das Fairplay. Ich erwarte Ihre Antwort auf der Stelle, denn mir tun schon die Beine weh.“
„Hätten Sie doch mal ein paar Kissen hergelegt“, sagte ich. „Und was diese — diese Dispersionstechnik betrifft, so bitte ich darum.“
„Sie glauben nicht, was ich gesagt habe?“
„Doch. Und eben deswegen will ich es so.“
„Den Herostrat spielen?“
„Ich werde mich bemühen, kein Heiligtum in Brand zu stecken. Können wir nun endlich aus diesem Käfig steigen?“