Das stete Rauschen des in die Tiefe stürzenden Wassers hallte zwischen den Felswänden wider. Während Emerahl tiefer in den Tunnel hinabstieg, verebbte der Lärm, aber das Gleiche galt für das Licht. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein und schuf einen Funken, dann sandte sie ihn voraus zum Ende des Tunnels.
Alles war noch so, wie sie es zurückgelassen hatte: die primitiven Betten in der Mitte der Höhle, die aus zusammengebundenen Baumstämmen und groben, zu einem straffen Netz gewobenen Streifen Borke gemacht waren; die steinernen Schalen, die Mirar hergestellt hatte, als er im letzten Sommer hier hatte ausharren müssen, bis er die Fähigkeit gemeistert hatte, seinen Geist vor den Göttern zu verbergen; die Krüge, Kisten und Taschen mit getrocknetem oder eingelegtem Essen und Heilmitteln, die an einer der Wände aufgestapelt waren, allesamt Dinge, die sie während ihrer gemeinsamen Monate hier gesammelt hatten.
Nur einen wesentlichen Teil der Höhle konnte man nicht sehen. Emerahl ging langsam weiter und spürte, wie die Magie, die die Welt um sie herum durchströmte, verebbte, bis nichts mehr übrig war, und sie lächelte zufrieden. Mithilfe der Magie, die sie in sich gesammelt hatte, ließ sie ihr Licht weiterbrennen und trat in die Mitte der Höhle, wo sie wieder von Magie umgeben war. Sie befand sich im Leeren Raum.
Seufzend setzte sie sich auf eins der Betten. Als sie im vergangenen Frühjahr hierher zurückgekehrt war, hatte sie sofort eine Veränderung wahrgenommen: Der Raum, in dem es keine Magie gab, war seit ihrem letzten Besuch ein Jahrhundert zuvor zusammengeschrumpft. Langsam drang die Magie der Welt wieder dorthin vor. Das ließ darauf schließen, dass der ursprüngliche Leere Raum noch größer gewesen sein musste, bevor sie ihn entdeckt hatte, und dass er irgendwann aufhören würde zu existieren.
Für den Augenblick würde er jedoch genügen. Sie war durch das wilde Land von Si gewandert, eine Reise, bei der sie häufiger klettern als gehen musste, um diesen Ort zu erreichen. Bei jedem zweiten Schritt hatte sie Mirar, der ihr Freund und ebenfalls ein Unsterblicher war, dafür verflucht, dass er sie überredet hatte, Auraya zu unterrichten. Bei jedem dritten Schritt hatte sie die Zwillinge verflucht, Unsterbliche, die noch älter waren als sie und Mirar und denen sie vor einigen Monaten zum ersten Mal begegnet war. Ihnen warf sie vor, dass sie sich Mirars Meinung angeschlossen hatten.
Wir müssen wissen, was Auraya ist, hatte ihr Tamun in der Nacht, nachdem Mirar seine Bitte vorgebracht hatte, in einer Traumvernetzung gesagt. Wenn sie eine Unsterbliche wird, könnte sie damit auch zu einer kostbaren Verbündeten für uns werden.
Und was ist, wenn sie es nicht schafft?
Dann muss sie trotzdem eine mächtige Zauberin sein, hatte Surim mit untypischem Ernst erwidert. Vergiss nicht, die Götter mögen unabhängige Zauberer ebenso wenig, wie sie uns Unsterbliche mögen. Wenn wir ihr nicht helfen, werden sie sie töten.
Ach ja? Nur weil sie die Weißen verlassen hat, heißt das nicht, dass sie sich gegen sie gestellt hat, hatte Emerahl bemerkt. Auraya ist nach wie vor eine Priesterin. Sie dient immer noch den Göttern.
Ihr Geist ist voller Zweifel, hatte Tamun gesagt. Der Befehl der Götter, Mirar ohne eine Verhandlung zu töten, hat Aurayas Wertschätzung für sie geschwächt.
Emerahl nickte. Das wusste sie selbst. Sobald Auraya den Ring der Götter abgestreift hatte, war ihr Geist nicht länger abgeschirmt gewesen. Mithilfe der Zwillinge hatte Emerahl gelernt, Gedanken abzuschöpfen, und gelegentlich hatte sie in Aurayas Geist geblickt.
Das Problem ist, dass Aurayas Ergebenheit gegenüber einigen Göttern zwar schwächer geworden sein mag, dass sie aber das Bedürfnis hat, sich mit einem von ihnen nach wie vor gutzustellen. Wenn sie herausfindet, wer ich bin, wird sie wissen, dass die Götter meinen Tod wollen. Und anders als bei Mirar verbindet sie mit mir keine frühere Freundschaft, die sie daran hindern würde, mich anzugreifen.
Dennoch glaubte Emerahl nicht, dass Auraya sie töten würde, es sei denn, die Götter gäben ihr den Befehl dazu. Sie hatte genug von Aurayas Geist gesehen, um zu wissen, dass die frühere Weiße das Töten nicht mochte. Wenn ihre Begegnung gut verlief, würden die Götter nicht einmal erfahren, dass Emerahl hier war. Sie sah sich abermals in der Höhle um. Die Götter waren Wesen aus Magie und konnten daher nur dort existieren, wo es Magie gab. Diese seltenen, unerklärlichen Leeren Räume konnten sie nicht betreten, ebenso wenig wie sie sehen konnten, was darin lag, es sei denn, sie betrachteten es durch die Augen von Menschen, die sich außerhalb dieser Räume befanden. Sobald Auraya hier war, würden die Götter ihre Gedanken nicht mehr lesen können.
Es bestand trotzdem eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Emerahl ganz umsonst durch den halben Kontinent gereist war. Sie konnte Auraya nicht dazu zwingen, etwas zu lernen. Außerdem würde sie sehr vorsichtig sein müssen mit dem, was sie der Frau erzählte. Wenn Auraya den Leeren Raum verließ, bevor sie lernte, ihre Gedanken zu verbergen, würden die Götter alles erfahren, was sie wusste.
Emerahl schüttelte den Kopf und seufzte erneut. Es ist ein so großes Risiko. Für die Zwillinge, die sicher verborgen in den Roten Höhlen im fernen Sennon sitzen, und für Mirar in Südithania ist das alles ja gut und schön. Sie braucht es nicht zu beunruhigen, ob Auraya vielleicht ihre Meinung ändern und zu dem Schluss kommen könnte, es sei annehmbar, Unsterbliche auch ohne triftigen Grund zu töten.
Aber die Hilfe der Zwillinge war von unschätzbarem Wert. Jeden Tag und jede Nacht drangen sie in den Geist von Menschen überall auf den Kontinenten ein, schöpften Gedanken ab und gewannen auf diese Weise Kenntnis von den Absichten und den Taten mächtiger Leute. Die beiden hatten diese Fähigkeiten über tausende von Jahren hinweg verfeinert. Sie kannten die Sterblichen so gut, dass sie deren Verhalten mit geradezu unheimlicher Genauigkeit voraussagen konnten.
Mirar hatte immer behauptet, die Wilden - oder die Unsterblichen, wie die Zwillinge sie nannten - besäßen jeder eine angeborene Gabe. Emerahls Gabe war ihre Fähigkeit, ihr Alter zu verändern, Mirars bestand in seiner unübertroffenen Fähigkeit zu heilen. Die Zwillinge verfügten über die Gabe des Gedankenabschöpfens. Die Möwe … sie war sich nicht sicher, worin seine Gabe bestand, aber sie war davon überzeugt, dass sie etwas mit dem Meer zu tun haben musste.
Und Aurayas Gabe, so behauptete Mirar, sei ihre Fähigkeit zu fliegen. Ein Anflug von Interesse beschwichtigte Emerahls Ärger darüber, sich an diesem Ort aufhalten zu müssen. Ich frage mich, ob sie es anderen beibringen kann. Mirar hat mich gelehrt zu heilen, obwohl ich nicht so gut darin bin wie er. Vielleicht werde ich auch nicht so gut fliegen können, wie Auraya es vermag … Genau genommen scheint mir das Fliegen keine Fähigkeit zu sein, bei der man Abstriche am eigenen Können machen darf. Jede Ungeschicklichkeit könnte tödlich sein.
Sie schnaubte. Aber einen Versuch wäre es wert. Irgendeinen Nutzen muss diese ganze Angelegenheit für mich haben. Ich könnte mich eher für die Idee erwärmen, dieses Mädchen zu unterrichten, wenn ich dafür entschädigt würde, dass ich meine Suche nach der Schriftrolle der Götter aufgeschoben habe.
Die Zwillinge hatten ihr erzählt, dass sie Gerüchte über ein Artefakt aufgeschnappt hätten, das den Krieg der Götter aus der Sicht einer lange verstorbenen Göttin beschrieb. Emerahl hatte beschlossen, es zu finden. Ein solcher Bericht enthielt vielleicht Informationen, die den Sterblichen von Nutzen sein könnten. Informationen, die ihnen möglicherweise halfen, der Aufmerksamkeit der Götter zu entgehen oder zu überleben, sollten sie scheitern. Es würde ihnen vielleicht sogar die Möglichkeit geben, gegen die Götter zu kämpfen.
Den Zwillingen zufolge suchten Gelehrte in Südithania schon seit Jahrzehnten nach der Schriftrolle. In letzter Zeit hatten sie zwar Fortschritte gemacht, aber sie besaßen noch immer nicht genug Informationen, um den Verbleib der Schriftrolle enträtseln zu können. Die Zwillinge hatten ihr versichert, dass diese Gelehrten sie nicht allzu bald finden würden. Sie hatte noch Zeit genug, um Auraya zu unterrichten.
Sie ging zu den Krügen und Töpfen hinüber und verschaffte sich einen Überblick über den Vorrat an Heilmitteln und eingelegtem Essen.
Aber zuerst muss ich Nahrung sammeln. Und dann muss ich eine Möglichkeit ersinnen, wie ich Auraya hierherlocken und sie überreden kann, für eine Weile zu bleiben, und das alles, ohne den Argwohn der Götter zu erregen.
Das Schiff stieg ein ums andere Mal auf einer Seite einer Welle empor, verweilte für einen Moment auf deren Kamm und schoss dann auf der anderen Seite hinab. Mirar umklammerte die Reling, halb angstvoll, halb jubilierend. Die Gischt durchnässte immer wieder seine Kleidung, aber er würde sich dennoch nicht unter Deck zurückziehen. Der Wind und das Wasser waren eine willkommene Erleichterung nach der Wärme in der kleinen Passagierkajüte.
Und der alte Mann braucht mich nicht in seiner Nähe, um ihn daran zu erinnern, dass er stirbt, sagte sich Mirar.
Er hatte Rikken in einem der kleinen Häfen entlang der avvenschen Küste behandelt. Zäh und drahtig, wie er war, hatte der alte Kaufmann angesichts von Mirars Einschätzung seines sich verschlechternden Zustands Angst bekommen. Es war nicht die Nachricht, dass er starb, die ihm zusetzte, sondern die Möglichkeit, dass er sein Leben vielleicht nicht in seinem Heimatland aushauchen würde.
Daher hatte er Mirar gebeten, ihn auf seiner letzten Reise heim nach Dekkar zu begleiten, erfüllt von der Hoffnung, dass ein Heiler es ihm ermöglichen würde, noch lebend zurückzukehren. Mirar hatte aus Rastlosigkeit und Neugier zugestimmt. In Avven war ihm keine Feindseligkeit gegenüber Traumwebern begegnet, aber die nimmer endende Eintönigkeit der Städte, die er durchreiste, hatte ihn zu langweilen begonnen. Die Häuser waren aus mit Schlamm überzogenem Stein erbaut wie jene in Sennon, boten jedoch keinerlei Abwechslung, was Farbe oder Stil betraf. Die Menschen trugen, Männer wie Frauen gleichermaßen, triste Kleidung und verbargen die Gesichter hinter Schleiern. Selbst ihre Musik war eintönig.
Ich suche keinen Ärger, sagte er sich und dachte an Emerahls Anschuldigung während ihrer letzten Traumvernetzung. Ich liebe es einfach, zu reisen und neue Dinge zu entdecken. Es ist lange her, seit ich das letzte Mal die Freiheit hatte, das zu tun. Ein Mitglied der Mannschaft eilte an Mirar vorbei und nickte ihm lächelnd zu, als ihre Blicke sich trafen. Und diese Südländer sind freundliche Menschen, fügte Mirar hinzu und erwiderte den Gruß des Mannes.
Dann blickte er wieder zur Küste hinüber. Am Tag zuvor war eine niedrige Felswand in Sicht gekommen, die inzwischen höher aufragte als die Klippen von Toren. Ihre Silhouette endete an einer Stelle abrupt, und er begann zu begreifen, warum das so war.
Die Zeit verstrich langsam, und einzig vom Kamm einer jeden Welle aus hatte man einen Blick auf die Küste. Mirar wartete geduldig. Dann, zwischen einer Welle und der nächsten, kam das Ende des Kliffs in Sicht.
Die hohe Felswand bog abrupt landeinwärts ab, und zu ihren Füßen lag flaches Waldland mit sanften Küsten. Die Veränderung war wahrhaft außerordentlich: von nacktem Felsen zu üppiger Vegetation. Die Felskette zog sich weiter nach Osten, schlängelte sich in die Ferne und schien dort ihre Umgebung noch höher zu überragen als an der Küste.
Es war ein bemerkenswerter Anblick, denn nun sah es so aus, als sei das Land im Westen wie eine große Platte angehoben und über das Land im Osten geschoben worden.
Ist das natürlich?, fragte sich Mirar. Oder hat irgendein Wesen - sei es ein Gott oder etwas von anderer Art - das Land vor langer Zeit anschwellen lassen?
»Traumweber?«
Mirar hielt nach dem Ursprung der Stimme Ausschau und entdeckte den Seemann in der Nähe. Er hielt ein Seil in einer Hand und deutete mit der anderen auf das bewaldete Land.
»Dekkar«, erklärte der Mann. Mirar nickte, und der Matrose machte sich mit der Schnelligkeit langer Übung wieder an die Arbeit.
Dies war also Rikkens Heimatland. Dekkar, das südlichste aller Länder, war berühmt für seinen Dschungel. Die Felskette stellte eine natürliche Barriere dar und bildete die Grenze zu Avven, dem Nachbarn im Norden. Als folge sie irgendeinem freundlichen Geist dieses Landes, hatte die See sich beruhigt. Die Mannschaft setzte weitere Segel, und ihr Tempo beschleunigte sich.
Während der nächsten Stunden lauschte Mirar dem Gespräch der Männer und versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu erraten. Eine unvertraute Sprache war eine Schwierigkeit, die er seit tausend Jahren nicht mehr hatte überwinden müssen. Die Dialekte Südithanias stammten von einem Sprachzweig ab, der weit älter war als Mirar, und deshalb enthielten sie nur wenige Worte, die auf offenkundige Weise verwandt mit dem auf dem Hauptkontinent gebräuchlichen waren. Bisher hatte er sich einen ausreichenden Grundwortschatz des Avvenschen angeeignet, um zurechtzukommen, und die Traumweber, denen er begegnet war, hatten ihm das meiste von dem beigebracht, was er für seine Arbeit als Heiler benötigte.
Seine eigenen Leute waren hier stärker vertreten als im Norden. Sie waren nicht mehr so zahlreich wie früher einmal, wurden aber von der Bevölkerung ebenso akzeptiert wie die Anhänger anderer »Kulte«. Trotzdem war er den wenigen pentadrianischen Götterdienern, die er gesehen hatte, aus dem Weg gegangen. Obwohl einheimische Traumweber ihm versicherten, dass die Götterdiener Heiden tolerierten, war er doch überdies auch ein Nordländer. Die kranken Pentadrianer, die erfahren hatten, woher er kam, hatten seine Hilfe entweder abgelehnt oder sie nur widerstrebend angenommen, wenn er in Begleitung einheimischer Traumweber gewesen war. Er erwartete nicht, dass die Priester und Priesterinnen ihrer Religion anders empfinden würden.
Die Felsenkette, die Avven nach Norden hin begrenzte, ragte über dem Wald des Landes auf wie eine riesige Welle, die Dekkar jeden Augenblick unter sich zu begraben drohte. Als sie weiter nach Süden segelten, wich sie langsam zurück und verwandelte sich in einen bläulichen Schatten, der sich wie ein zweiter Horizont durch das Blickfeld zog. Immer wieder erschienen nun auch Gebäude an der Küste. Erbaut auf hohen Pfählen, bestanden sie größtenteils aus Holz und waren durch erhöhte Gehwege miteinander verbunden, obwohl hier und da - zumeist in der Mitte einer Stadt - ein steinernes Gebilde herausragte. Auf diesen Bauwerken prangte deutlich sichtbar in Weiß auf schwarzem Hintergrund gemalt das Sternensymbol der Fünf Götter.
Die Sonne stand bereits tief am Horizont, als das Schiff endlich das Ufer ansteuerte. Der Kapitän lavierte es in eine Bucht, in der sich bereits viele andere Boote drängten und die von der größten Masse an Gebäuden umgeben war, die Mirar bisher gesehen hatte. Die breiten Plattformen, auf denen die Häuser gebaut waren, waren durch einfache Hängebrücken aus Seilen und Stegbrettern oder hell angestrichene Holzbrücken verbunden.
Als Mirar den Blick des redseligen Seemanns auffing, deutete er fragend auf die Stadt.
»Kave«, erklärte der Mann.
Dies war Dekkars Hauptstadt und Rikkens Heimat. Mirar ging auf den Frachtraum zu. Der alte Kaufmann wurde ebenso von seiner eigenen Entschlossenheit am Leben erhalten wie von Mirars Hilfe. Jetzt, da er zu Hause war, würde seine Entschlossenheit vielleicht zu schnell schwinden, um ihn noch ans Ufer zu bringen.
Daher hielt er überrascht inne, als Rikken auf wackeligen Beinen aus dem Frachtraum stieg. Yuri, sein Kammerdiener und ständiger Begleiter, stützte ihn an einem Arm. Mirar trat vor, um den anderen Arm zu ergreifen.
Der Blick des alten Mannes suchte die Stadt, und er stieß einen leisen Seufzer aus.
»Das Sanktuarium von Kave«, sagte er. Mirar erkannte das Wort »Sanktuarium«, konnte, was das nachfolgende Gemurmel betraf, jedoch nur raten. Yuri runzelte die Stirn, sagte aber nichts, während Rikken zur Reling hinüberging. Ein Seemann holte von irgendwoher einen Hocker herbei, und Rikken ließ sich darauf niedersinken, um zu warten.
Das Schiff fuhr langsam in die Bucht ein und ließ dort Anker fallen. Dann wurde Rikken vorsichtig in ein Boot hinuntergelassen. Mirar holte seine Tasche aus dem Frachtraum und gesellte sich zu dem alten Mann.
Nachdem das Boot mit Ruderern bemannt worden war, glitt es in flotter Fahrt auf die Stadt zu. Am Kai halfen Mirar und Yuri Rikken an Land. Mirar bemerkte, dass die Pfähle, auf denen die Häuser standen, aus ganzen Baumstämmen bestanden, die in ihrer Vielzahl den Eindruck eines kräftigen, blattlosen Waldes erweckten.
Yuri traf Vorkehrungen, um Rikken von zwei Matrosen eine Treppe hinauf zu der darüber gelegenen Plattform tragen zu lassen. Zwei andere hoben eine Sänfte an, die im Boot verstaut gewesen war. Sobald sie die miteinander verbundenen Plattformen der Stadt erreicht hatten, ließ Rikken sich in die Sänfte sinken, und die vier Seeleute griffen nach den Tragestangen. Mirar sah zu, wie sie sich in Richtung des Sanktuariums auf den Weg machten, und entbot dem alten Mann ein wortloses Lebewohl.
Als hätte er Mirars Gedanken gehört, drehte der alte Mann sich nach ihm um und runzelte die Stirn. Er krächzte etwas, und die Männer blieben stehen.
»Du kommst mit uns«, erklärte Yuri.
Mirar zögerte, dann nickte er. Ich werde ihn bis zum Sanktuarium begleiten, sagte er sich. Danach werde ich mich verabschieden und das Traumweberhaus des Ortes aufsuchen. Während die Seeleute Rikken unter den Augen der Bewohner Kaves von der Veranda eines Hauses zur nächsten trugen, schloss Mirar sich der kleinen Gruppe an. Ein Labyrinth von Veranden und Brücken folgte. Die Matrosen konnten die Sänfte nicht über die weniger stabilen Seilbrücken tragen, daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen größeren Umweg über die nicht so zahlreichen Holzbrücken zu nehmen. Mehr als eine Stunde verstrich, bis sie das Sanktuarium erreichten.
Es war eine gewaltige Stufenpyramide, die sich aus der schlammigen Erde erhob. Trotz seiner Klobigkeit wirkte das Gebäude auf eindringliche Weise ernst, so dass die Holzhäuser daneben klein und vergänglich erschienen. Vor dem Sanktuarium standen mehrere Götterdiener. Mirar trat näher an die Sänfte heran.
»Es war mir eine Ehre …«, begann er.
Rikken wandte sich zu Mirar um. Sein Gesicht war totenbleich und glänzte von Schweiß. Als Mirar klar wurde, dass der alte Mann kurz vor einem neuerlichen Anfall stand, erstarben ihm die Abschiedsworte in der Kehle. Yuri stöhnte leise auf und drängte die Seeleute zur Eile.
Als die Gruppe hastigen Schrittes auf den Eingang des Sanktuariums zustrebte, stieß Mirar einen Seufzer aus und folgte ihnen. Ich schätze, es wird Zeit herauszufinden, wie diese pentadrianischen Götterdiener auf einen Traumweber aus dem Norden reagieren.
Die Götterdiener kamen herbei, um den Kaufmann ins Sanktuarium zu geleiten. Sobald sie in dem kühlen Innenraum angelangt waren, wurde die Sänfte zu Boden gelassen. Der alte Mann umklammerte jetzt seine Brust. Yuri sah Mirar erwartungsvoll an.
Mirar ging neben Rikken in die Hocke und griff nach seiner Hand. Nachdem er seinen Geist ausgesandt hatte, spürte er, dass das Herz des Mannes zu versagen drohte. Normalerweise hätte er ihn sterben lassen; seine einzige Krankheit war das hohe Alter. Aber man hatte ihn gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass der Mann seine Heimat erreichte, und Mirar war sich im Klaren darüber, dass viele schwarzgewandete Männer und Frauen ihn beobachteten.
Er zog Magie in sich hinein und benutzte sie, um das Herz ein wenig zu stärken. Rikkens Gesicht bekam wieder Farbe, und der gequälte Ausdruck wich aus seinen Zügen. Er holte einige Male tief Luft, dann nickte er Mirar zu.
»Danke.«
Als Mirar aufblickte, sah er sich einem Ring von Götterdienern gegenüber, die ihn und Rikken neugierig beobachteten. Dann trat ein älterer Götterdiener zwischen den anderen hervor und lächelte den Kaufmann an. Er sprach sehr schnell und auf Dekkarisch, und Rikken murmelte eine mürrische Antwort. Der Götterdiener lachte, dann begann er, die anderen Götterdiener herumzukommandieren.
Er hat hier offensichtlich das Sagen, überlegte Mirar.
Ein Stuhl wurde gebracht, und jemand half Rikken, darauf Platz zu nehmen. Aus dem freundlichen Gebaren des alten Götterdieners dem Kaufmann gegenüber entnahm Mirar, dass die beiden einander gut kannten. Er trat zurück und sah sich in dem Raum um.
Während er das tat, stieg unwillkürlich ein Staunen der Anerkennung in ihm auf. Die Wände waren bedeckt mit Bildern, die aus winzigen Bruchstücken glasierten Tons gefertigt und so kunstvoll arrangiert waren, dass sie größeren Detailreichtum zu zeigen schienen, als sie tatsächlich enthielten. Der Raum hatte fünf Wände, und auf jeder davon war einer der pentadrianischen Götter abgebildet.
Sheyr, Hrun, Alor, Ranah und Sraal. Mirar hatte die Namen von den Traumwebern gelernt, denen er begegnet war. Anders als die zirklischen Götter zogen diese es vor, unter sich zu bleiben, und erschienen nur zu wirklich bedeutenden Anlässen. Sie ließen ihre Anhänger ihre Belange selbst regeln, solange sie sich nicht allzu weit von den zentralen Lehren ihrer Religion entfernten.
Was die Frage aufwirft, warum die Pentadrianer Nordithania überfallen haben. Haben sie diese Entscheidung selbst getroffen, oder ist das Führen von Kriegen eine dieser zentralen Lehren? Sie bilden ihre Priester tatsächlich in der Kriegskunst aus, daher ist Letzteres nicht auszuschließen.
Er runzelte die Stirn. Wenn das wahr ist, dann bedeutet das nichts Gutes für die Zukunft Nordithanias.
»Traumweber«, rief Yuri.
Mirar blickte auf und stellte fest, dass der alte Götterdiener ihn ansah. Der Mann begann zu sprechen, aber Yuri unterbrach ihn entschuldigend. Der Götterdiener lauschte, dann zog er die Augenbrauen hoch und schaute wieder zu Mirar hinüber.
»Du aus Nordithania?«, fragte er auf Hanianisch.
Als er den Mann in der nördlichen Sprache sprechen hörte, blinzelte Mirar überrascht, dann nickte er. »Ja.«
»Wie lange du in Südithania gewesen?«
»Einige Monate.«
»Dir gefallen?«
Mirar lächelte. Wie konnte irgendein Besucher in einem fremden Land diese Frage anders als mit einem Ja beantworten?
»Ja. Dein Volk ist freundlich und gastlich.«
Der Priester nickte. »Traumweber im Norden nicht willkommen, höre ich. Jetzt noch schlimmer als früher.« Er sah Rikken an und lächelte. »Hier sind wir nicht solche Narren.«
»Das ist wahr«, pflichtete Mirar ihm bei. Noch schlimmer? Vielleicht sollte ich mich heute Nacht mit der Traumweberältesten Arleej in Verbindung setzen und fragen, ob das wahr ist - und warum.
»Du machen gute Arbeit bei diesem Mann. Danke.«
Mirar neigte den Kopf. Als der Priester sich wieder zu Rikken umwandte, wurde seine Miene ernst. Er sprach in der Mundart der Einheimischen, dann zeichnete er die Gestalt eines Sterns in die Luft. Rikken senkte wie ein getadeltes Kind den Kopf und nickte fügsam.
Mirar holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Der Götterdiener war freundlich, sogar respektvoll gewesen, obwohl er wusste, dass Mirar aus dem Norden kam. Vielleicht war seine Zugehörigkeit zu den Traumwebern Ausgleich genug für die Tatsache, dass er ein Fremder aus einem verfeindeten Land war. Vielleicht waren die Götterdiener in diesen Belangen vernünftiger als gewöhnliche Pentadrianer.
Höchstwahrscheinlich gibt es genauso viele Götterdiener, die mir mit Argwohn begegnen werden, wie es gewöhnliche Pentadrianer tun. Ich kann mich glücklich schätzen, einem Götterdiener begegnet zu sein, der anders denkt. Er lächelte grimmig. Und je länger ich in Südithania bleibe, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich auch einem Götterdiener begegnen werde, der das nicht tut.
Auf den höchsten Gipfeln von Si lag noch immer Schnee, aber überall sonst war die Wirkung des warmen Wetters deutlich zu sehen. Der Wald war ein üppiges Meer neuer Triebe und Blumen. In engen Tälern und auf den natürlichen Stufen der Berghänge grünte und gedieh das Getreide.
Die letzten Tage waren die heißesten gewesen, die Auraya je hatte ertragen müssen. In der Vergangenheit hatte sie Si während der kühleren Monate des Jahres besucht. Si kannte sowohl wärmere als auch kühlere Jahreszeiten, als sie sie bisher erlebt hatte - kältere, weil es überwiegend gebirgiges Land war, wärmere, weil es weiter südlich lag als Hania, auf demselben Breitengrad wie das Wüstenland Sennon.
Das Fliegen konnte ein wenig Erleichterung bringen. Die Luft hoch oben war immer kühl. Aber heute flog sie tief. Die Siyee, die sie begleiteten, konnten nicht lange im kalten Wind fliegen. Die Kälte kostete sie viel Kraft.
Sie betrachtete den Mann, der neben ihr flog. Obwohl erwachsen, brachte er es nur auf die Hälfte ihrer Größe. Seine Brust war breit, und seine Beine waren muskulös. Die Knochen seiner letzten drei Finger bildeten einen Teil des Rahmens seiner Flügelmembran, die sich von dort bis zu den beiden Körperseiten erstreckte. Auraya war nun schon so lange bei den Siyee, dass sie sich die Unterschiede zwischen ihnen und ihr selbst immer wieder bewusst vor Augen führen musste. Wenn sie das tat, erstaunte es sie jedes Mal, dass sie ihr, einer »Landgeherin«, ein dauerhaftes Zuhause in ihrem Land angeboten hatten.
Nicht dass sie ihnen keine Gegenleistung geboten hätte. Die magischen Gaben, die sie sich auch nach ihrem Rücktritt von den Weißen bewahrt hatte, kamen den Siyee immer wieder zunutze, insbesondere ihre Fähigkeit, zu fliegen und zu heilen. Sie kehrte gerade von einer Mission in ein anderes Siyee-Dorf zurück, wo sie ein verletztes Mädchen geheilt hatte. Und wären ihre Gaben nicht gewesen, wären viele Hunderte mehr an der Seuche gestorben.
Vor ihr war jetzt die helle Fläche nackten Felsens zu sehen, auf der sich das Offene Dorf - das Hauptdorf der Siyee - befand. Bei diesem Anblick stieg Freude in Auraya auf. Sie konnte am Rand der Felsfläche die Häuser der Siyee erkennen - Lauben aus Membranen, die sich über elastische Holzrahmen spannten, die ihrerseits am Stamm eines gewaltigen Baumes befestigt waren. Außerdem konnte sie auf dem höchsten Felsvorsprung zwei vertraute Gestalten sehen, die nach ihr und ihren Gefährten Ausschau hielten: Sprecherin Sirri, die Anführerin der Siyee, und Sreil, ihren Sohn.
Auraya ließ sich hinabgleiten und landete einige Schritte entfernt, dicht gefolgt von ihren Reisegefährten. Sirri lächelte.
»Du kommst früh zurück«, sagte sie. »Wie ist es gelaufen?«
»Ich konnte ihren Arm heilen«, erwiderte Auraya.
»Es war unglaublich!«, rief der jüngste von Aurayas Begleitern. »Das Mädchen konnte gleich anschließend wieder fliegen!«
Auraya verzog das Gesicht. »Wovon ich ihr dringend abgeraten hatte. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Verwegenheit dieses Mädchens in der Zukunft zu etwas Schlimmerem als einem gebrochenen Arm führen würde.«
»Ihre Mutter ist eine Trinkerin.«
Auraya blickte erstaunt zu dem Mann hinüber, der gesprochen hatte. Der Sprecher des Stammes, dem das Mädchen angehörte, hatte bisher die meiste Zeit geschwiegen. Jetzt sah er ihr in die Augen und zuckte die Achseln. »Wir versuchen, das Mädchen ein wenig Disziplin zu lehren, aber es ist nicht leicht, wenn die Mutter ihr alles durchgehen lässt.«
Auraya dachte an die hysterische Frau zurück, die dem Kind nicht von der Seite gewichen war. »Vielleicht wird sich das jetzt ändern.«
»Das bezweifle ich«, murmelte der Mann. Dann zuckte er erneut die Achseln. »Mag sein. Ich sollte nicht - was ist das?«
Sie folgte seinem Blick und lächelte, als sie ein kleines Geschöpf auf sich zuspringen sah. Es hatte die spitzen Ohren flach an den Kopf gelegt, und sein buschiger Schwanz flatterte hinter ihm her wie ein Banner. »Das ist ein Veez. Sein Name ist Unfug.«
Sie bückte sich und ließ den Veez ihren Arm hinaufhuschen. Unfug beschnupperte sie, dann rollte er sich um ihre Schultern zusammen.
»Owaya zurück«, sagte er zufrieden.
Der Stammesführer starrte den Veez erstaunt an. »Es hat deinen Namen gesagt. Es kann sprechen?«
»Das kann er, obwohl du keine aufregende Konversation erwarten darfst. Seine Interessen haben im Allgemeinen mit Essen oder Körperpflege zu tun.« Sie kraulte Unfug hinter den Ohren, und er bewies die Wahrheit ihrer Worte, indem er flüsterte: »Kraulen schön.«
Sirri kicherte. »Ich fürchte, das wirst du bald wieder seinem Aufpasser überlassen müssen. Heute Morgen ist ein Bote vom Nordwaldstamm gekommen. Er berichtet, dass er vor einigen Tagen einer kranken Landgeherin begegnet ist. Sie hat darum gebeten, dass du sie behandelst.«
Auraya blinzelte überrascht. »Eine Landgeherin?«
»Ja.« Sirri lächelte grimmig. »Ich habe den Mann gefragt, ob er den Verdacht habe, es könne sich um eine Pentadrianerin handeln. Er ist sich sicher, dass sie es nicht ist. Tatsächlich sagt er, sie habe Si schon früher besucht, um sich in Sicherheit zu bringen, als der Krieg begann. Möchtest du ihn selbst befragen?«
»Ja.«
Die Sprecherin sah Sreil an. »Könntest du ihn herholen? Danke. In der Zwischenzeit …« Sie wandte sich wieder den Siyee zu, die Auraya ins Offene Dorf begleitet hatten. »Ihr seid mir alle in meiner Laube willkommen, um mit mir zu essen.«
Während sie auf Sirris Heim zugingen, dachte Auraya über die Möglichkeit nach, dass diese Landgeherin eine pentadrianische Zauberin sein könnte, die sich nicht zu erkennen gab. Es war wahrscheinlich, dass sich die Neuigkeit von ihrem Rücktritt bis nach Südithania herumgesprochen hatte und dass einer der dortigen fünf Zauberer hergekommen war, um Rache für den Tod ihres früheren Anführers Kuar zu nehmen, den Auraya im Krieg getötet hatte.
Nach ihrem Rücktritt von den Weißen hatte sie sich ihre Fähigkeit, zu fliegen und zu heilen, bewahrt, aber sie hatte bisher keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, ob sie noch immer über die Gaben des Kampfes verfügte, die die Götter ihr verliehen hatten, um Nordithania zu verteidigen. Ich habe keine Ahnung, wie stark meine Gaben jetzt sind, aber bisher macht es nicht den Eindruck, als seien sie deutlich verringert worden. Genaueres werde ich wohl herausfinden, falls diese Frau sich als eine pentadrianische Meuchelmörderin erweist.
Sie konnte nur vermuten, dass sie nicht länger unsterblich war. Es würde Jahre dauern, bevor die ersten Anzeichen des Alters bestätigten, dass sie diese Gabe verloren hatte. War es das wert gewesen? Sie schaute sich im Offenen Dorf um und nickte. Durch ihre Fähigkeit, schnell von einem Dorf zum nächsten fliegen zu können, gepaart mit der Gabe der Heilung, die Mirar sie gelehrt hatte, hatte sie, während die Herzzehre überall im Land grassierte, den Tod vieler hundert Siyee verhindern können. Sie hatte jedoch nicht alle retten können. Sie war nicht in der Lage, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und auf dem Höhepunkt der Seuche hatte es zu viele kranke Siyee gegeben, als dass sie alle hätte erreichen können.
Obwohl der offizielle Grund für ihren Rücktritt von den Weißen - die Seuche in Si - nicht mehr existierte, stellte sie fest, dass sie ihre frühere Position nicht vermisste. Sie war damit zufrieden, den Rest ihres Lebens darauf zu verwenden, den Siyee zu helfen. Juran hatte ihr gestattet, Priesterin zu bleiben, und er hatte ihr sogar einen Priesterinnenzirk geschickt. Einer der zwei Priester, die sich zu den beiden gesellt hatten, die bereits im Offenen Dorf gewesen waren, hatte diese Dinge mitgebracht.
Juran war der einzige Weiße, der sich noch immer per Gedankenrede mit ihr in Verbindung setzte. Von den anderen hatte sie nichts mehr gehört. Auch die Götter besuchten sie nicht länger, obwohl sie gelegentlich in der Magie um sich herum etwas wahrnahm, das auf Chaias Anwesenheit schließen ließ.
Ich frage mich, ob er mich beobachtet. Er muss wissen, ob diese Landgeherin eine Pentadrianerin ist oder nicht. Ich wüsste gern, ob er mich warnen würde, wenn sie tatsächlich eine ist.
Sie vermisste seine Besuche. Manchmal sehnte sie sich nachts nach seiner Berührung und nach der unbeschreiblichen, wunderbaren Wonne, die er ihr geschenkt hatte, als sie Liebende gewesen waren. Aber das war nur Erregung gewesen, nicht Zuneigung. Was sie am meisten vermisste, war jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte.
Selbst wenn dieser Jemand die Quelle meiner Sorgen ist, ging es ihr durch den Kopf.
Am Waldrand angekommen, führte Sirri sie zu ihrer Laube. Sie war ein wenig größer als die anderen und ermöglichte es ihr, dort Versammlungen abzuhalten. Nachdem sie eingetreten waren, setzten sie sich und begannen, das Brot, die Früchte und die Nüsse zu essen, die Sirri vor ihnen auf den Tisch stellte. Nach einigen Minuten kam Sreil mit dem Boten zurück, einem jungen Mann, den er als Tyve vorstellte und der Auraya vertraut erschien.
»Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr?«, fragte Auraya.
Der Siyee nickte. »Ja. Ich habe Traumweber Wilar geholfen, als du letztes Jahr in mein Dorf gekommen bist.«
Wilar. Bei dem Namen überlief Auraya ein Schauer, und ein Gesicht blitzte in ihrer Erinnerung auf. Wilar war der Name, den Mirar bei den Siyee benutzt hatte.
Wilar. Mirar. Leiard. Ich frage mich, ob er noch andere Namen benutzt.
Sie war entsetzt gewesen zu entdecken, dass der Mann, der sie als Kind mit Magie und Heilmitteln vertraut gemacht hatte, der Mann, den sie als erwachsene Frau geliebt und dem sie vertraut hatte, in Wirklichkeit der berühmte Mirar war, der unsterbliche Begründer der Traumweber. Der Verrat hatte sie zuerst wütend gemacht, aber sie hatte an ihrem Zorn nicht länger festhalten können, sobald er ihr seinen Geist geöffnet hatte, um ihr die Wahrheit über seine Vergangenheit zu zeigen.
Es war unmöglich, sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein musste, zerquetscht unter einem Gebäude wieder zu sich zu kommen, um später ohne Erinnerung weiterleben zu müssen, während sein verkrüppelter Körper über viele, viele Jahre hinweg langsam heilte. Er hatte die Persönlichkeit, die Leiard war, erfunden und seine eigene unterdrückt, um seine wahre Identität vor den Göttern zu verbergen.
Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat, dachte sie. Ich kann nicht umhin, ihn dafür zu bewundern.
Als sie ihm im Dorf des Nordflussstamms begegnet war, hatte Mirars wahres Ich die Kontrolle zurückerlangt, indem er es mit der Persönlichkeit Leiards vermischte.
Ich hatte gerade angefangen, ihn wieder zu mögen, als die Götter mir den Befehl gaben, ihn zu töten.
»Erinnerst du dich?«, fragte Tyve zaghaft.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Siyee. »Ja. Das tue ich. Sirri sagt, du seist dieser Landgeherin schon einmal begegnet?«
Er nickte. »Ja, am selben Ort, an dem wir zum ersten Mal auf Wilar gestoßen sind. Ich glaube, die beiden kennen einander.«
Aurayas Herz setzte einen Schlag aus. Konnte dies die Freundin sein, die sie kurz in Mirars Geist gesehen hatte, als er ihr seine Gedanken öffnete?
»Wie sieht sie aus?«
»Groß, Haare von der Farbe von Blutsaft, aber heller. Bleiche Haut. Grüne Augen.«
Auraya nickte. Die Frau in Mirars Erinnerung hatte rotes Haar gehabt. »Hat sie dir ihren Namen genannt?«
»Ja. Jade Tänzerin.«
»Und woran leidet sie?«
»Sie weiß es nicht. Irgendetwas in ihrem Bauch.«
Wenn die Frau Mirars Freundin war, warum war sie dann nach Si gekommen? Suchte sie nach Mirar? Hatte sie die weite Reise unternommen, weil sie seine Hilfe brauchte, nur um erfahren zu müssen, dass er fort war? Auraya runzelte die Stirn. Ist die Krankheit real oder ein Betrug, um mich zu ihr zu führen? Warum sollte sie sich mit mir treffen wollen?
Wenn die Frau Mirars Freundin war, würden die Götter sie wahrscheinlich nicht billigen. Ob der eine oder andere von ihnen jetzt zuhört? Sie erspürte die Magie um sich herum, konnte aber keinen Hinweis auf die Anwesenheit der Götter entdecken. Ich hoffe nur, die Götter werden nicht noch einmal von mir verlangen, jemanden zu töten. Das ist das Letzte, was ich will. Je eher ich diese Frau treffe und sie ihres Weges schicke, desto besser.
»Wirst du ihr helfen?«, fragte Tyve. »Sie ist nett«, fügte er hinzu.
Auraya nickte. »Ja, ich werde ihr helfen.« Selbst wenn sie nicht krank ist, möchte ich wissen, warum sie nach Si gekommen ist. Und vielleicht hat sie ja auch Nachrichten von Mirar.
Im Treppenhaus hallten das leise Scharren und das Klirren von Ketten wider, als der Käfig, in dem Danjin stand, sich aufwärtsbewegte. Er sah zu, wie die vielen Stockwerke des Weißen Turms an ihm vorüberglitten. Manchmal fühlte es sich so an, als stünde der Käfig still, während sich der Turm um ihn herum auf und ab bewegte. Bei solchen Gelegenheiten fragte er sich, ob Auraya den gleichen Eindruck hatte, wenn sie »flog«.
Der Käfig verlangsamte sich und hielt vor einer breiten Stufe in dem dahinterliegenden Treppenhaus an. Die Tür schwang auf, zweifellos geleitet durch die Magie der Frau, die neben ihm stand.
Er sah Dyara von den Weißen an, die zweitälteste und stärkste der zirklischen Anführer. Dyara trat vor und geleitete ihn aus dem Käfig und die Treppe hinauf zu einer hölzernen Tür.
Als sie anklopfte, durchzuckte Danjin ein Stich der Furcht. Dieses Quartier hatte Auraya gehört. Als er ihr Ratgeber gewesen war, hatte er es viele Male aufgesucht. Jetzt gehörte es der Frau, die an ihre Stelle gerückt war, Ellareen von den Weißen.
Seine Tätigkeit als Ratgeber Aurayas war eine große Herausforderung gewesen, aber auch eine, die ihm erleichtert worden war, weil er Auraya gemocht und respektiert hatte. War es zu viel verlangt zu hoffen, dass es ihm mit der neuesten Weißen genauso ergehen würde? Während er sich fragte, ob er sie mögen würde, beschäftigte ihn gleichzeitig die Frage, ob sie ihn mögen würde. Es wird die Sache nicht besser machen, wenn ich sie ständig mit Auraya vergleiche, sagte er sich. Er wusste, dass er das manchmal nicht würde vermeiden können, ebenso wenig wie Ellareen es würde vermeiden können, solche Erwägungen in seinen Gedanken zu lesen …
Die Tür wurde geöffnet. Eine hochgewachsene, schlanke Frau stand vor ihnen. Ihr Haar war kunstvoll frisiert, und sie trug eine weiße Tunika und einen Zirk von feinster Qualität. Sie wirkte elegant und gelassen, aber sie war nicht schön, wie ihm auffiel, wenngleich auch nicht unattraktiv. Sie schien älter zu sein als Auraya, obwohl nur einige Jahre zwischen den beiden Frauen liegen konnten.
»Ellareen«, sagte Dyara. »Das ist Danjin Speer.«
»Kommt herein«, erwiderte die neue Weiße und trat zurück.
Er beobachtete sie, während sie sie zu Stühlen geleitete und ihnen dann jedem ein Glas Wasser brachte. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass sie ursprünglich aus Somrey stammte. Ihr Vater hatte in Diensten eines wohlhabenden Händlers gestanden, und ihre Familie war nach Jarime gezogen, als man ihn mit der Leitung des hanianischen Geschäftszweigs betraut hatte. Ella war der Priesterschaft mit zwölf Jahren beigetreten und schließlich Heilerin geworden. Seit der Eröffnung des Hospitals hatte sie dort gearbeitet. Und kurz vor der Erwählungszeremonie musste in ebendiesem Hospital etwas geschehen sein, das die Weißen genug beeindruckt hatte, um sie zur Hohepriesterin zu machen.
Und sie musste auch die Götter beeindruckt haben, denn jetzt war sie eine Weiße.
Trotz der Ungeheuerlichkeit der Pflichten, die man ihr plötzlich übertragen hatte, verströmte sie eine ruhige Selbstsicherheit. Das überraschte Danjin. Auraya war, als er sie kennengelernt hatte, ein wenig überwältigt gewesen von ihrer Auserwählung.
Dyara begann, Danjins Fähigkeiten zu rühmen, und er tat so, als bestreite er alles - geradeso wie er es getan hatte, als sie ihn mit Auraya bekannt gemacht hatte. Ellareens Mundwinkel zuckten, dann hob sie die Hand, um das Gespräch zu unterbrechen.
»Ich weiß, dass Danjin Speer der beste Mann für diese Aufgabe ist«, sagte sie und lächelte Dyara an. Dann blickte sie zu ihm hinüber. »Schließlich ist er der Einzige, der von sich sagen kann, dass er bereits Erfahrung bei der Zusammenarbeit mit einer neuen Weißen hat.«
Dyara rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück zur Seite, vielleicht ein wenig verärgert über die Unterbrechung. »Das ist eindeutig ein Vorteil.«
»Allerdings.« Ellareen musterte ihn eingehend. »Was war es für ein Gefühl, mit Auraya zusammenzuarbeiten?«
Er stutzte, erstaunt über die offene Frage. Natürlich war sie neugierig, was ihre Vorgängerin betraf, aber er hatte erwartet, dass die neue Weiße das Thema umgehen würde. Er war sich nicht sicher, warum. Vielleicht nur wegen der Gerüchte, die sich um Aurayas Rücktritt rankten.
»Es war harte Arbeit, aber angenehm«, erwiderte er.
»Du mochtest sie«, stellte sie fest.
Er lächelte. »Ja.«
Sie zog die Augenbrauen hoch, um ihn zu ermutigen, weiterzusprechen.
»Sie besitzt die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, obwohl ich denke, dass das ihre Arbeit im gleichen Maße erschwert hat, wie es sie erleichtert hat.«
Ellareen nickte. »Natürlich. Für einen Heiler kann Mitgefühl gleichzeitig eine Schwäche und eine Stärke sein.«
Er lächelte, weil diese Worte ihn daran erinnerten, dass Ellareen zuvor eine Heilerpriesterin gewesen war. Vielleicht hatte diese Arbeit sie gelehrt, in jedweder Situation gelassen zu bleiben. »Was glaubst du, worin deine eigenen Stärken und Schwächen liegen, Ellareen von den Weißen?«
»Nenn mich einfach Ella«, sagte sie, dann schürzte sie die Lippen, während sie über seine Frage nachdachte. »Ich weiß nicht … Mein Glaube an die Götter vielleicht. Wenn es keine offenkundige Antwort gibt, tue ich, was die Götter mir sagen.«
Das klingt wie ein persönliches Mantra. Interessant. »Eine kluge Strategie.«
Sie sah Dyara an, die schwach lächelte, dann wandte sie sich wieder Danjin zu. »Obwohl mir die Götter bis vor kurzem niemals eine Anweisung erteilt haben«, fuhr sie fort, »habe ich ihnen immer eine Gelegenheit dazu gegeben - bevor ich meine Suppe selbst ausgelöffelt habe.«
Er kicherte. »Das haben sie bestimmt zu schätzen gewusst. Nicht dass ich damit andeuten wollte, dass du dir jetzt weitere Suppen einbrocken wirst.« Er blickte zu Dyara hinüber. »Du hast viele erfahrene Helfer, die dir zur Seite stehen.«
»Ja. Dich eingeschlossen. Dyara sagt, du hättest Spione in ganz Ithania.«
»Spione?« Danjin lachte. »Man kann sie wohl kaum als Spione bezeichnen; es sind einfach Leute, die ich an Königshöfen kenne, und alte Geschäftsfreunde.«
»Erzähl mir von ihnen.«
Danjin nahm noch einen Schluck Wasser, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und unterhielt sie mit Geschichten von Menschen, die er kannte, sowohl in hohen als auch in niederen Positionen. Er berichtete ihr, auf welche Weise sie ihm in der Vergangenheit geholfen hatten, und erklärte, dass sie es auch wieder tun würden. Die komischeren seiner Anekdoten schienen sie wirklich zu erheitern. Das war ein gutes Zeichen. Ihr Sinn für Humor war ein guter Ausgleich für die beinahe beunruhigende Zuversicht, die sie verströmte.
Sie wird eine gute Weiße abgeben, befand er. Hoffen wir, dass sie sich ein wenig länger halten wird als Auraya.
Als Auraya zum Nordflussstamm geflogen war, hatte sie gelegentlich hier und da einen Blick auf den Wasserfall in der Ferne werfen können. Als der junge Siyee, der sie führte, jetzt hinabglitt, sah sie, dass es mehrere Wasserfälle waren, von denen jeder über eine Terrasse im Land in einen Teich stürzte, von dem ein seichter Fluss zum nächsten Wasserfall hinüberströmte.
Tyve ließ sich weiter nach unten sinken, um neben einem der Wasserfälle zu landen, und Auraya setzte neben ihm auf. Das Zischen des herabfallenden Wassers erfüllte die Luft, und Auraya blickte sich um. Es war ein hübscher Ort, aber sie konnte keine Spur von der Landgeherin entdecken.
Tyve deutete auf den Wasserfall. »Sie lebt dort drin, hinter dem Wasser. Man gelangt von der Seite aus hinein.«
Auraya nickte. »Danke, Tyve. Du solltest jetzt besser nach Hause fliegen. Falls ich irgendetwas benötigen sollte, werde ich in dein Dorf kommen.«
Er nickte, nahm Anlauf auf den kahlen Felsen am Flussufer und sprang in die Luft. Während Auraya ihm nachsah, fiel ihr etwas ein, das sie über den Jungen gehört hatte.
Er wollte Traumweber werden. Sie hatte es in seinen Gedanken gelesen, als sie Mirar geholfen hatte, die Kranken in seinem Dorf zu behandeln. Mirar hatte nicht gesagt, dass er den Jungen unterrichten wolle, aber er hatte es auch nicht abgelehnt.
Seine Träume müssen zunichtegemacht geworden sein, als Mirar aus Si floh. Aber es ist besser so. Wenn er sich von den Göttern abgewandt hätte, um Traumweber zu werden, wäre seine Seele bei seinem Tod verloren gewesen.
Die Vorstellung, dass Siyee Traumweber werden könnten, beunruhigte sie. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ein Siyee auf dem Weg gewesen war, Traumweber zu werden, während Auraya in Jarime das Hospital aufgebaut hatte - das am Ende die Zahl der Traumweber vielleicht verringern würde, weil es mögliche Schüler zur Priesterschaft führte.
Es war beinahe eine Erleichterung, nicht länger die Verantwortung für das Hospital zu tragen. Juran hatte von guten Fortschritten berichtet. Es war schön zu wissen, dass die Einrichtung nach wie vor den Menschen in der Stadt zugutekam, während sie gleichzeitig die Kenntnisse der Zirkler in der Heilkunst vertiefte. Aber sie hatte sich nie wohlgefühlt mit dem Wissen, dass sie auf diese Weise zwar die Seelen jener rettete, die sich sonst vielleicht den Traumwebern angeschlossen hätten, dass sie damit aber gleichzeitig auf den Niedergang der Traumweber hinarbeitete.
Jetzt waren die Siyee ihre einzige Sorge. Sie verbannte das Krankenhaus aus ihren Gedanken und ging auf den Wasserfall zu.
Sein Wasser stürzte von einem Felsüberhang hinab, und Auraya stellte fest, dass sie hinter dem Wasser in eine Höhle gelangen konnte. Während das Wasser genug Licht durchließ, um den vorderen Teil der Höhle zu erhellen, lag der hintere Teil in Dunkelheit. Sie zog Magie in sich hinein, schuf ein Licht, das einen Tunnel enthüllte, und setzte ihren Weg dann fort. Vor ihr erschien ein weiteres Licht, das sie um eine Ecke herum in eine größere Höhle führte. An einer Wand standen Töpfe und Krüge, und in der Mitte des Raums waren einige primitive Möbel angeordnet.
Eine Frau saß mit dem Rücken zu Auraya auf einem von zwei einfachen Betten. Ihre Kleidung war schlicht, aber das Haar, das sich über ihre Schultern ergoss, war von einem kräftigen Rot. Sie bewegte die Arme, doch Auraya konnte nicht sehen, was sie tat.
»Bist du Jade Tänzerin?«, fragte Auraya in der Sprache der Siyee. Da die Frau einen Boten zu Auraya geschickt hatte, musste sie in der Lage sein, sich mit dem Himmelsvolk zu verständigen.
Die Frau blickte von ihrer Arbeit auf, wandte sich jedoch nicht um. »Ja. Komm herein. Ich mache gerade heiße Maita. Wir haben viel zu besprechen.«
»Ach ja?« Auraya trat vor.
Die Frau kicherte. »Ja.«
Etwas an diesem Ort machte Auraya unruhig. Sie fühlte sich verletzbar, obwohl sie keine Bedrohung in der Höhle erkennen konnte. Nach einigen Schritten blieb sie stehen, zog Magie in sich hinein und schuf eine Barriere um sich herum.
Die Frau drehte sich um und sah Auraya neugierig an. »Warum so argwöhnisch? Ich will dir nichts Böses.«
Auraya erwiderte ihren Blick und hielt Ausschau nach irgendwelchen Hinweisen in den Zügen der Frau. Sie hatte ein schönes Gesicht, aber die Linien um Mund und Augen ließen vermuten, dass sie sich bereits gut in der Mitte ihres Lebens befand. Es waren Linien, die von Lachen rührten, aber auch von Trauer oder Bitterkeit.
»Warum überzeugt mich das nicht?«
Jade kniff die Augen zusammen und musterte Auraya nachdenklich. Dann winkte sie sie heran. »Komm ein paar Schritte näher.«
Auraya zögerte kurz, dann gehorchte sie. Als sie das tat, brach ihre Barriere zusammen. Sie griff nach weiterer Magie, konnte aber keine finden.
Als ihr klar wurde, was ihre Sinne ihr die ganze Zeit über gesagt hatten, stieg eine Welle der Furcht in ihr auf. Es gab keine Magie um sie herum. Sie war ebenso verletzbar wie jeder Sterbliche, der über keinerlei Gaben verfügte. Sie wich zurück und fand sich wieder umgeben von Magie.
»Was du spürst, ist ein Leerer Raum. Er ist nur einige Schritte tief. Siehst du?« Die Frau machte eine achtlose Handbewegung, und ein Lichtfunke erschien vor ihr. »Du kannst zuerst ein wenig Magie sammeln, um dich zu schützen, wenn du ihn betrittst.«
Auraya betrachtete die Frau. Wenn sie den Augenblick meiner Verletzbarkeit hätte ausnutzen wollen, hätte sie es getan. Sie zog Magie in sich hinein, schuf eine weitere Barriere und speiste sie mit Magie, während sie durch die Höhle ging. Jetzt, da ihre Aufmerksamkeit auf den Leeren Raum gelenkt worden war, war er leicht wahrzunehmen. Trotzdem würde sie sich nicht wohlfühlen, bis sie diesen Teil der Höhle wieder verlassen hatte.
Jade sah sie mit einem wissenden Lächeln an und deutete auf das andere Bett.
»Nimm Platz.«
Auraya setzte sich. Zwischen den Betten befand sich ein großer Steinbrocken, in den ein glattes, rundes Loch gehauen war. Die Vertiefung war gefüllt mit kochendem Wasser, von dem Jade nun etwas in eine Schale schöpfte. Die Körner in der Schale lösten sich zu einer dunkelroten Flüssigkeit auf, und der unverkennbare Geruch von Maita drang zu Auraya hinüber. Die Frau goss das Getränk in zwei kleine Becher und reichte einen davon an Auraya weiter.
»Während des vergangenen Jahres hat Mirar auf diesem Bett geschlafen«, sagte sie.
Auraya nickte langsam. »Dann bist du also die Freundin. Das hatte ich mir gedacht.«
»Das war, bevor du versucht hast, ihn zu töten«, fuhr Jade fort, ohne auf Aurayas Bemerkung einzugehen. »Aber du konntest es nicht tun.« Ihre Augen wurden schmal. »Warum nicht?«
»Ich hatte meine Gründe.«
Der Blick der Frau war offen und direkt. »Er hat dir seinen Geist geöffnet und dir die Wahrheit gezeigt. Deshalb konntest du es nicht tun. Er hat viel riskiert, um dich diese Dinge wissen zu lassen.«
»Oder einfach um sich zu retten.«
Jade zog die Augenbrauen hoch. »Ist es das, was du glaubst? Ist dir nicht der Gedanke gekommen, er könnte es aus Liebe getan haben?«
Auraya sah die Frau fest an. »Liebe hatte nichts damit zu tun. Er wollte, dass ich die Wahrheit erfahre, aber er hätte sie mir nicht enthüllt, wäre ich nicht im Begriff gewesen, ihn zu töten. Er hätte mich weiterhin getäuscht.«
Die Frau nickte. »Aber du musst wissen, dass er dich liebt. Liebst du ihn ebenfalls?«
Einmal mehr stiegen widerstreitende Gefühle in Auraya auf, Gefühle, die sie alsbald beiseitedrängte. Warum stellte Jade diese Fragen? Warum wollte sie wissen, ob Auraya Mirar liebte? War sie eifersüchtig oder einfach nur eine Freundin, die einen Freund beschützen wollte? Auraya erwog verschiedene Antworten und überlegte, wie Jade darauf reagieren könnte. Ein Leugnen könnte sie erzürnen, und Auraya wollte das Risiko nicht eingehen, womöglich auf weitere Überraschungen in dieser eigenartigen Höhle zu stoßen. Andererseits würde die Frau eine Bestätigung vielleicht hinterfragen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie aufrichtig. »Ich bezweifle es, da ich ihn im Grunde nicht kenne - das heißt, ich kenne nur einen Teil von ihm. Liebst du ihn?«
»Als einen Freund.«
»Du hast ihm geholfen, seine Identität zurückzuerlangen.«
»Ja.« Jade blickte auf ihren Becher hinab und runzelte die Stirn. »Ich habe ihn nach der Schlacht hierhergebracht. Er war vollkommen durcheinander, war sich nicht sicher, wer er war. In einem Augenblick war er Leiard, im nächsten Mirar.« Sie verzog das Gesicht. »Er hat seine Probleme schließlich gelöst. Ich dachte, er wäre hier in Si sicher, aber er hat ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Zuerst hättest du ihn um ein Haar getötet, dann ist er in Sennon nur mit knapper Not den Weißen entkommen, und jetzt…« Sie schüttelte den Kopf.
Auraya sah Jade zweifelnd an. »Da du offensichtlich darauf hinauswillst, dass ich dich frage: Wo ist er jetzt?«
In den Augen der Frau blitzte Erheiterung auf. »Will ich das? Aber ich kann es dir nicht sagen, sonst würden die Götter es in deinem Geist lesen, wenn du den Leeren Raum verlässt.«
»Wenn ich…?« Auraya zog die Brauen zusammen und blickte sich in der Höhle um, obwohl sie nicht erwartete, irgendwelche sichtbaren Hinweise zu finden, die ihren Argwohn bestätigten.
»Der Leere Raum umgibt uns auf allen Seiten. Die Götter sind Wesen aus Magie, daher können sie uns hier nicht erreichen.«
Auraya dachte über diese Neuigkeit nach. Wenn Jade ihr erzählte, wo Mirar war … Aber wenn Jade es wusste, dann könnten die Götter diese Information ohnehin aus ihrem Geist ziehen, sobald sie den Leeren Raum verließ. Es sei denn … es sei denn, Jade konnte ihre Gedanken verbergen, so wie Mirar es vermochte. Auraya widerstand dem Drang, die Frau anzustarren. Wie mächtig ist sie? Könnte sie ebenfalls eine Unsterbliche sein?
»Wenn ich fortgehe, werden die Götter wissen, dass du hier bist«, bemerkte sie. »Sie werden auch das aus meinem Geist lesen.«
Jade breitete die Hände aus. »Ja. Aber warum sollte sie das beunruhigen? Ich bin lediglich eine alte Heilerin mit zweifelhaften Freunden.«
»Wenn Mirar fürchtete, deine Existenz zu enthüllen, dann musst du Grund haben, diese Möglichkeit ebenfalls zu fürchten.«
Jade zog die Augenbrauen hoch. »Du bist also nicht dumm. Das ist gut.«
»Wie willst du mich daran hindern fortzugehen?«
»Indem ich dir ein Angebot mache, das zu gut ist, um es abzulehnen.«
»Und wenn ich es doch ablehne und gehe?«
»Dann wirst du mich nie wiedersehen.«
Die Frau klang sehr selbstbewusst. Wenn sie eine Unsterbliche ist, ist es ihr seit mehr als hundert Jahren gelungen, sich der Aufmerksamkeit der Götter zu entziehen. Es sollte ihr nicht schwerfallen, sich von mir fernzuhalten.
»Wie sieht dein Angebot aus?«
Jade lächelte. »Ich kann dich lehren, deine Gedanken vor den Göttern zu verbergen.«
Ich hatte also recht. Sie kann ihren Geist abschirmen. Schließlich muss sie in der Lage sein, genau das zu tun, wenn sie mich in dieser Kunst unterrichten kann.
»Warum?«
»Warum ich dich unterrichten sollte oder warum du einwilligen solltest, es zu lernen?«
»Beides.«
Jade beugte sich vor. »Was ist, wenn ich dir erzählte, dass Mirar in Schwierigkeiten steckt? Dass er deine Hilfe braucht? Was würdest du dazu sagen?«
»Ich würde antworten, dass ich ihm nicht helfen kann«, erwiderte Auraya, ohne zu zögern. In ihren Gedanken hörte sie noch einmal Huans Stimme: Wenn du dich gegen uns oder die Weißen stellst, oder wenn du dich mit unseren Feinden verbündest, werden wir dich ebenfalls als unsere Feindin betrachten. »Was sind das für Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hat?«
»Er ist in Lebensgefahr.«
Aurayas Herz begann zu rasen. Stellte diese Frau sie auf die Probe, oder drohte Mirar wirklich der Tod? Was ist, wenn es so wäre? Sie konnte - sie würde - ihm nicht helfen, wenn das bedeutete, dass sie sich damit zu einer Feindin der Götter machte. Sie hatte bereits einen hohen Preis dafür bezahlt, dass sie sich geweigert hatte, ihn zu töten.
Jade stand abrupt auf und ging zu den Töpfen an der Wand hinüber.
»Ich bin froh, dass ich keine solche Entscheidung treffen muss«, sagte sie. »Obwohl ich selbst nie eine Wahl hatte. Die Götter haben mich immer verachtet.« Sie griff nach einem Krug und wandte sich dann mit einem Lächeln zu Auraya um. »Mirar ist in Mur, in einer kleinen Küstenstadt namens Bria, wo die Einheimischen die Traumweber aufgrund ihrer großen Fähigkeiten akzeptieren. Ihm droht keine Gefahr.«
Auraya stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, aber ihr Argwohn kehrte schnell zurück. »Du lügst, zumindest was seinen Aufenthaltsort betrifft. Du hättest mir nicht anvertraut, wo er sich aufhält, bevor ich nicht zugestimmt hätte zu lernen, wie ich meine Gedanken verbergen kann.«
Jade schnupperte am Inhalt des Kruges. »Meinst du wirklich?« Sie stellte den Krug wieder weg. »Bist du bereit, das Risiko einzugehen, dass es die Wahrheit sein könnte? Bist du bereit hinzunehmen, dass du der Grund für seinen Tod sein könntest?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Du hast meine Fragen nicht beantwortet. Warum willst du, dass ich diese Fertigkeit erlerne?«
»Mirar hat mich gebeten, es dir beizubringen. Er glaubt, du seist in Gefahr, und ich fürchte, dass er selbst herkommen wird, wenn ich mich seiner Bitte verschließe.«
»Du nimmst aufgrund einer Laune Mirars das Risiko einer Entdeckung auf dich?«
Jades Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich fürchte, es ist keine Laune.« Sie kehrte zu den Betten zurück. »Du bist in Gefahr.«
»Inwiefern?«
»Die Gefahr kommt von den Göttern, du törichtes Mädchen. Du hast ihnen getrotzt. Du bist zu mächtig. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum sie dich nicht gleich nach deinem Rücktritt getötet haben: Du warst ihnen immer noch von Nutzen. Jetzt, da die Siyee wieder wohlauf sind, werden die Götter jeden Vorwand nutzen, um sich deiner zu entledigen.«
Auraya dachte an das Gespräch zwischen den Göttern zurück, das sie belauscht hatte, nachdem sie ihre Absicht kundgetan hatte, von den Weißen zurückzutreten.
Gib ihr, was sie will, hatte Saru gesagt. Dann können wir uns ihrer entledigen.
Nur wenn sie sich gegen uns wendet, hatte Chaia erwidert.
»Du sagst, jeder Vorwand wäre ihnen recht?«, fragte sie und stand auf. »Zum Beispiel, wenn sie erführen, dass ich lerne, meine Gedanken vor ihnen zu verbergen? Oder dass ich Kontakt zu einer weiteren Wilden aufgenommen habe?« Sie ging um Jade herum auf den Eingang der Höhle zu. »Richte Mirar von mir aus, dass das Beste, was er für mich tun kann, Folgendes ist: Er soll sich von mir fernhalten und aufhören, sich in meine Angelegenheiten einzumischen.«
Sie hörte Jades Schritte hinter sich.
»Mirar ist ein vernarrter Tor. Deshalb hat er dich die Kunst des Heilens gelehrt, obwohl er wusste, dass du am Ende dahinterkommen würdest, dass es dieselbe Gabe ist, die uns Unsterblichkeit verleiht. Er hat dir einen Fluchtweg geliefert.«
Auraya hielt den Atem an und blieb stehen. Wenn Jade die Wahrheit sagte, hatte Mirar sie mit Bedacht etwas gelehrt, das ihr zu Unsterblichkeit verhelfen könnte. Kein Wunder, dass die Götter den Zirklern verboten hatten, die Kunst der magischen Heilung zu erlernen. Andererseits hatten sie ihr erlaubt, sich diese Kunst anzueignen …
»Er hat das Potenzial in dir gesehen - genauso wie die Götter«, fuhr Jade fort. »Warum, glaubst du, haben sie dich vor derart unmögliche Entscheidungen gestellt? Sie kannten deine Schwächen. Sie haben dich geschickt manipuliert und dich dazu gebracht, die Weißen zu verlassen und ihre Anhänger glauben zu machen, du hättest alles für die Siyee geopfert. Jetzt kannst du eines tragischen Todes sterben, und niemand wird Fragen stellen.«
Auraya drehte sich um und starrte die Frau an. Sie schüttelte den Kopf. »Du lügst.« Sie musste lügen.
Jade lachte. »Wenn es doch nur so wäre. Kannst du dieses Risiko eingehen?«
In Aurayas Gedächtnis stieg Chaias Gesicht auf. Selbst wenn Jade recht hatte, so hatte sie doch nur zum Teil recht. Nicht alle Götter wollen meinen Tod.
Wenn sie Jades Hilfe ablehnte, lief sie Gefahr, dass Huan und ihre Verbündeten sie auch gegen Chaias Willen töteten.
Wenn sie das Angebot annahm, ging sie das Risiko ein, Chaias Unterstützung zu verlieren - falls sie sie noch hatte.
Auraya wandte sich ab. Als sie ihren Weg in Richtung Höhleneingang fortsetzte, erwartete sie, dass Jade ihr folgen würde. Stattdessen rief die Frau ihr nach.
»Du bist eine Wilde, Auraya. Die Götter wissen es. Sie warten nur auf den richtigen Augenblick, um dich zu töten.«
»Ich bin noch keine Unsterbliche«, rief Auraya über die Schulter gewandt. Sie spürte, dass sie sich dem Leeren Raum näherte, und zog Magie in sich hinein, um ihre Barriere aufrechtzuerhalten. »Ich brauche keine Unsterbliche zu werden, selbst wenn ich das Potenzial dazu habe.«
»Du brauchst auch deine Gedanken nicht zu verbergen. Aber wenn du weißt, wie du das bewerkstelligen kannst, dann könnte sich diese Gabe als sehr nützlich erweisen, sollten Mirars Sorgen sich bewahrheiten.«
Auraya verlangsamte ihre Schritte und blieb in dem Leeren Raum stehen, bevor sie sich umdrehte und wieder in die Mitte der Höhle zurücktrat. Jade betrachtete sie ernst.
Wenn es kein Vergehen ist, über Wissen zu verfügen, das Unsterblichkeit verleihen kann, dann ist es auch kein Vergehen zu wissen, wie ich meine Gedanken verbergen kann, überlegte sie. Und wenn Mirar zurückkehrt, weil ich mich geweigert habe, von Jade zu lernen, wird das alle möglichen Schwierigkeiten aufwerfen.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte sie.
Jades Miene wurde weicher. »Einige Wochen. Weniger, wenn du schnell lernst.«
»Die Siyee werden nach mir suchen.«
»Wir werden ihnen erzählen, dass du nur so lange bleiben wirst, bis du dir sicher sein kannst, dass ich wieder genesen bin.«
»Ah, ja. Die sagenumwobene Krankheit.« Auraya trat vor die Frau hin. »Rechne damit, dass deine Genesung schnell vonstattengehen wird, Jade Tänzerin, da ich nicht die Absicht habe, länger als nötig hierzubleiben.«
Die Frau schnaubte. »Sei versichert, dass es mir nicht anders geht.«
Ganz gleich, wie oft Reivan in einer Sänfte getragen wurde, sie konnte sich niemals an die Bewegungen gewöhnen, erst recht nicht, wenn die Träger rannten. Oder war ihr Unbehagen in der Tatsache zu suchen, dass die vier Sklaven ihre Würde und ihr Wohlergehen in Händen hielten? Wie alle Sklaven waren sie Verbrecher, aber diese waren von den Götterdienern aufgrund ihrer Verlässlichkeit, ihrer Körperbeherrschung und ihrer willigen Mitarbeit für diese Aufgabe ausgewählt worden.
Doch wer immer sie ausgewählt hat, ist wahrscheinlich davon ausgegangen, dass jeder Götterdiener, der in einer Sänfte reist, auf Befähigungen würde zurückgreifen können, sollte er sich jemals verteidigen müssen oder sollten die Sklaven die Sänfte fallen lassen. Sie war nicht einmal befähigt genug, um die reglose, heiße Luft zu bewegen und sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen. Im Allgemeinen konnte man nur dann Götterdiener werden, wenn man Befähigungen besaß, aber sie war eine Ausnahme gewesen. Ihre Weihe zur Götterdienerin war Reivans Belohnung dafür gewesen, dass sie die pentadrianische Armee davor bewahrt hatte, sich in den Minen Sennons zu verirren… War das wirklich nicht einmal ein Jahr her?
Sie seufzte und versuchte, den Schweiß, der den Sklaven den Rücken hinunterlief, zu übersehen. Die Hinweise auf das Unbehagen der Männer verschlimmerten ihr eigenes Unbehagen noch. Und diese schwarzen Roben machen die Sache auch nicht besser, fügte sie im Geiste hinzu und zupfte an ihrem Ausschnitt.
Die Sklaven bogen auf die Promenade ein und bahnten sich einen Weg durch die Menge auf das Sanktuarium zu. Die weitverzweigten Gebäude, die den wichtigsten pentadrianischen Tempel bildeten, sahen aus wie eine riesige Treppe. Imenja hatte Reivan angewiesen, so schnell wie möglich zurückzukehren, und der Gedanke, den größten Teil des Sanktuariums hinaufsteigen zu müssen, um sie zu erreichen, war nicht gerade erbaulich.
An der breiten Treppe des Gebäudes setzten die Sklaven die Sänfte ab. Reivan hielt kurz inne, um dem Sklavenmeister dankend zuzunicken, dann machte sie sich auf den Weg nach oben.
Eine ausladende, überwölbte Fassade hieß Besucher in dem größten pentadrianischen Gebäude in ganz Ithania willkommen. Nachdem sie durch einen der Eingänge gegangen war, gelangte sie in eine große, luftige Halle. Überall standen Götterdiener bereit, um Besucher zu begrüßen. Hinter der Halle lag ein Innenhof, um den Reivan herumging, so dass sie sich im kühlen Schatten halten konnte.
Ein breiter Flur folgte, der sie durch das Untere Sanktuarium führte. Auch hier fanden sich überall Götterdiener, deren schwarze Roben sich vor den weißen Wänden wie Tintenflecken ausnahmen. Auf dem Weg in das Mittlere Sanktuarium verzweigte der Flur sich mehrmals. Während sie den Weg zum Oberen Sanktuarium entlangeilte, wichen ihr mehrere Götterdiener aus, die ihr höflich zunickten.
Ihr Respekt ließ eine selbstgefällige Befriedigung in ihr aufsteigen. So benehmen sie sich schon, seit Imenja und ich von unseren Vertragsverhandlungen mit den Elai zurückgekehrt sind. Es hatte keinen Protest gegeben, als Imenja Reivan zu ihrer Gefährtin gemacht hatte. Trotzdem halte ich immer wieder Ausschau nach Anzeichen dafür, dass die Toleranz der Götterdiener mir gegenüber schwindet.
Die Flure im Oberen Sanktuarium waren breit und still, die Wände mit Kunstwerken geschmückt und die Böden mit Mosaiken bedeckt. Etliche Türen führten in private Höfe, in denen Springbrunnen die Luft kühl hielten. Reivan bewohnte jetzt eine Zimmerflucht, die in dem gleichen strengen, aber luxuriösen Stil gehalten war, wie die Stimmen ihn schätzten.
Ich nehme an, wenn man die Ewigkeit im Dienst der Götter verbringt, kann man es sich geradeso gut auch bequem machen, überlegte sie. Ich mag nicht unsterblich sein oder eine ganze Zimmerflucht für mich allein benötigen, aber ich weiß sie zu schätzen, weil sie eine Anerkennung für all die Arbeit ist, die ich hier leiste.
Hast du es noch weit?, fragte eine vertraute Stimme in Reivans Gedanken hinein.
Möglicherweise bildete Reivan es sich nur ein, aber Imenjas Gedankenruf wirkte angespannt und sorgenvoll. Reivan runzelte die Stirn.
Nein, ich habe nur noch zwei Flure vor mir, antwortete sie.
Jetzt mischte sich Sorge in ihr Unbehagen. Kleine Zwischenfälle und Fingerzeige hatten in Reivan den Argwohn geweckt, dass ihre Herrin und Nekaun, die Erste Stimme, eine Abneigung gegeneinander gefasst hatten. Ihr war aufgefallen, dass Imenja regelmäßig eine andere Meinung vertrat als Nekaun und dass die Erste Stimme Imenjas Entscheidungen häufig verwarf. Und beide befleißigten sich dabei der denkbar höflichsten Ausdrucksweise.
Es gab auch weniger auffällige Anzeichen. Wann immer sie sich im selben Raum aufhielten, sah Imenja Nekaun niemals direkt an. Oft verschränkte sie die Arme vor der Brust oder legte bewusst Abstand zwischen sich und ihn. Er lächelte sie häufig an, aber seine Augen drückten dabei stets ein anderes Gefühl aus als Freundlichkeit. Manchmal war es Ärger, manchmal eine Herausforderung.
Ich deute ihr Verhalten wahrscheinlich einfach falsch, sagte sich Reivan. Aber sie konnte eine gewisse Unruhe nicht unterdrücken. Sämtliche Anzeichen von Konflikten zwischen den Stimmen, wie klein sie auch sein mögen, würden genügen, um jeden zu beunruhigen. Selbst wenn man die ungeheure magische Kraft vergessen könnte, über die sie verfügen, galt es doch, das langfristige Wohlergehen des Volkes zu bedenken. Die Stimmen mussten für die ganze Ewigkeit miteinander auskommen. Es wäre besser, wenn sie sich verstehen würden.
Auf einer persönlichen Ebene setzte ihr die Situation noch mehr zu. Sie mochte Imenja. Die Zweite Stimme behandelte Reivan nicht nur wie eine Gefährtin, sondern auch wie eine Freundin. Aber Reivan mochte auch Nekaun, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Er behandelte sie nicht wie eine Freundin, obwohl er tatsächlich freundlich war. Wann immer er ihr mit seinem natürlichen, lässigen Charme entgegentrat, stieg unwillkürlich eine Welle von Hoffnung und Erregung in ihr auf.
Reivan hatte gehofft, dass einige Monate auf See sie von ihrer Vernarrtheit kurieren würden, aber so war es nicht gekommen. Trotzdem hatte die Reise ihr Selbstvertrauen gegeben und ihre Entschlossenheit gefestigt, sich nicht zum Narren zu machen. Sie konnte ihre Arbeit nicht tun, ohne ihm zu begegnen, daher hatte sie sich vorgenommen, das Flattern in ihrem Magen zu ignorieren, ebenso wie die irritierenden Gedanken, die er in ihr weckte. Sie würde einfach warten, bis sie so oft mit ihm zusammen gewesen war, dass er ihr ganz alltäglich und nicht weiter bemerkenswert erschien.
Als sie den Flur erreichte, der zu dem langgestreckten Balkon führte, auf dem die Stimmen gern zusammenkamen, hielt Reivan inne, um Atem zu schöpfen. Sie strich ihre Roben glatt, wischte sich das Gesicht ab, konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe und machte sich wieder auf den Weg.
Ein leises Gespräch am anderen Ende des Flurs erregte ihre Aufmerksamkeit. An der Stelle, an der man die beste Aussicht auf die Stadt hatte, waren mehrere Stühle aus verwobenem Schilf aufgestellt worden. Alle Stimmen und ihre Gefährten hatten dort Platz genommen, einzig Nekaun war stehen geblieben. Wie immer lehnte er am Geländer und blickte auf seine Mitregenten und ihre Ratgeber hinab.
Reivan machte das Zeichen des Sterns über der Brust und nickte allen Stimmen respektvoll zu. Die Fünfte Stimme, Shar, nippte an einem Becher mit gewürztem Wasser. Seine bleiche Haut und sein langes, helles Haar bildeten einen scharfen Gegensatz zu Genzas warmem, braunem Teint und dem kurz geschnittenen Haar. Vervel, die untersetzte Dritte Stimme, wirkte kräftiger und älter als seine Gefährten. Wie immer hatte Genza einen ihrer gezähmten Vögel mitgebracht, und zu Shars Füßen lag ein Worn. Genau genommen lag er auf Shars Füßen, wie Reivan bemerkte. Das Tier hechelte in der Hitze des Tages.
Reivan wich Nekauns Blick aus und sah stattdessen Imenja an, die Zweite Stimme. Ihre Herrin war schlank und elegant und erweckte den Eindruck, als sei sie etwa Ende dreißig. Sie lächelte Reivan zu und deutete auf den leeren Stuhl an ihrer Seite.
Das Gespräch war bei Reivans Erscheinen abgebrochen, aber keiner der Anwesenden hatte sich ihr zugewandt. Alle sahen erwartungsvoll zu Nekaun hinüber.
Er lächelte. »Jetzt, da wir alle hier sind, möchte ich euch einen alten Freund von mir vorstellen, Heshema Führer. Er ist soeben aus Nordithania zurückgekehrt, wo er für mich einige Nachforschungen angestellt hat.«
Aus den Augenwinkeln sah Reivan, dass Imenja die Stirn runzelte. Als kurz darauf Schritte im Flur widerhallten, verschwand der Ausdruck der Missbilligung aus ihren Zügen. Reivan drehte sich um und sah einen Mann in mittleren Jahren auf den Balkon treten.
Sie hatte erwartet, dass jemand mit einem so typisch sennonischen Namen den unverkennbaren feingliedrigen Körperbau und die sonnengebräunte Haut dieses Volkes haben würde, aber Heshema war ein wenig beeindruckender Mann. Wenn sie ihn hätte beschreiben müssen, wäre es ihr schwergefallen, ein besonderes Merkmal zu finden, das ihn von anderen hätte unterscheiden können. Er sieht ziemlich nichtssagend aus, überlegte sie. Aber wenn er in Nordithania für Nekaun Informationen gesammelt hat, muss er ein Spion sein, und ein Spion dürfte kaum den Wunsch haben, besonders auffällig oder einprägsam zu sein.
»Es ist mir eine Ehre, euch alle kennenzulernen«, begrüßte Heshema sie mit tiefer, melodischer Stimme.
Während die Anwesenden auf ähnliche Weise antworteten, lächelte Reivan in sich hinein. Seine Stimme ist sein besonderes Merkmal, dachte sie. Obwohl ich vermute, dass er gelernt hat, wenn nötig mit unauffälligerer Stimme zu sprechen.
»Ich habe Heshema gebeten, euch zu erzählen, was er herausgefunden hat«, erklärte Nekaun. »Einige von euch werden einen Teil dieser Geschichte bereits kennen, aber ihr werdet wohl alle etwas Neues erfahren.«
Als die Erste Stimme Heshema erwartungsvoll ansah, nickte der Mann.
»Ich bin gegen Ende des Winters in Jarime angekommen«, begann der Spion. »Die Kälte dort ermuntert die gewöhnlichen Leute, sich in Schanklokalen zu treffen, um die Wärme eines Feuers zu teilen und Klatsch und Tratsch auszutauschen. Die meisten Gespräche drehten sich um den Rücktritt von Auraya der Weißen. Die offizielle Erklärung ist die, dass sie ihren Abschied genommen habe, um sich den Siyee zu widmen, die große Verluste durch eine Seuche erlitten hatten.
Viele Menschen bewunderten sie dafür, dass sie Unsterblichkeit und große magische Macht für eine solch noble Sache geopfert hatte, aber einige zweifelten auch an der Wahrheit der Erklärung und stellten Spekulationen darüber an, dass ihre Götter Auraya von den Weißen wegen irgendeines Verbrechens oder eines Fehlers verbannt hätten. Das Vergehen, das sie für das wahrscheinlichste hielten, war Aurayas Sympathie für die Traumweber. Sie hatte angeregt, dass zirklische Heiler und Traumweber in einem Gebäude im Armenviertel, das sie ›Hospital‹ nannten, Seite an Seite die Bedürftigen behandelten. Es war ein unbeliebter Schritt, den insbesondere die wohlhabenden Bürger missbilligten.
Es machten aber auch andere Ideen die Runde, einschließlich einer Affäre mit einem Traumweber und der Unterstellung, Auraya habe ihre Pflichten als Weiße vernachlässigt, um den Siyee zu helfen. Einige Leute dachten sogar, sie sei vielleicht Pentadrianerin geworden.«
Die Stimmen kicherten, und Heshemas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Auch gab es Spekulationen darüber, dass Auraya die Weißen überhaupt nicht verlassen habe«, fuhr er fort, »und dass dies eine List sei, um uns in eine Schlacht zu locken. Die Vielzahl von Zirklern, die zu Hohepriestern geweiht wurden, sprach für mich eine andere Sprache. Einzig Hohepriestern steht es offen, ein Weißer zu werden. Anscheinend treffen ihre Götter die endgültige Entscheidung, aber die Weißen sorgen dafür, dass es reichlich Kandidaten gibt.«
Reivan fiel auf, dass in seiner Stimme eigenartigerweise keine Skepsis mitschwang.
»Hast du irgendetwas gesehen, das die Frage beantwortete, ob ihre Götter real sind?«, wollte Imenja wissen.
Heshema sah Nekaun an. »Nichts, was jeden Zweifel ausgeräumt hätte.«
»Das ist nicht der Grund, warum ich Heshema in den Norden geschickt habe«, unterbrach Nekaun.
»Nein?« Imenja wandte sich mit einem Lächeln zu Nekaun um. »Natürlich nicht, aber ihm könnte trotzdem etwas aufgefallen sein.« Sie nickte dem Spion zu. »Fahr mit deiner Geschichte fort, Heshema.«
Der Mann neigte den Kopf. »Ich bezweifelte, dass die Weißen es freundlich aufnehmen würden, wenn ich ihnen Fragen stellte, daher suchte ich nach anderen Informationsquellen. Ich gab mich als genrianischer Händler aus, um mich mit Aurayas ehemaligem Ratgeber, Danjin Speer, zu treffen. Er hielt die offizielle Erklärung für wahr. Ihm zufolge hatten die Siyee Aurayas Herz gestohlen, seit sie ihnen das erste Mal begegnet war. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass er von irgendeinem Geheimnis um seine frühere Herrin weiß. Es muss etwas Persönliches sein. Mir schien, als hätte sie etwas getan, das ihn enttäuscht hatte.«
»Eine Affäre?«, fragte Genza.
Heshema zuckte die Achseln. »Das wäre möglich.«
»Du sagtest, es habe Gerüchte über eine Affäre mit einem Traumweber gegeben«, warf Vervel ein.
»Ja. Ich hatte ihnen nicht viel Glauben geschenkt, bis ich die Siyee befragte. Mir war zu Ohren gekommen, dass sich eine Handvoll Geflügelter in Jarime aufhielt, einige als Botschafter und andere, um sich zu Priestern und Priesterinnen ausbilden zu lassen. Sie vertragen erstaunlich wenig berauschenden Alkohol, und die beiden Akolythen, mit denen ich sprach, haben mir nur allzu gern von den Gerüchten in Si erzählt, was Aurayas letzte Monate dort als Weiße betrifft.
Sie ist nach Si zurückgekehrt, nachdem eure Götterdiener dort gelandet waren, ist jedoch wegen des Ausbruchs einer Seuche länger geblieben. Als sie das erste Dorf erreichte, in dem die Krankheit grassierte, traf sie auf einen Traumweber, der bereits dort war. Sie kannte diesen Traumweber, und jene, die die beiden gemeinsam beobachtet haben, sagten, es habe offensichtlich Groll zwischen ihnen geherrscht, doch dann hätten sie ihre Streitigkeiten überwunden und standen, als Auraya das Dorf verließ, auf freundschaftlichem Fuß miteinander.
Was anschließend geschah, ist ein Rätsel, das die Siyee liebend gern lösen würden. Der Traumweber verließ Si ohne jedwede Erklärung, und Auraya ging wieder nach Jarime, um von den Weißen zurückzutreten. Die Siyee glauben, dass beide Ereignisse zusammenhängen, wissen aber nicht, wie. Als ich jedoch eine mögliche Affäre andeutete, waren sie davon überzeugt, dass das nicht der Grund sein könne.«
»Für mich klingt das ganz nach einer Affäre«, warf Genza ein.
»Das hört sich an wie die Art von Gerüchten, die in einer solchen Situation unweigerlich aufkommen, daher sollten wir nicht davon ausgehen, dass es wahr ist«, warnte Imenja. »Ist der Traumweber nach Si zurückgekehrt, nachdem Auraya die Weißen verlassen hatte?«
»Das wussten die beiden Akolythen nicht«, antwortete Heshema. »Sie waren schockiert über den Hass, mit dem einige Hanianer den Traumwebern begegnen. Möglich, dass sie deshalb beschlossen haben, die Rückkehr des Traumwebers in ihre Heimat geheim zu halten.
Die Abneigung und die Furcht der Hanianer gegenüber den Traumwebern schienen sich während meines Aufenthalts dort zu verschlimmern. Ihr Wahn war so stark geworden, dass das Gerücht aufkam, der Anführer der Traumweber, Mirar, sei gar nicht tot und sei zurückgekehrt, um Ärger zu machen.«
Shar lachte leise. »Wenn es doch nur so wäre. Dann könnten wir ihn für unsere Sache gewinnen.«
»Traumweber verabscheuen Gewalt«, rief Imenja ihm ins Gedächtnis. »Aber ich nehme an, dass ein Mann von seinen Befähigungen und seiner Erfahrung den Zirklern viel Ärger machen könnte - wenn er denn tatsächlich noch lebte.«
»Die gleichen Gerüchte machen auch hier die Runde«, sagte Nekaun. »Einige meiner Freunde haben nach der Quelle dieser Gerüchte gesucht, und es scheint, als stammten sie von den Traumwebern selbst und seien etwa zur gleichen Zeit überall in Avven, Dekkar und Mur aufgetaucht.«
»Interessant«, murmelte Vervel.
»Ja.«
»Dann sind die Weißen also nur zu viert, und möglicherweise ist einer ihrer früheren Feinde zurückgekehrt«, sagte Genza. »Können wir uns diese Situation zunutze machen?«
»Nein.« Nekauns Antwort war entschieden und seine Miene ernst. »Die Gerüchte, dass Mirar noch lebt, sind lediglich Gerüchte, und unsere Kundschafter in Jarime haben berichtet, dass gestern ein Ersatz für Auraya auserwählt wurde. Ihr Name ist Ellareen Spinner.«
Die anderen schwiegen einen Moment, während sie diese Information verarbeiteten, bis Vervel sich schließlich räusperte. Er sah zuerst Nekaun an, dann den Spion.
Nekaun nickte. »Danke, Heshema. Wir müssen diese Angelegenheit nun unter uns besprechen.«
Der Spion machte das Zeichen des Sterns und verließ den Balkon.
»Also«, sagte Vervel, nachdem die Schritte des Mannes verklungen waren, »wenn Auraya noch immer eine Verbündete der Weißen ist, ist der Vorteil jetzt auf ihrer Seite.«
»Ja.«
»Glaubst du, dass sie uns angreifen werden?«
»Wir können es nicht riskieren, davon auszugehen, dass sie es nicht tun werden«, antwortete Nekaun. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, das Gleichgewicht wieder zu unseren Gunsten zu beeinflussen.«
»Wenn Mirar doch nur wirklich zurückgekehrt wäre«, sagte Shar und seufzte.
»Selbst wenn es so wäre, wäre ein Zauberer, der nicht zu töten bereit ist, uns nicht von Nutzen«, erwiderte Imenja. »Nicht wenn Auraya dazu bereit ist, wie sie während der Schlacht so deutlich demonstriert hat.«
»Wir müssen einen anderen Weg finden«, sagte Nekaun - und vertrat damit ausnahmsweise die gleiche Meinung wie Imenja, stellte Reivan fest. »Ich möchte, dass ihr alle gründlich darüber nachdenkt. Meine Spione sammeln so viele Informationen über die neue Weiße wie nur möglich. Ich möchte wissen, welche Befähigungen Auraya zurückbehalten hat und wie groß ihre Macht jetzt ist.«
Die Stimmen und ihre Gefährten nickten. Nach einem wohlbemessenen Schweigen lächelte Nekaun und blickte ohne Vorwarnung zu Reivan hinüber. Ein Beben durchlief ihren Körper, und sie spürte, wie sie errötete.
»Jetzt zu anderen Dingen. Erzähl uns, Reivan, wie viele Plündererschiffe haben unsere Freunde, die Elai, in dieser Woche versenkt?«
Mirar blieb vor der Brücke stehen, blickte zu dem zweistöckigen Pfahlbau hinauf und lächelte. Er war seit einem Jahrhundert nicht mehr in einem Traumweberhaus gewesen… Wenn er dasjenige nicht mitzählte, das er in Somrey besucht hatte, als er Leiard gewesen war. Sie waren aus den Städten Nordithanias schon vor langer Zeit verschwunden, daher war es eine angenehme Überraschung gewesen festzustellen, dass es sie in Südithania noch gab.
Er überquerte die Brücke, ging zur Tür und klopfte.
Auf der anderen Seite wurden Schritte auf einem hölzernen Boden laut, dann wurde die Tür geöffnet, und eine nicht mehr ganz junge Frau in Traumweberroben erschien. Mirar zögerte, überzeugt davon, dass etwas fehlte, dann wurde ihm klar, dass er erwartet hatte, das Klappern eines Schlosses zu hören, das geöffnet wurde.
Die Traumweber in Südithania schließen nicht einmal ihre Türen ab!
»Sei mir gegrüßt. Ich bin Traumweberin Tintel«, sagte die Frau lächelnd und zog die Tür weiter auf. Was sie danach sagte, konnte er nicht verstehen, aber er spürte Freundlichkeit, und ihre Geste machte deutlich, dass sie ihn hereinbat.
»Danke. Ich bin Traumweber Wilar.« Er trat in einen kleinen Raum. An den Rändern standen, säuberlich zu Paaren angeordnet, Sandalen. Es war eine einheimische Sitte, die Schuhe auszuziehen, wenn man sich in einem Haus befand. Von irgendwo jenseits der Wände konnte er den Klang vieler Stimmen hören.
Er griff in seine Tasche und nahm den Beutel mit Münzen heraus, den Rikkens Diener Yuri ihm gegeben hatte. Als Mirar sich geweigert hatte, den üppigen Lohn für seine Dienste anzunehmen, hatte Yuri ihm geraten, das Geld stattdessen dem Traumweberhaus zu geben.
»Für das Haus«, erklärte Mirar in avvenscher Sprache, während er Tintel den Beutel überreichte. Er hoffte, dass sie ihn verstand.
Die Frau nahm den Beutel und blickte hinein. Dann zog sie die Augenbrauen hoch und sagte etwas, das er nicht verstand. Als er stirnrunzelnd den Kopf schüttelte, musterte sie ihn, und er sah Begreifen in ihren Augen aufscheinen.
»Du bist ein Fremdländer?«, fragte sie auf Avvensch.
»Ja. Aus dem Norden.«
»Wir haben nicht oft Besucher von dort.«
Das überrascht mich nicht, dachte er und beugte sich vor, um seine Schuhe auszuziehen. Als er fertig war, öffnete seine Gastgeberin eine weitere Tür, hinter der ein viel größerer Raum zum Vorschein kam. Lange Tische standen dort, und auf vielen der Stühle saßen Traumweber.
»Wir werden gleich zu Abend essen. Schließe dich uns an.«
Er folgte ihr in den Raum. Tintel begann mit lauter Stimme zu sprechen, und die Traumweber wandten sich ihr und Mirar zu. Er vermutete, dass sie ihn vorstellte, und machte das formelle Zeichen der Traumweber, indem er Herz, Mund und Stirn berührte. Alle Anwesenden lächelten, und einige begrüßten ihn, aber niemand erwiderte die Geste. Nachdem Tintel ihn zu einem Stuhl geführt hatte, wandten die Traumweber sich wieder ihrem Gespräch zu.
Die Atmosphäre war entspannt, und obwohl Mirar die anderen nicht verstehen konnte, fand er ihr Gelächter beruhigend. Diener brachten eine Mahlzeit, bestehend aus dünnem, geröstetem Brot, das auf Schalen mit einem würzigen Eintopf lag, und einem milchigen Getränk, das zu Mirars Erleichterung das Brennen der Gewürze linderte. Die meisten der Traumweber waren jung, wie ihm auffiel. Während ihre Mägen sich langsam füllten, wurde die Unterhaltung ruhiger und ernster. Als das Essen aufgetragen worden war, hatte Tintel sich zu ihnen gesellt, und jetzt sah sie Mirar an.
»Weißt du von den Problemen in Jarime, Wilar?«, fragte sie auf Avvensch.
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass sich viele Zirkler zusammengetan haben, um gegen das … das Hospital zu protestieren.« Er benutzte das hanianische Wort, da ihm der avvensche Begriff nicht einfiel.
Tintel verzog das Gesicht. »Es ist viel schlimmer. Viele Traumweber sind verprügelt worden. Getötet. Ein Traumweberhaus wurde niedergebrannt.«
»Es gibt keine …« Mirar brach ab, als ihm klar wurde, was sie meinte. Es gab keine Traumweberhäuser in Jarime, aber es gab einige Schutzhäuser - Häuser von Menschen, die den Traumwebern wohlwollend gegenüberstanden und ihnen Quartiere anboten.
Menschen wie Millo und Tanara Bäcker. Ein Frösteln überlief ihn, als er an das Ehepaar dachte, bei dem er in Jarime gewohnt hatte. Nur Freunde wussten, dass ihr Heim ein Schutzhaus war - bis ich kam. Dann wurde ich Traumweberratgeber der Weißen, und von da an müssen viel mehr Leute vom Schutzhaus der Bäckers gewusst haben. Ich hoffe nur, es war nicht ihr Haus, das niedergebrannt worden ist.
»Davon hatte ich noch nicht gehört«, sagte er. »Ich werde mich heute Nacht mit den nördlichen Traumwebern vernetzen, um möglichst viel über meine Freunde dort in Erfahrung zu bringen.«
»Was führt dich nach Dekkar?«, fragte ein junger Mann.
Mirar zuckte die Achseln. »Ich reise gern. Ich wollte den Süden sehen.«
»Du bist nicht fortgegangen, um dem Morden zu entkommen?«
Tintel schnalzte warnend mit der Zunge und warf dem Mann einen missbilligenden Blick zu. Mirar lächelte.
»Es ist eine durchaus angebrachte Frage«, erklärte er. »Ich wusste nicht, dass es dort so schnell derart schlimm werden würde. Ich bin froh, dass die Situation hier so gut ist, aber ich wünschte, ich könnte meinen Freunden helfen.«
Die Männer und Frauen am Tisch nickten mitfühlend.
»Das Leben ist gut hier für die Traumweber«, sagte einer der jungen Männer.
Mirar nickte. »Ich habe festgestellt, dass die Götterdiener…« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… dass sie freundlich sind.«
»Sie verstehen sich nicht auf die Heilkunst, wie wir es tun«, erklärte eine junge Frau. »Und sie zahlen gut.«
»Die Götterdiener erlauben euch, sie zu heilen?«, fragte er überrascht.
Die Traumweber nickten.
»Ich habe gehört, im Norden seien Vernetzungen verboten. Ist das wahr?«, fragte die junge Frau.
»Ja.« Als Mirar sie ansah, lächelte sie. Etwas an ihrem Lächeln trieb ihn dazu, genauer hinzuschauen. Als er die unterschwelligen Botschaften in ihrer Körpersprache erkannte, beschleunigte sich sein Pulsschlag.
Ah. Sie weiß genau, was ihr an einem Mann gefällt, und sie hat keine Angst, es sich zu nehmen, dachte er. Es würde ihn nicht überraschen, wenn sie später zu ihm kam. Die Frage war, was würde er dann tun?
»Die Traumweber im Norden vernetzen sich überhaupt nicht?«, fragte jemand.
Er nickte dem jungen Mann zu. »Wir tun es durchaus, aber wir binden es den Zirklern nicht auf die Nase.«
Ein erheitertes Gemurmel wurde laut. Die junge Frau lächelte ihn immer noch an.
»Wenn du viel auf Reisen bist, hast du sicher nicht oft Gelegenheit, dich zu vernetzen. Wir könnten heute Nacht zusammenkommen.«
Es ist kein Zusammenkommen in Gedanken, was sie meint, ging es ihm durch den Kopf. Aber eine Gedankenvernetzung wäre ein großes Risiko. Ich habe zu viel zu verbergen … Obwohl ich ihnen jetzt, da Emerahl mir geholfen hat, die Fähigkeit zurückzugewinnen, meinen Geist abzuschirmen, zuhören können sollte, ohne mich zu offenbaren. Allerdings nicht heute Nacht.
»Danke, aber ich brauche unbedingt etwas mehr Schlaf«, erwiderte er.
Die anderen wirkten keineswegs gekränkt. Stattdessen musterte Tintel die junge Frau mit einem Stirnrunzeln, bevor sie sich mit entschuldigender Miene zu ihm umwandte, als mache sie sich Sorgen, dass er an dem Angebot Anstoß genommen haben könnte.
»Du musst Dardel verzeihen, sie ist oft etwas voreilig. Du kannst an einer Vernetzung teilnehmen, wenn du es wünschst, aber wenn du es nicht tust, werden wir dir deshalb keine Fragen stellen. Der Norden und der Süden sind Feinde, und vielleicht weißt du etwas, das Konflikte oder einen Krieg heraufbeschwören könnte, sollte es sich durch eine Vernetzung verbreiten und die falschen Leute erreichen.«
Überrascht von ihrem Scharfsinn dankte Mirar ihr für ihre Rücksichtnahme. Die übrigen Traumweber wandten sich wieder anderen Dingen zu, und er versuchte, ihrem Gespräch zu folgen, obwohl sie wieder in die einheimische Mundart verfallen waren. Schließlich erhoben sie sich vom Tisch und begannen, das Geschirr abzuräumen.
»Ich werde dich auf dein Zimmer bringen«, erbot sich Tintel. Sie führte ihn in einen Flur und dann eine Treppe hinauf. »Wenn du morgen Abend noch da bist, bist du herzlich eingeladen, dich nach dem Essen zu uns zu gesellen.«
»Vielen Dank. Ich werde vielleicht nicht viel zu sagen haben. Ein großer Teil der avvenschen Sprache ist mir immer noch unverständlich, und das Dekkarische ist für mich Neuland.«
»Wie lange willst du in Kave bleiben?«
»Das weiß ich nicht. Wie viel Zeit sollte ich für die Erkundung der Stadt einplanen?«
Sie lächelte. »Manche Leute meinen, man müsse ein volles Jahr bleiben, um Kave wirklich kennenzulernen, andere sagen, eine Stunde genüge. Wenn du die Zeit hast, darfst du bleiben, solange du willst.« Sie hielt vor einer geöffneten Tür inne. »Das ist dein Zimmer. Schlaf gut.«
Er dankte ihr noch einmal, dann trat er ein und zog die Tür hinter sich zu. Der Raum war schmal und enthielt nur ein Bett, einige Regale und einen kleinen Tisch. Er stellte seine Tasche neben die Regale, dann setzte er sich ans Fußende des Bettes. Es war noch zu früh, um zu schlafen, aber er verspürte den verzweifelten Wunsch, sich mit Arleej in Verbindung zu setzen. Sie würde wissen, was in Jarime geschah.
Schließlich stand er wieder auf und begann, sich auszuziehen. Er hatte gerade das Wams abgelegt, als es an der Tür klopfte.
Nachdem er die Tür geöffnet hatte, lächelte er, als er Dardel draußen stehen sah.
Sie war nicht schön, aber auch nicht unattraktiv. Einige Frauen waren einfach reizvoll. Es war eine Mischung aus ehrlichem, kühnem Interesse an Sex und einem kurvenreichen, weiblichen Körper, der Vergnügen verhieß. Man muss eine Frau einfach mögen, die weiß, was sie will und wie sie darum bitten muss.
Sie hielt eine große Schale und einen Krug mit Wasser in Händen. »Für dich«, sagte sie. »Um den Reisestaub abzuwaschen.«
»Danke.« Er nahm die Schüssel und den Krug entgegen und wandte sich ab, um wieder hineinzugehen.
»Wenn du Hilfe brauchst …?«
Hilfe beim Waschen? Er unterdrückte ein Lachen und drehte sich wieder um, um sie anzusehen. Sie lehnte jetzt am Türrahmen, die Arme unter ihren üppigen Brüsten verschränkt. Ein verschlagenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Ich muss mit Arleej reden, rief er sich ins Gedächtnis. Ich muss herausfinden, ob Tanara und Millo Bäcker noch leben und unverletzt sind.
»Ich werde zurechtkommen, danke«, antwortete er.
Ihr Lächeln verblasste. »Wir reden dann morgen«, sagte sie und trat einen Schritt zurück. Irgendwie brachte sie es fertig, ihre Worte wie ein Versprechen klingen zu lassen. »Schlaf gut.«
Als sich die Tür mit einem Klicken schloss, sog er tief den Atem ein und stieß ihn langsam wieder aus. Wie kann ich mich für diese Frau interessieren, obwohl…? Nein. Wie kann ich mir eine so dumme Frage stellen? Ich lebe. Ich mag Frauen. Leiard ist fort und kann mich nicht aufhalten. Warum sollte ich diese Frau Aurayas wegen abweisen?
Und doch hatte er es getan. Er war keineswegs so müde, und er hätte sich später mit Arleej in Verbindung setzen können. Das ist doch einfach dumm. Ich liebe Auraya, und ich könnte um ihretwillen alle anderen Frauen ignorieren, aber ich kann sie nicht haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie meine Liebe erwidert. Zumindest hat sie außer mir noch einen weiteren Geliebten gehabt. Was hindert mich also?
Er schüttelte den Kopf. Was mich hindert, ist die Hure, mit der sie mich nach der Schlacht gesehen hat. Damals erschien mir ihr Verhalten ungerechtfertigt, aber jetzt weiß ich, wie weh es ihr getan hat. Das möchte ich nicht noch einmal riskieren. Sollte es uns jemals gelingen zusammenzukommen, ohne dass die Götter einen von uns oder uns beide töten wollen, wäre es eine Ironie des Schicksals und ausgesprochen ärgerlich, wenn ich feststellen müsste, dass ich wieder alles verdorben habe.
Emerahl hatte erwartet, dass es schwierig sein würde, Auraya zu unterrichten. Eine ehemalige Weiße sollte ein aufgeblähtes Selbstbewusstsein haben und zu stolz sein, Befehle von einem anderen - und erst recht von einem Wilden - anzunehmen. Aber Auraya hatte jede einzelne Anweisung ohne Widerspruch ausgeführt, und die einzigen Fragen, die sie gestellt hatte, waren vernünftig und nachvollziehbar gewesen.
Ich sollte erleichtert sein, aber stattdessen finde ich ihr Verhalten irritierend. Die Versuchung, Auraya auf die Probe zu stellen, indem sie von ihr verlangte, etwas Lächerliches und Demütigendes zu tun, war sehr stark. Auch das beunruhigte Emerahl. Ihr gefiel der Gedanke nicht, dass sie vielleicht in der Lage wäre, eine solche Tyrannin zu sein.
Auraya saß im Schneidersitz auf dem Bett, das früher einmal Mirar benutzt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die Hände lagen entspannt im Schoß. An ihrem Finger steckte ein Priesterring, und an einem Wandschirm in der Nähe hing ein Priesterinnenzirk. Emerahl hätte nie erwartet, dass sie einmal eine zirklische Priesterin unterrichten würde, geschweige denn eine ehemalige Weiße. Die Ironie, dass sie eine Priesterin darin unterwies, wie sie ihre Gedanken vor den Göttern verbergen konnte, war ihr vollauf bewusst.
Während sie Auraya beobachtete, konnte sie nicht leugnen, dass die Frau attraktiv war. In körperlicher Hinsicht hätte Auraya sich von Emerahl nicht deutlicher unterscheiden können. Ihr Gesicht war schmal und kantig, das Emerahls eher breit. Sie war hochgewachsen und schlank, Emerahl klein und üppig. Aurayas Haar war glatt und von einem glänzenden Braun, Emerahls Haar rot und lockig.
Wenn es das ist, was Mirar gefällt…, ging es ihr durch den Kopf, dann hätte sie um ein Haar laut aufgelacht. Bin ich eifersüchtig? Ist das der Grund, warum ich ihr Verhalten so ärgerlich finde? Sie unterdrückte ein Seufzen. Ich habe schöne Zeiten mit Mirar gehabt, wir waren ein Liebespaar, aber ich war nie in ihn verliebt. Nicht so, wie normale Menschen sich verlieben und ein »Paar werden« und all das. Ich war nie eifersüchtig auf die Frauen, mit denen er geschlafen hat. Mirar und ich waren einfach nur Freunde.
Warum also der Groll? Vielleicht entsprang er einfach dem Bedürfnis, Mirar zu beschützen. Mirar hatte sie mehr als einmal gerettet, sowohl vor anderen als auch vor sich selbst. Würde er es wieder tun, wenn es eines Tages so weit käme, dass er sich zwischen ihr und Auraya würde entscheiden müssen?
Er würde wahrscheinlich Auraya wählen, dachte sie. Und dann würde sie ihn töten. Sie ist nach wie vor eine Anhängerin der Götter. Das ist doch Wahnsinn! Warum bin ich hier und gehe solche Risiken ein?
Weil Mirar sie darum gebeten hatte und weil die Zwillinge seiner Meinung gewesen waren. Auraya war imstande, eine Unsterbliche zu werden. Sie würde diesen Schritt vielleicht niemals tun, weil sie fürchtete, die Götter könnten sie dann zurückweisen, aber es bestand eine Chance, dass irgendetwas - oder irgendjemand - ihre Meinung ändern würde. Wenn sie zu einer Verbündeten wurde, würden sich alle Risiken auszahlen.
Ich sollte sie mir also besser nicht zur Feindin machen, überlegte Emerahl weiter.
Aurayas Atem ging jetzt schon seit einiger Zeit langsam und regelmäßig. Zu Emerahls Überraschung hatte sich herausgestellt, dass die junge Frau wusste, wie man sich in eine Traumtrance versetzte - indem man sich bewusst in den geistigen Zustand sinken ließ, in dem man sich durch Träume mit anderen vernetzen konnte -, obwohl sie zugab, dass die Prozedur ihr manchmal schwerfiel. Zirklern waren alle geistigen Vernetzungen verboten, aber Auraya hielt dies für ein untaugliches Gesetz, das nur wenige Leute ernst nahmen. Sie und Leiard hatten während ihrer Affäre regelmäßig Traumvernetzungen benutzt, um sich miteinander in Verbindung zu setzen.
Emerahl schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und sank nach und nach in einen Traumzustand. Als sie bereit war, rief sie Aurayas Namen.
Jade?, antwortete Auraya.
Ja, ich bin es.
Emerahl spürte Erleichterung von der anderen Frau und vermutete, dass sie froh war, die Traumtrance zuwege gebracht zu haben.
In einer Traumvernetzung können wir uns miteinander in Verbindung setzen, erklärte sie Auraya, aber nur wenn wir beide in Trance sind oder aus dem Schlaf in einen Traumzustand hinübergeglitten sind. Ich werde dir beibringen, wie du nach dem Geist anderer Menschen greifen kannst. Es wird kein Austausch zwischen dir und ihnen möglich sein, aber du wirst sehen können, was sie denken.
Dann können Wilde also Gedanken lesen?
Ja, aber nur dann, wenn sie in Trance sind. Es erfordert Konzentration und Übung und kann sehr anstrengend sein. Die Gedanken, die du auffängst, sind zuerst oft unverständlich, aber mit der Zeit lernst du, sie zu deuten. Wir nennen das »Gedanken abschöpfen«.
Dann ist dies also keine Lektion, um mir zu zeigen, wie ich meinen Geist verbergen kann?
Nein, aber es wird dir helfen, ebendiese Prozedur zu verstehen. Strecke deinen Geist nach links aus. Es ist gleichzeitig ein Vorteil und ein Nachteil, in Si zu sein. Es gibt hier weniger Leute, deren Geist wir abschöpfen können, aber diese wenigen sind aufgrund ihrer Isolation leicht zu finden.
Auraya brauchte mehrere lange Minuten, um überhaupt etwas wahrzunehmen.
Ich spüre etwas… ah. Es ist ein Siyee. Er ist auf der Jagd.
Gut. Ich sehe ihn auch. Du kannst erkennen, dass seine Gedanken nicht geordnet sind, wie es der Fall wäre, wenn er sprechen würde. Es sind nur Bruchstücke, ebenso sehr Bilder wie Gedanken.
Ja. Das ist genauso wie das Gedankenlesen.
Ein Stich des Ärgers durchzuckte Emerahl. Wie konnte ich vergessen, dass sie früher in der Lage war, Gedanken zu lesen? Sie weiß bereits, wie Gedanken funktionieren.
Suche nach einem anderen Geist.
Auraya brauchte nur einen Augenblick, bevor sie wieder antwortete.
Ich sehe Tyve. Er nähert sich dem Wasserfall - er hat eine Nachricht für mich. Ich…
Die Verbindung brach ab, als Aurayas Konzentration ins Wanken geriet. Emerahl erwachte aus der Traumtrance und war nicht überrascht zu sehen, dass Auraya sich von dem Bett erhob.
»Bleib dort«, murmelte Emerahl warnend. »Du darfst den Leeren Raum nicht verlassen. Tyve wird hereinkommen müssen, um mit dir zu reden.«
Auraya setzte sich wieder hin. Sie sah Emerahl an. »Du tust am besten so, als seist du krank«, erwiderte sie.
Wieder fühlte Emerahl Ärger in sich aufsteigen. Sie legte sich hin und zog sich eine Decke über den Leib. Aus dem Tunnel war jetzt das Echo von Schritten zu hören, und kurz darauf trat ein junger Siyee in den Eingang der Höhle.
»Tyve«, sagte Auraya, stand auf und winkte ihn herbei. »Komm rein. Was führt dich hierher?«
Sein Blick wanderte zu Emerahl hinüber. »Ich habe eine Nachricht für dich.«
Auraya bedeutete ihm abermals, näher zu kommen, und der Junge gehorchte. Er lächelte Emerahl an. »Wie geht es dir, Jade? Fühlst du dich schon besser?«
»Ja«, sagte sie. »Dank Aurayas Hilfe.«
Der Junge trat näher an Auraya heran und murmelte etwas. Auraya blickte auf ihren Priesterring hinab, dann zuckte sie die Achseln und antwortete mit leiser Stimme. Worüber sprachen die beiden, das Emerahl nicht hören sollte?
Als Auraya Tyve dankte, hob sie die Stimme wieder.
»Sag Sprecherin Sirri, dass ich hierbleiben und über Jade wachen muss, aber ich werde bald zurückkehren. Fliege sicher, fliege schnell.«
Der Junge nickte, dann verabschiedete er sich und eilte davon. Als seine Schritte verklungen waren, sah Emerahl zu Auraya auf, die die Stirn runzelte.
»Was hatte er zu sagen?«
Auraya seufzte und setzte sich wieder. »Ich glaube, Sirri ist überrascht, dass ich dich nicht einfach geheilt habe und zurückgekehrt bin.«
»Wie viel Zeit haben wir, bis sie Verdacht schöpfen?«
Auraya hob die Schultern. »Eine Woche. Wir können sie für eine Weile hinhalten, aber wenn irgendetwas passiert, bei dem sie meine Hilfe brauchen, und ich mich weigere, von hier fortzugehen…«
»Dann stehen wir mit unserer Tarnung da wie eine Hure mit leerer Börse«, vollendete Emerahl den Satz.
Aurayas Augenbrauen zuckten vor Erheiterung, dann wurde ihre Miene wieder ernst.
»Wenn die Götter uns durch Tyve beobachtet haben, werden sie uns beide bei seinem Eintritt in die Höhle gesehen haben. Außerdem werden sie den Kontakt zu ihm verloren haben, als er in den Leeren Raum kam.«
Emerahl nickte. »Ja. Wenn du vom Rand des Leeren Raums aus mit ihm gesprochen hättest, hätten die Götter wahrscheinlich nichts von dem Phänomen bemerkt, aber sie hätten uns trotzdem gesehen, ohne unsere Gedanken lesen zu können, und dann hätten sie deshalb Verdacht geschöpft.«
»Vielleicht haben sie uns auch gar nicht beobachtet.«
»Glaubst du, dass sie es getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben mich seit Monaten nicht mehr aufgesucht, aber das heißt nicht, dass sie mich nicht beobachten.« Entschlossen sah sie zu Emerahl hinüber. »Wollen wir in die Traumtrance zurückkehren?«
Emerahl lachte leise über ihre Unbeirrbarkeit. »Lass uns zuerst zu Mittag essen.«
Ella stand am Fenster, als Danjin hereinkam. Er unterdrückte ein Schaudern und versuchte, nicht an die schwindelerregende Entfernung zum Boden tief unter ihnen zu denken. Die neueste Weiße trat einen Schritt vom Fenster zurück und wandte sich zu ihm um. Etwas in ihren Zügen erregte seine Aufmerksamkeit, eine gewisse Wildheit in ihren Augen, als sie seinem Blick begegnete. Sie lächelte schief, und plötzlich verstand er, was es war. Ein Stich des Mitgefühls für seine Leidensgenossin durchzuckte ihn.
Auch sie fand keinen Gefallen an der Höhe. Wahrscheinlich litt sie nicht solche Todesqualen wie er selbst, aber sie war stark beunruhigt.
»Danke, dass du einen Besuch so kurzfristig einrichten konntest«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl.
Er setzte sich. »Du brauchst mir nicht zu danken. Das ist ein Teil meiner Aufgaben.«
Sie lächelte abermals. »Das ist kein Grund für mich, dir nicht dankbar zu sein.«
»Wie kann ich helfen?«
Das Lächeln verblasste. »Die anderen Weißen und ich werden uns heute am Altar treffen. Juran hat mir meine erste Aufgabe zugewiesen. Sie ist gering, aber nicht einfach, und ich hätte gern deinen Rat dazu.« Sie runzelte die Stirn. »Er möchte, dass ich die Menschen daran hindere, weiterhin das Hospital und die Traumweber anzugreifen.«
Danjin nickte langsam. »Es ist vernünftig, dass er dir diese Aufgabe zugewiesen hat. Du hast im Hospital gearbeitet. Du hattest schon früher mit Traumwebern und ihren Gegnern zu tun.«
»Juran sagt, die Angriffe auf das Krankenhaus seien seit meiner Erwählung seltener geworden«, erwiderte sie. »Andererseits hat sich die Zahl der Angriffe auf Traumweber erhöht.«
Danjin nickte. »Durch die Erwählung einer Heilerin aus dem Hospital haben die Götter angedeutet, dass sie die Einrichtung billigen.«
»Ich bezweifle, dass das der einzige Grund ist, warum sie mich erwählt haben, sonst wäre meine Nützlichkeit erschöpft, sobald dem Hospital keine Gefahr mehr droht.«
»Natürlich ist das nicht der einzige Grund.« Er lächelte. »Aber das ist die Art von Schlussfolgerung, zu der durchschnittliche Sterbliche bei dergleichen Dingen gelangen.«
»Und sind einige von ihnen zu der Schlussfolgerung gelangt, dass meine Erwählung Gewalttätigkeiten gegen Traumweber rechtfertigt?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum das so sein sollte. Nein, ich denke, es müssen da noch andere Gründe eine Rolle spielen, obwohl ich dir nicht sagen kann, welche Gründe das sind. Das ist etwas, das wir herausfinden müssen.«
»Was könnte Menschen dazu bringen, Traumwebern etwas anzutun, obwohl es ein Verbrechen ist? Scheren sie sich überhaupt noch um unsere Gesetze?«
Sie klang aufrichtig bekümmert, obwohl er sich nicht sicher war, ob die Ursache dafür die Angriffe auf Traumweber waren oder die Verletzung der Gesetze. »Es wird immer Menschen geben, die glauben, es besser zu wissen, Menschen, die denken, die Gesetze hätten für sie keine Gültigkeit. Oder solche, die die Bedeutung der Beschlüsse der Götter und der Weißen so lange verdrehen, bis sie ihren Bedürfnissen besser entsprechen, so dass sie sich immer noch einreden können, sie würden mit dem, was sie tun wollen, zum Wohl der Götter wirken.«
Ella seufzte und wandte den Kopf. Als Danjin ihrem Blick folgte, sah er zu seiner Überraschung eine Spindel und einen Korb mit Schur auf einem kleinen Tisch.
Ihre Arbeit?, fragte er sich. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, würde ich sagen, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege.
Es schien eine so lächerlich häusliche Arbeit für eine der Auserwählten der Götter zu sein, aber Ellas ganze Haltung verriet, dass sie ihre jetzige Aufgabe liebend gern gegen eine Stunde an der Spindel eingetauscht hätte. Vielleicht war dies eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit, eine Arbeit, die ihr half, im Angesicht des Ruhms, der Macht und der Verantwortung ihrer neuen Position nicht die Demut zu verlieren. Als sie sich wieder zu ihm umwandte, wirkte sie plötzlich sehr entschlossen.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun, um der Gewalt ein Ende zu machen?«
Er dachte über das Problem nach und sagte dann: »Zunächst einmal solltest du deinen Gegner verstehen. Wenn diese Menschen die Traumweber schon immer gehasst haben, warum haben sie dann gerade jetzt begonnen, sie anzugreifen?«
»Aurayas Rücktritt? Geben sie den Traumwebern die Schuld daran?«
»Das bezweifle ich.« Er musterte sie eingehend. »Ich kann keine Verbindung erkennen, obwohl das nicht bedeutet, dass andere das nicht vielleicht tun werden. Hast du in den Gedanken der Menschen eine solche Verbindung gesehen?«
Sie runzelte die Stirn. »Wenn das Hospital das nächste Mal angegriffen wird, sollte ich mir die Leute einmal vornehmen und mich ein wenig im Gedankenlesen üben.«
»Ja, aber das wird dir nicht zwangsläufig helfen, deinen Gegner zu verstehen. Du musst die Gedanken jener lesen, die hinter den Protesten stecken oder einen Traumweber zu ermorden planen. Da weithin bekannt ist, dass die Weißen Gedanken lesen können, werden die Leute, nach denen du Ausschau hältst, wohl kaum unter den Angreifern des Hospitals zu finden sein.«
»Wie kann ich sie dann finden?«
»Sie müssen von Zeit zu Zeit das Gebiet um das Hospital herum aufsuchen oder jemand anderen schicken, der sich dort umsieht und Opfer auswählt. Wenn du dort wärst und das Geschehen aus einem Versteck heraus beobachten würdest, könntest du sie vielleicht zu fassen bekommen.«
Sie nickte langsam. »Ja. Obwohl … es wird viel Zeit kosten.« Sie seufzte. »Ich wünschte, gewöhnliche Priester und Priesterinnen könnten ebenfalls Gedanken lesen. Wenn mehr von uns suchten, würden wir die Mörder und Verschwörer schneller finden.«
»Wenn das Gedankenlesen eine Gabe wäre, über die Priester und Priesterinnen gebieten könnten, dann stünde diese Fähigkeit auch mit Gaben gesegneten Nichtzirklern offen, und diese würden damit vielleicht großes Unheil anrichten.«
Sie sah ihn anerkennend an. »Ja. Du hast recht. Hast du noch einen anderen Rat für mich?«
Er nickte. »Im Gefängnis von Jarime sitzt ein Mann, der vor einem Monat einen Traumweber ermordet hat. Ich glaube, Dyara hat seine Gedanken gelesen, um seine Schuld zu bestätigen. Wenn du seine Gedanken lesen würdest, würdest du vielleicht lernen, den Geist eines Mörders leichter von dem Unschuldiger zu unterscheiden.«
Ihre Augen weiteten sich. »Ich soll die Gedanken eines Mörders lesen? Ich… auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen.«
»Möchtest du, dass ich dich begleite?«, erbot er sich.
»Willst du das wirklich tun? Es könnte unerfreulich sein.«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe Auraya einmal bei einem ähnlichen Besuch begleitet.«
Ella zog die Augenbrauen hoch. »Warum hat Auraya das Gefängnis aufgesucht?«
»Einem Traumweber wurde vorgeworfen, er habe die Träume eines anderen Menschen manipuliert.« Ella beobachtete ihn ohne einen Wimpernschlag, während er sprach. Verwirrt von ihrem plötzlichen Interesse, erwog er einen Moment lang die Möglichkeit, es könnte die Geschichte des Traumwebers sein, die ihre Neugier geweckt hatte. Aber dann besann er sich eines anderen. Nein, dachte er, ihr Interesse gilt Auraya. »Sie hat festgestellt, dass er unschuldig war«, fügte er hinzu.
Sie richtete sich abrupt auf und wirkte mit einem Mal vollkommen gelassen. »Könntest du dafür sorgen, dass ich diesen Mörder aufsuchen kann?«, fragte sie.
»Natürlich«, antwortete er. »Möchtest du, dass ich das sofort erledige?«
»Ja.« Sie nickte, dann erhob sie sich und rieb ihre Hände.
Er stand ebenfalls auf und folgte ihr zur Tür. »Welche Zeit wäre dir gelegen?«
Sie überlegte kurz. »Morgen früh?«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er machte das Zeichen des Kreises. »Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Ellareen von den Weißen.«
Er verließ den Raum und ging die Treppe hinab. Auf dem Weg nach unten dachte er über Ellas Interesse an Auraya nach. Ihr Verhalten hatte mehr offenbart als bloße Neugier.
Vielleicht Eifersucht, ging es ihm durch den Kopf. Aber welchen Grund hätte sie, Auraya zu beneiden? Sie hat alles, was Auraya hatte … bis auf die Fähigkeit zu fliegen. Bei der Erinnerung an ihr offenkundiges Unbehagen angesichts des Ausblicks aus dem Turmfenster glitt ein Lächeln über seine Züge. Ich bezweifle, dass sie diese Fähigkeit begehrt.
Wenn es nicht Eifersucht war, was war es dann? Sie hatte die Stirn gerunzelt. Gewiss war es nicht Missbilligung gewesen. Welchen Grund hätte sie auch, Auraya zu missbilligen?
Er schüttelte den Kopf. Jetzt deute ich zu viel in ihr Verhalten hinein. Wenn ich anfange, in diese Richtung zu denken, werde ich wie die Klatschtanten der Stadt enden und jedes skandalöse Gerücht glauben, das sich um Auraya rankt.
Ellareen war lediglich neugierig auf ihre Vorgängerin, das war alles.
»Das ist alles?«
Auraya sah Jade ungläubig an. Die Frau lächelte, und ihre grünen Augen leuchteten vor Erheiterung.
»Was hattest du erwartet?«
»Ich dachte, du würdest mich auf die gleiche Weise unterrichten, wie Mirar mich in der Heilkunst unterwiesen hat - durch eine Gedankenvernetzung.«
Jade lachte. »Wenn das doch nur möglich wäre. Unglücklicherweise kann man nicht in einen beschirmten Geist hineinsehen, daher kann ich dir nicht zeigen, was ich tue, um den meinen abzuschirmen.«
»Also muss ich es einfach selbst herausfinden? Ich brauche niemanden, der mir hilft?« Auraya runzelte die Stirn. »Warum bin ich dann hier?«
»Du brauchst jemanden, der in der Lage ist, deine Gedanken zu erspüren. Nur so kannst du feststellen, ob sie verborgen sind oder nicht.«
Auraya nickte. »Aber du kannst meine Gedanken nur lesen, während du meinen Geist abschöpfst. Hast du vor, die ganze Zeit in einer Traumtrance zu verbringen?«
»Alle Unsterblichen können Gefühle erspüren«, erwiderte Jade. »Wenn ich deine Gefühle nicht länger spüren kann, werde ich versuchen, deinen Geist abzuschöpfen.«
Dies war eine neue und interessante Information. Mirar musste ebenfalls in der Lage sein, Gefühle zu erspüren. Er hatte ihre Gefühle nicht spüren können, als sie eine Weiße gewesen war, aber er würde es jetzt tun können. Und sie konnte nicht länger seine Gedanken lesen.
Wie sehr sich das Blatt doch gewendet hat, überlegte sie. Nur gut, dass er nicht hier ist.
»Wie ich schon sagte«, fuhr Jade fort, »stell dir vor, du würdest einen Schleier über deinen Geist legen. Du kannst hinausschauen, aber niemand kann hineinschauen.«
Auraya versuchte es. Sie stellte sich wieder und wieder einen Schleier vor, stellte sich sogar vor, sie trüge einen schweren Sack über dem Kopf, aber was sie auch tat, Jade konnte ihre Gefühle immer noch spüren.
Schon bald war sie erfüllt von so starker Frustration, dass selbst ein nicht mit Gaben gesegneter Sterblicher sie hätte wahrnehmen können. Die Stunden schleppten sich dahin. Schließlich stieß Jade einen Seufzer aus und legte den Korb beiseite, den sie geflochten hatte.
»Das ist genug für heute Nacht. Es ist schon spät. Du solltest etwas schlafen.«
Auraya hätte beinahe gelächelt über die abschätzige Haltung der Frau. Sie legte sich auf ihr Bett und lauschte, während Jade in den hinteren Teil der Höhle ging und sich an den Vorräten zu schaffen machte.
Für eine Weile verharrte sie so, gequält von Sorgen. Tyve hatte ihr erzählt, dass die Priester im Offenen Dorf vergeblich versucht hätten, sie durch ihren Priesterring zu erreichen. Sie hatte erklärt, er funktioniere nicht richtig, hatte ihm aber nicht erzählt, dass der Leere Raum der Grund dafür war.
Ich kann nur hoffen, dass keiner der Weißen versucht, mich zu erreichen, dachte sie. Je früher ich von hier fortgehen kann, umso besser.
Also … ein Schleier über meinem Geist, überlegte sie weiter. Der Schlaf wird manchmal so beschrieben. Dann ist es also so, als schliefe ich ein? Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. Langsam verebbte die Anstrengung, ihren Geist beherrschen zu müssen. Ich bin müder, als ich gedacht hatte. Es tut so gut, meinem Geist einfach ein wenig Ruhe zu gönnen.
Auraya.
Die Stimme zwang sie, widerstrebend ins Bewusstsein zurückzukehren. Einen Moment lang verspürte sie nur Ärger, dann wurde ihr klar, dass sie die Stimme kannte.
Mirar?
Es folgte eine Pause.
Wie geht es dir?
Du hast eine Traumvernetzung hergestellt … Wie ist das möglich? Mein Priesterring funktioniert im Leeren Raum nicht.
Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass der Ring ungebrochene Magie zwischen ihm und einem anderen Ring erfordert. Oder vielleicht benötigt der Ring eine Verbindung zu den Göttern, um zu funktionieren.
Dann braucht man für Traumvernetzung und das Gedankenabschöpfen keine ungebrochene Magie?
Nein. Also, wie kommst du zurecht?
Wenn du mich fragst, wie weit ich in der Lage bin, meinen Geist zu beschirmen, dann muss ich gestehen, dass ich überhaupt nicht zurechtkomme. Ich weiß nicht, wie ich es bewerkstelligen soll, binnen weniger Tage selbst über die Lösung zu stolpern. Sie spürte, wie die Frustration des Tages sich in Ärger verwandelte. Ist dir eigentlich klar, welches Risiko du mich einzugehen gezwungen hast? In welche Situation du mich gebracht hast? Die Götter haben mir gestattet, zurückzutreten und Priesterin zu bleiben, aber nur unter der Bedingung, dass ich sie nicht behindere oder mich mit ihren Feinden verbünde. Es ist ziemlich klar, dass sie dich als Feind betrachten. Ich hätte von hier fortgehen sollen, sobald ich erfuhr, dass Jade deine Freundin ist, selbst wenn die Götter sie dann entdeckt hätten, selbst wenn die Götter dich entdeckt hätten.
Aber du hast es nicht getan.
Nein. Ihr habt mich beide ausgenutzt. Ihr habt mich gezwungen zu lernen, wie ich meine Gedanken verbergen kann, um euch zu schützen.
Wir haben dich gezwungen, etwas zu lernen, das dir das Leben retten könnte.
Oder es beenden.
Du glaubst also, dass die Götter dich töten werden, wenn sie deine Gedanken nicht lesen können?
Auraya stutzte. Ärger und Erschöpfung trieben sie dazu, unlogische Dinge zu sagen.
Nein. Es wird unser Verhältnis lediglich verschlechtern. Ist das deine Art, Rache zu üben? Bestrafst du mich oder versuchst du, mich dazu zu zwingen, mich von den Göttern abzuwenden?
Weder noch! Ich möchte dir helfen, indem ich dir zeige, wie du dich schützen kannst. Ich möchte, dass du all das wirst, was zu sein dir bestimmt ist - was zu sein du verdient hast! Eine mächtige Zauberin. Eine Unsterbliche. Er hielt inne. Möchtest du nicht unsterblich sein?
Ein Frösteln überlief Auraya. Möchte ich das? Natürlich tue ich das. Aber ich möchte nicht unsterblich sein, wenn das bedeutet, dass ich mich von den Göttern abwenden muss. Ich möchte keine Wilde sein, gehetzt und verhasst.
Ihre Wut vertiefte sich, aber diesmal richtete sie sich gegen die Götter. Warum muss es so sein? Ich kann unsterblich sein und trotzdem den Göttern huldigen. Warum müssen sie mich daran hindern, all das zu werden, was ich sein kann, obwohl es keine Gefahr für sie darstellt?
Vielleicht würde Chaia ihr diese Freiheit gestatten, aber Huan würde es niemals tun. Huan verlangte von ihren Anhängern bedingungslosen Gehorsam. Ich habe ihre Wertschätzung bereits verloren, indem ich mich als unwürdig erwiesen habe, dachte sie. Vielleicht wird sie mir irgendwann verzeihen. In der Zwischenzeit wäre ich gut beraten, der Göttin keinen weiteren Grund zu liefern, mir zu misstrauen.
Als du mich in der Heilkunst unterwiesen hast, hast du mich Jade zufolge genug gelehrt, um mich in die Lage zu versetzen, das Geheimnis der Unsterblichkeit selbst zu entdecken, sagte sie zu Mirar. Vielleicht werde ich eines Tages in der Position sein, es zu versuchen, ohne den Unwillen der Götter zu erregen. Aber für den Augenblick ist es sinnlos. Was du Unsterblichkeit nennst, ist keine wahre Unsterblichkeit. Ich kann trotzdem getötet werden. Ich werde getötet werden, wenn ich den Göttern noch einmal trotze.
Mirar schwieg lange, bevor er antwortete.
Die Götter können sehr lange an einem Groll festhalten, Auraya. Sie werden vielleicht keine Magie benutzen, um dich zu töten, aber sie können dafür sorgen, dass das Alter ihnen diese Arbeit abnimmt. Und vergiss eines nicht: Wenn ich glaubte, die Erlangung von Unsterblichkeit sei der einzige Grund, warum die Götter dich töten könnten, hätte ich es niemals riskiert, dich in der Heilkunst zu unterweisen.
Und mit diesen Worten war er verschwunden.
Angeblich sind doch ältere Leute immer die Vorsichtigen, dachte Ranaan, während er Traumweber Fareeh die dunkle Gasse hinunter folgte. Jüngere Leute sind diejenigen, die sich Hals über Kopf in Gefahren stürzen. Also, was ist los mit uns beiden? Warum ist mein Lehrer derjenige, der bereit ist, Risiken einzugehen, während ich derjenige bin, der halb verrückt ist vor Angst?
Sie näherten sich dem Ende der Gasse, und Fareeh blieb stehen, um in eine größere Straße zu spähen.
Weil ich ein Feigling bin, sagte sich Ranaan. Und weil Fareeh keiner ist. Außerdem ist es für ihn einfacher. Er besitzt Gaben, und er ist groß. Ich bin ein magerer Wicht, und ich weiß, dass ich in sechs Monaten nicht einmal genug Gaben erlernt habe, um mich gegen einen Angriff von Pfeilbienen zu verteidigen.
Der hochgewachsene Mann trat auf die Straße. Ranaan holte tief Luft und zwang sich, ihm zu folgen. Sie gingen zielstrebig weiter, hielten sich aber so weit wie möglich in den Schatten der Gebäude. In diesem Teil der Stadt waren die einzigen Lampen diejenigen, die die Bewohner der Häuser brennen ließen. Der Mond stand allerdings hell und rund am Himmel.
Ranaan heftete seinen Blick auf die vor ihm gehende Gestalt seines Lehrers. Die gelassene Zuversicht des Traumwebers hatte auf die Patienten im Hospital stets eine beruhigende Wirkung. Er war alles, was sie an Traumwebern schätzten: stämmig, ruhig, kenntnisreich und geduldig. Und er unternahm diese Krankenbesuche trotz aller Gefahren, weil er ein netter Mensch war.
Ich wünschte nur, er hätte nicht darauf bestanden, dass ich ihn begleite.
Ranaan verzog das Gesicht. Ich bin kein netter Mensch. Ich bin ein Feigling, der lieber jemanden sterben lassen würde, als das Risiko einzugehen, verprügelt zu werden. Ich habe einen so guten Lehrer gar nicht verdient.
Direkt vor ihnen wurde eine Tür geöffnet. Ranaans Herz begann zu rasen, als drei lachende Männer herauskamen. Fareeh hielt nicht einmal inne. Er ging um sie herum, und Ranaan folgte ihm.
Während er und sein Lehrer ihren Weg fortsetzten, zitterten dem jungen Traumweber die Knie. Er spitzte die Ohren und lauschte, um festzustellen, ob sie verfolgt wurden. Hinter ihnen waren Schritte zu hören, die langsam leiser wurden. Lag das daran, dass die Männer sich Mühe gaben, weniger Lärm zu machen?
Er blickte hinter sich. Die Männer gingen in die andere Richtung.
»Wir sind fast da«, murmelte Fareeh.
Ranaan sah seinen Lehrer an und bekam ein wissendes Lächeln zur Antwort. Er spürte, dass sein Gesicht warm wurde, und sagte nichts. Sie bogen in eine Gasse ein. Fareeh blieb stehen und schuf einen Lichtfunken, um die Wegbeschreibung zu beleuchten, die er sich auf einem Stück Papier notiert hatte. Schließlich nickte er, löschte das Licht und ging weiter.
Der Weg führte um den vorspringenden Teil eines Gebäudes herum, dann endete er. Fareeh verlangsamte sein Tempo und blickte zu den Gebäuden um sie herum auf.
»Man hat mir mitgeteilt, sie würden ein Licht im Fenster brennen lassen …«
Seine leisen Worte gingen im Knall einer zugeschlagenen Tür unter. Hinter ihnen wurden Schritte laut. Ranaan drehte sich um, und sein Herz begann aufs Neue zu rasen. Er zählte acht, vielleicht neun Gestalten, die ihn und seinen Lehrer umringten.
»Was hast du hier zu suchen, Traumweber?«
Der Akzent war typisch für das Armenviertel, aber irgendetwas daran klang falsch in Ranaans Ohren.
Fareeh warf noch einmal einen schnellen Blick auf die Fenster der Gebäude in der Nähe.
»Ich stelle gerade fest, dass ich am falschen Ort bin«, antwortete er. »Die Wegbeschreibung, die man mir gegeben hat, scheint falsch zu sein.«
»Da hast du recht«, sagte eine andere Stimme. Ranaan blickte zu dem Sprecher hinüber. Die hohe Stimme des Mannes passte nicht recht zu seinem massigen Körperbau.
»Wir werden euch nicht länger belästigen«, entgegnete Fareeh. Er machte einen Schritt auf die Lücke zwischen zweien der Männer zu, dann blieb er stehen. Die Männer waren enger zusammengerückt, um ihm den Weg zu versperren.
Ranaan unterdrückte ein Stöhnen des Entsetzens und der Furcht. Seine Beine zitterten, und ihm war übel. Er fragte sich, ob sein Herz noch schneller schlagen konnte. Wenn es das tat, würde es ihm vielleicht einfach aus der Kehle springen.
Ein Lichtfunken erschien und beleuchtete die Innenfläche von Fareehs Hand. Der Funke wurde größer, und Ranaan blickte daran vorbei zu den Gesichtern der Männer hinüber. Sein Mund wurde trocken, als er begriff, warum der Akzent des ersten Sprechers so falsch geklungen hatte.
Dies war keine hiesige Straßenbande. Der Akzent war nicht echt gewesen. Obwohl die Kleider der Männer schlicht waren, waren sie doch von guter Qualität - lässige Gewänder, in denen man im Freien Sport trieb. Ihr Lächeln enthüllte beinahe makellose Zähne. Der Mann mit der hohen Stimme war nicht muskulös, sondern trug das Fett eines Menschen, der in Maßlosigkeit lebte.
Jetzt trat einer der Fremden, ein blonder Mann mit tadellos geschnittenem Haar, einen Schritt vor.
»Du hast recht«, sagte er. »Du wirst uns ganz gewiss nicht noch einmal belästigen.«
Dann wurde die Gasse plötzlich von Magie verzerrt. Ranaan hörte Fareeh rufen, dass er innerhalb seines Schildes bleiben solle. Während von allen Seiten Angriffe kamen, kauerte er sich dicht an seinen Lehrer.
Die Angriffe kommen von allen Männern. Sie alle besitzen Gaben. Wie kann das sein? Kaufen die Reichen magische Ausbildung für jene unter ihren Söhnen, die nicht Priester werden?
Fareeh stieß ein leises, verärgertes Brummen aus. Dann griff er hinter sich und packte Ranaan am Arm. Er zog seinen Schüler herum und beugte sich zu ihm vor.
»Ich werde sie aufhalten«, murmelte er. »Du gehst. Geh ins Hospital. Hol Hilfe.«
Ranaan taumelte, als Fareeh ihn wegstieß. Er sah, wie die Fremden sich umdrehten, um ihn anzugreifen, und nackte Angst stieg in ihm auf. Seine Beine fanden ihre Kraft wieder, und er floh. Nichts hielt ihn auf. Niemand trat aus der Dunkelheit, um ihm den Weg zu versperren. Am Ende der Straße stürzte er um die Ecke und rannte los.
Einige Straßen später wurde ihm klar, dass niemand ihm folgte, und die Panik verebbte langsam. Als sein Verstand wieder einsetzte, blieb er stehen und machte sich zwei Dinge klar: Fareeh hätte Ranaan nicht um Hilfe geschickt, wenn er geglaubt hätte, dass er sich allein befreien könnte.
Natürlich. Sie waren zu acht!
Das Hospital war noch einige Straßen entfernt. Fareeh konnte unmöglich acht Zauberer so lange aufhalten, dass Ranaan mit Hilfe zurückkehren konnte.
Ich sollte zurückgehen und ihm helfen, dachte er.
Sei nicht dumm. Was kannst du schon ausrichten? Willst du ihnen Kräuterkuren hersagen?
Die Unentschlossenheit lähmte ihn. Plötzlich konnte er Stimmen hinter sich hören. Gelächter. Hämisches Gekicher. Er erkannte die hohe Stimme des fetten Mannes und schauderte.
Als ihm bewusst wurde, dass er mitten im Lichtschein einer Lampe stand, wirbelte er herum und suchte nach einem Versteck. Das nächstgelegene war die nicht übermäßig tiefe Nische eines Hauseingangs. Er sprang hinein und drückte sich zitternd an den Türrahmen.
Die Stimmen wurden lauter. Worte wie »einfach«, »jämmerlich« und »gute Arbeit« drangen an sein Ohr. Dann befahl einer der Männer den anderen, den Mund zu halten.
Sie wurden still. Ein eindringliches Gespräch folgte, dann erklangen Schritte. Als die Männer sich seinem Versteck näherten, hielt Ranaan den Atem an.
»Beeilt euch!«
Die Schritte wurden schneller. Zwei Männer liefen an Ranaan vorbei und verschwanden am Ende der Straße. Andere Schritte verklangen, während die Männer sich aufteilten und in verschiedene Richtungen gingen.
Dann lauschte Ranaan den Geräuschen der Straße: dem leisen Rascheln, das, wie er hoffte, von Tieren stammte, den schwachen Stimmen eines Streits irgendwo in dem Haus, in dessen Eingang er stand, dem Plätschern von Wasser oder einer Kanalisation irgendwo unter ihm.
Vorsicht und Furcht kämpften gegen das Verlangen zu entdecken, was Fareeh zugestoßen war. Zu guter Letzt, überzeugt davon, dass die Angreifer fort waren, trat er von der Tür weg, schlich an der Mauer entlang bis zur Ecke und spähte in die Gasse. Es gab dort zu viele dunkle Stellen, als dass er hätte sicher sein können, dass niemand auf ihn wartete. Mit hämmerndem Herzen zwang er sich, in die Gasse zu treten.
Sein Atem kam ihm unnatürlich laut vor. Er erreichte das vorspringende Gebäude und blickte darum herum. Die Gasse lag im Dunkeln, aber als er zu Boden sah, erkannte er eine Gestalt mit menschlichen Umrissen.
Fareeh …
Er schluckte heftig, dann ging er langsam auf die Gestalt zu. Es war eindeutig ein Mann, und das Wams war das eines Traumwebers. Ranaans Stiefel machten leise, glucksende Geräusche, als er sich der Gestalt näherte. Er blickte hinab und sah, dass der Boden schwach glänzte. Dann erkannte er den durchdringenden Geruch in der Luft. Blut.
Das Risiko, dass die Angreifer zurückkehren könnten, spielte plötzlich keine Rolle mehr. Er konzentrierte sich und brachte einen Lichtfunken zustande. Der Anblick von Fareehs leeren, weit aufgerissenen Augen und der großen, roten Blutpfütze, die sich hinter dem Kopf des Mannes ausbreitete, erschreckte Ranaan so sehr, dass sein Licht erlosch. Er konnte nicht richtig atmen und hörte sich einige Worte hervorstoßen, während er auf das Gesicht seines toten Lehrers hinabstarrte.
»Nein. Nicht Fareeh. Das kann nicht sein.«
Dann berührte ihn jemand sacht an der Schulter. Ranaan zuckte zusammen und fuhr herum; die Angst war plötzlich wieder da. Ein Mann trat einen Schritt zurück. Ranaan hatte den Fremden nicht näher kommen hören, hatte nicht einmal das Licht von dem Funken bemerkt, der über dem Kopf des Fremden schwebte.
Aber das Gesicht des Mannes gehörte nicht zu einem der Angreifer. Es war ein fremdes Gesicht, doch der Ausdruck darauf war voller Mitgefühl. Der Mann blickte über seine Schulter.
»Da kommt jemand. Du begleitest mich am besten.«
Ranaan zögerte und wandte sich wieder zu Fareeh um.
»Nichts kann ihm jetzt noch helfen. Lass ihn liegen, oder du wirst genauso enden wie er.«
Ranaans Beine gehorchten ihm widerstrebend. Der Fremde umfasste seinen Arm und zog ihn zu einer Tür. Gemeinsam gingen sie einen langen Flur hinunter und gelangten in eine andere Gasse.
Ein Labyrinth von Gassen und Durchgängen folgte. Die Zeit verstrich. Ranaan nahm nur am Rande wahr, wohin der Fremde ihn führte. Irgendwann gelang es ihm, sich hinreichend zu fassen, um nach dem Namen seines Retters zu fragen.
»Amli.«
»Dann kommst du also aus Sennon?«
»Aus dem Süden.«
»Warum hilfst du mir?«
»Weil du Hilfe brauchst. Wo ich herkomme, liefern die Menschen ihre Mitsterblichen nicht an Räuber oder Mörder aus - nicht, wenn sie es verhindern können.«
Ranaan zuckte zusammen. »Er hat mir aufgetragen, wegzulaufen und Hilfe zu holen.«
»Ah. Tut mir leid. Ich habe nicht von dir gesprochen, sondern von mir. Du konntest deinen Freund nicht retten. Ich konnte es allerdings auch nicht, muss ich zugeben. Es waren zu viele.«
»Er wusste es. Er wusste, dass ich nicht rechtzeitig würde zurückkehren können.«
»Das ist wahrscheinlich. Es ist auch wahrscheinlich, dass er dich fortgeschickt hat, um dein Leben zu retten.«
Ranaan schüttelte den Kopf. »Ich sollte ins Hospital zurückkehren und den anderen sagen, was geschehen ist.«
Amli blieb stehen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Diese Banditen werden dort auf dich warten. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie auch vor deinem Quartier, wo immer das sein mag, warten würden, wenn du nicht mehr im Hospital auftauchst. Du bist ein Zeuge. Hast du sie richtig sehen können?«
»Ja.«
»Dann darfst du nicht zurückkehren. Sie werden das Risiko nicht eingehen, dass du sie identifizieren kannst.«
Ranaan schauderte. »Glaubst du, der Patient, nach dem wir sehen sollten, war nicht echt? Glaubst du, es war ein Hinterhalt?«
»Wolltet ihr einen Krankenbesuch machen?«
»Ja. Wir hatten eine genaue Wegbeschreibung.«
Amli blickte grimmig drein. »Dann war es wahrscheinlich eine Falle. Je eher ich dich von den Straßen bekomme, umso besser.«
Sie gingen weiter. Ranaan konnte den Gedanken an Fareehs Leiche, die verlassen in der Gasse lag, nicht abschütteln. Er konnte an nichts anderes denken als an dieses Bild. Als Amli stehen blieb und eine Tür öffnete, ließ Ranaan sich widerstandslos in den hell erleuchteten Raum dahinter führen.
Eine Frau in mittleren Jahren stand auf, um Amli zu begrüßen. Er stellte sie als seine Ehefrau vor. Als sie Amlis Geschichte hörte, schnalzte sie voller Sorge mit der Zunge, dann brachte sie Ranaan zu einem Sessel und drückte ihm einen Becher in die Hand. Das Getränk war unvertraut und alkoholisch, aber es schmeckte süß und brachte eine wohltuende Wärme mit sich, die den Schmerz in seinem Innern so weit linderte, dass er wieder klar zu denken vermochte.
»Danke«, sagte er ein wenig verspätet. »Ich danke euch beiden.«
Amli und seine Frau lächelten. »Ich werde dir ein Bett zurechtmachen«, sagte die Frau und verschwand dann eine Treppe hinauf.
Ranaan sah sich in dem schmalen Raum um. An einer Seite brannte ein Kohleofen, um den einige Bänke standen, ein Hinweis darauf, dass hier von Zeit zu Zeit Menschen zusammenkamen. Er vermutete, dass sich oben ein oder zwei Schlafzimmer befanden. Es war ein kleines Haus, aber sauber und ordentlich.
»Wie lange lebt ihr schon hier?«, fragte er.
Amli füllte einen weiteren Becher mit dem Getränk. »Seit fast einem Jahr. Ich habe einen Stand auf dem Hauptmarkt. Wir führen Gewürze und Töpferwaren ein.«
Einige seltsame Zierstücke schmückten die Wände. Sie wirkten fehl am Platze. Auch manche der Töpfe, die in der Nähe des Kohleofens standen, hatten merkwürdige Formen. Ranaan betrachtete den Becher, aus dem er trank. Das Zeichen des Töpfers auf der Unterseite war ein Bild von einem dieser fremdartigen Töpfe, und am Rand war ein Stern zu sehen.
Ein Stern. Ein Kribbeln überlief Ranaan, als ihm eine mögliche Erklärung dafür dämmerte. Sein Blick fiel auf Amlis Hals. Unter dem Kragen seiner Tunika hing eine silberne Kette - eine schwere Kette für einen schweren Anhänger.
»Du hast gesagt, du kommst aus dem Süden?«, fragte Ranaan.
»Ja.«
»Seid ihr Pentadrianer?«
Amli antwortete nicht sofort, sondern sah Ranaan ernst an, bevor er ihm den Becher abnahm.
»Was bringt dich auf diese Idee?«
»Ihr hegt keinen Hass gegen Traumweber.«
Amli lachte leise. »Also können wir keine Zirkler sein. Daher müssen wir Pentadrianer sein.«
»Fareeh pflegte zu sagen, dass man einen Sennoner von einem Südländer unterscheiden könne, weil die Sennoner andere Religionen zwar dulden, aber dennoch gern so tun, als existierten sie nicht.«
»Nicht alle Sennoner sind so.«
»Welche sind es denn nicht?«
Amli lächelte. »Die sennonischen Traumweber. Und die sennonischen Pentadrianer.« Amli füllte Ranaans Becher nach. »Wir wissen beide, wie es ist, wenn man wegen seines Glaubens verfolgt wird.«
»Aber in eurem eigenen Land werdet ihr nicht verfolgt.«
Wieder lächelte Amli. »Nein.«
Also ist er ein Pentadrianer, dachte Ranaan. Dann stellte er fest, dass ihn das überhaupt nicht kümmerte. Er war überrascht, aber nicht entsetzt.
Amli gab Ranaan seinen Becher zurück. »Als wir hier ankamen, haben neidische Händler das Gerücht in Umlauf gesetzt, wir seien Pentadrianer, damit die Leute nichts von uns kauften. Das hat uns davon überzeugt, dass wir recht daran taten zu behaupten, wir stammten aus Sennon.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nichts im Vergleich zu dem, was sie hier Traumwebern antun. Die Zirkler sind durch und durch böse.«
»Und die Pentadrianer sind es nicht? Ist es nicht etwas Böses, ein anderes Land zu überfallen?«
»Ja«, stimmte Amli ihm zu, dann wandte er den Blick ab und seufzte. »Es war falsch. Unsere Götter hatten die bösen Taten der Zirkler gesehen und gaben uns den Befehl, sie aufzuhalten. Wir haben angenommen, der Krieg sei die beste und schnellste Möglichkeit, das zu erreichen, aber am Ende haben wir nur jene getötet, die wir retten wollten. Und wir haben den Preis dafür mit unseren eigenen Toten bezahlt.«
Er wirkte mit einem Mal furchtbar traurig. Ranaans Gedanken kehrten zu Fareeh zurück, und sein Herz krampfte sich vor Schmerz zusammen. Sein Lehrer war nicht von Pentadrianern getötet worden, sondern von Banditen. Von zirklischen Banditen. Die Zirkler waren in der Tat böse.
»Erzähl mir mehr über die Pentadrianer. Wie sind eure Götter?«
Amli sah auf, und sein Blick klärte sich. Er lächelte. »Was möchtest du denn wissen?«
Die Wurzeln, die Auraya schälte, färbten ihre Haut orange. Jade hatte Auraya nicht gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen, sie hatte ihr lediglich die Wurzeln gegeben und im Tonfall eines Menschen, der Gehorsam erwartete, gesagt: »Schälen.« Auraya sah keinen Sinn darin, sich zu weigern; auf diese Weise hatten ihre Hände zu tun, während sie herauszufinden versuchte, wie sie ihren Geist abschirmen konnte.
Zumindest war Jade bereit, ihr zu erklären, wozu die Wurzeln dienten. Man benutzte sie sowohl als Farbe wie auch als Kur bei Kopfhauterkrankungen, obwohl sie in letzterem Fall besser funktionierten, wenn der Saft frisch aufgetragen wurde, statt in Form eines mit Wasser gemischten Pulvers.
Zu den anderen »Kuren«, die Jade zubereitet hatte, gehörten ein aus Insektengift hergestellter Trank, der ein träges Herz kräftigte, Borke, die eine ähnlich anregende Wirkung hatte wie die, mit der Leiard sie früher bekannt gemacht hatte, und Pilze, über deren entspannende und aufbauende Wirkung sich Jade nicht weiter auslassen mochte.
Es war auf seltsame Weise logisch zu erfahren, dass Mirars Freundin sich auf die Herstellung von Heilmitteln und die Heilkunst selbst ebenso gut verstand wie er. Die Vorbereitung der verschiedenen Zutaten weckte in Auraya Erinnerungen an ihre Kindheit, an die vielen Stunden, in denen sie Leiard geholfen und von ihm gelernt hatte. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie. Damals war alles so viel einfacher gewesen.
»Ist dir eigentlich bewusst, wie viel Zeit du darauf vergeudest, über Dinge nachzugrübeln, die du bedauerst oder die dir Sorgen machen?«, bemerkte Jade plötzlich. »Ich weiß nicht, ob du noch an deinem Weggang von den Weißen zu kauen hast, ob du dich mit der Furcht quälst, du könntest die Götter gegen dich aufbringen, ob du wegen deiner großen, verlorenen Liebe in Gefühlsduselei verfallen bist - oder alle drei Dinge gleichzeitig -, aber du beschäftigst dich ziemlich viel damit.«
Auraya blickte auf und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Jade sagte ihr ständig, was sie gerade empfand, um sie wissen zu lassen, dass ihre Versuche, ihren Geist zu verbergen, scheiterten. »Es gibt nicht viel anderes zu tun, während man Wurzeln schält.«
»Ich muss zugeben, Selbstmitleid gehörte nicht zu den Dingen, die ich so oft von einer ehemaligen Weißen aufzufangen erwartet hatte.«
»Nein? Was hattest du denn erwartet?«
Die Frau schürzte die Lippen. »Arroganz. Eine selbstgerechte, die Götter liebende junge Frau mit aufgeblähten Vorstellungen, was ihre eigene Wichtigkeit betrifft.«
»Und das ist nicht das, was du gefunden hast?«
»Nein. Damit hätte ich leben können. Stattdessen muss ich mich mit Undankbarkeit und Selbstmitleid herumschlagen.«
Auraya blinzelte überrascht. »Undankbarkeit?«
»Ja. Vergiss nicht, ich kann deine Gefühle spüren. Es hat nur wenig Dankbarkeit gegeben.«
»Dankbarkeit lässt sich nicht erzwingen. Und sie ist schwer zu empfinden, wenn der Lehrer versucht, ein so unangenehmer Gefährte zu sein wie nur möglich.«
»Du hast bisher auch nicht viel getan, das mir geholfen hätte, dich liebzugewinnen«, entgegnete Jade.
»Was nur beweist, dass deine Erwartungen falsch waren. Obwohl ich glaube, dass du in einem Punkt richtig gelegen hast.«
»Oh?«
»Ich liebe die Götter tatsächlich.«
Jade hielt in der Arbeit inne und sah Auraya mit undeutbarer Miene an. »Also habe ich mich geirrt. Nett von dir, mich darauf hinzuweisen.« Ihre Stimme klang tonlos, aber Auraya konnte den unterdrückten Ärger und die Furcht dahinter hören.
»Und du hasst sie«, stellte sie fest. »Warum?«
Jade zog die Brauen zusammen, und die Schnitte ihres Messers wurden aggressiver. »Ich könnte den ganzen Tag darauf verwenden, die Gründe dafür aufzuzählen. Ich hatte tausend Jahre Zeit, sie aufzulisten. Aber welchen Sinn hätte es, dir das zu erzählen? Du wirst mir nicht glauben, und selbst wenn du es tätest, würdest du die Götter immer noch lieben. Liebe ist blind, ob sie nun einem Geliebten gilt, der Familie oder den Göttern.«
»Ich weiß, dass es im Zeitalter der Vielen reichlich Hassenswertes an den Göttern gab. Deshalb hat der Zirkel gegen die anderen Götter gekämpft. Es muss dich gefreut haben, als so viele von ihnen getötet wurden.«
Jade zuckte die Achseln. »In den meisten Fällen, ja. Aber nicht alle Götter waren schlecht.«
»Der Zirkel?«
»Die Übelsten von allen.«
»Vor oder nach dem Krieg?«
»Sowohl als auch.«
»Was haben sie nach dem Krieg getan, das schlecht war?«
»Sie haben Mirar hingerichtet.«
»Ist das alles?«
»Nein.« Jades Miene verdüsterte sich. »Sie haben andere Unsterbliche getötet. Sie haben die Traumweber verfolgt.«
»Hat der Umstand, dass Mirar überlebt hat, deinen Zorn auch nur im Geringsten vermindert?«
Die Augen der anderen Frau wurden schmal. »Nein. Sie haben seine Ermordung befohlen. Dass sie gescheitert sind, ändert nichts daran. Tatsächlich ist es sogar noch schlimmer, um die Qualen zu wissen, die er danach durchgemacht hat, während er sich erholte.«
Auraya nickte. »Warum, glaubst du, haben sie seine Ermordung und die Ermordung der anderen Wilden befohlen?«
Jade blickte auf ihr Messer hinab und ließ den Finger über die Klinge gleiten. »Mirar hat aktiv gegen ihre Herrschaft über die Sterblichen gearbeitet, ebenso wie einige andere Unsterbliche. Wir Übrigen… sie wussten, dass wir sie gehasst haben. Wir wussten, wie sie vor dem Krieg waren. Wenn wir der Welt von ihrem wahren Wesen berichtet hätten, wären die Sterblichen ihnen nicht so bereitwillig gefolgt.«
»Was haben die Götter getan, das so schrecklich war?«
Jade starrte auf das Schneidbrett hinab, obwohl ihr Blick auf etwas gerichtet war, das weit jenseits davon lag.
»Sie haben Menschen und Völker versklavt oder sie ganz ausgelöscht, um sich für eine kleine Kränkung in der fernen Vergangenheit zu rächen. Sie haben aus ihren Anhängerinnen Huren gemacht und Kinder geopfert. Sie haben Sterbliche in Ungeheuer verwandelt, nur um festzustellen, ob sie sie dazu bringen könnten, zu fliegen oder Feuer zu atmen oder zu unnormaler Körpergröße heranzuwachsen.«
Auraya sog erschrocken die Luft ein. »Die Siyee? Aber sie haben sich freiwillig von Huan verändern lassen.«
»Huan hat sie ausgenutzt«, sagte Jade. »Sie hat sich für ihre Arbeit die Leichtgläubigsten ihrer Anhänger genommen, jene, die bereit waren, alles für sie zu tun. Sie konnten nicht wissen, welche Folgen es für sie haben würde.« Sie schnaubte angewidert. »Aber wenn es darum ging, Unschuldige zu verführen, war Chaia der Begabteste unter ihnen. Er machte schöne junge Frauen zu seinen Geliebten, und wenn sie zu alt wurden oder ihn nicht mehr rückhaltlos bewunderten, warf er sie beiseite. Es hieß, die Wonne, die er ihnen bereitete, habe sie auf eine Weise ruiniert, wie kein sterblicher Mann das vermocht hätte.«
Auraya sah Jade an. Die Wonne, die er ihnen bereitete… Schaudernd dachte sie an die Nächte, in denen sie sich nach Chaias Berührung gesehnt hatte. Sie hatte seither nicht mehr versucht, bei einem anderen zu liegen. War der Grund dafür, dass kein anderer sie interessierte, oder hatte sie sich so verhalten, weil sie wusste, dass kein anderer Mann sie interessieren konnte? Hat er auch mich ruiniert?
Jade beobachtete sie eingehend. Auraya zwang sich zu nicken. »Du hast recht; es fällt mir schwer, dir zu glauben.«
»Nimm dir Zeit«, sagte Jade und legte ihr Messer fort. »Ich muss mich… um etwas kümmern. Ich bin bald wieder da.«
Während die andere Frau die Höhle verließ, griff Auraya nach der nächsten Wurzel und begann sie zu schälen. Sie bemerkte kaum, was sie tat. Stattdessen kehrten ihre Gedanken zu dem zurück, was Jade ihr über die Götter erzählt hatte.
Als sie Mirar in der Absicht, ihn zu töten, zur Rede gestellt hatte, hatte er behauptet, die Götter hätten schreckliche Dinge getan. Er hatte diese Taten nicht näher beschrieben, aber Huan hatte praktisch zugegeben, dass die Götter in irgendeiner Weise Schuld auf sich geladen hatten.
»Das Zeitalter der Vielen ist schon lange vergangen«, hatte Huan gesagt. »Die Exzesse jener Zeiten sind vergessen.«
Sie wusste nicht, was Huan ihren Anhängern angetan hatte, um die Siyee zu erschaffen. Es war schwer, ihre Schöpfung als etwas Schreckliches anzusehen, da das Ergebnis kaum eine Rasse von Gräueln war.
Aber Feuer atmen? Anormale Körpergrößen? Hat Huan neben den Siyee und den Elai noch andere Rassen zu schaffen versucht?
Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie die Götter für Dinge verurteilen, die sie vor so langer Zeit getan hatten? Sie hatte nichts von alledem miterlebt. Sie konnte die Wahrheit nicht kennen … Es sei denn, Jade oder Mirar fänden sich bereit, ihr ihre Erinnerungen zu zeigen.
Mirar würde es wahrscheinlich tun, aber er war weit fort. Würde Jade einem solchen Ansinnen zustimmen? Ich glaube nicht. Sie behält ihre Gedanken gern für sich. Woraus man ihr eigentlich keinen Vorwurf machen kann. Ich würde auch niemanden ohne guten Grund in meinen Geist blicken lassen. Ganz gewiss würde ich nicht wollen, dass sie von Chaia und mir erfährt.
Jades Geschichte über Chaia hatte Auraya zutiefst verstört. Hatten die Nächte, die sie mit ihm geteilt hatte, sie auf irgendeine Weise geschädigt? Hatte er versucht, sie durch körperliche Wonne an sich zu binden? Vielleicht war es klug von ihr gewesen, der Affäre rechtzeitig ein Ende zu machen.
Meine Güte. Das hat Mut verlangt.
Auraya zuckte zusammen und ließ das Schälmesser fallen. Die Stimme in ihren Gedanken war schwach gewesen, aber vertraut.
Wie kann ich Jades Gedanken hören? Als ihr die Antwort klar wurde, stiegen Ärger und Verlegenheit in ihr auf. Sie schöpft Gedanken ab! Ist das die Angelegenheit, um die sie sich kümmern wollte? Wollte sie in meinen Geist blicken? Sie zuckte innerlich zurück und wünschte, es gäbe einen Nebel oder irgendetwas in der Art, das ihren Geist zumindest trüben würde.
Auraya stand auf. Sie wäre am liebsten aus der Höhle gestürmt, aber sie konnte den Leeren Raum nicht verlassen. Stattdessen lief sie im Kreis um die Betten herum.
»Ich habe projiziert.« Auraya fuhr herum und funkelte Jade wütend an, als diese die Höhle betrat.
»Wie kannst du es w…«
»Ich habe mich zuerst gefragt, ob du meinen Gedankenschild durchdringen kannst, aber dann wurde mir klar, dass ich meine Worte aussandte, wie man das in einer Traumtrance automatisch tut. Ich hatte nicht erwartet, dass du mich hören kannst, denn niemand kann die Gedanken eines Geistabschöpfers wahrnehmen. Niemand außer dir. Du hast es übrigens geschafft.«
»Was geschafft?«
»Dein Geist ist verschleiert. Kannst du spüren, was du getan hast?«
Sie sah Jade an, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, ihrem Ärger Luft zu machen, und dem Wissen, dass sie jetzt vielleicht in der Lage sein würde, von dem Leeren Raum und Jade fortzukommen. Sie holte tief Atem, konzentrierte sich und erkannte langsam, dass sie den Nebel geschaffen hatte, den sie hatte schaffen wollen. Kein Schleier, ein Nebel.
»Ja«, sagte sie.
»Gut. Nun, das war eine unerwartete Dreingabe. Ich hatte nur nach etwas gesucht, das ich benutzen konnte, um dich dazu zu bewegen, dir mehr Mühe zu geben. Jetzt brauchst du nur noch zu lernen, deinen Gedankenschild ständig aufrechtzuerhalten, bis du dir dessen nicht einmal mehr bewusst bist - es muss so selbstverständlich für dich sein wie das Atmen. Ich werde Ablenkungen schaffen, um deine Konzentration auf die Probe zu stellen.« Sie setzte sich, wischte das Messer ab und griff nach einem Stein. Dann spuckte sie darauf und machte sich daran, die Klinge zu schärfen. »Du bist noch nicht fertig«, bemerkte sie und deutete mit dem Kopf auf den Eimer mit Wurzeln.
»Kann ich jetzt nicht gehen?«
»Noch nicht.«
Auraya holte abermals tief Luft und unterdrückte ihren Ärger. Sie setzte sich wieder, nahm das Schälmesser zur Hand und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
»Also war Chaia dein anderer Geliebter«, sagte Jade in beiläufigem Tonfall.
Als Wut in ihr aufstieg, spürte Auraya, wie der Nebel, der ihren Geist umgab, dünner wurde. Sie konzentrierte sich und war erleichtert, als er sich wieder verfestigte.
Jade lächelte verschlagen. »Du hast gesagt, dass du die Götter liebst. Mir war nur nicht bewusst, dass du es so wörtlich gemeint hast. Ich bin beeindruckt - und ich bin nicht leicht zu beeindrucken. Also, verrate mir eins: Sind die Götter so gute Liebhaber, wie die Legenden es behaupten?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Auraya. »Ich kann es nicht beurteilen.«
Jade zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe alles ganz deutlich gesehen, Auraya. Du kannst mich nicht belügen.«
»Ich habe nicht gelogen«, sagte Auraya. Es hat keinen Sinn, es abzustreiten, also kann ich geradeso gut das Beste daraus machen.
»Oh doch, das hast du getan.«
»Nein, das ist nicht wahr«, entgegnete Auraya. »Ich habe keine Ahnung, was die Legenden zu diesem Thema sagen.«
Jade sah sie fragend an, dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Die Nacht war warm und kündete von dem bevorstehenden Sommer. Reivan konnte ihn riechen. Obwohl sie früh aufstand, um ihre Pflichten zu versehen, fiel es ihr in Nächten wie dieser schwer zu schlafen. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft, ein Gefühl von Erwartung und Furcht. Schon bald würde die Sonne auf das Land herabbrennen, und die Nächte würden zu heiß sein, um sich wohlzufühlen.
Heute Nacht hatte sie sich im Bett hin und her geworfen, bis die Rastlosigkeit sie auf den Balkon hinaustrieb. Dort verschaffte ihr die nächtliche Brise ein wenig Abkühlung. Sie blickte auf eine Stadt hinab, die in Mondlicht getaucht war. Helle Lichtpunkte säumten die Hauptdurchgangsstraßen, die die Stadt durchzogen, und die Lampen des Sanktuariums markierten die Grenzen der Innenhöfe.
Und in dem Innenhof direkt unter ihrem Zimmer schlenderte eine Gestalt ohne Hast vorbei. Eine vertraute, männliche Gestalt. Reivan hielt den Atem an und fragte sich, ob er sie gesehen hatte; sie hoffte, dass er die Erregung, die sie bei seinem Anblick durchströmte, nicht gespürt hatte.
Dann machte ihr Herz einen Satz, als er zu ihr aufsah und lächelte. Sie hob die Hand zum Gruß.
Ihr Götter, ich hoffe, er denkt nicht, ich hätte ihn beobachtet. Dann schnaubte sie leise. Nun, natürlich tut er das. Er kann meine Gedanken lesen. Oh nein.
Er hatte die Richtung geändert und kam jetzt auf sie zu. Sie zwang sich, weiterzulächeln und das Hämmern ihres Herzens zu ignorieren. Schließlich blieb er unter ihrem Balkon stehen und blickte zu ihr auf.
»Das Mondlicht steht dir gut, Reivan«, sagte er leise.
Ihr Herz sprang ihr in die Kehle und machte es ihr unmöglich zu antworten. Er will einfach nur nett sein, sagte sie sich. Er flirtet ein wenig mit mir.
Sein Lächeln verblasste. »Ich hoffe, du wirst nicht zulassen, dass Imenja und unsere Meinungsverschiedenheiten unsere Freundschaft zerstören.«
Freundschaft? Welche Freundschaft? Ich begehre ihn, ein Gefühl, das er vollkommen zu Recht ignoriert. Reivans ironische Erheiterung linderte die Anspannung in ihrer Kehle ein wenig.
»Natürlich nicht«, antwortete sie, dann fügte sie impulsiv hinzu: »Ich bin einfach nicht an Schmeichelei gewöhnt.«
Sein Lächeln wurde wieder breiter. »Dann müssen wir etwas an diesem Zustand ändern.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und welchen Eindruck würde das den Leuten vermitteln?«
»Den richtigen Eindruck. Du bist eine bewundernswerte Frau.«
Hitze stieg ihr in die Wangen, und Hoffnung ließ ihr Herz abermals schneller schlagen.
»Du darfst mich nicht aufziehen«, sagte sie und zuckte dann zusammen, als sie den verzweifelten Tonfall in ihrer Stimme hörte. Verlegen trat sie zurück, um ihr Gesicht zu verbergen.
»Verzeih mir.« Seine Stimme wehte zu ihr empor. »Ich wollte dich nicht verärgern.«
Ärger? Ich bin nicht ärgerlich, ich schäme mich. Das muss er doch sehen. Natürlich tut er das! Sie spähte abermals wachsam über den Balkon, aber Nekaun war weitergegangen. Wo ist er jetzt? Sie trat an das Geländer und blickte suchend in den Innenhof hinunter.
Er war fort.
Mit dem Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, kehrte sie in ihr Bett zurück, um sich abermals hin und her zu wälzen.
Tyve war in der vergangenen Woche noch zweimal in die Höhle gekommen, offenbar nur, um festzustellen, ob Auraya und Jade etwas zu essen benötigten oder Hilfe brauchten. Jade hatte ihm höflich gedankt und ihn mit den Heilmitteln, die sie für die Leute in seinem Dorf hergestellt hatte, seiner Wege geschickt.
Die wir hergestellt haben, korrigierte sich Auraya, während sie weiter die getrockneten Blätter zermahlte, die Jade für sie dagelassen hatte. Während Jade jeden Tag für mehrere Stunden die Höhle verließ, um die Zutaten zu sammeln, hatte Auraya einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwandt, die Heilmittel zuzubereiten. Auch jetzt war die andere Frau wieder auf der Suche nach Kräutern und Wurzeln. Manchmal fragte sich Auraya, ob es einen besonderen Grund für den wachsenden Vorrat an Heilmitteln im hinteren Teil der Höhle gab oder ob Jade es einfach nicht ertragen konnte, müßig zu sein.
Ich wüsste gern, ob sie zögert, wann immer sie in die Höhle zurückkehrt, und versucht, sich nicht auszumalen, dass ich sie verraten habe und einer der Weißen hier auf sie wartet…
Auraya lächelte, dann wurde sie wieder ernst. Vielleicht war das der Grund, warum Jade ihre Gedanken abgeschöpft hatte. Vielleicht hatte sie es jedes Mal getan, bevor sie in die Höhle zurückkehrte, um sich davon zu überzeugen, dass ihre Schülerin sie nicht verraten hatte.
Es war unmöglich, nicht voller Sorge darüber nachzugrübeln, was Jade aus ihren Gedanken erfahren haben mochte. Auraya hatte Jade nicht das Versprechen abringen können, nicht wieder in ihre Gedanken einzudringen, daher war sie entschlossen, so schnell wie möglich einen starken, stabilen Gedankenschild zuwege zu bringen. Es fiel ihr inzwischen bereits leichter, den Schild aufrechtzuerhalten, und manchmal vergaß sie sogar, dass er da war. Schon bald würde sie fortgehen können.
Aber bevor sie das tat, hatte sie noch einige Fragen an Jade.
Als Jade zurückkehrte, war der Krug mit gemahlenen Blättern fast voll. Die andere Frau sprach kein Wort, während sie ihre Eimer neben dem Bett abstellte und sich setzte. Dann nahm sie aus einem Eimer einen Klumpen, der aussah wie ein Stein, und machte sich daran, Bröckchen von einer weißlichen Substanz in einen Krug zu kratzen.
»Was ist das?«
»Gift«, antwortete Jade. »Zumindest wenn man mehr als eine winzige Dosis davon nimmt.«
»Hast du oft Verwendung für Gifte?«
»Überraschend selten. Ich habe während der letzten tausend Jahre nur dreimal Gift benutzt. Es ist die Art von Tod, die man ausschließlich für wahrhaft unangenehme Menschen reserviert.«
Die andere Frau sprach so unbefangen, dass Auraya sich nicht sicher war, ob sie scherzte oder nicht. Sie hielt inne, dann kam sie zu dem Schluss, dass sie es überhaupt nicht wissen wollte.
»Du lebst also schon tausend Jahre?«, fragte sie stattdessen.
»Mindestens.«
»Du weißt es nicht mit Bestimmtheit?«
»Nein. Früher habe ich mitgezählt, aber nach einer Weile wurde es schmerzhaft offenkundig, dass die Kalender, mit deren Hilfe die Menschen die Jahre zählten, falsch waren, und dann haben sie die Neuberechnung gründlich verpfuscht. Ich bin so viel umhergezogen, dass ich den Überblick verlor, aber zu dem Zeitpunkt schien es mir auch keine Rolle mehr zu spielen.«
»Wie ist es denn so, wenn man so lange lebt?«
Jade blickte zu Auraya auf und zuckte die Achseln. »Nicht so aufregend, wie du vielleicht glaubst«, sagte sie. »Die meiste Zeit denkst du gar nicht darüber nach. Deine Gedanken drehen sich um unmittelbare Belange: was du heute essen wirst, wo du schlafen wirst. Du nimmst das Wissen, das du über die Jahre gesammelt hast, für selbstverständlich. Wenn du es brauchst, ist es da, und oft überlegst du gar nicht, wann du dieses Wissen erworben hast. Ab und zu geschieht etwas, das dich innehalten und über die Vergangenheit nachsinnen lässt, und das sind die Augenblicke, in denen du dir deines Alters am deutlichsten bewusst bist. Du nimmst Veränderungen wahr, die niemandem sonst auffallen, nicht einmal den Geschichtsschreibern. Außerdem siehst du, dass manche Dinge sich niemals ändern. Die Menschen werden sich immer verlieben und ihre Liebe wieder verlieren. Ehrgeizige Männer und Frauen werden immer nach Macht streben. Habgierige Männer und Frauen werden immer Reichtum horten. Sterbliche werden Sterbliche sein.«
»Dann können Unsterbliche sich also auf eine Art und Weise ändern, wie sie Sterblichen nicht offensteht?«
Jade blickte versonnen drein. »Ja und nein. Unsterblichkeit macht uns nicht klüger. Erfahrung dagegen durchaus. Wir versuchen, den gleichen Fehler nicht zweimal zu machen, aber Erinnerungen verblassen, und manche Erinnerungen verblassen schneller als andere. Und es gibt immer neue Fehler, die man machen kann.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal wollen wir den gleichen Fehler machen. Liebe zum Beispiel. Indem sie sich verlieben, riskieren Sterbliche immer großen Schmerz; für Unsterbliche ist dieser Schmerz eine Gewissheit. Entweder die Liebe stirbt, oder derjenige, den du liebst, tut es.«
Ein Anflug von Bitterkeit hatte sich in Jades Stimme geschlichen. Auraya sah sie mitfühlend an.
»Lohnt es sich, den Schmerz zu ertragen?«
Jade lächelte freudlos. »Ja, solange du nicht allzu oft leidest. Ich habe Kinder geboren und sterben sehen. Das war noch schmerzlicher, und doch habe ich es mehr als einmal getan.«
»Dann können Unsterbliche also Kinder bekommen?«
»Natürlich.« Jade runzelte die Stirn. »Warum auch nicht?« Dann weiteten sich ihre Augen, als sie plötzlich begriff. »Während du eine Weiße warst, haben die Götter dafür gesorgt, dass du nicht empfangen konntest, nicht wahr?«
Auraya zuckte die Achseln. »Wir könnten uns nicht ganz und gar unserer Arbeit widmen, wenn wir Kinder bekommen und großziehen würden.«
»Die Götter halten nicht viel von Freizeit, wie? Aber wie dem auch sei, Kinder würden dich verletzbar machen. Glaub mir, ich weiß, wie verletzbar Kinder dich machen können, wenn man sie gegen dich benutzt.«
»Was ist passiert?«
Jade schüttelte den Kopf. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Manche Erinnerungen bleiben besser begraben.«
Auraya nickte und überlegte, wie sie das Thema wechseln konnte. »Waren deine Kinder Zauberer?«
»Einige. Manche von ihnen hatten so gut wie gar keine Gaben. Keines ist unsterblich geworden. Sie waren nicht stark genug. Ich glaube nicht, dass jemals ein Unsterblicher ein unsterbliches Kind hervorgebracht hat.«
»Nicht einmal dann, wenn beide Eltern unsterblich waren?«
»Ich habe von keinem Kind gehört, auf das das zugetroffen hätte.«
»Vielleicht würde das einen Unterschied machen.«
Jade zuckte die Achseln, dann starrte sie Auraya an. »Hast du die Absicht, ein solches Experiment in naher Zukunft zu wagen? Ich hatte den Eindruck, dass du Mirar keine zärtlichen Gefühle entgegenbringst.«
Auraya musterte die Frau stirnrunzelnd und fragte sich, weshalb ihre Stimmung so plötzlich umgeschlagen war.
»Nein.«
»Weiß Mirar über dich und Chaia Bescheid?«, fragte Jade.
»Natürlich nicht.«
»Hast du vor, es ihm zu erzählen?«
»Wirst du es tun?«
Jade legte ihre Arbeit nieder. »Ja. Ich wusste, dass du es nicht tun würdest, aber Mirar verdient zu wissen, dass du seine Gefühle nicht erwiderst.«
»Das weiß er bereits«, antwortete sie Jade.
»Wenn dir nichts an ihm liegt, warum ist es dir dann nicht gleichgültig, ob er weiß, wer dein Geliebter ist?«
»War«, verbesserte Auraya sie. »Weil diese Information niemanden etwas angeht.«
»Ob zum Guten oder zum Schlechten, es ist kein Geheimnis mehr. Ich kann es ihm geradeso gut erzählen, bevor ihm eine weitere Torheit einfällt, die er aus Liebe zu dir vollbringen könnte.«
Auraya seufzte. »Dann erzähl es ihm. Es wäre mir schrecklich, wenn ich die Verantwortung für seine Schwierigkeiten übernehmen müsste - wieder einmal.«
Jades Augen wurden schmal. »Dir liegt wirklich nichts an ihm, nicht wahr?«
»Ich habe Leiard geliebt, nicht Mirar.«
»Er ist Leiard. Leiard ist ein Teil von ihm.«
Auraya zwang sich, Jades Blick standzuhalten. »Leiard war niemals real. Ich kann das wenige, was mir von meinem Leben geblieben ist, nicht für ein erfundenes Bruchstück einer Person opfern, das irgendwo in einem Mann vergraben ist, den ich nicht kenne. Und nach allem, was du über die Liebe gesagt hast - dass sie ein Fehler ist -, verstehe ich nicht, warum du von mir erwartest, anders zu empfinden.«
Jade sah Auraya lange an, dann wandte sie den Blick ab.
»Ich glaube, was mich erzürnt, ist der Umstand, dass ich deiner Meinung bin«, sagte sie mit einer grimmigen, leisen Stimme. »Ich würde das Gleiche tun. Ich will wahrscheinlich nur deshalb, dass du ihn liebst, weil ich meine Ängste auf diese Weise mildern könnte. Wenn du ihn liebtest, würdest du uns keinen Schaden zufügen. Stattdessen muss ich Mirar Glauben schenken. Er schwört, dass uns von dir keine Gefahr droht. Narr, der er ist, hat er doch in der Vergangenheit niemals einen Menschen falsch beurteilt - nicht einmal dann, wenn er von Liebe geblendet war.« Sie hob warnend einen Finger. »Liefere uns keinen Beweis dafür, dass er sich in dir geirrt hat.«
Auraya sagte nichts. Jade warf ihren Stein wieder in den Eimer und versiegelte den Krug mit dem weißen Pulver. Dann erhob sie sich, stellte den Krug zu ihren Vorräten und wandte sich schließlich wieder zu Auraya um.
»Ich gehe noch einmal fort, um uns etwas zu essen zu suchen.«
Nachdem die andere Frau gegangen war, breitete sich eine bedrückende Stille in der Höhle aus. Auraya konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie Jade irgendwie enttäuscht hatte. Sie ist lediglich bekümmert darüber, dass ich Mirar nicht liebe, dachte sie. Und es gibt keinen Grund, warum ich mich deswegen schuldig fühlen sollte.
Sie sah sich in der Höhle um und seufzte. Ich fühle mich einsam, begriff sie mit einem Mal. Ich frage mich, wie es Unfug gehen mag. Sie vermisste seine Gesellschaft, seine fraglose Ergebenheit. Warum sind Veez so, wie sie sind? Dabei ist es nicht einmal ein Vorteil für sie, sich auf solche Weise an Menschen zu binden … vielleicht einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie nicht jagen müssen, um Nahrung zu finden, und eine gute Chance auf ein sicheres Heim und ein warmes Bett haben… Ich denke, diese Frage habe ich mir gerade selbst beantwortet.
Es gefiel ihm nie, wenn sie fortging. Wenn sie sich doch nur irgendwie mit ihm in Verbindung setzen könnte.
Ich frage mich … ob ich ihn wohl mithilfe des Gedankenabschöpfens finden könnte?
Es war einen Versuch wert. Sie legte sich aufs Bett, schloss die Augen und ließ sich langsam in eine Traumtrance sinken. Als sie glaubte, so weit zu sein, sandte sie ihren Geist in die Richtung aus, in der das Offene Dorf lag.
Einige Zeit später fand sie den Geist dreier Siyee, die nach einer erfolgreichen Jagd auf dem Rückweg in ihr Dorf waren. Danach fand sie ein Dorf und hielt inne, um den Geist einer Siyee abzuschöpfen, die gerade eine komplizierte Mahlzeit zubereitete. Der Hunger der Frau machte Auraya bewusst, dass auch ihr der Magen knurrte.
Sie entdeckte einige weitere Siyee und war erleichtert, als sie durch die Augen eines Mannes das Offene Dorf erkannte. Es würde allerdings nicht leicht sein, in der Vielzahl der dort lebenden Leute Unfug zu finden. Irgendwann sah sie durch die Augen eines Kindes ihre eigene Laube, und das war der Fingerzeig, den sie gebraucht hatte, um den Veez aufzuspüren.
Sie streckte ihren Geist nach der Laube aus und konzentrierte sich, in der festen Erwartung, dass die Gedanken eines so winzigen Geschöpfes wie Unfug irgendwie kleiner und schwächer sein würden. Sie spürte den Geist eines Tieres, das sich irgendeiner Aufgabe mit großer Eindringlichkeit widmete. Fasziniert beobachtete sie, wie der Veez Magie in sich hineinzog - ebenso mühelos, wie er seine Lunge mit Atem füllte - und sie benutzte, um irgendeinen Mechanismus zu bewegen, dann spürte sie die gierige Befriedigung des Tieres, als es Erfolg hatte. Der Veez griff nach etwas Essbarem, zerrte es aus dem Behälter, in dem es verschlossen gewesen war, und begann zu fressen.
Wie es aussieht, hat Unfug gerade etwas aus einem Essensbehälter geräubert, dachte sie erheitert. Ich habe ihn noch nie Magie benutzen sehen …
Dann erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Etwas viel Näheres. Eine Stimme sprach, und Auraya wurde schwindlig, als weit stärkere Geister ihre Sinne überwältigten und sie mit einem Ruck auf einen Ort irgendwo im Umkreis der Höhle richteten.
… schicke einen der Siyee-Wächter mit dem Befehl zu ihr, mich im Tempel zu treffen. Wenn Chaia recht hat, wird sie es nicht wagen, uns den Gehorsam zu versagen.
Und wenn sie es doch tut?
Dann werden wir alle wissen, dass Chaia sich irrt.
Die erste Sprecherin war Huan, das erkannte Auraya sofort. Sie brauchte ein wenig länger, um zu begreifen, mit wem sie sich unterhielt. Als er ein zweites Mal sprach, wurde ihr klar, dass die Stimme Saru gehörte.
Und er kann uns nicht daran hindern, sie töten zu lassen.
Auraya spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Sprachen sie von ihr?
Er würde es trotzdem versuchen, sagte Huan.
Ja. Warum, glaubst du, will er sie am Leben erhalten?
Begierde. Sie ist eine von seinen kleinen Launen.
Wenn es so wäre, würde er sich nichts dabei denken, sie fortzuwerfen, wie er die anderen fortgeworfen hat. Dies ist etwas anderes.
Auf die schlimmstmögliche Weise. Sie ist keine hübsche Puppe, mit der er spielen will, wie die anderen Mädchen. Sie ist zu mächtig. Huans Stimme nahm einen düsteren Klang an. Er muss Pläne mit ihr haben.
Zu mächtig, um sie zu töten?
Noch nicht. Nicht solange sie keine Ahnung von ihrer wahren Stärke hat. Was genau der Grund ist, warum es mir nicht gefällt, dass sie in dem Leeren Raum verschwunden ist, um diese Frau zu behandeln. Wenn mein Verdacht korrekt ist, ist diese Frau keine bloße Heilerin. Auraya könnte all das lernen, was sie nicht lernen soll.
Du hast sie dazu ermutigt, indem du ihr gestattet hast, die magische Heilung zu erlernen.
Das habe ich nur getan, um die anderen davon zu überzeugen, dass sie zu gefährlich ist.
Mich hast du überzeugt. Was glaubst du, könnte Lore und Yranna umstimmen?
Huan schwieg einen Moment lang.
Die Bestätigung meines Verdachts. Wenn sie aus diesem Leeren Raum kommt und Dinge weiß, die sie nicht wissen sollte, wird nur noch Chaia gegen ihren Tod protestieren.
Dann wird er endlich überstimmt sein.
Ja.
Und wenn sie herauskommt und nichts weiß?
Dann werden wir eine andere Möglichkeit finden, Lore und Yranna auf unsere Seite zu ziehen. Irgendwann wird Auraya uns abermals trotzen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Und ihre Henker?
Mal sehen …
Mit schwindelerregender Geschwindigkeit verschwanden die Geister der beiden Götter aus Aurayas Sinnen. Der kurze Kontakt mit ihnen hatte sie benommen gemacht, und sie schüttelte die Traumtrance eilends ab. Sie blieb noch eine Weile auf dem Bett liegen und hörte im Geiste noch einmal die Worte der Götter …
Huan will meinen Tod, dachte Auraya. Das wollte sie schon, bevor ich mich geweigert habe, Mirar zu töten! Sie ist so entschlossen, mich zu töten, dass sie zu diesem Zweck sogar die anderen Götter manipulieren wird.
Eine Woge der Übelkeit schlug über ihr zusammen. Es spielt keine Rolle, dass Chaia ihr widerspricht. Die anderen werden ihn am Ende überstimmen. Sie richtete sich auf und starrte auf die Wand der Höhle.
Das soeben Gehörte ließ die Gedanken in ihrem Kopf durcheinanderwirbeln. Es würde nicht lange dauern, bis die anderen Götter Chaia überstimmt hatten, denn sobald sie den Leeren Raum verließ, würden sie wissen, dass sie gelernt hatte, ihren Geist zu beschirmen, ob sie es nun wirklich tat oder nicht. Es spielte keine Rolle, dass sie nie die Absicht gehabt hatte, ihren Geist vor ihnen zu verbergen. Allein die Tatsache, dass sie etwas Derartiges gelernt hatte, verurteilte sie.
Warum? Neugier und Verbitterung stiegen in ihr auf. Weil ich zu mächtig bin? Wie mächtig bin ich eigentlich?
Mächtig genug, um den Göttern Angst zu machen.
Ein Schauder der Erregung überlief sie, doch das Gefühl verblasste schnell wieder. Ich mag mächtig genug sein, um ihnen Kopfzerbrechen zu bereiten, aber ich bezweifle, dass ich mächtig genug bin, um zu überleben, wenn sie beschließen, dass ich sterben muss.
Nur dass Mirar und Jade überlebt hatten. Wenn die beiden es konnten, dann konnte sie es auch.
Sie stand auf, ging im Leeren Raum auf und ab und dachte über ihre Situation nach. Ich habe zwei Möglichkeiten, befand sie schließlich. Entweder, ich unterwerfe mich dem Urteil der Götter und erlaube ihnen, mich zu töten, oder ich widersetze mich ihnen. Ich bezweifle, dass Huan oder die anderen meine Seele aufnehmen würden, wenn ich sterbe, aber Chaia wird es tun. Würde er meine Seele auch dann aufnehmen, wenn ich mich den anderen Göttern widersetzte und dabei scheiterte? Gewiss würde er nicht zulassen, dass meine Seele einfach erlischt. Wie viel Aufbegehren meinerseits würde er mir verzeihen?
Konnte sie gegen Huan und die anderen Götter kämpfen, ohne gleichzeitig gegen Chaia zu kämpfen?
Ich will Chaia nicht trotzen, dachte sie. Dann muss ich diese Entscheidung in seine Hände geben. Ich werde gegen die anderen kämpfen oder mich mit dem Tod abfinden, je nachdem, was sein Wille ist.
Die Entscheidung brachte Erleichterung, konnte die Angst aber nicht ganz auslöschen. Konnte sie sich wirklich mit einer Hinrichtung abfinden, wenn Chaia es so wollte? Er wird es nicht wollen. Und diese Überlegung warf eine neue Frage auf. Wer waren die Henker, von denen Saru und Huan gesprochen hatten?
Die Antwort war schmerzhaft augenfällig: die Weißen.
Ein Geräusch unterbrach sie in ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah Jade mit zwei Girri in die Höhle kommen. Die andere Frau hob die Vögel hoch.
»Wir werden heute Abend gut essen«, sagte sie.
Auraya brachte ein Lächeln zustande. Sie hatte keinen Hunger mehr. Ihr Magen hatte sich wie zu einer Faust zusammengekrampft. Jade warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Du siehst so aus, als hättest du gerade schlechte Nachrichten bekommen.«
Auraya wandte den Blick ab. »Das Gedankenabschöpfen ist ganz ähnlich wie das Gedankenlesen. Manchmal erfährt man Dinge, die man lieber nicht gewusst hätte.«
»Ah.« Jade warf die Vögel auf den Kochstein zwischen den Betten. »Glaub mir, das Zuviel an Wissen ist ein vertrauter Fluch für uns Unsterbliche.«
»Ebenso wie die Kenntnis des Geheimnisses der Unsterblichkeit?«
Jade sah Auraya mit zusammengekniffenen Augen an. »Nein, das ist ein Wissen, das zu haben ich nicht bedaure.« Sie spitzte die Lippen. »Und es ist ein Wissen, an dem du ebenfalls Anteil hast. Du musst lediglich ein wenig Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken.«
Jade hatte recht. In den Augen der Götter war der Umstand, dass sie sich auf die magische Heilung verstand, beinahe ebenso vernichtend wie das Wissen um die Unsterblichkeit. Und Huan hatte Auraya gestattet, das Heilen mit Magie zu erlernen, um die anderen Götter davon zu überzeugen, dass man sie töten sollte.
»Ich brauche Zeit zum Nachdenken? Das ist alles, was dazu erforderlich ist?«
»Ja.« Jade lächelte. »Betrachte alles, was Mirar dich über das Heilen eines Körpers durch Magie gelehrt hat. Dann brauchst du dieses Wissen nur noch auf deinen eigenen Körper anzuwenden. Tritt in einen dauerhaften Zustand der Erneuerung ein, und du brauchst niemals zu altern oder zu sterben. Mirar sagte, du hättest das Heilen mühelos erlernt; dies hier sollte genauso selbstverständlich für dich sein. Aber denk nicht jetzt darüber nach«, fügte sie mit plötzlich nüchternem Tonfall hinzu. »Du musst nämlich diese gefiederten Lieblinge rupfen und ausnehmen, während ich ein wenig Gemüse holen gehe.«
Das Haus roch schwach nach schalem Schweiß und Moder, ein Geruch, der sich in den Duft von reinigenden Kräutern mischte. Danjin ging die Treppe hinauf und versuchte, nicht allzu tief einzuatmen.
Ella hatte einige Räume in einem Haus gegenüber dem Hospital gemietet. An dem Zustand, in dem die Räume waren, ließ sich nichts ändern. Man sollte von dort aus die Menschen sehen können, die am Hospital vorbeigingen, und da das Hospital nun einmal im Armenviertel lag, waren die meisten Gebäude dort ausgesprochen schmutzig. Ella schien der Gestank nichts auszumachen. Das Essen, das die Frau des Hausbesitzers ihr brachte, rührte sie jedoch nicht an, und Danjin ließ sich das zur Warnung gereichen. Wenn jemand, der Gedanken lesen konnte, eine Mahlzeit lieber stehen ließ, dann war es immer klug, seinem Beispiel zu folgen.
Ella hatte Danjin versichert, dass der Hausbesitzer und seine Frau nicht über ihre Gäste reden würden. Nachdem sie die wütenden Menschenmengen, die sich vor dem Hospital versammelten, gesehen und von den Morden an Traumwebern gehört hatten, würden ihre Gastgeber nicht das Risiko eingehen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Die Gasse hinter dem Haus wurde von Obdachlosen und Tagedieben freigehalten. Ella und Danjin kamen jeden Tag in einem gewöhnlichen Plattan dort an und gingen durch den Hintereingang ins Haus, und Ella saß dann einige Stunden am Fenster und beobachtete die Menschen auf der Straße unter ihnen. Sie hatte gestern in den Gedanken eines Mannes den Plan gelesen, den Eingang des Hospitals zu blockieren, und sie hatte diese Absicht durchkreuzen können, indem sie verhinderte, dass Botschaften zwischen den Unruhestiftern überbracht werden konnten.
Die Nachricht von dem jüngsten Mord an einem Traumweber und vom Verschwinden seines Schülers hatte sie enttäuscht und wütend gemacht. Sie hatte den Traumweber gekannt und respektiert, obwohl sie sich an seinen Schüler kaum erinnern konnte. Danjin wusste, wie sehr ihr dieses Ereignis zusetzte. Sie hatten gehofft, solche Verbrechen in Zukunft verhindern zu können, indem sie die Menschen in der Nähe des Hospitals beobachteten. Seit der Ermordung des Traumwebers versah Ella ihre Pflicht mit noch größerem Ingrimm.
Als Danjin die Treppe erklommen hatte, ging er zu der letzten Tür im Flur hinüber und klopfte an. Ein leises Klicken war zu hören, dann schwang die Tür nach innen auf. Ella saß wie gewöhnlich am Fenster.
»Komm herein, Danjin Speer«, sagte sie.
Danjin schloss die Tür hinter sich und blickte zu Ella hinüber, die sich gerade die Schläfen rieb.
»Du wirkst gequält, Ellareen von den Weißen.«
Sie verzog das Gesicht. »Die vielen Stunden des Gedankenlesens kosten Kraft.« Sie richtete sich auf. »Ich bin zu einigen Schlussfolgerungen gelangt. Nimm Platz und sag mir, was du davon hältst.«
Er ließ sich auf einem klobigen Holzstuhl nieder, dessen Unbequemlichkeit von einigen abgewetzten Kissen nur geringfügig gemildert wurde. Ella blickte wieder aus dem Fenster, und ihre Augen wurden schmal. »Ich habe bereits einmal erwähnt, dass der Mörder, den wir befragt haben, die Traumweber nicht nur hasste, sondern sie auch fürchtete. Du erinnerst dich? Ich habe nach dem Grund geforscht, aus dem die Menschen die Traumweber fürchten. Es war sehr interessant. Sie fürchten keine einzelnen Traumweber, und ebenso wenig fürchten sie die Traumweber im Allgemeinen. Die Traumweber waren schon immer zu gering an Zahl, um eine Bedrohung darzustellen; auch gebrach es ihnen an Einfluss und Ehrgeiz. Was die Menschen fürchten, ist, dass dies sich verändern wird.« Sie sah Danjin an. »Sie fürchten, dass Mirars Rückkehr die Traumweber gefährlich machen wird.«
»Also wird das Hospital wieder sicher sein, sobald dieses Gerücht stirbt.«
Ella schüttelte den Kopf. »Es wird nicht sterben. Mirar ist zurückgekehrt.«
Er starrte sie entsetzt an. Mirar, der unsterbliche Anführer der Traumweber, lebte? Jetzt verstand er, was jene, die das Gerücht glaubten, empfinden mussten. Wer würde keine Furcht empfinden angesichts des Wissens, dass der legendäre, unsterbliche Feind der Götter noch lebte? Um unsterblich zu sein, musste ein Zauberer über ungeheure Gaben verfügen. Juran, der mächtigste der Auserwählten der Götter, hatte seinerzeit den Auftrag bekommen, Mirar hinzurichten. Alle glaubten, dass er seine Aufgabe mit Erfolg erfüllt hatte. War das eine Lüge gewesen, oder war Juran getäuscht worden?
»Wie konnte er überleben?«, fragte er Ella.
»Mirar wurde begraben und sein Körper zerschmettert, aber mit seiner heilenden Magie konnte er genug von sich selbst bewahren, um sich später zu erholen. Er unterdrückte sein eigenes Wissen um seine wahre Identität und konnte sich auf diese Weise vor den Göttern verstecken.«
Er hatte sich ein Jahrhundert versteckt. Hatte auf seine Chance gewartet, um… um was zu tun?
»Warum hat er sich jetzt offenbart?«, fragte Danjin, wobei er ebenso zu sich selbst sprach wie zu Ella. »Hat er es absichtlich getan?«
Ella lächelte. »Nein.«
»Was ist geschehen?«
Sie wandte den Blick ab. »Es steht mir nicht frei, dir das zu erzählen. Noch nicht.«
Danjin lächelte und nickte. »Aber es gibt noch mehr zu erzählen.« Über diesen Umstand würde er später nachdenken. Fürs Erste konnte er ihr nur aufgrund der Informationen, die sie ihm gegeben hatte, einen Rat erteilen. »Die meisten Menschen werden sich nicht sicher sein, ob das Gerücht der Wahrheit entspricht oder nicht«, überlegte er laut. »Deine Sorge gilt jenen, die es glauben und denen der Gedanke so zuwider ist, dass sie Traumweber und das Hospital angreifen.«
Sie nickte. »Die Angst der Menschen vor Mirar sitzt tief. Einige von ihnen wagen es sogar nicht einmal mehr, sich von einem Traumweber helfen zu lassen, aus Furcht, der Betreffende könnte Mirar sein. Vielleicht könnten wir Bilder von ihm malen lassen, damit die Leute wissen, dass der Traumweber, den sie zu Rate ziehen, ein ganz gewöhnlicher Mann ist.«
»Die Leute, die ins Hospital kommen, sind nicht diejenigen, um die du dir Sorgen machen musst«, bemerkte er. »Ich bezweifle, dass die Unruhestifter auch nur erwägen würden, die Hilfe von Traumwebern zu suchen. Du sagtest, die Menschen fürchteten, dass die Traumweber sich unter Mirars Einfluss verändern könnten. Das ist die Furcht, die sie dazu treibt zu töten.«
»Wie kann ich dagegen ankämpfen?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Ich könnte ihnen sagen, dass wir die Traumweber mühelos aufhalten werden, sollten sie sich gegen uns stellen, aber warum sollten die Menschen mir glauben? Wenn sie auch nur das geringste Zutrauen in uns hätten, würden sie jetzt niemanden angreifen.«
»Manchmal hilft es, die Menschen daran zu erinnern, dass ihnen keine Gefahr droht. Eine kleine diesbezügliche Beruhigung ab und zu kann nie schaden.«
Ihre sorgenvolle Miene glättete sich, und sie wirkte nachdenklich. »Wird es nicht den Anschein haben, als erwarteten wir, dass die Traumweber sich gegen uns wenden werden, wenn wir erklären, dass wir dagegen gewappnet sind?«
»Mag sein. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass sie Traumwebern gegenüber argwöhnischer werden. Ich hätte möglicherweise vorgeschlagen, dass du die Menschen zu überzeugen versuchst, dass Mirar die Traumweber nicht beeinflussen kann oder wird, aber ich fürchte, das wäre töricht. Ich gehe davon aus, dass Mirar tatsächlich wieder die Kontrolle über seine Leute übernehmen wird.«
Ella zog die Brauen zusammen. »Er wird nicht lange genug leben.«
Ihre Zuversicht war ebenso tröstlich wie beunruhigend. »Ich freue mich, das zu hören.« Er hielt inne. »Und vielleicht ist es genau das, was die Menschen hören müssen … Es sei denn, es besteht die Gefahr, dass seine Hinrichtung abermals scheitern wird.«
Sie sah ihn an, und ihre Augen wirkten dunkler als sonst. »Das wird nicht passieren. Es sei denn, er könnte seinen Körper aus Asche neu entstehen lassen.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber wir müssen ihn zuerst finden, daher sprechen wir lieber nicht jetzt schon davon, ihn zu töten.«
Draußen vor der Höhle waren die Baumwipfel in die letzten Strahlen der Sonne getaucht. Emerahl lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand, weit genug vom Wasserfall entfernt, dass ihre Kleider nicht von der Gischt durchnässt wurden.
An ebendieser Stelle hatten sie und Mirar einst Rast gemacht und über ihre Zukunft gesprochen. Damals war sie voller Optimismus gewesen, was die Suche nach anderen Unsterblichen betraf. Mirar hatte damit gerungen, sich eingestehen zu müssen, dass ein Teil von ihm Leiard war. Der Teil, der Auraya liebte.
Nur gut, dass er damals nicht wusste, dass sie seine Liebe nicht erwidert, dachte Emerahl. Das hätte es ihm viel schwerer gemacht, das Bruchstück seiner Persönlichkeit zu akzeptieren, das er erschaffen hatte. Warum hätte er auch Leiard akzeptieren sollen, wenn das bedeutete, dass ihm das Herz brechen würde?
Er war jetzt wieder eine einzige Persönlichkeit. Stärker als zuvor. Er konnte mit der schlechten Nachricht, dass Chaia Aurayas Geliebter gewesen war, fertigwerden. Zumindest hoffte sie das. Es bestand eine geringe Gefahr, dass er abermals eine Persönlichkeitsspaltung durchmachte.
Diese Möglichkeit hatte Auraya wahrscheinlich nicht erwogen. Oder vielleicht hatte sie es doch getan. Vielleicht war das der Grund, warum es ihr widerstrebte, Mirar davon zu erzählen.
Emerahl seufzte. Es war ihr ernst gewesen mit dem, was sie zu Auraya gesagt hatte. Wäre sie in der gleichen Situation gewesen, hätte Emerahl wahrscheinlich genauso für Mirar empfunden. Sie würde allen verbliebenen Gefühlen für den Mann, der am Ende nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte, misstrauen. Allein die Aussicht, diesem Mann zu begegnen, würde sie argwöhnisch machen. Was würde sich sonst noch als unwahr erweisen?
Während Leiard ein Teil von Mirar war, würde er doch nie wieder als der Mann existieren, den Auraya gekannt hatte. Sie trauert um Leiard. Für sie ist er tot. Und sie fühlt sich überlistet und betrogen, weil sie sich in eine Illusion verliebt hat. Warum habe ich das nicht schon früher begriffen?
Das Ganze hatte sich zu einem gewaltigen Schlamassel entwickelt, der weder Auraya noch Mirar guttat. Selbst ohne all diese Komplikationen waren die Chancen, dass Auraya und Mirar gemeinsam hätten glücklich sein können, nicht groß. Auraya war den Göttern noch immer treu ergeben (und obwohl Emerahl nicht viel davon hielt, musste sie doch einräumen, dass die junge Frau das Recht hatte, den Göttern zu folgen, wenn das ihr Wille war). Mirar hasste sie, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Je eher die beiden von der Quelle ihres Unglücks befreit wurden, desto besser. Es würde Mirar sehr verletzen, aber er war schon viele Male über eine unerwiderte Liebe hinweggekommen. Auraya würde sich leichter von ihrer Trauer um Leiard erholen, wenn Mirar nicht in ihrer Nähe war und sie daran erinnerte, was sie verloren hatte.
Emerahl seufzte. Ich hatte gehofft, dass Auraya etwas für Mirar empfindet, so dass wir Unsterblichen uns ein wenig sicherer hätten fühlen können. Sie kicherte. Wenn ich ihren Hass auf mich lenke, wird uns das gewiss nicht weiterbringen. Ich sollte mitfühlender sein.
Sie nahm eine bequemere Position ein. Dann schloss sie die Augen und ließ sich dem Schlaf entgegensinken. Der Drang, sich einem Zustand vollkommener Bewusstlosigkeit zu überlassen, war stark, aber sie widerstand.
Mirar, rief sie.
Es kam keine Antwort. Dort, wo er war, war jetzt früher Abend, und er lag wahrscheinlich noch nicht im Bett. Sie wandte ihre Gedanken dem Geist anderer Menschen zu.
Tamun. Surim.
Ja, Emerahl?
Manchmal sprachen die Zwillinge während einer Traumvernetzung mit einer Stimme.
Es war beunruhigend. Die beiden waren so unterschiedlich in ihrem Wesen. Der Eindruck, den sie vermittelten, wenn sie auf solche Weise eins waren, spiegelte eine Persönlichkeit, die komplizierter war als die eines gewöhnlichen Menschen. Sie waren dann etwas Größeres als ein bloßer Mensch. Etwas Unmenschliches.
In Zeiten wie dieser wusste sie, warum die beiden zu ihrer Zeit so verehrt wurden.
Wie ist es euch ergangen?
So gut wie immer, erwiderte Tamun. Surim schmachtet wieder einmal ein Mädchen aus den Sümpfen an, und ich bemühe mich, mich damit abzufinden.
Tamun erwartet von mir, dass ich Essen beschaffe und Materialien für ihre Webarbeiten, aber sie erlaubt mir nicht, dass ich im Zuge dieser Arbeit auch ein wenig Vergnügen finde, beklagte sich Surim. Es ist nicht gerecht und …
Wie macht sich Auraya?, wollte Tamun wissen.
Tamuns plötzlicher Themenwechsel erheiterte Emerahl.
Sie hat den Schild um ihre Gedanken nur ein- oder zweimal sinken lassen, seit sie herausgefunden hat, wie sie ihn bilden muss.
Mirar hat auch gesagt, dass sie schnell lerne, erwiderte Tamun. Vielleicht liegt das an ihrer Jugend. Sie hatte noch keine Zeit, eingefahrene Denkweisen auszubilden.
Mag sein, stimmte Surim zu.
Gestern Nacht ist etwas geschehen, erzählte Emerahl den beiden. Während sie Gedanken abschöpfte, hat sie etwas gesehen, das sie beunruhigte.
Sie hat dir nicht erzählt, was es war?
Nein. Ich glaube, ich sollte nicht mehr allzu lange hierbleiben.
Aber du hast sie noch nicht in die Geheimnisse der Unsterblichkeit eingeweiht.
Ich werde es ihr anbieten, allerdings bin ich mir sicher, dass sie ablehnen wird - und wenn sie so klug ist, wie Mirar behauptet, wird sie selbst dahinterkommen.
Du hast recht, sagte Tamun, aber das war der Grund, warum Mirar dich dorthin geschickt hat. Er wird vielleicht enttäuscht sein.
Damit wird er leben müssen. Ich werde sie nicht zwingen zu lernen, wenn sie es nicht will.
Wirst du sie lehren, ihr Alter zu verändern, wenn sie es will?
Mirar meint, das sei meine angeborene Gabe und kein anderer könne sie erlernen.
Mirar könnte sich irren, was angeborene Gaben betrifft. Seine Gabe ist das magische Heilen, und doch hat er sie auch andere gelehrt.
Aber niemand beherrscht diese Gabe so gut wie er. Ich hätte nicht überleben können, wäre ich so wie er zerschmettert worden.
Das weißt du nicht. Aber wenn eine angeborene Gabe etwas ist, das ein Unsterblicher besser beherrscht als andere, wird Auraya vielleicht in der Lage sein, ihr Alter zu verändern, auch wenn sie es nicht so gut macht wie du. Vielleicht kannst du lernen zu fliegen, aber nicht so gut wie sie.
Das Fliegen ist keine Gabe, die man nur mit mäßigem Erfolg meistern darf. Ein Scheitern wäre schmerzhaft oder tödlich. Ich werde wohl kaum meine Suche nach der Schriftrolle wiederaufnehmen können, wenn ich in Si festsitze und warten muss, bis etliche Knochenbrüche heilen.
Das ist wahr. Was glaubst du, was Auraya tun wird, wenn du fort bist?
Sie wird ins Offene Dorf zurückkehren. So weitermachen, als sei nichts geschehen.
Ob sie das tun kann, werden wohl die Götter entscheiden, sagte Surim mit plötzlichem Ernst. Es wird ihnen nicht leichtfallen, sie zu töten, aber sie könnten ihr Vertrauen in sie benutzen, um sie in eine Falle zu locken.
Wenn sie scheitern, fuhr Tamun fort, sind wir die Einzigen, an die sie sich um Hilfe wenden kann.
Sie wird eine mächtige Verbündete sein, ergänzte Surim.
Wenn man bedenkt, dass ihr behauptet, die Zukunft lasse sich nicht voraussehen, redet ihr zwei doch gern so, als könntet ihr genau das tun, bemerkte Emerahl.
Für mich gilt das nicht, wandte Tamun ein. Aber wenn Surim sich so dramatisch gebärdet, habe ich immer das Gefühl, ihn unterstützen zu müssen.
Du tust es genauso gern wie ich, beschied Surim seiner Schwester. Mach schon. Gib es zu.
Ich finde keinen Gefallen an unbegründeten Übertreibungen oder theatralischen Gesten, erklärte Tamun. Aber es wäre …
Seid ihr euch sicher, dass die Götter sich gegen Auraya wenden werden?, unterbrach Emerahl das Geplänkel der beiden. Ihr habt nicht den geringsten Zweifel daran?
Zweifel gibt es immer, gestand Surim. Die Zukunft lässt sich nicht voraussehen, nur erahnen. Die Götter haben die Angewohnheit, Unsterbliche zu töten, aber es besteht immer die Chance, dass sie sich bei einem ihrer Anhänger mäßigen.
Vor allem wenn es sich bei der betreffenden Person um eine von Chaias Geliebten handelt, warf Emerahl ein.
Eine Exgeliebte, korrigierte Tamun sie.
Ich denke, es ist an der Zeit, dass Mirar davon erfährt, bemerkte Emerahl. Dass er begreift, was er für Auraya bedeutet.
Die Zwillinge schwiegen einen Moment lang.
Ja. Erzähl es ihm. Er ist unter guten Menschen. Sie werden ihm zur Seite stehen, sagte Tamun.
Und einer der Menschen dort ist durchaus willens, ihm Trost zu spenden, wenn er darum bittet, fügte Surim hinzu.
Trost?, dachte Emerahl erheitert. Die Zwillinge schöpften regelmäßig die Gedanken aller Menschen ab, die sich in der Nähe von Emerahl und Mirar aufhielten, stets auf der Hut vor irgendjemandem, der ihnen vielleicht Böses wollte. Emerahl hatte bisher nicht darüber nachgedacht, was den beiden sonst noch alles auffallen könnte. Also hat Mirar eine Bewunderin im Traumweberhaus. Das kommt zu einem günstigen Zeitpunkt, überlegte sie.
Ich werde es ihm heute Nacht sagen, erklärte sie.
Bring es ihm schonend bei, riet ihr Tamun.
Natürlich. Wofür hältst du mich?
Für jemanden, der ihn seit langer Zeit kennt. Du hast ihn gekannt, als er aus einem härteren Holz war. Er ist nicht mehr derselbe wie damals. Vergiss das nicht.
Ich werde daran denken, versicherte ihr Emerahl.
Schön. Gute Nacht. Und reise wohl.
Als der Geist der Zwillinge in Emerahls Bewusstsein verblasste, wandte sie ihre Gedanken ihrem alten Freund zu.
Mirar, rief sie.
Es kam keine Antwort. Sie löste sich weit genug aus der Traumtrance, um ein Auge zu öffnen. Der Himmel war dunkel, aber dort, wo die Sonne untergegangen war, war noch ein schwacher Schimmer zu erkennen. Es war noch zu früh.
Schlaf ein, Mirar, dachte sie. Weißt du nicht, wie unangenehm es ist, wenn man darauf warten muss, jemandem schlechte Neuigkeiten zu überbringen?
Der Speisesaal des Traumweberhauses war an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Mirar hatte sich als Helfer in der Küche anwerben lassen. Er hatte dem unablässigen Geplauder der Traumweber dort und im Speisesaal gelauscht und die entspannte, sorglose Stimmung des Hauses genossen - und sich darauf konzentriert, mehr von der Sprache der Einheimischen zu lernen.
Seine Fähigkeit, Gefühle aufzufangen, erleichterte es ihm, diese Menschen zu verstehen, aber sie war ebenso ein Hindernis wie ein Segen, wenn es darum ging, die Sprache zu erlernen, die sie benutzten. Manchmal konnte er aufgrund dessen, was er spürte, mehr erraten als aus den eigentlichen Worten, die sie sagten. Er musste sich dazu zwingen, die Worte zu verfolgen und herauszufinden, was sie bedeuteten.
Eine Hilfe war auch der Umstand, dass am Abend zuvor ein anderer Traumweber aus Nordithania angekommen war, der über einige Kenntnis der südlichen Sprachen verfügte. Traumweber Moore war in Dekkar, um Heilmittel zu sammeln oder zu kaufen.
»Die Genrianer hängen der verrückten Idee an, dass Heilmittel dann besonders gut sein müssen, wenn sie exotisch sind und von einem weit entfernten Ort stammen«, hatte er Mirar erzählt. »Sie bezahlen uns eine Menge Geld, das wir dafür nutzen, vollkommen ausreichende einheimische Heilmittel für weniger wohlhabende Patienten zu kaufen. Es gibt viele Heilmittel, die man ausschließlich im Dschungel von Dekkar findet, obwohl es bei meinem letzten Besuch noch mehr davon gab. Diese Leute scheinen entschlossen zu sein, den ganzen Dschungel urbar zu machen.«
Unter den Traumwebern herrschte eine erwartungsvolle Stimmung. Mirar hatte vermutet, dass ein Ritual oder ein Fest stattfinden würde. Nach dem Essen half er, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. Als alles fertig war, folgten die Traumweber Tintel einen Flur hinunter und auf einen Balkon. Tintel hatte Mirar diesen Balkon am Morgen nach seiner Ankunft gezeigt. Er war wie ein hölzerner Innenhof, aber über den Boden erhoben. In der Mitte bildeten Topfpflanzen und niedrige Wälle einen großen Kreis, und die vom Kreis ausgesparten Flächen in den Ecken des Gevierts waren zur Anlage kleiner Gärten genutzt worden, die eine gewisse Abgeschiedenheit boten.
In der feuchten Luft hing der Duft von Blumen, und das unablässige Sirren und Zirpen der Insekten war so stark, dass er es beinahe als Vibration wahrnehmen konnte. Mirar hatte sich an die Hitze noch nicht gewöhnt: Sie machte ihn tagsüber schläfrig und raubte ihm in der Nacht die Ruhe. Die einheimischen Traumweber waren ebenfalls davon betroffen, wenn auch nicht so sehr wie er.
Sie bildeten einen Kreis. Als er die Vorbereitungen zu einer Vernetzungszeremonie erkannte, erwog er noch einmal die Möglichkeit, dass sein Gedankenschirm es ihm vielleicht gestatten würde, an einer Vernetzung teilzunehmen, ohne etwas von sich selbst preiszugeben. Er würde es erst wissen, wenn er es ausprobiert hatte, aber wenn er scheiterte, würde seine Identität vielleicht offenbar werden.
Die Traumweber hielten sich an den Händen und verneigten sich. Ein Stich der Frustration und der Sehnsucht durchzuckte Mirar. Abgesehen von der Vernetzung, an der er in Somrey teilgenommen hatte, war viel Zeit vergangen, seit er das letzte Mal das Gefühl der Zusammengehörigkeit erlebt hatte, das eine Vernetzung mit sich bringen konnte.
Es ist eine grausame Ironie, dass ich, der Mann, der dieses Ritual erfunden und die Lebensweise dieser Menschen begründet hat, jetzt zögere, mich ihnen anzuschließen, dachte er. Aber es gibt vieles, was ich von ihnen lernen kann und was mir Aufschluss über die Menschen Südithanias geben würde. Es ist das Risiko wert.
Der Griff des Mannes, der seine rechte Hand hielt, wurde jetzt kräftiger, dann begann die Hand zu seiner Linken zu zucken. Vorsichtig und darauf bedacht, den Schild um seine Gedanken stark zu halten, suchte er nach dem Geist der Menschen um sich herum. Schon bald konnte er Stimmen hören und Bruchstücke von Erinnerungen sehen.
Er sah die Erinnerung eines Traumwebers, der ein krankes Baby untersucht hatte. Der Säugling hatte unterentwickelte und deformierte Organe, und kein gewöhnlicher Traumweber konnte ihn heilen. Der Vater war ein pentadrianischer Götterdiener, wie Mirar zu seinem Erschrecken erkannte. Der Traumweber hatte dem Mann die schlimmen Neuigkeiten überbracht. Der Pentadrianer hatte seine Worte akzeptiert und gesagt, dass niemand dem Kind helfen könne, wenn ein Traumweber es nicht vermochte …
… Steuern wurden in diesem Jahr erhoben, wahrscheinlich, um den Bau der Brücke zu bezahlen. Ein Diener der Götter hatte die Rechnungsbücher des Traumweberhauses in Augenschein genommen und war mit dem Ergebnis zufrieden, und er hatte nur eine kleine Bestechung gefordert. Er war trotzdem dankbar für den Rat gewesen, den man ihm und seiner Frau gegeben hatte, was ihre Eheprobleme betraf, nicht ahnend, dass es sich dabei um etwas höchst Alltägliches handelte …
… Wasser plätscherte über die Ränder der Plattform, auf der das Traumweberhaus erbaut war. Die Flut hatte letztes Jahr gedroht, bis in das Gebäude vorzudringen. Wie würde es dieses Jahr werden …
… wo einst riesige Bäume gestanden hatten, waren jetzt nur noch verkohlte Stämme inmitten der Ernten übrig geblieben. Erinnerungen an den früheren Wald und die neuen Felder überlappten einander. Schockierend, aber die Einheimischen mussten leben. Das Problem war, dass er diese kleine Pflanze mit den rosafarbenen Blüten nicht hatte wiederfinden können. Hoffentlich war das nicht der einzige Ort, an dem sie …
… sie ist so schön. Das Bild eines nackten Körpers schien auf und wurde hastig wieder unterdrückt …
… wohin würde er dann gehen? Nach Norden, den Golf hinauf? Unwahrscheinlich. Zurück nach Westen? Eher nicht. Was, wenn er nach Süden ging? Was, wenn er irgendwo hier in der Nähe ist? Er könnte gerade jetzt in ebendiesem Innenhof sein …
… diese Geschichten, nach denen Mirar zurückgekehrt sei, gründlich überdenken. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich sie glaube. Wenn Mirar wieder da ist, warum hat ihn dann keiner von uns gesehen? Nein …
Mirar unterdrückte den Drang, laut aufzulachen. Selbst während einer Gedankenvernetzung tratschten die Traumweber noch über seine Rückkehr. Aber dann wurde er wieder ernst. Sie hielten nach ihm Ausschau. Er musste vorsichtig sein.
Oder vielleicht nicht? Wäre es wirklich so schlecht, wenn er seine Identität bekannt werden ließe?
Während die Vernetzung ihren Gang nahm, hörte er zu und beobachtete. Wie immer erregten die Erinnerungen einer Person die Aufmerksamkeit der anderen. Ratschläge wurden erteilt, Trost zugesprochen. An einer Stelle tauchte ein Traumweber in Erinnerungen an ein Fest in der Stadt ein, das vor kurzem stattgefunden hatte, und die anderen sahen voller Interesse zu. Niemand schien auf Mirars eigene Gedanken einzugehen, und dann hörte er Tintel bemerken, dass er sich der Vernetzung nicht angeschlossen habe. Es hat funktioniert, überlegte er voller Erleichterung.
Eine Weile später läutete Tintel das Ende der Vernetzung ein. Die Traumweber zogen ihren Geist zurück, lenkten ihr Bewusstsein wieder auf die eigene Person und versicherten sich dabei ihrer Identität. Mirar öffnete die Augen und ließ die Hände, die er gehalten hatte, los. Die Traumweber um ihn herum taten dasselbe. Er bemerkte, dass eine Frau ihn beobachtete.
Dardel. Sie lächelte und zwinkerte ihm zu, so auffällig wie eh und je. Er erwiderte ihr Lächeln, bis etwas an seinen Gedanken zupfte. Er suchte danach, aber es war bereits fort.
Vermutlich versucht irgendjemand, sich über eine Traumvernetzung mit mir in Verbindung zu setzen.
Einige Traumweber blieben zurück und fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen, um miteinander zu reden. Andere verabschiedeten sich. Mirar schlüpfte davon, ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Als es einigermaßen still um ihn herum wurde, spürte er wieder die Berührung in seinem Geist.
Er legte sich auf sein Bett und ließ sich in eine Traumtrance sinken. Dort verweilte er für einige Minuten. Gerade als er sich zu fragen begann, ob er sich geirrt hatte, erklang am Rand seiner Gedanken eine vertraute Stimme.
Mirar?
Emerahl.
Endlich! Was hat dich so lange aufgehalten?
In ihrem Tonfall lag ein Anflug von Hinterhältigkeit, und er ertappte sich dabei, dass er an Dardel dachte. Gewissensbisse stiegen in ihm auf.
Eine Vernetzungszeremonie, antwortete er.
Eine Vernetzungszeremonie? Ich dachte, du wolltest sie vermeiden?
Ich habe nur teilgenommen. Ich konnte den Gedanken der anderen lauschen.
Hast du etwas Nützliches in Erfahrung gebracht?
Vielleicht. Wie geht es Auraya?
Ein guter Freund würde zuerst fragen, wie es mir geht.
Ich bin kein guter Freund. Wie geht es dir?
Besser. Ich werde bald von hier fortgehen.
Du hast sie in das Geheimnis der Unsterblichkeit eingeweiht?
Ja und nein. Ich habe es ihr erklärt, aber ich habe sie nicht unterrichtet. Ich kann sie nicht dazu zwingen, es zu lernen, wenn sie es nicht will. Und sie will es nicht.
Das kann ich mir vorstellen. Die Enttäuschung traf ihn stärker, als er gedacht hätte.
Sie wird es wahrscheinlich selbst herausfinden, sollte sie jemals ihre Meinung ändern.
Das wird sie tun. Und es wird ihr mühelos gelingen.
Davon bin ich überzeugt, stimmte Emerahl ihm zu.
Dann hast du deine Meinung über sie also geändert?
Ich habe nie behauptet, dass sie nicht klug sei.
Aber du magst sie jetzt ein wenig mehr.
Was bringt dich auf diese Idee?
Du hast aufgehört, im Zusammenhang mit ihr Worte zu benutzen wie »in die Götter vernarrt« und »voller Selbstmitleid«.
Ach ja? Vielleicht bin ich es leid, mich zu wiederholen. Ich sollte mir bessere Schmähungen einfallen lassen.
Das solltest du wirklich.
Oder vielleicht ist die Reihe jetzt an dir. Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich. Ich habe den Zwillingen versprochen, sie dir schonend beizubringen, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich das tun soll.
Er stutzte. Es war schwer zu sagen, ob sie sich einen Scherz mit ihm erlauben wollte oder ob sie es ernst meinte.
Ich bin an deine Direktheit gewöhnt, Emerahl. Welche Neuigkeiten hast du für mich, die so schrecklich sind?
Sie schwieg einen Moment lang, und als sie weitersprach, tat sie es mit leiser Stimme.
Auraya liebt dich nicht, Mirar. Sie hat Leiard geliebt. Obwohl sie weiß, dass er ein Teil von dir ist, ist das nicht genug. Du bist ein Fremder für sie, und sie vertraut dir nicht. Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen. Ich würde genauso empfinden.
Er sagte nichts. In Emerahls Worten schwang nichts von einer Lüge mit. Es war unmöglich, irgendetwas von dem, was sie gesagt hatte, falsch zu verstehen. Er fühlte sich plötzlich leer. Dort, wo zuvor etwas Wunderbares und Strahlendes gewesen war, war jetzt nur noch ein hohler Raum. Ein Rauchfaden, wo zuvor ein Feuer geschwelt hatte …
Oh, was faselst du da nur?, schoss es ihm durch den Kopf. Dein Herz ist also einmal mehr gebrochen worden. Wirst du dich jetzt wieder als Dichter versuchen? Ich bin mir nicht sicher, ob die Welt das überleben würde. Obwohl es vielleicht eine hübsche Idee wäre, um die Götter zu quälen.
Aber Sarkasmus und Selbstironie halfen nicht. Das hatten sie noch nie getan. Dies war etwas, das er für den Augenblick einfach würde ertragen müssen. Und irgendwann würde er Auraya vergessen.
Obwohl das vielleicht ein wenig schwierig werden könnte, wenn sie unsterblich ist. Wenn ich jedes Mal, wenn ich sie sehe oder etwas über sie höre, all die Hoffnung und den Schmerz noch einmal durchmachen müsste. Und wenn…
Mirar?
Oh. Emerahl. Entschuldige.
Ist alles in Ordnung mit dir?
Natürlich nicht. Aber ich werde mich auch nicht aus dem Fenster stürzen. Wenn Auraya und ich irgendwann in Zukunft ein wenig Zeit miteinander verbringen und einander neu kennenlernen, glaubst du, dass dann eine Chance besteht, dass sie …?
Ich würde mir an deiner Stelle keine allzu großen Hoffnungen machen. Es gibt noch etwas, das du wissen musst. Sie hatte in der Zwischenzeit einen anderen Geliebten.
Ich weiß. Das habe ich aus ihren Gedanken gelesen, als ich sie zu heilen lehrte.
Hast du herausgefunden, wer es war?
Nein. Ein Gefühl böser Vorahnung schloss sich um Mirar. War es Juran? Das wäre verständlich. Das könnte ich akzeptieren.
Es war nicht Juran. Sie hielt inne. Während das Schweigen sich in die Länge zog, wurde Mirar ungeduldig. Dramatisierte sie das Ganze, oder widerstrebte es ihr tatsächlich, es ihm zu erzählen?
Es war Chaia.
Er spürte, wie sein ganzes Wesen vor Kälte erstarrte. Eine Erinnerung an hilflose Eltern und ein dünnes, ausgezehrtes Mädchen stieg in ihm auf. Man hatte noch Spuren der Schönheit sehen können, die das Gesicht der jungen Frau einst besessen hatte, aber in ihren Augen hatte Wahnsinn gestanden. Sie war ans Bett gefesselt gewesen, denn wenn sie frei war, kratzte und kniff sie sich ständig, am häufigsten zwischen den Beinen und an den Brüsten.
In jenen Zeiten hatte es keine Gesetze gegeben, die Traumheilungen untersagten. Er hatte sich mit dem Geist des Mädchens vernetzt. Er hatte erwartet, mit etwas Unangenehmem konfrontiert zu werden. Aber was er sah, hatte seinen Hass auf die Götter um ein Zehnfaches gesteigert.
Chaia.
Der Gott hatte dieses Mädchen zu seiner Geliebten gemacht und Magie auf eine Weise genutzt, die exquisite Wonnen bereitete. Was er von ihr als Gegenleistung erhalten hatte, hatte Mirar nie herausfinden können. Als Chaia ihrer müde geworden war, hatte er sie in diesem Zustand sich selbst überlassen, erfüllt vom wilden Verlangen nach einer Lust, die ihr Körper ihr auf natürliche Weise nie wieder verschaffen konnte.
Mirar hatte sie nur vor dem Wahnsinn bewahren können, indem er einen Teil ihrer Erinnerungen blockierte. Von da an aß sie widerstrebend und fand nie wieder Interesse am Geschlechtsakt, und sie lebte in einem Zustand ständiger Langeweile. Es war ihr unmöglich, Freude irgendeiner Art zu empfinden. Er hatte beinahe gewünscht, er hätte sie sterben lassen.
Es ist Vergangenheit, versicherte Emerahl ihm. Sie scheint unter keiner der üblichen Folgen zu leiden.
Er hatte keinen Hinweis auf Wahnsinn gefunden, als er Auraya in Si zu heilen gelehrt hatte. Aber andererseits hatten Chaias Opfer nicht alle den Verstand verloren - lediglich ihre Fähigkeit, das Leben und den Sex zu genießen.
Kein Wunder, dass Auraya nichts empfindet …
Mirar? Geht es dir gut?
Natürlich nicht, entgegnete er ein wenig zu scharf. Tut mir leid, Emerahl. Ich werde später mit dir reden.
Er zog sich aus ihrem Geist zurück, öffnete die Augen und starrte an die Wand vor ihm.
Chaia. Von allen Geliebten, die sie hätte erwählen können… falls sie überhaupt eine Wahl hatte…
Es klopfte leise an der Tür.
Er blickte langsam auf. Das gleiche hoffnungsvolle Klopfen war jede Nacht ertönt. Leise, um ihn nicht zu erschrecken. Es wurde niemals wiederholt, als diene es nur dazu, ihm klarzumachen, dass sie noch immer Interesse hatte.
Dardel.
Er sollte das Klopfen ignorieren. Aber welche Alternative hatte er, abgesehen davon, dass er die ganze Nacht wach liegen und grübeln konnte? Was würde das nützen?
Er erhob sich vom Bett. Als seine Hand auf dem Türknauf lag, hielt er inne, aber sein Gewissen blieb still. Stattdessen kehrten seine Gedanken unweigerlich dorthin zurück, wo er sie nicht haben wollte.
Chaia.
Er öffnete die Tür und zog die lächelnde, angenehm überraschte Dardel in sein Zimmer.
Es war so einfach.
Auraya lief im Leeren Raum auf und ab. Während der letzten Stunde war sie immer wieder im Kreis gegangen und hatte langsam den Rand des Bereichs abgeschritten, in dem es keine Magie gab. Obwohl ihr Gedankenschild zu einer ständigen Angewohnheit geworden war, über die sie sich kaum noch den Kopf zerbrach, wollte sie den Leeren Raum nicht verlassen, bevor Jade ihr bestätigte, dass sie es ohne Gefahr tun konnte.
So einfach. Ich kann nicht fassen, dass es so einfach war. Und man braucht dazu praktisch keine Magie.
Nachdem Jade am Morgen aufgebrochen war, hatte Auraya den Rat der älteren Frau befolgt: Sie hatte einige Zeit damit verbracht, über magische Heilung nachzudenken und wie sie sie auf sich selbst anwenden konnte. Die Neugier hatte sie dazu getrieben, sich auf ihren Körper zu konzentrieren und vorsichtige Experimente anzustellen. Binnen weniger Augenblicke war ihr die Logik dessen, was Jade ihr erklärt hatte, bewusst geworden.
Andere Überlegungen hatten sie veranlasst, den nächsten Schritt zu tun und das Wissen anzuwenden. Wenn sie in den Augen der Götter verdammt war, nur weil sie wusste, wie sie unsterblich werden konnte, dann konnte sie auch geradeso gut zu einer Unsterblichen werden.
Es war überraschend einfach gewesen.
Die Erkenntnis, dass sie dieselbe Gabe benutzen konnte, um sich von fast jeder Verletzung zu heilen, hatte ihr geholfen, diesen Entschluss zu fassen. Diese Gabe hatte es Mirar ermöglicht, zerschmettert unter einem Gebäude zu überleben. Wenn sie Huan trotzte, würde sie vielleicht etwas Ähnliches tun müssen.
Der Gedanke, so zu enden wie Mirar, als gejagte Feindin der Göttin, entsetzte sie, aber sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie Chaias Anhängerin bleiben würde.
Er wird mir verzeihen, wenn er erfährt, dass Huan mir die magische Heilung zu erlernen gestattet hat, um den anderen Göttern die Erlaubnis abzuringen, mich zu töten.
»Wir verschaffen uns ein wenig Bewegung, wie?«
Auraya drehte sich um und sah Jade mit zwei Eimern in die Höhle treten. Sie zuckte die Achseln, dann folgte sie Jade zu den Betten hinüber, neugierig zu sehen, was die Frau diesmal gefunden hatte. Jade stellte die Eimer neben dem Kochstein ab.
»Es wird dich freuen zu hören, dass du den Leeren Raum jetzt verlassen kannst«, sagte sie. »Ich habe deine Gefühle und Gedanken seit Tagen nicht mehr wahrnehmen können.«
»Ich hatte schon vermutet, dass es bald so weit sein würde«, erwiderte Auraya. Beide Eimer waren gefüllt mit klarem Wasser, aber in einem schwammen eigenartige Geschöpfe. »Was sind das für Tiere?«
»Shrimmi. Sie sind schwer zu fangen, aber köstlich. Ich dachte, wir könnten uns ein schönes Abschiedsessen gönnen, bevor ich aufbreche.«
»Wann gehst du fort?«
»Morgen.«
Auraya ging zu ihrem Bett und setzte sich. Es juckte sie in den Fingern, Jade zu erzählen, dass sie Unsterblichkeit erreicht hatte. Außer Mirar gab es niemanden, der ihr dazu gratulieren würde, statt entsetzt zu sein. Und Jade hatte gewollt, dass sie das Geheimnis entschlüsselte.
Dennoch war gerade das der Grund, warum Auraya zögerte. Was war, wenn Jade einen geheimen, boshaften Grund hatte, Auraya dazu zu verleiten, diese Gabe zu erlernen?
Ich weiß nicht, wie weit ich dieser Frau vertrauen kann. Sie behauptet, sie habe mir auf Mirars Bitte hin geholfen, aber es könnte noch einen anderen Grund dafür geben, einen Grund, den ich nicht kenne.
Eines lag auf der Hand: Indem Jade einer der Anhängerinnen der Götter geholfen hatte, Gaben zu erlernen, die sie missbilligten, hatte sie einen kleinen Schlag gegen sie geführt. Aber falls es Jades Absicht war, Zwistigkeiten zwischen den Göttern und einer ihrer Anhängerinnen zu stiften, hatte sie einen Konflikt, der ohnehin bereits schwelte, nur geringfügig verschärft. Trotzdem, falls das tatsächlich Jades Ziel gewesen war, wäre es besser, Gewissheit zu haben.
Und Auraya konnte keine andere Möglichkeit erkennen, wie man ihre neu gewonnene Unsterblichkeit gegen sie verwenden konnte. Doch wenn es eine solche Möglichkeit gab, sollte sie davon erfahren.
»Ich bin deinem Rat gefolgt und habe gründlich nachgedacht«, begann Auraya.
Jade blickte auf und zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja? Was hast du herausgefunden?«
»Du hattest recht. Es war einfach.«
»Einfach, wie?« Jade schüttelte den Kopf. »Ein einziger Versuch. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der so schnell lernt.« Sie kniff die Augen zusammen. »Bist du dir sicher?«
Auraya lächelte, erheitert über den Argwohn der anderen Frau. »Ganz sicher. Aber andererseits wusste ich bereits, wie man heilt.«
Jade nickte und wandte den Blick ab. Dann griff sie nach dem Eimer und goss klares Wasser in die Aushöhlung des Kochsteins.
»Gibt es noch andere Dinge, für die man diese Gabe benutzen kann?«, fragte Auraya.
Die Frau sah sie scharf an. »Was zum Beispiel?«
»Mir ist der Gedanke gekommen, dass man sie benutzen könnte, um das Aussehen einer Person zu verändern.«
Jade musterte Auraya versonnen. »Möchtest du dein Aussehen verändern?«
»Ich?« Auraya lachte leise. »Wenn ich etwas aus meiner Fähigkeit, Gedanken zu lesen, gelernt habe, dann dies: Die Menschen sind nie zufrieden mit ihrem Aussehen. Ich würde gern einige Dinge korrigieren. Ich habe sogar erwogen, es zu versuchen, aber ich hatte keinen Spiegel, und ich dachte, ich sollte dich vielleicht vorher fragen, für den Fall, dass ich etwas Dauerhaftes tue.«
»Das war klug.«
»Dann habe ich mich gefragt, ob ich mich anders fühlen würde, wenn ich mein Aussehen veränderte«, fuhr Auraya fort. »Wenn ich mich anders fühlen würde, würde das bedeuten, dass ich ein anderer Mensch wäre? Und wenn ich erst einmal angefangen hätte, würde ich dann in Versuchung geraten, immer wieder etwas verändern zu wollen? Könnte ich mich sogar in eine Siyee verwandeln?« Sie schüttelte den Kopf. »Daraufhin kamen mir weitere Möglichkeiten in den Sinn. Könnte ein Mensch sein körperliches Alter oder sein Geschlecht verändern? Könnte er sich klüger machen? Also, ist es möglich, solche Veränderungen vorzunehmen?«
Jade lächelte. »Du kannst dein Aussehen verändern, aber was den Rest betrifft … Ich weiß es nicht. Es ist klug von dir zu zögern. Das Aussehen hat tatsächlich Einfluss auf die Identität eines Menschen, und Mirar ist ein gutes Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn man an seiner eigenen Identität herumpfuscht.«
Auraya nickte. »Kann ich dich als Gegenleistung für das, was du mir beigebracht hast, ebenfalls etwas lehren?«
Jade wirkte erheitert. »Ich bitte dich nur darum, uns nicht an die Götter zu verraten.«
»Das ist annehmbar. Mit ›uns‹ meinst du dich und Mirar?«
Jade zögerte. »Ja.«
»Es würde dich also nicht interessieren zu lernen, wie man fliegt?«
Jade musterte Auraya mit undeutbarer Miene. »Das würdest du mir beibringen?«
»Ja. Ich bin neugierig - ich wüsste gern, ob auch ein anderer dazu in der Lage wäre.«
Jade blickte auf die Shrimmi hinab, dann sah sie wieder zu Auraya auf. »Ich schätze, ich könnte noch einen Tag länger bleiben.«
Dardel öffnete die Augen und war einen Moment lang verwirrt. Die Möbel in ihrem Zimmer standen falsch. Einige Dinge fehlten. Dann sah sie den Mann, der auf dem Stuhl am Fenster saß, und sie lächelte, als ihr wieder einfiel, dass sie im Zimmer von Traumweber Wilar war.
Wilar beobachtete sie. Er hatte noch immer diesen gehetzten Ausdruck in den Augen, aber als er bemerkte, dass sie wach war, verzogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln.
»Tintel hat nach dir gesucht«, bemerkte er.
Sie blickte zum Fenster hinüber. Aufgrund des Winkels, in dem das Sonnenlicht einfiel, vermutete sie, dass es später Vormittag sein musste. Sie reckte sich und kostete die Berührung des Lakens auf ihrer nackten Haut aus. »Ich habe mich gestern Nacht gefragt, ob ich überhaupt etwas Schlaf bekommen würde.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass es dir etwas ausgemacht hätte.«
»Nicht das Geringste.« Sie richtete sich auf, hüllte sich in die Decke und suchte nach ihren Kleidern. Sie lagen auf dem Boden neben dem Bett. »Tatsächlich«, sagte sie, »ist mir noch nie ein Mann mit solcher Durchhaltekraft begegnet. Und ich staune auch über meine eigene Ausdauer. Ich sollte mich buchstäblich ausgelaugt fühlen, aber das ist nicht der Fall.« Sie las ihre Kleider auf, dann hielt sie inne und blickte zu ihm hinüber. »War das eine einmalige Angelegenheit?«
Seine Mundwinkel zuckten vor Erheiterung. »Es ist eine vorübergehende Angelegenheit, aber wie vorübergehend, das hängt davon ab, wie lange ich hierbleibe und ob unser beiderseitiges Interesse erhalten bleibt.«
Sie kicherte. »Ich glaube nicht, dass ich deiner müde werde. Ich glaube sogar, dass ich von jetzt an viel wählerischer sein werde, mit wem ich ins Bett gehe. Seit gestern Nacht habe ich höhere Erwartungen an einen Mann.« Sie sah ihn mit gespieltem Zorn an. »Du hast mich wahrscheinlich für alle anderen Männer ruiniert.«
Alle Erheiterung wich aus seinen Zügen, und er zuckte sichtlich zusammen. Sie bedauerte ihre Worte sofort. Zweifellos gab es einen Grund für diesen gehetzten Ausdruck, und sie hatte ihn offensichtlich daran erinnert. Eine frühere Geliebte vielleicht? Das würde sein anfängliches Zögern erklären.
Sie ließ die Bettdecke fallen. Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten hinab, und der gequälte Ausdruck in seinen Augen verschwand. »Wenn ich jemanden fände, der bereit wäre zu lernen, könnte ich ihm natürlich ein wenig von dem beibringen, was du mir gezeigt hast«, sagte sie, während sie begann, sich anzuziehen.
Ihre Worte brachten ein Lächeln auf sein Gesicht. Gut.
Während sie sich ankleidete, verlor sie sich in Erinnerungen. Wie konnte ein Mann nur ein so guter Liebhaber sein? Bisweilen war es ihr fast so vorgekommen, als könne er ihre Gedanken lesen. Offenkundig verstand er eine Menge vom Körper einer Frau. Mehr als der durchschnittliche Traumweber, der seinerseits mehr davon verstehen musste als der durchschnittliche Mann, weil er kranke Frauen behandelte. Wilar wusste vielleicht mehr über ihren Körper als sie selbst, eine Erkenntnis, die sie beunruhigend fand.
Offenkundig hatte er viele Frauen gekannt. Eine andere Erklärung gab es nicht. Wer hätte gedacht, dass dieser stille, zurückhaltende Traumweber eine solche Vergangenheit hatte?
Sie schaute zu ihm hinüber. Er blickte wieder aus dem Fenster, und auf seinem Gesicht lag ein geistesabwesender Ausdruck. Jetzt sah er alt und traurig aus. Manchmal wirkte er ein wenig verloren, aber das war verständlich. Er war weit fort von zu Hause.
Hatte er irgendwann einmal erklärt, warum er hier war? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Fest stand, dass ihn etwas Rätselhaftes umgab. Aber für sie, die ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte, schien jeder Fremde aufregend und rätselhaft zu sein.
Er ist mir gleichzeitig seltsam vertraut. Wie ein Freund, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen habe. Er hat irgendetwas an sich …
Als sie ihr Traumweberwams über ihre Tunika zog, sah sie wieder zu ihm hinüber. »Soll ich heute Nacht herkommen?«
Er lächelte. »Lass uns abwarten, wie wir uns heute Abend fühlen. Vielleicht willst du lieber den verlorenen Schlaf nachholen.«
»Unwahrscheinlich.« Augenzwinkernd wandte sie sich ab und ging zur Tür. Als sie sich noch einmal umdrehte, bevor sie die Tür schloss, blickte er wieder aus dem Fenster, und ein schwaches Lächeln lag auf seinen Zügen. Ein seltsames, geheimnistuerisches Lächeln.
Als sie leise vor sich hin summend in ihr Zimmer ging, kam sie an Nirnel und Teiwen vorbei, einem jungen Traumweberpaar. Beide betrachteten ihre zerdrückten Kleider, und sie musterte sie mit einem selbstgefälligen Lächeln.
»Dann hat der neue Traumweber also endlich nachgegeben, wie?«, fragte Nirnel.
»Das hat aber länger gedauert als sonst«, bemerkte Teiwen. »Du lässt nach, Dardel.«
»Du hast ganz recht«, erwiderte sie. »Es hat länger gedauert als sonst. Genau genommen hat es die ganze Nacht gedauert.«
Die beiden verdrehten die Augen. Dardel ging kichernd weiter. Wilar entsprach genau dem Bild, das sie immer von Mirar gehabt hatte. Kenntnisreich, mit mächtigen Gaben gesegnet (sie wusste, dass das auf Wilar zutraf - sie hatte Tintels Geschichten gehört), nicht zu jung, nicht zu alt und ein guter Liebhaber. Alles, was sie überhaupt zu den Traumwebern hingezogen hatte.
Auf halbem Weg zu ihrem Zimmer verlangsamte sie ihren Schritt, als ihr plötzlich eine Idee kam.
Was ist, wenn er Mirar ist? Die jüngeren Traumweber haben gesagt, Mirar sei in den Süden gekommen. Was, wenn es so wäre und er hier ist und sich als Reisender ausgibt?
Bei dem Gedanken beschleunigte sich ihr Puls. Selbst wenn es nicht wahr war, was konnte es schaden, sich eine kleine Phantasie zu gönnen?
Bei formellen Essenseinladungen der Stimmen gab es immer eine unterschwellige Anspannung, die niemals nachließ, obwohl ihr Gast, der sennonische Botschafter und Neffe des sennonischen Kaisers, es nicht bemerkt zu haben schien. Reivan nahm noch ein Stück kandierte Gewürzwurzel und kaute langsam, während sie dem müßigen Geplauder lauschte. Genza gab ein witziges Gerücht zum Besten, das in der Stadt die Runde machte, und ihr Gefährte, Vilvan, bewies gelegentlich seinen trockenen Humor.
Wenn die anderen lachten, lächelte Imenja nur. Falls dem Botschafter aufgefallen war, dass sie und Nekaun nicht ein einziges Wort gewechselt hatten, so ließ er sich nichts davon anmerken. Imenja nahm gelegentlich an Gesprächen teil, aber Reivan wusste, dass ihre Herrin das nur tat, um zu beweisen, dass sie zuhörte. Sie war der Inbegriff eines höflichen Gastes, obwohl sie sich eigentlich wie eine Gastgeberin hätte benehmen sollen. Oder wie eine Matriarchin. Oder zumindest wie jemand, der ein Wort mitzureden hatte.
Nekaun lachte über das Ende der Geschichte, und beim Klang seiner Stimme lief Reivan ein Schauer über den Rücken. Sie zwang sich entschlossen, nicht darüber nachzudenken, warum das so war. Stattdessen griff sie nach ihrem Glas und trank das Wasser aus.
Es ist schon spät, überlegte sie. Und es sieht nicht so aus, als würden wir bald aufbrechen. Manchmal kommen mir diese Essenseinladungen so vor, als würden sie nie ein Ende finden.
Plötzlich stand Nekaun auf. »Es ist schon spät«, sagte er, »und unser Gast hat eine weite Reise hinter sich. Er muss müde sein, und ich weiß, dass wir«, er sah zuerst Imenja an, dann die anderen Stimmen, »morgen viel zu tun haben. Wir sollten uns für die Nacht zurückziehen.«
Ist das Erleichterung auf Imenjas Gesicht?, fragte sich Reivan. Sie rückte ihren Stuhl zurecht und stand auf, dann wartete sie, bis sie an die Reihe kam, dem Botschafter eine gute Nacht zu wünschen. Als der junge Mann gegangen war, folgte Reivan Imenja aus dem Raum.
»Brauchst du heute Abend noch etwas von mir?«, fragte sie.
Imenja sah Reivan an und lächelte, und diesmal war es ein warmes, aufrichtiges Lächeln.
»Nein. Es gibt da nur noch eine Kleinigkeit, um die ich mich kümmern muss, aber dafür werde ich dich nicht brauchen. Geh zu Bett, Reivan. Du siehst müde aus.«
Reivan machte das Zeichen des Sterns. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Reivan drehte sich um und ging in ihr Quartier. Die Wärme der vergangenen Nächte hatte ihren Schlaf rastlos gemacht. Obwohl sie es kaum erwarten konnte, ins Bett zu kommen, bezweifelte sie, dass sie heute Nacht besser ruhen würde.
Ihre Zweifel erwiesen sich als begründet. Sobald sie im Bett lag, wusste sie, dass der Schlaf weder bald noch leicht kommen würde. Seufzend ging sie im Geiste noch einmal die Arbeit des Tages durch und vergegenwärtigte sich, welche Aufgaben am Morgen auf sie warteten.
Dann rief jemand ihren Namen.
Es war eine Männerstimme. Sie war kaum lauter als ein Flüstern und kam vom Balkon. Sie wusste sofort, wer es war.
Ich sollte es ignorieren, dachte sie. Wenn ich das tue, wird er wieder gehen.
Aber sie wollte nicht, dass er ging. Außerdem war er die Erste Stimme. Man ignorierte den Anführer der Pentadrianer und den höchsten Diener der Götter nicht.
Also stand sie auf, ging auf den Balkon und blickte hinab. In der Dunkelheit darunter stand, kaum sichtbar, eine Gestalt.
Nekaun.
»Guten Abend, Reivan.«
»Erste Stimme.«
»Förmlichkeiten sind jetzt nicht notwendig.«
»Nein?«
»Nein. Es ist niemand hier, außer uns beiden. Ich würde es vorziehen, wenn du mich Nekaun nennst, wenn wir unter uns sind. Würdest du das für mich tun?«
»Wenn du es so wünschst.«
»Ich wünsche es.«
»Dann werde ich es tun, Nekaun.«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Du bist so schön, Reivan.«
Ihr Herz tat etwas, von dem sie wusste, dass es körperlich unmöglich war. Sie stellte fest, dass sie unwillkürlich eine Hand auf die Brust gepresst hatte.
»Findest du mich attraktiv, Reivan?«
Was für eine lächerliche Frage, dachte sie. Jeder, der so gut aussieht, weiß, dass andere ihn attraktiv finden, ganz gleich, ob er Gedanken lesen kann oder nicht. Und er kann Gedanken lesen.
Warum wollte er also, dass sie es aussprach?
»Manchmal und wenn es von der richtigen Person kommt, wirkt es realer, so etwas ausgesprochen zu hören.« Er seufzte. »Irgendwie bedeutet es mehr.«
Sie spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog. »Ja, Nekaun. Ich finde dich attraktiv. Zu attraktiv.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum ›zu‹ attraktiv?«
»Es ist… es ist peinlich. Ich bin Imenjas Gefährtin.«
»Das bist du. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht … Freunde sein können.«
»Nein. Aber es ist trotzdem peinlich.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf. Es ist nichts Unrechtes daran, wenn wir zusammen sind. Als Freunde. Es wäre nicht einmal Unrecht, wenn wir mehr als Freunde wären.«
Mehr als Freunde. Sie stellte fest, dass sie nicht sprechen konnte.
»Reivan?«
»Ja?« Ihre Stimme klang dünn und atemlos.
»Würdest du mich hereinbitten, wenn ich an deine Tür käme?«
Sie holte mehrmals tief Luft. »Ich würde dich nicht abweisen.«
Er verschwand aus ihrem Blickfeld. Sie konnte kaum atmen, und ihr Herz raste. Was tue ich hier? Ich habe ihn tatsächlich hereingebeten. Seine Bemerkung gerade eben war ganz und gar nicht zweideutig. Ich bin keine Närrin. Ich weiß, dass es nicht nur mein Zimmer ist, in das er eingeladen zu werden wünscht.
Seine Schritte verklangen. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und hielt inne. Er kommt zur Tür. Jetzt.
Das ist eine ganz schlechte Idee. Was ist mit Imenja? Sie wird nicht glücklich darüber sein. Ich weiß es. Reivan sah sich hastig um, dann eilte sie aus dem Schlafzimmer. Die Haupttür zu ihren Gemächern war nur wenige Schritte entfernt. Mit hämmerndem Herzen starrte sie sie an.
Ich muss ihn abweisen. Ich werde… ich werde ihm sagen, dass ich meine Meinung geändert hätte. Gewiss wird er es verstehen. Ich kann das unmöglich tun.
Er wird wissen, dass ich lüge.
Das Klopfen ließ sie zusammenfahren, obwohl sie es erwartet hatte. Sie schluckte heftig und zwang sich, zur Tür zu gehen. Dann legte sie eine Hand auf den Knauf, holte tief Luft und öffnete.
Er kam in den Raum wie ein Schwall warmer Luft. Sein Geruch umhüllte ihre Sinne. Er trat näher, und warme Hände umfassten ihr Kinn. Sie blickte ihm ins Gesicht, außerstande zu glauben, dass dieser leidenschaftliche Ausdruck des Begehrens ihr galt.
»Ich…«, begann sie.
Er runzelte besorgt die Stirn. »Was ist los?«, fragte er sanft.
»Ich … habe das noch nie getan«, antwortete sie schwach.
Er lächelte. »Dann wird es Zeit, dass sich daran etwas ändert«, sagte er. »Und ich wüsste keinen besseren Lehrer als den ehemaligen Obersten Götterdiener des Tempels von Hrun.«
Als diese Worte in ihrem Kopf widerhallten, war sie nicht länger in der Lage, ihre Gedanken hinreichend zu sammeln, um zu protestieren. Allerdings brachte sie ein Lachen zustande, als er sie hochhob, geradeso wie die Männer es in den dummen, romantischen Geschichten taten, die manche Frauen so gern lasen. Dann trug er sie ins Schlafzimmer.
Ich werde es bereuen, dachte sie, während er seine Roben abstreifte und sie zögernd aus ihrem Nachthemd schlüpfte. Eine Weile später, als seine Lippen und seine Zunge sich zu ihren Brustwarzen hinunterbewegten und seine Finger sanft über ihren Bauch strichen, änderte sie ihre Meinung.
Nein, ich werde es nicht bereuen. Nichts davon.
Emerahl beobachtete Aurayas Gesicht, als sie hinter dem Wasserfall hervor ins Sonnenlicht traten. Die Miene der ehemaligen Weißen glättete sich, und sie blieb stehen, um tief und voller Freude die frische Luft einzuatmen. Als sie bemerkte, dass Emerahl sie ansah, lächelte sie.
»Es tut gut, wieder draußen zu sein«, sagte sie, stieg auf einen Felsbrocken und reckte sich. »Es kommt mir so vor, als sei ich monatelang nicht mehr geflogen.«
»Dann macht es dir also Spaß?«
Auraya grinste. »Ja. Es ist so … hemmungslos. Wenn ich fliege, fühle ich mich ungebunden. Frei.«
Als die jüngere Frau wieder heruntersprang, kicherte Emerahl. »So fühle ich mich, wenn ich segle. Nur ich und ein Boot und keine andere Sorge als das Wetter.«
»Ah. Das Wetter. Man ist gut beraten, bei Sturm nicht zu fliegen. Da wären nicht nur die Kälte und der Regen, sondern auch das Risiko, dass man von einem Blitz getroffen wird oder gegen einen Berg fliegt, der in den Wolken verborgen war.«
»Das klingt genauso gefährlich wie das Segeln in einem Sturm«, bemerkte Emerahl trocken.
Auraya blickte versonnen drein und nickte dann. »Also, wie wollen wir den Flugunterricht beginnen?«
»Ich habe keine Ahnung. Du bist diesmal diejenige, die unterrichtet.«
»Das ist wahr.« Auraya sah sich um, dann ging sie auf einen flachen, freien Bereich ein kleines Stück weiter flussabwärts zu. »Ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen soll. Die anderen Weißen konnten es nicht lernen, aber ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie unfähig waren oder dass ich eine schlechte Lehrerin bin.«
»Ich schlage vor, du unterrichtest es, indem du deine Schülerin in die gleiche Situation versetzt, in der du warst - nur dass Mirar mir erzählt hat, du hättest deine Gabe bei einem Sturz von einer Klippe entdeckt.«
Auraya sah Emerahl mit ernster Miene an. »Das könnten wir tun.«
Emerahl musterte sie streng. »Lass uns das als letztes Mittel in Betracht ziehen.«
»Es wäre nicht so gefährlich, wie es klingt«, fuhr Auraya fort. »Allerdings müssten wir uns höhere Klippen als diese hier suchen. Der Sturz muss ein wenig länger dauern, damit sich der anfängliche Schock legen kann. Anschließend musst du es selbst herausfinden und dann Magie anwenden, um…«
»Genau genommen sollten wir diese Methode nicht in Betracht ziehen.«
»Ich würde dich auffangen, wenn es nicht funktioniert. Dir könnte nichts passieren.«
Emerahl beschloss, darauf nicht zu antworten. Sie war sich nicht sicher, ob sie Auraya so sehr vertraute. »Wie hast du versucht, es den Weißen beizubringen? Haben sie sich vom Turm gestürzt?«
»Nein, sie haben versucht, sich vom Boden zu erheben.« Als sie die freie Fläche erreichten, blieb Auraya stehen.
»Dann werde ich es genauso machen.« Emerahl drehte sich zu ihr um. »Erklär mir, was du tust.«
»Kannst du die Magie um dich herum spüren?«
»Natürlich.« Emerahl ließ ihre Sinne die Energie berühren, die sie umgab.
»Kannst du die Welt um dich herum spüren? Es ist ein ähnliches Gefühl.«
»Die Welt?«
»Ja. Mir fällt es leichter, wenn ich mich bewege. Dann verändert sich meine Position in Bezug zur Welt. Deshalb war der Sturz so nützlich. Die Welt jagte an mir vorbei, oder ich jagte an der Welt vorbei, daher ist mir die Veränderung meiner Position bewusst geworden.«
Emerahl ging einige Schritte, während sie versuchte, ihre Umgebung nicht nur mit Augen und Ohren wahrzunehmen. Sie wanderte im Kreis um Auraya herum.
»Ich kann nichts spüren.«
»Es ist so, als erspürtest du die Magie um dich herum.«
Während Emerahl Auraya abermals umkreiste, konnte sie nichts von dem fühlen, was Auraya beschrieben hatte. Sie schüttelte den Kopf.
Auraya runzelte die Stirn und sah sich um. »Vielleicht bewegst du dich nicht schnell oder nicht weit genug. Wenn du von einem Felsbrocken springst, würdest du dich schneller bewegen. Du würdest nur für kurze Zeit fallen, daher müsstest du dich konzentrieren.«
»Ich werde es versuchen.«
Sie gingen zum Fluss hinüber. Emerahl wählte einen Felsbrocken in Schulterhöhe aus und stieg hinauf. Von oben betrachtet erschien er ihr höher als vom Boden aus.
Auraya trat zurück, um Emerahl reichlich Raum zu geben.
»Konzentrier dich«, sagte sie.
Emerahl holte tief Luft und zwang sich, zu Boden zu springen. Beim Aufprall verlor sie das Gleichgewicht und taumelte. Auraya hielt sie an den Schultern fest.
»Hast du irgendetwas gespürt?«
Emerahl schüttelte den Kopf. »Ich hatte zu viel mit der Frage zu tun, wie hart der Boden wohl sein würde.«
»Versuch es noch einmal. Wenn du es oft genug tust, wirst du den Boden vielleicht vergessen.«
Du meinst, ich werde vergessen, Angst zu haben, dachte Emerahl. Sie stieg wieder hinauf und zwang sich abermals zu springen. Bevor Auraya eine Frage stellen konnte, drehte sie sich um und kletterte erneut auf den Felsbrocken.
Nach zwanzig Sprüngen brachte Emerahl eine anmutige Landung zustande. Es gelang ihr sogar, daran zu denken, sich während des Fallens auf »die Welt um sie herum« zu konzentrieren. Aber sie spürte immer noch nichts.
»Was geschieht als Nächstes?«, fragte sie, mehr um sich eine Ruhepause zu verschaffen, als weil sie wirklich bereit war, weiterzumachen.
Aurayas Augen leuchteten auf. »Du veränderst deine Position in Bezug zur Welt. Mit Hilfe von Magie.«
Emerahl starrte Auraya an; sie wusste, dass ihr Gesicht absolutes Unverständnis ausdrückte, aber es war ihr gleichgültig. In Aurayas Zügen zeichnete sich Enttäuschung ab.
»Die Klippe könnte die einzige Möglichkeit sein. Vielleicht musst du dich nur über einen gewissen Zeitraum hinweg sehr schnell bewegen, um dich …«
»Ich werde es weiter versuchen«, erwiderte Emerahl.
Eine Weile später hörte sie auf. Ihre Knie und Knöchel schmerzten. Ihr Körper sagte ihr, dass Stunden verstrichen waren, aber die Welt, die sie immer noch nicht zu spüren vermochte, hielt irgendwie die Illusion aufrecht, es sei noch früh am Morgen.
»Es funktioniert nicht«, murmelte sie vor sich hin. »Es muss einen anderen Weg geben.«
»Wenn wir einen steilen Hang fänden, könnten wir eine Rutschbahn für dich hineinkerben«, schlug Auraya vor. »Das wäre beinahe wie ein Sturz.«
Ein Sturz? Emerahls Haut begann zu kribbeln, als ihr plötzlich eine Idee kam. Sie drehte sich um und betrachtete den Wasserfall. Der Teich darunter war tief. Als Kind war sie mit großer Begeisterung in den Ozean gesprungen …
»Es wird kalt sein«, warnte Auraya, die Emerahls Absicht erraten hatte.
»Wenn ich den Ozean im Winter aushalten kann, werde ich mit dieser kühlen kleinen Pfütze ebenfalls fertig«, erwiderte Emerahl.
Sie holte ein Seil aus der Höhle. Der Aufstieg zu den Felsen über dem Wasserfall war nicht einfach. In den Ritzen war in der feuchten Umgebung reichlich Moos gewachsen, so dass man sich nur mit Mühe festhalten konnte. Oben angekommen, band Emerahl das Seil an einen Baum, dann knotete sie Schlaufen hinein, um es wie eine Strickleiter benutzen zu können.
Sie ging zum Fluss hinüber und trat in das Wasser. Die Strömung zog an ihren Beinen, als wolle sie sie aus dem Gleichgewicht bringen. Am Rand des Wasserfalls war der Sog besonders beharrlich und gab sich alle Mühe, sie davon zu überzeugen, dass sie in keine andere Richtung gehen konnte als über den Rand.
Beim ersten Mal werde ich mich einfach darauf konzentrieren, den Sprung richtig hinzubekommen - ohne auf den Grund des Teichs zu schlagen und dabei das Bewusstsein zu verlieren.
Sie schloss die Augen und sandte ihren Geist zurück in eine Zeit, als sie jünger gewesen war - viel jünger - und da die eingebildeten Ungeheuer, die in den dunklen Ecken ihres Elternhauses lauerten, ihr mehr Angst gemacht hatten als die Vorstellung, sich von einer Klippe in den wilden Ozean zu stürzen.
Schließlich öffnete sie die Augen, beugte die Knie, ließ sich nach vorn fallen und sprang in die gischterfüllte Luft.
Der Teich schoss ihr entgegen und traf sie mit schockierender Kälte. Als das kühle Wasser sie umgab, wölbte sie instinktiv den Körper vor, um den Sprung zu verkürzen. Ihre Knie schlugen auf dem Grund des Teiches auf.
Dann schwamm sie zur Oberfläche empor. Ihre durchweichten Sandalen klebten an ihren Füßen, als sie zum Ufer watete. Sie zog Magie in sich hinein und erwärmte die Luft um sich herum.
Auraya saß auf einem Felsbrocken in der Nähe. Sie lächelte und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich hab’s nicht mal versucht«, erklärte Emerahl. »Ich wollte zuerst den Sprung richtig hinbekommen.«
Auraya betrachtete das Seil, das an der Klippe herabhing. Sie öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und zuckte die Achseln.
Emerahl, die sich jetzt wärmer fühlte und den Rausch ihres Sprungs noch immer auskostete, schleuderte die Sandalen von den Füßen und ging auf ihre provisorische Leiter zu.
Wenn ich schon von Klippen springen muss, um das zu lernen, dachte sie, kann ich genauso gut meinen Spaß dabei haben.
Danjin öffnete die Tür und zögerte. Auf dem Haar und den Kleidern der beiden Traumweber glänzten Regentropfen, und um ihre Stiefel herum bildeten sich Pfützen. Raeli folgte seinem Blick und lächelte schwach.
Eine warme Brise berührte Danjins Haut. Von den Kleidern der Traumweber stieg Dampf auf, und einen Moment später waren beide trocken.
»Wir sind hier, weil Ellareen von den Weißen uns darum gebeten hat«, sagte Raeli. »Dies ist Traumweber Kyn, der Ersatz für Traumweber Fareeh.«
»Willkommen«, erwiderte er. »Ellareen von den Weißen erwartet euch.«
Danjin geleitete die Traumweber hinein. Ella stand neben dem Tisch, wenige Schritte entfernt von dem Sitzmöbel, das sie voller Zuneigung ihren »Spionierstuhl« getauft hatte. Einen Moment lang sah er sie, wie diese Traumweber sie sehen mussten: eine junge zirklische Heilerin, die sie kannten und mit der sie zusammengearbeitet hatten, durch schmucklose, weiße Roben, elegant frisiertes Haar und die Gunst der Götter in eine beeindruckende, mächtige Frau verwandelt.
»Traumweberratgeberin der Weißen, Raeli«, stellte Danjin die Frau in seiner Begleitung vor. »Und Traumweber Kyn. Dies ist Ellareen von den Weißen.«
Ella lächelte die beiden an. »Danke, dass ihr hergekommen seid. Ich entschuldige mich für die bescheidene Umgebung. Nehmt Platz, wenn ihr wollt.«
Als die Traumweber sich auf den Stühlen niederließen, setzte Ella sich auf ihren Platz am Fenster. Weitere Stühle gab es in dem Raum nicht, daher blieb Danjin stehen.
Die Traumweber wirkten gelassen und entspannt. Er hatte Raeli seit Aurayas Rücktritt nicht häufig gesehen, nicht einmal im Vorbeigehen im Turm. Der Traumweber, der mit ihr gekommen war, war ein Mann in mittleren Jahren mit magerem Gesicht und kurzem Bart. Er erinnerte Danjin ein wenig an Leiard.
»Wie können wir dir helfen, Ellareen von den Weißen?«, fragte Raeli.
Ella lächelte. »Ich hatte gehofft, dass ich vielleicht euch helfen könnte. Vor einigen Wochen wurde ich mit der Aufgabe betraut, eine Möglichkeit zu finden, den Gewalttaten gegen Traumweber und das Hospital ein Ende zu machen.« Falls diese Neuigkeit die beiden Gäste freute, ließen sie sich nichts davon anmerken, wie Danjin feststellte. »Auf Anraten meines Ratgebers, Danjin Speer, habe ich mich mit den Gründen beschäftigt, warum die Menschen euch und dem Hospital Böses wollen. Deshalb habe ich diesen Raum benutzt.« Sie blickte zum Fenster hinüber. »Um die Gedanken derer zu beobachten, die am Hospital vorbeigehen.«
Die beiden Traumweber zogen die Augenbrauen hoch.
»Hast du dabei etwas Nützliches entdeckt?«, fragte Raeli.
»Allerdings. Ich brauche euch nicht darauf hinzuweisen, dass einige Bewohner dieser Stadt eine überaus unvernünftige Abneigung gegen Traumweber hegen.« Ellas Gesichtsausdruck war jetzt ernst. »Diese Abneigung gibt es schon seit langer Zeit und liefert keine Erklärung für die jüngsten Angriffe. Ich vermute, dass vor einigen Monaten etwas geschehen sein muss, das die Meinung der Menschen geändert hat.« Sie hielt inne und blickte von einem Traumweber zum anderen. »Ich glaube, der Grund dafür ist die Neuigkeit, dass Mirar noch lebt.«
Raeli sah sie scharf an. »Ein Gerücht«, sagte sie. »Mehr nicht.«
Ella nickte. »Ein Gerücht, dem einige Leute so viel Glauben schenken, dass sie anfangen, Traumweber zu töten.«
»Möchtest du, dass wir das Gerücht bestreiten?«, wollte Kyn wissen. »Sie werden uns nicht glauben.«
»Das ist wahr«, gab Ella ihm recht. »Manche Menschen werden immer nur das glauben, was sie glauben wollen. Die meisten sind jedoch lediglich Mitläufer, die sich ohne weiteres dazu hinreißen lassen, gegen das Gesetz zu verstoßen. Genauso leicht kann man sie jedoch wieder auf den Boden des Gesetzes zurückholen. Wir müssen die Anführer finden, uns aber gleichzeitig darum bemühen, ihre Anhänger wieder auf unsere Seite zu ziehen. Um das zu erreichen …« Ella hielt inne und blickte zum Fenster hinüber. Dann runzelte sie die Stirn und wandte sich wieder zu den Traumwebern um. »Um das zu erreichen, müssen wir ihre Ängste lindern. Und diese Ängste gelten, wie ich erfahren habe, der Frage, was geschehen wird, wenn Mirar seinen Einfluss auf die Traumweber zurückgewinnt. Die Menschen befürchten, dass die Traumweber unter seiner Führung zu einer gefährlichen Größe werden könnten.«
Raeli schürzte die Lippen, während sie über Ellas Worte nachdachte. Schließlich sah sie zu Kyn hinüber, der besorgt die Stirn runzelte.
»Du möchtest, dass wir die Menschen vom Gegenteil überzeugen?«, fragte er. »Aber auch das werden sie uns nicht glauben.«
Danjin erwartete, dass Ella dies bestreiten würde, aber sie sagte nichts. Er sah sie an und stellte fest, dass sie wieder aus dem Fenster starrte. Als sie sich umdrehte, lag ein geistesabwesender Ausdruck auf ihrem Gesicht, der jedoch schnell wieder verschwand.
»Nein«, erwiderte sie und sah Kyn dabei fest in die Augen. »Ihr sollt deutlich machen, dass ihr nichts mit Mirar zu tun haben wollt. Dass die Traumweber hundert Jahre lang ohne ihn zurechtgekommen sind und dies auch in Zukunft tun werden.« Sie wandte sich an Raeli, die den Mund geöffnet hatte, um zu protestieren. »Habt ihr diesen verschwundenen Traumweberschüler bereits gefunden?«
Raeli schloss den Mund, dann schüttelte sie den Kopf. »Wir glauben, dass er tot ist.«
Ella verzog das Gesicht. »Armer Ranaan.« Sie seufzte. »Ich weiß, mein Vorschlag erzürnt euch, aber ich frage euch: Was ist wichtiger, das Leben eurer Anhänger oder eure Ergebenheit einem Mann gegenüber, der euch über hundert Jahre lang euch selbst überlassen hat und der jetzt nicht hier sein kann, um euch zu helfen, gegen die Gewalttätigkeiten zu kämpfen, die seine Rückkehr… entschuldigt mich bitte.« Ihre Augen weiteten sich, und sie stand auf und wandte sich gleichzeitig zum Fenster, dann wirbelte sie herum, ging mit langen Schritten auf die Tür zu und verließ den Raum.
Die beiden Traumweber sahen Danjin fragend an. Er zuckte die Achseln, um zu zeigen, dass er keine Erklärung für Ellas Verhalten habe, dann eilte er ihr nach.
Sie stand bereits am Fuß der Treppe. Als er die Stufen hinunterging, hielt sie inne und blickte zu ihm auf.
»Bleib hier, Danjin.«
Dann war sie fort. Er kehrte widerstrebend in den Raum zurück. Raeli war ans Fenster getreten und schaute auf die Straße hinunter.
»Ich sehe nichts Ungewöhnliches«, sagte sie.
Als Danjin sich zu ihr gesellte, sah sie ihn an und machte ihm Platz. Er blickte nach draußen und sog hastig die Luft ein. Ella war auf die Straße getreten. Die Passanten blieben stehen und musterten sie überrascht, aber sie ignorierte sie. Stattdessen ging sie zu einem Brotverkäufer hinüber, der an seinem Karren lehnte. Als dem Mann klar wurde, dass sie auf ihn zukam, richtete er sich auf und sah sich nach beiden Seiten um, als halte er Ausschau nach einem Fluchtweg. Dann wandte er sich ihr zu, wobei er den Blick auf den Boden gerichtet hielt.
Sie richtete einige Worte an ihn, und mit einem Mal stand ein Ausdruck des Entsetzens auf seinen Zügen. Dann drehte sie sich um und ging davon. Der junge Mann zögerte und sah sich noch einmal um. Ella blickte hinter sich und begann abermals zu sprechen. Die Schultern des Brotverkäufers sackten herab, und er schlurfte hinter ihr her.
Als die beiden aus seinem Blickfeld verschwanden, trat Danjin vom Fenster zurück. Sie muss einige seiner Gedanken aufgefangen und etwas Wichtiges darin gelesen haben. Etwas sehr Wichtiges. Aus keinem geringeren Grund wäre sie das Risiko eingegangen zu offenbaren, dass sie den Menschen vor dem Hospital heimlich nachspioniert hatte.
Die Stille im Raum wurde zunehmend peinlich. Danjin begann, den beiden Traumwebern höfliche Fragen zu stellen. Wie es Raeli seit dem Krieg ergangen war? Wo Kyn geboren worden war? Der Traumweber stammte aus Dunwegen, wie sein Name vermuten ließ, aber seine Mutter war Genrianerin. Es war eine ungewöhnliche Abstammung, und Danjin vermutete, dass sich der Mann, indem er sich den Traumwebern anschloss, den Respekt erworben hatte, den man einem Mischling wie ihm andernfalls weder in Dunwegen noch in Genria je entgegengebracht hätte.
Als das Geräusch einer zufallenden Tür durch das Haus hallte, hielt Danjin inne, um zu lauschen. Er hörte ferne Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dann näherten sich Schritte.
Die Tür wurde geöffnet, und Ella trat ein.
»Bitte entschuldigt, dass ich euch so abrupt allein gelassen habe«, sagte sie. »Ich habe nur gerade jemanden gefunden, nach dem ich gesucht hatte, und konnte nicht riskieren, dass er weiterging, bevor ich eine Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden.« Sie setzte sich und strich ihren Zirk glatt. »Und nun … ich habe euch gebeten hierherzukommen, um euch über die Ergebnisse meiner Nachforschungen in Kenntnis zu setzen.« Ihre Miene wurde ernst. »Ich hoffe, ihr werdet meinen Rat annehmen, aber ich würde es auch verstehen, wenn ihr es nicht tut. Es ist gewiss nicht leicht. Ihr könnt euch mit Mirar in Verbindung setzen, wenn ihr euch dafür entscheidet, meinen Rat anzunehmen, und ihm erklären, dass es notwendig ist - und nur eine vorübergehende Maßnahme.«
Sie lächelte und sah die beiden Traumweber erwartungsvoll an. Raeli und Kyn tauschten einen Blick, dann wandte Raeli sich wieder Ella zu.
»Danke, dass du uns diese Information gegeben hast. Es ist beruhigend zu wissen, dass den Weißen unser Wohlergehen so sehr am Herzen liegt. Ich werde deinen Rat an Traumweberälteste Arleej weitergeben und dich wissen lassen, wie sie sich entschieden hat.«
Ella nickte und stand auf. »Gebt mir Bescheid, wenn ihr irgendetwas von uns brauchen solltet.«
Die Traumweber erhoben sich, und Danjin geleitete sie hinaus. Als er zurückkam, stand Ella oben an der Treppe.
»Jemand, nach dem du gesucht hast?«, fragte er.
Sie lächelte grimmig. »Ja.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und trommelte mit den Fingern auf ihren Ärmel. »Gleich werden unsere Gäste draußen auf der Gasse sein … Da sind sie schon. Komm mit, Danjin. Wir gehen zurück in den Weißen Turm.«
Er folgte ihr die Treppe hinunter und hinaus auf die Gasse zu dem alten geschlossenen Plattan, mit dem sie immer fuhren. Als Ella nach der Türlasche griff, hielt sie inne und legte einen Finger auf seine Lippen, bevor sie ihm bedeutete einzutreten.
Es saß bereits jemand im Wagen, begriff er. Zwei Menschen. Langsam und vorsichtig stieg er ein. Einer der Männer war der Fahrer. Der andere war der Brotverkäufer, der gefesselt und geknebelt dasaß und verängstigt dreinblickte.
Die ganze Szene hatte etwas Beunruhigendes. Danjin stellte sich vor, was geschehen war, nachdem Ella und der Brotverkäufer aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Hatte sie den Mann gezwungen, in den Plattan zu steigen? Hatte sie ihn gefesselt? Nein, das muss der Fahrer für sie getan haben.
Ella stieg nun ebenfalls ein. Ihre Miene war grimmig, während sie den Gefangenen musterte. Sie nickte dem Fahrer zu, und er stieg aus. Der Plattan schwankte, als der Mann auf den Fahrersitz kletterte und das Arem sich in Bewegung setzte.
»Bagem«, begann Ella und zeigte auf ihren Gefangenen, »ist dafür bezahlt worden, das Hospital zu beobachten. Er sollte vor allem nach Traumwebern Ausschau halten und ihnen folgen, wenn es möglich war.«
Und sie töten?, dachte Danjin und musterte den jungen Mann nachdenklich. Obwohl der Brotverkäufer restlos eingeschüchtert wirkte, konnte das seinen Grund einfach darin haben, dass eine der Weißen ihn gefangen genommen hatte.
»Er sollte ihnen nicht persönlich Schaden zufügen«, sagte Ella. »Aber er wusste, dass seine Informationen wahrscheinlich zur Ermordung weiterer Traumweber führen würden. Er kann seinen Auftraggeber und andere, die an dem Spiel beteiligt waren, identifizieren. Ich denke, die anderen Weißen werden ebenfalls sehen wollen, was ich in seinen Gedanken gesehen habe.« Sie wandte sich zu Danjin um, und ihre Augen waren geweitet vor Sorge. »Denn wenn die Männer, die Bagem bezahlt haben, nicht eine Verkleidung trugen, müssen es Priester gewesen sein.«
Wenn Reivans Gehilfe, Kikarn, ihr Verhalten an diesem Morgen verwirrend fand, so ließ er sich nichts davon anmerken. Sie hatte ihn gebeten, alle Dinge aufzulisten, um die sie sich kümmern konnte, bis er ihr eine Angelegenheit präsentierte, die sie für den ganzen Tag vom Sanktuarium wegführen würde. Die Gelassenheit, mit der er diese Abweichung von ihrem normalen Tagesablauf aufnahm, war beinahe beängstigend gewesen.
Vielleicht versteht er einfach, dass man ab und zu aus dem Sanktuarium heraus muss, um nicht den Verstand zu verlieren, überlegte sie.
Es war Reivan gelungen, sich mit ihrer erwählten Aufgabe fast den ganzen Tag lang abzulenken. Nur gelegentlich wanderten ihre Gedanken in die vergangene Nacht zurück, und dann erschien es ihr eher ein Traum zu sein denn eine Erinnerung. Diese Augenblicke waren angenehm, wurden ihr aber jedes Mal verdorben, wenn sie sich darum sorgte, was Imenja denken würde. Oder sagen. Oder tun.
Sie könnte mich zum Beispiel entlassen, dachte Reivan. Oder mich als unbefähigte Götterdienerin an einen entlegenen Ort schicken, wo ich den Rest meiner Tage damit zubringen werde, Schriftrollen zu übersetzen. Nein, das Übersetzen von Schriftrollen wäre zu vergnüglich. Sie würde mir wohl eher irgendeine unangenehme niedere Arbeit oder eine langweilige Aufgabe in der Verwaltung zuweisen.
Es war kindisch und überdies nutzlos gewesen, dass sie Imenja den ganzen Tag aus dem Weg gegangen war, und es hatte ihr nur einige zusätzliche, angsterfüllte Stunden bis zu der unausweichlichen Konfrontation verschafft. Als sie ihre Arbeit beendet hatte und die Schatten begannen, die Stadt einzuhüllen, schleppte sie sich zurück ins Sanktuarium.
Alles war still, als sie die Treppe erreichte, über die sie zu ihren Räumen gelangen würde. Sie hielt inne und blickte durch einen Bogengang in den dahinterliegenden Innenhof. Das Zwielicht hatte den Hof in einen bläulichen Schein getaucht, nur an einigen Stellen warfen Lampen orangefarbene Seen auf das Pflaster.
Wird Nekaun heute Nacht wieder zu mir kommen?, fragte sie sich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ich hoffe es, aber … ich bin müde. Sie trat in den Bogengang und lehnte sich an die Wand. Es war so friedlich hier. Ganz allmählich lösten sich die Knoten der Anspannung in ihr.
Vielleicht wird es Imenja ja nichts ausmachen, überlegte sie. Vielleicht wird es sie und Nekaun sogar veranlassen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Ich könnte diejenige sein, die unbeabsichtigterweise Frieden zwischen der Ersten und der Zweiten Stimme stiftet.
Sie schnaubte leise.
Höchst unwahrscheinlich! Was weiß ich schon davon, wie man Meinungsverschiedenheiten beilegt oder Frieden stiftet? Es war schon schwer genug, die Denker dazu zu bringen, meine bloße Existenz wahrzunehmen, und sie haben mich bei der ersten Gelegenheit hinausgeworfen. Die Reaktion der Götterdiener auf mich, als ich seinerzeit hierherkam, ließ keinen Zweifel daran, dass sie fanden, ich würde nicht zu ihnen gehören. Ich habe noch immer nicht einmal Freunde, welche Chance habe ich also, die Kluft zwischen mir und den anderen zu überwinden?
»Eine Freundin hast du«, erklang eine vertraute Stimme hinter Reivan.
Sie drehte sich um und sah Imenja entschuldigend an.
»Zweite Stimme. Ich … äh … ich … ich entschuldige mich dafür, dass …«
Imenja legte zwei Finger auf die Lippen, dann bedeutete sie Reivan, ihr in den Innenhof zu folgen. Sie betrachtete einen der Teiche. Das Wasser kräuselte sich, dann bildete sich eine Fontäne, und Tropfen fielen durch die Luft. Das Geräusch hallte im Hof wider. Imenja setzte sich auf eine der Bänke in der Nähe.
»So. Ein klein wenig Ungestörtheit. Ich würde dir allerdings davon abraten, die Stimme zu erheben.«
Reivan nickte, und Imenja klopfte auf die Bank.
»Setz dich. Wie du weißt, müssen wir reden.« Als Reivan gehorchte, lächelte Imenja. »Wofür willst du dich entschuldigen?«
»Dafür … dafür, dass ich mich vor dir versteckt habe.«
»Es war albern von dir, aber ich sehe, dass du das weißt. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, weil du Nekaun in dein Bett gelassen hast, Reivan. Es ist kaum etwas, wofür man sich schämen müsste.«
»Ich weiß, aber…«
»Aber?«
»Du und er…«
Imenja rümpfte die Nase. »Wir waren in letzter Zeit nur selten einer Meinung.« Sie hob die Schultern. »Das ist eine Angelegenheit zwischen uns beiden und sollte dich nicht daran hindern, dein Vergnügen zu suchen, wann immer du es finden kannst. Vergnügen ist etwas, das einem Menschen nicht so oft begegnet, wie es das tun sollte.«
»Da kommt noch ein ›Aber‹«, sprudelte Reivan hervor. »Ich kann es in deiner Stimme hören.«
Imenja lachte leise. »Ja, es gibt ein ›Aber‹.« Sie holte tief Luft, und alle Heiterkeit verschwand aus ihren Zügen. »Es ist möglich, dass Nekaun dir tatsächlich Zuneigung entgegenbringt. Ich möchte in diesem Punkt deine Hoffnungen nicht zunichtemachen. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass er dich lediglich benutzt.«
»Nun, es ist nicht so, als könnten wir heiraten. Das erwarte ich nicht.«
Imenja schüttelte den Kopf. »Du musst politisch denken, Reivan. Du bist mir nicht deshalb den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, weil du dachtest, ich könnte es missbilligen, dass du ein wenig Spaß hast.«
»Du glaubst, er benutzt mich, um dich zu kränken?«
»Ich muss es als eine Möglichkeit betrachten. Und du auch.«
Reivan blickte auf das Pflaster hinab. Wenn Nekaun dachte, Imenja hätte Einwände dagegen, dass er das Bett mit ihrer Gefährtin teilte, wäre dies eine Möglichkeit, sie zu treffen. Es war schäbig und niederträchtig, und es hatte keinen anderen Sinn, als jemanden zu verärgern, den man eigentlich als einen seiner engsten Verbündeten betrachten sollte.
»Gewiss nicht. Er würde nichts damit gewinnen.«
Imenja seufzte. »Nichts, als mich ein klein wenig mehr zu schwächen.«
Als Reivan die Zweite Stimme betrachtete, sah sie eine Resignation in den Zügen der Frau, die ihr dort noch nie aufgefallen war. Ein Stich der Sorge durchzuckte sie. Was war geschehen, dass ihre Herrin Nekaun solches Misstrauen entgegenbrachte? Wie konnte eine mächtige Frau so niedergeschlagen wirken?
Imenja richtete sich auf und wandte sich zu Reivan um. »Wenn seine Absichten boshafter Natur sein sollten, wird er feststellen, dass ich aus härterem Holz bin, als er erwartet«, sagte sie. »Du bist es, um die ich mir Sorgen mache, Reivan. Würdest du damit fertigwerden, gedemütigt und manipuliert zu werden? Bist du stark genug, um ein gebrochenes Herz zu ertragen? Falls Nekauns Absichten böse sind, könnte das für dich sehr unerfreulich werden.«
Reivan starrte sie an. »Glaubst du, er könnte so grausam sein?«
Imenja seufzte. »Ob ich glaube, dass er zu niederträchtigen, unmoralischen Taktiken fähig ist? Ja. Ich weiß, dass es so ist. Ob ich glaube, dass er dir wirklich tiefste Zuneigung entgegenbringt?« Sie lächelte und zuckte die Achseln. »Du bist eine attraktive Frau. Nicht schön, aber du hast einen scharfen Verstand und einen guten Sinn für Humor, und beide Dinge sind mehr als nur eine Entschädigung für mangelnde Schönheit. Es gibt vieles an dir, was man lieben kann. Also empfindet er vielleicht wirklich etwas für dich.«
Reivans Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln, und sie versuchte erfolglos, es zu verhindern.
»Ich würde dich niemals einer Chance auf Liebe und Vergnügen berauben«, fuhr Imenja fort. »Aber wenn Schlimmes daraus entsteht, vergiss nicht, dass ich deine Freundin bin. Wenn du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden, werde ich zuhören. Wenn du das Bedürfnis hast, von ihm fortzukommen, werde ich dich hinschicken, wo immer du hingehen möchtest. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass du zu Schaden kommst, aber ich kann dich nicht vor verletzten Gefühlen retten. Auch du musst stark sein.«
»Das werde ich«, versprach Reivan.
»Gut.«
Imenja stand auf. »Und nun muss ich an einer Versammlung teilnehmen, daher sollte ich langsam aufbrechen.«
»Brauchst du meine Hilfe?«
»Nein. Ich werde morgen mit dir sprechen. Schlaf gut.«
Reivan lächelte. »Du auch.«
Als die Zweite Stimme im Bogengang verschwand, tröpfelte der Springbrunnen langsam aus und erstarb dann ganz. Reivan sog tief die Luft ein, gähnte und ging auf ihre Räume zu, wobei sie sich besser fühlte, als sie es den ganzen Tag getan hatte.
Die Sonne hing direkt über den Bäumen, als schicke sie sich an hineinzutauchen. Auraya blickte zu dem Seil auf. Sie hatte es von dem Felsen zu den Zweigen der Bäume darunter gespannt und dann einen Gleitsitz aus Holz und weiteren Seilen gemacht. Es war eine grobe Nachahmung des Systems, das Mirar benutzt hatte, um von einer Plattform zur nächsten zu gelangen, als sie ihn vor einigen Monaten in dem inmitten von Bäumen gelegenen Dorf der Siyee gefunden hatte. Plötzlich stieg Ärger in ihr auf, und sie ballte die Fäuste.
Was hatte er als Gegenleistung dafür bekommen, dass er den Siyee im Kampf gegen die Seuche geholfen hatte?, dachte sie. Einen Henker. Und jetzt will Huan mir ebenfalls einen Henker schicken. Sie holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus, als sie ihren Ärger beiseiteschob. Während der letzten Tage hatte sie oft über das Gespräch zwischen Huan und Saru nachgegrübelt. Zu oft. Nachts lag sie wach, hin- und hergerissen zwischen Zorn auf die Götter, die sie verraten hatten, und einer nagenden, zermürbenden Furcht, dass einer der Weißen - wahrscheinlich Rian - in die Höhle kommen und sie und Jade töten würde.
»Hier.«
Auraya riss sich aus ihren Gedanken los und nahm den dampfenden Becher Maita von Jade entgegen. Sie nippte daran und stieß einen anerkennenden Seufzer aus, als die heiße Flüssigkeit sie wärmte.
Jade setzte sich neben sie und betrachtete die Schlinge. Sie hatte sie viele Male sicher zu Boden getragen, aber es war ihr noch immer nicht gelungen, ihre Position in der Welt um sie herum zu spüren. Aber schließlich war es auch keine besonders hohe Klippe.
»Wir könnten uns eine höhere Klippe suchen und ein längeres Seil machen«, begann Auraya.
Jade schüttelte den Kopf. »Nein. Ich denke, es ist ziemlich klar, dass ich diese Fähigkeit, die Welt so wahrzunehmen wie du, nicht besitze. Außerdem muss ich mich langsam auf den Weg machen.«
»Du willst einfach aufgeben? Nach nur einem einzigen Tag?«
Die Frau kicherte. »Ja, das will ich. Vielleicht werde ich eines Tages das Missgeschick haben, von einer Klippe zu stürzen. Wenn das passiert, werde ich mich an deine Anweisungen erinnern und es noch einmal versuchen. Für den Augenblick bin ich damit zufrieden, meine Füße fest auf dem Boden zu wissen.«
Auraya lächelte. »Wir könnten es immer noch mit dem Sprung von der Klippe versuchen. Vielleicht funktioniert es ja.«
»Und vielleicht auch nicht.«
»Ich würde dich auffangen.«
»Es ist nicht so, dass ich dir nicht vertrauen würde …«
Auraya zog die Augenbrauen hoch.
»Hm, ja, du hast recht«, gestand Jade. »So weit reicht mein Vertrauen zu dir dann doch nicht. Aber wie dem auch sei, mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass es eine schlechte Idee wäre, von einer Klippe zu springen. Und die Logik sagt mir noch etwas anderes: Wenn ich mich bewegen muss, um zu lernen, ein Gefühl für meine Position in der Welt zu entwickeln, müsste es genauso gut funktionieren, wenn ich mich horizontal bewege statt vertikal. Wenn ich in der Lage wäre, das Fliegen zu erlernen, hätte ich diese Wahrnehmung der Welt, die du beschreibst, inzwischen selbst entdeckt.«
»Du hast wahrscheinlich recht.« Auraya seufzte. »Oder aber ich bin eine miserable Lehrerin. Oder vielleicht hat ja auch Mirar recht. Er beharrt darauf, dass dies meine angeborene Gabe sei.«
Jade sah Auraya forschend an. »Wie oft sprichst du mit ihm?«
»Wir haben uns einige Male bei Traumvernetzungen unterhalten.«
»Du redest mit ihm? Ich dachte, du magst ihn nicht.«
Auraya lächelte. »Ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht mag.«
Jade runzelte die Stirn, dann wandte sie den Blick ab. Alles um sie herum wirkte gedämpft, als müssten die Geschöpfe des Waldes auf die Dunkelheit warten, bevor sie den Mut fanden, die Stimme zu erheben. Auraya lauschte mit ihren anderen Sinnen und achtete auf Dinge, die sie normalerweise nur während des Fliegens wahrnahm: die Magie um sie herum, das Gefühl für ihren Platz innerhalb der Welt. Ihre Sinne waren schärfer geworden, seit sie hierhergekommen war.
Ein schwaches Flüstern oder eine Vibration erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie konzentrierte sich darauf und stellte fest, dass es der Geist eines Siyee war. Jemand flog in ihre Richtung. Es war Tyve.
Ich werde ihnen nur schnell einen kurzen Besuch abstatten, bevor es zu dunkel wird, dachte er.
»Du solltest das wohl besser abnehmen«, bemerkte Jade, die von dem näher kommenden Siyee anscheinend nichts wusste.
Das Seil! Tyve könnte hineinfliegen. Auraya stellte ihren Becher beiseite und sprang auf. Dann zog sie Magie in sich hinein und sandte einen Hitzestrom zu dem Ende des Seils aus, das auf der Klippe befestigt war. Die Fasern brachen in Flammen aus, als die Hitze sich durch sie hindurchfraß. Das Seil fiel zu Boden, und ein Teil davon versank im Fluss.
»Es ist gut zu wissen, dass du mir so gründlich zustimmst«, bemerkte Jade trocken.
»Tyve ist auf dem Weg hierher. Er könnte das Seil übersehen.«
»Tyve? Woher weißt du das?«
»Ich habe seine Gedanken…« Auraya erschrak, als ihr klar wurde, was sie hatte sagen wollen. Sie konzentrierte sich auf Tyves Geist. Zu ihrer Überraschung waren seine Gedanken ganz deutlich. Sie sah Jade an.
»Ich kann wieder Gedanken lesen.«
Die andere Frau starrte sie an, dann blickte sie in die Richtung, aus der sich der Siyee näherte. »Ich kann Erregung und Eile wahrnehmen. Warum kommt er hierher?«
»Nur um nach uns zu sehen.«
Auraya runzelte die Stirn. Ein Gefühl des Argwohns überlagerte Tyves Müdigkeit und seinen Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Dieser Zwiespalt in seinen Gedanken war eigenartig.
Sie ist endlich aufgetaucht. Jetzt werden wir erfahren, was sie dort drin getrieben hat und ob diese Frau mit dem verborgenen Geist diejenige ist, für die ich sie halte…
Der Gedanke endete abrupt, und plötzlich konnte Auraya nur noch Tyves Müdigkeit spüren. Etwas anderes näherte sich ihr. Etwas ohne Gestalt, das mit unglaublicher Geschwindigkeit heranstürmte.
Huan.
Die Göttin schoss an ihr vorbei, und sie war nicht allein. Auraya wich zurück. Der zweite Gott war Saru. Sie waren hinter ihr und suchten …
Wo ist sie? Ich kann sie nicht sehen!
»Was ist los?«, hörte sie Jade fragen.
Ich sollte meinen Gedankenschild fallen lassen, um zu beweisen, dass ich vertrauenswürdig bin, überlegte Auraya. Aber ich vertraue ihnen nicht.
Huan wandte sich in Blitzesschnelle Tyve zu. Der Junge bemerkte nicht, dass der Geist der Göttin sich mit seinem verband. Er konzentrierte sich darauf, langsam zu Boden zu schweben und eine Stelle zum Landen zu suchen.
Ich kann sie nicht sehen! Ihr Geist ist verborgen!
Dann waren die Götter fort; sie hatten sich schneller entfernt, als Auraya ihnen folgen konnte.
Damit ist es entschieden, dachte sie. Sie wissen jetzt Bescheid. Ich frage mich, ob das der Vorwand ist, den Huan benötigt, um mich zu töten.
»Was ist los, Auraya?«, zischte Jade.
Auraya schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie erklären sollte, was soeben geschehen war. »Tyve war einen Moment lang nicht allein. Huan war bei ihm und hat uns durch Tyves Augen beobachtet.«
»Huan?« Jades Augen weiteten sich. »Hier? Um uns zu beobachten?«
»Jetzt nicht mehr«, versicherte Auraya ihr hastig. »Sie - Saru war bei ihr - haben sich zurückgezogen, um den anderen zu berichten, dass mein Geist beschirmt ist.«
Jade starrte sie an. »In all meinen Jahren«, murmelte sie, »bin ich niemals irgendjemandem begegnet, der die Götter spüren konnte. Wissen die Götter von deiner Fähigkeit?«
»Ja, aber sie wissen nicht, wie weit diese Fähigkeit reicht. Früher konnte ich sie nur spüren, wenn sie ganz in der Nähe waren.«
»Und wann hat sich das geändert?«
»Nachdem du mich gelehrt hast, Gedanken abzuschöpfen.«
Jade nickte. »Sieh zu, dass sie es nicht erfahren. Ehemalige Weiße hin oder her, sie werden dich töten, wenn sie herausfinden, dass du ihnen nachspionieren kannst. Du solltest es nicht einmal Chaia erzählen.«
Auraya öffnete den Mund, um zu beteuern, dass Chaia ihr nichts Böses wolle, dann schloss sie ihn wieder, denn Tyve war in diesem Moment gelandet. Jade warf ihr einen vielsagenden Blick zu, dann wandte sie sich um, um den Siyee zu begrüßen.
Kalen brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass er wach war, und dann noch ein Weilchen länger, um sich daran zu erinnern, wo er war und warum.
Das Haus der Pentadrianer. Warm. Satt. Sie werden mich zu einem Götterdiener machen.
Das Erwachen war nicht länger mit der quälenden Sorge verbunden, was der Tag ihm bringen mochte. Nicht mehr, seit er versucht hatte, einen Mann zu bestehlen, und sich unversehens mit seinem erwählten Opfer in ein Gespräch über Religion verstrickt gefunden hatte. Der Mann hatte ihm ein Angebot gemacht, das zu gut gewesen war, um es abzulehnen: Essen und ein Dach überm Kopf als Gegenleistung dafür, dass er etwas über dessen Volk zu lernen bereit war.
Ein voller Magen und ein sicheres, warmes Nachtquartier wogen einige langweilige Lektionen durchaus auf, und darüber hinaus fand Kalen es seltsam berauschend, zu diesen heimlichen Anhängern des verbotenen Kults der Pentadrianer zu gehören. Es hatte ihn überrascht, dass er Seite an Seite mit Menschen aus allen möglichen Schichten unterrichtet und von diesen als ebenbürtig akzeptiert wurde. Wie zum Beispiel von dem jungen Mann, der auf der Pritsche neben seiner schlief. Er hieß Ranaan und war früher Traumweber gewesen.
Jetzt ging sein Atem sehr schnell, als hätte er sich soeben erschreckt.
»Ein Albtraum?«, fragte Kalen.
Ranaan bestätigte seinen Verdacht mit einem leisen Grunzen.
Kalen wusste, dass es half, wenn man nach einem Albtraum reden konnte. Ich schätze, es ist fast Morgen. Ich werde ohnehin nicht mehr einschlafen, also kann ich genauso gut reden.
»Ranaan?«
Er hörte, wie der junge Mann sich auf seinem Lager zu ihm umdrehte.
»Ja?«
»Warst du wirklich Traumweber?«
»Ja.«
»Warum hast du dich den Pentadrianern angeschlossen?«
Ranaan seufzte. »Nachdem mein Lehrer getötet wurde, hat Amli mir bei der Flucht geholfen. Amli hat mir das Leben gerettet und mir Unterschlupf gewährt, bis es sicher war zurückzukehren…« Er hielt inne. »Aber es wird niemals mehr sicher sein. Fareehs Mörder wissen, dass ich sie identifizieren kann. Sie würden mich ebenfalls töten.«
»Ist das der Grund, warum du Pentadrianer geworden bist?«
»Es ist zu gefährlich, Traumweber zu sein.«
»Und ist es nicht gefährlich, Pentadrianer zu sein?«
»Nicht ganz so gefährlich. Zumindest nicht für mich. Ich … mir gefällt, was Amli lehrt. Ihre Götter zwingen sie nicht, Traumweber zu töten.«
»Das spielt keine Rolle mehr für dich. Du bist kein Traumweber mehr.«
»Nur weil ich kein Traumweber bin, heißt das nicht, dass mir gleichgültig wäre, was mit ihnen geschieht. Amli sagt, das sei die Einstellung der Pentadrianer. Die Traumweber verdienen nicht, was die Zirkler ihnen antun.« Er hielt inne. »Warum bist du hierhergekommen?«
Kalen lachte leise. »Sie geben mir zu essen. Ich habe ein warmes Quartier für die Nacht. Ich denke, es lohnt sich, all diese langweiligen Lektionen über sich ergehen zu lassen, wenn wir dafür am Ende ab und zu an einer Orgie teilnehmen dürfen.«
Ranaan brach in Gelächter aus. »Tut mir leid, deine Hoffnungen zu zerstören, Kalen, aber sie veranstalten keine Orgien.«
»Oh doch. Das weiß jeder.«
»Es ist nur ein Gerücht, das die Zirkler erfunden haben. Die Pentadrianer haben besondere Riten für verheiratete Paare, die ihnen helfen, Kinder zu empfangen, aber Orgien veranstalten sie nicht.«
»Das hat Amli dir vielleicht nur erzählt, damit du keinen Anstoß an seiner Religion nimmst.«
»Die Traumweber wissen das schon seit langer Zeit, Kalen. Vergiss nicht, es gibt auch in Südithania Traumweber.«
»Oh.« Kalen fluchte leise. »Das ist die zweite schlechte Neuigkeit, die ich heute bekommen habe.«
»Tut mir leid.« Ranaan kicherte. »Was war die erste?«
»Dass sie Menschen, die ohne Gaben geboren wurden, keine Gaben geben können.«
»Niemand kann seine Gaben stärker machen, als sie sind«, stimmte Ranaan ihm zu.
»Die Zirkler würden mich niemals zum Priester machen, aber diese Pentadrianer kümmert es nicht, wenn ich keine Gaben besitze.«
»Glaubst du, ihre Götter sind real?«
»Nach Amlis Geschichten zu urteilen sind sie es.«
»Ja. Das ist wahr. Was ist das für ein Geräusch?«
Die beiden Jungen verhielten sich ganz still und lauschten. Sie konnten leise Schritte hören, die über, unter und hinter der Mauer erklangen, die sie von der Gasse draußen trennte. Dann folgte ein Ausruf des Erschreckens, der sofort wieder erstickt wurde. Kalens Herz begann zu rasen. Er stand auf und schlich auf Zehenspitzen zum Fenster hinüber. Irgendetwas ging vor. Etwas Schlimmes.
»Was machst du da?«, fragte Ranaan benommen.
Er schläft tatsächlich wieder ein! Kalen schüttelte den Kopf. Er mag Gaben besitzen, aber er hat keinen Überlebensinstinkt. Kalen blickte wieder aus dem Fenster und bemerkte eine Bewegung in der Dunkelheit. Die Geräusche wurden lauter.
»Was ist los?« Ranaan, der jetzt vollkommen wach war, richtete sich auf.
»Ich weiß es nicht, aber ich habe nicht die Absicht zu warten, bis ich es herausfinde«, antwortete Kalen. »Draußen auf der Gasse sind Leute. So wie es sich anhört, sind sie auch über uns. Es muss einen anderen Weg hinaus geben. Amli hat wahrscheinlich irgendwo einen geheimen Ausgang.« Er bewegte sich auf die Tür zu.
Ein Schrei wurde laut, gedämpft von den Dielenbrettern.
»Das ist Amli«, sagte Ranaan.
Ein heller, nadelstichfeiner Lichtschein schimmerte auf und beleuchtete den Raum. Er schwebte über Ranaans Hand.
»Mach das aus!«, zischte Kalen. »Sie werden…«
Vor ihrer Tür erklangen jetzt stampfende Schritte. Kalen fluchte und sprang auf das Fenster zu. Im nächsten Moment spürte er Hände, die sein Bein umklammerten und ihn zurückzogen.
»Sei kein Idiot«, sagte Ranaan und richtete sich auf. »Bei einem Sturz aus dieser Höhe könntest du dich umbringen. Oder dir zumindest die Knochen brechen.«
»Das Risiko würde ich eingehen«, erwiderte Kalen und blickte an Ranaan vorbei. Die Tür war geöffnet worden, und zwei zirklische Priester kamen auf sie zu. Einer packte Ranaan an den Schultern. Der andere griff nach Kalens Arm. Kalen sackte resigniert in sich zusammen.
Welchen Sinn hat mein Überlebensinstinkt, wenn er sich zu spät meldet?, dachte er.
Die Priester führten sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Im Hauptraum kauerten sich mehrere pentadrianische Konvertiten aneinander, umringt von Priestern und Priesterinnen. Amli und seine Frau standen vor einer anderen Priesterin, die die beiden wütend anfunkelte.
»Du hast deine Männer als Priester verkleidet und beauftragt, andere anzuwerben, die sich an die Fersen von Traumwebern hefteten«, sagte die Priesterin. Sie sprach mit solcher Gewissheit, dass ihre Worte eher wie eine Feststellung klangen als wie eine Anklage. »Dann hast du diese Traumweber von deinen Männern ermorden lassen. Du hast versucht, ein schlechtes Licht auf die Zirkler zu werfen, damit die Pentadrianer besser dastanden, obwohl es sich in Wahrheit genau andersherum verhielt.« Sie schüttelte den Kopf. »Man hat mir erzählt, die Pentadrianer würden die Traumweber respektieren. War das eine Lüge?«
Ranaan stieß einen leisen, erstickten Laut aus. Amli sagte nichts, sondern blickte nur zu Boden. Die Priesterin musterte ihn kühl, dann schüttelte sie den Kopf. »Wenn du es so schändlich findest, warum hast du es dann getan?« Sie hielt inne. »Ah. Solche Ergebenheit ist bewundernswert, aber sie hat ihren Preis.«
»Ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen«, erwiderte Amli.
»Das sehe ich. Hast du dich je gefragt, ob ein Mann mit so schäbigen, unehrenhaften Methoden deine Ergebenheit verdient?«
»Es sind die Götter, denen ich diene«, erklärte Amli.
Die Priesterin verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn deine Götter real sind und der Ergebenheit würdig, die du ihnen zollst, würden sie dann einem solchen Mann erlauben, über dein Volk zu herrschen? Ich denke - ah! Da ist er; er verfolgt aus der Sicherheit seines Hauses durch deine Augen die Geschehnisse.« Sie trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du bist ein Lügner und ein Feigling, Erste Stimme Nekaun. Wo immer sich deine Leute im Norden aufhalten, wir werden sie finden. Und wir werden dafür sorgen, dass jeder auf der Welt erfährt, was du hier in Jarime getan hast. Wie wird dein Volk reagieren, wenn es erfährt, wie tief du gesunken bist?«
Sie blinzelte, dann lächelte sie und trat einen Schritt zurück. Schließlich wandte sie sich zu einem anderen Priester um und deutete auf die Pentadrianer. »Bringt sie alle in den Tempel.«
Während die Priester die Pentadrianer hinausführten, sah die Priesterin sich im Raum um. Als ihr Blick auf Ranaan fiel, weiteten sich ihre Augen. Kalen ließ entmutigt die Schultern sinken, als die Frau zu seinem neuen Freund hinüberging.
»Ranaan«, sagte sie leise. »Warum bist du nicht ins Hospital zurückgekehrt?«
Ranaan hielt den Blick gesenkt. »Ich hatte Angst, Priesterin Ellareen - ich meine, Ellareen von den Weißen.«
Ihre Miene wurde weicher. »Das ist verständlich. Du konntest nicht wissen, dass dich ebendie Leute gerettet haben, die deinen Lehrer haben ermorden lassen.«
Ellareen von den Weißen? Als Kalen dämmerte, dass er sich mit einer der Auserwählten der Götter im selben Raum befand, stieg Furcht in ihm auf. Die Weißen sind die Feinde der Pentadrianer. Dann muss sie auch meine Feindin sein.
Der Blick der Frau wanderte zu Kalen hinüber, und er hatte das Gefühl, als stürze sein Magen bis auf den Boden hinab. Ich habe mich ihnen doch nur angeschlossen, weil sie mir etwas zu essen und ein Bett angeboten haben, versuchte er, ihr in Gedanken zu übermitteln. Und weil es so aufregend war, gestand er. Ich bin so dumm. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Sie haben nicht einmal Orgien.
Ellareens Lippen zuckten.
»Ist das wahr?«, fragte Ranaan mit dünner Stimme. »Haben sie Fareeh getötet?«
Die Weiße wandte sich wieder zu ihm um, und ihre Züge waren ernst und voller Mitgefühl. »Ja. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich dich mit jemandem bekannt machen, dem du glauben wirst.«
»Aber … warum haben sie das getan?«
»Um ein schlechtes Licht auf die Zirkler zu werfen. Um den Menschen einen Anreiz zu geben, Pentadrianer zu werden.« Sie sah sich im Raum um. Die meisten der pentadrianischen Konvertiten waren hinausgebracht worden, und die verbliebenen Priester sahen die Weiße erwartungsvoll an. »Ich werde mehr wissen, sobald ich Gelegenheit hatte, alle zu befragen. Ich fürchte, du und dein Freund müsst ebenfalls mitkommen, aber ich werde dafür sorgen, dass man euch gut behandelt.«
»Wird man … wird man uns dafür einsperren?«, fragte Ranaan.
Sie lächelte. »Wahrscheinlich nur für eine Nacht. Morgen werden wir wissen, wer ein Verbrechen begangen hat und wer nicht. Dann wird man euch freilassen - und du wirst gefahrlos zu deinen Leuten zurückkehren können.«
Ranaan wirkte erleichtert. Als die Weiße zurücktrat und die Priester ihnen bedeuteten, ihnen zu folgen, klopfte Kalen Ranaan auf die Schulter.
»Keine Sorge, mein Freund. Selbst wenn das Essen nicht so gut ist wie hier, werden wir zumindest ein Bett für die Nacht haben.«
Das Fladenbrot, das Jade normalerweise jeden Morgen aus einer zu Brei zerdrückten und mit Gewürzen angereicherten Wurzel zubereitete, war überraschend wohlschmeckend. Sie hatte Auraya gezeigt, wie man das Brot machte, und an diesem Morgen hatte Auraya die Mahlzeit zubereitet, während Jade sich für ihre Abreise rüstete. Das Brot, das auf dem erhitzten Kochstein buk, war fast fertig, daher machte Auraya sich jetzt daran, heiße Getränke zuzubereiten.
Jade packte langsam und bedächtig ihre Sachen und nahm mehrere Krüge und Beutel aus ihrem Vorratslager zur Hand, bevor sie entschied, welche davon sie mitnehmen wollte. Sie hatte viele kleine Beutel genäht und stabile Tonkrüge gefertigt, die sie mit Magie gehärtet hatte. Diese Krüge hatte sie mit Pulvern, getrockneten Blättern, Pilzen, Wurzeln, gehärteten Rosinen, klebrigen Gummis und dickflüssigen Ölen gefüllt. Auraya stellte fest, dass sie den Verwendungszweck der meisten dieser Dinge kannte. Während der Zubereitung ihrer Heilmittel hatte Jade ihr erklärt, wozu sie dienten, und Auraya war sich bewusst, dass die andere Frau ihr großzügig Einblick in den reichen Schatz ihrer Heilkenntnisse gewährt hatte.
Als das Brot zu qualmen begann, nahm Auraya es von dem Kochstein und goss heißes Wasser in zwei Becher.
»Das Frühstück ist fertig«, erklärte sie.
Jade richtete sich auf, dann atmete sie tief ein. »Ah, der Geruch der Maita ist morgens immer so wohltuend.« Sie ging zu den Betten hinüber und nahm den Becher entgegen, den Auraya ihr hinhielt. Dann nippte sie an dem Getränk und seufzte anerkennend.
»Wirst du hierher zurückkommen?«, fragte Auraya, während sie das Brot brach und Jade ihren Anteil gab.
»Irgendwann.« Jade betrachtete die Töpfe und Beutel. »Man darf all diese Dinge nicht verkommen lassen. Du kannst sie übrigens gern benutzen. Es hat keinen Sinn, sie schal werden zu lassen.«
»Danke.«
Jade nahm einen Bissen, kaute, schluckte und nippte dann abermals an ihrem Becher. »Hast du immer noch vor, ins Offene Dorf zurückzukehren?«
Auraya nickte. »Mein Platz ist bei den Siyee.«
»Nun denn, behalte Folgendes im Gedächtnis: Wenn du feststellst, dass die Götter dein Verhalten nicht billigen, hast du einen Platz unter uns Unsterblichen, solltest du ihn benötigen.«
»Ich werde daran denken.«
»Tu das.« Jade kicherte. »Dir ist doch klar, dass wir dich genau beobachten werden, um festzustellen, was die Götter tun. Sie haben ein Jahrhundert lang behauptet, alle Unsterblichen seien schlecht. Wenn sie dich akzeptieren, liefern sie damit selbst den Beweis, dass sie unrecht hatten.«
Auraya lächelte. »Vorausgesetzt, dass ich nicht schlecht bin.«
Jade lachte. »Ja.« Sie wandte sich ab und kehrte zu ihrem Reisebündel zurück. Dann stellte sie ihren Becher beiseite, klemmte sich das Brot zwischen die Zähne und verstaute mit schnellen, entschlossenen Bewegungen einige weitere Gegenstände in ihrem Bündel. Schließlich schulterte sie es und kehrte zu den Betten zurück.
»Viel Glück, unsterbliche Auraya«, sagte sie.
Auraya erhob sich. »Danke, Jade. Du hast ein großes Risiko auf dich genommen, um hierherzukommen. Ich weiß deine Tat zu schätzen.«
Die andere Frau zuckte die Achseln. »Ich habe es für Mirar getan. Er ist derjenige, dem du danken solltest.«
»Vielleicht werde ich das tun, wenn er das nächste Mal meine Träume unterbricht.«
Jade zog die Augenbrauen hoch. »Träume, wie? So ist das also, ja?«
Auraya lachte. »Er hat das schon seit langer Zeit nicht mehr getan. Und jetzt geh. Je früher du aufbrichst, umso eher kann ich zu den Siyee zurückkehren.«
Jade wandte sich ab und ging auf den Höhleneingang zu. Dort drehte sie sich noch einmal um, dann verschwand sie in den Schatten. Auraya betrachtete den Eingang noch lange Zeit, nachdem die andere Frau die Höhle verlassen hatte.
Sie ist seltsam, dachte sie. Verschroben und zynisch, aber auch stark und entschlossen. Ich nehme an, so wird man, wenn man so lange gelebt hat. Ob ich auch so werde? Ich nehme an, es könnte mir Schlimmeres passieren. Unter all ihrer Launenhaftigkeit verbirgt sich ein Optimismus in ihr, der mir Trost schenkt. Sie kann immer noch über alle möglichen Dinge lachen. Vielleicht hat sie einfach so viel durchgemacht, dass sie weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis schlimme Situationen sich von selbst regeln.
Sie hatte sich bereiterklärt, Jade drei Tage Vorsprung zu geben, bevor sie selbst die Höhle verließ. Auraya hatte keine Ahnung, wie weit ein erdgebundener Mensch in drei Tagen kommen konnte. Hoffentlich weit genug, um allen Siyee auszuweichen, die die Götter vielleicht als Späher hinter ihr herschickten.
Sie hat so lange gelebt, sagte Auraya sich. Sie kann bestimmt auf sich selbst aufpassen.
Schließlich griff sie nach ihrer Hälfte des Brotes und begann zu essen.
Tintel schwieg, während sie Mirar von einer Plattform zur nächsten führte. Er spürte, dass sie ganz und gar davon beansprucht wurde, Pläne zu schmieden und sich Sorgen zu machen, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte ihn. In einem städtischen Traumweberhaus herrschte immer große Geschäftigkeit, und je mehr Traumweber es zu betreuen galt, desto mehr Arbeit gab es. Dabei konnte er ihr nicht helfen, aber er konnte sie bei Notfällen unterstützen, wie sie sie heute Abend hatten bewältigen müssen.
Wenn sie nicht schon vorher festgestellt hätte, dass er mächtige Gaben besaß, dann würde sie es jetzt wissen. Sie hatten eine Frau besucht, die nach der Geburt eines Kindes heftig geblutet hatte, und Mirar hatte sie nur retten können, indem er sie mit Magie heilte. Tintel war sichtlich beeindruckt gewesen, hatte jedoch nichts gesagt.
Sie hatte bei dem Versuch, die Blutung zu stillen, eine Methode angewandt, die ihm noch nie begegnet war. Es war nicht die erste Weiterentwicklung in der Heilkunst der einheimischen Traumweber, die er seit seiner Ankunft in der Stadt bemerkt hatte. Eigentlich hätten Fortschritte und Entdeckungen der Traumweber sich durch Gedankenvernetzung überall ausbreiten sollen, aber die Einschränkungen und die allgemeine Intoleranz im Norden hatten die Weitergabe des Wissens dorthin verhindert oder verlangsamt.
Sie überquerten die Brücke zum Traumweberhaus. Er öffnete Tintel die Tür, und sie lächelte ihn dankbar an.
»Ich wünschte, die Männer von Dekkar hätten die Manieren jener aus dem Norden«, bemerkte sie trocken. »Danke für deine Hilfe, Wilar.«
Er zuckte die Achseln und folgte ihr hinein. In der Halle lag der Geruch von Essen, und sein Magen knurrte.
»Ich werde jemanden bitten, dir etwas zu essen zu bringen«, sagte er, weil er vermutete, dass Tintel direkt in ihre Räume gehen würde, um zu arbeiten.
»Danke.« Sie nickte. »Vergiss dich selbst nicht.«
Er lächelte. »Das werde ich schon nicht tun.«
Einige Diener und Traumweber waren noch in der Küche. Eine Traumweberin bereitete eine Mahlzeit für ihren Säugling vor, während eine andere sich über das Schnarchen ihres Mannes beklagte. Vom Abendessen waren Suppe und etwas von dem teigigen Brot übrig geblieben, das man hier bevorzugte. Er bat die jammernde Ehefrau, Tintel etwas von beidem zu bringen, dann ging er mit seiner Portion in die Halle hinaus.
Mehrere der jüngeren Traumweber saßen am Tisch. Bei seiner Ankunft blickten sie alle auf, dann schauten sie hastig wieder auf ihr Essen hinab. Ein verlegenes Schweigen folgte, und Mirar fing eine Mischung aus unterdrückter Erheiterung und Spekulationen von ihnen auf.
Er stellte seinen Teller auf den Tisch, setzte sich und begann zu essen.
Das Schweigen dauerte an, doch jetzt wurde die Atmosphäre langsam peinlich. Als einer der Traumweber sich räusperte, um zu sprechen, schienen die anderen erleichtert zu sein.
»Verzeih uns unser Schweigen, Wilar«, sagte der Traumweber. »Deine Ankunft hat uns klargemacht, dass wir Klatsch und Tratsch ausgetauscht haben.«
Mirar lächelte. »Die Menschen tratschen nun einmal. Es liegt in ihrer …« Er suchte nach dem richtigen Wort für »Natur«, und einer der Traumweber ergänzte es. »Was habe ich verpasst?«
Sie lächelten und tauschten einen Blick. Seine Frage hatte ihre Verlegenheit ein wenig gelindert, nicht jedoch die Spannung im Raum.
»Die neuesten Gerüchte besagen, du seist Mirar«, erwiderte der jüngste der Traumweber auf Avvensch.
Die anderen musterten den jungen Mann mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. Er breitete die Hände aus. »Er sollte Bescheid wissen. Was ist, wenn jemand die Geschichte ernst nimmt? Das könnte peinlich sein.«
Mirar lachte und schüttelte den Kopf. »Mirar? Ich? Warum? Weil ich ein Fremdländer bin?«
Sie nickten.
»Mirar ist in den Süden gekommen«, fügte ein anderer hinzu. »Er muss hier irgendwo sein.«
»Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit«, bemerkte der ältere Traumweber.
»Wir wissen gar nichts mit Bestimmtheit.«
Sie begannen, wild durcheinanderzureden, so dass Mirar Mühe hatte, sie zu verstehen. Plötzlich wandte sich einer der Traumweber, die Stillschweigen bewahrt hatten, zu ihm um.
»Du bist also nicht Mirar?«
Mirar stutzte. Wenn er eine direkte Frage leugnete und irgendwann in der Zukunft seine Identität offenbaren musste, würde er gleichzeitig offenbaren, dass er sie belogen hatte. Es war nie gut zu lügen. Die Menschen nahmen es übel, selbst wenn sie wussten, dass die Lüge gerechtfertigt war.
Daher lächelte er nur bescheiden. »Ich bin wegen einer Frau hier, und ich möchte ihr, ähm, die Illusion nicht nehmen.«
Allgemeines Gelächter war die Antwort. Einer der Männer verdrehte die Augen.
»Ich wette, es ist Dardel.«
»Und sie war diejenige, die mir gegenüber angedeutet hat, Wilar könnte Mirar sein«, sagte ein anderer.
»Das erklärt alles.«
Sie lachten abermals.
Der Traumweber, der neben Mirar saß, beugte sich vor. »Du Glückspilz«, murmelte er.
»Wir sollten ihr alle erzählen, dass sie in Bezug auf Wilar recht habe, während wir allen anderen klarmachen, dass sie sich irrt«, schlug der jüngste Traumweber vor. »Was glaubst du, wie lange wir die Wahrheit vor ihr verbergen können?«
»Tintel würde es ihr sagen.«
»Dann weiht eben auch Tintel nicht ein.«
»Sie würde von allein dahinterkommen.«
Mirar lächelte und lauschte, während die anderen Pläne schmiedeten, wie sie Dardel aufziehen konnten. Es schien ihnen damit jedoch nicht ernst zu sein, was Mirar erleichterte.
Was würden sie tun, wenn sie herausfänden, dass Dardel recht hat?, fragte er sich. Diese Traumweber würden ihn wahrscheinlich mit Begeisterung willkommen heißen. Mit mehr als Begeisterung. Das war das Problem. Es war so lange her, seit er unter seinen eigenen Leuten gewesen war, dass sie ihn jetzt voller Ehrfurcht betrachteten.
Es ist eine Ironie. Ein Jahrhundert lang haben die Götter die Lüge verbreitet, wir Unsterblichen hätten die Menschen ermutigt, uns als Göttern zu huldigen, und jetzt scheint es, als hätten meine Leute in meiner Abwesenheit begonnen, genau das zu tun.
Sie werden darüber hinwegkommen, dachte er. Es sind nicht meine Leute, um die ich mir Sorgen machen muss, es sind die Pentadrianer. Bisher war das, was ich gesehen habe, durchaus ermutigend. Keiner der Traumweber hier konnte von mehr als einer Handvoll Konflikten zwischen Traumwebern und Pentadrianern während der letzten Jahrzehnte berichten, und bei diesen Streitigkeiten ging es nur um Geld.
Die Entdeckung, dass ein mächtiger Zauberer mit Einfluss auf die Traumweber sich hier niedergelassen hatte, könnten die einheimischen Pentadrianer jedoch als Bedrohung empfinden. Er musste wissen, wie sie darauf reagieren würden, und es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Die Traumvernetzung war in Südithania nicht verboten. Trotzdem würde er dafür Sorge tragen müssen, dass man ihn nicht entdeckte. Er würde die Pentadrianer nicht für sich einnehmen, wenn sie herausfanden, dass ihre Träume ausspioniert und manipuliert wurden.
Er erhob sich, brachte seinen leeren Teller in die Küche und ging dann auf sein Zimmer. Bevor er sich auskleiden konnte, erklang ein vertrautes Klopfen an seiner Tür. Er lächelte.
Dardel. Ich könnte sie einfach nicht beachten, überlegte er. Aber sie wird enttäuscht sein, und ich habe es nicht allzu eilig, auf Traumjagd zu gehen.
Als Mirar Stunden später in den Traumzustand sank, löste er sich von dem Bewusstsein, dass Dardels warmer Körper dicht an ihn geschmiegt war. Er sandte seinen Geist aus und fand andere Träumer. Dann suchte er ihre Identitäten und pflanzte die Idee seiner Rückkehr in ihre Gedanken.
Ihre Reaktionen waren vielfältig, aber im Allgemeinen wohlwollend. Einige von ihnen brachten jedem, der Macht besaß, Argwohn entgegen, aber niemand stellte sich vor, etwas gegen ihn zu unternehmen, um die Gemeinschaft von ihm zu befreien. Die meisten der anderen scherte es nicht, was geschah, solange es keine nachteilige Wirkung auf ihr Leben hatte. Manche fanden die Idee ermutigend. Sie schätzten die Fähigkeiten der Traumweber und glaubten, dass die Rückkehr Mirars weitere Fortschritte bringen würde.
Stunden verstrichen, und Mirars Erregung wuchs. Er konnte es schaffen. Er konnte aus seinem Versteck kommen und wieder zum Anführer seiner Leute werden. Doch eine einzige Nacht, in der er die Gedanken von Träumern durchforschte, war nicht genug. Er musste es jede Nacht tun und das über einen Zeitraum von… Wochen? Monaten?
Dann fielen ihm die Zwillinge ein. Sie schöpften den Geist von Menschen überall auf der Welt ab, jeden Tag. Sie wussten vielleicht bereits, wie die Südithanier die Neuigkeit aufnehmen würden, dass er sich in einem ihrer Länder niedergelassen hatte.
Er hatte sich bisher nur wenige Male mit den Zwillingen vernetzt. Da er ihnen nie begegnet war, hatte er eine förmlichere Beziehung zu ihnen als Emerahl. Er setzte sich nur dann mit ihnen in Verbindung, wenn er etwas Wichtiges zu besprechen hatte, und er vermutete, dass sie ihn genauso behandelten wie die Herrscher, die Weisheitssucher und die Gelehrten, die vor langer Zeit ihren Rat gesucht hatten - mit höflichem Interesse.
Obwohl er ihren Rat vernünftig und scharfsichtig fand, brachte er ihnen nicht das gleiche Vertrauen entgegen wie Emerahl. Nur weil sie ebenfalls Unsterbliche waren, bedeutete das nicht, dass sie immer Verbündete sein würden. Außerdem gab es eine kleine Merkwürdigkeit, die ihm zu schaffen machte. Alle bei der Geburt miteinander verwachsenen Zwillinge, die er kannte, hatten sich geglichen wie ein Ei dem anderen. Das traf auf Surim und Tamun aber offenkundig nicht zu. Sie hatten nicht einmal dasselbe Geschlecht. Emerahl hatte diesen Umstand als unwichtig abgetan und darauf hingewiesen, dass Unsterblichkeit und die Fähigkeit, Gedanken abzuschöpfen, ebenso ungewöhnlich seien. Trotzdem machte ihm die Möglichkeit zu schaffen, dass die Zwillinge sie belogen haben könnten.
Tamun? Surim?, rief er.
Mirar.
Es war Tamun. Ihre Antwort kam beunruhigend prompt, als sei sie ganz in der Nähe gewesen.
Wie geht es euch beiden?, fragte er.
So wie immer. Hier verändert sich nur wenig. Ich bin heute allein auf Gedankenreise. Surim ist wieder auf der Jagd. Ihre Gedankenstimme beschwor in ihm stets das Bild einer scharfsinnigen, drahtigen alten Frau herauf, obwohl Emerahl ihm versichert hatte, dass Tamun das Äußere einer jungen Frau besaß.
Ich habe eine Frage.
Warte einen Moment. Ich werde sehen, ob ich Surims Aufmerksamkeit erregen kann.
Ist er nicht auf der Jagd?
Es ist eher die Art Jagd, wie du sie gerade genossen hast. Er schläft gleich danach immer ein… Ah, da ist er.
Hast du mich wieder beobachtet?, fragte Surim anklagend.
Natürlich nicht. Mirar hat eine Frage an uns, antwortete Tamun.
Mirar!, rief Surim. Wie ist das Leben in Dekkar?
Es ist gut hier, erwiderte Mirar. Besser, als ich erwartet hatte.
Ja, die Pentadrianer sind in manchen Dingen toleranter als die Menschen im Norden, stimmte Tamun ihm zu.
Ich fühle mich versucht, mich zu offenbaren - um meine Position unter den Traumwebern zurückzufordern. Was glaubt ihr, wie die Pentadrianer reagieren werden?
Wenn du eine Parade zu deinen Ehren erwartest, wirst du enttäuscht werden, sagte Surim. Obwohl ich auch nicht glaube, dass die Stimmen dir einen Henker schicken werden. Allerdings werden sie dich wahrscheinlich kennenlernen wollen, um sich davon zu überzeugen, dass du keine Bedrohung für sie darstellst.
Solange du ihre Herrschaft nicht infrage stellst oder anfängst, Pentadrianer zu bekehren, werden sie dich in Ruhe lassen, ergänzte Tamun. Aber du bist nicht gerade als großer Schweiger bekannt, wenn du anderer Meinung bist als jene, die die Macht haben, Mirar. Könntest du daneben stehen und auf einen Protest verzichten, wenn es dir nicht gefiele, wie sie ihr Volk beherrschen?
Ich habe gerade hundert Jahre als ein Mensch verbracht, der genau das getan hat. Ich habe Vorsicht und Geduld gelernt.
Du hast gelernt wegzulaufen, wo du früher gekämpft hast. Das ist nicht dasselbe, warf Surim ein.
Nein, pflichtete er ihm bei. Ich werde versuchen, einen Mittelweg zwischen weglaufen und kämpfen zu finden.
Du wirst Kompromisse schließen und verhandeln? Surim klang erheitert.
Wenn es sein muss.
Es bedeutet ein Risiko für dich selbst und für deine Leute und eine Veränderung, die du nicht leicht wirst umkehren können. Was wirst du dadurch gewinnen? Was werden die Traumweber gewinnen?, fragte Tamun.
Mein Wissen wird ihnen zur Verfügung stehen, und ich denke, dass meine Rückkehr ihnen Hoffnung und Mut geben wird, vor allem im Norden.
Sie werden vielleicht zu viel von dir erwarten. Sie werden vielleicht denken, dass deine Rückkehr zu einer Machtstärkung der Traumweber überall auf dem Kontinent führen wird, warnte ihn Tamun.
Traumweber streben nicht nach Macht, und nach allem, was ich gesehen habe, tun sie es immer noch nicht.
Wir stimmen dir zu. Es gibt allerdings noch eine Angelegenheit, die du bedenken solltest, sagte Surim.
Ja?
Obwohl wir glauben, dass die Pentadrianer nichts dagegen haben werden, wenn du dich dort niederlässt, kann man ihnen dennoch nicht vertrauen. Hast du von deinen Leuten etwas über die Angriffe in Jarime gehört und die Rolle, die die Pentadrianer dabei spielten?
Nein. Was ist passiert?
Einige der Angriffe auf Traumweber, sowie die Morde an etlichen von deinen Leuten, sind von einer Gruppe von Pentadrianern organisiert worden. Sie wussten, dass man den Zirklern die Schuld an den Gewalttaten geben würde, und haben die Enttäuschung der Menschen ausgenutzt, um neue Anhänger anzuwerben.
Das ist beunruhigend.
Ja, aber die Beweggründe der Pentadrianer waren nicht Hass auf die Traumweber, sondern eine skrupellose, nüchterne Einschätzung der Situation. In Südithania besteht für Pentadrianer kein Grund, Traumwebern Schaden zuzufügen, um Menschen zu bekehren, aber das verringert nicht die Wahrscheinlichkeit, dass sie deine Leute auf andere Weise benutzen könnten.
Das wäre immer ein Risiko.
Und dann wäre da noch ein Punkt, den du nicht außer Acht lassen solltest, fügte Tamun hinzu.
Und der wäre?
Wenn du das Wohlwollen der Pentadrianer erringst, wirst du vielleicht Aurayas Feindschaft auf dich ziehen.
Mirar hielt inne, um darüber nachzudenken.
Ihre Feindschaft habe ich bereits, erwiderte er. Solange sie den Göttern folgt, muss sie mich als ihren Feind betrachten. Selbst wenn das nicht der Wahrheit entspräche, darf Aurayas Einstellung zu mir keinen Einfluss auf meine Entscheidungen bezüglich der Traumweber haben.
Surim und ich sind in dieser Hinsicht anderer Meinung. Auraya mag den Hass der Götter auf die Unsterblichen nicht teilen, aber sie hat nicht viel übrig für die Pentadrianer. Es könnte einen Unterschied für sie machen, wenn du dich dort niederlässt.
Das kann ich nicht ändern. Diese Menschen verdienen ihre Verachtung nicht. Ich werde sie nicht zurückweisen, aus Furcht, Auraya damit vor den Kopf zu stoßen. Er hielt inne. Wie geht es ihr? Ich habe seit Tagen nichts mehr von Emerahl gehört.
Emerahl hat darauf gewartet, dass du dich mit ihr in Verbindung setzt.
Weil sie befürchtet, dass ich sie für die schlechten Neuigkeiten tadeln könnte, die sie mir bei unserer letzten Unterredung überbracht hat?
Ja.
Dumme Frau. Sie weiß, dass ich das nicht tun würde.
Nein, aber wir können nicht umhin, alte Ängste und Gewohnheiten beizubehalten. Es wäre taktvoll, wenn …
Auraya hat sich zu einer Unsterblichen gemacht, unterbrach Surim sie.
Mirars Herz machte einen Satz.
Emerahl dachte, sie würde es nicht tun!
Irgendetwas hat sie dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern. Außerdem hat sie zwei unerwartete Gaben offenbart. Zum einen hat sie die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, wiedergewonnen.
Aber… kein Unsterblicher war dazu jemals in der Lage … oder?
Nicht zu unseren Lebzeiten, bestätigte Tamun. Die zweite Gabe, die sie offenbart hat, ist die Fähigkeit, die Götter zu spüren und zu hören. Anscheinend kann sie sie auch sehen, wenn sie Gedanken abschöpft.
Emerahl hat ihr klugerweise geraten, das vor den Göttern verborgen zu halten, ergänzte Surim. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie allzu begeistert darüber wären, wenn sie wüssten, dass man ihnen nachspionieren kann.
Auraya hat gesagt, die Götter wüssten bereits, dass sie sie spüren kann, wenn sie in der Nähe sind, fuhr Tamun fort.
Das ist … Mirar schauderte. Das ist mehr als nur eine weitere angeborene Gabe.
Da hast du recht, stimmte Tamun ihm zu. Es scheint, als sei Auraya keine gewöhnliche Unsterbliche. Vielleicht liegt es daran, dass sie zuerst eine Weiße war. Die Fähigkeiten, die die Götter ihr gegeben haben, haben sich ihr irgendwie eingeprägt.
Nur dass sie ihr nicht die Fähigkeit gegeben hätten, sie zu spüren und zu hören, als sie eine Weiße war. Das ist etwas vollkommen Neues.
Es könnte eine unbeabsichtigte Nebenwirkung des Umstands sein, dass sie früher mit ihnen verbunden war, meinte Surim.
Was auch immer der Grund dafür sein mag, sie wäre klug beraten, es geheim zu halten. In wenigen Tagen wird sie in das Offene Dorf zurückkehren. Dann werden wir sehen, wie die Götter die Neuigkeit aufnehmen, dass ihre ehemalige Favoritin gelernt hat, ihren Geist zu verbergen - und einige andere Dinge zu tun, was immer sie ihnen davon zu entdecken gestattet. Wir werden dich darüber auf dem Laufenden halten, was weiter geschieht.
Ein Stich der Furcht durchzuckte Mirar. Er hatte versucht, sich einzureden, dass es keine Rolle spiele. Auraya war ohnehin unerreichbar für ihn. Das Problem war, dass der Teil von ihm, der seine Sorge um sie nicht unterdrücken konnte, nicht geneigt war, auf den Teil zu hören, der die Dinge logisch und nüchtern anging.
Danke für die Neuigkeiten, sagte er. Und für euren Rat.
Nutze ihn wohl, erwiderten die Zwillinge wie aus einem Mund. Dann verstummten ihre Stimmen, und Mirar ließ sich in seinen gewohnten, sorgenvollen Schlaf sinken.
Owaya!«
»Als ein kleines, pelziges Etwas quer durch die Laube schoss, ging Auraya in die Hocke und streckte die Arme aus. Unfug sprang auf ihre Schulter und rieb die Wange an ihrem Ohr.
Die Siyee, die sich normalerweise um den Veez kümmerte, Tytee, trat aus dem Nebenzimmer, aus dem Unfug gekommen war.
»Willkommen zurück, Priesterin Auraya«, sagte sie lächelnd.
Auraya spürte Erleichterung bei der Frau. Unfug gab leise, wimmernde Laute von sich, während Auraya ihn kraulte.
»Owaja zurück. Owaja zurück«, murmelte er wieder und wieder.
»Danke, Tytee. Man sollte meinen, ich sei Monate fort gewesen«, bemerkte Auraya überrascht. Sie hatte Unfug nicht mehr so aufgewühlt gesehen, seit er vor der Schlacht mit den Pentadrianern aus ihrem Zelt entführt worden war. »Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Nein. Es ging ihm gut, aber einen Tag nach deinem Aufbruch verhielt er sich plötzlich anders«, erwiderte Tytee. »Er geriet plötzlich außer sich und sagte wieder und wieder: ›Auraya fort.‹ Dann wurde er sehr unglücklich. Es war, als seist du gestorben, und er trauerte. Ich habe ihn mit mir herumgetragen und mir Sorgen gemacht, dass er einfach dahinsiechen würde, wie alte Menschen es manchmal tun, wenn ihr Partner gestorben ist.«
Auraya setzte Unfug auf den Boden und musterte ihn eingehend. »Interessant.« Sie ließ den Schild um ihren Geist dünner werden, und sofort sprach eine leise, vertraute Stimme in ihre Gedanken.
Owaja zurück! Hinter der Freude in seinen Worten lagen eine verblassende Traurigkeit und Verwirrung.
Gewissensbisse machten sich in ihr breit. Irgendwie musste Unfug eine Verbindung zu ihrem Geist geschmiedet haben. Sobald sie in den Leeren Raum getreten war, war diese Verbindung unterbrochen worden. Die einzige Erklärung, die er dafür hatte finden können, war die, dass sie gestorben sein müsse.
»Armer Unfug«, sagte sie und zog ihn fest an sich. Sofort verwandelte sich seine Freude in Verärgerung, und er zappelte sich frei. Dann kletterte der Veez zu seinem Korb hinauf und rollte sich darin zusammen.
»Unfug schlafen.«
Tytee lachte. »Wenn wir doch nur alle so leicht zufriedenzustellen wären«, sagte sie.
»Und man uns so leicht vergeben würde«, stimmte Auraya zu. »Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast, während ich fort war.«
Die Frau zuckte die Achseln. »Es macht mir nichts aus. Er heitert mich immer auf, und er ist wesentlich anspruchsloser als die Kinder, um die ich mich kümmere. Ich muss …«
»Priesterin Auraya?«
Sie drehten sich beide um und sahen Sprecherin Sirri in der Tür stehen.
»Komm herein«, sagte Auraya. Als die Sprecherin eintrat, entschuldigte sich Tytee und schlüpfte hinaus.
»Willkommen zurück«, sagte Sirri.
»Danke.« Da sie eine starke Anspannung bei der Anführerin der Siyee wahrnahm, schaute Auraya genauer hin. Sie sah, dass Sirri sich während Aurayas Abwesenheit zunehmend Sorgen gemacht hatte. Das Erscheinen einer ungeladenen Landgeherin in Si hatte auch sie beunruhigt.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Sirri.
»Sehr gut«, antwortete Auraya. »Jade hat sich auf den Heimweg gemacht. Ich habe viel gelernt, während ich mit ihr zusammen war. Sie verfügt über erstaunliche Kenntnisse der Heilkunst.« Auraya deutete auf den Beutel, den sie mitgebracht hatte.
»Und doch konnte sie ihre eigene Krankheit nicht behandeln?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Sie hat nach mir schicken lassen, weil sie allein nicht bewerkstelligen konnte, was sie tun musste.«
»Dann geht es ihr jetzt also wieder besser?«
»Ja.«
Sirri nickte. »Gut.« Sie lächelte. »Dann haben wir dich wieder für uns.«
»Ist irgendetwas passiert, während ich fort war?«
»Nichts Dramatisches. Es gab nur eine kleine Auseinandersetzung zwischen den Stammesführern.« Sirri seufzte. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit, um dir die Angelegenheit zu erklären. Als die Nachricht von deiner Ankunft kam, war ich gerade bei einer Versammlung der Anführer. Ich habe eine Pause verfügt, aber ich kann nicht lange fortbleiben. Ich muss wieder hingehen und versuchen, etwas Vernunft in die beiden Köpfe zu bekommen.«
»Worum geht es bei der Auseinandersetzung?«
Sirri verzog das Gesicht. »Der Feuerbergstamm glaubt, ein Anrecht auf alle Erträge einer Mine zu haben, obwohl sich nur ein Teil davon in ihrem Tal befindet.«
»Ah. Das wird nicht leicht zu klären sein. Du hast mein Mitgefühl.«
»Danke«, erwiderte Sirri trocken, dann trat sie auf den Eingang zu.
»Komm später noch einmal her und erzähl mir davon, wenn du Zeit hast.«
»Das werde ich tun.«
Sirri schlüpfte durch den Türbehang und eilte davon. Endlich allein, ging Auraya zu einem Stuhl und setzte sich.
Alles ist wieder normal, überlegte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Nein, es sieht nur auf den ersten Blick so aus. Mein Geist ist abgeschirmt, und mein Körper altert nicht mehr. Soweit es die Götter betrifft, ist nichts mehr so, wie es war - oder wie es sein sollte.
Seit Huans und Sarus letztem Besuch hatte sie nichts mehr von den Göttern gespürt. Nachdem die beiden davongeeilt waren, um sich auf die Suche nach den anderen Göttern zu machen, hatte Auraya erwartet, dass Yranna, Lore und Chaia erscheinen würden, und sei es auch nur, um Huans Behauptungen zu überprüfen.
Vielleicht hat Huan Chaia nichts davon erzählt, dachte sie. So vieles hängt von Chaia ab. Ich muss mit ihm sprechen. Ich muss wissen, ob er akzeptieren wird, was ich getan habe.
Sie erwog einen Moment lang die Möglichkeit, ihn zu rufen, aber auf diese Weise hatte sie in der Vergangenheit nicht immer seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Stattdessen beschloss sie, sich mit Hilfe des Gedankenabschöpfens auf die Suche nach ihm zu machen.
Sie schloss die Augen, verlangsamte ihre Atmung und ließ sich in eine Traumtrance sinken. Zuerst schöpfte sie die Gedanken der Siyee um sie herum ab und entdeckte dabei Männer und Frauen, die häusliche Arbeiten verrichteten, und eine Gruppe von Kindern, die ein Spiel spielten. Schließlich sandte sie ihre Sinne weiter aus und erspürte die Geister in der Welt als Gedankenpunkte wie winzige Lichter, dann suchte sie nach größeren, helleren Präsenzen.
Sie entdeckte eine unvertraute, weibliche Präsenz und vermutete, dass sie Yranna gefunden hatte, denn sie war überzeugt davon, dass sie Huan sofort erkannt hätte. Die Göttin stand mit niemand anderem in Verbindung, und Auraya konnte ihre Gedanken nicht hören. Die Bestätigung, dass sie nicht in der Lage war, die Gedanken der Götter zu hören, war beruhigend. Sie zog weiter und fand eine männliche Präsenz. Es war nicht Chaia, daher setzte sie ihre Suche fort.
Ich tue das, um Chaia zu finden, nicht um zu lauschen, sagte sie sich.
Zu guter Letzt nahm sie ein Summen wahr, wie das Geräusch von jemandem, der gerade noch in Hörweite war. Sie rückte näher heran, und ein Gefühl des Triumphs stieg in ihr auf, als sie Chaias Stimme erkannte.
… sind an Ort und Stelle. Was glaubst du, was sie als Nächstes tun werden?
Das kommt darauf an, ob sie gehört haben, was in Jarime geschehen ist. Sie wären Narren, wenn sie das Gleiche noch einmal versuchen würden. Die zweite Stimme gehörte Lore.
So dumm sind sie nicht.
Nein, aber wenn sie Befehle bekommen haben, welche Wahl haben sie dann?
Keine, antwortete Chaia. Es wird interessant sein, das zu beobachten.
Ja. Wie dem auch sei, ich bin hergekommen, um dir mitzuteilen, dass deine Favoritin ins Offene Dorf zurückgekehrt ist.
Ah.
Huan wird verlangen, dass wir jetzt eine Entscheidung treffen.
Natürlich. Du weißt ja, wie sehr Huan Komplikationen liebt, stumpfsinniges Miststück, das sie ist.
Auraya war erheitert, aber auch überrascht. Sie bezweifelte, dass Chaia so von Huan gesprochen hätte, wenn er gewusst hätte, dass Auraya ihn hörte.
Es gibt interessante Komplikationen, und es gibt gefährliche, warnte Lore.
Auraya ist nicht gefährlich - oder zumindest wäre sie es nicht, wenn Huan aufhören würde, sie zu manipulieren, erwiderte Chaia.
Woher willst du wissen, ob Auraya gefährlich ist oder nicht, wenn du nicht in ihre Gedanken sehen kannst?
Weil ich mir die Zeit genommen habe, sie kennen zu lernen. Sie wird uns nicht verraten, es sei denn, wir treiben sie dazu.
Sie wird dich nicht verraten.
Nein. Ironischerweise habe ich das Huan zu verdanken.
Also, was wirst du tun?, fragte Lore.
Ich werde nicht zulassen, dass das Miststück sie tötet.
Selbst wenn die anderen dich überstimmen?
Dann erst recht nicht. Die Dinge werden gerade erst interessant. Bedenke dies: Es gibt andere Möglichkeiten, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich habe die Anwerbung von Menschen immer ihrer Auslöschung vorgezogen.
Ich stelle fest, dass ich dir mehr und mehr zustimme. Ich frage mich, ob ich Yranna überreden könnte …
Deine Chancen stünden besser als meine.
Ich werde es versuchen.
Als Lore verschwand, zog Auraya langsam ihren Geist zurück. Sie hatte mehr Antworten gefunden, als sie erwartet hatte.
Bevor du dich davonschleichst, Auraya …
Sie erstarrte.
Chaia?
Ja, ich kann spüren, dass du da bist, obwohl du dich sehr still verhalten hast. Wie oft hast du uns schon auf diese Weise nachspioniert?
Nur zweimal. Das erste Mal war ein Versehen. Diesmal bin ich gekommen, um dir eine Frage zu stellen.
Dann frag. Chaia klang nicht verärgert, nur erheitert.
Wirst du … wie lange weißt du schon, dass ich gelauscht habe?
Von dem Augenblick an, als du bei uns angekommen bist.
Und Lore?
Hat keine Ahnung. Er weiß nicht, wozu du fähig bist, daher rechnet er nicht mit Spionen.
Aber du wusstest es, bemerkte sie.
Ich hatte den Verdacht, dass deine Fähigkeiten sich unter den richtigen Umständen entwickeln würden. Was hat dich dazu bewogen zu lernen, wie du deinen Geist verbergen kannst?
Das, was ich gehört habe, als ich das erste Mal, ähm, gelauscht habe.
Ah. Und du bist eine Unsterbliche geworden?
Sie zögerte. Wenn sie Chaia nicht vertraute, konnte sie den Göttern ebenso gut gleich die Gefolgschaft aufkündigen.
Ja. Huan sagte, ich sei in jedem Falle verdammt, nur weil ich wusste, wie man Unsterblichkeit erlangen kann.
Ich bin ein wenig enttäuscht, dass du dich nicht zuerst mit mir beraten hast.
Das hätte ich auch getan, erwiderte sie aufrichtig, wenn du in der Nähe gewesen wärst und ich dich hätte fragen können. Verzeihst du mir?
Dass du eine Unsterbliche geworden bist oder dass du dich nicht mit mir beraten hast?
Beides.
Wir werden sehen. Du hast weder meine Liebe noch meine Unterstützung verloren. Ich weiß, dass ich dich nicht daran hindern kann, in deine Fähigkeiten hineinzuwachsen, ebenso wenig wie ein Vater sein Kind hindern kann zu wachsen. Bleib mir ergeben, und ich werde dir ergeben bleiben.
Eine Woge der Erleichterung schlug über Auraya zusammen.
Das werde ich.
Glaub nicht, dass es leicht sein wird, warnte er sie. Huan mag es zu schätzen wissen, wenn die Welt simpel und berechenbar ist, aber ihre Ränke und Fallen sind es nicht. Je mächtiger du wirst, Auraya, umso mehr wird sie versuchen, dich zu vernichten. Und umso leichter wird es für dich sein, ihre Pläne zu durchkreuzen. Er hielt inne. Eines solltest du jedoch nie vergessen: Es mag nicht leicht für sie sein, dir Schaden zuzufügen, aber sie kann jenen schaden, die du liebst.
Auraya musste unwillkürlich an Mirar denken. Obwohl er ihr nicht das bedeutete, was Leiard ihr bedeutet hatte, wollte sie dennoch nicht, dass ihm etwas zustieß, weil Huan glaubte, dass ihre Gefühle für ihn sehr stark seien. Glücklicherweise war er in Südithania außerhalb von Huans Reichweite.
Wem könnte Huan sonst noch Schaden zufügen? Unfug? Das wäre schäbig und niederträchtig. Danjin? Auraya mochte ihn, aber er war nicht länger ihr Ratgeber. Ihr Vater? Sie hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen …
Wie kann ich sie beschützen? Huan kann ihre Gedanken lesen. Sie kann sie finden.
Du kannst sie nicht beschützen, sagte Chaia. Du kannst nur versuchen, Huan keinen Grund zu liefern, den sie benutzen kann, um die anderen Götter dazu zu überreden, zu einem Schlag gegen dich auszuholen. Ich werde … Er brach abrupt ab. Geh wieder zurück, Auraya. Und versuche nicht noch einmal, auf diese Weise zu mir zu sprechen. Geradeso wie du uns reden hören kannst, können wir dich reden hören, und es würde nicht viel dazugehören, deine neue Fähigkeit zu bemerken.
Von einem Augenblick auf den anderen war er fort. Sie kehrte wieder in ihren Körper zurück. Als sie die Augen öffnete, sah sie sich in der Laube um und fühlte sich mit einem Mal einsam.
Das ist also der Preis dafür, etwas zu lernen, von dem die Götter nicht wollten, dass ich es lerne - statt mich selbst in Gefahr zu bringen, muss ich jetzt dafür sorgen, dass ich niemanden liebe, aus Furcht, dass Huan zum Schlag gegen ihn ausholen könnte, um mich zu treffen.
Sie stand auf und begann auf und ab zu laufen. Das ist nicht gerecht!, dachte sie. Dann stieß sie ein bitteres Lachen aus. Meine Güte, ich klinge wie ein Kind.
Aber es war tatsächlich nicht gerecht. Und wenn Huan bereit war, unschuldigen Menschen etwas anzutun, nur um Auraya zu verletzen, dann war sie genauso verachtenswert, wie Mirar es behauptet hatte. Und wenn die anderen Götter ihr zustimmten? Auraya stieß einen heftigen Seufzer des Entsetzens aus. Dann bin ich verdammt. Ithania ist verdammt.
Ein leises Wimmern unterbrach Aurayas Gedankengang. Als sie aufblickte, sah sie, dass Unfug sie beobachtete, die Augen groß und dunkel und mit zitternden Schnurrhaaren. Sie spürte Angst und Sorge bei ihm. Ihr ohnmächtiger Zorn verebbte, und sie ging zu dem Veez hinüber, um ihn zu streicheln und tröstende Worte zu murmeln.
Lügen, schoss es ihr durch den Kopf. Ich fürchte, es ist nicht alles in Ordnung, Unfug. Aber eines ist wahr: Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand dir Böses tut.
Das Kreischen der Vögel hallte über die Stadt, und Götterdiener Teroan fluchte leise vor sich hin. Er hatte sich wieder einmal verspätet. Obwohl es möglich war, dass die Vogelausbilder den Zeitpunkt für den Übungsflug ihrer Tiere falsch gewählt hatten, war es doch eher unwahrscheinlich.
So wahrscheinlich wie eine Fehleinschätzung des Zeitpunkts für den Sonnenaufgang, sagte er sich. Der Ergebene Götterdiener Cherinor hat mehr Sonnenuhren als jeder andere in Avven.
Es hieß, der Mann, der das Kommando über die Stadt und die Vögel innehatte, habe seinen Favoriten sogar dazu ausgebildet, zu jeder vollen Stunde zu rufen. Und dass sein Gehilfe einen Zeitplan für Cherinor verwaltete, der auf die Minute durchgeplant war. Und dass Cherinor nicht schlafe.
Ich bezweifle, dass er die Freuden eines langen Bads oder eines ausgiebigen Gesprächs zu schätzen weiß, dachte Teroan säuerlich. Und wenn er es tut, wette ich, dass jede Minute genau organisiert ist, um sicherzustellen, dass keine Zeit verschwendet wird.
Der Pfad zu den Bädern war steil, und als Teroan den Eingang erreichte, keuchte er vor Anstrengung. Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Der Ausblick hier war schön, und es war eine Schande, dass die Bäder so wenige Fenster hatten. Wahrscheinlich musste verhindert werden, dass die warme Luft nach außen abfloss.
Von der Tür aus konnte er den größten Teil der Stadt sehen. Die Häuser von Klaff hatten die gleiche Farbe wie die Klippen. Die Hauptstraße schlängelte sich durch die Stadt und durch das Tal, bevor sie einen geraden Verlauf annahm und in der Ferne immer schmaler wurde. Irgendwo am Ende dieser Straße lagen Glymma und das Sanktuarium.
Als er hierhergeschickt worden war, hatte er sein Pech verflucht. Die Hauptstädte von Mur und Dekkar waren Dörfer im Vergleich zu der avvenschen Hauptstadt, und verglichen mit ihnen war Klaff nur ein erbärmlicher Weiler. Die Schauspieltruppen, deren Aufführungen er sich so gern angesehen hatte, verirrten sich niemals hierher. Wein oder alle anderen Delikatessen und Luxuswaren, die er begehrte, musste er zu hohen Kosten aus Glymma bestellen, und seine Frau beklagte sich ständig über den Lärm der Vögel. Sein einziger Trost waren die Bäder. Sie waren genauso gut wie die im Sanktuarium von Glymma, wenn nicht sogar besser.
Die Hügel rund um die Stadt waren durchsetzt von Höhlen, und manche davon enthielten Quellen. Das Wasser war nicht so rein wie das im Sanktuarium, aber die Einheimischen behaupteten, die rotbraune Färbung komme von einem Mineral, das der Gesundheit zuträglich sei. Das Mineral wurde aus dem Trinkwasser herausgefiltert und in ganz Südithania als verjüngender Schlamm verkauft, mit dem man sich die Haut bemalen konnte.
Nicht allzu weit über ihm kreisten Vögel, deren Kreischen ohrenbetäubend war. Er zuckte zusammen und wandte sich wieder zu der Tür um. Manchmal konnte er nicht umhin, seiner Frau recht zu geben. Es war kein angenehmes Geräusch.
Ein Domestik begrüßte Teroan, machte das Zeichen der Götter über seiner Brust und führte ihn dann einen vertrauten Flur hinunter. Die meisten Türen, an denen sie vorbeikamen, waren mit Vorhängen bedeckt, aber einige waren unverhüllt. In diesen Räumen konnte er fast nackte Sklaven sehen, die die Wände abschrubbten. Ein scharfer Geruch drang an seine Nase und trieb ihm Tränen in die Augen. Er fragte sich, wie die Sklaven das ertrugen.
Der Domestik blieb an einer Tür stehen und bedeutete Teroan einzutreten. Der Raum, in den er jetzt kam, war vor kurzem gesäubert worden. Teroan fand, dass es eine Schande war, da die Muster, die der grüne Moder gebildet hatte, ihm die Illusion vermittelt hatten, irgendwo inmitten eines Waldes in einem natürlichen Teich zu baden.
Allerdings hatte der Moder keinen angenehmen Geruch gehabt. Jetzt roch der Raum wie der Ozean. Teroan lachte leise, während er auf den einzigen anderen Benutzer des Raumes zuging.
»Du hast dir wieder mal Seesalze ausgesucht, Dameen?«
Der Mann blickte auf und grinste. »Sie erinnern mich an zu Hause.«
Teroan schälte sich aus den Schichten seiner Roben und warf sie auf die Bank neben Dameens säuberlich zusammengelegten Kleidern. Er stieg in das lauwarme Wasser hinab, dann ließ er sich auf eine der Bänke im Becken sinken. Das trübe, rotbraune Wasser konnte weder seine Fettwülste verbergen noch die Tatsache, dass seinem Freund unterhalb der Knie die Beine fehlten. Irgendwie war es Dameen gelungen, sich trotz seiner Verletzung sein muskulöses, gutes Aussehen zu bewahren. Teroan vermutete, dass der Mann gewohnheitsmäßig weiterhin für regelmäßige körperliche Ertüchtigung sorgte, außerstande, seine Ausbildung als Krieger gänzlich abzustreifen.
Eine Weile saßen sie schweigend da, zufrieden damit, sich in der Gesellschaft des anderen zu entspannen.
»Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum«, sagte Dameen nach einer Weile.
»Tatsächlich?«
»Ich habe geträumt, der Anführer der Traumweber sei nach Südithania gekommen.«
Teroan sah seinen Freund überrascht an. »Ich habe gestern Nacht von demselben Mann geträumt. Wahrscheinlich beschäftigen uns die Gerüchte über seine Rückkehr. Was ist in deinem Traum geschehen?«
»Ich habe mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich eine der Stimmen wäre …« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Oder vielleicht hat mir auch jemand anders diese Frage gestellt… Ich erinnere mich nicht.«
»In meinem Traum ist dasselbe passiert. Zu welchem Schluss bist du gekommen?«
»Dass ich nichts unternehmen würde, solange er keinen Ärger macht.«
Teroan nickte. »Ich habe mich genauso entschieden. Es könnte nur von Vorteil sein, wenn er zurückkehrte. Ihm haben die Traumweber ihre guten Kenntnisse der Heilkunst zu verdanken; vielleicht würden sie unter seiner Führung noch besser werden. Sie haben uns nach der Schlacht sehr geholfen, und dafür stehen wir tief in ihrer Schuld.«
»Ja.« Dameen blickte auf die Stumpen seiner Beine hinab und zuckte die Achseln. »Aber andererseits bin ich voreingenommen. Heute Morgen habe ich noch einmal darüber nachgedacht. Die Stimmen würden ein solches Ereignis vielleicht anders beurteilen. Sie würden einen mächtigen Zauberer sehen, der das Volk gegen sie aufbringen könnte.«
»Was glaubst du, was sie tun würden?«
»Kuar hätte ihn zu seinem Verbündeten gemacht.« Er runzelte die Stirn. »Was Nekaun betrifft, bin ich mir nicht sicher. Ich habe keine Ahnung, was er tun würde.«
Teroan lächelte. Der Krieger konnte nicht aus seiner Haut heraus. Er hätte seine Vergangenheit eigentlich hinter sich lassen sollen, aber auch wenn sein Körper nicht mehr unversehrt war, war sein Geist doch so lebhaft wie eh und je.
Was für eine Verschwendung, dachte Teroan. Er konnte niemanden als Ersatz für Kuar akzeptieren, daher ist er hier gelandet, und seine Fähigkeiten als Berater bleiben ungenutzt.
Was Teroan mit eigennütziger Dankbarkeit erfüllte. Wenn Dameen Klaff verließe, wer wäre dann noch hier, der interessant und intelligent genug für angeregte Gespräche wäre? Gewiss nicht die Vogelzüchter. Oder seine Frau.
»Findest du es eigenartig, dass wir in derselben Nacht denselben Traum hatten?«, fragte Teroan.
Dameens kluge Augen wurden schmal. »Du hast den Verdacht, dass die Traumweber sich an unseren Träumen zu schaffen machen?«
Teroan zuckte die Achseln. »Wenn zwei Menschen in derselben Nacht dasselbe träumen, könnte das ein bloßer Zufall sein. Wenn wir noch jemand anderen finden, der diesen Traum hatte, dann steckt vielleicht mehr dahinter.«
»Und wenn Mirar tatsächlich in Südithania auftaucht?«
Teroan nickte. »Ja. Auch das könnte mich überzeugen.« Glühende Kohlen waren alles, was im Kohleofen zurückgeblieben war. Etliche Kissen waren vor der Feuerstelle verstreut worden, und darauf lag eine Frau und schlief. Neben ihr standen ein leerer Krug und ein Becher. Danjin hielt inne, um die Wölbung ihrer Hüfte und den feinen Schnitt ihres Gesichts zu bewundern, bevor er auf sie zuging. Warme Zuneigung stieg in ihm auf. Er konnte sich wahrhaft glücklich schätzen, Silava zur Frau zu haben.
Es hatte Zeiten gegeben, da er glaubte, verflucht zu sein, aber diese Zeiten lagen lange zurück.
Sie regte sich, wahrscheinlich geweckt vom Geräusch seiner Sandalen auf dem Boden. Einen Moment später öffnete sie die Augen und blinzelte ihn an, dann lächelte sie.
»Dajin«, sagte sie.
»Silava. Du hast doch nicht auf mich gewartet, oder?«
»Ja und nein. Ich habe eine private Feier veranstaltet. Wenn du zufällig rechtzeitig zurückgekehrt wärst, um dich mir anzuschließen, umso besser.«
»Was feierst du denn?«
»Wir«, korrigierte sie ihn. »Wir feiern die Geburt eines weiteren Enkelkindes. Einer Enkeltochter.«
Er sah sie überrascht an. »Sie ist früher gekommen als erwartet?«
»Ja.« Silava zögerte. »Ich möchte für eine Weile bei Tivela wohnen.«
Er nickte. »Ja. Hilf ihr mit dem Säugling. Wann wirst du abreisen?«
Silava musterte ihn mit schmalen Augen. »Du zeigst nicht annähernd genug Widerstreben oder Enttäuschung über die Aussicht, auf mich verzichten zu müssen.«
»Nein«, gab er ihr kichernd recht. »Obwohl man mich glauben gemacht hat, dass ein solches Verhalten gegen alle Gesetze der Natur und der Götter verstoßen würde.«
Ihre Augen wurden noch schmaler.
»Ich habe übrigens ebenfalls Neuigkeiten«, sprach er hastig weiter. »Du wirst sie vielleicht hören wollen, bevor du mir bei lebendigem Leib die Haut abziehst.«
»Oh?«
»Ellareen wird nach Dunwegen reisen, und sie möchte, dass ich sie begleite.«
»Oh.« Einen Moment lang wirkte sie niedergeschmettert, dann lächelte sie. »Siehst du? So zeigt man Enttäuschung. Es ist ganz einfach und sollte durchaus innerhalb der Fähigkeiten eines Ratgebers liegen. Warum Dunwegen?«
»Hania ist nicht das einzige Land, das die Pentadrianer zu bekehren versucht haben. Sie haben ihre Götterdiener überall in Nordithania verteilt - wobei sie aus irgendeinem Grund niemanden nach Si geschickt haben. Vielleicht liegt es daran, dass Auraya dort ist, obwohl ich keine Ahnung habe, warum sie das als Hindernis betrachten sollten.«
»Sie haben durchaus Leute nach Si geschickt«, sagte Silava. »Das war der Grund, warum Auraya dorthin zurückgekehrt ist.«
Er schlug sich an die Stirn. »Natürlich! Das hatte ich vollkommen vergessen. Es scheint so lange her zu sein.«
Silava hakte sich bei ihm unter und schob ihn sanft zur Tür hinüber. »Du vermisst sie, nicht wahr?«
Danjin runzelte die Stirn. »Ja, wahrscheinlich.«
»Du magst Ella nicht so sehr wie Auraya, hab ich recht?«
Er sah sie überrascht an. »Warum sagst du das?«
»Du sprichst nicht auf die gleiche Weise von ihr. Magst du sie?«
Er zuckte die Achseln. »Ella ist durchaus ein netter Mensch, aber … bei Auraya wusste ich, dass es Dinge gab, die sie mir nicht erzählen konnte, aber es war leicht, das zu vergessen. Bei Ella fühle ich mich ständig daran erinnert.«
»Vielleicht hat sie mehr Geheimnisse als Auraya.«
Danjin lachte. »Mehr als Auraya? Das will ich nicht hoffen!« Oder zumindest hoffte er, dass sie keine so skandalösen Geheimnisse hütete wie die ehemalige Weiße. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ella einen Traumweber zum Geliebten nahm. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ella überhaupt jemanden zum Geliebten nahm. Obwohl sie ihre Arbeit mit der gleichen Leidenschaft versah wie Auraya, wirkte sie doch irgendwie kühler und reservierter.
Aber vielleicht lag das nur daran, dass er länger brauchte, um sich in ihrer Gesellschaft wohlzufühlen. Auraya hatte sein Vertrauen nicht missbraucht, aber ihre Affäre mit Leiard war eine Enttäuschung für ihn gewesen. Er hatte sich nie verziehen, dass er nicht bemerkt hatte, was im Gange war. Er hatte nicht einmal eine Chance gehabt, ihr von einer solchen Torheit abzuraten. Jetzt konnte er nicht umhin, Ella genau zu beobachten, entschlossen, einen vernünftigen Standpunkt zu vertreten, falls sie einmal vor einem ähnlichen Dilemma stehen sollte.
Sie erreichten die Tür und traten in den Flur hinaus. Silava gähnte. »Oder vielleicht ist Auraya ja gerade eins von Ellas Geheimnissen.«
Er betrachtete seine Frau eingehend. »Dann glaubst du also, dass mehr hinter Aurayas Rücktritt steckt?«
»Vielleicht.« Sie zuckte die Achseln. »Nicht dass es jetzt noch eine Rolle spielen würde. Sie ist fort. Ella hat ihren Platz eingenommen. Hmm, du hast mir immer noch nicht erzählt, warum Ella nach Dunwegen gehen will.«
»Die Pentadrianer führen dort irgendetwas im Schilde.«
»Sie ermorden doch nicht etwa weitere Traumweber, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind uns nicht sicher, was genau dort geschieht, und das ist auch der Grund, warum wir dorthin reisen wollen.« Die schockierenden Enthüllungen über die Verschwörung der Pentadrianer in Jarime hatten sich schnell in der Stadt verbreitet, und die Proteste gegen das Krankenhaus und die Angriffe auf Traumweber hatten aufgehört. Gleichzeitig waren Dutzende von Menschen in den Tempel geschleppt, geschlagen, aus ihren Häusern vertrieben oder sogar ermordet worden, manchmal auf den bloßen Verdacht hin, sie könnten Pentadrianer sein. Ella war über diese Geschehnisse nicht so entsetzt gewesen, wie er erwartet hatte.
»Die Menschen brauchen ein Ziel, gegen das sie ihren Hass richten können«, hatte Ella gesagt. »Und die Pentadrianer haben es weit mehr verdient als die Traumweber.«
»Aber einige der Menschen, die überfallen wurden, sind keine Pentadrianer«, hatte er eingewandt.
»Ja, und wir haben sie entschädigt - natürlich erst nachdem sich ihre Unschuld bestätigt hatte.«
»Sobald diese Verschwörung vergessen ist, werden die Menschen von neuem anfangen, sich wegen der Traumweber Sorgen zu machen«, hatte er sie gewarnt.
»Dann werden wir sie stets aufs Neue daran erinnern müssen, wer der wahre Feind ist.«
Silava drückte seinen Arm und lenkte das Gespräch wieder auf sein Ausgangsthema zurück. »Ich wollte eigentlich wissen, warum Ella nach Dunwegen geht und keiner der anderen Weißen. Sie ist noch ein wenig neu in ihrer Position, um eine solche Aufgabe zu übernehmen.«
Danjin zuckte die Achseln. »Die anderen Weißen müssen wohl glauben, dass sie dazu in der Lage ist. Und je eher sie ein wenig Erfahrung mit anderen Ländern macht, desto besser.«
»Wie lange wirst du fort sein?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich Monate.«
Silava seufzte. »Zumindest ziehst du nicht in den Krieg. Die Dunweger sind zwar ein Kriegervolk, aber es herrscht Frieden in ihrem Land.« Sie gähnte abermals. »Ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Lass uns schlafen gehen.«
Während sie nach oben gingen, gestattete er sich seinerseits ein Gähnen. Neuigkeiten über Neuigkeiten. »Noch ein Enkelkind«, murmelte er. »Man könnte langsam anfangen, sich alt zu fühlen.«
Silava zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Ihr Schweigen war eine Überraschung für Danjin.
Keine Neckereien? Sie muss wirklich müde sein.
Er nahm das als Hinweis, besser den Mund zu halten, und folgte ihr ins Schlafzimmer. Trotz seiner Erschöpfung lag er lange wach, zu sehr mit all den Dingen beschäftigt, die er vor seiner Abreise noch regeln musste.
»Ja. So wird es gehen«, murmelte Silava plötzlich.
»Was?«
»Oh.« Er hörte, wie sie sich zu ihm umwandte. »Bist du noch wach?«
»Ja.«
»Tut mir leid.«
»Woran hast du gerade gedacht?«
»Ans Packen«, antwortete sie. »Ich muss jetzt für zwei Personen packen.«
»Du brauchst nicht für mich zu packen.«
Sie lachte. »Wann hättest du je selbst gepackt? Schlaf jetzt. Und mach dir keine Sorgen. Ich werde mich um alles kümmern.«
Unter Tintels Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Die Frau sah älter aus als ihre Jahre, als sie Mirar nun mit erschöpfter Geduld betrachtete.
»Was gibt es, Wilar?«
Er machte einen Schritt zurück. »Du bist müde. Ich werde morgen wiederkommen.«
»Nein, komm herein.« Sie bedeutete ihm einzutreten und wandte sich dann ab, so dass er keine Chance hatte, sich zurückzuziehen.
»Dann werde ich es kurz machen«, sagte er, trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und deutete auf einen zweiten. »Du wärst nicht hergekommen, wenn es nicht etwas gäbe, das du besprechen musst. Haben die Jungen wieder geschwätzt?«
Er lächelte. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich.«
»Wenn es dich stört, werde ich ihnen sagen, sie sollen damit aufhören.«
»Was nicht den geringsten Unterschied machen würde«, erwiderte er. »Sie bringen dir großen Respekt und Bewunderung entgegen, Traumweberin Tintel, aber der Versuch, ihrem Klatsch und Tratsch Einhalt zu gebieten, wäre wie der Versuch, die Flut aufzuhalten.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ihr Gerede hat nur den Nachteil, dass es dir schwerer fallen wird zu glauben, was ich zu sagen habe.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja? Welche unglaublichen Neuigkeiten hast du denn für mich?«
Er sah sie an und dachte noch einmal über das nach, was er zu tun im Begriff stand. Es war ein Risiko. Es hatte seine Vorteile, unerkannt zu bleiben. Zum einen würde ihm die Mühsal erspart bleiben, versuchen zu müssen, allen zu gefallen.
Aber was würde dann aus seinem Volk werden? An diesem Ort waren sie stark, aber an anderen waren sie es nicht. Vielleicht irrte er, wenn er dachte, dass er ihnen helfen konnte, aber als er Tintels ausgezehrtes, müdes Gesicht betrachtete, durchzuckte ihn ein Gefühl der Zuneigung, und er wusste, dass er es zumindest versuchen musste.
»Sie haben recht«, erklärte er. »Ich bin Mirar.«
Sie blinzelte überrascht und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, dann hielt sie inne und betrachtete ihn mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln.
»Es ist schwer zu glauben«, sagte sie schließlich. »Und doch stelle ich fest, dass ich deine Behauptung nicht einfach abtun kann.« Sie schürzte die Lippen. »Ebenso wenig kann ich sie einfach akzeptieren.«
Er zuckte die Achseln. »Das hatte ich erwartet.«
»Ich brauche Beweise.«
»Natürlich.«
»Und noch etwas anderes.«
»Was?«
»Deine Vergebung für meine Zweifel, sollte sich tatsächlich herausstellen, dass du Mirar bist.«
Er lachte. »Deine Zweifel kann ich dir kaum verübeln.«
Sie lächelte nicht. »Wenn du nicht Mirar bist…«
»Wirst du mir eine gründliche Tracht Prügel verabreichen?«, schlug er vor.
»Das ist nichts, worüber man scherzt.«
»Nein?« Er wurde wieder ernst. »Ja, du hast recht. Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um sicherzustellen, dass ich weder mich selbst noch meine Leute in Gefahr bringe, wenn ich heute meine Identität offenbare, aber es besteht trotzdem ein Risiko.«
»Ein Risiko, das einzugehen sich lohnt?«
»Offensichtlich.« Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Vernetze dich mit mir.«
Ihre Miene glättete sich. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann ergriff sie seine Hand. Er beobachtete, wie sie die Augen schloss, und tat es ihr nach, bevor er seinen Geist aussandte.
Als ihre Gedanken seine Sinne klar und deutlich erreichten, beschwor er Erinnerungen für sie herauf. Alte Erinnerungen an die Begründung der Traumweber. Erinnerungen an Entdeckungen in der Heilkunst und Erinnerungen an lange verstorbene Traumweber. Erinnerungen an Zivilisationen, die vor langer Zeit erloschen waren, und an jene, die noch existierten.
Er zeigte ihr weder die Götter noch ihr Wirken, ebenso wenig wie seinen eigenen »Tod« oder sein Leben als Leiard. Dies sollte ein Augenblick der Freude sein und nicht des noch einmal durchlebten Entsetzens oder des Schmerzes. Schließlich zog er sich aus ihrem Geist zurück, schlug die Augen auf und ließ ihre Hand los. Ihre Lider öffneten sich flatternd, und sie starrte ihn an, dann senkte sie den Blick.
»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Oder was ich tun soll. Wie soll ich dich anreden?«
»Nenn mich einfach Mirar«, erwiderte er entschieden, beunruhigt von ihrem beinahe unterwürfigen Verhalten. »Ich bin ein Traumweber, kein Gott oder König, nicht einmal ein Vetter zweiten Grades des Neffen eines Prinzen. Ich habe meine Leute nie durch Gewalt geführt, sondern sie mit Erfahrung und Weisheit geleitet - obwohl ich gestehen muss, dass ich in letzterer Hinsicht nicht selten versagt habe. Sieh mich an.«
Sie gehorchte. Er hatte nicht erwartet, dass sie so überwältigt sein würde. Schließlich beugte er sich vor und griff abermals nach ihrer Hand.
»Du bist die Anführerin hier, Tintel. So habe ich die Dinge geregelt. Für jedes Traumweberhaus wird ein Traumweber ausgewählt, der die Menschen, die dort leben, leitet. Der Betreffende hat die Autorität in diesem Haus inne, und alle reisenden Traumweber sollten ihm gehorchen oder weiterziehen. Ich bin ein reisender Traumweber. Das heißt, du musst mich herumkommandieren, oder ich muss fortgehen.«
Ihre Mundwinkel zuckten, und er spürte ihre Erheiterung.
»Das könnte ein wenig schwierig sein«, sagte sie. »Und die anderen … sie werden dir mit großer Ehrfurcht begegnen. Sie werden dich verehren.«
»Dann müssen wir beide sie davon abbringen. Meine Sicherheit - unsere Sicherheit - fußt darauf, dass die Pentadrianer mich nicht für eine Bedrohung halten. Wenn man mir huldigt wie einem Gott, werden sie eine Gefahr in mir sehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Pentadrianer sind keine Zirkler, Mirar. Sie respektieren andere Religionen.«
»Nur deshalb, weil die Götter dieser Religionen nicht existieren. Die einzige Religion, die sie nicht respektieren, ist die der Zirkler, deren Götter sehr wohl existieren.«
Tintel runzelte die Stirn, und er spürte ihre wachsende Furcht. Er drückte ihre Hand.
»Ich wollte nie angebetet werden, und ich will es immer noch nicht. Es wäre besser, wenn die Traumweber in mir eher einen Lehrer als einen Gott sähen. Ich denke, mit vereinten Kräften könnten wir das zuwege bringen.«
Sie sah ihn an und nickte. »Ich werde es versuchen.«
»Das weiß ich.« Er grinste. »Dies ist ein wenig so, als kündigte man eine Verlobung an, nicht wahr? Wem sollen wir es als Erstes erzählen?«
Tintel schnaubte leise. »Wenn du nicht angebetet werden willst, warum offenbarst du dann deine Identität?«
»Ich möchte wieder mit meinen Leuten vereint sein«, antwortete er ernst. »Und zwar als ich selbst.«
Sie nickte abermals, löste ihre Hände aus seinen und erhob sich. Dann wandte sie sich zur Tür um und holte tief Luft.
»Warte hier. Ich werde alle in der Halle zusammenrufen und dir Bescheid geben, wenn sie so weit sind.«
Er lächelte. »Danke, Tintel.«
Sie ging zur Tür, öffnete sie und hielt dann noch einmal inne, um zu ihm hinüberzublicken. Sie schüttelte staunend den Kopf und verließ dann, ohne noch ein Wort zu sagen, den Raum.
Mirar lächelte in sich hinein. Sobald sie ihre Überraschung und ihre Ehrfurcht überwunden hatten, würde es wieder ganz so sein wie in alten Zeiten. Er konnte durch Südithania reisen, so wie er früher durch den Norden gereist war, und er würde Traumweber kennenlernen, und sie würden ihr Wissen miteinander teilen.
Und vielleicht würde er diesmal nicht alles verpfuschen.
Reivan blies ihre Lampe aus, streckte sich auf ihrem Bett aus und dachte über den Tag nach, der soeben verstrichen war. Die Nachricht, dass der Hohe Häuptling von Dekkar plötzlich an einem Fieber gestorben war, hatte sich wie ein Lauffeuer im Sanktuarium verbreitet und Götterdiener, Botschafter und andere Würdenträger aufgeschreckt, als seien sie Blätter in einem Dutzend Wirbelwinde.
Eine der geringeren Stimmen sollte am nächsten Morgen nach Dekkar aufbrechen. Er oder sie würde die Begräbnisriten leiten und, sobald die offizielle Trauerzeit vorüber war, Prüfungen anberaumen, um einen neuen Hohen Häuptling auszuwählen. Die Prüfungen waren eine alte Tradition. Jeder Mann und jede Frau konnten daran teilnehmen, aber von einigen Ausnahmen abgesehen ging am Ende immer ein Mann aus der »königlichen« Blutlinie als Sieger hervor. Die Teilnehmer wurden geprüft, was ihre Stärke und ihre körperliche Tüchtigkeit betraf, aber sie mussten auch ihre Intelligenz, ihr Wissen, ihre Befähigung zum Anführer und ihre Hingabe an die Götter unter Beweis stellen. Reivan vermutete, dass Privilegien bei der Ausbildung und auf die Kandidaten der »königlichen« Blutlinie zurechtgeschnittene Prüfungen das voraussehbare Ergebnis erklärten.
Eine Flut wichtiger Persönlichkeiten und solcher, die sich lediglich für wichtige Persönlichkeiten hielten, war ins Sanktuarium gekommen, um zu fragen, ob sie mit der Stimme nach Süden reisen könnten. All das hatte Imenja und Reivan bis spät in die Nacht aufgehalten. Und zu spät, hatte Reivan sich gesagt, als dass eine gewisse Erste Stimme noch nächtliche Besuche unternehmen konnte. Und außerdem hatte er wahrscheinlich noch mehr zu tun als Imenja.
Vielleicht wird er mich morgen Nacht besuchen, dachte sie.
Vielleicht hatte er auch seine Neugier befriedigt und keine Absicht zurückzukehren. Wenn es ihm nichts bedeutet hat, wird er mich kein zweites Mal besuchen. Und ein zweiter Besuch bedeutete nicht, dass er ein drittes oder viertes Mal kommen würde und so weiter. Es bedeutete nicht, dass er sie liebte.
Verflucht! Ich habe schon wieder angefangen, an ihn zu denken. Wenn das so weitergeht, werde ich überhaupt keinen Schlaf bekommen.
Sie rollte sich auf die Seite und stellte fest, dass sie mit ihrem rastlosen Hin und Her das Bettzeug verheddert hatte. Als sie sich daranmachte, sich aus dem Laken zu schälen, hörte sie ein leises Klopfen aus dem Nebenzimmer.
Von der Haupttür zu ihren Wohnräumen.
Plötzlich war es viel schwieriger als zuvor, sich zu befreien. Als sie sich endlich des Lakens entledigt hatte, streifte sie hastig ihre Roben über und eilte aus dem Schlafzimmer.
Nachdem sie endlich an der Tür angelangt war, zögerte sie jedoch. Sie hatte kein zweites Klopfen gehört. Wenn es Nekaun war, hätte er gewiss aus ihren Gedanken gelesen, dass sie ihm die Tür öffnen würde. Gewiss wäre er nicht einfach fortgegangen, nur weil sie nicht schnell genug reagiert hatte.
Wenn es nicht Nekaun oder eine der anderen Stimmen war, hatte der Besucher vielleicht aufgegeben und sich wieder zurückgezogen.
Seufzend legte sie eine Hand auf den Griff und zog die Tür auf.
Nekaun lächelte sie an. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum.
»Guten Abend, Reivan«, sagte er und trat ein. »Es war ein ereignisreicher Tag, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte sie.
Er ging an ihr vorbei und trat in die Mitte des Hauptraums. Dort drehte er sich zu ihr um und winkte sie heran.
»Ich habe eine ernste Frage an dich«, erklärte er.
Eine ernste Frage! Während er Platz nahm, versuchte sie erfolglos, nicht daran zu denken, was für eine Frage er ihr vielleicht stellen würde. Ging es um ihre Beziehung? Ging es um Imenja? Sie ließ sich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Er rieb sich die Hände, und in seinen Augen lag ein geistesabwesender Ausdruck.
»Die Götter haben mich heute Nacht besucht«, begann er.
Sie verspürte gleichzeitig Enttäuschung und ein erregendes Staunen. Hier ging es nicht um ihre Beziehung. Trotzdem, die Götter hatten zu ihm gesprochen, und er wollte es ihr erzählen.
»Sie sagten, die Denker würden nach einem alten Artefakt suchen, das den Namen ›Schriftrolle der Götter‹ trägt. Hast du davon schon einmal gehört?«
Reivan runzelte die Stirn. »Nein. Ich weiß, dass es in Hannaya eine Gruppe von Denkern gibt, die nach Altertümern sucht und Studien darüber anstellt. Diese Schriftrolle scheint mir etwas von der Art zu sein, nach dem sie Ausschau halten.«
Nekaun nickte. »Die Sorge der Götter ist folgende: Wenn diese Denker die Schriftrolle fänden - sofern sie noch existiert -, könnten sie sie womöglich aus der Sicherheit ihres Verstecks holen oder sie sogar beschädigen. Sie wollen, dass ich das verhindere.«
Sie verzog das Gesicht. »Wenn du den Denkern befiehlst, nicht länger danach zu suchen, wirst du sie damit wahrscheinlich nur ermutigen, erst recht weiterzumachen.«
»Dann sehe ich nur eine Möglichkeit. Ich werde einen Spion zu ihnen schicken.« Er sah sie an. »Gibt es jemanden, den du mir empfehlen würdest?«
Reivan wandte den Blick ab. »Ich kenne im Grunde nicht allzu viele Leute hier. Jedenfalls nicht gut genug, um jemanden vorzuschlagen.«
»Welche Art von Mensch sollte ich denn deiner Meinung nach mit der Aufgabe betrauen?«
Sie zögerte. Es kam ihr ein wenig wie Verrat vor, Nekaun zu helfen, die Menschen auszuspionieren, zu denen sie selbst einmal gehört hatte. Dann kam ihr ein anderer Gedanke, und sie runzelte die Stirn.
»Warum brauchen die Götter einen Spion? Könnten sie die Denker nicht selbst beobachten?«
Er lachte leise. »Die Götter können nicht überall gleichzeitig sein, Reivan, und sie würden es auch nicht wollen. Das ist die Art von Aufgabe, die man am besten einem Sterblichen überlässt.«
»Ah.« Es gab kein Entrinnen aus dieser Angelegenheit. Aber wie viel Treue schulde ich den Denkern überhaupt?, fragte sie sich. Sie haben mich nie akzeptiert. Ich habe nie wirklich dazugehört. Meine Treue gilt jetzt den Göttern. Und Nekaun.
»Dein Spion wird intelligent sein müssen«, erklärte sie. »Und er sollte nur geringe oder gar keine Befähigungen zeigen, da die meisten Denker selbst keine derartigen Talente besitzen und jene, die es tun, mit Neid betrachten. Außerdem müsste er fest in seinen Überzeugungen sein.«
»›Er‹? Warum keine ›Sie‹?«
»Die meisten Denker sind Männer. Weibliche Denker werden nicht beachtet.«
»Für einen Spion wäre es von Nutzen, nicht beachtet zu werden.«
»Außerdem werden Frauen von wichtigen Arbeiten ausgeschlossen.«
»Ah.«
»Warum fragst du nicht deinen Gefährten, Turaan?«
»Das habe ich getan.« Er lächelte. »Je mehr Rat, umso besser. Außerdem hat mir das Problem einen guten Vorwand geliefert, um dich zu besuchen.«
Ihr Herz begann zu rasen. Sie sah auf und begegnete seinem Blick. »Du brauchst keinen Vorwand, Nekaun.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Alt oder jung?«
Sie runzelte die Stirn, dann begriff sie, dass er wieder von dem Spion sprach. »Ich bin mir nicht sicher. Ein junger Denker könnte einen Platz unter den Forschern erringen, indem er sich bereiterklärt, langweilige Arbeiten zu übernehmen. Ein alter Denker würde etwas Wertvolles anbieten müssen. Vielleicht nützliche Sachkenntnisse. Etwas, das die anderen dazu bewegen würde, ihn in ihren Kreis einzulassen.«
»Welche Nationalität?«
»Das spielt wahrscheinlich keine Rolle. Wenn er nützliche Informationen bringt, sollte es einen guten Grund geben, warum sie auf diese Informationen noch nicht gestoßen sind. Sie hüten ihr Wissen mit großer Eifersucht und begegnen bequemen Zufällen mit Argwohn. Einige von ihnen sehen überall Verschwörungen.«
»Was ist, wenn dieser Spion aus dem Norden käme? Würden sie dann erst recht Verdacht schöpfen?«
»Nein. Die meisten Denker hegen im Gegensatz zu gewöhnlichen Menschen keinen Groll gegen andere Völker. Wissen ist überall zu finden, ungeachtet des Landstrichs oder der Rasse. Stattdessen blicken die Denker auf jene herab, die weniger intelligent sind als sie. Sie sagen gern: ›Weisheit und Wissen sind überall, Dummheit auch.‹«
Nekaun kicherte. »Jeder braucht jemanden, den er verachten kann«, zitierte er.
… und jemanden, den er lieben kann, beendete Reivan im Stillen seinen Satz.
Er stand auf, und sie folgte seinem Beispiel. Dann trat er näher an sie heran und zog sie an sich. Als seine Hand über ihre Hüften glitt, begann ihr Puls zu rasen … und eine Menge Gefühle, die sie bei seinem früheren Besuch kennengelernt hatte, stiegen in ihr auf.
»Macht dir mein Plan, die Gruppe auszuspionieren, zu der du früher gehört hast, etwas aus?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er lächelte, dann küsste er sie, und die Denker waren vergessen.
Als Auraya aus der Laube der Priester zurückkam, bemerkte sie Sprecherin Sirri, die zusammen mit einigen Kindern auf dem Boden saß und lachte. Die Siyee blickte zu ihr auf und winkte sie heran.
Als Auraya zu ihr ging, musste sie mehreren Kindern ausweichen, die plötzlich kreischend davonstürzten. Winzige Wurfgeschosse flogen hin und her. Zu Sirris Füßen stand ein großer Eimer voller Beeren. Ihr Mund war dunkelrot verfärbt von dem Saft - ebenso wie die Gesichter der Kinder.
Sirri sah auf Aurayas Kleider hinab und schlug die Hand vor den Mund. Auraya folgte ihrem Blick und stellte fest, dass ihr weißer Zirk und ihre Tunika voller roter Flecken waren. Sirri stand abrupt auf und rief nach den Kindern.
»Das reicht jetzt!«, sagte sie energisch. Die Kinder blieben schlitternd stehen und scharten sich zusammen, den Blick auf den Boden geheftet. »Verschwendet sie nicht«, ermahnte Sirri sie, deren Stimme jetzt wieder sanft klang. »Nehmt euch jeder eine Handvoll Beeren und dann fort mit euch.«
Die Kinder gehorchten, und als sie zwanzig Schritte von Sirri entfernt waren, rannten sie los. Die Anführerin der Siyee sah Auraya an und seufzte.
»Es tut mir leid.«
Auraya nahm achselzuckend neben der Frau Platz. »Ich habe einen Ersatz.«
»Jetzt nicht mehr. Das wird nie rausgehen.«
Auraya untersuchte die Flecken und zuckte abermals die Achseln. »Wenn Magie keine Wirkung zeigt, werde ich mir einfach neue Kleider bestellen müssen - und ich bin davon überzeugt, dass die Priester hier einige Zirks zum Wechseln haben. Wie ist deine Zusammenkunft mit den Stammesführern verlaufen?«
Sirri schnitt eine Grimasse. »Nicht gut. Wer hätte gedacht, dass der Handel mit den Landgehern einige von uns so habgierig machen würde.«
Auraya sagte nichts. Die Schwierigkeiten, die die Siyee in der Vergangenheit bewältigen mussten, hatten sie dazu gezwungen, füreinander zu sorgen oder umzukommen. Das Land, das die Torener ihnen zurückgegeben hatten, war auf eine Weise kultiviert worden, wie die Siyee es nicht zu tun vermocht hätten, weil sie nicht zahlreich genug waren und auch nicht das erforderliche Wissen besaßen. Jetzt stritten sie um den plötzlichen und ungleichmäßig verteilten Reichtum. Es waren nicht die Landgeher, die in die Köpfe einiger von ihnen die Habgier eingepflanzt hatten.
»Ich habe mich gefragt, ob wir uns in dieser Angelegenheit mit den Göttern beraten sollten«, fuhr Sirri fort. »Wir könnten die Entscheidung ihnen überlassen.«
»Ihr solltet das besser unter euch regeln«, erwiderte Auraya.
Sirri zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«
Auraya runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, dass sie keine Antwort geben konnte, die Sirri akzeptieren würde. Ist mein Misstrauen gegen die Götter inzwischen so groß, dass ich anderen den Rat gebe, sich lieber von ihnen fernzuhalten? Ich klinge langsam wie eine Wilde.
»Die Götter würden von euch erwarten, dass ihr alles in euren Kräften Stehende tut, bevor ihr euch mit euren Problemen an sie wendet«, entgegnete sie und sah Sirri an. »Aber ich vermute, das hast du bereits getan.«
Sirri lächelte. »Ja. Trotzdem hast du vielleicht recht. Vielleicht sollten wir uns mehr Mühe geben. Hier, nimm dir ein paar Beeren. Sie sind gerade reif geworden.«
Beide Frauen griffen in den Eimer mit Beeren und begannen zu essen. Auraya dachte an Jade. Diese Beeren hätten ihr geschmeckt. Ich nehme an, sie ist immer noch auf dem Weg hinaus aus Si.
Sie war überrascht festzustellen, dass sie die Frau vermisste. Obwohl sie herrisch und launisch war, war sie ein Quell interessanter Anekdoten und großen Wissens gewesen. Auraya lächelte. Jade mochte ungeheuer alt sein, aber es war Auraya einige Male gelungen, sie zu überraschen.
»Ich frage mich, ob es möglich wäre, den Leeren Raum zu beseitigen«, hatte Auraya eines Abends gesagt. »Vielleicht, wenn man Magie von einem anderen Ort heranzöge und hier wieder freisetzte, um damit den Leeren Raum zu füllen.«
Jade hatte sie überrascht angestarrt. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.«
Als Sirri ihre Handvoll Beeren gegessen hatte, begann sie, von den Kämpfen der Stämme um die Minen zu erzählen. Obwohl Auraya das alles schon am vergangenen Abend gehört hatte, ließ sie die Frau noch einmal darüber sprechen, denn sie wusste, dass Sirri lediglich das Bedürfnis hatte, ihrem Ärger Luft zu machen.
Auraya.
Beim Klang der Stimme in ihren Gedanken zuckte sie zusammen, dann blickte sie auf ihren Priesterring hinab. Juran rief sie durch den Ring. Nun, jetzt brauche ich mich nicht länger zu fragen, ob der Ring noch funktioniert, nachdem ich gelernt habe, meinen Geist abzuschirmen.
Juran?, erwiderte sie.
Ja. Wo bist du?
Im Offenen Dorf.
Ist Sprecherin Sirri bei dir?
Ja.
Ich habe eine Bitte an sie. Würdest du für mich sprechen?
Natürlich.
»Sprecherin Sirri«, unterbrach Auraya die Siyee. »Juran von den Weißen wünscht, dass ich eine Bitte an dich weitergebe.«
Sirri erstarrte mit offenem Mund. Als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, richtete sie sich auf, lächelte und nickte. »Sag ihm, dass ich zuhöre - und übermittle ihm meine Grüße und meine besten Wünsche.«
Danke ihr von mir, sagte Juran. Wir haben vor kurzem in Jarime eine pentadrianische Verschwörung aufgedeckt, durch die Bürger unserer Stadt ermordet und andere mit einer List dazu gebracht wurden, zur pentadrianischen Religion überzutreten.
Auraya gab dies an Sirri weiter.
Wir haben auch in Toren und Genria solche Verschwörungen enthüllt und gehen jetzt anderen Berichten über ähnliche Ereignisse nach. Das Ziel der Pentadrianer war es, still und leise die Herrschaft in diesen Ländern zu untergraben, indem sie Zirkler dazu verleiteten, den Göttern abzuschwören und ihren eigenen Göttern zu huldigen. Als Anreiz haben sie jenen, die keine Gaben besaßen, Machtpositionen versprochen. Sind in letzter Zeit in Si Pentadrianer oder verdächtige Fremdländer gesehen worden?
»Nicht in letzter Zeit«, erwiderte Sirri. »Nicht seit dem vergangenen Frühling, als wir Aurayas Hilfe erbeten haben. Seither haben wir an unseren Grenzen Wächter postiert. Die einzigen Besucher waren Elai.«
Ich hoffe, du hast recht. Wir haben lange darüber diskutiert, welche Reaktion auf die pentadrianischen Angriffe in unseren Städten angemessen wäre. Wenn wir die Pentadrianer ignorieren, werden sie vielleicht kühner. Sie könnten versuchen, abermals in unser Land einzudringen. Gewiss werden sie erneut versuchen, andere zu bekehren. Wir müssen ihnen klarmachen, dass sie uns nicht angreifen können, ohne einen Gegenschlag erwarten zu müssen. Werdet ihr uns helfen? »Natürlich«, antwortete Sirri. »Was können wir tun?«
Huan selbst hat vorgeschlagen, dass wir sie in ihrem eigenen Land angreifen. Schnelligkeit und das Moment der Überraschung werden von größter Bedeutung sein, daher sind uns sofort eure Krieger in den Sinn gekommen. Und damit war das Ziel eines möglichen Angriffs offenkundig: die Zucht der schwarzen Vögel.
Sirris Augen weiteten sich. »Das wäre ein riskanter und … verwegener Angriff. Ich gehe davon aus, dass du weißt, wo sich diese Zucht befindet?«
In einer abgelegenen Stadt, weit entfernt von den größeren pentadrianischen Städten. Wir werden dir Karten und Informationen über die Stadt, den Tagesablauf der Züchter und ihre Vögel schicken - alles, was eure Krieger benötigen werden.
Auraya spürte, dass ihr Herz wild hämmerte. Juran bat die Siyee, ein großes Risiko einzugehen. Sie würden in feindliches Land eindringen. Wenn sie scheiterten, konnte ihnen niemand helfen.
»Ich werde mit ihnen gehen«, sagte sie.
Sirri runzelte die Stirn. »Juran wird … oh! Natürlich. Du hast für dich selbst gesprochen, Auraya. Danke.«
Du kannst sie begleiten, wenn du es wünschst, sagte Juran. Aber die Götter verbieten dir, deine Gaben zu benutzen, um den Siyee zu helfen oder den Feind zu behindern. Dies muss ein Schlag sein, den die Siyee führen. Es darf keine Weiße daran beteiligt sein, nicht einmal eine ehemalige Weiße.
Auraya sog ungläubig die Luft ein.
Erwartest du wirklich von mir, dass ich sie sterben lasse, wenn sie angegriffen werden?, fragte sie im Stillen.
Die Götter erwarten es, antwortete Juran. Dieser Angriff ist nicht nur ein Versuch, dem Feind Schaden zuzufügen, sondern auch ein symbolischer Akt. Wenn du den Göttern in diesem Punkt nicht gehorchen kannst, solltest du die Siyee nicht begleiten.
Darf ich sie heilen, wenn sie verletzt sind?
Juran zögerte kurz.
Ich nehme an, das würde den symbolischen Wert des Angriffs nicht mindern.
Auraya runzelte die Stirn.
Ich nehme an, es würde den symbolischen Wert noch steigern, wenn sämtliche Siyee bei dem Angriff ums Leben kämen? Ein nobles Opfer und so weiter?
Natürlich wäre es nicht besser. Es wäre ein viel stärkerer Beweis unserer Fähigkeit zurückzuschlagen, wenn sie angreifen und entkommen würden.
»Nun?«, fragte Sirri.
Auraya wurde bewusst, dass sie Jurans Worte nicht mehr weitergegeben hatte, seit er ihr offenbart hatte, dass sie ihre Gaben nicht benutzen durfte, und sie sah Sirri entschuldigend an. »Tut mir leid. Die Götter haben beschlossen, dass ich die Siyee heilen darf, aber davon abgesehen werden mir die Hände gebunden sein. Ich darf nicht gegen die Pentadrianer kämpfen.«
»Nun«, sagte Sirri grimmig, »das ist besser als gar nichts.«
Werden die Siyee gehen?, fragte Juran.
»Wie immer muss ich mich auch in diesem Fall mit den Sprechern der Stämme beraten«, erwiderte Sirri. »Obwohl ich bezweifle, dass sie etwas ablehnen würden, das wir in unserem Bündnisvertrag vereinbart haben. Wann wird dieser Angriff stattfinden?«
Erst in einigen Monaten. Wir müssen vorher die Landkarten und genaue Anweisungen nach Si schaffen.
»Ich werde es euch wissen lassen, sobald eine Entscheidung getroffen wurde«, versprach Sirri.
Danke. Auf Wiedersehen, Sprecherin Sirri, Auraya.
Als sein Geist verblasste, stieg brodelnder Zorn in Auraya auf. Die Götter wollten offensichtlich, dass sie in Si zurückblieb. Dann spürte sie eine leichte Berührung und blickte hinab. Sirris kleine Hand lag auf ihrer.
»Du wirst sicher eine Möglichkeit finden, ihre Einschränkungen zu umgehen«, sagte die Sprecherin.
Auraya sah Sirri in die Augen und nickte, obwohl sie die Fragen in den Gedanken der Frau sehen konnte und sich wünschte, sie hätte sie beantworten können.
Warum stellen die Götter sie auf solche Weise auf die Probe?, ging es Sirri durch den Kopf.
Weil einige von ihnen mich hassen, antwortete Auraya im Stillen, obwohl sie wusste, dass die Frau sie nicht hören konnte. Dann unterdrückte sie einen Fluch. Als Chaia sagte, Huan würde vielleicht versuchen, zum Schlag gegen jene auszuholen, die ich liebe, habe ich keinen Moment lang an die Siyee gedacht.
Aber die Göttin würde doch gewiss dem Volk, das sie selbst geschaffen hatte, keinen Schaden zufügen?
Sonnenlicht sickerte durch die Bäume. Emerahls Beutel war voll und schwer, und sie kämpfte gegen die Versuchung, einen Teil ihrer Bürde abzulegen, indem sie einige Heilmittel zurückließ. Sie war jedoch noch nie in Südithania gewesen und daher nicht vertraut mit den dort einheimischen natürlichen Drogen. Wenn sie Geld für ihre Reise auftreiben wollte, musste sie ihre eigenen Vorräte mitnehmen.
Die Entfernung bis zu ihrem Bestimmungsort erschien ihr ungeheuer. Sie würde einen Monat brauchen, um die Berge hinter sich zu lassen, und dann würde sie die Goldebenen bis zu einem weiteren Gebirgszug durchqueren müssen. Sobald sie den Pass hinter sich hatte, musste sie durch die nördlichen Randgebiete der sennonischen Wüste wandern. An der Küste würde sie eine Überfahrt auf einem Schiff in die murianische Hauptstadt, Hannaya, kaufen. Es würde eine lange Reise werden.
Den Zwillingen zufolge hatten die Denker, die auf der Suche nach der Schriftrolle der Götter waren, dort ihren Stützpunkt. Ihr blieben zwei Möglichkeiten: Sie konnte versuchen, die Schriftrolle allein zu finden, oder sich den Denkern anschließen. Beide Möglichkeiten stellten sie vor erhebliche Schwierigkeiten.
Wenn sie sich dafür entschied, selbst nach der Schriftrolle zu suchen, würden die Zwillinge die Gedanken der Denker abschöpfen und alles an sie weitergeben, was sie erfuhren. Die Zwillinge konnten jedoch nicht nur die Denker beobachten. Sie hielten auch ein Auge auf die Menschen in Mirars Nähe, und außerdem schöpften sie wie üblich in ganz Ithania Gedanken ab. Hinzu kam, dass Emerahl nicht in einer dauerhaften Trance verweilen konnte, um sich mit den Zwillingen zu vernetzen. Sie würde nur dann Neuigkeiten von ihnen erfahren, wenn sie Zeit fand, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, daher war es möglich, dass sie wichtige Informationen erst mit einem Tag Verzögerung erhielt.
Wenn sie sich mit den Denkern zusammentat, würde sie an deren Entdeckungen teilhaben. Das einzige Problem war, dass sie dazu neigten, ihr Wissen mit notorischer Eifersucht zu hüten. Außerdem begegneten sie Frauen mit Verachtung.
Die Zwillinge bezweifelten, dass sie jemals ihr Vertrauen gewinnen könne. Stattdessen würde sie ihnen ihren Nutzen beweisen müssen. Sie konnte die meisten der alten Schriften lesen. Sie verfügte über große historische Kenntnisse, und sie sprach alte Sprachen.
Als sie um eine Biegung des steilen Berghangs kam, auf dem sie gerade unterwegs war, blieb sie stehen und fluchte. Der schmale Felssims, dem sie gefolgt war, fand einige Schritte vor ihr ein jähes Ende unter einer lockeren Masse von Felsbrocken und Steinen. Weiter oben am Berg hatte es einen Erdrutsch gegeben.
Darüber zu steigen, wäre töricht, dachte sie. Ich würde wahrscheinlich mit all den Steinen abrutschen und in die Tiefe stürzen. Sie würde umkehren und einen neuen Weg finden müssen.
Leise verfluchte sie Auraya und Mirar. Ich hätte die Schriftrolle inzwischen vielleicht bereits gefunden, wenn Mirar nicht darauf bestanden hätte, dass ich hierherkam, um Auraya zu unterrichten.
Aber er schuldete Emerahl jetzt eine große Gefälligkeit. Dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Außerdem war es gar nicht so schlimm, Auraya zu unterrichten. Das Mädchen ist durchaus liebenswert - wenn man ihre Ergebenheit den Göttern gegenüber ignoriert. Es wäre ein Jammer, sollte sich diese Ergebenheit als ihr Untergang erweisen.
Sie musste zugeben, dass die Zwillinge recht hatten. Wenn Auraya sich den übrigen Unsterblichen anschloss, würde sie eine mächtige Verbündete sein. Mit ihrer Fähigkeit, die Götter zu spüren und zu hören und die Gedanken Sterblicher zu lesen, konnte sie ihnen allen helfen zu überleben.
Es schadet auch nichts, eine Gefälligkeit bei jemandem gutzuhaben, der so mächtig ist.
Sie blickte noch einmal auf die vergangene Zeit zurück und dachte darüber nach, wie Aurayas Verhalten sich verändert hatte, sobald sie die Höhle verlassen konnte. Die junge Frau hatte es offenkundig genossen, draußen im Wald zu sein. Sie war auf eine Art und Weise entspannt, wie Menschen es sind, wenn sie sich zu Hause fühlen, ging es Emerahl durch den Sinn.
Wie konnte eine ehemalige Weiße sich in den Bergen von Si zu Hause fühlen, ohne Luxus, ohne Diener, ohne etwas, über das sie herrschen konnte?
Plötzlich sah sie Auraya in einem anderen Licht. Sie liebt die ungezähmte Natur, überlegte Emerahl. Orte, die von Menschen unberührt sind. Oh, sie fühlt sich durchaus wohl in der Gesellschaft von Menschen, und die Siyee haben offenkundig einen Platz in ihrem Herzen, aber ich glaube, mehr als allein die Siyee zieht sie in die Berge. Emerahl lachte leise vor sich hin. Allerdings würde sie sich dort vielleicht nicht ganz so wohlfühlen, wenn sie die Felsen hinauf- und hinabklettern, durch Schlamm waten und sich mit dem Messer einen Weg durch dichtes Unterholz bahnen müsste.
War Mirar sich dessen bewusst? Er hatte sich immer zu Städten hingezogen gefühlt - zum Getriebe großer Menschenmengen. Die Erinnerung an ein Gespräch, das sie mit Auraya geführt hatte, stieg in ihr auf.
»Ich dachte, du magst ihn nicht.«
Auraya hatte gelächelt. »Ich habe nie gesagt, dass ich ihn nicht mag.«
Emerahl seufzte. Sie wusste, dass immer eine Chance bestand, dass sich aus Zuneigung Liebe entwickelte. Sie hatte es oft genug mitangesehen. Das hieß nicht, dass es so kommen würde, aber Emerahl würde sich immer fragen, ob sie Mirar diese Chance genommen hatte, indem sie ihm von Aurayas Affäre mit Chaia erzählt hatte. Und jetzt, da ich Auraya kennengelernt habe, widerstrebt mir der Gedanke nicht länger, sie und Mirar könnten ein Paar werden.
Was geschehen war, war geschehen. Mirar war zäh. Es war besser für ihn, den kurzen Schmerz der Wahrheit zu erleben als den dauerhaften Schmerz falscher Hoffnungen. Schließlich machte Emerahl kehrt, ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, und versuchte einen sichereren Weg zu finden.