Als der Horizont am vergangenen Tag die Form eines sich wiegenden Schattens angenommen hatte, hatte Auraya vermutet, dass sie und die Siyee auf niedrige Hügel zusteuerten. Jetzt schien es, als seien die glatten, sanften Linien dieser Landschaft viel größer, als sie zuerst angenommen hatte. An die zerklüfteten Gipfel von Si gewöhnt, war ihr nicht klar, dass dies die Berge des westlichen Sennon waren, bis ihre wahren Ausmaße offenbar wurden.
Sie konnte die Erregung der Siyee spüren. Sie freuten sich darauf, die Wüste hinter sich lassen zu können, und genau wie ihr Wasserträger eine schwere Last transportierte, tat sie es auch. Sie hatte sich zusätzliche Wasserschläuche auf den Rücken gebunden, und Unfug lag sicher zusammengerollt in ihrem Bündel, so dass sie das Gefühl hatte, von einer schweren, klumpigen Decke umhüllt zu sein.
Die Wüste hatte ihnen mehr Schwierigkeiten bereitet, als sie es für möglich gehalten hatten. Zuerst waren sie direkt darüber hinweggeflogen, aber ein Sandsturm hatte sie zur Küste zurückgeweht. Da die Siyee nicht viel tragen konnten, waren sie davon abhängig, entlang des Weges Wasser zu finden. Unfug hatte ihnen einige Male gezeigt, wo sie nach Wasser graben mussten, und einmal waren sie auf einen einsamen Brunnen gestoßen, aber das war nicht annähernd genug gewesen.
Sie wagten es nicht, in Landgehersiedlungen zu landen. Der sennonische Kaiser gestattete die Ausübung jedweder Religion in seinem Land, was bedeutete, dass in den Wüstendörfern möglicherweise Pentadrianer lebten. Wenn es sich so verhielt, würde eine Gruppe von Siyee-Kriegern, die nach Süden flog, gewiss bemerkt werden, und die Information würde zu den pentadrianischen Anführern gelangen. Selbst wenn es keine Pentadrianer in den Dörfern gab, war es durchaus möglich, dass ein gewöhnlicher sennonischer Dörfler auf die Idee kam, es ließe sich Gewinn daraus schlagen, wenn er die Neuigkeit an die Pentadrianer weitergab.
Die meisten Siedlungen lagen an der Küste, daher hielten die Siyee sich landeinwärts. Sie hatten erwartet, gelegentlich auf einen Fluss zu stoßen, aber sie hatten nur ein einziges Mal einen schlammigen Bach mit fast untrinkbarem Wasser entdeckt. Zu anderen Zeiten des Jahres führte er wahrscheinlich sauberes Wasser, aber mitten im Sommer war er zu einem trägen Rinnsal zusammengeschrumpft. Auraya war noch nie zuvor in Sennon gewesen, daher konnte sie den Siyee keinen Rat geben. Sie konnte nur jeden Morgen zur nächstgelegenen Wasserquelle zurückfliegen, um ihre Schläuche wieder aufzufüllen.
Die Berge vor ihnen gaben den Siyee Hoffnung, aber Auraya war nicht so optimistisch. Die Siyee brachten Berge mit Wasser in Verbindung, was jedoch nicht immer den Tatsachen entsprach. Diese Gipfel waren stark erodiert, doch es sah so aus, als habe es hier seit Jahrhunderten nicht mehr geregnet. Die spärliche Vegetation war zu einem hellen Gelb ausgebleicht, und nirgendwo gab es auch nur eine Andeutung von Grün.
Obwohl keine entsprechende Anweisung erteilt worden war, ließ sich die Gruppe jetzt langsam über den nächsten dieser weit verzweigten Berge in den Sinkflug fallen. Am Fuß des Berges war das gewundene Bett eines toten Flusses zu sehen, das zu ihrer Rechten auf den Ozean zulief. Zwischen ihm und dem Berg stieg das Land terrassenförmig an.
Dann fing Auraya Erstaunen von einem der Siyee auf. Als sie in seinen Geist blickte, las sie in seinen Gedanken, dass er glaubte, die Terrassen seien nicht natürlichen Ursprungs. Sie schaute genauer hin und stellte fest, dass er recht hatte. Es gab auch Straßen dort unten und winzige Gebilde, die vermutlich Überreste zerstörter Gebäude waren. Ihre Verteilung am Hang des Berges ließ auf eine Stadt schließen. Eine Stadt, die schon vor langer Zeit zu existieren aufgehört hatte.
Auch andere Siyee bemerkten jetzt die uralte Siedlung und machten ihre Gefährten darauf aufmerksam. Zu Aurayas Erheiterung weckte der Anblick tiefe Neugier in ihnen. Sie wollten landen und die Umgebung erkunden. Sie beobachtete, wie Sreil darüber nachdachte.
Die Erkundung von Ruinen ist nicht der Grund für unsere Reise, überlegte er, aber wenn es hier früher einmal eine Stadt gab, muss auch Wasser in der Nähe gewesen sein. Vielleicht war es nur der Fluss, aber diese Terrassen sehen so aus, als könnten sie einmal Felder gewesen sein, und wie hätten die Bewohner der Stadt das Wasser dort hinaufschaffen sollen? Vielleicht gab es weiter oben einmal eine Quelle … Nun, die Chance, hier auf Wasser zu stoßen, ist genauso groß wie überall sonst …
Als er den Befehl gab, die Stadt anzufliegen, hellte sich die Stimmung der anderen Siyee sofort auf. Obwohl die Wüste ihre Körper auf eine harte Probe gestellt hatte, bot sie nur wenig, was den Geist beschäftigen konnte. Die Lust an den Pfeifspielen, die sie zu Anfang der Reise gespielt hatten, war ihnen schnell vergangen, als ihnen der Mund vor Durst ausgetrocknet war.
Auraya blickte zu Teel, dem Siyee-Priester, hinüber. Er trug keinen Zirk, da das Gewand ihn beim Fliegen behindert hätte, sondern einen kleineren Umhang aus weißem Stoff, den er sich fest um den Hals gebunden hatte. Ihrer Meinung nach war er verfrüht zum Priester geweiht worden. Er war unerfahren und verstand weniger von Magie als ein Akolyth. Dennoch hatten die Götter ihn und nicht Auraya mit der Aufgabe betraut, Juran jeden Tag Bericht zu erstatten. Diese Anordnung hatte in Auraya ein vages Gefühl des Ärgers hervorgerufen. Sie war eine ehemalige Weiße und die Beschützerin der Siyee. Aber er war ein Siyee und sie eine Landgeherin, und das musste stärker wiegen.
Natürlich tut es das nicht, dachte sie. Es ist nur eine weitere Möglichkeit, wie die Götter mir zeigen, dass sie mir misstrauen.
Als sie die Magie um sich herum erforschte, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass keiner der Götter anwesend war. Obwohl Teel keine besonderen Befehle erhalten hatte, vermutete sie, dass der junge Mann nur deshalb frühzeitig geweiht worden war, damit ein Priester sie während dieser Mission im Auge behalten konnte.
Gestern hatte Auraya einen Siyee laut darüber nachsinnen hören, warum die Götter nicht dafür gesorgt hatten, dass sie genug sauberes Wasser hatten. Ein anderer hatte seinem Ärger darüber Luft gemacht, dass die Götter sie nicht zumindest zu Quellen führten. Ein dritter war der Meinung gewesen, dass sie wahrscheinlich hier gestorben wären, hätte Auraya sie nicht begleitet.
Teel hatte das Gespräch mitbekommen und leise erwidert, dass die Götter nicht ihre Diener seien. Diese Bemerkung hatte Auraya ein Lächeln entlockt, aber sie argwöhnte, dass die Götter weder das eine noch das andere tun konnten. Sie konnten nichts auf der Welt wahrnehmen, das sie nicht durch die Augen eines Menschen oder eines Tieres sahen - wenn also weder ein Mensch noch ein Tier etwas von Wasserquellen in der Nähe wusste oder wie man sie erreichte, dann wussten es auch die Götter nicht.
Die einzigen Menschen, die den Siyee in dieser Hinsicht hätten helfen können, die sennonischen Führer, konnten nicht fliegen. Selbst wenn die Weißen einem dieser Führer genug vertraut hätten, um ihn als Ratgeber zu den Siyee zu schicken, wäre er nicht rechtzeitig angekommen, um ihnen zu helfen. Die Entfernung war einfach zu groß.
Einer der Siyee pfiff ihr Signal für »Spuren!«, und Auraya folgte seinem Blick. Eine Linie aufgewühlten Sandes führte von der Stadt zum Fluss und dann längs des ausgetrockneten Wasserlaufs zum Meer. Vielleicht beherbergte die Stadt bereits andere Reisende.
Es war jedoch ein gutes Zeichen. Kein Reisender wäre zu diesen Terrassen emporgestiegen, ohne einen guten Grund dafür zu haben, und ein möglicher Grund war Wasser.
Sie schloss zu Sreil auf.
»Soll ich feststellen, ob sie noch dort sind?«
Er stieß einen zustimmenden Pfiff aus. Auraya ließ sich in einen Sinkflug gleiten und flog durch die trockene Luft auf die Fährten zu. Gleichzeitig spürte sie, wie Unfug sich in ihrem Bündel regte.
Die Fußabdrücke schlängelten sich entlang des Flusses durch merkwürdige Felsspitzen hindurch, die sich schließlich als Überreste sandbedeckter Türme erwiesen, bis zum Beginn einer Straße. Es war zunehmend schwer, ihnen zu folgen, da die Straßen nicht immer mit Sand bedeckt waren. Sie flog langsam weiter, als halte sie nach etwas Ausschau.
Was sie nur um des äußeren Scheins willen tat. Sie konnte keine Geister in der Stadt spüren, aber das konnte sie den Siyee nicht erzählen, ohne den Göttern zu offenbaren, dass sie die telepathische Gabe, die sie ihr während ihrer Zeit als Weiße verliehen hatten, weiterentwickelt hatte.
Schließlich flog sie zu den Siyee zurück und pfiff das Signal, mit dem sie erklärte, dass das Gebiet sicher war. Die Siyee umkreisten die Stadt, bevor sie landeten, eher eine vorsichtige Gewohnheit als eine Geste des Misstrauens ihrer Einschätzung gegenüber. Sobald sie auf dem Boden waren, gab Sreil ihnen die Anweisung, sich paarweise auf die Suche nach Wasser zu machen. Auraya streifte ihr Bündel ab und öffnete es. Unfug blinzelte in dem plötzlichen, grellen Licht.
Sie hatte ihn eigentlich nicht auf diese Reise mitnehmen wollen, hatte sich aber andererseits nicht überwinden können, ihn dazu zu zwingen zurückzubleiben. Seit ihrer Rückkehr in das Offene Dorf war der Veez ständig an ihrer Seite gewesen und jedes Mal außer sich geraten, wenn sie ihn in der Laube allein gelassen hatte. Da er ihre Gedanken nicht länger spüren konnte, musste er in ihrer Nähe bleiben, um sich davon zu überzeugen, dass sie noch lebte. Glücklicherweise war er damit zufrieden, während des Fluges in ihrem Bündel zu bleiben, und die Siyee fanden ihn sowohl nützlich als auch unterhaltsam.
Jetzt flüsterte sie ihm etwas ins Ohr und sandte ihm ein geistiges Abbild von Wasser. Seine Nase zuckte, und als sie ihn auf den Boden setzte, trottete er davon. Sie folgte ihm.
Das Sonnenlicht brannte gnadenlos auf das Land herab und wurde von den Felsen zurückgeworfen, so dass die Hitze aus allen Richtungen kam. Nach einigen Biegungen wurde ihr klar, dass Teel ihr folgte, und sie schickte sich in die unausweichliche Erkenntnis, dass der Priester ihr nicht mehr von der Seite weichen würde.
»Was glaubst du, wie alt dieser Ort ist?«, fragte er nach einer Weile.
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung.«
»Sieh mal.« Er ging zu einem großen Stein in einer Mauer hinüber und deutete auf einige Markierungen. »Kannst du das lesen?«
»Nein.«
»Du beherrschst viele Sprachen, nicht wahr?«
»Ja. Aber das heißt nicht, dass ich sie lesen kann.«
»Ich sollte eine Abschrift davon machen«, sagte er. »Wenn die Priester im Offenen Dorf sie nicht entziffern können, kennen sie vielleicht jemanden, der es kann.«
Als er ein Stück Leder aus einem Beutel zog, lächelte sie, aber ihre Erheiterung legte sich schnell. Er war im Herzen ein Gelehrter, kein Krieger. Sie würde es sich nicht leicht verzeihen können, wenn er bei diesem Angriff starb, obwohl sie sich nicht ganz sicher sein konnte, dass er nur ihretwegen hier war.
Unfug, den es nicht kümmerte, ob der Priester ihm folgte oder nicht, war verschwunden. Auraya lief um eine Ecke und kam zu einem großen Bogengang, der aussah, als sei er in massiven Fels gehauen worden. Ihre Schritte im Eingang hallten auf eine Weise wider, die auf einen großen Raum dahinter schließen ließ.
»Owaya?«
»Ich komme, Unfug«, erwiderte sie.
Als sie aus dem Sonnenlicht trat, passten sich ihre Augen langsam der Dunkelheit an. Ein kurzer Flur führte in eine große Halle. Am anderen Ende konnte man in der Finsternis gerade noch die Umrisse einer riesigen Gestalt ausmachen. Es war eine Statue. Ihre Größe ließ Auraya schaudern.
Sie zog Magie in sich hinein, schuf einen Lichtfunken und sandte ihn zur Decke empor. Dann ließ sie den Funken heller werden, und ein tiefes Staunen machte sich in ihr breit, als die Statue beleuchtet wurde. Sie hatte einen muskulösen, männlichen Körper, aber das Gesicht war eine flache Scheibe mit einem einzigen riesigen, lidlosen Auge. Unfug blickte voller Staunen zu der Statue auf.
Einer der alten Götter, dachte sie. Lange tot.
Hinter sich hörte sie ein leises Keuchen, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass Teel die Statue entsetzt anstarrte. Ein Ausdruck von Abscheu legte sich über seine Züge.
»Solche Dinge sollten zerstört werden«, sagte er.
Sie musterte ihn beunruhigt. Der Gott war lange tot. Welche Gefahr ging jetzt noch von der Statue aus? Etwas so Bemerkenswertes zu zerstören wäre hässlich und sinnlos.
»Vielleicht«, sagte sie langsam, »sollten solche Dinge erhalten werden, um uns an das Zeitalter der Vielen zu erinnern und an das Chaos, das die Sterblichen versklavte, bis der Zirkel uns rettete.«
Er sah sie ausdruckslos an, dann wurde er nachdenklich. »Wenn es der Wille der Götter war, diese Statue zu erhalten, könnte sie wahrscheinlich benutzt werden, um jene mit einem rebellischen Herzen zu erschrecken.«
Auraya unterdrückte einen Seufzer. Es gab bei jedem Volk Fanatiker, und es sah so aus, als hätten die Götter einen solchen unter den Siyee gefunden.
Das Summen von Gedanken am Rande ihrer Wahrnehmung wurde plötzlich lauter. Andere Siyee hatten Wasser gefunden - einen großen Teich, der tief in einer ähnlichen Halle wie dieser gelegen war. Sie ließ ihr Licht erlöschen und rief nach Unfug. Ein kleiner Schatten kam aus der Dunkelheit in ihre Arme gehüpft und kletterte auf ihre Schulter. Auraya trat an dem Priester vorbei ins Sonnenlicht.
»Lass uns sehen, wie es den anderen ergangen ist, ja?«, rief sie ihm über die Schulter zu.
Danjin erhob sich von seinem Platz, trat vor das schmale Fenster und blickte auf das bunte Treiben der dunwegischen Hauptstadt hinaus. Unter ihm beeilten sich Diener und Händler, vor der abendlichen Sperrstunde ihre Aufgaben zu erledigen, während die Krieger mit dem Selbstbewusstsein und der Arroganz von Männern umherliefen, die ihre Machtposition innerhalb der Gesellschaft als ihr natürliches Recht ansahen. Die steinernen Häuser, in denen sie lebten, waren in einem wohlgeordneten Muster zwischen Ringen hoher Mauern erbaut. Hinter der letzten Mauer konnte er den Dey sehen, den Fluss, der sich dem fernen Ozean entgegenschlängelte.
Chon war eine Festung, aber als die größte Festung in Dunwegen diente sie gleichzeitig auch als Verwaltungshauptstadt. Um dorthin zu gelangen, waren Danjin und Ella bis zur Mündung des Dey gesegelt, von wo aus eine Barkasse sie in die Festung gebracht hatte. Als sie Chon erreicht hatten, waren sie mit der typischen dunwegischen Förmlichkeit begrüßt worden - kurz und sachlich -, dann hatte man sie in die Quartiere geführt, die die Weißen bei ihren Besuchen stets bewohnten: in einen Flügel des innersten Teils der Festung.
Die Räume waren klein und die Wände aus nacktem Stein. Die Möbel waren schlicht und schwer, doch die Teppiche auf den Böden und an den Wänden waren farbenprächtig und exquisit gefertigt, wenn auch ein wenig grob, was das Muster betraf. Die meisten von ihnen bildeten berühmte Schlachten und dunwegische Anführer und Krieger ab, über die stets der Gott Lore wachte.
I-Portak, der Herrscher von Dunwegen, war weder ein König mit ererbtem Titel noch ein gewählter Berater. Danjin war noch nie jemandem begegnet, der all die vielschichtigen Regeln der dunwegischen Methode zur Auswahl des Herrschers durchschaut hätte. Es schien, als könne sich jeder zum Herrscher ausrufen lassen, aber um die Position zu halten, hing er von der Zustimmung wichtiger Kriegerclans ab. Der Anwärter konnte von einem Krieger herausgefordert werden, der bereit war, um die Position zu kämpfen, doch wenn der Herausforderer den Sieg davontrug und die Kriegerclans ihn nicht billigten, konnte er seine Position nicht halten.
Dennoch war die Wahl eines Nachfolgers nach dem Tod des letzten Herrschers frei von Herausforderungen oder Einwänden gewesen. I-Orms Sohn hatte den Platz seines Vaters eingenommen, ohne dass es auch nur das leiseste Murren von seinem Volk gegeben hätte. Zumindest hatte Danjin nichts Derartiges gehört. Die Dunweger neigten nicht dazu, sich laut zu beklagen. Wenn die wahrscheinliche Reaktion auf eine Rebellion eine Herausforderung auf Leben und Tod war, behielt man seine Meinung lieber für sich, es sei denn, man war sich des Sieges gewiss.
»Das Licht wird schlechter«, sagte Ella. Er drehte sich um und sah, wie sie seufzend ihre Spindel beiseitelegte. »Wieder ein Tag vergangen und immer noch keine Fortschritte. Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis sie mich meine Arbeit tun lassen?«
»Zieh ihren Respekt vor den Göttern und den Weißen von dem Ausmaß ihres Stolzes ab, füge ihre Erpichtheit, dass wir abreisen, hinzu und ergänze das Ganze um ein wenig schwelenden Groll auf die Weißen für ihren Versuch vor zehn Jahren, den Zauberer Scalar zu vernichten, und du erhältst den Augenblick, da sie ihre widerstrebende Mitarbeit anbieten werden.«
Ella kicherte kläglich. »Du hast mir erzählt, sie wären ein unkompliziertes, nüchtern denkendes Volk.«
»Verglichen mit anderen nordithanischen Völkern sind sie das auch. Du musst es den Clans überlassen zu versuchen, die Schuldigen für dich zu finden. Es ist eine Frage der Ehre.« Danjin trat von dem Fenster weg. Die Luft wurde jetzt schnell kühler. Die Dunweger glaubten, wärmende Feuer und Fensterbehänge würden die Menschen schwächen und Krankheit sei auf zu wenig Betätigung, zu wenig Essen oder zu wenig Sex zurückzuführen oder aber auf zu viel oder zu wenig Schlaf.
Hm. Vielleicht können wir das zu unserem Vorteil nutzen, überlegte er. Wir könnten sagen, dass Ella nicht zu lange im Haus eingesperrt und untätig bleiben wolle, weil sie fürchtete, sie könne dadurch erkranken. Aber sie könnten zu dem Schluss kommen, die beste Lösung für dieses Problem bestehe darin, sie zu einigen Übungskämpfen bei einem der weiblichen Kriegerclans zu schicken. Ich bezweifle, dass sie darüber glücklich wäre.
»Nun, zumindest mache ich in einer Hinsicht Fortschritte«, murmelte Ella und warf einen Blick auf den Korb an ihrer Seite. Der größte Teil des Vlieses war verschwunden, und der Faden, den sie gesponnen hatte, war zu Garn gedreht und zu ordentlichen Knäueln aufgewickelt worden. Danjin fand die geschickten Bewegungen ihrer Hände beinahe ein wenig hypnotisch. Er hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes mit dem Garn anfangen würde.
Tagsüber waren sie größtenteils sich selbst überlassen, aber jeden Abend bekamen sie Besuch von einheimischen Clanführern oder Würdenträgern anderer Länder. Ella nutzte die Gelegenheit, die Gedanken aller Menschen zu lesen, denen sie begegnete, einschließlich der Diener.
»Sie sind eher Sklaven als Diener«, hatte sie Danjin erklärt. »Alles, was sie für ihre Arbeit bekommen, ist Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Sie dürfen ohne die Zustimmung ihres Herrn weder heiraten noch eine Familie gründen, und ihre Kinder arbeiten von dem Zeitpunkt an, da sie von Nutzen sein können. Als ich mich während meiner Ausbildung zur Priesterin mit Dunwegen beschäftigt habe, hat mir niemand von diesen Dingen erzählt.«
Er musste ihr zustimmen, was das Leben der Diener betraf, aber er rief ihr ins Gedächtnis, dass die Dunweger so lebten, seit der Gott Lore sie zu seinem eigenen Volk erklärt hatte. »Und die Lebensbedingungen der Diener sind wohl kaum ein Thema, das die Aufmerksamkeit junger Akolythen erregen würde«, hatte er hinzugefügt.
Darauf hatte sie den Kopf geschüttelt. »Ungerechtigkeit erregt immer die Aufmerksamkeit junger Menschen«, hatte sie eingewandt. »Aber wenn wir älter werden, erfahren wir, wie schwierig es ist, die Welt zu verändern, und wir lernen, den Blick von Dingen abzuwenden, die wir nicht ändern können, bis wir Ungerechtigkeiten überhaupt nicht mehr wahrnehmen.«
»Das gilt nicht für uns alle«, hatte er erwidert. »Einige von uns halten immer noch nach Möglichkeiten Ausschau, die Dinge besser zu machen.«
Ella erhob sich und trat ans Fenster. »Der Mann, den wir heute Abend treffen werden, ist allenthalben bekannt für seine Grausamkeit gegen seine Diener.«
Sie blickte schweigend und mit zusammengezogenen Brauen hinaus. Er vermutete, dass sie die Gedanken der Menschen unten las, und sagte nichts, da er sie nicht ablenken wollte.
Es klopfte an der Tür.
»Gillen Schildarm, Botschafter von Hania, ist hier, um Ellareen von den Weißen und Danjin Speer, Ratgeber Ellareens der Weißen, abzuholen und in das Haus von Gim zu bringen, Talm von Rommel, Ka-Lem des Nimler-Clans«, brüllte jemand von draußen.
Danjin lächelte und ging zur Tür. Die Angewohnheit, hinter einer geschlossenen Tür einen Gruß zu brüllen, war typisch dunwegisch, aber der Mann auf der anderen Seite hatte hanianisch gesprochen. Er öffnete die Tür, und Gillen stand mit breitem Grinsen vor ihm.
»Du kannst einfach anklopfen«, sagte Danjin. »Wir würden deshalb nicht schlechter von dir denken.«
»Ah, aber das wäre nicht annähernd so spaßig«, antwortete der Botschafter. Er blickte über Danjins Schulter. »Guten Abend, Ellareen von den Weißen.«
»Guten Abend, Pa-Schildarm«, erwiderte sie. »Wir haben dich erwartet.«
Er deutete auf den Flur hinter ihm. »Es wäre mir eine große Ehre, dich zum Heim unseres Gastes zu führen.«
»Danke.«
Sie trat an Danjin vorbei. Danjin schloss die Tür und folgte ihr und Gillen den Flur hinunter.
Schon bald traten sie in die kühle Abendluft hinaus. Jeder Bezirk der Stadt wurde durch ein gut bewachtes Tor von den anderen getrennt. Wann immer sie ein solches Tor erreichten, zeigte Gillen ein Amulett vor, das die Wachen in Augenschein nahmen, bevor sie muskulösen Dienern den Befehl gaben, die Tore aufzuziehen. Nachdem sie durch drei solcher Tore gegangen waren, kamen sie zu einem steinernen Haus, das sich von seinen Nachbarn durch einen großen, in die Tür geschnitzten und mit leuchtenden Farben bemalten Schild unterschied.
»Das Haus von Gim, Talm von Rommel, Ka-Lem des Nimler-Clans«, erklärte Gillen. Er klopfte an, dann brüllte er ihre Namen und den Zweck ihres Besuches.
Die Tür öffnete sich knarrend. Ein Diener verbeugte sich vor ihnen, dann geleitete er sie schweigend in den Raum. Ella ging voraus, gefolgt von Danjin und Gillen.
Sie kamen in eine große Halle mit einem riesigen Holztisch, an dem sich bereits eine Schar von Männern, Frauen und Kindern zusammengefunden hatte. Wären da nicht ihre freundlichen Mienen und ihr Gelächter gewesen, hätten die tätowierten Gesichter wohl einen erschreckenden Anblick geboten. Die Muster verstärkten ihre Mimik, so dass ein Stirnrunzeln etwas Finsteres bekam und ein Lächeln zum Grinsen wurde.
Danjin erkannte einige der Anwesenden und vermutete, dass die meisten von ihnen zu Gims Clan gehörten. Der Diener eilte davon, um das Wort an einen massigen Dunweger am Kopfende des Tisches zu richten. Dies war Gim, und selbst nach dunwegischen Maßstäben war er ein stolzer und arroganter Mann.
Jetzt stand er auf und winkte sie mit weit ausladenden Gesten heran.
»Ellareen von den Weißen. Willkommen in meinem Heim. Nimm Platz an meinem Tisch.«
Gim gab den Menschen, die um ihn herum saßen, ein Zeichen. Sofort rutschten sie auf den Bänken zusammen, um Platz zu machen. Ella setzte sich mit würdevollen Bewegungen nieder und nahm einen Kelch Fwa entgegen, den einheimischen Schnaps. Danjin zwängte sich neben sie.
Danjin trank nur gerade so viel von seinem Kelch, um, wie er hoffte, seinen Gastgeber zufriedenzustellen. Er lauschte, während Ella und Gim sich unterhielten, und vergegenwärtigte sich Einzelheiten über den Clan, die er vor und nach ihrer Ankunft in Chon erfahren hatte. Außerdem beobachtete er die anderen Anwesenden am Tisch, wohlwissend, dass er für Ella ein zusätzliches Paar Augen bedeutete.
Auf ein Zeichen von Gim brachten einige Diener Teller mit Essen an den Tisch. Gim schnitt mit einem Messer, das wie ein Miniaturschwert geformt war, eine Keule von einem gerösteten Yern ab, dann begannen die anderen Gäste sich zu bedienen und munter draufloszuplappern. Zwischen zwei Jungen, von denen einer sich ein ganzes Girri genommen hatte, brach ein Streit aus. Als die Jungen einander anzurempeln begannen, stand einer der Männer auf, zerrte sie beide durch eine Tür hinaus und befahl einem Diener, sie nicht wieder hereinzulassen, bevor sie die Sache ausgetragen hätten. Dann kehrte er an den Tisch zurück und legte sich das Girri auf seinen eigenen Teller.
Plötzlich spürte Danjin Ellas Ellbogen an seinem Arm. Ihm wurde bewusst, dass er den Anschluss an ihr Gespräch mit Gim verloren hatte.
»… weiß, dass die pentadrianische Lebensart vielen deiner Leute gefällt«, sagte sie.
Gim zog die Augenbrauen hoch. »Was ist so reizvoll an der Art, wie sie leben?«
»Nur Verbrecher werden dort versklavt.«
Der Clanführer musterte sie stirnrunzelnd. Sie zuckte die Achseln.
»So sehen sie es jedenfalls.«
»Willst du damit sagen, dass wir möglicherweise Spione unter unseren Dienern haben?«
»Wahrscheinlich.«
Er funkelte die Diener im Raum an. »Ich werde sie alle befragen.«
Sie hob abschätzig die Hand. »Das würde deinen Haushalt nur unnötig in Aufruhr versetzen. Ein kluger Spion lenkt die Aufmerksamkeit von sich selbst auf andere, wenn er weiß, dass nach ihm gesucht wird, und am Ende würdest du womöglich unschuldige, nützliche Menschen hinrichten. Besser wäre es, eine Falle zu stellen.«
Gim stieß ein Knurren aus, mit dem er ihr widerstrebend recht gab. »Was schlägst du vor?«
»Wir können hier natürlich keine Einzelheiten erörtern«, sagte sie lächelnd. »Jemand, der deinen Haushalt gut kennt, könnte dir besser als ich raten, wie du eine wirkungsvolle Falle stellen kannst. Du musst doch einige Diener haben, denen du vertraust?«
Der Clanführer zog die Brauen zusammen, dann wechselte er das Thema. Während der Abend sich dahinzog, war Danjin überzeugt davon, dass er eine Veränderung bei Ella wahrnahm. Ihr Frohsinn wirkte aufrichtiger, als das normalerweise bei solchen Anlässen der Fall war.
Du hast recht, sagte eine vertraute Stimme in seinen Gedanken. Ich würde Gim niemals die Befriedigung gönnen, das zu erfahren, aber seine Angewohnheit, seine Diener schlecht zu behandeln, ist für uns von Vorteil. Viele Menschen hier sind den Pentadrianern zugeneigt, und es gibt mehr als einen unter ihnen, der zu dem Schluss gekommen ist, dass es an der Zeit sei zu fliehen. Morgen werden wir sehen, wer ihnen hilft.
Endlich ein Fortschritt, dachte er. Kein Wunder, dass sie glücklicher wirkt.
Gim rülpste laut, dann rief er nach einem Diener, um sich seinen Kelch wieder auffüllen zu lassen.
Ja. Und ich muss zugeben, dass ich Gim unterhaltsamer finde, als ich erwartet hatte. Er ist der Inbegriff des rohen Kriegers, als die man die Dunweger immer schildert. Er isst mit den Händen, spricht mit vollem Mund, reißt grobe Witze und trinkt zu viel. Was mag als Nächstes kommen?
Wahrscheinlich wird er die Tanzmädchen hereinrufen oder irgendein Frauenzimmer, an dem er sich zu schaffen machen kann.
Ich glaube nicht, dass er so weit gehen … oh.
Danjin lächelte, als zwei Männer hereinkamen, die Flöten und Trommeln spielten, gefolgt von vier dunwegischen Frauen. Sie trugen eine Menge Schmuck, aber nicht viel mehr.
Das beantwortet zumindest eine Frage, die mich beschäftigt hat, dachte Danjin trocken. Ihre Tätowierungen reichen tatsächlich bis ganz nach unten.
Diesmal brachte Ella es irgendwie fertig, mit ihrem Ellbogen seine Rippen zu treffen, und das mit erheblich mehr Kraft als zuvor.
Das rosige Licht der Morgendämmerung färbte bereits den Himmel hinter Reivans Fenster, als sie erwachte. Sie empfand eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Erleichterung, dass sie nicht abermals verschlafen hatte, und Enttäuschung darüber, dass sie keinen Grund dazu gehabt hatte.
Sie stand auf, ging zu der Wasserschüssel hinüber und wusch sich. Die Feuchtigkeit auf ihrer Haut war angenehm kühl, trocknete jedoch viel zu schnell. Schon bald würde sie in der Hitze eines weiteren Hochsommertages schwitzen, aber zumindest würde sie nach frischem Schweiß stinken und nicht nach schalem. Sie wünschte, das Gleiche ließe sich von den Händlern und Höflingen sagen, mit denen sie zu tun hatte.
Nachdem sie ihre Robe übergestreift hatte, verließ sie ihre Räume und ging in ihr Arbeitszimmer, wobei sie nur Halt machte, um einem Domestiken aufzutragen, ihr etwas zu essen zu bringen. Mehrere Götterdiener waren in der Nähe. Sie nickten Reivan im Vorbeigehen respektvoll zu.
Plötzlich löste sich eine ihrer Sandalen, und sie wäre um ein Haar gestolpert. Sie blieb stehen und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, während sie die Sandale in Augenschein nahm. Ein Riemen war von der Sohle abgerissen.
»… warum er sie gewählt hat. Sie ist nicht schön, nicht einmal hübsch«, sagte jemand.
Als ihr klar wurde, dass die Stimme einer der beiden Götterdienerinnen gehörte, an denen sie gerade vorbeigekommen war, blieb sie stehen, um zu lauschen.
»Sie soll angeblich klug sein. Eine ehemalige Denkerin, heißt es. Vielleicht spielen sie ja Gedankenspiele, während sie … du weißt schon.«
»Ich möchte nicht darüber nachdenken.«
Reivan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die anderen Götterdiener hatten also von Nekauns nächtlichen Besuchen in ihren Räumen gehört. Waren diese beiden Frauen eifersüchtig?
»Soweit ich weiß, ist es schwer, seine Aufmerksamkeit zu halten. Er langweilt sich schnell.«
»Dann ist es klug von ihr, kein Aufhebens um diese Geschichte zu machen. Es wird demütigend genug sein, wenn er sie fallen lässt. Ich an ihrer Stelle würde nicht wollen, dass das ganze Sanktuarium Bescheid weiß.«
»Aber das ganze Sanktuarium weiß Bescheid.«
Reivan wurde flau im Magen. Sie zog die Sandale aus und ging weiter, da sie nicht länger den Wunsch hatte, das Gespräch der beiden Frauen zu belauschen. Aber mit nur einer Sandale konnte sie sich nur unbeholfen bewegen, daher blieb sie stehen, um auch die andere auszuziehen.
»… ihn lieber für eine Weile haben als niemals«, sagte eine der Götterdienerinnen.
»Ich auch.«
Diese Bemerkung hätte sie aufheitern sollen, aber sie tat es nicht. Stattdessen verstärkte sich das flaue Gefühl in ihrem Magen noch. Er besucht mich jetzt schon seit Monaten, überlegte sie. Wenn er es nur zu seiner Unterhaltung täte, hätte es ihn doch gewiss schon nach wenigen Nächten gelangweilt. Ich bin nicht gerade eine Göttin des Schlafzimmers.
Tage. Wochen. Monate. Jahre. Was spielte es für eine Rolle? Er war unsterblich, mächtig und schön. Sie wusste, dass sie nicht damit rechnen konnte, seine Aufmerksamkeit für immer zu fesseln, und doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass das Leben irgendwann einmal anders sein würde, als es jetzt war. Manchmal fiel es ihr schwer zu begreifen, wie sie früher hatte existieren können.
Ich bin noch nie so glücklich gewesen. Oder so ängstlich. Ich muss verliebt sein.
Die Sandalen in der Hand, setzte sie ihren Weg fort. Als der nächste Domestik ihr entgegenkam, hielt sie ihn an, gab ihm die Sandalen und bat ihn, ihr ein neues Paar bringen zu lassen. Er machte das Zeichen des Sterns und eilte davon.
Obwohl sie versuchte, ihre Gedanken auf die vor ihr liegende Arbeit zu lenken, kamen ihr die Worte der beiden Götterdienerinnen immer wieder in den Sinn.
»Er langweilt sich schnell.«
Vielleicht langweilte sie Nekaun bereits. Er hatte sie gestern Nacht nicht besucht, und am vorangegangenen Abend war sein Besuch sehr kurz ausgefallen.
Zu kurz, ging es ihr durch den Kopf. Er wirkte geistesabwesend und als sei nur sein Körper zugegen.
»Gefährtin Reivan.«
Sie blieb stehen und drehte sich um, überrascht, Imenja auf sich zukommen zu sehen.
»Zweite Stimme«, erwiderte sie und machte das Zeichen des Sterns.
Imenja lächelte. »Komm mit mir. Ich möchte dich etwas fragen.«
Sie waren nicht weit von Reivans Arbeitszimmer entfernt, aber Imenja ging zu einer Treppe hinüber und stieg die Stufen hinauf. Reivan folgte ihr, wobei ihr deutlich bewusst war, dass sie noch immer nackte Füße hatte.
Sie gingen in einen der Türme in den unteren Ebenen des Sanktuariums. Die Treppe führte durch ein Loch im Boden zu dem obersten Raum. Durch offene Bögen hatte man einen Blick in alle Richtungen.
Imenja ging zu der Seite hinüber, von der aus man die Stadt sehen konnte.
»Hier dürfte man uns nicht belauschen können«, murmelte sie, dann wandte sie sich zu Reivan um. »Nekaun ist heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen.«
»Aufgebrochen?«, wiederholte Reivan. »Wohin?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Imenja. »Niemand weiß es. Ich hatte gehofft, dass du mir mehr sagen könntest.«
Reivan schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn seit vorletzter Nacht nicht mehr gesehen.«
Die Zweite Stimme lächelte und drehte sich wieder um, um die Aussicht zu betrachten.
»Nun denn. Er ist abgereist, und wir alle grübeln jetzt darüber nach, was dahintersteckt.«
»Die anderen Stimmen?«
Imenja nickte. »Sie sind genauso erstaunt wie ich.«
Reivan wandte den Blick ab. »Er war vorgestern Nacht ein wenig geistesabwesend.« Während sie das sagte, spürte sie, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. »Er hat mir nicht erzählt, dass er die Absicht hatte fortzugehen.« Sie war ein wenig verletzt. Er hätte ihr doch gewiss davon erzählen können. Wusste er nicht, dass er ihr vertrauen konnte?
Aber er konnte ihr nichts verraten, von dem er nicht wollte, dass die anderen Stimmen es aus ihren Gedanken lasen.
Imenja seufzte. »Ich nehme an, wir werden Näheres erfahren, wenn er bereit ist, uns davon in Kenntnis zu setzen.« Sie zuckte die Achseln und entfernte sich einige Schritte von den Bögen. »Ich muss jetzt gehen, aber ich werde dich heute Nachmittag sehen.«
»Ja.« Reivan brachte ein Lächeln zustande. »Hoffentlich werde ich nicht allzu viele Dinge haben, mit denen ich dich behelligen muss.«
Imenja rümpfte die Nase. »Ich denke, das ist es, was mich am meisten ärgert. Er macht sich auf zu irgendeinem Abenteuer, während wir hier festsitzen und die langweilige Arbeit tun müssen.« Sie begab sich auf den Weg die Treppe hinunter.
Als sie fort war, blickte Reivan auf die Stadt hinaus.
Er ist also abgereist, dachte sie. Er hätte mir eine Nachricht hinterlassen können. Und wenn es nur eine rätselhafte gewesen wäre. Einfach … irgendetwas.
Und niemand weiß, wie lange er fort sein wird. Ein Stich der Sehnsucht und der Furcht durchzuckte sie. Genau so etwas muss einfach passieren, wenn man eine Stimme zum Geliebten hat, sagte sie sich. Es wird immer Geheimnisse und Rätsel geben. Tage, an denen er ohne Erklärung verschwindet.
Nächte, in denen er bei der Liebe mit seinen Gedanken anderswo ist.
Sie seufzte und kehrte der Aussicht auf die Stadt den Rücken. Nichts als die Rückkehr Nekauns würde ihre Stimmung aufhellen, daher konnte sie sich ebenso gut ihrer Arbeit widmen.
Gewürzhändler Chem, auch bekannt als Götterdiener Chemalya, zählte die Striche auf seiner Tontafel und notierte die Gesamtsumme. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und lächelte. Die Geschäfte gingen gut. Die Dunweger hatten eine Vorliebe für die schärferen Gewürze seines Heimatlandes gefasst, so wie alle auf Wettkampf bedachten, in den Schmerz verliebten Krieger es tun sollten. Seine gewürzte Version des einheimischen Getränks, des Fwa, hatte ihm Profite eingetragen, die seine Erwartungen bei weitem überstiegen. Jeden Tag knarrte die Tür seines Ladens unablässig, während Diener der Clans herbeikamen, um weitere Waren einzukaufen.
Die Dunweger hatten eine Weile gebraucht, um Gefallen an den Gewürzen zu finden. Chemalya hatte kein Geheimnis aus der Tatsache gemacht, dass sie aus Südithania stammten. Das machte sie zu »pentadrianischen« Waren, die ihnen den Ruch des Feindes gaben. Es hieß, die dunwegischen Krieger liebten ihren Gott, Lore, mehr als ihre eigenen Väter. Dies war nicht weiter überraschend, da der Gott anscheinend jeden Aspekt des dunwegischen Lebens zu ihren Gunsten eingerichtet hatte. Sie würden nichts anrühren, was sie mit dem Feind in Verbindung brachte.
Zumindest hatten sie es am Anfang nicht getan. Dann hatte ihm der Reiz exotischer Waren mit gefährlichen Gedankenverbindungen seine ersten Kunden eingetragen. Die Schärfe der Gewürze war für diese ersten Dunweger eine Überraschung gewesen. Schon bald hatten sie ihre Freunde herausgefordert, ebenfalls davon zu kosten. Wenn man einen Becher Fwa mit Gewürzen anreicherte, so hatten die Krieger schnell festgestellt, ergänzten die beiden Substanzen einander auf perfekte Art und Weise.
Also begann Chemalya vorgewürzten Fwa zu verkaufen. Das Getränk gewann so schnell an Beliebtheit, dass ihm die Gewürze ausgegangen waren. Er hatte Nachschub bestellt und die Preise erhöht. Als zwei Diener ein Gebot für den letzten Krug seiner ersten Schiffsladung abgegeben hatten, war der Verlierer so entsetzt über seine Niederlage gewesen, dass Chemalya dem Mann zum Trost ein Getränk angeboten hatte. Und schon bald waren ihm Geschichten über die brutale Behandlung der Diener zu Ohren gekommen.
Er hatte geduldig zugehört und dabei begriffen, dass seine geheime Aufgabe sich einfacher gestalten würde, als er anfangs gedacht hatte. Seine künftigen Konvertiten waren überall um ihn herum, und ihre Herren hatten sie besser auf ihren neuen Glauben vorbereitet, als irgendein Pentadrianer das vermocht hätte.
Er hatte den Diener mit einem kleinen Krug Gewürz fortgeschickt, den er für sich selbst hatte behalten wollen, und gehofft, dass dies dem Mann die Prügel, die er erwartete, ersparen würde. Von da an war er großzügig zu allen Dienern, die zu ihm kamen, um Waren zu kaufen. Er erzählte ihnen die aus Halbwahrheiten gesponnene Geschichte, die es ihm ermöglicht hatte, ein Geschäft in Dunwegen zu gründen - dass seine Mutter eine dunwegische Dienstmagd gewesen sei, die nach Sennon geflohen sei (so weit war die Geschichte wahr) und einen murianischen Händler geheiratet habe (das war falsch - sie war eine Hure geworden). Dieser murianische Händler, so berichtete Chemalya weiter, habe den gemeinsamen Sohn als Gehilfen (in Wahrheit als Laufburschen) eingestellt. Als er nach dem Tod des Murianers das Geschäft übernommen habe (das entsprach der Wahrheit, war aber von den Pentadrianern so eingerichtet worden), sei er nach Dunwegen gekommen aus Neugier, die Heimat seiner Mutter kennenzulernen (in Wahrheit hatte der Hass seiner Mutter auf ihr Volk jede Neugier schon vor Jahren erstickt).
Zu seiner Überraschung hatte ihm sein Aufenthalt in Dunwegen bisher recht gut gefallen. Nicht alle Krieger waren grausam und dumm. Einige behandelten ihre Diener wie Familienangehörige. Es gab eine Töpfertradition von überraschender Schönheit, und die ehrliche, offene Einstellung der Dunweger, was körperliche Lust betraf, war erfrischend im Vergleich zu der Zimperlichkeit und Verlegenheit der Südithanier.
Er würde Dunwegen nicht so gern verlassen, wie er es einmal vermutet hatte, und jetzt, da eine der Weißen hier war, rechnete er damit, dass der Augenblick seiner Abreise jeden Tag kommen konnte. Der Gedanke erfüllte ihn mit Traurigkeit und einer Spur Groll.
Er blickte auf die Tafel hinab.
Vielleicht hängt das mehr mit dem Gewinn zusammen, den ich mache. In Zeiten wie diesen muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass ich hier bin, um den Göttern zu dienen. Reichtümer werden mir keinen Platz in ihrer Mitte eintragen, wenn meine Seele von meinem Körper befreit wird.
Die Tür knarrte. Chemalya blickte auf und lächelte, als er sah, dass es einer seiner jüngsten Rekruten war: Ton, ein Diener des Nimler-Clans. Es würde nicht lange dauern, bis er ihm half, in den Süden zu »fliehen«.
Chemalya legte seine Tafel unter die Bank, wo man sie nicht sehen konnte. Ton trat zögernd vor und rang die Hände.
»Diese Vorkehrungen, von denen du gesprochen hast«, sagte der Mann mit bebender Stimme. »Könnten wir uns ihrer bedienen?«
Chemalya musterte den Mann überrascht. Ton wirkte immer ein wenig angespannt und ängstlich. Hatte sein Herr es endlich zu weit getrieben, oder steckte etwas Ernsteres dahinter?
»Das ist möglich«, erwiderte Chemalya. »Was ist geschehen?«
»Die Weiße. Sie war gestern Abend zum Essen da, und sie sagte, es gebe Spione im Haus und dass Gim eine Falle stellen solle.« Er beugte sich über die Bank und griff nach Chemalyas Arm. »Wenn ich zurückkehre, wird er mich finden. Er wird mich töten. Ich muss fort.«
Chemalya klopfte dem Mann auf die Schulter. »Und du wirst auch fortgehen. Was sollst du heute kaufen?«
»Gewürzten Fwa. Korn. Öl.« Der Mann ließ Chemalyas Arm los und zog einen Beutel Münzen aus seinem Hemd.
»Gut. Sag mir die Namen der Läden, und ich werde jemanden dorthin schicken, der dich abholt. Er wird dich aus der Stadt bringen.«
»Wohin?«
»Das weiß ich nicht. Meine Freunde und ich haben diesbezüglich eine Vorsichtsmaßnahme getroffen: Wir wissen immer nur so viel, wie unbedingt notwendig ist, falls jemand unsere Gedanken lesen sollte. Du musst mir vertrauen.«
Ton nickte und zuckte die Achseln. »Es ist ein Risiko, das ich eingehen muss.«
»Du wirst für eine Weile der Letzte sein«, erklärte Chemalya.
Der Mann blickte erschrocken drein. »Aber… meine Frau und meine Kinder? Du sagtest, dass sie…«
»Später fliehen werden. Das werden sie auch tun, sobald die Weiße aufgebrochen ist und wir die Dinge wieder in Gang bringen können.« Er hielt inne. »Dabei werde ich vielleicht deine Hilfe benötigen.«
Ton richtete sich auf. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«
»Danke. Jetzt solltest du mir besser erzählen, welche Läden du noch aufzusuchen beabsichtigst.«
Nachdem Ton gegangen war, rief Chemalya einen der Straßenjungen in den Laden und bezahlte ihm eine Münze dafür, dass er eine Bestellung von fünfeinhalb Fässern Fwa auslieferte. Er kritzelte Tons Namen und die Läden, die er aufsuchen wollte, auf ein Stück Pergament und gab es dem Jungen.
Dann schloss er die Ladentür ab und setzte sich hinter die Bank. Er schloss die Augen, drückte eine Hand auf den Sternenanhänger unter seiner Tunika und sandte einen Ruf aus.
Deekan.
Einen Moment später gab die Ergebene Götterdienerin, die Chemalya ausgebildet hatte, Antwort.
Chemalya? Was gibt es?
Er berichtete ihr, was Ton gesagt hatte.
Soll ich den Laden schließen und fortgehen?
Ich werde um Erlaubnis fragen.
Es folgte ein langes Schweigen, währenddessen Chemalya ein Klopfen an der Ladentür hörte. Er ignorierte es.
Nein, kam Deekans Antwort. Du sollst fortfahren, Konvertiten nach Süden zu schicken.
Und was ist, wenn die Weiße mich findet?
Sie wird nicht mehr erfahren, als du weißt. Deekan hielt inne. Es tut mir leid, Chemalya. Das sind Nekauns Befehle. Er muss gute Gründe dafür haben, dich dort zu belassen.
Chemalya seufzte und versuchte, ein Gefühl aufsteigender Panik niederzukämpfen.
Und ich werde gehorchen, erwiderte er.
Viel Glück.
Chemalya öffnete die Augen und sah sich im Laden um. Wenn die Weiße ihn fand - und er war nicht dumm genug zu glauben, dass sie es nicht tun würde -, würde er sich von einem reichen Händler in einen eingekerkerten Feind verwandeln. Er bezweifelte, dass die Gefangenen in den dunwegischen Kerkern lange überlebten.
Einen Moment lang erwog er davonzulaufen. Aber der Preis des Überlebens wäre ein Verrat an den Göttern. Er würde nicht darauf setzen, dass der Verlust seiner Seele weniger schrecklich war als eine Gefangennahme durch die Weiße.
Es klopfte abermals an der Tür. Er seufzte und zog sich auf die Füße.
Zumindest habe ich entlang des Weges einige arme Seelen gerettet. Er lächelte. Und darauf wird Mutter stolz sein.
Die breiten, miteinander verbundenen hölzernen Veranden von Kave waren keineswegs verlassen, doch trotzdem herrschte Stille. Die Menschen saßen auf Riedstühlen im Schatten und fächelten sich Luft zu. Reich verzierte Fächer waren in diesem Jahr besonders in Mode. Mirar hatte einige wahrhaft protzige Exemplare in den Händen von Frauen bemerkt, die mit gleichem Bombast gekleidet waren.
Die Männer, Frauen und Kinder dieses wohlhabenden Bezirks der Stadt verfielen in Schweigen, als er vorbeischritt, und er spürte starke Neugier. Obwohl er noch immer dieselben abgenutzten Traumwebergewänder trug wie bei seiner Ankunft, wurde er irgendwie immer erkannt. Kave war keine große Stadt. Geradeso wie alle Häuser miteinander verbunden waren, waren das auch die Menschen, und Gerüchte bewegten sich ebenso schnell fort wie der Verkehr. Binnen weniger Tage, nachdem er Tintel und den Traumwebern von Kave seine wahre Identität offenbart hatte, hatte sich die Neuigkeit auch schon in der Stadt verbreitet.
Die Traumweber waren auf noch gründlichere Weise miteinander verbunden. Die Neuigkeiten wurden durch Traumvernetzungen viel schneller weitergegeben, und er hatte sich am nächsten Abend mit der Traumweberältesten Arleej in Sennon in Verbindung gesetzt. Sie hatte wissen wollen, warum er sie nicht in seinen Plan eingeweiht hatte.
Er lächelte. Ich mag sie. Sie ist nicht im Geringsten eingeschüchtert von mir. Ein Jammer, dass die hiesigen Traumweber das nicht sehen können. Vielleicht würden sie ihre Ehrfurcht vor mir dann ein wenig schneller überwinden.
Tintel war die Ausnahme, obwohl er sie immer noch bisweilen daran hindern musste, sich seinem Urteil zu unterwerfen. Ein solches Verhalten nahm er nur bei Gelegenheiten wie dieser hin, wenn sie ihn bat, sich um ernsthaft kranke oder verletzte Patienten zu kümmern.
Jetzt drang von irgendwo vor ihm das Gemurmel vieler gedämpfter Stimmen an seine Ohren. Als er um eine Ecke bog, sah er ein Haus, auf dessen Veranden viele Menschen saßen. Als sie ihn bemerkten, verfielen sie in Schweigen und starrten ihn an. Der Diener, der ihn abgeholt und durch die Stadt geführt hatte, eilte über eine kunstvoll geschnitzte Brücke und verschwand in der Menge.
Mirar folgte ihm, und die Menschen machten ihm Platz. Nachdem er durch eine Tür in einen spärlich möblierten Raum getreten war, blieb er stehen, um das Bild in sich aufzunehmen, das sich ihm bot. Ein Junge lag bewusstlos auf dem Boden. Seine Eltern knieten neben ihm und klammerten sich weinend aneinander. Tintel stand in der Mitte des Raums, und als Mirar hereinkam, blickte sie auf und winkte ihn heran.
»Was ist passiert?«, fragte er, während er neben dem Jungen niederkniete.
»Ein Sturz«, sagte Tintel. »Er hat sich das Rückgrat gebrochen, ebenso wie die Rippen und den Schädel.«
»Sie haben gewettet, wer hinüberspringen kann«, erklärte die Mutter mit gepresster Stimme. »Er hat es nicht geschafft.«
Mirar vermutete, dass ein Sprung zur Veranda eines Nachbarhauses gemeint war. Wieder eins dieser törichten Spiele unter Jungen. Er legte dem Kind eine Hand auf den Hals und sandte seinen Geist in den jungen Körper. Tintels Einschätzung war zutreffend, beschrieb den Schaden jedoch nicht zur Gänze. Mehrere Organe waren zerrissen und gequetscht, und der Junge hatte innere Blutungen. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er nicht bereits tot war.
Mirar zog Magie in sich hinein und machte sich an die Arbeit.
Er verlor sich in dem Zusammenfügen von Fleisch und Knochen. Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Es war gut, dies alles tun zu können, ohne sich länger verstellen zu müssen, und es kostete weniger Anstrengung. Als die Wiederherstellung von Gewebe und Knochen sich dem Ende näherte, fing er bruchstückhafte Erinnerungen aus dem Geist des Jungen auf. Er sah eine Familiengeschichte entstehen. Die Wette war eine Nachahmung der vielen Wetten des Vaters, ebenso wie ein Versuch, Geld zu erhalten, und angespornt hatte ihn der noch nicht lange zurückliegende Verkauf der Möbel seiner Familie, um Schulden zu begleichen.
Wenn man eine Verletzung heilte, die der Patient sich durch eigene Torheit zugezogen hatte, richtete man oft mehr Schaden an, als Gutes zu tun. Er hatte Menschen erlebt, die überzeugt waren, dass sie sich von jeder Verletzung erholen würden, und sie hatten wieder und wieder die Gefahr gesucht, bis sie abermals Schaden nahmen oder vielleicht sogar den Tod fanden.
In diesem Fall würden die Eltern ebenso wie der Junge selbst davon profitieren, wenn die Heilung einige Wochen in Anspruch nahm. Wer sagt, wir Traumweber fällten keine Urteile?, dachte Mirar. Eine stille Erheiterung stieg in ihm auf. Ich habe das gesagt.
Aber kein gewöhnlicher Traumweber hätte tun können, was er soeben getan hatte. Sie brauchten nicht die Konsequenzen einer perfekten Heilung zu tragen. Er hinterließ bei seiner Arbeit genug Prellungen und körperliches Ungemach, um den Jungen dazu zu bringen, sich künftige Wetten gründlich zu überlegen, dann zog er seinen Geist zurück.
Als Mirar sich aufrichtete, rief die Mutter des Jungen seinen Namen. Der Junge schlug die Augen auf und begann, über seine Schmerzen zu murren. Mirar riet zu Ruhe und vorsichtiger Bewegung. Er nahm den Dank der Eltern entgegen, aber als der Vater ihm Geld anbot, warf Mirar ihm einen scharfen Blick zu. Der Vater errötete und schaute weg.
Es war bereits dunkel draußen, als er und Tintel zum Traumweberhaus zurückgingen. Die Veranden und Brücken wurden von Lampen erhellt, was Kave in eine glitzernde, schwebende Stadt verwandelte. Tintel sagte nichts, und er spürte, dass sein Schweigen ihr nichts ausmachte. Sie war zufrieden.
Und ich? Er dachte nach. Ich bin nicht unglücklich. Mit einem Mal kam ihm Auraya in den Sinn, und ein leichter Stich der Traurigkeit durchzuckte ihn. Es hat keinen Sinn, zu betrauern, was hätte sein können. Außerdem habe ich ihr genug Kummer gemacht, einfach indem ich jemand zu sein schien, der ich nicht war, auch wenn das nicht meine Absicht war.
Jetzt war er wieder er selbst. Ganz und gar. Als sie das Traumweberhaus erreichten, trat er vor, um Tintel die Tür zu öffnen. Sie quittierte sein gutes Benehmen mit einem schiefen Lächeln.
»Danke. Es riecht so, als kämen wir gerade rechtzeitig zum Abendessen«, sagte sie.
Die Halle war erfüllt von Stimmen und Kochgerüchen. Bei seinem Eintreten verebbte der Lärm ein wenig, aber als er neben Tintel Platz nahm, nahmen die anderen im Raum ihre Gespräche wieder auf. Trotzdem spürte er die unterdrückte Erregung und die Nervosität der Traumweber. Ein besonders starkes Gefühl, eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Tisch. Sein Blick begegnete dem von Dardel. Er lächelte, und sie schaute hastig auf ihren Teller hinab.
Seit der Nacht, in der sie erfahren hatte, wer er war, hatte sie ihn nicht mehr in seinem Zimmer besucht, zu überwältigt von der Enthüllung, dass ihre Phantasie der Wirklichkeit entsprach, um auch nur mit ihm zu reden. Er hatte gezögert, ihr zu sagen, dass sie ihm nach wie vor willkommen sei, damit sie nicht glaubte, sie habe keine andere Wahl als seine Einladung anzunehmen. Dies war eine Schattenseite der Offenbarung seiner Identität, die Emerahl ungeheuer erheitert hatte.
Die Tür des Hauses wurde geöffnet, und eine Gruppe junger Traumweber trat ein. Wieder senkte sich Stille über den Raum, während die Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Neuankömmlinge richteten.
»Ich habe Neuigkeiten«, erklärte einer der jungen Männer. »Die Prüfungen für den neuen Hohen Häuptling werden morgen beginnen.«
Sofort veränderte sich die Stimmung im Raum, und erwartungsvolle Spannung machte sich breit. Mirar hatte von dem Ritual zur Erwählung eines neuen Anführers gehört, einem Schauspiel, wie man es nur ein- oder zweimal im Leben beobachten konnte. Anscheinend wollten alle Dekkarener diese Prüfungen sehen. Jetzt schauten sämtliche Traumweber fragend zu Tintel hinüber.
Gut, dachte Mirar. Endlich wenden sie sich wieder an sie um Leitung.
»Ich würde nicht im Traum daran denken, irgendjemanden am Besuch der Prüfungen zu hindern«, sagte Tintel und verdrehte die Augen. »Aber ich würde es begrüßen, wenn einige von euch sich freiwillig meldeten und hierbleiben würden, für den Fall, dass unsere Dienste benötigt werden.«
Mehrere Traumweber nickten, und ein oder zwei erboten sich zu bleiben. Das Gespräch wandte sich der Frage möglicher Teilnehmer zu. Mirar hörte genau zu, fasziniert von dieser Methode, aus der Wahl eines Herrschers ein großes Spiel zu machen.
»Wirst du hingehen?«, fragte Tintel ihn leise.
Er lächelte. »Ja - es sei denn, du hättest morgen eine andere Verwendung für mich?«
»Nein«, erwiderte sie. »Ich kann nicht umhin, es irgendwie als deinen ersten öffentlichen Auftritt zu betrachten. Wie wird die Stimme, die den Prüfungen beiwohnt, wohl auf dich reagieren?«
»Ich bezweifle, dass er oder sie mich überhaupt wahrnehmen wird«, sagte er kichernd. »Ich habe nicht die Absicht, mich für den Anlass in festliche Gewänder zu hüllen oder mit vorgereckter Brust umherzustolzieren.«
Ihre Mundwinkel zuckten zu einem angedeuteten Lächeln. »Das glaube ich dir. Und ich muss zugeben, dass ich erleichtert bin, das zu hören. Die Ankündigung deiner Anwesenheit hier zu einer Zeit, da Dekkar ohne Führer war, hat einigen Leuten Grund zur Sorge gegeben.«
Mirar wurde schlagartig ernst. Daran hatte er nicht gedacht. So ist es immer. Man glaubt, alle möglichen Probleme einer Tat erwogen zu haben, übersieht aber dabei das Augenfälligste.
»Sie haben nichts zu befürchten«, erklärte er. »Nach allem, was ich gehört habe, müssen die Teilnehmer des Wettbewerbs siebenmal rund um Kave laufen. Ich bin ein wenig zu alt für…«
Jähes Schweigen senkte sich über den Tisch. Die Traumweber hatten sich der Haupttür zugewandt. Als Mirar ihrem Blick folgte, sah er am Ende der Halle einen Mann in einer prunkvollen Uniform stehen.
Der Mann räusperte sich. »Ist der Zauberer hier, den man als Mirar kennt?«
Alle Köpfe wandten sich Mirar zu. Er erhob sich. »Das bin ich.«
Der Mann kam auf den Tisch zu und verbeugte sich steif. »Ich bringe dir eine Einladung von der Vierten Stimme Genza, der Heiligen Dienerin der Fünf. Sie bittet dich, morgen bei den Häuptlingsprüfungen ihr Gast zu sein. Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du frei bist, die Einladung anzunehmen.«
Mirar spürte, wie sich ein Muskel in seinem Bauch verkrampfte. Ein Treffen mit einer der Stimmen. Ich hätte damit rechnen sollen. Er konnte bei dem Boten nichts als Nervosität und Neugier wahrnehmen.
»Es wird mir eine Ehre sein teilzunehmen«, antwortete er.
»Dann wird eine Stunde nach Sonnenaufgang ein Diener herkommen, um dich zu der Zeremonie zu geleiten.« Der Bote verbeugte sich abermals, dann verließ er den Raum. Es war vollkommen still im Saal, doch Mirar konnte gleichzeitig Erregung und Furcht von den anderen Traumwebern spüren.
Der Karawanenführer, Korikana - den Reisenden der Karawane als Kori bekannt -, war ein eher kleiner Mann. Eins seiner Beine war kürzer als das andere, daher humpelte er stark und mit ruckartigen Bewegungen. Er war auf seinem Arem mehr zu Hause als auf seinen eigenen Füßen und so sehr in das Geschöpf vernarrt, dass offenkundig war, dass er es ebenso als Gefährten wie als Lasttier betrachtete.
Während des Tages ritt Kori immer wieder an der Reihe der Karren und Plattans entlang und überzeugte sich davon, dass die Reisenden ebenso wie die Waren wohl versorgt waren. Vor zwei Tagen hatte er neben dem Plattan, in dem Emerahl sich einen Platz beschafft hatte, angehalten und auf eine dunkle Linie gedeutet, die am Horizont erschienen war.
»Hannaya!«, hatte er erklärt, bevor er weitergeritten war.
Jetzt erlebte sie eine Wiederholung der gleichen Szene. Diesmal lenkte Kori ihre Aufmerksamkeit jedoch auf das, wozu die dunkle Linie geworden war: ein hoher Felsgrat. Oder, um genauer zu sein, ein Teil der Felskette, die sich quer durch ganz Südithania zog.
Während der letzten Tage hatte sie nur gelegentlich einen Blick darauf werfen können, und auch jetzt konnte sie nicht viel sehen. Das Land, das sie durchreiste, war bedeckt mit seltsamen Bäumen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, und es schien nur einige wenige ähnliche Arten zu geben. Die größten Bäume bestanden entweder aus einem einzelnen oder aus mehreren Stämmen, die aus einer Wurzel wuchsen. Manchmal waren sie gerade, manchmal ineinander verschlungen. Ihre Borke konnte glatt oder rau sein, hell oder dunkel. Und alle Bäume waren insofern bemerkenswert, als sie keine Äste hatten. An der Spitze eines jeden Stammes befand sich ein Fächer breiter, sehniger Blätter in verschiedenen Farben. Einige trugen seltsame Früchte, die sich bei den Einheimischen großer Beliebtheit erfreuten. Ihr Fleisch war süß und schwer. Andere trugen aromatische Beeren, die man frisch oder getrocknet essen konnte. An einer kleineren Baumart wuchsen würzige Samen. Emerahl war klar, dass die Samen und Beeren sich vermutlich für die Herstellung von Heilmitteln eigneten.
Eine weitere verbreitete Art heimischer Pflanzen waren diejenigen mit scharfen Stacheln. Sie wuchsen in allen möglichen knollenartigen Gestalten, angefangen von winzigen, steinähnlichen Gewächsen, die jedem Reisenden die Lust verleideten, barfuß zu gehen oder sich niederzusetzen, ohne zuerst den Boden abzusuchen. Die beeindruckendsten Gewächse waren riesige Kugeln von doppelter Mannsgröße, mit Stacheln so lang wie ihr Arm. Die meisten Arten waren anscheinend essbar, was Kori einmal demonstriert hatte, indem er eine kopfgroße Pflanze mit einem Schwert gespalten, den überraschend süßen, wässrigen Inhalt herausgelöffelt und ihnen zu kosten gegeben hatte.
Der Plattan schwenkte zur Seite, und Emerahl stellte fest, dass der Weg, dem sie seit Verlassen der Küste gefolgt waren, auf eine breitere Durchgangsstraße gestoßen war. Auf dieser neuen Straße waren Menschen, Tiere und Wagen unterwegs. Als sie den Blick hob, stockte ihr der Atem.
Deshalb war Kori also so aufgeregt, dachte sie.
Der Felsgrat war jetzt zur Gänze zu sehen, und der Anblick übertraf alles, was Emerahl je begegnet war. Die Felswand war übersät mit Fenstern und Balkonen, die in Etagen übereinander aus dem Stein gehauen worden waren. Etwa in der Mitte ließen gewaltige, überwölbte Fenster auf prächtige Hallen dahinter schließen. Hinter kleineren Fenstern weiter am Rand vermutete sie bescheidenere Quartiere. Aus Schornsteinen, die horizontal angelegt zu sein schienen, stieg Rauch auf, und aus den Mündern in den Fels gehauener Gesichter und Fratzen ergoss sich Wasser.
»Der Palast!«, sagte Kori mit einer großartigen Geste, während er an ihr vorüberritt.
Der Palast war gleichzeitig phantastisch und lächerlich. An einer Stelle war die Felswand eingestürzt und gab den Blick auf verlassene Räume preis. Emerahl fragte sich, wie tief die Tunnel in den Fels hineinführten und ob im Inneren weitere Bereiche des Palastes eingestürzt waren. Sie wusste, dass sie sich in dieser Stadt nicht wirklich wohlfühlen würde; sie würde immer damit rechnen, dass die Decke über ihr einbrach oder dass der Boden unter ihren Füßen nachgab.
Als die Karawane sich der Felswand näherte, sah Emerahl zu ihrer Erleichterung viele Gebäude vor den Grundmauern des Palastes. Die Bürger Hannayas lebten nicht ausschließlich in der Felswand. Die Lücke zwischen Fels und Fluss wurde von weiteren Gebäuden ausgefüllt.
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Boote auf dem Fluss; sie hatte eine Überfahrt auf einem solchen Boot kaufen wollen, aber der Preis war zu hoch gewesen. Kori ließ die Karawane am Fluss anhalten, an einer Stelle, an der sich bereits mehrere andere Gruppen von Karren und Plattans zusammendrängten. Sie zahlte ihm das letzte Viertel seines Honorars und fragte, wo sie ein Quartier finden könne. Er zeichnete ein Symbol in den Staub, einen Stern innerhalb eines Kreises, dann beschrieb er ihr den Weg. Als sie davon überzeugt war, dass sie sich seine Anweisungen genau eingeprägt hatte, sagte sie ihm Lebewohl und machte sich auf den Weg in die Richtung, in die er gewiesen hatte.
Sie hatte keine Schwierigkeiten, das Quartier zu finden, und stellte zu ihrer Erheiterung fest, dass es ein Haus für weibliche Reisende war, das von pentadrianischen Götterdienern betrieben wurde. Man gab ihr ein Bett in einem Zimmer mit drei weiteren Frauen mittleren Alters, die anscheinend gemeinsam unterwegs waren. Die Frauen versuchten, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber Emerahl tat so, als beherrsche sie die Sprache der Einheimischen nicht gut genug, um sich unterhalten zu können. Was zum Teil der Wahrheit entsprach. Obwohl die Zwillinge sie während ihrer langen Reise die murianische Sprache gelehrt hatten, erschwerte ihr die Schnelligkeit, mit der die Einheimischen redeten, häufig das Verstehen.
Sie umgab ihren Beutel mit einem magischen Schild und legte sich auf ihr Bett. Es dauerte nicht lange, bis sie schlief - sie hatte mehr damit zu kämpfen, nicht in einen Zustand gänzlicher Bewusstlosigkeit zu versinken. Sie war monatelang unablässig von einem Ort zum anderen gereist und sehnte sich nach einer schönen, langen Ruhepause.
Dafür ist noch keine Zeit, dachte sie. Aber ich glaube nicht, dass ich mir die Mühe machen werde, Gedanken abzuschöpfen. Die Zwillinge sollten mir sagen können, was ich wissen muss.
Surim. Tamun.
Emerahl, antworteten sie.
Ich habe mein Ziel erreicht. Ich bin in Hannaya. Sind die Denker noch hier?
Ja. Sie sind in der Bibliothek, tief im Palast, erwiderte Surim. Willst du als Nächstes dorthin gehen?
Nein. Ich bin müde. Ich werde einen ausgeruhten Geist benötigen, wenn ich sie davon überzeugen soll, mich in ihre Reihen aufzunehmen. Ich hoffe, sie werden nicht bemerken, dass das Pergament eine Fälschung ist.
Mit der Hilfe der Zwillinge hatte sie ein altes Pergament aufgespürt und es so gestaltet, dass es jetzt aussah wie das Bruchstück einer Schriftrolle. Darauf stand in zwei Sprachen geschrieben dieselbe Erklärung, eine in der Schrift, die die Denker zu enträtseln versuchten, und eine weitere in einer etwas jüngeren Sprache, die sie verstanden. Das Dokument reichte jedoch nicht, um ihnen einen vollkommenen Zugang zu der unbekannten Sprache zu verschaffen.
Sobald die Denker von ihrer Fähigkeit wussten, die ältere Schrift zu lesen, würden sie wollen, dass sie die Artefakte übersetzte, die sie studiert hatten. Zuerst hatte sie sich gefragt, warum die Zwillinge sie die Schriftstücke übersetzen lassen wollten.
Wir können nur sehen, was wir in den Gedanken der Menschen lesen, hatten sie gesagt. Da die Denker den Text nicht verstehen, verstehen wir ihn ebenfalls nicht. Nur wenn sie die Buchstaben des Schriftstücks studieren, werden wir sie identifizieren können. Aber das tun sie nur selten, daher kommen wir langsam voran. Es wird viel schneller gehen, wenn du die Schriften für uns liest.
Warum können wir ihnen kein gefälschtes Pergament mit dem vollständigen Schlüssel für die Sprache schicken und abwarten, bis sie den Text selbst entziffert haben? Wir können aus ihren Gedanken lesen, wo sich die Schriftrolle der Götter befindet, und ich kann sie dann holen gehen.
Wenn die Götter zusehen und durch die Denker erfahren, wo die Schriftrolle sich befindet, schicken sie vielleicht jemanden aus, der sie zerstört.
Weder die zirklischen noch die pentadrianischen Götter würden wollen, dass man eine Schriftrolle fand, die ihre Geheimnisse barg.
Du hast unsere Anweisungen befolgt, um das Pergament echt erscheinen zu lassen, bemerkte Surim jetzt. Ohne es selbst gesehen zu haben, können wir dir nicht sagen, wie überzeugend es ist, aber wir vertrauen darauf, dass du deine Sache gut gemacht hast. Trotzdem wäre es klug, wenn du es vermeiden könntest, ihnen das Pergament zu überlassen.
Wir haben noch andere Neuigkeiten, warf Tamun ein. Einem der Denker ist eine große Summe Geldes für die Schriftrolle angeboten worden. Die anderen Denker wollen sie nicht verkaufen, daher weiß er, dass er sie würde verraten müssen. Er ist nicht sicher, ob er das tun will.
Welcher der Denker ist es?
Raynora. Du wirst ihn mögen, glaube ich. Er ist gutaussehend und verschlagen.
Ich bin mir nicht sicher, was mich mehr beunruhigt - dass du glaubst, ich würde ihn mögen, weil er gutaussehend ist oder weil er verschlagen ist. Denkst du, er wird das Angebot annehmen?
Vielleicht, wenn der Preis erhöht wird. Wir werden ihn genau beobachten.
Gut. Ich habe zu viel zu tun gehabt, um Gedanken abzuschöpfen, und ich bezweifle, dass sich daran etwas ändern wird. Für den Augenblick können die Schriftrolle und die Denker bis morgen warten, fügte sie hinzu. Ich muss mich einmal gründlich ausschlafen.
Gute Nacht, antworteten beide wie aus einem Mund, dann verblasste ihre Gegenwart in Emerahls Sinnen.
Zur Linken lagen die Berge des südwestlichen Sennon, über das die Siyee am vergangenen Tag hinweggeflogen waren. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein schmaler Meeresarm, und jenseits des Wassers konnte man den staubigen Schatten des südlichen Kontinents ausmachen. Ein Nebel verhüllte das Land und machte es unmöglich festzustellen, ob die fernen Umrisse Hügel oder Berge waren.
Vor ihnen lag ein dünner Streifen Landes, der die beiden Kontinente miteinander verband.
Die Landenge von Grya, erinnerte sich Auraya. Sie sieht so zerbrechlich aus, als hätte das Meer sie eigentlich schon vor Jahrhunderten wegspülen sollen. Vielleicht war sie früher einmal breiter, und die See hat sie bereits weitgehend abgetragen.
Unmittelbar vor dem Krieg hatte Danjin ihr einmal erklärt, die Landenge wäre die ideale Verteidigungsposition gegen die pentadrianischen Eindringlinge gewesen, wenn sich die Sennoner nicht bereitgefunden hätten, den Feind zu unterstützen. Auraya war sich angesichts dessen, was sie jetzt vor sich sah, allerdings nicht sicher, ob sie ihm recht geben würde. Der Mangel an Wasser und Nahrung in der sennonischen Wüste würde es sehr schwierig machen, hier eine Position auf Dauer zu halten. Natürlich konnte man Nachschub herbringen, aber nur unter größten Anstrengungen.
Für die Pentadrianer sähe die Sache allerdings deutlich günstiger aus, falls sie auf der anderen Seite der Landenge über Wasser und Nahrungsmittelreserven verfügten. Auraya wusste, dass ihre Hauptstadt, Glymma, nicht weit von der Landenge entfernt lag, so dass es wohl möglich sein musste, sowohl Wasser als auch Proviant in ausreichender Menge bereitzustellen, um eine solch große Stadt am Leben zu erhalten.
Sreil nahm Kurs auf den südlichen Kontinent, und die übrigen Siyee folgten ihm. Sie flogen heute hoch am Himmel in der Hoffnung, dass jeder Mensch, der zufällig hinaufschaute, sie für einen Schwarm Vögel halten würde. Der Staubschleier, der vor ihnen lag, würde ein zusätzlicher Schutz sein.
Langsam blieb Sennon hinter ihnen zurück, und Auraya konnte Einzelheiten des Landes erkennen, das vor ihnen lag. Eine von der Landenge kommende Straße verlor sich in dem allgegenwärtigen Staubschleier. Dunklere Formen in größerer Entfernung erwiesen sich, nachdem die Siyee sich ihnen genähert hatten, als niedrige Hügel. Auf den Windungen eines breiten Flusses spiegelte sich die Sonne.
Dann begannen sich langsam die Linien und Strukturen einer Stadt abzuzeichnen. Die Straße beschrieb einen Bogen genau in diese Stadt hinein und setzte sich dort als gepflasterte Straße fort, die breiter war als jede andere, die Auraya jemals gesehen hatte. Zu beiden Seiten zweigten schmalere Straßen in einem rechteckigen Gitter ab. Die Häuser der Stadt waren solide Bauten aus Ziegeln und bedeckt von Dachpfannen aus Ton. Das Häusermeer reichte von den Kais am Ufer bis dorthin, wo grüne Äcker begannen. Hier und dort nahmen Gärten voller üppiger Pflanzen und mit Teichen, die den Himmel reflektierten, das Auge gefangen wie Juwelen in einem phantastischen Diadem.
Die Stadt musste so groß sein wie Yarime, vielleicht noch größer. Aber ihr fehlte gänzlich das labyrinthische Durcheinander der Hauptstadt von Hania. Die Zeichen für eine wohldurchdachte und geplante Anlage der Stadt waren bis in deren Randgebiete und darüber hinaus erkennbar. Beeindruckend große Aquädukte führten Wasser von den weit entfernten Bergen heran, und die vom Fluss abzweigenden Kanäle wurden von in eleganten Formen gebauten Brücken überspannt. Im Zentrum der Stadt, wo die breite Hauptstraße endete, wurde die planmäßige Ordnung der Stadt durch einen Hügel unterbrochen. Auf diesem sahen sie eine komplizierte Anordnung von Bauten, die von oben wie ein einziges Durcheinander von Dächern und Innenhöfen wirkten. Auraya überlegte, warum hier solches Chaos herrschte, das im Rest der Stadt nirgends zu finden war.
Wenn dies Glymma war, handelte es sich dann um den Tempel der Pentadrianer?
Es gab in der ganzen Stadt kein anderes Bauwerk und auch keine Ansammlung von Bauwerken, die ähnliche Größe erreicht hätten. Es konnte also gar nichts anderes sein als der Tempel. Während Auraya die Stadt absuchte, fragte sie sich, wie es wohl sein würde, dort zu leben. Zu ihrer Überraschung musste sie bei dieser Frage an Mirar denken. War er in Glymma gewesen? Er hätte auf dem Weg in die Stadt, in der er sich, wie Jade ihr erklärt hatte, jetzt aufhielt, durch die Hauptstadt von Avven kommen können. Er musste, falls Jade nicht gelogen hatte, um ihn zu schützen, in einer Stadt in Mur im Norden sein. Aber in Wahrheit könnte sich Mirar ebenso gut direkt unter ihr befinden.
Ein Pfiff von Sreil unterbrach ihre Überlegungen. Er änderte abermals die Richtung und flog von der Stadt weg.
Auraya spürte, wie die Stimmung der Siyee umschlug. Glymma hatte sie noch mehr beeindruckt als sie selbst, da die meisten von ihnen noch nie eine Landgeherstadt gesehen hatten. Jetzt, da ihre Faszination gebrochen war, breitete sich Niedergeschlagenheit bei ihnen aus. Wenn der Feind so mächtig war, wie konnten die Siyee dann hoffen, gegen ihn zu bestehen?
Sie wünschte, sie hätte sie beruhigen können. Keiner ihrer Pfiffe könnte den Siyee Aurayas Vertrauen in sie übermitteln, und wenn sie zu sprechen versuchte, würde man sie im Lärmen des Windes kaum hören können. Und ich habe keine Ahnung, ob der Ort, den sie angreifen werden, über eine gute Verteidigung verfügt, überlegte sie. Ich kann ihnen nicht versprechen, dass sie Erfolg haben werden. Manchmal war es besser zu schweigen.
Die Aquädukte und die Felder reichten bis weit über die Stadtgrenzen hinaus. Ihre Erschöpfung machte den Siyee zu schaffen. Sreil führte sie auf die niedrigen Hügel zu, wo er hoffte, einen sicheren Rastplatz für die Nacht zu finden. Die Sonne versank am Himmel, bis alles um sie herum einen goldenen Glanz annahm.
Gerade als die Sonne den Horizont berührte, erreichten sie die Hügel. Alle waren erleichtert festzustellen, dass die trockenen Täler und Hügelkämme unbewohnt waren. Sreil gab das Signal zur Landung und ließ sich kreisend zu Boden sinken.
Als sie landeten, spendete die Sonne noch ein schwaches Licht, das jedoch binnen weniger Augenblicke erstarb und nur undurchdringliche Finsternis zurückließ. Auraya spürte, dass die Siyee um sie herumstanden, unsicher und ein wenig verängstigt.
»Soll ich ein Licht schaffen?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Sreil leise. »Ich denke, es ist das Risiko wert. Die Hügel um uns herum sollten uns als Versteck genügen.«
Sie zog Magie in sich hinein und leitete sie in einen winzigen Funken, der die Gesichter um sie herum schwach beleuchtete. Die Siyee scharten sich ängstlich zusammen.
»Imbiss?«, kam eine hoffnungsvolle, leise Stimme von Aurayas Schulter.
Die Siyee brachen in Gekicher aus, und Auraya lächelte, als sie spürte, dass sie sich ein wenig entspannten. Sie streckte die Hand aus, um Unfug am Kopf zu kraulen.
»Ja, ich denke, es ist Zeit für einen Imbiss.«
Die Siyee machten ein Lager für die Nacht bereit. Essen wurde ausgepackt, und Aurayas Last als Wasserträgerin wurde erleichtert. Sie wählten Wachen aus und fegten an einigen Stellen die Steine auf dem Boden beiseite. Obwohl die Siyee es gewohnt waren, in Hängematten zu schlafen und nicht auf hartem Boden, würde ihre Erschöpfung dafür sorgen, dass sie dennoch zur Ruhe kamen.
Schließlich kehrte Stille im Lager ein, doch dann krampfte Aurayas Magen sich zusammen, als sie spürte, wie sich eine vertraute Präsenz rasch näherte. Die Tatsache, dass sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten, sagte ihr, dass es Huan war.
Huan bewegte sich auf Priester Teel zu und sprach in seine Gedanken. Zuerst fragte sie, wie es den Siyee ergangen sei, dann erkundigte sie sich wie immer, was Auraya getan habe. Teel erstattete ihr getreulich Bericht über jeden einzelnen von Aurayas Schritten.
Es ist ihr verboten, in dieser Schlacht zu kämpfen, erklärte Huan ihm.
Selbst wenn wir verlieren?, fragte Teel.
Selbst dann. Dies soll eine Warnung für die Pentadrianer sein, dass es jedes Mal, wenn sie zum Schlag gegen Zirkler ausholen, eine Vergeltung geben wird. Die Botschaft muss von zirklischen Kämpfern kommen. Wenn Auraya kämpft, wird es den Anschein haben, als stecke sie dahinter.
Aber sie ist ebenfalls eine Zirklerin.
Sie ist nicht die von uns gewählte Waffe der Vergeltung. Wie sollen die Pentadrianer lernen, gewöhnliche Zirkler zu respektieren, wenn sich keine gewöhnlichen Zirkler gegen sie erheben und kämpfen?
Ich verstehe.
Du bist ein gutes Vorbild für dein Volk, Teel. Du bist ergeben und gehorsam.
Auraya spürte Teels Stolz.
Ich werde tun, was immer du von mir verlangst.
Das weiß ich, Teel. Dein Herz ist wahrhaftig. Von allen Siyee-Priestern bist du der vielversprechendste. Ich weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst.
Auraya verdrehte die Augen. Der junge Mann war ohnehin schon allzu überzeugt von seiner eigenen Wichtigkeit. Es war nicht nötig, dass Huan sein Selbstbewusstsein und seinen Stolz noch weiter aufblähte. Während die beiden weitere Schmeicheleien und Treuebekundungen austauschten, stieg in Auraya eine schwache Übelkeit auf.
Dies ist einer der Götter, die ich früher einmal vorbehaltlos geliebt habe?, überlegte sie. Es war schrecklich zu entdecken, dass Huan mich hasst und mich tot sehen will, aber das hier ist widerwärtig. Sie verwandelt ihn in einen blinden Fanatiker. Er wird sich wahrscheinlich so sicher sein, dass sie ihren kleinen Favoriten beschützt, dass er sich Hals über Kopf in die Schlacht stürzen und dabei den Tod finden wird.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite. Ich liebe die Götter nicht mehr in gleicher Weise. Wenn ich sterbe, sollte Chaia besser derjenige sein, der meine Seele annimmt. Ich denke, wenn ich die Wahl hätte, von Huan angenommen zu werden oder meine Seele für alle Zeit zu verlieren, würde ich mich für Letzteres entscheiden.
Das war eine schreckliche Gotteslästerung, das wusste sie, aber diesmal lief ihr dabei kein Angstschauer über den Rücken.
Ellas Zirk lag säuberlich gefaltet neben ihr. Über ihrem weißen Kleid trug sie den Reisemantel, den die einheimischen Frauen bevorzugten. Sie trug ihn, wie die Mode es vorschrieb: lose um die Schultern geschlungen. Außerdem konnte man das Kleidungsstück anheben, um bei Regen den Kopf zu bedecken oder um es sich um den Oberkörper zu wickeln, wenn man fror, aber Danjin hatte weder das eine noch das andere bisher bei ihr gesehen. Seit ihrer Abreise aus Chon hatten sie nur trockene Sommertage erlebt. Während der Fahrt im Plattan saß Ella Yem gegenüber, dem ältesten Sohn des Anführers des Dreggerclans. Der junge Mann war hager und muskulös wie die meisten Krieger, und er war intelligent und besaß großen politischen Scharfblick. Außerdem war Danjin aufgefallen, dass sich Yem Dienern gegenüber ungewöhnlich mitfühlend benahm, und aus diesem Grund war es eigenartig, dass man ihn zu ihrem Führer bestellt hatte.
Dunwegische Krieger erwarteten Ergebenheit von ihren Dienern. Es gab kein Gesetz, das einen Diener daran hinderte, ein Haus zu verlassen; er oder sie konnte sogar versuchen, andernorts eine Anstellung zu finden, obwohl das schwierig war, da die meisten Clans reichlich Diener hatten und nur wenige Krieger jemanden einstellen würden, der sich zuvor als treulos erwiesen hatte, indem er einem anderen Krieger den Dienst aufgekündigt hatte.
Was die Pentadrianer getan hatten, als sie die »Flucht« von Dienern ermöglichten, könnte eine allgemeine Rebellion der Dienerschaft gegen die Krieger auslösen. Danjin hatte erwartet, dass I-Portak Ella einen Mann an die Seite stellen würde, der sich Dienern gegenüber weniger freundlich zeigte. Jemanden wie Gim, ihren letzten Gastgeber.
Der andere Reisende in dem geschlossenen Plattan war Gillen Schildarm, der hanianische Botschafter. Während der langen Stunden, die Danjin und Ella in Chon gewartet hatten, hatte Gillen sie mindestens einmal am Tag besucht und sie mit Geschichten oder Brettspielen unterhalten. Jetzt tat er das Gleiche, wobei er das kleine Spiel benutzte, das Silava Danjin eingepackt hatte. Manchmal machte es den Anschein, als würden sich in dem Plattan einzig Danjin und Gillen miteinander unterhalten, und in diesen Gesprächen ging es stets um irgendein Spiel.
Danjin vermutete, dass Gillen sich nur deshalb als ihr Begleiter für diesen Ausflug angeboten hatte, weil er sich in Chon langweilte. Ella hatte sein Angebot mit Freuden angenommen, weil er mehr über die dunwegischen Sitten und die jüngere Politik wusste als Danjin. Ella verbrachte den größten Teil ihrer Zeit damit, ins Leere zu schauen und den Gedanken der Männer zu lauschen, die sie suchten. Yem schwieg derweil und sprach nur, wenn jemand das Wort an ihn richtete. Danjin war überzeugt davon, dass Yems Schweigsamkeit nichts mit Überheblichkeit zu tun hatte, sondern eher ein Zeichen für die Unsicherheit des jungen Mannes war. Er war wahrscheinlich eingeschüchtert von Ella oder vielleicht auch einfach die Art Mensch, die lieber zuhörte, als zu reden.
Yem und Gillen wussten nicht so viel über den Grund ihrer Reise wie Danjin. Während des Essens in Gims Haus hatte Ella die ängstlichen Gedanken von Ton aufgefangen, einem Dienstboten, der plante, seinen Herrn zu verlassen. Der Mann traf sich nun seit einiger Zeit mit einem sennonischen Gewürzhändler. Der Händler hatte ihm erklärt, dass dunwegische Diener kaum mehr seien als Sklaven, und er hatte von einem Ort gesprochen, an dem alle Menschen gleich waren und alle Arbeiten untereinander geteilt wurden. Einem Ort im Süden von Dunwegen.
Ein Besuch auf dem Markt hatte Ellas Verdacht bestätigt. Einer der Gewürzhändler war ein sennonischer Pentadrianer, der Anweisung hatte, mögliche dunwegische Konvertiten aus Chon hinauszubringen. Bedauerlicherweise wusste er nicht, wo er sie hinschickte, aber durch ihn hatte Ella den Geist des flüchtigen Dieners, Ton, gefunden.
Wie sie gehofft hatte, hatte Ton soeben die Reise angetreten, die ihn in die Zuflucht für Dienstboten führen sollte. Von diesem Tag an war er zwischen verschiedenen Männern und Frauen herumgereicht worden, die sich um ihn kümmerten - wobei keiner von ihnen wusste, wo diese Zuflucht lag. Es war ein sorgfältig geplantes System mit dem Ziel, das Aufspüren der Pentadrianer zu erschweren.
Es war schwer, aber nicht unmöglich, hatte Ella gesagt. Sie brauchte lediglich dem Diener zu folgen. Obwohl er die meiste Zeit über nicht wusste, wo er war, konnte sie seinen Aufenthaltsort von den Menschen in seiner Nähe erfahren.
Durch die offene Türlasche sah man jetzt nichts als die Wipfel hoher Bäume. Die Straße war aus den steilen Hängen des Berges südlich von Chon gehauen worden. Wenn Danjin sich etwas vorgebeugt und hinabgesehen hätte, was er tunlichst vermied, hätte er unter ihnen einen Hang betrachten können, der einem senkrechten Absturz näher kam, als seinem Wohlbefinden zuträglich sein konnte.
Ella gab einen leisen, unzufriedenen Laut von sich, und er wandte sich zu ihr um. Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist los?«, fragte er.
»Sie haben ihn allein weitergeschickt. Er hat keine Ahnung, wo er hingeht.« Sie runzelte die Stirn und sah Yem an. »Lass uns die Karte zu Rate ziehen.«
Der junge Mann zog einen hölzernen Zylinder heraus und öffnete ihn. Aus dem Zylinder entnahm er eine Rolle dünnen Leders, das mit tätowierten Bildern und Linien bedeckt war. Er hatte ihnen erzählt, dass es sich um Menschenhaut handele. Der Krieger, der die Karte geschaffen hatte, war jahrelang durch Dunwegen gereist und hatte seine Karte sorgfältig in den Rücken seines ergebensten Dieners geritzt. Seit Danjin diese Geschichte gehört hatte, hatte er alles in seiner Kraft Stehende getan, um die Karte nicht berühren zu müssen.
Gleichmäßig über das Land verteilt konnte man kleine, verschwommene Bilder von Festungen ausmachen. Die Straßen waren, was den Gegebenheiten keineswegs entsprach, schnurgerade und zeigten keine der gewundenen Biegungen, die der Plattan genommen hatte. Verblichene rote Linien markierten die Grenzen der Ländereien, die den verschiedenen Clans gehörten.
»Er ist hier«, sagte Ella und zeigte auf eine Gruppe von Symbolen, die für Häuser standen. »Seinen Anweisungen zufolge soll er diese Straße entlanggehen, bis er einen großen Felsen in der Form eines Arems sieht, und dann soll er die nächste Abzweigung nach links nehmen. Anschließend soll er nach einem großen Baum Ausschau halten und seinen Weg querfeldein fortsetzen.«
Plötzlich verstand Danjin ihre Unzufriedenheit. Diese Anweisungen konnte man auf einer Karte nicht nachvollziehen. Der Mann hatte keine Ahnung, wo er war oder wo er hinging, und er hatte keine Gefährten oder Führer bei sich, die mehr wussten.
Diese Pentadrianer sind gerissen, dachte Danjin. Aber sie werden uns nicht entkommen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
»Irgendwann wird er etwas sehen, das ich erkenne«, versicherte ihr Yem.
»Und bis dahin werden wir weit zurückgefallen sein«, erklärte Ella, die offenkundig nicht glücklich über den Fortgang der Ereignisse war.
»Wir könnten zu dem Ort fahren, den er soeben verlassen hat«, schlug Gillen vor. »Und dann folgen wir den Anweisungen.«
Ihr Plattan nahm eine Route, die parallel zu der des entflohenen Dieners über weiter östlich gelegene Straßen führte, für den Fall, dass die Pentadrianer und ihre Gehilfen auf der Strecke sie sahen und in ihnen Verfolger witterten.
»Nein«, sagte sie. »Es ist besser, abzuwarten, als das Risiko einer Entdeckung auf uns zu nehmen.«
Yem rollte die Karte zusammen und schob sie wieder in ihren Behälter. Als erneut ein leerer Ausdruck in Ellas Augen trat, sah Gillen Danjin mit hochgezogenen Augenbrauen an. Danjin holte lächelnd sein Spiel hervor. Es war eine elegant gefertigte Ausgabe für Reisende. Am Fuß eines jeden Spielstücks befand sich ein Haken, der in Löcher im Brett passte - aber das Fach, in dem die Spielsteine untergebracht waren, war verzogen und ließ sich nicht mehr ganz öffnen.
»Hast du Lust auf ein Spiel?«
Gillen nickte. »Ich dachte schon, du würdest nie mehr fragen.«
Die Stadt der Vogelzüchter lag hoch oben in einem Tal und war umringt von Höhlen. Sie hieß Klaff. Auraya hatte den Namen aus dem Geist eines Bewohners der Stadt gelesen, aber sie konnte es den Siyee nicht erzählen, ohne zu riskieren, dass die Götter errieten, wie sie es erfahren hatte.
Bald würde der heißeste Teil des Tages anbrechen, und den Siyee-Spähern, die die Stadt gestern beobachtet hatten, war aufgefallen, dass sich dort zu dieser Zeit am wenigsten regte. Die Einwohner zogen sich dann in ihre Häuser zurück oder machten an einem schattigen Ort ein Nickerchen. Die Vögel befanden sich sicher in ihren Käfigen. Seit ihrem Morgenflug waren Stunden verstrichen, und weitere Stunden würden vergehen, bevor sie am späten Nachmittag abermals ins Freie gelassen wurden.
Unfug kauerte hechelnd im Schatten eines Felsbrockens. Aurayas Bündel war in der Hitze des Tages kein angenehmer Aufenthaltsort. Sie goss Wasser in eine kleine Vertiefung in einem Stein, und der Veez leckte es gierig auf.
Die Siyee warteten direkt hinter dem Kamm des Hügels. Einige von ihnen behielten die Stadt im Auge, während Sreil das Wort an die anderen richtete.
»Die Vögel leben in Höhlen«, erklärte Sreil, »und werden lediglich durch Eisengitter dort festgehalten. Wir können sie also mit Pfeilen und Wurfgeschossen töten, ohne in die Höhlen gehen oder sie herauslassen zu müssen. Vor den Höhlen befindet sich ein freier, von Gebäuden umringter Platz, wo wir landen können. Gestern waren dort keine Wachen zu sehen, aber sie könnten sich im Innern der Höhlen aufhalten. Wenn wir leise sind, könnten wir wieder hinauskommen, ohne dass jemand es bemerkt, obwohl ich bezweifle, dass die Vögel ruhig bleiben werden. Ich will, dass sechs Krieger in einem Halbkreis landen und ihre Bögen bereithalten für den Fall, dass Landgeher auftauchen.« Er hielt inne und sah sich erwartungsvoll um, bis sechs Siyee die Hand hoben. »Wir anderen werden zwischen ihnen und der Felswand landen. Wir werden zu den Käfigen gehen und alle Vögel töten. Falls ihr Eier findet, zerschlagt sie ebenfalls.«
Auraya hatte sich erboten, die Städter derweil irgendwie abzulenken, aber Sreil hatte sich dagegen entschieden. Er wollte die Schläfrigkeit der Einheimischen ausnutzen; jede Ablenkung, die Auraya schuf, würde ihre Wachsamkeit erhöhen.
Sreil straffte sich und musterte seine Krieger. »Wir müssen schnell sein. Bleibt nicht länger in den Höhlen als unbedingt nötig. Wir sind keine Landgeherkrieger. Wenn wir auf Widerstand treffen, müssen wir uns zurückziehen. Wir werden uns an dieser Stelle wieder treffen.«
Die Siyee pfiffen zustimmend. Auraya wünschte ihnen eine gute Jagd, was hier und da ein Lächeln auf ansonsten grimmige Gesichter zauberte. Als Sreil den steilen Hang hinunterrannte und dann in die Luft sprang, stürmten die anderen Siyee ihm nach.
Auraya beobachtete, wie sie davonglitten und auf die Stadt zuhielten. Sie kletterte auf den Gipfel des Hügelkamms und suchte sich einen Felsbrocken, neben dem sie in die Hocke gehen konnte, so dass man ihre Silhouette vor dem Himmel nicht sehen würde. Ihr Herz schlug sehr schnell, und als die Siyee in den Sinkflug gingen, krampfte sich ihr Magen vor Furcht zusammen.
Sie ließ den Blick über die Stadt wandern und hielt Ausschau nach jemandem, der das Näherkommen der Siyee vielleicht beobachtet haben könnte. Die Straßen waren verlassen.
Der Felsbrocken verströmte Wärme. Sie hoffte, dass die Bürger von Klaff in tiefem Schlaf lagen.
Die Siyee waren jetzt ein Schwarm ferner Gestalten direkt über der Stadt. Sie stießen abrupt in einen Innenhof hinab. Der Hof war zu drei Seiten von Gebäuden umgeben, und auf der vierten Seite befand sich eine Felswand, die, genau wie Sreil es beschrieben hatte, mit dunklen Löchern durchsetzt war. Als sie landeten, hielt Auraya den Atem an, aber niemand kam herbeigeeilt, um die Siyee anzugreifen.
… müssen wohl noch schlafen, hörte sie Sreil selbstgefällig denken. Sie spürte seinen Stolz auf seine Krieger, während sie ihre Plätze einnahmen, wie er es befohlen hatte. Dann nahm sie von allen Siyee ein jähes Gefühl von Überraschung und Angst wahr.
Von ihrem Ausguck sah Auraya, wie aus einem der Löcher etwas Dunkles hervorschnellte und die Siyee umschlang. Sie sprang auf, als sie die Verwirrung der Siyee auffing. Ihre Gedanken waren ein wirres Durcheinander von Entsetzen und Erschrecken. Sie konnte nicht feststellen, was dort geschah.
Sie senkte den Blick und stellte fest, dass der Boden weit unter ihr lag. Sie hatte sich in den Himmel erhoben, ohne dass es ihre Absicht gewesen wäre. Jetzt flog sie bewusst über die Stadt hinweg, bis sie sich über dem Innenhof befand. Dann verstand sie endlich: Sie konnte einige Siyee erkennen, die versuchten, sich aus einem schweren Netz freizukämpfen.
Ein Netz?
Kälte breitete sich in ihr aus, als sie begriff, dass die Pentadrianer auf das Kommen der Siyee vorbereitet gewesen waren.
Wie? Hat man uns verraten? Wer?
Einige der Siyee schlugen in schierer Panik wild um sich, aber andere holten Messer hervor und bearbeiteten damit die dicken Seile. Doch alle Hoffnung erstarb in Auraya, als sie Männer und Frauen in schwarzen Roben aus den Gebäuden herbeieilen sah. Die Pentadrianer stellten sich auf die Ränder des Netzes und verhinderten so ein Entkommen der Siyee. Zwei Kriegern gelang es dennoch, sich zu befreien. Die Flüchtlinge rannten auf die Höhlen zu, sprangen auf die Felswand und benutzten ihren Schwung, um sich noch weiter hinaufzuziehen. Unter heftigem Flügelschlagen gelang es ihnen, über die Dächer der Gebäude und weiter über die Stadt zu fliegen.
Zur gleichen Zeit hatten andere Siyee den Kampf gegen das Netz aufgegeben, und Auraya beobachtete voller Stolz, wie sie ihre Rohre und Geschirre einsetzten, um die Landgeher mit vergifteten Pfeilen zu beschießen. Einige der Götterdiener brachen langsam auf dem Netz zusammen, aber ihr Gewicht machte für die Siyee ein Entkommen aus dem Netz erst recht unmöglich. Die übrigen Pentadrianer blieben unberührt stehen.
Sie beschirmen sich mit Magie, schoss es Auraya durch den Kopf, und sie verlor jede Hoffnung. Die Siyee haben keine Chance, Götterdiener besiegen zu können.
Auraya!
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Jurans Stimme erkannte.
Ja?
Was geht da vor? Das, was Teel mir zeigt, ergibt keinen Sinn für mich.
Der Angriff der Siyee ist gescheitert. Die Pentadrianer wussten, dass sie kamen, und haben sie gefangen genommen.
Auraya fing eine schwache Hoffnung von jemandem unter ihr auf und begriff, dass ein Siyee, der von dem Netz festgehalten wurde, zu ihr hinaufstarrte.
Hilf mir, dachte er in ihre Richtung.
Schuldgefühle, Ohnmacht und schließlich Zorn stiegen in ihr auf. Ich kann nicht, dachte sie, obwohl sie wusste, dass ihr Gedanke den gefangenen Siyee nicht erreichen konnte. Sie ballte die Fäuste. Die Götter hatten ihr verboten zu kämpfen. Es gab keine Möglichkeit, wie sie den Siyee helfen konnte, ohne zu kämpfen.
Was soll ich tun?, fragte sie Juran.
Die Pentadrianer töten die Siyee nicht?
Nein.
Er verfiel in Schweigen - wahrscheinlich wog er verschiedene Möglichkeiten ab. Bei seiner Frage war Auraya eine Idee gekommen. Wenn die Pentadrianer von dem Angriff gewusst hatten und es ihre Absicht gewesen wäre, die Siyee zu töten, hätten sie das Netz nicht benutzt. Sie wollten sie gefangen nehmen.
Und einen Gefangenen konnte man immer befreien. Vielleicht werde ich nicht gegen die Pentadrianer kämpfen müssen, um die Siyee zu befreien.
Als sie in den Geist der Pentadrianer blickte, sah sie dort sowohl Triumphgefühl als auch Überraschung. Gestern hatte sie in den Gedanken der Städter nichts gelesen, was darauf hindeutete, dass sie einen Angriff erwarteten oder einen Hinterhalt planten. Jetzt sah sie, dass diese Menschen bis vor wenigen Augenblicken nichts von dem Hinterhalt gewusst hatten; sie waren zu einem Treffen hierhergerufen worden, nur um mitzuerleben, wie die Erste Stimme Nekaun die geflügelten Menschen in dem Netz fing.
Die Erste Stimme Nekaun? Auraya wurde noch mutloser, als sie sah, dass einer der Pentadrianer zu ihr aufblickte. Sie suchte seine Gedanken und spürte nichts.
Erinnerungen an Kuar, die frühere Erste Stimme, stiegen in ihr auf; er hatte sie mit Magie gefangen gehalten. Kuar ist tot, rief sie sich ins Gedächtnis. Trotzdem, diese neue Erste Stimme könnte genauso mächtig sein, wie er es war.
Wahrscheinlich konnte er sie vom Himmel schießen, wenn er es wollte.
Sie zog sich hastig zurück, aber er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten.
Juran.
Ja?
Der Anführer des Feindes ist hier. Ich muss mich zurückziehen. Aber ich werde in der Nähe bleiben. Ich werde jede Gelegenheit ergreifen, die Siyee zu befreien, ohne zu kämpfen.
Ja. Tu das. Ich werde die Situation mit den anderen erörtern und dich wissen lassen, was wir entschieden haben.
Während sie sich immer weiter und weiter vom Schauplatz des Geschehens entfernte, konnte sie die Verzweiflung der Siyee spüren. Ihnen gingen langsam die Pfeile aus, und der Feind nahm sie sich jetzt einen nach dem anderen vor, entwand ihnen die Waffen und fesselte ihre Handgelenke. Schließlich hatte Auraya den Hügelkamm erreicht, von dem aus sie die Ereignisse beobachtet hatte, und ließ sich dort nieder.
Sie fühlte sich schrecklich, als hätte sie die Siyee im Stich gelassen. Ich muss eine Möglichkeit finden, sie zu befreien.
»Owaya?«
Ein erleichterter und verängstigter Unfug sprang an ihr hinauf. Er kletterte auf ihre Schulter, wo er still und leicht bebend sitzen blieb. Als sie ihm den Kopf kraulte, wurde ihr bewusst, dass ihre Hände zitterten.
»Sie leben«, sagte sie zu ihm. »Zumindest leben sie.«
Das Geräusch von Luft auf Flügeln lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Die beiden Siyee, die entkommen waren, landeten neben ihr. Ihre Mienen waren schrecklich.
»Sind sie tot?«, fragte einer.
Sie schüttelte den Kopf, und die Erleichterung der beiden schlug wie eine Welle über ihr zusammen.
»Dann sind sie also Gefangene?«, fragte der andere.
»Ja.«
»Was wirst du jetzt tun?«
Auraya seufzte. »Was immer ich tun kann, ohne gegen den Befehl der Götter zu verstoßen. Sie haben mir verboten zu kämpfen. Sie haben allerdings nicht gesagt, dass ich mich nicht an ein Gefängnis heranschleichen und jemanden befreien darf.«
Sie verfielen in Schweigen und blickten auf die Stadt hinab. Die Magie um Auraya herum brodelte, und sie hätte um ein Haar ein lautes Zischen ausgestoßen, als zwei mächtige Präsenzen plötzlich aus der Stadt schossen und in die beiden Siyee neben ihr fuhren. Eine Gänsehaut kroch über ihre Glieder, als sie Huan erkannte, dann entspannte sie sich ein wenig, als ihr klar wurde, dass der andere Chaia war.
Also, was wird deine kleine Lieblingszauberin als Nächstes tun?, fragte Huan.
Eine Wahl treffen, erwiderte Chaia. Das war es doch, was du erreichen wolltest, oder?
Mit dieser Geschichte hier? Nein, das war lediglich eine Vergeltung für die Morde in Jarime und die Versuche, Zirkler zu bekehren, sagte Huan.
Für die Morde an Traumwebern? Ich hätte nicht gedacht, dass sie dir so sehr am Herzen liegen.
Ich verabscheue sie nicht so sehr, wie du es tust, entgegnete sie. Außerdem haben die Weißen entschieden, fürs Erste die Toleranz gegenüber Traumwebern zu fördern. Also ergibt es einen Sinn, Rache für die Morde an Traumwebern zu nehmen.
Und doch hast du dafür gesorgt, dass die Siyee scheitern mussten. Inwiefern soll das irgendjemanden rächen?
Es spielt keine Rolle. Was eine Rolle spielt, ist, dass die Pentadrianer wissen, dass sie den Unmut der Weißen erregt haben.
Du gehst unnötige Risiken ein, Huan. Juran hat diesen Angriff als Glücksspiel betrachtet. Es überrascht ihn nicht, dass er gescheitert ist. Jetzt wird er sich fragen, warum du ihn befohlen hast. Er wird an der Weisheit, deinen Befehlen zu folgen, zweifeln.
Eine kleine Prüfung seiner Ergebenheit.
War es das wirklich? Und warum hast du dich nicht mit uns anderen beraten, bevor du alles in die Wege geleitet hast?
Ich habe mich beraten. Ich brauchte mich nicht mit dir zu beraten, da alle anderen einverstanden waren.
Lore wäre niemals mit etwas Derartigem einverstanden gewesen.
Er war es aber. Du vergisst seine Vorliebe für Kriegsspiele.
Warum hast du die Siyee dann gefangen nehmen lassen, statt sie zu töten? Wenn du einen Krieg provozieren willst, wäre das viel erfolgversprechender gewesen.
So ist es interessanter.
Interessant? Du hast kein Interesse an Krieg, sagte Chaia. Du bist nur daran interessiert, Auraya loszuwerden. Wenn dein Hinterhalt Auraya dazu treibt, sich von uns abzuwenden, wirst du es bereuen.
Ist das eine Drohung? Huan lachte. Du kannst mir ebenso wenig Schaden zufügen, wie ich dir Schaden zufügen kann.
Mit diesen Worten zog sie sich zurück und bewegte sich mit großer Schnelligkeit auf die Stadt zu. Auraya seufzte vor Erleichterung.
Das ist der Punkt, in dem sie sich irrt, murmelte Chaia. Dann kicherte er. Hast du all das gehört, Auraya? Ich hoffe es.
Und dann war auch er fort, und sie konnte nur noch überrascht blinzeln. Er wusste, dass sie die Götter reden hören konnte. Hatte er Huan deshalb dazu ermutigt, mit ihm über den Hinterhalt zu sprechen?
Vielleicht wollte er mir nur zeigen, dass er nicht dafür verantwortlich war… dass Huan es war.
Dann drehte sich ihr mit einem Mal der Magen um, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Huan hatte die Siyee verraten. Sie hatte diese Mission nicht nur als Prüfung für Aurayas Ergebenheit arrangiert, sondern auch dafür gesorgt, dass sie fehlschlagen musste.
Dann fiel ihr Chaias Warnung wieder ein. Huan würde danach trachten, sie, Auraya, zu verletzen, indem sie jene verletzte, die sie liebte. Anscheinend war Huan tatsächlich bereit, dem Volk, das sie geschaffen hatte, Leid zuzufügen.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrem Arm.
»Wie kann ich helfen?«
Auraya drehte sich um und blinzelte den Siyee überrascht an, dann zwang sie sich, sich wieder dem Dilemma zuzuwenden, vor dem sie stand. Eines wurde ihr schlagartig bewusst. Wenn Huan den Siyee Leid zufügen wollte, um sie selbst, Auraya, zu treffen, dann war es besser, wenn sie ihre Freunde so weit wie möglich von hier fortschaffte.
»Kehrt in unser letztes Lager zurück«, sagte sie. »Ich werde mich dort in Kürze mit euch treffen. Ich werde etwas zu essen und Wasser für euch mitbringen. Ihr solltet einen Teil der Vorräte im Lager zurücklassen, ebenso wie an den übrigen Orten, an denen wir unterwegs Halt gemacht haben, falls es einigen der anderen gelingen sollte zu entkommen.«
»Du willst, dass wir nach Hause fliegen?«, fragte einer der Siyee zweifelnd.
»Ja.« Sie sah ihm in die Augen. »Das war eine Falle. Sie haben euch erwartet. Ich werde tun, was ich kann, um die anderen zu befreien. Ihr müsst dafür sorgen, dass sie auf der Heimreise überleben können.«
Die beiden Siyee nickten. Sie wussten, dass sie recht hatte, aber es widerstrebte ihnen, ihre Gefährten zurückzulassen.
»Geht«, ermahnte Auraya sie. »Seht zu, dass zumindest ihr beide eure Heimat erreicht. Sprecherin Sirri und die Familien der anderen Krieger sollten wissen, was hier geschehen ist.«
Die beiden neigten den Kopf zum Zeichen, dass sie einverstanden waren. Auraya beobachtete, wie sie davonflogen, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Stadt Klaff zu. Es gab dort etliche öffentliche Brunnen, und sie hatte am Stadtrand einen kleinen Markt bemerkt. Selbst wenn Nekaun die Gedanken der Siyee gelesen haben sollte, während sie ihnen ihre Anweisungen gab, bezweifelte sie, dass er rechtzeitig zum Markt würde gelangen können, um sie abzufangen.
Sie hob Unfug von ihren Schultern und setzte ihn auf den Boden.
»Bleib«, befahl sie.
Er ließ den Kopf hängen, ging aber gehorsam zu einem Fleckchen Schatten hinüber und rollte sich zusammen, um zu warten.
Solchermaßen zufriedengestellt, erhob sie sich in die Luft und ließ sich zurück in die Stadt gleiten.
Schwerer Regen und heftige Winde hatten Mirar während der Nacht mehrmals aus dem Schlaf gerissen, aber als er am Morgen erwachte, war alles still. Der Himmel war wolkenverhangen, aber an manchen Stellen konnte man blaue Flecken ausmachen. Trotz des Regens war es noch immer warm.
Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, drang aus der Küche der Duft von frisch gebackenem Brot, und Tintel war bereits in der Halle, wo sie mit anmutigen Bewegungen Früchte aufschnitt und verzehrte. Sie sah zu ihm auf und nickte ihm grüßend zu. Als er nun ebenfalls Platz nahm, setzte das Trommeln des Regens plötzlich wieder ein.
»Kein schöner Tag für die Prüfungen«, sagte Tintel. »Ich hätte gedacht, die Götter würden das besser einrichten.«
»Das hängt vermutlich von der Interpretation des Wortes ›Prüfung‹ ab.«
Sie kicherte. »Ja, da hast du wahrscheinlich recht. Möchtest du, dass ich dich heute begleite?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein - aber danke für das Angebot.«
Sie nickte. Er konnte ihre Sorge spüren, obwohl er nicht wusste, ob sie um seine Sicherheit fürchtete oder um die Sicherheit aller Traumweber - oder beides. Wenn diese Begegnung zwischen ihm und der Vierten Stimme Genza misslang, würde das Auswirkungen auf die guten Beziehungen zwischen den südithanischen Traumwebern und den Pentadrianern haben?
Ich werde einfach dafür sorgen müssen, dass es nicht misslingt, sagte Mirar sich.
Vom Haupteingang erklang ein Klopfen. Tintel erhob sich, um die Tür zu öffnen, und kehrte mit einem Mann und einem vielleicht fünfzehnjährigen Jungen zurück. Beide trugen blaue und weiße Gewänder, auf die Bänder in den gleichen Farben aufgenäht waren, aber keiner der beiden wirkte so fröhlich wie ihre Aufmachung. Der ältere Mann stützte den Jungen, der auf einem Bein hüpfte, um das andere nicht zu belasten.
Tintel rief nach einem der Traumweber in der Küche, der sofort herbeikam, einen einzigen Blick auf das farbenprächtige Paar warf und sie davonführte. Tintel kehrte an ihren Platz zurück.
»Wir werden heute eine Menge gebrochener Knochen und verrenkter Knöchel zu sehen bekommen«, bemerkte sie.
Mirar sah sie fragend an.
»Nasse Plattformen können sehr rutschig sein«, erklärte sie. »Während eines aufregenden öffentlichen Ereignisses neigen die Leute - insbesondere junge Leute - dazu, ohne Rücksicht auf mögliche Gefahren umherzulaufen. Ah. Da kommt deine Begleiterin.«
Mirar drehte sich um und sah eine Frau in mittleren Jahren, die die Roben der Götterdiener trug, auf der Türschwelle stehen. Ihr Gesicht war gerötet, und sie schwitzte. Als Mirar sich erhob, blickte sie zu ihm hinüber.
»Du bist Mirar, der Begründer der Traumweber?«, fragte sie.
»Der bin ich«, antwortete er.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin Götterdienerin Minga. Ich soll dich zu deinem Treffen mit der Vierten Stimme Genza bringen.«
Mirar wandte sich zu Tintel um. »Viel Glück.«
»Dir auch«, erwiderte sie leise. »Wäge deine Schritte heute sehr genau.«
Er lächelte, überzeugt davon, dass sie nicht von nassen Plattformen sprach. Dann ging er zu der Götterdienerin hinüber, um sie zu begrüßen. Die Frau war eher klein, aber ihre Haltung war stolz. Sie war es gewohnt, dass man sie respektierte und ihr gehorchte, vermutete Mirar.
Er deutete auf die Tür. »Bitte, geh voran.«
Minga nickte Tintel kurz zu, bevor sie sich umdrehte. Diese kleine Geste des Respekts erstaunte Mirar. Eine zirklische Priesterin hätte etwas Derartiges niemals getan.
Ich könnte dieses Land wirklich lieben lernen.
Sie traten in den dichten, strömenden Regen hinaus, und Mirars Begeisterung erhielt einen jähen Dämpfer. Er zog ein wenig Magie in sich hinein und umgab sie beide mit einem Schild, was ihm ein dankbares Lächeln von seiner Führerin eintrug. Trotz des Regens schien es sich kaum abgekühlt zu haben, aber die oberen Bereiche Kaves glänzten von Feuchtigkeit und rochen nach nassem Holz.
Sie gingen langsam von einer Plattform zur nächsten. Viele Dekkarener saßen auf Stühlen unter ihren breiten Veranden und fächelten sich Luft zu. Als Mirar vorbeiging, nickten sie ihm lächelnd zu, was er als gutes Zeichen wertete. Wenn die Bewohner Dekkars ihn mochten, würden die Stimmen es vielleicht ebenfalls tun.
Nach einigen Minuten hörte er jedoch die Schritte mehrerer Menschen hinter sich, und ein Gefühl der Mutlosigkeit stieg in ihm auf, als er sich vorstellte, dass ihm eine Horde von Anhängern in die Halle der Häuptlinge folgte. Das würde bei der Stimme den Eindruck erwecken, als habe er großen Einfluss in der Stadt - was der Götterdienerin wohl kaum gefallen würde.
Er blieb stehen und blickte über die Schulter, dann musste er sich ein Lachen verkneifen. Die Gruppe, die ihm folgte, waren Kinder, deren Augen groß vor Neugier waren. Sie grinsten ihn an.
»Hallo«, sagte er. »Warum folgt ihr mir?«
»Wir mögen dich«, erwiderte ein Junge.
»Du hast Pinpin geheilt«, ergänzte ein Mädchen.
»Und Mimi.«
»Und Doridoris Mutter.«
»Gehst du zu den Häuptlingsprüfungen?«
Er nickte.
»Da wollen wir auch hin!« Die Kinder brachen in fröhliches Gelärme aus, dann rannten sie davon. Mirar drehte sich lächelnd zu der Götterdienerin um, die ihn neugierig musterte. Er zuckte die Achseln, und sie setzten ihren Weg fort.
Als sie eine Brücke überquerten, nahm Mirar eine Bewegung unter sich wahr und blickte hinab. Auf dem Boden unter den Plattformen waren zu beiden Seiten eines Baches winzige Unterstände errichtet worden. Der Geruch von Abfall und Exkrementen stieg ihm in die Nase. Hier lebten die ärmeren Bewohner Kaves und sammelten ein, was die Wohlhabenden wegwarfen. Jene, die sich über den Gestank von unten beklagten - doch wenn die Armen den Abfall nicht auflesen und die Bäche sauber halten würden, hätte die ganze Stadt noch viel schlimmer gerochen.
Tintel hatte Mirar erzählt, dass die Armen, wenn die Fluten kamen, die Wände ihrer Hütten zusammenbanden, um Flöße daraus zu bauen. Diese befestigten sie an Bäumen oder Plattformen, damit sie nicht ins Meer gespült wurden. Die Pentadrianer hatten im vergangenen Jahr drei reiche junge Männer zur Sklaverei verdammt, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, mehrere Flöße loszubinden. Einige der Familien waren von Schiffen gerettet worden und hatten die Männer identifiziert, aber die meisten Menschen hatte man niemals gefunden.
Je näher sie der Halle der Häuptlinge kamen, umso mehr Gedränge herrschte auf den Veranden von Kave. Alle Menschen trugen leuchtend bunte, mit Bändern oder Blumen geschmückte Gewänder. Weitere Blüten zierten die Häuser und Plattformen, die von Feuchtigkeit glänzten, sofern sie nicht vor dem Regen geschützt waren.
Obwohl es plötzlich aufhörte zu regnen, tropfte das Wasser weiterhin von den Dächern. Manchmal war das Gedränge so groß, dass die Götterdienerin sich räuspern oder die Menschen herablassend auffordern musste, beiseitezutreten. Endlich kam die Halle der Häuptlinge in Sicht. Ebenso wie das Sanktuarium von Kave war sie aus Stein gebaut. Es war eine gedrungene dreistufige Pyramide, die sich aus dem schlammigen Boden erhob. Die Seiten sahen aus wie überdimensionierte Treppen. Im Zentrum des Gebäudes war ein Abschnitt mit einer normal dimensionierten Treppe versehen, die bis zur höchsten Stufe führte. Ein Besucher musste buchstäblich die Wände hinaufsteigen, um dorthin zu gelangen.
Auf der ersten Stufe war ein Pavillon errichtet worden. Darunter saßen mehrere Männer und einige Frauen auf Stühlen mit Binsengeflecht. Einige Diener führten ihnen mit großen Fächern Luft zu. Ihre Bemühungen galten vor allem einer dunkelhäutigen Frau in schwarzen Roben, die auf einem ebenfalls mit Binsengeflecht bezogenen Sofa in der Mitte des Pavillons saß.
Mirars Führerin geleitete ihn über die Brücke. An einem der Eckpfeiler des Pavillons machte sie Halt, und er blieb neben ihr stehen. Die dunkelhäutige Frau sprach mit einem ihrer Begleiter. Dann blickte sie zu Mirar auf und lächelte, erhob sich und kam ihnen entgegen.
Sie ist sehr groß, fiel ihm auf. Und sie bewegt sich mit der Anmut eines Menschen, der körperlich stark ist. Aber sie ist eher hager als muskulös, und ihr Gesicht ist schön.
»Ich bin Genza, die Vierte Stimme der Götter«, sagte sie auf Dekkarenisch. »Du bist Mirar, der unsterbliche Anführer der Traumweber?«
»Der bin ich«, antwortete er. Ein leichter Schauder überlief ihn, denn es war ungewohnt, nach all den Jahren, in denen er sich versteckt hatte, zu seiner Identität zu stehen. »Obwohl ich nur ihr Begründer und Lehrer bin, nicht ihr Anführer«, fügte er hinzu.
Genza nickte Minga zu, die sich daraufhin entfernte. »Bitte, setz dich zu mir«, sagte sie und deutete auf das Sofa.
Er nahm neben ihr Platz, wobei er sich bewusst war, dass das wahrscheinlich eine große Ehre war. Genza machte ihn mit den anderen Männern und Frauen bekannt. Die meisten waren Patriarchen und Matriarchinnen der wohlhabenderen Familien Kaves - einige von ihnen hatte Mirar bereits bei seiner Arbeit als Heiler kennengelernt. Außerdem gehörten zu der Gruppe die einheimischen Ergebenen Götterdiener, Kriegsführer sowie Botschafter aus Avven und Mur.
»Und hier sind unsere Kandidaten.«
Alle wandten sich dem vorderen Teil des Pavillons zu. Vier Männer und eine Frau in farbenprächtiger Kleidung standen vor ihnen. Alle zeichneten vor Genza einen Stern in die Luft. Die Stimme erhob sich und begrüßte jeden Einzelnen und wünschte ihm Glück.
Der erste Kandidat war ein Mann von Ende dreißig, in dessen Haar sich die ersten grauen Strähnen zeigten. Er machte einen starken, gesunden Eindruck, und sein Blick war intelligent und scharf.
Als Nächstes kam ein jüngerer Mann mit breiten Schultern und dem muskulösen Körper gut trainierter Jugend. Sein Blick wanderte immer wieder zu jemandem hinter Mirar hinüber, und er schien Mühe zu haben, nicht zu grinsen.
Neben ihm stand ein weiterer junger Mann. Dieser war dünn und ernst. Er verfügte nicht über die körperliche Stärke der beiden ersten Kandidaten, aber sein Gesicht war von Linien gezeichnet, die nicht zu seinem Alter passten und darauf hindeuteten, dass er viel Zeit damit verbracht hatte, nachzudenken - oder sich zu sorgen.
Die vierte Kandidatin war eine Frau von etwa Mitte dreißig. Sie hielt sich sehr aufrecht, und ihre Miene spiegelte unterdrückten Trotz wider. Der letzte Kandidat war ein Mann, den Mirar auf über fünfzig schätzte, mit drahtigem Körper und gütigem Gesicht. Seine Kleidung war ebenso bunt wie die der anderen, doch bei näherem Hinsehen konnte man feststellen, dass das Tuch von minderer Qualität war.
Auf ein Wort von Genza wandten die fünf Bewerber sich der Menge zu. Dann trat sie an ihnen vorbei in den Regen hinaus. Langsam breitete sich Stille über der Stadt aus.
»Heute werden sich diese Männer und Frauen körperlichen und magischen Prüfungen unterziehen«, sagte sie mit unnatürlich lauter Stimme. »Sie werden ihr Wissen, ihre Intelligenz und ihre Moral unter Beweis stellen müssen, und dann wird ihre Beliebtheit abgeschätzt. Sie müssen all diese Prüfungen bestehen, doch nur derjenige mit der höchsten Punktzahl wird gewinnen. Wünscht ihnen Glück!«
Die Menge brach in Beifallsrufe aus. Genza hob die Arme, und wieder kehrte Stille ein.
»Die erste Prüfung soll Aufschluss geben über die körperliche Stärke, die Ausdauer und die Beweglichkeit der Bewerber. Es ist ein Pfad angelegt worden, dem sie folgen müssen.« Genza hielt inne. »Mischt euch nicht in das Tun der Kandidaten ein«, warnte sie die Zuschauer. »Betrug oder Sabotage wird mit dem Tod bestraft.«
Sie ließ die Arme sinken und wandte sich wieder den Kandidaten zu.
»Seid ihr bereit?«
Die fünf Bewerber nickten.
Ein Lichtfunke erschien über Genzas Kopf.
»Die Häuptlingsprüfungen beginnen jetzt!«, rief sie.
Die Bewerber eilten davon, die Pyramide hinab, und wieder brach Jubel aus. Genza kehrte zu ihrem Platz zurück. Einen Moment später bemerkte Mirar einen der Bewerber, der unter den Häusern entlanglief. Bunte Pfosten waren in den Boden gerammt worden; zwischen ihnen waren Bänder gespannt, und schwarz gekleidete Götterdiener standen entlang der Strecke.
Genza wandte sich wieder Mirar zu. »Also, Mirar von den Traumwebern, wie lange bist du schon in Dekkar?«
»Seit einigen Monaten.«
»Dann hast du dich zunächst also nicht zu erkennen gegeben?«
»Ich wusste nicht, ob ich hier sicher sein würde.« Er hielt inne, dann sah er die Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Bin ich hier sicher?«
Sie lächelte. »Das hängt von deinen Plänen ab. Wenn du beschließen solltest, selbst über Dekkar zu herrschen, würden wir dafür sorgen, dass es die kürzeste Herrschaft eines Häuptlings in der ganzen Geschichte wird. Und es hat einige sehr kurze Regentschaften gegeben.«
»Ich habe nicht den Ehrgeiz, irgendein Land zu beherrschen. Das ist eine Aufgabe, für die Menschen wie du weit besser geeignet sind.«
»Und was für ein Mensch bin ich?«
Er sah sie an, überrascht von ihrer Frage. »Du erfreust dich der Gunst der Götter. Du bist klug. Schön. Die Menschen mögen diese Eigenschaften bei ihren Anführern.«
Genza lehnte sich zurück und musterte ihn mit halb geschlossenen Augen. »Du bist charmant - und du siehst selbst nicht gerade schlecht aus. Ich muss zugeben, dass ich einen alten Mann erwartet hatte.«
Er lächelte. »Ich bin ein alter Mann.«
Sie lachte. Dann beugte sie sich vor und berührte ihn sacht am Knie. »Ich werde dir ein Geheimnis verraten. Ich bin auch nicht so jung, wie ich aussehe.«
Wieder konnte Mirar nur staunen. Genzas Augen waren dunkel, ihr Lächeln schelmisch.
Ich würde denken, dass sie mit mir flirtet, wenn sie keine Stimme wäre…
Andererseits hatte er nichts gehört, was darauf schließen ließ, dass die Stimmen Keuschheit geloben mussten. Er wusste, dass ihre Götterdiener keinem Keuschheitsgelübde unterlagen, obwohl er immer den Verdacht gehabt hatte, dass die Gerüchte über rituelle Orgien Übertreibungen waren.
Wollte sie lediglich freundlich sein, oder bot sie ihm mehr als Freundlichkeit an? Wenn dies tatsächlich die Erklärung für ihr Verhalten war, was würde er dann tun? Sie war attraktiv, und etwas sagte ihm, dass sie sehr erfahren war … aber etwas anderes ließ ihn zögern.
Vielleicht war es natürliche Vorsicht. Er hatte keine Ahnung, welche Konsequenzen es haben könnte, eine Affäre mit einer Frau von solcher Macht anzufangen. Dann fiel ihm wieder ein, dass die Pentadrianer hinter den Morden an Traumwebern in Jarime steckten, die jetzt einige Monate zurücklagen. Genza könnte durchaus etwas damit zu tun haben, und der Gedanke war mehr als genug, um sein Interesse zunichtezumachen.
Sie schien es zu spüren und lehnte sich wieder auf ihrem Platz zurück. »Also, wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus, Traumweber Mirar?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Mein Volk ist überall in Südithania ansässig. Ich würde gern den Kontinent bereisen, die Sprachen und Sitten der Menschen kennenlernen und die Heilkunst unterrichten, wie ich es früher getan habe.«
Sie nickte. »Dann musst du nach Glymma kommen. Komm ins Sanktuarium und mach dich mit den anderen Stimmen bekannt.« Ihr Lächeln wurde breiter, und sie senkte den Kopf und blickte zu ihm auf. »Selbst wenn die anderen kein großes Aufhebens um dich machen, ich werde es tun. Ich erkenne die Möglichkeiten eines einträglichen Bündnisses zwischen uns.«
Er lachte leise und musterte sie nachdenklich. »Ah, deine Götter haben eine gute Wahl getroffen. Warum bin ich mir nicht sicher, ob du versuchst, mich in politischer oder in körperlicher Hinsicht zu verführen?«
Ihre Augen blitzten, und sie grinste breit. »Erfolg ist das Erreichen einer Position, in der man seine Talente zum besten Nutzen einsetzen kann.«
Er nickte. »Das ist wahr. Ich fürchte, ich war bisweilen ein schlechtes Vorbild für die Traumweber. Ich versuche, Dinge zu vermeiden, für die ich kein Talent habe. Meine Talente sind die eines Heilers und Lehrers, daher kann ich nur sehr begrenzt für die Traumweber sprechen.«
»Und doch könnten deine Taten einen Einfluss auf die Zukunft der Traumweber haben. Du könntest die Traumweber zum Beispiel immer noch davon abbringen, ihre Freundschaft mit den Pentadrianern fortzusetzen.«
»Das könnte ich, aber selbstverständlich würde ich es nicht tun.«
»Selbstverständlich.«
»Und ich könnte um ihretwillen nach einer Bestätigung suchen, dass die Pentadrianer uns keinen weiteren Schaden zufügen werden.«
Ihre Augen wurden schmal; vermutlich hatte sie seine Anspielung auf die Morde an Traumwebern in Jarime durchaus verstanden.
»Dann sei versichert, dass wir den Traumwebern nicht mit Feindseligkeit begegnen«, erwiderte sie.
Keine Feindseligkeit, überlegte er. Aber du würdest keinen Moment zögern, abermals einzelne Personen zu benutzen, um deine Ziele zu verfolgen.
»Was weißt du über die Kandidaten?«, wechselte sie plötzlich das Thema.
Er zuckte die Achseln. »Sehr wenig. Ich kenne nur die Gerüchte, die ich von anderen Traumwebern gehört habe. Im Grunde verstehe ich nicht ganz, wozu die Prüfungen dienen. Warum diese Erprobung körperlicher Stärke? Ist das notwendig? Körperliche Stärke bedeutet nicht, dass jemand auch die Stärke hat zu regieren.«
Genza hob die Schultern. »Die Prüfungen sind eine Tradition. Außerdem erhöhen sie die Chancen, dass ein Herrscher sich eine Weile halten wird. Die körperliche Prüfung ist nicht übermäßig anspruchsvoll, aber sie scheidet die Schwachen und jene aus, die zu Trägheit und Unmäßigkeit neigen.«
»Sie könnten Trägheit und Unmäßigkeit gerade lange genug beiseitedrängen, um zu siegen.«
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Und es besteht immer die Gefahr, dass ein Kandidat aufgrund seiner Jugend eine Stärke an den Tag legt, die später durch Maßlosigkeit zerstört wird. Ah, da wir gerade von Maßlosigkeit sprechen…«
Einige Diener kamen mit Tabletts voller Speisen und großen Krügen in den Pavillon. Während der nächsten Stunde ermutigte Genza all ihre Gefährten, zu essen und zu trinken. Aufgrund der wiederholten Dankesbekundungen der anderen vermutete Mirar, dass Genza für das Festmahl bezahlt hatte.
Ab und zu konnte man einen der Kandidaten sehen, und das Gespräch wandte sich Spekulationen über den Ausgang der Prüfungen zu, Wetten wurden erhöht. Die beiden jungen Männer, die als Erste in den Pavillon zurückkehrten, bekamen die Aufgabe, schwere Steinkugeln von zunehmender Größe zu stemmen. Die Frau kam als Nächste an, hatte aber Mühe mit den Steinen. Kurz darauf folgte der Mann mit den intelligenten Augen und bewältigte seine neue Aufgabe sehr gut, während der ältere Mann als Letzter zurückkehrte, aber alle Anwesenden mit seiner Stärke überraschte.
Jetzt wurde ein etwa raumgroßer Holzrahmen von mehreren muskulösen Männern zum Pavillon gerollt. Er war mit einem feinen Netz überzogen. Vor Genza stellte man einen einfachen, aber formschönen Zeitmesser aus Glasröhren auf. Dann hörte Mirar ein tiefes Summen, das die ringsum geführten Gespräche übertönte. Es wurde noch lauter, als fünf große Körbe gebracht und vor dem Rahmen auf die Erde gestellt wurden.
In der Stadt herrschte summendes Stimmengewirr, und Mirar spürte die wachsende Erregung und Neugier der Menschen. Bei den Kandidaten nahm er Nervosität und ein wenig Furcht wahr. Der muskulöse junge Mann schien sich am meisten zu ängstigen.
Genza untersuchte den Rahmen, indem sie langsam darum herumging. Als sie ihren Ausgangspunkt wieder erreicht hatte, wandte sie sich den Kandidaten zu.
»Dies ist eine Prüfung eurer magischen Fähigkeiten. Wie ihr alle erraten habt, enthält jeder dieser Körbe Zapper. Es sind jeweils hundert Insekten in den Körben, und ich kann euch versichern, dass es nicht einfach war, sie dort unterzubringen. Ihr werdet den Käfig betreten, woraufhin das Netz zugezogen wird. Dann wird man die Zapper freilassen. Ihr müsst euch so schnell wie möglich mit Magie schützen und den gesamten Schwarm töten.« Sie lächelte. »Falls einer von euch an seiner Fähigkeit zweifeln sollte, diese Aufgabe zu erfüllen, möge er jetzt beiseitetreten. Wir haben einen Traumweber hier, aber er würde es gewiss vorziehen, wenn er nicht den ganzen Nachmittag darauf verwenden müsste, Zapper-Larven aus euren Körpern zu entfernen.«
Keiner der Kandidaten bewegte sich, obwohl der muskulöse junge Mann sichtbar schauderte.
»Gut. Wer möchte den Anfang machen?«
Die Kandidaten tauschten einen Blick, dann trat der scharfäugige Mann vor. Die Menge jubelte. Genza wies ihn an, einen Korb zu nehmen und ihn in den Käfig zu tragen. Er stellte ihn in einer Ecke ab, dann zog er sich auf die entgegengesetzte Seite des Käfigs zurück. Die Netze wurden sorgfältig wieder festgezogen.
Genza wartete, bis alles still war, dann machte sie eine winzige Geste mit einer Hand. Der Deckel flog von dem Korb, und eine schwarze Wolke strömte heraus.
Der Mann griff sofort mit Magie an und lenkte die Aufmerksamkeit der Zapper auf sich. Man konnte die Insekten kaum sehen, so schnell bewegten sie sich. Mirar konnte nur flüchtige Blicke auf segmentierte Schwänze und Fühler werfen. Das Surren ihrer Flügel war ohrenbetäubend, aber die lähmenden Blitze ihrer Magie waren lautlos.
Mirar hatte von diesen Dschungelinsekten gehört. Der magische Stich eines einzigen Insekts war schmerzhaft, wenn auch nicht tödlich, aber wenn sich ein Tier mehrere Stiche gleichzeitig zuzog, konnte es gelähmt werden. Meistens griffen die Insekten nur an, um ihre Nester zu schützen. Aber zu bestimmten Zeiten, ausgelöst durch den Vollmond, stachen die Insekten auch, um Eier in lebendem Fleisch abzulegen. Wenn man eine Lampe über einen Korb mit Zappern hängte, löste man den gleichen Instinkt aus.
Was für diese Prüfung kaum notwendig gewesen wäre. Die Zapper würden auch ohne den Trieb, Eier zu legen, mit großer Wildheit angreifen, und die Kandidaten mussten nicht ihre Fähigkeit, gegen die Insekten zu kämpfen, unter Beweis stellen, sondern zeigen, wie lange sie brauchten, um alle Tiere zu töten.
Das Summen war inzwischen leiser geworden. Als der Kandidat im Käfig das letzte Insekt tötete, warf Genza einen Blick auf die Wasseruhr.
»Fünfeinhalb Maßeinheiten. Gut gemacht.«
Gegen seinen Willen wurde Mirar von der allgemeinen Spannung erfasst, während die anderen Bewerber ihr Können im Käfig unter Beweis stellten. Der Mann mit den scharfen Gesichtszügen hatte die besten Ergebnisse erzielt, auch wenn der ältere Mann fast genauso schnell war. Der ernste junge Mann brauchte viel Zeit, um die Zapper auszuschalten, was Mirar sagte, dass seine Gaben wahrscheinlich nicht groß genug waren, um Magie für mehrere Angriffe gleichzeitig in sich hineinzuziehen.
Die toten Zapper klapperten auf dem Boden des Käfigs, als dieser davongerollt wurde. Jetzt durften die Kandidaten auf Hockern Platz nehmen und bekamen Wasser und Früchte, um sich zu stärken. Genza lud einen Patriarchen in den Pavillon ein, der den Bewerbern Fragen stellen sollte. Er beschrieb komplizierte Handelsszenarien, deren Beantwortung Kenntnisse der Mathematik und des Handelswesens voraussetzte, und es wurde schnell offenbar, dass der ältere Mann in beiden Bereichen Schwierigkeiten hatte.
Während Genza einen Patriarchen nach dem anderen zur Befragung der Kandidaten in den Pavillon bat, fragte Mirar sich langsam, ob alle anwesenden Anführer irgendwann an die Reihe kommen würden. Die Kriegsführer und die Ergebenen Götterdiener ergriffen die Gelegenheit mit spürbarer Begeisterung und stellten Fragen, die sich um Strategie und Religion drehten. Die anderen Patriarchen und Matriarchinnen prüften die Kandidaten auf den Gebieten des Gesetzes und der Moral.
Als alle ihre Fragen gestellt hatten, wandte sich Genza zu Mirar um. »Ich habe dich nicht gebeten, eine Frage vorzubereiten, Traumweber Mirar, aber du darfst eine stellen, wenn du es wünschst.«
Er nickte. »Vielen Dank. Es wäre mir eine Ehre.« Er wandte sich den Kandidaten zu. »Dies ist eine Frage an euch alle. Zu ihrer Beantwortung bedarf es weder komplizierter Berechnungen noch genauer Kenntnis der Gesetze. Mich interessiert nur eins: Was werdet ihr während eurer Regentschaft für die Menschen unten tun?«
Die Frau lächelte, und der ältere Mann errötete vor Freude und straffte sich voller Stolz, aber die drei anderen Kandidaten runzelten die Stirn. Bei dem dünnen, ernsthaften jungen Mann war dies jedoch eine Geste der Nachdenklichkeit. Die beiden anderen blickten finster drein.
»Ich würde sie fragen, was sie brauchen und wollen, und ihnen geben, was wir uns leis…«, begann die Frau.
»Ich würde Plattformen bauen«, sagte der ältere Mann. »Die Stadt kann sie sich leisten. Sobald wir vom Boden weg sind, werden wir die gleichen Chancen haben wie alle anderen auch, und die Stadt wird insgesamt gesünder sein.«
Mirar wandte sich dem scharfäugigen Mann zu. Der Mann sah Genza an, dann zuckte er die Achseln.
»Ich würde nichts tun. Es wird immer Menschen unten geben. Wir können ihnen nicht helfen, wenn sie sich nicht selbst helfen.«
Der ältere Mann funkelte ihn wütend an. Er öffnete den Mund, aber als Genza sich räusperte, zog er sich zurück und sank verdrossen in sich zusammen.
Mirar sah die beiden jungen Männer an. Der muskulösere zuckte die Achseln. »Ich würde nur jenen Hilfe anbieten, die bereit wären, dafür zu arbeiten.«
»Ja«, pflichtete ihm der ernste Mann bei. »Obwohl wir von den wahrhaft Gebrechlichen oder den sehr jungen nicht erwarten können, dass sie arbeiten. Eine gewisse Hilfe könnten wir ihnen ohne Gegenleistung anbieten. Wir müssen allerdings akzeptieren, dass es immer Ausgestoßene geben wird und jene, die sich nicht selbst helfen können, aber zum Wohle der Stadt und um des Anstands willen sollten wir nach Wegen suchen, um die Lebensbedingungen dieser Menschen zu verbessern.«
»Eine interessante Frage zum Abschluss«, sagte Genza. Dann stand sie auf, und kurz darauf hallte ihre Stimme durch die Stadt. »Nun beginnt die Prüfung des Rufs.«
Die Kandidaten standen auf und traten zur Seite. Die Hocker wurden fortgeschafft. Mirar wurde mit einem Mal bewusst, dass es aufgehört hatte zu regnen und dass das schwache Sonnenlicht ein wenig heller geworden war.
Genza ergriff abermals das Wort. »Jetzt wird der Ruf eines jeden Kandidaten einer genauen Prüfung unterzogen«, rief sie. »Jeder darf für oder gegen sie sprechen. Wir werden zuhören und eure Worte abwägen.«
Während der nächsten Stunden zogen die Menschen durch den Pavillon und berichteten von ihren Begegnungen mit einem Kandidaten oder mehreren. Einige kamen nur, um einen Blick auf Genza zu werfen oder von geringfügigen Vergehen wie der Herausgabe von zu wenig Wechselgeld zu sprechen.
Mirar erkannte, dass der ältere Mann als Anführer bei den Menschen unten großes Ansehen genoss, während die Frau sich der Gunst der Menschen oben erfreute. Kaum jemand hatte ein schlechtes Wort für sie.
Die jüngeren Männer hatten weniger Anhänger und mehr Kritiker. Der muskulöse junge Mann neigte zu törichtem Verhalten und Trunksucht. Die vernichtendste Kritik, die an dem scharfäugigen Mann geübt wurde, kam von einem humpelnden, zerschundenen Händler, der behauptete, ein gedungener Mörder habe ihn zu töten versucht, damit er die gesetzeswidrigen Geschäfte des Kandidaten nicht würde enthüllen können.
Eine Glocke erklang, das Zeichen, dass die Prüfung beendet war. Einige der Leute, die noch nicht zu Wort gekommen waren, waren verärgert, aber sie alle wurden weggeschickt. Wieder richtete Genza das Wort an die Menge.
»Jetzt beginnt die Prüfung der Beliebtheit. Legt eure Bänder in die bereitgestellten Körbe. Heute Abend werden die Körbe gewogen, die Punkte eines jeden Kandidaten vermerkt und der Name des neuen Hohen Häuptlings verkündet werden.«
Mirar beobachtete, wie die Bewohner Kaves über die Brücke gingen. Sie wählten Bänder aus einem großen Korb und legten sie dann in einen der fünf kleineren Körbe, die mit den Farben der jeweiligen Kandidaten geschmückt waren. Neben jedem Korb wachte ein Götterdiener.
Genza kehrte zu ihrem Platz zurück und sah Mirar entschuldigend an. »Ich fürchte, dies ist der uninteressanteste Teil der Riten, aber zumindest können wir einander Gesellschaft leisten.«
»Die Prüfungen waren unterhaltsamer, als ich erwartet hatte«, erwiderte er. »Ich bin dir sehr dankbar für deine Einladung.«
Sie lachte leise. »Das ist schön. Also. Einer dieser fünf Kandidaten wird am Ende des Tages zum Hohen Häuptling von Dekkar ausgerufen werden«, erklärte sie. »Was glaubst du, wer siegen wird?«
»Derjenige, den ihr, du und die Menschen von Dekkar, am geeignetsten findet«, antwortete er.
»Wie diplomatisch. Möchtest du eine Vermutung abgeben, welcher das sein wird?«
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genug über sie.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Im Grunde interessiert dich der Ausgang der Prüfungen gar nicht, nicht wahr?«
»Nein.«
»Ich hätte gedacht, dass es dir nicht ganz gleichgültig wäre, wer der nächste Hohe Häuptling ist. Er oder sie wird derjenige sein, mit dem du zu tun haben wirst.«
»Ich bezweifle, dass ich dazu einen Grund haben werde. Ich ziehe es vor, mich nicht mit Politik zu befassen.«
Sie lächelte. »Aber was ist, wenn die Politik beschließt, sich mit dir zu befassen?«
»Dann werde ich danach trachten, sie davon abzubringen.«
»Und was ist mit mir? Wirst du auch versuchen, mich davon abzubringen?«
Mirars Haut kribbelte angesichts der verborgenen Warnung in ihren Worten. Er zwang sich zu lächeln. »Ich werde es tun, wenn es sein muss, obwohl ich zugebe, dass es mir wenig Freude machen würde.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Dann tu es nicht. Ich werde in einigen Tagen nach Glymma zurückkehren, und ich möchte, dass du mich begleitest. Du solltest die anderen Stimmen kennenlernen.«
Ein kalter Schauer lief Mirar über den Rücken. Dies war keine Einladung, auch wenn es kein direkter Befehl war. Er musterte sie ernst. »Sei versichert, dass die Einladung eine Ehre für mich ist. Ich habe tatsächlich die Absicht, Glymma zu besuchen, und ich würde mich freuen, die anderen Stimmen kennenzulernen. Allerdings würde ich es vorziehen, zuerst mehr von Südithania zu sehen. Muss mein Besuch so bald stattfinden?«
Sie nickte. »Deine Reisen können warten. Im Moment kann es für dich nichts Wichtigeres geben, als eine freundschaftliche Beziehung zu uns aufzubauen.« Ihre Miene wurde weicher, und sie neigte den Kopf zur Seite. »Außerdem denke ich, dass du mir auf meinem Heimweg ein unterhaltsamer Gesellschafter sein wirst.«
Mirar unterdrückte ein Seufzen. Er würde ihre Einladung nicht ablehnen können.
»Wann brichst du auf?«
»In zwei Tagen.«
Neuerlicher Applaus lieferte ihm einen Vorwand, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Kandidaten zu richten. Der muskulöse junge Mann vollführte gerade einige akrobatische Kunststücke, um die Wähler zu unterhalten. Genza schnaubte leise.
»Den Göttern sei Dank, dass der Häuptling nicht allein aufgrund seiner Beliebtheit gewählt wird«, murmelte sie.
»Haben die Prüfungen überhaupt eine Auswirkung auf die Entscheidung?«
Sie warf ihm einen gekränkten Blick zu, der offenkundig gespielt war. »Natürlich haben sie das. Wenn wir die Menschen nicht glauben machen würden, dass sie einen Anteil daran haben, würden sie unsere Entscheidung vielleicht nicht akzeptieren.«
Er nickte. »Ich hatte etwas Derartiges vermutet.«
»Und du missbilligst es?«
»Keineswegs. Ich weiß, dass du eine kluge Wahl treffen wirst.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Du und die anderen Stimmen, ihr mögt bereit sein, jedwedes Problem in Kave zu regeln, aber ich bin davon überzeugt, dass du die lange Reise hierher lieber nicht allzu oft unternehmen möchtest, erst recht nicht im Sommer.«
Sie kicherte. »Kave zeigt sich zu dieser Jahreszeit gewiss nicht von seiner schönsten Seite. Aber es gibt kaum eine bessere Zeit, um Glymma zu besuchen. Wirst du mich begleiten?«
Er unterdrückte ein Seufzen und dachte nach. Ich habe keinen zwingenden Grund, ihre Einladung abzulehnen und damit zu riskieren, sie und die anderen Stimmen vor den Kopf zu stoßen. Da ich diese Stimmen höchstwahrscheinlich irgendwann kennenlernen werde, kann ich geradeso gut ihrer Einladung folgen. Er nickte.
»Wunderbar!«, rief sie aus. »Ich werde veranlassen, dass man auf meiner Barkasse eine Kajüte für dich bereitmacht.«
Die Menge brach abermals in Jubel aus. Während Mirar auf die Stadt hinausblickte, dachte er an die Schlacht zwischen den Zirklern und den Pentadrianern zurück. An jenem Tag hatte er eine in schwarze Roben gewandete Frau beobachtet, eine der pentadrianischen Anführerinnen, die mithilfe von Magie Sterbliche niedergemetzelt hatte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass Genza die Stimme war, die die schwarzen Vögel gezüchtet hatte - jene Vögel, die die Siyee mit solcher Wildheit angegriffen hatten. Sie hatten ihnen die Flügel zerfetzt und die Augen ausgehackt, bis die Himmelsmenschen in den Tod gestürzt waren.
Und? Auraya hat wahrscheinlich ebenso viele Pentadrianer getötet, rief er sich ins Gedächtnis.
Aber irgendwie fiel es ihm leichter, sich vorzustellen, dass Auraya deswegen ihr Gewissen zu schaffen machte, als dass Genza von Skrupeln geplagt wurde.
Auraya hatte seit dem vergangenen Tag viel über Nekaun, die Erste Stimme der Götter, in Erfahrung gebracht. Nachdem sie den beiden Siyee einige von ihr gestohlene Lebensmittel gebracht hatte, hatte sie Unfug zu einem neuen Ausguck getragen. Von dort aus hatte sie sowohl mit dem Geist als auch mit den Augen das Treiben unter ihr beobachtet. Obwohl sie den Geist der Ersten Stimme nicht spüren konnte, konnte sie diese Stimme doch durch andere beobachten.
Er war von seinem Volk gewählt worden, nicht von seinen Göttern. Vor seiner Wahl hatte er einen Tempel geleitet, der Hrun, einer der pentadrianischen Göttinnen, geweiht war. Hrun war eine gütige Göttin, die Göttin der Liebe und der Familie, und Nekauns Aufgabe war es gewesen, die Rituale des Tempels vorzubereiten und zu leiten.
Die Zweite Stimme der Götter, Imenja, mochte Nekaun angeblich nicht und war oft uneins mit ihm. Dieser Umstand wurde der Tatsache zugeschrieben, dass Imenjas Ratgeberin, Gefährtin Reivan, Nekauns derzeitige Geliebte war. Man erwartete allenthalben, dass diese Situation sich bessern würde, sobald der für seine Launenhaftigkeit berüchtigte Nekaun sich eine neue Geliebte nahm.
Es ist gut zu sehen, dass unsere Feinde sich genauso sehr an Skandalen und Gerüchten ergötzen, wie wir es tun, dachte sie.
Imenja und zwei der anderen Stimmen hielten sich derzeit in Glymma auf. Ironischerweise war Genza, die Frau, deren Vögel die Siyee anzugreifen versucht hatten, am weitesten von der Stadt entfernt, um im Süden des Kontinents einer Zeremonie beizuwohnen.
Außerdem hatte Auraya viel über die pentadrianische Religion erfahren. Aus Berichten, die die Spione der Weißen zusammengetragen hatten, kannte sie die Namen der Stimmen und ihrer Götter, ebenso wie die einiger Ergebener Götterdiener, aber die zirklischen Spione hatten nicht allzu viele Einzelheiten beisteuern können, was den Glauben und die Hierarchie der Pentadrianer betraf. Alle Götterdiener geboten über Magie - mit einer interessanten Ausnahme: Diese Gefährtin, Reivan, die ihre Position zum Dank für eine gute Leistung während des Krieges erhalten hatte, besaß keine magischen Gaben.
Reivan war Mitglied einer Gruppe von Gelehrten gewesen, die als die Denker bekannt waren. In Jarime gab es gesellschaftliche Kreise von Akademikern und Fanatikern, aber nichts, was sich mit dieser organisierten Kaste von gelehrten Männern und Frauen vergleichen ließ.
Nicht lange nach Sonnenaufgang hatte die Stadt sich zu regen begonnen. Mit Unfug auf dem Schoß hatte Auraya zugesehen, wie die Städter ihr Tagewerk versahen. Einige der Pentadrianer waren jedoch mit einer weniger alltäglichen Arbeit beschäftigt: Sie kümmerten sich um den Transport der Siyee-Gefangenen nach Glymma.
Auraya konnte sehen, dass in einem Teil der Stadt offene Plattans angemietet wurden, während in einem anderen Teil Wasser und Brot an die Siyee ausgegeben wurde. Sie beobachtete Nekaun durch die Augen seiner Götterdiener. Die ganze Zeit über hielt sie Ausschau nach Mängeln in ihren Plänen, die den Siyee eine Gelegenheit zur Flucht verschaffen könnten.
Bisher waren die Siyee in einem Gebäude in Nekauns Nähe eingekerkert gewesen. Sobald sie draußen waren, wäre Nekaun der Einzige, der Auraya daran hindern konnte, sie zu befreien. Jeder Befreiungsversuch musste geschehen, bevor sie Glymma erreichten. Sobald sie in der Stadt waren, dessen war Auraya gewiss, würde eine Flucht viel schwerer zu bewerkstelligen sein.
Eine Reihe von Plattans stand nun vor dem Gebäude bereit. Die Erste Stimme erschien und ging um die Wagen herum, als unterzöge er sie einer genauen Musterung. Als sie die wachsende Angst der Siyee spürte, verkrampfte sie sich unwillkürlich. Sie wurden soeben aus dem Raum geführt, in dem sie eingekerkert gewesen waren. Mehrere Pentadrianer geleiteten sie ins Freie. Auraya beobachtete, wie die Siyee einer nach dem anderen nach draußen gebracht, in einen Plattan gehoben und an eiserne Ringe gekettet wurden, die an den Seiten des Wagens befestigt waren.
Wenn Nekaun doch nur nicht hier wäre, dachte sie.
Aber selbst wenn er nicht zugegen gewesen wäre, wie hätte sie die Siyee befreien können, ohne die Angriffe der Götterdiener abwehren zu müssen? Sie knirschte mit den Zähnen. Chaias Stimme hallte in ihren Gedanken wider.
Wenn dein Hinterhalt Auraya dazu treibt, sich von uns abzuwenden, wirst du es bereuen.
Sie war fest entschlossen, Huan zu enttäuschen.
Aber was ist, wenn die Siyee sterben, weil ich nicht eingreife? Auraya hatte die Zähne so fest zusammengebissen, dass ihr Kiefer schmerzte. Sie rieb sich das Kinn und seufzte. Das werde ich erst herausfinden können, wenn - falls - es so weit kommt. Aber wenn sie sterben, werde ich dafür sorgen, dass Huan dafür bezahlt. Irgendwie.
Sie verzog das Gesicht, bestürzt über ihre eigenen Gedanken. Wie war es so weit gekommen, dass sie den Wunsch hatte, sich an einer Göttin zu rächen, die sie einmal geliebt hatte?
Mirar würde das sehr komisch finden.
Die Plattans waren jetzt voll besetzt mit Siyee und Pentadrianern. In dem letzten Wagen saßen nur Nekaun und ein Fahrer. Die kleine Karawane setzte sich in Bewegung.
Als der Wagentross sich durch die Stadt schlängelte, blieben am Straßenrand immer wieder Menschen stehen, die das Geschehen verfolgten. Die Siyee waren ein eigenartiger Anblick für sie. Und ein erschreckender. Die Siyee hatten während des Krieges viele Pentadrianer getötet.
Als die Plattans am Stadtrand ankamen und auf die Straße nach Glymma einbogen, erhob sich Auraya. Unfug jammerte verschlafen, als sie ihn in ihr Bündel setzte.
»Bündel schlecht«, murmelte er.
»Es tut mir leid, Unfug«, erwiderte sie.
Dann stieß sie sich von der Felsspitze ab, auf der sie die ganze Nacht gesessen hatte, und flog hinter den Siyee und ihren Wächtern her.
Vor der Flamme des Sanktuariums stand mit gesenktem Kopf eine vertraute Gestalt. Reivan ging langsam auf die Frau zu und blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen, da sie Imenja in ihren Gedanken nicht stören wollte. Sie hörte die Zweite Stimme ein Gebet murmeln, dann sah sie, wie sie sich aufrichtete.
»Ah, Reivan.« Imenja wandte sich ihr mit einem Lächeln zu. »Welche Probleme müssen wir heute lösen?«
Reivan trat neben Imenja. Die Flamme zuckte und wand sich wie zarter Stoff im Wind. Ihre unablässige Bewegung war hypnotisch, und es hieß, die Götter könnten einen Menschen um den Verstand bringen, falls er es wagte, die Flamme zu lange anzusehen. Sie zwang sich, den Blick davon zu lösen.
»Karneya hat sich abermals mit der Bitte an uns gewandt, seinen Sohn aus der Sklaverei zu entlassen. Ich sollte dir Bericht erstatten, wann immer er das tut.«
Imenja verzog das Gesicht. »Er tut mir leid. Es ist schwer zu akzeptieren, dass das eigene Kind ein schreckliches Verbrechen begangen hat.«
»In jedem anderen Land wäre sein Sohn hingerichtet worden.«
»Ja«, pflichtete die Zweite Stimme ihr bei. »Und wir können ihm seine Bitte nicht erfüllen, aber ich werde ihm schreiben. Was noch?«
»Tiemel Ruderer möchte ein Götterdiener werden, aber er glaubt, dass sein Vater seinen Entschluss missbilligen wird.«
»Er hat recht. Dies wird eine schwierige Angelegenheit werden.«
»Sein Vater kann ihn nicht daran hindern.«
»Er wird es versuchen. Selbst wenn das bedeutet, dass er ihn entführen lassen und nach Jarime bringen muss.«
»Missbilligt er uns so sehr?«
Imenja lachte. »Nein, ganz im Gegenteil. Aber Tiemel ist sein einziger Sohn. Wer wird die Schiffe führen, wenn er zu alt ist?«
Reivan antwortete nicht. Es war besser, das Geschäft zu verkaufen, als den Sohn dazu zu zwingen, viele Jahre mit einer Beschäftigung zu verbringen, die er hasste und bei der seine magischen Befähigungen vergeudet wurden.
Imenja drehte sich langsam um und blickte in die Ferne. Sie runzelte die Stirn, dann entspannten ihre Züge sich.
»Diese Angelegenheiten werden warten müssen«, sagte sie. »Unser launenhafter Bekannter ist zurückgekehrt.«
Prickelnde Hoffnung stieg in Reivan auf. »Nekaun?«
Imenja nickte und lächelte wissend. »Ja.«
Als Reivan errötete, wurde das Lächeln der Zweiten Stimme noch breiter. »Dann komm. Lass uns gehen.«
Sie führte Reivan weg von der Flamme in das Innere des Sanktuariums. Zuerst waren die Götterdiener, die sie sahen, recht still und hielten nur kurz inne, um das Zeichen des Sterns zu machen, wenn sie Imenja begegneten. Dann rannte ein Bote an ihnen vorbei, und Imenja runzelte die Stirn angesichts seiner Eile. Als sie sich dem Eingang des Sanktuariums näherten, stießen sie auf kleine Gruppen von Götterdienern, die miteinander tuschelten.
»Was geht hier vor?«, fragte Reivan.
Imenja seufzte. »Sie haben Berichte gehört, nach denen er Gefangene mitbringt. Und es sind keine gewöhnlichen Menschen.«
Als sie den Ärger in Imenjas Stimme hörte, beschloss Reivan, ihre Fragen für sich zu behalten. Es war bereits offenkundig, dass ihre Herrin Nekauns Heimlichtuerei missbilligte. Wenn die Menschen erfuhren, dass die anderen Stimmen den Grund für sein Verschwinden nicht gekannt hatten, würden sie daraus vielleicht den Schluss ziehen, dass Nekaun ihnen nicht traute oder ihre Meinung nicht ernst nahm.
Sie erreichten die Halle und gingen auf die andere Seite hinüber. In einem der Bogengänge standen Shar und Vervel. Imenja trat auf sie zu.
»Da kommt er«, murmelte Shar.
Als Reivan dem Blick der anderen folgte, sah sie eine Menschenmenge aus einer der Seitenstraßen der Promenade kommen. Die Menge ergoss sich hinaus auf die Hauptdurchgangsstraße und teilte sich dort, um mehreren offenen Plattans Platz zu machen, die sich dem Sanktuarium näherten.
In den Plattans saßen Götterdiener und einige Kinder, wobei Letztere mit den Handgelenken an die Gitter der Wagen gekettet waren.
Reivan hörte ihre Gefährten erschrocken aufkeuchen und gab ihnen im Stillen recht. Warum hatte Nekaun all diese Kinder gefangen genommen? Was konnten sie getan haben, um diese Behandlung zu verdienen?
»Siyee«, sagte Vervel, und seine Stimme klang tief und dunkel von Hass.
Siyee? Reivan schaute genauer hin. Die Gesichter der Gefangenen waren nicht die von Kindern, sondern von Erwachsenen. Erinnerungen an den Krieg stiegen in ihr auf. Es war schwer gewesen, die Größe der Himmelsleute abzuschätzen, als sie in der Luft waren. Sie hatte jedoch tote Siyee auf dem Boden gesehen, hatte einen von ihnen sogar näher in Augenschein genommen, fasziniert und abgestoßen zugleich von ihren verzerrten Gliedmaßen und der Membran, die ihre Flügel bildete. Mehrere der anderen Denker hatten einige Siyee zu Studienzwecken mit nach Glymma nehmen wollen, aber die Stimmen hatten es verboten.
In dem letzten Plattan saß nur ein einziger Mann, und ihr Herz schwoll an, als sie den breit lächelnden Nekaun sah. Als der Plattan anhielt, sprang Nekaun heraus und lief ohne Anstrengung die Treppen hinauf. Er blickte nicht zu Reivan hinüber; seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich den anderen Stimmen.
»Wie ist es euch allen in den letzten Tagen ergangen?«, fragte er. »Ich hoffe, dass während meiner Abwesenheit alles reibungslos verlaufen ist.«
»Ziemlich reibungslos«, erwiderte Vervel gelassen. »Wie ich sehe, warst du sehr beschäftigt.«
»Ja.« Nekaun wandte sich zu den Plattans um. Die Diener hatten begonnen, die Gefangenen von den Ringen loszubinden. Die Siyee waren an den Knöcheln aneinandergekettet. »Die Götter haben mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Krieger aus Si nahten, um Klaff anzugreifen, und dass ich mich um sie und ihre Zauberin kümmern solle.«
»Zauberin?«, wiederholte Shar.
Nekaun sah zum Himmel auf und ließ seinen Blick umherwandern. »Die ehemalige Weiße.«
Imenja sog scharf den Atem ein und sah ebenfalls zum Himmel empor. »Auraya?«
Er lächelte. »Ja. Sie ist uns hierher gefolgt, daher habe ich keinen Zweifel daran, dass sie irgendwo in der Nähe ist.«
»Ist sie eine Gefahr?«, fragte Vervel.
»Das denke ich nicht. Die Siyee glauben, Aurayas Götter hätten ihr verboten, gegen uns zu kämpfen.« Nekaun lächelte, dann blickte er auf die Himmelsleute hinab. »Ich sollte unsere Gefangenen besser in ihre Zellen bringen.« Er trat einen Schritt zurück, und ein Stich der Enttäuschung durchzuckte Reivan. Er hatte sie nicht angesehen. Nicht einmal flüchtig.
»Es gibt keine Gefängniszellen im Sanktuarium«, bemerkte Imenja.
Nekaun drehte sich um und lächelte sie an. »Oh doch, die gibt es durchaus, sie sind nur seit sehr langer Zeit nicht mehr benutzt worden.«
Als er sich zum Gehen wandte, stieß Imenja einen leisen, erstickten Laut aus.
»Die Höhlen«, sagte sie mit offenkundigem Abscheu. »Wie weit ist es mit uns gekommen?«
»Sie sind unsere Feinde, und sie haben versucht, uns anzugreifen«, rief Shar ihr ins Gedächtnis.
»Die Siyee gehören in den Gefängnistrakt«, sagte sie. »Außerhalb des Sanktuariums.«
»Nekaun muss in ihrer Nähe sein, um zu verhindern, dass Auraya sie rettet«, erwiderte Shar achselzuckend. »Wir können nicht von ihm erwarten, dass er in den Gefängnistrakt übersiedelt.«
Imenja musterte ihn stirnrunzelnd, dann seufzte sie. Reivan zögerte, als ihre Herrin sich umwandte und davonging. Die Zweite Stimme blieb stehen und blickte sich nach ihr um. Sie lächelte mit offenkundiger Anstrengung.
»Komm, Gefährtin Reivan«, sagte sie leise. »Auf uns wartet Arbeit.«
Sreil hatte Schmerzen am ganzen Körper. Seine Arme taten weh, weil sie so lange in einer Position festgehalten worden waren, und seine Handgelenke waren rot und blasig von den Seilen, aber das war nicht alles. Die Wagen, mit denen sie in die Stadt gebracht worden waren, waren unablässig hin- und hergeschwankt, bis Sreil glaubte, dass sich all seine Knochen aus ihren Verankerungen gelöst haben mussten. Seine Muskeln brannten nach all den Stunden, in denen er versucht hatte, die Schaukelbewegungen auszugleichen, und dort, wo er immer wieder gegen das Gitter geworfen worden war, hatte er blaue Flecken.
Das war nur der Anfang. Es würde gewiss noch Schlimmeres kommen. Dessen war er von dem Moment an, als das Netz ihn zu Boden gedrückt hatte, sicher gewesen. Die Pentadrianer hatten sie nicht getötet, also mussten sie irgendeinen anderen schrecklichen Plan verfolgen.
In der vergangenen Nacht, gefesselt in einem großen, mit trockenem Gras ausgelegten Raum und in der Gesellschaft der Tiere, die die Wagen zogen, hatte er nur unruhig geschlafen. Albträume hatten ihn verhöhnt, geformt aus alten Geschichten aus den frühen Tagen der Siyee. Aus einer Zeit, da ihre Körper verbogen und verändert worden waren. Die Älteren flüsterten diese Geschichten in späten Abendstunden. Es sei klug, sich an die Opfer und den Preis für die Verwandlung zu erinnern, wisperten sie. An den Schmerz. Die furchtbaren Fehlschläge. Die Verkrüppelten.
Diese Geschichten suchten ihn jetzt wieder heim, ausgelöst vielleicht durch die Fesseln, die ihm die Arme verbogen. Eine Fackel auf einem Ständer war das einzige Licht in dem riesigen Raum, in dem sie sich jetzt befanden, und ihre Flamme ließ die breiten Säulen, an denen sie angekettet waren, wie die Bäume im Offenen Dorf aussehen. Auf einem erhöhten Podest auf einer Seite des Raums überragte sie ein gewaltiger, steinerner Stuhl, der so alt war, dass er schon verfiel. Vielleicht kam von Zeit zu Zeit einer der pentadrianischen Götter hierher. Bei dem Gedanken konnte er nicht umhin, sich vorzustellen, dass die Siyee hierhergebracht worden waren, um geopfert zu werden.
Wenn er seine Gedanken gewaltsam von solch dunklen Orten vertrieb, grübelte er über seine Mutter nach und über die Trauer, die sie empfinden würde, wenn sie von ihrem Scheitern hörte. Er hoffte, dass die beiden Siyee, die entkommen waren, es zurück nach Hause schaffen würden. Wenn sie es nicht taten, würde seine Mutter vielleicht weitere Siyee herschicken, um herauszufinden, was geschehen war. Es war offenkundig, dass er und seine Krieger verraten worden waren, daher war es wahrscheinlich, dass andere, die ihnen folgten, ebenfalls in einen Hinterhalt gelockt und gefangen werden würden.
»Sreil.«
Beim Klang der Stimme zuckte er zusammen und drehte sich um. Der Siyee, der an der anderen Seite der Säule angekettet war, spähte zu ihm hinüber.
»Tiseel?«
»Ich habe nachgedacht«, sagte der Krieger. »Darüber, wer uns verraten hat.«
Sreil bemerkte, dass die anderen Siyee Tiseels Worte ebenfalls gehört hatten und ihn nun beobachteten.
»Das habe ich auch getan«, erwiderte er.
»Du glaubst doch nicht… du glaubst nicht, dass Auraya es getan haben könnte?«
»Nein«, entgegnete Sreil energisch.
»Aber sie hat uns nicht geholfen.«
»Sie darf uns nicht helfen. Die Götter haben ihr verboten zu kämpfen, vergiss das nicht.«
Tiseel seufzte. »Warum haben sie das getan? Es ergibt keinen Sinn. Oder vielleicht behauptet sie nur, sie hätten es verboten.«
»Teel hat das Gleiche gesagt. Wenn sie uns verraten hätte, wäre sie mit den Pentadrianern gefahren, statt uns aus der Luft zu folgen«, erzählte Sreil. »Der pentadrianische Anführer hat sie die ganze Zeit über beobachtet, als fürchte er, sie könne ihn angreifen.«
Einige andere Siyee nickten zustimmend.
»Wer war es dann?«, fragte Tiseel. »Gewiss kein Siyee.«
Sreil schüttelte den Kopf. »Nein. Was hätte irgendjemand durch einen solchen Verrat zu gewinnen?«
»Es waren Landgeher«, zischte jemand. »Ein Spion, der von den Weißen von unseren Plänen gehört hat.«
»Das ist möglich«, stimmte Sreil ihm zu.
»Oder vielleicht die Elai«, sagte ein anderer.
Mehrere Köpfe wandten sich dem Sprecher zu. Er zuckte die Achseln. »Ich habe gehört, der Sandstamm argwöhne, dass die Elai mit den Pentadrianern Handel treiben.«
»Sie würden uns niemals verraten«, erwiderte Tiseel. »Außerdem, wie sollten sie von unseren Plänen erfahren haben?«
»Huan sagt, der pentadrianische Zauberer sei ein Gedankenleser«, erklang jetzt eine neue Stimme. Aller Augen wandten sich zu Teel um. »Er hat unsere Absichten wahrscheinlich aus unseren Gedanken gelesen, als wir über die Stadt geflogen sind.«
Sreil sank ein wenig weiter in sich zusammen. Ich habe uns über die Stadt geführt. Es war alles meine Schuld. Aber wie hätte ich wissen können, dass ihr Anführer Gedanken lesen kann? Das hat mir niemand erzählt. Nicht Auraya und auch nicht Teel…
»Werden die Götter Auraya gestatten, uns zu retten, Teel?«, fragte jemand.
»Ich weiß es nicht«, gestand Teel. »Vielleicht nur dann, wenn sie es tun kann, ohne zu kämpfen.«
»Gehörte unsere Gefangennahme zu einem größeren Plan?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte der Priester. »Wir können nur unser Vertrauen in die Götter setzen und beten.«
Und dann begann er, Letzteres zu tun. Obwohl einige Siyee verärgert aufstöhnten, spürte Sreil, dass die Worte ihn beruhigten. Es war tröstlich zu hoffen, all dies sei Teil eines größeren Plans.
Und nicht meine Schuld, sagte er sich.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Worte des jungen Priesters in der Hoffnung, dass sie dunklere Gedanken fernhalten würden.
Die Wände in den unteren Stockwerken des Palastes von Hannaya waren so dick, dass es den Anschein hatte, als seien die Räume durch kurze Flure miteinander verbunden. In diese Flure waren Nischen gehauen worden, und Büsten wichtiger Männer und Frauen, deren Mienen einförmig mürrisch waren, spähten heraus.
Etliche Männer und einige Frauen eilten umher. Es fiel Emerahl leicht, sich vorzustellen, dass sie darauf brannten, diesem bedrückenden Ort zu entkommen, aber sie spürte keine Furcht bei ihnen. Sie konnte lediglich die gewohnte Unterströmung von Verärgerung, Zielstrebigkeit und Sorge wahrnehmen, Gefühle, die sie in einem Dutzend anderer Städte aufgefangen hatte.
Den Zwillingen zufolge war der Palast das Heim des Königshauses, das früher einmal über Mur geherrscht hatte, inzwischen aber schon lange ausgestorben war. Das Labyrinth der Räume wurde noch immer von der gleichen Auswahl an Dienstboten, Höflingen und Künstlern bewohnt, aber der Herrscher war jetzt ein pentadrianischer Ergebener Götterdiener, bekannt als der Wächter.
Zwei der Denker, die nach den Schriftrollen suchten, stammten aus wohlhabenden, einflussreichen Familien, die im Palast lebten. Sie boten den anderen Quartier. Während des größten Teils des Tages versammelten sich die fünf Denker jedoch in der Bibliothek. Und genau dorthin wollte Emerahl jetzt.
Der Junge, den sie dafür bezahlt hatte, dass er sie hierherbrachte, bog in einen anderen Flur ein und führte sie tiefer in die Klippen. Ihr Puls beschleunigte sich, als er kurze Zeit später vor zwei großen, geschnitzten Holztüren stehen blieb. Der Junge streckte ihr die Hand hin. Sie ließ eine Münze hineinfallen, und er rannte davon.
Emerahl hielt inne, um tief Luft zu holen, dann klopfte sie.
Ein langes Schweigen folgte. Sie konzentrierte sich auf den Raum hinter der Tür und fing Gefühle mehrerer Personen auf. Die meisten waren geistesabwesend und still, aber einer der Menschen war zielstrebig und ein wenig verärgert.
Dann wurde der Türgriff angehoben, und die Tür schwang nach innen auf. Ein alter Mann spähte an seiner langen Nase entlang auf sie nieder.
»Ja?«
»Ich wünsche, die Denker zu sehen«, erklärte sie ihm. »Sind sie hier?«
Er zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts. Stattdessen trat er zurück und deutete auf den Raum hinter sich.
Und es gab eine Menge Raum, auf die man deuten konnte. Die Decke war wie in den meisten Räumen des Palastes verwirrend niedrig. Die gegenüberliegende Wand dagegen war ziemlich weit entfernt. Die langen Seitenwände waren gesäumt von Regalen, auf denen sich Schriftrollen und andere Gegenstände türmten. Statuen und Tische, auf denen seltsame und uralte Dinge bereitgelegt waren, unterteilten den Raum in drei Bereiche.
Der alte Mann ging zu einem mit Schriftrollen bedeckten Tisch neben einem halbleeren Regal. Er nahm einen nassen Lappen von einer Tontafel und legte ihn beiseite, dann griff er nach einem Schreibwerkzeug. Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Schriftrollen richtete, lächelte Emerahl schief. Offenkundig sollte sie die Denker selbst finden.
Langsam ging sie durch die gesamte Bibliothek und besah sich die zur Schau gestellten Gegenstände. Mehrere Männer verschiedener Altersstufen waren im Raum verteilt, einige lasen, andere schrieben, und wieder andere unterhielten sich leise miteinander. Am entfernten Ende der Bibliothek saßen fünf Männer auf Bänken und unterhielten sich entspannt. Duftender Rauch aus einem Rauchholzbrenner, der zwischen ihnen stand, hüllte sie ein, höchstwahrscheinlich irgendeine Art von Stimulans.
Als Emerahl näher kam, blickten die drei Männer, die nicht ins Gespräch vertieft waren, zu ihr auf. Der jüngere betrachtete sie neugierig, während die anderen ihre Aufmerksamkeit alsbald wieder auf die Sprecher richteten. Sie blieb zwischen den Bänken der beiden stehen, die sprachen, und die Unterhaltung endete. Ein hochgewachsener Mann mit dichten Augenbrauen und ein dünner Mann, der praktisch keine Lippen zu haben schien, sahen zu ihr auf und runzelten verärgert die Stirn.
»Seid mir gegrüßt, Denker«, sagte sie. Jetzt beobachteten sie alle fünf Männer. Sie schaute von Gesicht zu Gesicht und entschied sich, den Blick des größeren Mannes zu erwidern. »Bist du Barmonia Zehntmeister?«
Die Augenbrauen zuckten schwach in die Höhe. »Der bin ich.«
»Ich bin Emmea Sternensucher, Tochter von Karo Sternensucher, einem edlen Mann und Mathematiker aus Toren.«
»Du hast deine Heimat weit hinter dir gelassen«, bemerkte der jüngste der Männer.
»Ja. Mein Vater und ich interessieren uns für Antiquitäten.« Sie hob das Kästchen hoch, das die gefälschte Schriftrolle enthielt. »Vor kurzem kaufte mein Vater dies hier, aber da sein Gesundheitszustand ihm das Reisen unmöglich macht, hat er mich an seiner Stelle hergeschickt, um weitere Informationen zusammenzutragen. Meine Nachfragen haben mich zu euch geführt. Ich denke, ihr werdet dies hier überaus interessant finden.«
Der große Mann stieß einen skeptischen Laut aus. »Das bezweifle ich.«
»Ich meinte nicht den Kasten«, erwiderte sie trocken. »Ich meinte den Inhalt.«
»Das hatte ich vermutet«, sagte er.
Wieder sah sie ihm in die Augen. »Man hat mich gewarnt, dass die Denker keine Manieren hätten, keinen Respekt vor Frauen, ebenso wenig wie persönliche Hygiene, aber ich hatte doch erwartet, auf kluge und forschende Geister zu treffen.« Diese Worte brachten ein Lächeln auf das Gesicht des jüngeren Denkers, aber die anderen wirkten gleichgültig.
»Wir sind weise genug, um zu wissen, dass keine Fremdländerin jemals etwas von Interesse zu uns bringen könnte.«
Sie sah den Brenner an, dann lächelte sie und nickte vor sich hin. »Ich verstehe.«
Sie wandte sich ab und schlenderte durch die Bibliothek zurück. Auf einem schweren Tisch lag eine Steintafel, in die alte Glyphen eingemeißelt waren. Zu ihrer Überraschung handelte es sich um einen Gedenkstein aus einem schon vor langer Zeit niedergerissenen Tempel in Jarime - oder Raos, wie die Stadt einst geheißen hatte. Sie war wahrscheinlich viele Male an ebendiesem Stein vorbeigekommen, als er noch an seinem ursprünglichen Platz gelegen hatte. Wie war er nach Mur gekommen?
Schritte näherten sich, doch Emerahl hielt den Blick auf den Stein gerichtet, in der Annahme, der Mann würde vorbeigehen, aber er tat es nicht. Er trat neben sie, und als sie aufblickte, stellte sie fest, dass es der jüngere der Denker war.
Sie verkniff sich ein Lächeln. Natürlich war er es.
»Bar war schon immer so«, sagte er. »Er mag Frauen nicht besonders. Ich hoffe, du bist nicht allzu enttäuscht.«
»Es ist sein Schaden, nicht meiner. Verrate mir, wie ist dieser Gedenkstein hierhergekommen?«
Er zuckte die Achseln. »Er war schon immer hier.«
Sie kicherte. »Jetzt bin ich aber wirklich enttäuscht. Haben eure Räucherkräuter euch Denkern derart den Geist vernebelt, dass ihr die Schätze, die ihr hier habt, nicht einmal kennt?«
»Das ist kein Schatz.«
»Ein Gedenkstein aus dem alten Raos soll kein Schatz sein? Weißt du, wie selten diese Steine sind? Die Zirkler haben so vieles aus dem Zeitalter der Vielen zerstört, dass unsere Geschichte nur noch aus Bruchstücken besteht.« Sie zeigte auf eine Glyphe. »Dieser Priester, Gaomea, ist einer der wenigen, deren Namen noch bekannt sind.« Sie zeichnete mit dem Finger die Linie von Symbolen nach und übersetzte ins Murianische. »Gibt es noch andere Steine wie diesen hier?«
Jetzt starrte er sie an. »Ich weiß es nicht, aber ich kann den Bibliothekar für dich fragen. Wenn noch mehr Steine hier sind, wird er sie dir zeigen, wenn ich ihn darum bitte.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Steht es so schlecht?«
»Was?«
»Kann ich ihn nicht selbst danach fragen?«
Er verzog das Gesicht. »Nein. Wie Bar schon sagte, du bist eine Frau und eine Fremdländerin.«
Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Nun, ich nehme an, es ist immer noch besser als zu Hause. Dort kann man alte Schätze nur sehen, indem man sie von einem reichen Adligen kauft, und das auch nur, wenn er oder sie bereit ist zu verkaufen.«
Er führte sie von dem Tisch weg zu dem alten Mann, der seine Schriftrollen katalogisierte. »All das gehört den Pentadrianern«, sagte er in einem Tonfall, der darauf hindeutete, dass er nicht viel von diesem Umstand hielt.
»Zumindest haben sie diese Dinge nicht zerstört. Die Zirkler hätten es getan. Ich kann von Glück sagen, dass ich dies hier gerettet habe.« Sie klopfte auf das Kästchen.
»Also… Was ist da drin?«
»Nur ein Fragment einer Schriftrolle.«
»Warum bist du damit hierhergekommen?«
Sie ließ einen Moment verstreichen und musterte ihn eingehend. »Sie ist auf Sorl geschrieben.«
Er starrte sie ungläubig an. Sie sprach weiter, als missdeute sie sein Schweigen als Verwirrung.
»Das ist eine uralte Priestersprache von Mur. Ich hätte gedacht, das wüsstest du.« Sie schüttelte den Kopf, als sei sie verärgert. »Ich hatte gehofft, ein Einheimischer könnte sich eher einen Reim auf den Text machen. Jemand, der die Orte kennt, auf die er sich bezieht, und der weiß, was ›Atemgabe‹ bedeutet.« Sie steckte das Kästchen wieder in einen Beutel an ihrer Taille. »Könnten wir den Bibliothekar jetzt nach diesen Schätzen fragen? Ich denke, sie sind alles, was diese Reise für mich lohnend machen wird.«
Die Anspannung und die Erregung des jungen Mannes waren deutlich spürbar. Mit bewunderungswürdiger Selbstbeherrschung bewahrte er Stillschweigen. Sie hatte das erwartet: Die jüngeren Denker taten kaum je etwas, ohne zuvor den Rat ihrer mächtigen Gefährten zu suchen.
»Dann werde ich dafür Sorge tragen, dass der alte Rikron dir alles zeigt.«
Auraya hatte während der letzten Tage einige ihrer Fähigkeiten bis an die Grenzen erprobt. Sie konnte nicht gleichzeitig schlafen und in der Luft bleiben, daher war sie wach geblieben, während sie über Glymma schwebte. Nach einigen schlaflosen Tagen war es schwierig geworden, sich zu konzentrieren, daher hatte sie sich in der vergangenen Nacht auf Jurans Drängen hin in die Hügel zurückgezogen, um ein wenig zu ruhen.
Auch ihre Bereitschaft, den Göttern zu gehorchen, wurde beständig auf die Probe gestellt. Sie konnte die Gedanken der Siyee hören und wusste, dass sie irgendwo tief unter dem Sanktuarium angekettet waren. Sie wusste, dass sie Angst hatten und verzweifelt waren.
Aber man hatte ihnen keinen körperlichen Schaden zugefügt. Niemand im Sanktuarium - niemand, dessen Gedanken sie lesen konnte - wusste, was Nekaun mit den Gefangenen vorhatte. Einige der Pentadrianer glaubten, er habe die Absicht, ein Lösegeld für sie zu verlangen. Andere erwogen eine Möglichkeit, die die Siyee noch nicht in Betracht gezogen hatten, und darüber war Auraya froh: Die Himmelsleute könnten auch einer Gruppe übergeben werden, die als Denker bekannt waren und die sie wahrscheinlich studieren und mit ihnen experimentieren würden.
Nachdem Auraya wieder ihre Position hoch über dem Sanktuarium eingenommen hatte, begann sie, die Gedanken der Menschen unter ihr abzuschöpfen.
Der erste Geist, den sie fand, war der einer Götterdienerin, die die Stimmen verständigen sollte, falls Auraya sich dem Tempel näherte. Die Frau hatte Auraya bereits gesehen und Nekaun telepatisch durch ihren Sternenanhänger informiert.
Auraya ignorierte die Frau und schöpfte die Gedanken anderer Götterdiener und Domestiken ab, die alltäglichen Pflichten nachgingen. Bruchstücke von Gebeten, Rezepten, Rechenaufgaben und Liedern erreichten sie. Müßige Gespräche, Anweisungen und Intrigen, die sie mitbekam, drohten sie abzulenken. Aber ihr Wunsch, die Siyee zu finden, überlagerte alles.
Dort. Sie sind immer noch da.
Das Ungemach, über lange Zeit hinweg in derselben Position angekettet zu sein, zeigte langsam Wirkung. Neben ihrer Angst nahm sie Demütigung und Abscheu wahr. Dann spürte sie, dass ihre Angst sich vertiefte. Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass man einen der Siyee weggebracht hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie stellte fest, dass sie unwillkürlich tiefer hinabgesunken war. Sie stieg wieder in die Höhe und wartete mit wachsender Furcht.
Durch die Augen dieses Siyee konnte sie jetzt Nekaun sehen. Nekaun sagte etwas, aber der Siyee hatte zu große Angst, um es zu verstehen. Es ging darum, die Stadt zu verlassen.
Dann nahm jemand die Fesseln an den Handgelenken des Siyee ab. Türen wurden geöffnet, und der Himmel erschien. Der Siyee machte einen Schritt nach vorn, aber der Mann packte ihn an der Schulter.
»Sag ihr, sie soll mich auf dem Dach des Sanktuariums treffen«, erklärte er langsam.
Der Siyee nickte. Er sollte als Bote fungieren. Das war der Preis für seine Freiheit. Der Mann, der den Siyee festgehalten hatte, ließ ihn los. Der Siyee taumelte auf die Türen zu. Draußen ging es ins Bodenlose. War das ein Fenster? Egal. Der Wind war gut. Die Beine des Siyee waren immer noch steif. Er streckte die Arme aus - er sollte seine Muskeln aufwärmen, bevor er zu fliegen versuchte, aber er würde keinen Moment länger bleiben als notwendig.
Als er die Öffnung erreichte, sprang er hinaus, und sein Herz jubilierte, als der Wind ihn emportrug.
Frei… Aber was ist mit den anderen? Er bewegte sich kreisend höher. Der Mann will mit Auraya sprechen. Vielleicht kann sie irgendetwas ausrichten. Aber wo ist sie?
Auraya ließ sich hastig hinuntersinken. Der Siyee sah sie und kam ihr entgegen.
»Der Anführer hat mich freigelassen«, erklärte er. »Und er hat mir eine Nachricht für dich gegeben. Er möchte dich treffen. Auf dem Dach der Gebäude.«
Sie pfiff zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.
»Was ist mit den anderen?«
Er beschrieb ihr das, was sie bereits in den Gedanken der Siyee gelesen hatte: die Halle, den Mangel an Waschmöglichkeiten und seine Angst, dass sie schon bald die Fähigkeit zu fliegen verlieren würden.
»Ich habe Zyee und Siti Essen und Wasser gegeben, das sie an den Stellen hinterlegen sollten, an denen wir unsere Lager hatten«, erklärte sie ihm. »Ist dein Wasserschlauch leer?«
»Ja.«
»Dann tausch ihn gegen meinen.«
Sie flog neben ihm her, um den Tausch vorzunehmen. Im Anschluss kreiste er um sie herum und blickte ängstlich hinab.
»Kann ich helfen?«
»Nein. Flieg nach Hause.«
Er pfiff eine Bestätigung.
»Dann viel Glück. Sei vorsichtig. Es könnte eine Falle sein.«
»Ich weiß.«
Sie sah ihm nach, als er davonflog. Er war müde und hungrig. Wie würde er es schaffen, nach Si zurückzukehren, quer über die sennonische Wüste und ohne Essen bis auf das wenige, was sie aus Klaff gestohlen hatte, und mit nur einem einzigen Wasserschlauch?
Ich hätte mehr stehlen und es zu einigen unserer Lagerplätze in Sennon bringen sollen. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht sollte ich das jetzt tun und ihn einholen und…
Auraya?
Sie blickte hinab. Ein Geist rief ihren Namen. Sie konzentrierte sich und erkannte die Götterdienerin, die die Aufgabe hatte, nach ihr Ausschau zu halten. Die Frau war sich nicht sicher, ob ihr Ruf gehört werden würde, aber Nekaun hatte sie gebeten, es zu versuchen.
Auraya suchte nach der Frau. Sie entdeckte drei Gestalten auf dem Dach des obersten Gebäudes des Sanktuariums. Es waren die Frau, Nekaun und ein anderer Mann, der voller unterdrückter Erregung war. Außerdem spürte sie, dass er sich selbst ungeheuer wichtig nahm.
Juran?, rief Auraya.
Auraya. Was geht da vor?
Sie erklärte ihm, dass Nekaun einen Siyee freigelassen hatte, um ihr eine Nachricht zu überbringen, und sie berichtete von seiner Bitte.
Soll ich mich mit ihm treffen?, fragte sie.
Es könnte eine Falle sein, warnte Juran sie.
Ich bin bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Wenn ich mich nicht mit Nekaun treffe, könnte er zurückschlagen, indem er einen oder mehrere Siyee tötet.
Dann geh. Finde heraus, was er will.
Sie blickte zu dem winzigen Punkt empor, der alles war, was man von dem fliehenden Siyee noch sehen konnte.
Falls Nekaun ein Lösegeld für die Siyee will, wärst du damit einverstanden?
Das würde vom Preis abhängen.
Sie holte tief Luft, zog Magie in sich hinein, schuf eine Barriere um sich herum und ließ sich langsam nach unten sinken. Dann spürte sie eine Bewegung in ihrem Bündel und fluchte leise. Wenn sie doch nur daran gedacht hätte, den Siyee zu bitten, Unfug mitzunehmen. Aber der Veez hätte ein zusätzliches Gewicht dargestellt und somit ein zusätzliches Problem für den Siyee.
Die drei Personen auf dem Dach beobachteten sie. Die Frau wandte sich plötzlich zu Nekaun um, machte eine Bewegung mit den Händen und ging dann davon. Sie hob eine Luke im Dach an und stieg in die Dunkelheit hinab.
Auraya landete einige Schritte entfernt von den beiden Männern.
Nekaun lächelte. »Willkommen in Glymma, Auraya«, sagte er auf Hanianisch, wenn auch mit einem starken Akzent.
Auraya betrachtete den Mann, der neben der Stimme stand, und las aus seinen Gedanken, dass er Turaan war, Nekauns Gefährte, der als Übersetzer fungieren sollte. Sein Herr kannte noch keine der nördlichen Sprachen allzu gut und bezweifelte, dass Auraya irgendeine der südlichen Sprachen gelernt hatte.
Ich muss darauf achten, so zu tun, als verstünde ich nichts von dem, was in den südlichen Sprachen gesprochen wird, überlegte sie. Nekaun könnte denken, dass ich sie irgendwie gelernt habe, aber die Götter werden wissen, dass das nicht wahr ist, und erraten, dass ich Gedanken lese.
»Willkommen?«, erwiderte sie auf Hanianisch. »Ich bezweifle, dass ich willkommen bin.«
Nekauns Lächeln wurde breiter. Er sagte etwas in seiner eigenen Sprache, und Turan wiederholte seine Worte auf Hanianisch. »Einigen magst du nicht willkommen sein, aber sie verstehen die Gründe für deine Anwesenheit nicht.«
»Und du tust es?«
»Vielleicht. Ich muss zugeben, dass ich in einigen Punkten nur raten kann. Aus den Gedanken der Siyee habe ich erfahren, dass es dir verboten ist zu kämpfen. Ich vermute, dass du nur hier bist, um sie zu beschützen. Ich denke, dass du meinem Volk vielleicht nichts Böses willst.«
»Nur wenn ihr meinem Volk nichts Böses wollt.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Und doch sind die Siyee hergekommen, um meinem Volk Schaden zuzufügen.«
Sie lächelte dünn. »Das ist nicht wahr.«
Er runzelte die Stirn, dann lachte er leise. »Ah, das ist richtig. Sie sind hergekommen, um den Vögeln Schaden zuzufügen. Wenn einige Menschen ihnen dabei in die Quere gekommen wären, hätten die Siyee ihnen also nichts getan?«
Auraya verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin nicht diejenige, die ihnen ihre Anweisungen gegeben hat.«
»Es muss schwer sein, ein Volk zu lieben und doch zusehen zu müssen, wie es von anderen schlecht regiert wird.«
»Ich bin nicht die Erste, die in einer solchen Position wäre.«
Sein Blick flackerte kurz, als hätten ihre Worte ihm Grund zum Nachdenken gegeben. »Ich werde dir ein Angebot machen. Wenn du hierbleibst und mir erlaubst, dir mein Volk und meine Stadt zu zeigen, werde ich die Siyee freilassen. Für jeden Tag, den du hier verbringst, wird einer von ihnen die Freiheit wiedererlangen.«
Sie musterte ihn mit schmalen Augen. »Ich brauche nur hierzubleiben?«
»Und mir gestatten, dir mein Volk zu zeigen.«
»Warum?«
Seine Miene wurde ernst. »Dein Volk versteht das meine nicht. Ihr haltet uns für grausam und verdorben. Ich möchte dir zeigen, dass das nicht wahr ist.« Er verzog das Gesicht. »Ich möchte den Siyee keinen Schaden zufügen, ebenso wie ich sie nicht versklaven möchte, was nach unseren Gesetzen gestattet wäre. Ich könnte Geld im Gegenzug für ihre Freilassung verlangen, aber ich brauche kein Geld. Was ich mir mehr wünsche, ist Frieden. Du bist keine Weiße mehr, aber ich bezweifle, dass ein Weißer jemals hierherkommen würde, ganz gleich, wie demütig wir um einen Besuch bitten würden. Du bist jedoch die Verbündete der Weißen. Du kannst ihnen mitteilen, was du hier siehst.« Er blickte sie durchdringend an. »Wirst du bleiben?«
Auraya musterte ihn argwöhnisch. Es könnte nach wie vor eine Falle sein. In Turaans Gedanken konnte sie zwar nichts von einer Falle lesen, aber es war möglich, dass Nekaun ihn nicht in seine Pläne eingeweiht hatte.
Und? Um der Siyee willen lohnt es sich, einige Risiken einzugehen.
»Einen Siyee für jeden Tag«, sagte sie.
»Ja.«
»Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass sie die Stadt verlassen.«
»Natürlich.«
»Du wirst ihnen Essen und Wasser für die Heimreise geben?«
»Dafür wird gesorgt sein.«
»Und Waschmöglichkeiten für diejenigen, die zurückbleiben?«
»Ich habe bereits Anweisung erteilt, eine Lösung für dieses Problem zu suchen.«
»Wirst du mir bei deinen Göttern schwören, dass du dein Versprechen halten wirst?«
Er lächelte. »Ich schwöre bei Sheyr, Hrun, Alor, Ranah und Sraal, dass ich für jeden Tag und jede Nacht, die du hierbleibst, einen Siyee freilassen werde und dass dir während dieser Zeit kein Schaden zugefügt werden wird.«
Sie wandte den Blick ab, als denke sie nach.
Juran?
Sie beschrieb ihm die Bedingungen des Handels.
Er wird versuchen, dich für seine Zwecke zu gewinnen oder dich zu bekehren.
Das vermute ich auch. Er wird scheitern.
Ja. Das glaube ich ebenfalls. Dies ist ein gefährliches Spiel, Auraya, aber wenn du bereit bist, es zu spielen, hast du unsere Zustimmung. Viel Glück.
Auraya sah Nekaun in die Augen und nickte knapp.
»Ich werde bleiben.«
Nachdem Mirar Emerahl und den Zwillingen Bericht erstattet und ihnen von Genzas Bitte erzählt hatte, sie nach Glymma zu begleiten, ließ er sich in einen tiefen Schlaf sinken. Er träumte, dass Auraya versuchte, ihm etwas mitzuteilen, aber ein Klopfen unterbrach sie. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Augen geöffnet waren und er an die Decke starrte.
Irgendetwas hat mich gerade geweckt. Er setzte sich auf und lauschte. Dann blickte er zur Tür und spürte sowohl Hoffnung als auch Unsicherheit. Eine vertraute Person stand und ihre Entschlossenheit geriet zunehmend ins Wanken.
Dardel. Sie hat endlich den Mut aufgebracht, wieder zu mir zu kommen.
Einen Moment lang rangen widersprüchliche Gefühle in ihm. Die Erinnerung an Aurayas Anwesenheit in seinem Traum ließ ihn nicht los. Andererseits wusste er, dass eine solche Gelegenheit, Dardel ihre Sicherheit zurückzugeben, vielleicht nicht wiederkommen würde.
Auraya ist nicht hier, sagte er sich. Sie liebt dich nicht mehr.
Schließlich stand er auf, ging zur Tür und öffnete sie. Dardel sah ihn mit großen Augen an.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte er.
»Ich habe gehört, dass du fortgehen wirst. Ich bin gekommen, um… um auf Wiedersehen zu sagen.«
Obwohl sie ihm nicht in die Augen sah, konnte er ihre widerstrebenden Gefühle wahrnehmen. Sie hoffte, dass sie mehr tun würden, als nur auf Wiedersehen zu sagen.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, erwiderte er. »Dardel…«
Sie blickte auf. Er zog eine Augenbraue hoch. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass es schon so spät ist. Ich konnte nicht schlafen.«
»Es macht mir überhaupt nichts aus. In diesen heißen Nächten ist es schwer, Ruhe zu finden. Möchtest du hereinkommen und.. reden?«
Sie trat an ihm vorbei in den Raum. Als er die Tür geschlossen hatte und sich umdrehte, sah er, dass Dardel aus ihrem Wams schlüpfte. »Bei dieser Hitze möchte ich mir am liebsten alle Kleider vom Leib reißen.«
Er lachte leise. »Ich dachte schon, ich sei in dieser Hinsicht der Einzige.«
Sie kam auf ihn zu und griff nach seinem Wams. »Lass dir helfen.«
Nachdem sie ihre Traumweberroben abgelegt hatten, gingen sie zum Bett hinüber. Dardel roch nach Schweiß und Dschungelblumen, und das Mondlicht zeichnete die Wölbung ihrer Schultern nach. Ihrer Brüste. Ihrer Hüften. Warme Haut unter seinen Fingern. Hände, die über seinen Körper strichen. Sie kamen sich immer näher und erkundeten einander mit Fingern und Lippen, bis sie einander Haut auf Haut berührten. Er spürte, wie sie ihm die Fersen in den Rücken bohrte, dann wiegten sie sich hin und her, und die einzigen Geräusche waren ihre Atmung und das leise Knarren des Bettes, während er jenem Augenblick, da die Lust jedes Denken beiseitedrängte, immer näher kam.
Als die Gedanken zurückkehrten, löste sie sich von ihm. Er wollte sie berühren, aber sie hielt seine Hand fest. Überrascht musterte er sie und spürte eine gewisse Nachdenklichkeit.
»Irgendetwas ist anders«, sagte sie und sah ihn an. »Ich dachte, es würde aufregender sein, jetzt, da ich weiß, wer du bist. Aber das ist es nicht. Es ist…« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Er lehnte sich an die Wand. »Manchmal ist eine Phantasie aufregender als die Wirklichkeit«, erwiderte er.
Sie nickte, dann schüttelte sie abermals den Kopf. »Das ist es nicht.« Sie betrachtete ihn und lächelte. »Nun, vielleicht ein wenig. Aber du hast etwas an dir, das mich schon immer beunruhigt hat. Du erinnerst mich an… Hast du…?« Sie brach ab. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas dich ablenkt, selbst wenn du am, äh, aufmerksamsten bist.« Sie hielt einen Moment lang inne. »Normalerweise würde ich vermuten, dass es eine Frau ist. Ich hoffe, das ist nicht zu anmaßend von mir.«
Sie war sehr scharfsichtig, überlegte er. Außerdem kannte er ihre Stimmung. Ein vertrauliches Gespräch rundete Schlafzimmerbegegnungen bisweilen auf recht hübsche Weise ab, obwohl Frauen mehr Wert darauf legten als Männer. Er hatte dies vor langer Zeit schätzen gelernt. Sie konnten frivol sein, witzig oder schamlos, oder sie offenbarten große Intelligenz und Scharfblick. Manchmal hatten sie einfach das Bedürfnis, über ihre Probleme zu reden. Bisweilen übertrieben sie es damit ein wenig. Das kostete Geduld.
Dardel neigte jedoch nicht dazu zu jammern. Er hätte ihre Vermutung mit einem Achselzucken abtun können, aber dafür gab es keinen Grund, solange er nur Aurayas Identität geheim hielt.
»Es gibt eine Frau«, antwortete er.
Sie blickte zu ihm auf. »Warum bist du dann nicht bei ihr? Ist sie im Norden?« Ihre Augen weiteten sich. »Stehen die zirklischen Götter zwischen euch?«
Er lächelte. »Nein. Bedauerlicherweise empfindet sie nicht das Gleiche für mich wie ich für sie.«
»Oh.« Dardels Schultern sanken ein wenig herab, und sie schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. »Dann ist sie eine Närrin.«
Er kicherte. »Wie oft ich das in der entgegengesetzten Situation schon zu Frauen gesagt habe. Jetzt bin ich mir sicher, dass es hilft - ein wenig.«
Aber Dardel schien ihm nicht zuzuhören. Plötzlich blickte sie auf und versetzte ihm einen leichten Schlag gegen die Schulter. »Und du hast gerade mit mir geschlafen! Wie kannst du das tun, wenn du eine andere liebst!«
Er schlang die Arme um ihre Taille und hielt sie fest. »Erwartest du wirklich von mir, dass ich ein keusches Leben führe wegen einer Frau, die kein Interesse an mir hat?«
Sie lächelte. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Mir fallen da verschiedene Methoden ein, wie du mir zeigen könntest, dass du mich in meiner Entscheidung, nicht keusch zu bleiben, unterstützt.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das könnte ich sicher.« Sie neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Es ist schön zu wissen, dass du menschlich genug bist, um dich in Liebesdingen zum Narren zu machen.«
»Ach ja?« Er verzog das Gesicht. »Freut mich, dass irgendjemand es schön findet.«
»Ah.« Sie grinste und tätschelte ihm die Wange. »Dann werde ich dafür sorgen müssen, dass es ganz besonders schön für dich wird.« Sie beugte sich vor und ließ die Finger über seine Brust wandern. Er lächelte, hielt ihre Hand fest und zog sie näher an sich.
Das Sanktuarium war im Gegensatz zum Tempel in Jarime ein Wirrwarr miteinander verbundener Gebäude auf mehreren Stockwerken. Auraya kam es so vor, als steige sie in ein Labyrinth hinab, doch wann immer sie das Gefühl hatte, in der Falle zu sitzen und die Orientierung zu verlieren, führte Nekaun sie in einen Flur, der an einer Seite offen war, oder auf einen Hof hinaus. Ihr wurde klar, dass diese Form der Architektur es den Luftströmungen erlaubte, durch das Gebäude zu wehen, so dass die trockene Hitze erträglich wurde.
Die meisten ihrer Gedanken kreisten um die Situation, in der sie sich jetzt befand. Die Siyee waren Geiseln. Sie konnten sich glücklich schätzen, dass es so war, da sie hierhergekommen waren, um pentadrianisches Eigentum anzugreifen - oder Streitkräfte, je nachdem, wie die Pentadrianer ihre Vögel betrachteten -, und sie hätten im Gegenzug getötet werden können.
Stattdessen wurden sie dazu benutzt, Auraya zu erpressen. Der Preis schien gering zu sein. Sie brauchte lediglich für eine Weile hierzubleiben und Nekauns Volk kennenzulernen. Das war alles.
Es muss noch mehr dahinterstecken. Bestenfalls wird er versuchen, von mir mehr über die Weißen zu erfahren. Schlimmstenfalls will er mich hier festhalten, während er an der Frage arbeitet, ob er mich töten kann.
Bisher hatte Nekaun sie nur durch das Sanktuarium geführt und war hier und da stehen geblieben, um sie auf Dekorationen hinzuweisen oder ihr den Verwendungszweck und die Bedeutung einzelner Gegenstände zu erläutern. Er spielte den großzügigen Gastgeber. Sie spürte, dass ihr Körper zwar Schritt hielt, dass ihr Geist jedoch weit zurückgefallen war und die Ereignisse der letzten Tage nicht ganz erfasste. Ebenso waren ihr die Konsequenzen ihres Handels mit Nekaun nicht vollkommen klar.
Nekaun machte eine Bemerkung.
»Und hier«, übersetzte Turaan, »ist dein Quartier.«
Ein Diener öffnete eine große Doppeltür. Auraya konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung und folgte Nekaun. Der erste Raum hatte die Größe eines Hauses und war nur spärlich möbliert. Nekaun deutete auf eine Tür. Als Auraya hindurchtrat, fand sie sich in einem langgestreckten Raum mit einem riesigen Bett wieder. Durch einen Bogengang auf der einen Seite gelangte man in einen Raum, der ganz und gar mit Kacheln ausgelegt war. In der Mitte befand sich ein in den Boden eingelassenes, leeres Becken.
»Die Domestiken werden dir Wasser bringen, wann immer du zu baden wünschst«, ließ Nekaun durch Turaan erklären. Er zeigte auf Flaschen aus Glas und Ton. »Eine Auswahl an Parfüms und Ölen.«
Also soll ich hier im Luxus leben, während die Siyee in den Gewölben unter der Erde angekettet sind.
»Ich möchte mit den Siyee sprechen«, sagte sie plötzlich. »Es ist unnötig grausam, sie im Unklaren über unsere Vereinbarung zu lassen.«
Nekaun musterte sie nachdenklich.
»Ich werde dich zu ihnen führen«, übersetzte Turaan. »Aber nur wenn du bei deinen Göttern schwörst, dass du nicht versuchen wirst, sie zu befreien. Ich würde dich daran hindern müssen, und die Siyee könnten dabei verletzt werden. Ich möchte ihnen keinen Schaden zufügen.«
»Ich verstehe«, erwiderte sie. »Ich schwöre bei den Göttern des Zirkels, dass ich, solange unser Handel gilt, nicht versuchen werde, die Siyee zu retten, die du gefangen hältst.«
Er nickte. »Folge mir.«
Zu ihrer Erleichterung hielt er nicht länger auf Schritt und Tritt inne, um sie auf die Besonderheiten des Sanktuariums hinzuweisen, wie er es zuvor getan hatte. Allerdings schlug er auch kein besonders schnelles Tempo an.
»Die Siyee betrachten dich als ihre persönliche Weiße«, sagte er. »Sie glauben, dass du sie als dein eigenes Volk empfindest. Ist das wahr?«
»Ja und nein. Ich bin keine Siyee, und ich werde niemals eine sein.«
»Aber du hast viel mit ihnen gemein. Das Fliegen zum Beispiel.«
»Ja.«
»Betrachtest du Si als dein Zuhause oder Hania?«
Sie runzelte die Stirn. »Im Augenblick ist Si meine Heimat, aber ich werde immer eine Verbindung zu Hania haben.«
Er lächelte. »Natürlich. Hast du die Weißen verlassen, um bei den Siyee leben zu können?«
»Ich werde dir meine Gründe, warum ich die Weißen verlassen habe, nicht offenlegen.«
Er lachte leise. »Das hatte ich auch nicht erwartet. Aber ich musste fragen. Dieses Ereignis hat hier viele Spekulationen ausgelöst.«
Sie waren in einen unterirdischen Flur hinabgestiegen. Die Wände waren kahl und die Böden staubig, was vermuten ließ, dass dieser Bereich der Anlage nur selten benutzt wurde. Die Mitte der Räume und Flure lag etwas tiefer als der Rest - ein Zeichen der Abnutzung nach vielen Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden. Fasziniert hielt Auraya Ausschau nach anderen Anzeichen, die ihr vielleicht Aufschluss darüber geben würden, welchem Zweck dieser Teil des Sanktuariums früher einmal gedient haben mochte.
Nekaun führte sie durch ein Tor in einen Tunnel. Sie kamen an mehreren Nischen vorbei, in denen jeweils eine Lampe stand. Am Ende des Gangs gelangten sie in einen kleinen Raum. Vor einem großen Bogengang war ein Eisentor eingelassen, und links und rechts davon standen zwei Götterdiener Wache. Dahinter befand sich eine erheblich größere Halle, die von Säulen getragen wurde. Am gegenüberliegenden Ende stand ein Stuhl von gewaltigen Ausmaßen.
Es ist ein alter Tempel, überlegte sie. Dies ist der Thron eines Gottes. Eines toten Gottes höchstwahrscheinlich.
Dann lenkte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit auf den Sockel einer Säule, und ihre Schultern sackten unwillkürlich herab.
Die Siyee waren an die Säulen gekettet. Sie saßen oder kauerten auf dem Boden, und ihre Gedanken waren voller Angst und Mutlosigkeit. Neben jedem Siyee standen hölzerne Schalen für seine Exkremente, und Auraya konnte ihren Gestank riechen.
»Du hast gesagt, deine Leute würden für bessere Hygiene sorgen«, bemerkte sie und drehte sich zu Nekaun um. »Diese Zustände sind nicht gesund.«
Nekaun zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind immerhin Gefangene. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich sie wie Ehrengäste behandle.«
Sie dachte an die Räume, die er ihr zur Verfügung gestellt hatte. »Das tue ich auch nicht«, erwiderte sie. »Aber ich erwarte, dass sie gesund genug sind, um nach Hause zurückzukehren, wenn du sie freilässt. Wenn sich an ihrer Situation nichts ändert, werden sie erkranken. Sie müssen die Erlaubnis erhalten, sich zu bewegen, oder ihre Muskeln werden zu schwach werden, um zu fliegen.«
Er sah die Siyee an und nickte langsam. »Ich verstehe. Sobald ich mich davon überzeugt habe, dass diese Halle sicher ist, werde ich sie von den Säulen losbinden lassen. Außerdem wird man einen Bereich für die Sammlung von Exkrementen abteilen.« Er wandte sich an die Götterdiener. Einer zog einen Schlüssel unter seinen Roben hervor, trat an das Tor und schloss es auf.
Auraya ging hindurch. Als sie näher kam, blickten die Siyee auf, und in ihren Gesichtern und ihren Gedanken regte sich Hoffnung. Sie hielt Ausschau nach Sreil. Als sie ihn entdeckt hatte, durchquerte sie den Raum und ging neben dem jungen Mann in die Hocke.
»Ist irgendjemand von euch verletzt?«
Sreil schüttelte den Kopf. »Kratzer und Prellungen, aber mehr nicht.«
Sie betrachtete die hoffnungsvollen Gesichter. »Ich bin nicht hier, um euch zu befreien«, erklärte sie. »Zumindest nicht heute. Aber ich habe eine Vereinbarung mit Nekaun getroffen, dem Anführer der Pentadrianer. Für jeden Tag, den ich hierbleibe, wird er einen von euch freilassen.«
»Wir sind über dreißig«, sagte einer der Siyee. »Das ist ein ganzer Monat. Wenn wir eine Woche unter diesen Umständen leben, werden wir nicht mehr fliegen können.«
»Das habe ich ihm erklärt«, erwiderte sie. »Er hat sich bereitgefunden, euch loszubinden.«
»Vertraust du ihm?«, fragte Sreil.
Sie sah ihn an und seufzte. »Mir bleibt nichts anderes übrig. Er hat bei seinen Göttern geschworen. Wenn er einen solchen Schwur nicht ehrlich meint, dann wird er nichts ehrlich meinen.«
»Was will er von dir?«, fragte der Priester.
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Er sagt, ich soll hierbleiben und sein Volk kennenlernen.«
»Er wird versuchen, dich zu verderben. Dich von den Göttern abzuwenden«, warnte Teel sie.
»Zweifellos«, pflichtete sie ihm bei. »Morgen früh werden wir sehen, ob er sein Wort hält. Ich werde darauf bestehen, zuzusehen, wenn er einen von euch freilässt.«
Neben den Zweifeln und Hoffnungen der Siyee fing sie ein Gefühl der Sorge um sie, Auraya, auf und Dankbarkeit für das Risiko, das sie um ihretwillen auf sich nahm. Unwillkürlich stieg eine Woge der Zuneigung für sie in ihr auf. Wenn Nekaun nicht zugehört hätte, hätte sie mit jedem Einzelnen geredet und ihm Trost zugesprochen, aber sie wollte nicht, dass er sah, wie viel die Siyee ihr bedeuteten, weil sie fürchtete, dass er seine Forderungen in diesem Fall erhöht hätte. Schließlich stand sie auf und brachte ein Lächeln zustande.
»Seid stark und habt Geduld«, sagte sie. »Ich werde jeden Augenblick des Tages an euch denken.«
»Und wir an dich«, erwiderte Sreil.
Sie wandte sich widerstrebend ab und zwang sich, zum Tor zurückzugehen. Als sie hindurchgetreten war, drehte sie sich zu Nekaun um.
»Sollte auch nur einer von ihnen nicht in der Lage sein, fortzufliegen, wird unser Handel nichtig.«
Er lächelte und nickte. »Natürlich. Ich werde dafür sorgen, dass sie es von jetzt an bequemer haben.«
Die Palastbibliothek wurde abends für alle mit Ausnahme der »Mitglieder« geschlossen, eine Regelung, die den Denkern im Allgemeinen die Ungestörtheit gab, die sie brauchten, während sie ihre Fortschritte bei der Suche nach der Schriftrolle der Götter erörterten.
Oder ihren Mangel an Fortschritten, dachte Raynora. Ich frage mich, wie viele andere Hinweise meine Gefährten übersehen oder missachtet haben mögen, weil ihnen das Geschlecht oder die Rasse desjenigen, der die Informationen beigesteuert hat, nicht gefiel. Hat ihre Eifersucht auf all jene, die magische Befähigung besitzen, sie dazu getrieben, auch wichtige Fakten zu ignorieren?
Ein vertrauter Stich des Neids durchzuckte ihn, und er lächelte schief. Alle Denker begehrten magische Macht, selbst er. Man wollte immer das, was man nicht haben konnte. Das Wissen, dass er kein Götterdiener werden konnte, hatte nur dazu geführt, dass diese Menschen ihn umso mehr faszinierten. Er hatte früher einmal selbst Götterdiener werden wollen, aber als eine Denkerin nach dem Krieg geweiht worden war, war sein Interesse verebbt. Er konnte nicht auf eine so angesehene Rolle wie die eines Gefährten hoffen, und das bescheidene Leben eines gewöhnlichen Götterdieners hatte keinen allzu großen Reiz mehr, wenn dabei keine Magie im Spiel war.
Während meine Zugehörigkeit zu den Denkern mir bei anderen einen gewissen Respekt verschafft. Außerdem brauche ich deshalb mein Vermögen nicht aufzugeben, so klein es auch sein mag.
Nachdem er zu diesem Schluss gekommen war, hatte auch sein Interesse an der Schriftrolle der Götter nachgelassen. Sie hatte einen Teil der Faszination ausgemacht, mit der ihn seine Religion erfüllte, aber jetzt, da dieser Anreiz nicht mehr existierte, fand er die unerfreulichen Charaktere der wichtigsten Forscher ermüdend. Barmonia war die treibende Kraft der Gruppe, aber seine Arroganz verärgerte Ray. Mikmers Zynismus war nicht länger erheiternd, und die Götter mochten jedem beistehen, wenn er einen Vortrag Kereons über eins seiner Lieblingsthemen erdulden musste. Der einzige Denker, der Ray im Alter nahe stand, war Yathyir, aber Ray vermutete insgeheim, dass seine dekkarenischen Eltern einen Pakt mit den Göttern geschlossen haben mussten: Die Götter hatten ihrem Sohn anscheinend ein brillantes Gedächtnis für Fakten mitgegeben und ihm im Gegenzug jedwede Fähigkeit genommen, gesellschaftliche Normen, Scherze oder Unterströmungen eines Gesprächs zu verstehen.
Also, warum bin ich noch hier? Nun, man hat mir ein Angebot gemacht, das zu gut war, um es abzulehnen…
»Worüber lächelst du, Ray?«
Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Mikmer ihn argwöhnisch beobachtete, und sein Gewissen regte sich. Zum Ausgleich dafür grinste Ray umso breiter. »Ich habe gerade ausgerechnet, wie viel Gold mir die Schriftrolle einbringen wird, wenn ich sie verkaufe.«
Die anderen starrten ihn an.
»Wir werden die Schriftrolle nicht verkaufen!«, erklärte Barmonia, dessen Gesicht bereits rot angelaufen war.
»Oh, das hatte ich auch nicht erwartet«, stimmte Ray ihm zu. »Aber ihr werdet sicher eine Menge bezahlen, um sie von mir zu bekommen.«
Yathyir lächelte. »Er hat die Absicht, sie selbst zu finden.«
Barmonia zog die Augenbrauen hoch. »Du glaubst, du schaffst das ohne unsere Hilfe, ja?«
»Vielleicht«, antwortete Ray und lehnte sich mit bewusster Lässigkeit auf seinem Stuhl zurück. »Sofern ich diese Frau überreden kann, mir zu helfen, nachdem ihr sie neulich so rüde behandelt habt.«
»Diese Frau aus dem Norden!«, schnaubte Barmonia. »Du kannst sie gern haben. Alles, was du von ihr bekommen wirst, ist die Krätze.«
»Weil alle Frauen aus dem Norden krank sind, nicht wahr?«
Der hochgewachsene Mann erwiderte seinen Blick ungerührt. »Keine Frau von einwandfreier Moral würde allein reisen.«
»Zumindest keine moralisch einwandfreie Frau ohne Befähigungen«, bemerkte Mikmer.
»Sie besitzt Befähigungen?«, fragte Yathyir und wandte sich zu Mikmer um. »Woher weißt du das?«
Der ältere Mann zog die Schultern hoch. »Eine wohlbegründete Vermutung.«
»Aber du weißt es nicht mit Bestimmtheit?«, hakte Yathyir nach.
Mikmer verdrehte die Augen. Er war nicht gerade der geduldigste, erst recht nicht Yathyir gegenüber, wenn dieser eine seiner Bemerkungen wieder einmal zu wörtlich nahm. »Natürlich nicht. Hat sie Magie benutzt, während sie hier war? Nein. Ist es wahrscheinlich, dass ich sie aufgesucht und sie gebeten habe, mir ihre Fähigkeiten zu demonstrieren, und sie sich dazu bereitgefunden hat? Nein.«
»Oh«, erwiderte Yathyir nachdenklich. Glücklicherweise nahm er niemals Anstoß an Mikmers Sarkasmus. Er akzeptierte ihn als das normale Benehmen eines älteren, erfahreneren Denkers.
»Denkst du, wir sollten diese Frau benutzen?«, fragte Kereon Ray.
Alle wandten sich zu ihm um. Kereon sprach nur selten, aber wenn er das Wort einmal ergriff, konnte er sich stundenlang in ein Thema verbeißen.
»Ja, allerdings«, antwortete Ray. »Sie hat die Tafel gelesen, als sei sie in ihrer eigenen Sprache geschrieben, und angedeutet, dass sie Alt-Sorl lesen könne.«
»Und wenn wir sie hierherholen und sie es nicht kann?«, fragte Mikmer.
»Dann ist kein Schaden entstanden.«
»Es sei denn, sie erführe von uns etwas über die Schriftrolle«, warnte Yathyir.
»Sie wird nichts erfahren, was wir sie nicht wissen lassen wollen. Sie braucht lediglich zu versuchen, die Knochen zu lesen.«
»Und wenn sie sie versteht, wird sie wissen, worauf wir aus sind«, wandte Barmonia ein. »Dieses Risiko können wir nicht eingehen.«
»Warum nicht? Was kann sie schon mit dieser Information anfangen?«
»Sie könnte sich selbst auf die Suche nach der Schriftrolle machen.«
»Nicht wenn wir sie einladen, sich uns anzuschließen.«
»Sie soll sich uns anschließen?«, rief Barmonia aus. »Wir arbeiten nicht mit irgendeiner fremdländischen Schlampe zusammen.«
»Sie wird uns die Anerkennung dafür streitig machen«, pflichtete Mikmer ihm bei.
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Kereon, was ihm einen erstaunten Blick von Barmonia eintrug. »Wer würde ihr glauben? Niemand.« Er beugte sich vor und richtete seine nächsten Worte vor allem an Barmonia. »Wenn sie uns helfen kann, werden wir sie in unserer Mitte willkommen heißen. Sie wird das Angebot annehmen, weil sie anderenfalls weder unsere übrigen Artefakte zu sehen bekäme, noch erfahren würde, was wir wissen. Wenn wir herausfinden, wo die Schriftrolle ist, endet die Rolle dieser Frau.«
In Barmonias Augen war Interesse aufgeflackert. »Sie wird uns nicht verraten, was die Knochen sagen, es sei denn, wir nehmen sie mit.«
»Sie ist klug. Aber dennoch, sobald wir die Schriftrolle erst einmal haben, brauchen wir ihr nichts zu geben - gewiss keinen Anteil am Ruhm.« Kereon lächelte. »Denkt ihr wirklich, irgendjemand würde glauben, sie habe etwas mit der Auffindung der Schriftrolle zu tun, abgesehen davon, dass sie vielleicht für uns gekocht hat?«
Barmonia lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Nein. Also gut. Holt sie her.«
Kereon sah Ray an. »Sie wird Verdacht schöpfen, wenn ein anderer an sie herantritt als du.«
Ray nickte. »Ich werde sie finden. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass ich sie überreden kann, sich uns anzuschließen, nach dem, wie ihr sie neulich behandelt habt, aber ich werde es versuchen.« Er musterte Barmonia mit schmalen Augen. »Du wirst es am schwersten haben.«
»Es wird nicht leicht sein, mit ihr fertigzuwerden«, bekräftigte Yathyir nickend.
»Nein«, erwiderte Ray. »Und es wird dir gewiss schwerfallen, dich daran zu erinnern, wie man sich benimmt.«
Während die anderen das Gesicht verzogen oder die Augen verdrehten, dachte Ray darüber nach, wie er Emmea überreden könnte, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er machte sich keine Illusionen, dass die anderen nicht einmal versuchen würden, höflich zu sein. Wenn die Frau ihnen über einen gewissen Zeitraum hinweg helfen sollte, würde sie einen Freund brauchen, der mit ihr fühlte.
Oder mehr als einen Freund, überlegte er. Ich bin davon überzeugt, dass sie neulich mit mir geflirtet hat, obwohl sie es wahrscheinlich nur getan hat, um meine Unterstützung zu gewinnen. Sie ist nicht mehr jung, aber sie ist trotz ihres Alters immer noch attraktiv. Außerdem heißt es, von älteren Frauen könne man sehr viel lernen…
Die Nachricht hatte sich verbreitet wie ein kühler Wind; sie war durch Flure und Hallen bis in den letzten Winkel des Sanktuariums vorgedrungen. Seither waren Götterdiener und Domestiken gleichermaßen gefangen in einem Rausch von Erregung und Entsetzen.
Auraya ist hier!, flüsterten sie. Nekaun hat eine ehemalige Weiße in das Sanktuarium gebracht! Diejenige, die fliegen kann! Diejenige, die Kuar getötet hat!
Zwischen der Begegnung mit einem Händler, der gegen die Einschränkungen für seine Einfuhrwaren protestiert hatte, und dem Vetter des neuen dekkarenischen Hohen Häuptlings, der eine großzügige Spende seiner Familie brachte, hatte Kikarn Reivan von den Neuigkeiten erzählt. Reivan hatte zuerst an Imenja gedacht. Ihre Herrin hatte der ehemaligen Ersten Stimme großen Respekt entgegengebracht und seinen Tod betrauert. Was würde sie denken, wenn Kuars Mörderin jetzt ungehindert im Sanktuarium umherstreifte?
Reivan rechnete halb damit, dass sie vor Imenja erscheinen musste, aber bis zum Abend kam kein Gedankenruf durch den Anhänger. Während sie ihre Arbeit fortsetzte, fragte sie sich immer wieder, ob sie Auraya auf ihrem Weg zu Imenja begegnen würde. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Als sie all ihre Aufgaben erfüllt hatte, fürchtete sie den Augenblick, da sie in das Obere Sanktuarium hinaufgehen musste. Der Weg erschien ihr länger als gewöhnlich, aber sie begegnete nur anderen Götterdienern, und die Bruchstücke der Gespräche, die sie mitbekam, weckten quälende Neugier in ihr.
Sie fand Imenja in düsterer Stimmung vor.
»Du hast also schon von unserem besonderen Gast gehört«, sagte ihre Herrin, sobald sie Reivan sah, und erhob sich von ihrem Platz, von dem aus sie die Lichter der Stadt betrachtet hatte. »Ich nehme an, die Neuigkeit hat sich inzwischen in der ganzen Stadt verbreitet. Nekaun hat beschlossen, den Gastgeber für den Feind zu spielen.«
»Sie gehört nicht mehr zu den Weißen«, rief Reivan ihr ins Gedächtnis.
»Nein. Aber sie ist immer noch eine zirklische Priesterin.«
Während sie an die andere Seite des Fensters trat, blickte Reivan Imenja forschend an. »Hat Nekaun die Hoffnung, etwas an diesem Umstand ändern zu können?«
Imenja zog die Brauen zusammen. »Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen.«
Reivan runzelte die Stirn. »Wie hat er sie dazu gebracht… ah, die Siyee.«
»Ja. Er hat versprochen, einen Siyee für jeden Tag freizulassen, den sie hierbleibt.«
»Sonst nichts?«
»Ich nehme an, er hätte damit drohen können, die Siyee zu foltern oder zu töten«, murmelte Imenja. »Aber selbst er hat genug Verstand, um zu begreifen, dass ein solches Vorgehen Auraya kaum dazu bewegt hätte, sich uns anzuschließen.«
»Ich meinte: Er hat nicht mehr von ihr verlangt, als hierzubleiben?«
Imenjas Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »So ist es. Ich bezweifle, dass sie sich als Gegenleistung für die Befreiung der Siyee bereitfinden würde, sich uns anzuschließen. Nein, er wird sie umgarnen müssen, und sie weiß es. Seine größte Herausforderung. Eine Verführung, die seiner würdig….« Sie hielt inne und verzog entschuldigend das Gesicht. »Es tut mir leid. Diese Worte waren schlecht gewählt.«
Reivan wandte den Blick ab und versuchte, das unbehagliche Gefühl, das sie ergriffen hatte, beiseitezuschieben. Sie hatte in der vergangenen Nacht auf einen Besuch Nekauns gehofft, jetzt, da er endlich zurückgekehrt war, aber ihr Bett war leer geblieben.
Es war nur eine einzige Nacht, sagte sie sich.
Er war damit beschäftigt, seine Verführung Aurayas zu planen, fügte eine düstere Stimme tief in ihren Gedanken hinzu.
»Heute Abend wird ein großes Festmahl für sie veranstaltet. Wir sind nicht eingeladen. Er möchte sie nicht mit mächtigen Zauberern umgeben, damit sie sich nicht bedroht fühlt.«
»Ich nehme an, du wirst sie über kurz oder lang kennenlernen.«
Imenja nickte, dann schärfte sich ihr Blick plötzlich. Sie zeigte aus dem Fenster. »Da ist sie.«
Reivan drehte sich um und sah in die Richtung, in die Imenja gedeutet hatte. Eine Bewegung in einem Innenhof einige Stockwerke weiter unten erregte ihre Aufmerksamkeit. Zwei Personen gingen über das Pflaster und blieben im Lichtschein einer Lampe stehen: ein Mann in schwarzen Roben und eine Frau in den weißen Gewändern einer zirklischen Priesterin. Unter dem fremdartigen Überwurf trug sie eine kurze Tunika.
Und Hosen, bemerkte Reivan. Wie seltsam.
Die beiden gingen zum Springbrunnen hinüber. Es war der Brunnen, in dem sich Imi, die Elai-Prinzessin, während ihres Aufenthalts erholt hatte. Als Auraya sich umdrehte, um die Statue näher in Augenschein zu nehmen, konnte Reivan ihr Gesicht deutlich sehen. Mutlosigkeit stieg in ihr auf.
Selbst von hier aus ist sie schön und exotisch. Widerstrebend zwang sie sich, die Botschaften zu deuten, die Nekauns Haltung aussandte. In ihren Gedanken flammte das Wort »Verführung« wieder auf. Vielleicht war das intensive Interesse an Auraya, das Reivan bei ihm wahrnahm, nur gespielt, aber wenn es so war, war seine Darbietung recht überzeugend.
Zu überzeugend?
Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die praktischeren Aspekte des Ganzen.
»Was wird geschehen, wenn er Erfolg bei seinem Versuch hat, sie zu verführen? Werden wir wieder in den Krieg ziehen?«
Imenja stieß einen kehligen Laut aus. »Ich hoffe nicht.«
»Es ist möglich«, murmelte Reivan. »Oder es geht ihm einfach darum, die Weißen um einen Vorteil zu bringen, den sie uns gegenüber haben.«
»Und den Spieß umzudrehen.« Imenja blickte nachdenklich drein.
»Nur für den Fall, dass die Weißen eine Invasion vorbereiten.« Sie hielt inne und sah Imenja an. »Tun sie das?«
»Ich hätte diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen, wäre da nicht der Angriff der Siyee auf Klaff gewesen. Wenn sie sich mit der Absicht trügen, einen Krieg gegen uns zu führen, würde es Sinn ergeben, die Vögel zu töten.« Imenja verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Siyee glauben, ihr Angriff sei eine Vergeltungsmaßnahme gewesen.«
»Wofür?«
»Für eine gescheiterte Verschwörung. Es war nicht meine Verschwörung.«
Der wachsame Tonfall in Imenjas Stimme entlockte Reivan ein Lächeln. Offensichtlich war diese Verschwörung ein weiteres Thema, das ihre Herrin nicht zu erörtern wünschte. Sie blickte abermals in den Innenhof hinab. Auraya deutete auf das Becken. Plötzlich sprang etwas aus der Tasche der Frau auf den Rand des Beckens.
Es war irgendein Tier, und es war klein und flink. Nachdem es aus dem Becken getrunken hatte, huschte es um den Springbrunnen herum, bevor es sich auf eine Geste von Auraya hin widerstrebend wieder in ihren Beutel sinken ließ.
Eine Bemerkung eines Götterdieners in dem Kloster, in dem sie aufgewachsen war, kam ihr in den Sinn. »Die Art, wie ein Mensch Tiere behandelt und wie sie ihn behandeln, sagt eine Menge über seinen Charakter.«
Inzwischen waren Auraya und Nekaun aus ihrem Blickfeld verschwunden, und Reivan seufzte. Wenn es Nekaun tatsächlich gelang, Auraya zu »verführen«, würde sie dann hier in Glymma bleiben? Wenn ja, wäre sie den meisten Pentadrianern nicht willkommen. Immerhin hatte sie den Schlag geführt, der Kuar getötet und den Zirklern zum Sieg verholfen hatte. Sie würde hier keine Freunde finden.
Imenja trat abrupt vom Fenster weg. »Wenn ich sie kennenlerne, möchte ich, dass du für mich übersetzt.«
Reivan folgte ihrer Herrin zu den Sesseln.
»Ich werde da sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich auf diese Begegnung freue, aber es wird gewiss interessant werden.«
Ein schwaches Lächeln umspielte Imenjas Lippen.
»Ja, aber interessant bedeutet nicht immer angenehm.«
Emerahl näherte sich langsam der Bibliothekstür und konzentrierte sich auf das, was dahinter lag. Sie spürte nur eine Handvoll Geister auf der anderen Seite. Einige waren dunkel von Ärger und Skepsis, andere neugierig. Einer war ein wenig vertrauter als die übrigen und voller Erwartung.
Ray, vermute ich.
Er hatte sie auf dem Markt abgefangen, wobei er ihre Verlegenheit darüber, beim Verkauf von Heilmitteln ertappt zu werden, anscheinend nicht bemerkt hatte. Stattdessen hatte er sie eingeladen, so bald wie möglich noch einmal zu den Denkern zu kommen. Sie hatten eine Zeit für diesen Nachmittag ausgemacht, und sie war in ihr Zimmer zurückgekehrt, um ihren Beutel mit Heilmitteln abzulegen und die gefälschte Schriftrolle zu holen.
Jetzt legte sie eine Hand auf den Türgriff, drehte ihn und spürte, wie der Riegel beiseiteglitt. Die Tür schwang mühelos nach innen auf. Sie trat in die Bibliothek und zog die Tür hinter sich zu.
Der Bibliothekar beäugte sie argwöhnisch; er saß noch immer an demselben Stapel mit Schriftrollen, die er bei ihrem letzten Besuch katalogisiert hatte. Sie beachtete ihn nicht weiter und ging zum anderen Ende des Raums. Dieselben fünf Männer wie beim letzten Mal saßen in derselben Haltung dort.
Beinahe so, als wäre ich gar nicht fort gewesen, überlegte sie. Nur dass sie mich diesmal nicht ignorieren.
Ray erhob sich und lächelte. »Sei mir gegrüßt. Danke, dass du noch einmal zurückgekommen bist. Hier«, er deutete auf einen freien Stuhl. »Bitte setz dich.«
Sie nahm auf dem Stuhl Platz und sah die Männer um sie herum an.
»Dies ist Emmea Sternensucher, für den Fall, dass ihr ihren Namen beim letzten Mal nicht mitbekommen habt«, sagte Ray zu den anderen Männern. Dann deutete er nacheinander auf jeden seiner Gefährten, beginnend mit dem hochgewachsenen Mann. »Das ist Barmonia Zehntmeister, unser Anführer und Sachverständiger, was Geschichte und alte Sprachen betrifft. Dies ist Mikmer Gesetzmacher, ein weiterer Historiker. Kereon Kelchmann, Entdecker und Sammler von Artefakten, und Yathyir Gold, der ein einmaliges Gedächtnis für Fakten hat.« Dann legte er eine Hand auf seine Brust. »Ich bin Raynora Vorn, und ich habe viel Zeit auf das Studium toter Götter und ihrer Anhänger verwandt.«
Sie tat ihr Bestes, beeindruckt dreinzublicken. »Bei solchen Qualifikationen würde es mich überraschen, wenn keiner von euch mir bei dieser Schriftrolle helfen könnte.« Sie hielt ihr Kästchen hoch.
»Nun, dann zeig sie uns«, sagte Barmonia und streckte die Hände aus.
Als sie ihm das Kästchen übergab, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Obwohl die Zwillinge sie bei der Herstellung der Schriftrolle angeleitet hatten, hatten sie sie doch nicht mit eigenen Augen gesehen. Auf Emerahl machte sie einen durchaus überzeugenden Eindruck, aber diese Männer waren Experten.
Barmonia öffnete das Kästchen und entnahm vorsichtig die Pergamentrolle. Er rollte sie auf, und ein feiner Staub wehte heraus. Er zog die Brauen hoch, dann ließ er den Blick aufmerksam über die Glyphen gleiten.
Plötzlich stand er auf und trat an einen Tisch. Dort beschwerte er die Ecken der Schriftrolle und rollte sie vorsichtig weiter auf. Als die anderen Männer sich erhoben und zu ihm hinübergingen, um ihn zu beobachten, folgte Emerahl ihnen.
»Das bedeutet ›Priester‹«, sagte Barmonia und zeigte auf eine Glyphe. »Und dies heißt ›bevorzugt‹ oder ›besonders‹.« Er hielt inne.
»Hier steht: ›… die Göttin hat ihrem bevorzugten Priester befohlen, ihre Worte auf eine Schriftrolle zu schreiben…‹«, erklärte Emerahl ihm.
Angespanntes Schweigen folgte, dann stieß Barmonia einen tiefen Seufzer aus. »Du kannst das lesen?«
»Ja. Manches verstehe ich allerdings nicht. Was bedeutet ›Atemopfer‹?«
Barmonia lächelte. »Es bedeutet, dass man seinen letzten Atemzug der Göttin opfert. Was eine von verschiedenen Möglichkeiten ist, wie ein Mensch seine Gefolgschaft offenbart in der Hoffnung, dass ein Gott oder eine Göttin seine Seele aufnehmen wird, wenn er stirbt.«
Emerahl nickte. »Ich verstehe. Ich hatte mir schon ein wenig Sorgen gemacht, es könnte von einer freiwilligen Strangulation oder etwas Ähnlichem die Rede sein.«
»Wenn es um historische Belange geht, läuft ein Laie nur allzu leicht Gefahr, sich seiner Phantasie zu überlassen, so dass die Wahrheit dahinter verschwindet. Das gilt besonders für junge Frauen.«
Emerahl hielt seinem Blick ungerührt stand. Das Gesicht des Mannes rötete sich. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
»Wir sind alle sehr beeindruckt, Emmea«, sagte Ray. »Würdest du uns die ganze Schriftrolle vorlesen?«
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pergament zu und trat näher an Barmonia heran. Angeblich handelte es sich um das Bruchstück eines Berichts der Priester der Göttin Sorli, und den Zwillingen zufolge waren alle enthaltenen Informationen korrekt. Nachdem sie den Männern den Text vorgelesen hatte, herrschte für eine Weile nachdenkliches Schweigen.
»Nun denn, was können wir ihr sonst noch zu lesen geben?«, fragte Ray.
Barmonia seufzte. »Hol die Knochen her.«
»Knochen?«, wiederholte Emerahl.
Ray lächelte, gab ihr jedoch keine Antwort. Sie beobachtete, wie Kereon und Mikmer durch eine Tür verschwanden und kurze Zeit später zurückkehrten. Sie trugen gemeinsam eine lange, schwere Kiste, die sie auf den Tisch stellten. Barmonia hob den Deckel an.
Emerahl brauchte kein Erstaunen zu heucheln. In der Kiste befand sich ein Skelett. Die Zwillinge hatte ihr erzählt, dass die Denker glaubten, »ein Haufen alter Knochen« könne von großer Bedeutung sein. Aber sie verstanden nicht, worin diese Bedeutung lag, da die Denker selbst es nicht verstanden.
Die Knochen waren bedeckt mit Schriftzeichen. Als Ray einen davon herausnahm und ihn ihr reichte, sah sie, dass die Glyphen in die Oberfläche geritzt und dann schwarz angemalt worden waren. Sie betrachtete sie voller Staunen.
»Wo habt ihr dieses Skelett gefunden?«
»Wir haben es in einem alten Tempel ausgegraben«, erwiderte Kereon leichthin. »Dieser Mann muss sehr wichtig gewesen sein.«
Sie blickte auf die Kiste hinab, las den Rest der Schriftzeichen und nickte. »Das war er allerdings. Es handelt sich um den letzten bevorzugten Priester der Göttin Sorli.«
Und die Glyphen bestätigten die Existenz der Schriftrolle und gaben den Ort preis, an dem sie zu finden war… Aber Letzteres würde Emerahl den Männern nicht verraten.
»Lies«, sagte Barmonia leise.
»Die Glyphen auf dem Schädel besagen: ›Ich bin der bevorzugte Priester der Göttin Sorli.‹ Auf dem rechten Arm steht: ›Mir sind die Geheimnisse der Götter anvertraut.‹ Es ist nicht von ›einem Gott‹ die Rede, sondern von Göttern im Plural. Auf dem linken Arm steht: ›Sucht die Wahrheit in der geheiligten Kammer, wenn die Götter besonders…‹ hm, ›besonders beschäftigt sind‹ wäre wohl die Übersetzung, die dem Text am nächsten kommt.« Sie kicherte. »Ein Rätsel. Ich liebe Rätsel. Auf dem Bein steht: ›Sorli wird euch den Weg weisen. Ein Sterblicher mag eintreten und die Geheimnisse mit sich nehmen.‹« Sie hielt inne.
Ein Sterblicher mag eintreten und die Geheimnisse mit sich nehmen? Bedeutet das, dass ein Unsterblicher es nicht kann? An welchen Ort kann ein Sterblicher gehen, zu dem ein Unsterblicher keinen Zutritt hat?
»Ist das alles?«, fragte Barmonia.
»Nein, es stehen auch Schriftzeichen auf den Rippen. Liegen die einzelnen Rippen in der richtigen Reihenfolge?«
Die Männer tauschten einen entsetzten Blick. Keiner von ihnen verstand besonders viel von Anatomie, das wusste sie.
»Was besagen sie? Vielleicht können wir die richtige Reihenfolge erarbeiten.«
Sie gab ihnen gerade genug Informationen, um den Ort zu beschreiben, der auf den Rippen genannt wurde, hielt jedoch die Hinweise zurück, wie man ihn finden konnte. »Wenn man sie so ordnet«, sie veränderte die Position einiger Rippen, »steht hier: ›Herz spricht mehr‹. Ich vermute, das bedeutet, dass es in dieser ›geheiligten Kammer‹ weitere Anweisungen gibt.«
Barmonia zog die Brauen zusammen, aber sie spürte, dass er zufrieden war.
»Dann werden wir dich einfach dorthin mitnehmen müssen«, sagte er.
Sie sah ihn mit schmalen Augen an und heuchelte Erschrecken und Argwohn.
»Wohin wollt ihr mich mitnehmen?«
»In die berühmte Stadt Sorlina.«
Der Plattan-Fahrer und sein Gehilfe eilten umher, bauten die Zelte auf und machten ein Feuer. Die Dunweger fühlten sich im Freien ebenso wohl wie in ihren Festungen, und selbst die mächtigsten und reichsten Clanführer schliefen mit Freuden während langer Reisen draußen. Entlang jeder Straße fanden sich Lagerplätze. Wenn es keinen Fluss gab, gab es immer einen Brunnen. Die Lagerplätze waren mit Feuerstellen verschiedener Größen und mit Feuerholz versehen, und an manchen Stellen waren Gebilde errichtet worden, in denen man seinen Körper ertüchtigen und sich in den Kampfkünsten üben konnte.
Ein anderer Vorteil des Lagerns im Freien war der, dass die Identität eines Reisenden wahrscheinlich eher verborgen blieb, als wenn er oder sie in einer Festung abstieg. Ella hatte in einigen Forts, die sie besucht hatten, um Essen zu kaufen, Spione gefunden. Obwohl diese Spione sie nicht erkannt hatten, hatten sie doch von ihrer Ankunft in Chon und ihrer späteren Abreise gehört und die Anweisung bekommen, nach ihr Ausschau zu halten, für den Fall, dass sie nicht nach Jarime zurückgekehrt war, wie I-Portak behauptete.
Danjin und Ella saßen auf Holzkisten in der Nähe des Feuers, auf mehrmals zusammengefalteten Decken, die ihnen als Kissen dienten. Gillen war noch im Plattan; er hatte bei ihrer Ankunft geschlafen, und Ella hatte ihn nicht wecken wollen. Yem suchte einige der Kochwerkzeuge und Vorräte zusammen.
Das Kochen zählte zu den vielen unerwarteten Talenten des Kriegers, und er sagte, das einfachste Gericht, das man auf Reisen zubereiten konnte, werde »Coopa« genannt: Verschiedene Zutaten wurden in Gewürzen und Wasser gekocht, zu dem man trockenes Brot hinzugab, um eine Soße zu erhalten. Am vergangenen Abend war Yem in einem Wald verschwunden und mit einem großen Vogel zurückgekehrt, aus dessen Brust ein Pfeil ragte. Er hatte die Federn behalten und irgendwo in dem Plattan verstaut.
Jetzt trug er einen großen Topf, einige Wurzelgemüse und ein Päckchen zu dem frisch geschürten Feuer. Danjin sah zu, wie der Krieger die Zutaten hackte und in den Topf gab. Von Zeit zu Zeit erhob er sich, um Wasser oder Blätter von den Pflanzen in der Nähe des Lagers zu holen. Der Geruch des blubbernden Gebräus wurde immer appetitlicher. Dann wickelte Yem das Päckchen aus.
Zuerst schnappte Danjin entsetzt nach Luft. Im Dunkeln sahen die Dinge, die in dem Päckchen zum Vorschein kamen, wie geschwollene Finger aus. Aber als Yem sich daranmachte, sie aufzuschneiden, wurde Danjin klar, dass das ein Irrtum sein musste. Es handelte sich um irgendeine Art von vollgestopften Schläuchen. Yem blickte zu Danjin auf und lächelte.
»Sie werden aus den Gedärmen von Shem gemacht«, erklärte Yem. »Man wäscht sie aus und füllt sie mit Fleisch und Gewürzen. Diese hier sind mit einem sehr seltenen Gewürz zubereitet. Demjenigen, das der Spion in Chon verkauft.«
Danjin nickte und beobachtete zweifelnd, wie der Krieger die in Scheiben geschnittenen Schläuche in den Topf gab. Die Mischung köchelte sanft vor sich hin und verbreitete einen würzigen Duft. Danjin begann der Magen zu knurren.
»Wie lange sind wir schon hier?«, erklang eine verschlafene Stimme. Sie drehten sich zu Gillen um, der soeben aus dem Plattan stieg. Er besah sich die inzwischen aufgestellten Zelte und zog die Augenbrauen hoch. »So lange? Ihr hättet mich wecken sollen.«
»Du hast den Schlaf offensichtlich gebraucht«, erwiderte Ella.
Der Mann verzog das Gesicht. »Ja. Erzähl das keinem Dunweger, sonst werde ich hier nie wieder etwas verhandeln können, aber ich konnte noch nie Gefallen daran finden, auf hartem Boden zu schlafen«, sagte er leise auf Hanianisch. Dann ging er zu dem Feuer hinüber und holte tief Luft. »Wie ich sehe, steht uns heute Abend ein Leckerbissen bevor«, fügte er auf Dunwegisch hinzu. »Oder genauer gesagt, eine ganz besondere Etappe auf der exquisiten kulinarischen Reise, die wir unternehmen.«
Yem blickte grinsend auf. »Es wäre eine Schande, wenn unsere Besucher Dunwegen verlassen würden, nachdem sie ihre Zeit hier mit nichts anderem verbracht haben, als auf hartem Boden zu schlafen und hinter umherschweifenden Dienern herzujagen.«
Gillen errötete. Danjin kicherte, als der Botschafter sich hinsetzte und seufzte. »Mein Geheimnis ist heraus. Ich bin unwürdig«, jammerte er. Yem lächelte und sagte nichts mehr, während er weiter im Topf rührte.
Als Danjin zu Ella hinübersah, bemerkte er den geistesabwesenden Ausdruck in ihren Augen. Ihre Stirn war gefurcht, und sie hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Wem auch immer sie lauschte, weckte in ihr sowohl Sorge als auch Ärger.
Der Diener, dem sie folgten, befand sich eine halbe Tagesreise von ihnen entfernt in östlicher Richtung und näherte sich jetzt der Südwestküste von Dunwegen. Er hatte keine Ahnung, ob er seinem Ziel nahe war, und diejenigen, die ihm unterwegs geholfen hatten, waren nicht besser informiert. Wenn er die Küste erreichte, würde er sich nach Osten oder nach Westen wenden müssen. Oder er würde Dunwegen verlassen müssen. Letzteres bereitete Ella weniger Kopfzerbrechen als die Möglichkeit, dass es in Dunwegen einen pentadrianischen Stützpunkt geben könnte.
Sie waren inzwischen alle daran gewöhnt, dass sie bisweilen über einen längeren Zeitraum schwieg. Danjin wandte seine Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern zu, und sie erzählten von Orten, die sie gesehen hatten, und von ihren Erfahrungen im Krieg. Schließlich befand Yem, dass seine »Coopa« fertig sei, und füllte ihre Schalen. Selbst die Diener bekamen ihren Anteil, trotz der teuren Fleischschläuche, die das Essen enthielt.
Das Gewürz hatte dem ganzen Gericht sein besonderes Aroma und eine Schärfe verliehen, die in Danjins Mund ein angenehmes Brennen auslöste. Das Fleisch war für seinen Geschmack jedoch ein wenig zu würzig. Und sehr salzig.
Nachdem sie gegessen hatten, tranken sie ein wenig Fwa und setzten ihr Gespräch fort. Ella löste sich von den Dingen, mit denen sie sich in den vergangenen Minuten beschäftigt hatte, und schaltete sich in das Gespräch ein. Schließlich war Gillens Gähnen nicht länger zu übersehen, und sie schlug vor, dass sie alle zu Bett gehen sollten.
Danjin erhob sich, aber Ella legte eine Hand auf seinen Arm.
»Bleib noch ein Weilchen. Ich muss mit dir reden.«
Er setzte sich wieder.
Sie lächelte und blickte zum Himmel empor. »Sieh dir die Sterne an. Sind sie hier heller als in Jarime?«
»Man hat mir einmal erzählt, dass all die Lampen und Lichter Jarimes die Sterne fahler wirken ließen.«
»Ich habe vor dieser Reise noch nie im Freien geschlafen. Es ist angenehm, obwohl ich mir vorstellen kann, dass es weit weniger angenehm wäre, wenn es regnete oder kalt wäre.«
»Das ist wahr«, pflichtete er ihr bei und dachte an einige unbequeme Nächte in seiner Jugend und während des Marsches gegen die Pentadrianer.
»Die Siyee leben ständig in Zelten, nicht wahr?«
Danjin nickte. »Sie sind natürlich größer und widerstandsfähiger als diese hier. Die Siyee nennen sie Lauben.«
»Lauben«, wiederholte sie und sah zu den Zelten von Yem, Gillen und den Dienern hinüber. »Gut«, murmelte sie. »Sie schlafen.«
»Das ging aber schnell«, erwiderte Danjin leise. »Offensichtlich macht der harte Boden Gillen weniger aus, als er behauptet.«
Sie lächelte, aber dann wurde ihre Miene schnell wieder ernst. »Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich, Danjin. Auraya hat sich den Pentadrianern angeschlossen.«
Er blinzelte und starrte sie erschrocken an. »Nein«, stieß er hervor. »Das hätte sie niemals getan. Nicht freiwillig.«
»Sie hat es getan, auch wenn ich nicht weiß, zu welchen Bedingungen.«
Danjin wandte den Blick ab. Auraya und die Pentadrianer. Es war unmöglich. Sie hegte den gleichen Groll gegen sie wie alle Zirkler, weil sie es gewagt hatten, ihr Land anzugreifen, und weil sie so viele Menschen getötet hatten - insbesondere Siyee.
Es musste einen Grund geben…
»Die Götter müssen sie dazu aufgefordert haben«, schlussfolgerte er laut. »Sie würde sich niemals gegen sie wenden.«
Ella lächelte. »Deine Treue ist deine Stärke und deine Schwäche, Danjin. Hast du dasselbe Vertrauen in mich?«
Er sah ihr in die Augen und nickte. »Natürlich.«
»Aber in Aurayas Fall ist dein Vertrauen irregeleitet. Sie hat den Göttern schon einmal den Gehorsam versagt.«
Er wandte den Blick ab. »Ich weiß, du sprichst von ihrem Rücktritt. Ich akzeptiere, dass es Einzelheiten gibt, von denen ich nichts weiß. Dass du das Risiko nicht eingehen kannst, mir mehr zu erzählen.«
»Ein Risiko? Nein. Ich habe nicht mit dir darüber gesprochen, weil ich dich nicht enttäuschen wollte«, sagte sie sanft. »Ich konnte sehen, dass du für sie ähnlich empfindest wie für deine Töchter, dass du sie mit Stolz und Zuneigung betrachtest. Jedes Unrecht, das sie tut, würde dich verletzen.« Sie seufzte und richtete sich auf. »Aber es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wenn sie sich wirklich mit den Pentadrianern verbündet hat, könnte sie deine Ergebenheit ausnutzen.«
Ein Stich der Furcht durchzuckte ihn, dann musste er über die Ironie des Ganzen lächeln. Jetzt, da er endlich erfahren würde, was Auraya getan hatte, wollte er es nicht länger wissen. Ella hatte jedoch nicht die Absicht, Erbarmen zu zeigen.
»Du weißt von ihrer Affäre mit dem Traumweber Leiard«, begann sie. »Was du nicht weißt, ist, dass er nicht derjenige ist, der zu sein er behauptet hat.«
Er runzelte die Stirn. »Wer ist er dann?«
»Mirar.«
Er sah sie lange an in der festen Erwartung, dass sie lächeln und zugeben würde, dass es ein Scherz gewesen war. Aber sie tat nichts dergleichen. Sie erwiderte seinen Blick mit grimmiger Entschlossenheit.
»Aber… das ist nicht möglich«, sagte er schließlich. »Juran hätte ihn erkannt!«
Sie verzog das Gesicht. »Irgendwie hat er seine wahre Identität bis zu dem Punkt unterdrückt, an dem weder er selbst noch die Götter sich dessen bewusst waren. Aber als er seine wahre Persönlichkeit wiederfand, waren die Götter in der Lage, ihn zu erkennen. Juran sagt, seine Erinnerung an Mirar sei verblasst, und Leiard sah tatsächlich ganz anders aus.«
»Ich bezweifle, dass die Götter allzu glücklich über diese Wendung der Ereignisse waren.«
»Nein. Sie haben Auraya den Befehl gegeben, ihn zu töten.«
Danjin sog scharf die Luft ein und starrte sie entsetzt an. »Und sie konnte es nicht tun.«
»Nein.«
»Also haben sie sie aus dem Kreis der Weißen ausgestoßen.«
»Nein. Sie ist zurückgetreten. Sie hatte vollkommen zu Recht den Schluss gezogen, dass die Unfähigkeit, den Göttern zu gehorchen, eine Schwäche ist, die kein Weißer haben sollte.«
Er zuckte zusammen. »Sie konnten nicht von ihr erwarten, dass sie jemanden tötete, den sie liebte. Hätte das nicht ein anderer tun können?«
»Er ist nicht der Mann, den sie geliebt hat. Er ist Mirar. Und er war in Si. Kein anderer Weißer hätte ihn so schnell erreichen können wie Auraya.«
»Oh.« Ich wette, dass sie an diesem Tag ihre Fähigkeit zu fliegen verflucht hat, ging es ihm durch den Kopf.
»Leiard war eine temporäre Persönlichkeit, hinter der Mirar sich versteckt hat. Sie hätte nicht ihren ehemaligen Geliebten getötet, und das wusste sie.«
Danjin seufzte. »Ich bin davon überzeugt, dass sie es wusste. Trotzdem wäre es mir nicht leichtgefallen, das Abbild eines Menschen zu töten, den ich einmal geliebt habe.«
»Niemand erwartet, dass das Leben eines Weißen leicht ist.«
Er nickte. Sie hatte recht, aber es fiel ihm schwer, ihr unbarmherziges Urteil zu akzeptieren. Gewiss war sie zu hart gegen Auraya. Aber wie konnte sie Mitgefühl mit Auraya empfinden, wenn sie selbst niemals vor einem solchen Dilemma gestanden hatte?
Wie kommt es dann, dass ich Mitgefühl mit ihr habe? Hat Ella recht? Bin ich in meiner Treue zu blind?
Er seufzte. »Also ist sie nach Si zurückgekehrt…« Als ihm klar wurde, was das möglicherweise bedeutete, runzelte er die Stirn. »War Mirar noch dort?«
»Nein. Er war nach Südithania geflohen, wo die Pentadrianer ihn mit offenen Armen willkommen geheißen haben.«
Die Pentadrianer. Und jetzt war Auraya ebenfalls dort. Danjin ließ mutlos die Schultern sinken. »Ist sie jetzt Mirars Geliebte?«, brachte er mit einiger Mühe heraus.
»Das glaube ich nicht.«
»Also hat der Umstand, dass sie sich den Pentadrianern angeschlossen hat, nichts mit ihm zu tun?«, fragte er hoffnungsvoll.
Ella wandte den Blick ab und runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Aber da ist noch etwas, das du wissen solltest. Auraya ist vor einigen Monaten einer rätselhaften Frau begegnet. Wir glauben, sie war eine Wilde und hat Auraya verbotene Gaben gelehrt. Die Fähigkeit, ihren Geist vor den Göttern abzuschirmen… und vielleicht das Geheimnis der Unsterblichkeit.«
»Auraya ist eine Wilde?«
»Möglicherweise.«
Er schüttelte den Kopf. »Das macht sie also zu einer Feindin der Götter?«
Ella sah ihn kurz an, dann wandte sie sich wieder ab. »Nein.«
Sie gab keine näheren Erklärungen, und Danjin fand es eigenartig, dass seine Frage ihr so offenkundig unangenehm war. Vielleicht lag es nur daran, dass sie keine Antwort darauf hatte.
Danjin dachte über alles nach, was er erfahren hatte. Die Götter hatten Auraya nicht zurückgewiesen. Ella hatte gesagt, dass Auraya möglicherweise eine Wilde sei. Vielleicht bedeutete der Umstand, dass die Götter sie akzeptierten, dass es sich nicht so verhielt.
Oder vielleicht bekümmert sie die Existenz unsterblicher Zauberer nicht, solange diese Zauberer ihnen huldigen.
Ella drehte sich wieder zu ihm um. »Sobald du die Überraschung über diese Offenbarungen überwunden hast, wirst du eins erkennen: Wenn die Pentadrianer jetzt eine Wilde auf ihrer Seite haben, werden sie beträchtlich stärker sein als zuvor. Halte dir ferner vor Augen, was Auraya über die Stärken und Schwächen der Zirkler weiß, und du wirst feststellen, dass der Gedanke an zukünftige Konflikte überaus erschreckend ist.«
»Ja«, stimmte Danjin ihr zu.
»Sie kennt uns zu gut, aber du kennst sie besser als irgendjemand sonst. Ich möchte, dass du genau überlegst, auf welche Weise sie ihr Wissen gegen uns benutzen könnte und wie wir unser Wissen über Auraya gegen die ehemalige Weiße einsetzen können.«
Er nickte. »Das werde ich tun. Ich könnte durchaus etwas gebrauchen, worüber ich während dieser Reise nachdenken kann.«
Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Die Vorstellung, eine Verschwörung gegen Auraya zu planen, bekümmert dich nicht weiter?«
Er lächelte. »Ein weiterer Vorzug meiner Ergebenheit. Es macht mir nichts aus, mir ein Bündnis zwischen Auraya und den Pentadrianern vorzustellen, weil ich nicht daran glaube.«
Ella schüttelte den Kopf. »Wenn dir das hilft, will ich dir nicht noch mehr Illusionen über Auraya rauben.« Sie erhob sich. »Gute Nacht, Danjin Speer.«
»Gute Nacht.«
Eine weiche Matratze bedeutete ein Bett, und ein Bett bedeutete, dass Auraya in ihrem Zimmer im Turm war … Aber das konnte nicht wahr sein.
Auraya öffnete die Augen und stöhnte, als ihr alles wieder einfiel: der gescheiterte Angriff der Siyee auf die pentadrianischen Vögel, ihre Übereinkunft mit Nekaun, die Tatsache, dass sie sich im Sanktuarium befand, der Trutzburg des Feindes. Sie war sofort hellwach, und ihre Gedanken wanderten unverzüglich zu dem vor ihr liegenden Tag und den Dingen, die baldmöglichst geschehen mussten.
Ich habe jetzt fast eine Nacht und einen Tag hier verbracht. Wenn Nekaun sein Wort hält, wird er heute einen weiteren Siyee freilassen.
Und wenn er es nicht tut?
Dann würde sie fortgehen - wenn sie konnte - und versuchen, eine Möglichkeit zu finden, die Siyee zu befreien.
Als sie aus dem Bett stieg, hörte sie einen leisen, schläfrigen Laut des Protests. Sie blickte hinab und stellte fest, dass Unfug blinzelnd zu ihr aufsah. Er reckte sich mit bebendem Schwanz.
Einige Diener hatten ihr am Tag zuvor einen Berg Kleider gebracht. Sie hatte zum Schlafen ein schlichtes Hemd gewählt und dann ihren Zirk, die Hosen und die ärmellose Tunika, in denen sie angekommen war, gereinigt. Jetzt schlüpfte sie wieder in ihre Priesterinnengewänder und trat ans Fenster.
Von dort aus hatte man einen prächtigen Blick auf die Stadt und die Dächer und Innenhöfe des Sanktuariums. Die Räume, die man ihr gegeben hatte, waren wahrscheinlich der Beherbergung wichtiger Gäste vorbehalten. Ich frage mich, wer vorher hier gewohnt haben mag. Die Räume sind groß, aber nicht besonders kunstvoll eingerichtet. Es gibt nicht viele Möbel. Könige und ähnliche Würdenträger würden gewiss prächtigere Quartiere bevorzugen.
Unfug sprang, die Ohren aufgestellt und mit zuckender Nase, auf das Fenstersims.
»Bleib hier«, warnte sie ihn. Er ließ die Ohren enttäuscht herabhängen, schlang jedoch den Schwanz um den Körper und blieb sitzen, ganz in sein Schicksal ergeben.
Aus dem Nebenzimmer erklang ein Klopfen. Auraya erstarrte, dann sog sie den Atem ein und stieß ihn langsam wieder aus. Sie entfernte sich vom Fenster und ging zu den Doppeltüren des Hauptraums hinüber. Als sie sie öffnete, begrüßte Nekauns Gefährte, Turaan, sie mit einem Nicken, und die Schar von Dienern hinter ihm tat es ihm gleich.
Es sind keine Diener, rief sie sich ins Gedächtnis. Es sind Domestiken.
»Guten Morgen, Priesterin Auraya«, sagte Turaan. »Ich bringe dir etwas zu essen und Wasser.«
Sie trat beiseite. Die Domestiken, die jeder etwas in Händen hielten, kamen herein. Turaan gab ihnen Anweisungen. Einige der Männer und Frauen stellten ihre Lasten auf einen Tisch, dann hoben sie die gewobenen Deckel der Schüsseln an, und kunstvoll angerichtete Speisen wurden sichtbar, darunter Früchte und Brot. Zwei riesige Tonkrüge wurden auf den Boden gestellt, dann füllten mehrere Männer sie mit Wasser aus großen Gefäßen, bis sie beinahe überflossen.
Andere Domestiken verschwanden im Schlafzimmer. Als Auraya hineinblickte, waren sie gerade damit beschäftigt, das Bett mit der Geschicklichkeit langer Übung herzurichten und die Kleider, in denen sie geschlafen und jene, die sie ignoriert hatte, einzusammeln, bevor sie wieder aus dem Raum marschierten.
Sie rührten ihr Bündel nicht an und schienen Unfug, der immer noch auf dem Fenstersims hockte, gar nicht zu bemerken.
Eine junge Frau wandte sich mit gesenktem Blick zu Auraya um. Sie zeigte zuerst auf den gefliesten Raum, dann auf die Wasserkrüge.
Auraya schüttelte den Kopf, wenn auch nicht ohne einen Anflug von Bedauern. Es war lange her, seit sie das letzte Mal ein heißes Bad genossen hatte, aber sie würde sich nicht entspannen können, während ihr bewusst war, dass sie schon bald die Gastgeberin für Nekaun würde spielen müssen.
»Priesterin Auraya.«
Sie drehte sich zu Turaan um.
»Die Erste Stimme hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er in Kürze bei dir sein wird. Bitte, iss und erfrische dich. Du wirst ihn auf das Dach begleiten, um die Freilassung eines Siyee zu bezeugen.«
Sie nickte und sah dann zu, wie die Diener den Raum verließen. Obwohl sie still und zurückhaltend waren, waren ihre Gedanken doch voller Neugier, Groll und Furcht. Sie war der Feind. Sie war gefährlich. Warum behandelte Nekaun sie wie einen Gast?
Als die Türen sich hinter ihnen geschlossen hatten, ging Auraya zu dem Tisch hinüber und nahm das Essen in Augenschein. Am vergangenen Abend hatte sie die Möglichkeit erwogen, dass Nekaun versuchen könnte, sie zu vergiften. Sie hatte ihre heilende Gabe noch nicht an Gift erprobt, aber als sie darüber nachgedacht hatte, wie sie mit einer solchen Bedrohung fertigwerden würde, war sie voller Zuversicht gewesen.
Sie nahm sich etwas Obst und Brot und ging ans Fenster, um zu essen. Ein leiser, dumpfer Aufprall lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Tisch. Unfug beschnupperte einen der Teller. Als er sich daranmachte, an einem der Leckerbissen zu nagen, durchzuckte sie ein Stich der Furcht. Was war, wenn er etwas Giftiges aß? Sie könnte ihn wahrscheinlich heilen, aber was war, wenn sie nicht zugegen war, wenn es geschah?
Ich werde ihn einfach überallhin mitnehmen müssen.
Sie beendete ihre Mahlzeit, dann holte sie ihr Bündel aus dem Schlafzimmer. Es befanden sich nur wenige Dinge darin. Lediglich ein leerer Wasserschlauch, einige Heilmittel, eine Tunika und einer Hose zum Wechseln.
Nachdem sie ihr Bündel geleert hatte, schüttelte sie den Sand und den Staub heraus und stellte es beiseite. Dann setzte sie sich hin, um zu warten.
Nicht lange darauf erklang abermals ein Klopfen von der Tür. Diesmal stand Nekaun auf der Schwelle, in Begleitung von Turaan.
»Sei mir gegrüßt, Zauberin Auraya.«
»Priesterin«, verbesserte sie ihn.
»Priesterin Auraya. Es ist an der Zeit, dass ich meine Seite unseres Handels einhalte«, sagte Nekaun lächelnd.
»Einen Moment.« Sie griff nach dem Bündel und rief nach Unfug. Der Veez kam herbeigehüpft und sprang in ihre Arme. Da er wusste, was von ihm erwartet wurde, schlüpfte er direkt in das Bündel. Sie hängte es sich über die Schulter und wandte sich dann zu Nekaun um.
»Ich bin bereit.«
Er nickte und geleitete sie in den Flur hinaus.
»Wie nennst du dieses Geschöpf?«
»Es ist ein Veez«, erwiderte sie. »Aus Somrey.«
»Ein Schoßtier?«
»Ja.«
»Es spricht.«
»Sie lernen die Wörter, die sie brauchen, um ihre Bedürfnisse oder Sorgen auszudrücken, Dinge wie Essen, Wärme und Gefahr - was sie nicht gerade zu anregenden Gesprächspartnern macht.«
Er kicherte. »Das kann ich mir vorstellen. Hast du gut geschlafen?«
»Nein.«
»Hat die Hitze dir zu schaffen gemacht?«
»Zum Teil.«
»Du hast dir den heißesten Teil des Jahres für deinen Besuch ausgesucht«, rief er ihr ins Gedächtnis.
Sie beschloss, auf diese Bemerkung nicht zu antworten. Er führte sie eine Treppenflucht hinauf.
»War das Essen nach deinem Geschmack?«, erkundigte er sich.
»Ja.«
»Hast du noch einen Wunsch?«
Sie spürte, wie Unfug sich auf ihrer Schulter regte. In dem Bündel war es unbehaglich warm und ein wenig stickig.
»Rohes Fleisch für Unfug«, antwortete sie. »Und ich möchte, dass alle Speisen aus meinem Zimmer entfernt werden, wenn ich es verlasse. Ich möchte nicht, dass er etwas Ungeeignetes frisst.«
Das Fleisch wird er mögen, dachte sie. Und wenn er vergiftet wird, werde ich wissen, dass der Angriff ihm galt, um mich zu treffen, statt annehmen zu müssen, dass das vergiftete Essen für mich bestimmt war.
»Ich werde es veranlassen«, entgegnete Nekaun. »Da wären wir.«
Er ging eine schmale Treppe hinauf und stieg durch ein Loch in der Decke. Sie traten in helles Sonnenlicht hinaus, auf das Dach eines Gebäudes. Sie hatte auf vielen Dächern des Sanktuariums Sitzplätze und eingetopfte Bäume gesehen, was darauf schließen ließ, dass die Dächer ähnlichen Zwecken dienten wie die Innenhöfe.
In der Nähe eines weiteren Lochs im Dach standen vier Götterdiener, die Nekaun erwartungsvoll ansahen. Er sagte nur ein einziges Wort, und sie drehten sich um, um in die Öffnung hinabzublicken.
Aurayas Herz krampfte sich zusammen, als ein Siyee auf das Dach stieg. Er blinzelte heftig, während seine Augen sich an das Licht gewöhnten. Seine Handgelenke waren mit einem Seil gefesselt, was sehr unbequem sein musste, da die Fasern in die Membran seiner Flügel schnitten. Er drehte den Kopf hin und her, während er das Dach betrachtete, auf dem er stand. Als er Auraya neben Nekaun und Turaan entdeckte, hielt er inne.
Ich bin der Erste, dachte er glücklich. Dann überkam ihn eine Woge von Schuldgefühlen. Die anderen… ich möchte sie nicht zurücklassen… aber ich muss. Wenn ich es nicht tue, würde ich damit womöglich den Handel zunichtemachen, den Auraya geschlossen hat.
Ein Götterdiener durchschnitt seine Fesseln, und ein anderer hielt ihm einen Wasserschlauch und ein Päckchen mit Essen hin. Der Siyee beäugte beides voller Argwohn, dann verstaute er den Proviant in seinem Wams.
Schließlich sah er sie an, und seine Gedanken waren voller Dankbarkeit. Sie nickte ihm zu.
Flieg einfach, dachte sie.
Als die Götterdiener beiseitetraten, kehrte der Siyee ihnen den Rücken zu, rannte los, sprang von dem Gebäude und glitt davon.
Auraya stieß langsam den Atem aus, den sie angehalten hatte. Die geflügelte Gestalt entfernte sich schwebend vom Sanktuarium, umkreiste den Hügel und flog in Richtung Süden davon. Sie blickte dem Siyee nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte.
Dann wandte Nekaun sich zu ihr um und lächelte. »Jetzt musst du deinen Teil des Handels einhalten, Zauberin Auraya, und ich habe dir viel zu zeigen.«
Jeden Tag wurde Kave abwechselnd von Regen und von Hitze heimgesucht, so dass die Luft zum Schneiden dick war. Gewaschene Kleider wollten nicht trocknen, und trockene Kleider waren feucht von Schweiß, sobald man sie überstreifte. Der Gestank des Unrats unter der Stadt überzog alles mit widerwärtiger Fäulnis. Stechende Insekten schwärmten in Wolken aus und zwangen die Bewohner der Stadt, in ihren Häusern zu bleiben. Deshalb sahen Mirar und Tintel, als sie zum Fluss hinuntergingen, nur wenige Menschen.
Tintel wischte sich mit einem nassen Tuch die Stirn ab und seufzte. »Ich liebe diese Jahreszeit«, bemerkte sie trocken.
»Wie lange hält dieses Wetter an?«, fragte er.
»Bis zu vier Wochen. Einmal waren es sechs. Jeder, der es sich leisten kann, verlässt Kave im Sommer. Selbst wenn die Menschen die Hitze ertragen können, wollen sie dem Sommerfieber ausweichen.«
Mirar dachte an die zunehmende Zahl von Kranken, die in das Hospital kamen. Die anderen Traumweber hatten ihm erklärt, dass dies ein jährliches Ereignis sei, und schon bald würde das ganze Traumweberhaus mit Betten für die Kranken gefüllt sein. Das Fieber war jedoch nur selten tödlich.
Einige hundert Schritte vom Flussufer entfernt endete die Bebauung abrupt. Über schmale Holztreppen gelangte man zu dem schlammigen Boden hinab, wo eine provisorische, aus Brettern gezimmerte Straße zum Wasser führte.
Mirar und Tintel blieben stehen. Sie konnten eine Barkasse erkennen, die an Pfähle gebunden war, und um die Barkasse herum standen etliche Götterdiener. Männer, die nur mit kurzen Hosen bekleidet waren, trugen Kisten und Truhen an Bord, und ihre nackten Oberkörper glänzten von Schweiß.
»Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich«, sagte Tintel.
Mirar wandte sich zu ihr um. »Du brauchst mir nichts…«
»Warte es ab«, erwiderte sie streng. »Du wirst dieses Geschenk brauchen.«
Sie öffnete den Beutel, der an ihrer Schulter hing, und nahm einen Tonkrug mit einem schmalen Hals heraus. Er war mit einem Wachsklumpen verschlossen, aus dem eine Schnur ragte. Tintel griff nach der Schnur und zog den Wachsstöpsel heraus.
»Streck die Hände aus.«
Mirar tat wie geheißen. Sie kippte die Flasche, und ein gelbliches Öl ergoss sich in seine Hand. Es roch angenehm würzig nach Kräutern.
»Reib dich damit ein«, wies Tintel ihn an und ließ etwas von dem Öl in ihre eigene Hand fließen. »Es hilft, die Insekten und das Sommerfieber fernzuhalten.«
»Also bringen die Insekten die Krankheit mit sich?«, fragte er, während er sich zuerst die Hände, dann das Gesicht mit dem Öl einrieb.
»Vielleicht.« Tintel zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es nur eine günstige Nebenwirkung des Öls. Es hilft in jedem Fall, das Fieber zu senken.«
»Es ist überraschend erfrischend. Macht die Hitze ein wenig erträglicher.«
Sie stöpselte die Flasche zu, schob sie wieder in den Beutel und nahm dann eine kleine Holzschachtel heraus. Sie öffnete sie und zeigte ihm, dass sie voller Kerzen war.
»Die Kerzen sind mit den gleichen Extrakten versetzt. Benutze sie sparsam, und du wirst während der ganzen Reise bis zur Steilwand damit auskommen. Wir verkaufen in jedem Sommer sowohl Öl als auch Kerzen zu dem Preis, den wir für die Herstellung benötigen. Wir sind die Einzigen, die diese Dinge herstellen, obwohl wir das Rezept jedem geben, der es haben will.«
»Also könnte jemand, der auf Gewinn aus ist, nicht mit euch mithalten. Habt ihr jemals einen Mangel an Öl und Kerzen?«
»Ja.« Sie runzelte die Stirn. »Würdest du von uns wollen, dass wir mit einem Heilmittel Gewinn machen?«
»Wenn Menschen durch den Mangel an Öl zu Schaden kämen, dann ja. Die Gewinne könnten dem Traumweberhaus oder den Kranken zukommen.«
»Du hast keine Ahnung, welche Erleichterung es ist, dich das sagen zu hören.« Sie schloss die Schachtel, legte sie wieder zurück und reichte ihm dann den Beutel.
Er lächelte. »Stellst du mich auf die Probe, Tintel?«
Sie kicherte. »Möglich. Absicht und Wille können sich im Laufe vieler Jahre verändern. Einige Traumweber glauben, du hättest es verboten, Heilmittel zu verkaufen.«
»Es ist nicht…«
»Traumweber Mirar?«
Die Stimme war befehlsgewohnt und voller Zuversicht. Er drehte sich zu ihrer Besitzerin um, die soeben die letzten Stufen zur Plattform heraufkam.
»Vierte Stimme Genza«, erwiderte er und deutete dann auf Tintel. »Das ist Traumweberin Tintel, die das Traumweberhaus von Kave leitet.«
Genza nickte Tintel zu. »Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich euch euren Begründer und Führer abspenstig machte. Mir ist klar, dass sein Wissen und seine Fähigkeiten der Stadt zu dieser Jahreszeit von großem Nutzen wären.«
Tintel zuckte die Achseln. »Wir sind über Jahrhunderte hinweg jeden Sommer mit dem Fieber zurechtgekommen. Ich bin davon überzeugt, dass wir es auch ohne ihn schaffen werden.«
In Genzas Augen blitzte Erheiterung auf. »Ihr habt der Stadt tatsächlich in all dieser Zeit große Dienste geleistet. Kave verdankt euch viel.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Mirar zu. »Wir sind bald bereit für die Abreise.«
Er nickte und sah Tintel an. »Danke, dass du dir so viel Mühe mit mir gegeben hast. Ich hoffe, dass die sommerliche Hitze in Kave diesmal ein frühes Ende nimmt.«
Tintel neigte den Kopf. »Und ich hoffe, dass sich in Glymma alles zum Besten entwickeln wird. Ich nehme an, du wirst anschließend deine Entdeckungsreise durch Südithania fortsetzen. Ich freue mich darauf, dich wieder in Kave zu sehen, wenn auch vielleicht zu einer besseren Jahreszeit.«
»Ich würde die Stadt gern zu ihrer besten Zeit sehen«, erwiderte er.
»Vielleicht nächstes Mal.« Sie machte das alte Traumweberzeichen, indem sie Herz, Mund und Stirn berührte. »Leb wohl.«
Überrascht erwiderte er die Geste, dann drehte er sich zu Genza um, die ihn zur Treppe hinüberführte.
Während er ihr die Bretterstraße entlang zu der Barkasse folgte, dachte er an die Neuigkeiten, die er während einer Traumvernetzung in der letzten Nacht von den Zwillingen erfahren hatte.
Auraya ist in Glymma, hatten sie ihm erzählt. Als sie ihm von der Mission der Siyee und ihrem Fehlschlag berichtet hatten, war Mirar fassungslos darüber gewesen, dass die Weißen etwas so Törichtes hatten tun können. Es überraschte ihn nicht, dass der Angriff gescheitert war, obwohl er es besorgniserregend fand, dass die Pentadrianer offensichtlich vorgewarnt gewesen waren. Gab es in den Reihen der Siyee einen Spion? Unter den Vertrauten der Weißen konnte sich kein Spion befinden, sonst hätten die Auserwählten der Götter den Verrat in seinen Gedanken gelesen.
Es hatte ihn nicht erstaunt zu erfahren, dass Auraya Nekauns Angebot angenommen und sich bereiterklärt hatte, als Gegenleistung für die Freilassung der Siyee in Glymma zu bleiben. Ich frage mich, wie die Weißen zu dem Umstand stehen, dass sie einen Handel mit dem Feind geschlossen hat. Oder vielmehr, dass sie sich mit einer Erpressung dazu hat bringen lassen, dort zu bleiben.
Es waren noch achtundzwanzig gefangene Siyee übrig. Einer musste heute freigelassen worden sein. Tintels Beschreibung der Flussreise zu der Steilwand hatte er entnommen, dass drei Viertel der Siyee frei sein würden, bevor er ein Drittel der Strecke nach Glymma hinter sich gebracht hatte. Zu dieser Zeit des Jahres strömte der Fluss so träge dahin, dass Barkassen mit Staken oder Riemen bewegt werden mussten.
Also brauchen Tamun und Surim sich keine Sorgen zu machen. Die Zwillinge hatten befürchtet, dass Nekaun beabsichtige, Auraya und Mirar gegeneinander auszuspielen.
Jeder denkt, dass du und Auraya Todfeinde sind. Manche glauben, dass Nekaun sich erbieten werde, dich als Gegenleistung für Aurayas Unterstützung zu töten. Oder dass er anbieten wird, Auraya zu töten, um dich auf seine Seite zu ziehen.
Auraya wird sich nicht mit den Feinden der Weißen verbünden, hatte Mirar geantwortet, obwohl er sich nicht ganz sicher gewesen war, ob das der Wahrheit entsprach. Sie hatte schon zuvor eine Menge geopfert, um die Siyee zu retten.
Nur gut, dass sie nicht wissen, wie ihr beiden wirklich zueinander steht, wie?, hatte Surim gesagt. Sie müssten nur entscheiden, welchen von euch sie einkerkern und welchen sie erpressen wollen.
Erpressung wird bei ihr nicht funktionieren, hatte Mirar den Zwillingen ins Gedächtnis gerufen.
Ah, aber bei dir würde sie eindeutig funktionieren.
Surim hatte recht, aber Mirar hatte sich mit zwei Tatsachen getröstet: Er würde es niemals rechtzeitig bis nach Glymma schaffen, und es bedurfte großer Magie, um jemanden, der so mächtig war wie Auraya, einzukerkern. Es würde eine oder mehrere Stimmen Tag und Nacht beschäftigen, so dass sie im Falle eines Angriffs der Weißen mehr Mühe haben würden, sich zu verteidigen.
Er und Genza hatten inzwischen die Barkasse erreicht. Sie geleitete ihn an Bord und zeigte ihm die Kajüte, die für ihn vorbereitet worden war. Sie war winzig, aber sauber.
Die Seeleute lösten die Seile von den Pfählen und stießen das Boot mit Staken in den Fluss hinaus. Mit ihrem flachen Rumpf schaukelte die Barkasse schwerfällig hin und her. Genza ging zum Bug, dann drehte sie sich um und sagte etwas zu der Mannschaft, die daraufhin die Staken wieder einzog.
Dann machte Mirar unwillkürlich einen Schritt rückwärts, als das Boot sich durch den Fluss pflügte und zu beiden Seiten Wellen aufpeitschte. Sein Magen krampfte sich zusammen, während ihm das Herz gleichzeitig leichter wurde.
Sieht so aus, als bestünde doch eine gute Chance, dass ich es rechtzeitig nach Glymma schaffen werde, um Auraya zu sehen.
Auraya war durch Flure gegangen, die in kunstvollen Mustern gefliest waren, sie hatte Räume mit Teppichen in üppigen Farben gesehen und war durch Innenhöfe geschlendert, die durch elegante Springbrunnen und exotische Pflanzen gekühlt wurden. Man hatte ihr kunstvoll zubereitete Speisen in getöpfertem Geschirr und Glasschalen von höchster Qualität serviert, und sie hatte mit goldenem Besteck gegessen. Sie hatte fremdartige, wunderschöne Musik gehört und Skulpturen und Kunstwerke bewundert, deren erheiterndstes eine Karte von ganz Ithania gewesen war. Die Karte war aus winzigen Glaskacheln gemacht, die die Elai als goldhaarige Mädchen mit Fischschwänzen zeigten und die Siyee als Menschen mit gefiederten Flügeln, die ihnen aus dem Rücken sprossen.
Nekaun tat sein Bestes, sie zu beeindrucken.
Obwohl sie sich nicht sicher war, ob dies sein wahres Ziel war, machte er kein Geheimnis daraus, dass er beabsichtigte, sie auf seine Seite zu ziehen. Die Möglichkeit, dass er glauben könnte, sie würde sich von den zirklischen Göttern abwenden und mit den Pentadrianern verbünden, war so lächerlich, dass sie sie zuerst einfach abgetan hatte. Aber eines wurde ihr bald klar: Er musste die Möglichkeit erwägen, dass sie die Weißen wegen eines Konflikts verlassen und sich vielleicht sogar von ihren Göttern abgewandt hatte. Sie würde vielleicht die Seiten wechseln, wenn sie Rache wollte oder eine Rückkehr an die Macht oder wenn ihr die Glaubenswelt der Pentadrianer einfach mehr zusagte.
Wenn sie zu erkennen gab, dass sie unerschütterlich in ihren Überzeugungen war, würde er aufgeben. Aber je eher er das Gefühl hatte, sie für sich gewonnen zu haben, umso eher würde er aufhören, es zu versuchen. In den Höhlen unter dem Sanktuarium waren noch immer siebenundzwanzig Siyee eingekerkert, daher musste sie dieses Spiel noch für weitere achtundzwanzig Tage aufrechterhalten.
Ich muss beeindruckt wirken, aber nicht allzu interessiert. Er muss Widerstand spüren, der jedoch nicht unüberwindlich wirken darf, sagte sie sich. Ich sollte gelegentlich einen Augenblick der Schwäche vortäuschen, um seine Hoffnung zu schüren, dass er mich am Ende doch für seine Sache würde gewinnen können.
Nekaun führte sie einen breiten Flur hinunter, der anscheinend das Untere Sanktuarium mit dem Oberen Sanktuarium verband.
»Ist es wahr, dass die Weißen in Räumen leben, die ebenso schlicht und klein sind wie die ihrer Priester?«, fragte er, und sein allgegenwärtiger Gefährte, Turaan, wiederholte seine Worte auf Hanianisch.
»Schlicht, ja«, antwortete sie. »Klein, nein.«
Es kostete sie ständige Konzentration, nicht zu offenbaren, dass sie Gedanken lesen konnte. Je eher sie ein wenig von der Sprache der Einheimischen lernte, umso besser. Irgendjemand hatte ihr genau das geraten. In Gedanken hörte sie eine vertraute Stimme.
»Du kannst nie wissen, wann dir eine gewisse Kenntnis der einheimischen Sprache einmal von Nutzen sein kann. Vielleicht können diese Kenntnisse dir sogar das Leben retten.«
Danjin hatte das gesagt. Eine leichte Traurigkeit regte sich in ihr. Sie hatte ihn so lange nicht mehr gesehen, und sie vermisste seine Verlässlichkeit und seine Freundschaft.
»Du hast im Weißen Turm gelebt, nicht wahr?«, fragte Nekaun.
»Ja.«
»Leben alle Priester des Tempels im Turm?«
Sie sah ihn zweifelnd an. »Ich habe mich nur bereiterklärt hierzubleiben; es war nicht die Rede davon, dass ich dir Informationen über deine Feinde liefern soll.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Verzeih mir. Ich hatte nicht die Absicht, dich auszunutzen. Es interessiert mich einfach. Hier…« Er deutete auf eine schmale Öffnung in der Wand. »Hier ist ein Ort, der uns sehr teuer ist. Der Sternensaal.«
Von Turaan kam eine plötzliche nervöse Erregung, und sie las aus seinen Gedanken, dass dies der wichtigste Huldigungsort der Pentadrianer war. Eine Art Altar. Als Nekaun durch die Öffnung trat, zögerte Auraya. Wie gefährlich konnte der Altar der feindlichen Götter sein? Konnten sie ihr dort etwas antun, dessen sie außerhalb des Altars nicht mächtig waren?
Nekaun hat bei diesen Göttern geschworen, dass mir nichts zustoßen würde, rief sie sich ins Gedächtnis. Und ich habe mich bereiterklärt, zu bleiben und mich herumführen zu lassen. Wenn einer von uns sein Wort bricht, werde ich nicht die Erste sein.
Sie holte tief Luft und folgte Nekaun in einen großen Raum. Die Wände, der Flur und die Decke waren schwarz. Die Wände standen außerdem in merkwürdigen Winkeln zueinander. Sie bemerkte, dass es fünf Wände waren; der Raum war ein Pentagon. Nekaun stand in der Mitte zwischen in den Boden eingelassenen, silbernen Linien. Ein kalter Schauer überlief sie, als ihr klar wurde, dass sie einen riesigen Stern formten.
Sie blickte zu Nekaun auf. »Willst du mich jetzt deinen Göttern vorstellen?«, fragte sie, erfreut zu hören, dass ihre Stimme gelassen klang.
Sein Lächeln, das sonst so bestrickend war, wirkte jetzt seltsam schief. »Nein. Die Götter entscheiden, wann sie erscheinen, nicht ich. Sie sprechen nicht oft zu uns und geben uns nur selten Anweisungen. Wir wissen die Freiheit zu schätzen, uns selbst zu regieren, und sie vertrauen darauf, dass wir unsere Sache gut machen.«
»Wenn sie niemals erscheinen, müssen einige deiner Landsleute daraus den Schluss ziehen, dass sie nicht existieren.«
Er lachte leise. »Ich habe nicht gesagt, dass sie niemals erscheinen. Du glaubst nicht, dass sie real sind, nicht wahr?«
»Ich weiß, dass zumindest einer von ihnen real ist«, erwiderte sie. »Weil ich ihn während des Krieges gesehen habe.«
Er blinzelte überrascht. »Du hast einen unserer Götter gesehen?«
»Sheyr, glaube ich.«
»Er ist nur das eine Mal erschienen.« Er kniff die Augen zusammen. »Du warst dort?«
»Ja. Als deine Leute aus den Minen kamen. Auf diese Weise haben wir erfahren, dass wir vom Pass abziehen und euch dort entgegentreten mussten.«
Er schüttelte den Kopf. »Was hast du dort getan?«
Mich wegen Leiard gegrämt, dachte sie ironisch. Das kann ich ihm wohl kaum erzählen… »Ich habe mich umgesehen«, antwortete sie. »Ich wollte gerade gehen, aber Chaia hat mich daran gehindert.« Sie lächelte. »Manchmal ist es durchaus besser, wenn ein Gott bereit ist, zu erscheinen und seinen Anhängern Anweisungen zu geben.«
Er zog die Augenbrauen hoch, was seinem Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck verlieh.
»Glaubst du, dass meine Götter real sind?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Ich habe sie zwar nicht gesehen, aber ich halte es für wahrscheinlich.«
»Sind deine Götter Überlebende des Kriegs der Götter?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er offen. »Sie haben nie behauptet, dass sie es nicht wären.«
Sie schüttelte den Kopf. »Entweder eure Götter sind neu, oder meine Götter wissen nicht, dass eure Götter ihnen entkommen sind.«
Er schürzte die Lippen und musterte sie versonnen. »Stört es dich nie zu wissen, dass deine Götter behauptet haben, so viele andere Götter getötet zu haben, und stolz darauf sind?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Die alten Götter waren grausam und haben Sterbliche übel missbraucht.«
»Und deine Götter haben das nicht getan?«
Auraya musste plötzlich an Emerahls Geschichte über Chaias Verführung sterblicher Frauen denken und an die Berichte über Verkrüppelungen während der Jahre, in denen Huan die Siyee geschaffen hatte. Diese Berichte wurden von Generation zu Generation weitergegeben.
»Du zögerst«, bemerkte er leise.
Ich glaube, ich habe soeben einen dieser Augenblicke der Schwäche gezeigt, die ich geplant hatte, überlegte sie. Nur dass dies nicht geplant war und ich mich nicht verstellt habe.
»Sie mögen nicht ohne Fehler sein«, räumte sie ein. »Aber bei Wesen, die so alt sind wie sie, lässt es sich wohl kaum vermeiden, ab und zu schlechte Entscheidungen zu treffen. Nach allem, was man mich gelehrt hat, haben die toten Götter sich weit schlimmerer Dinge schuldig gemacht. Was mehr zählt als die vergangenen Irrtümer, ist der Umstand, dass der Zirkel seit seiner Begründung Frieden, Ordnung und Wohlstand nach Nordithania gebracht hat. Während der letzten hundert Jahre sind sieben Länder Verbündete geworden, und es gab keinen Krieg mehr - bis deine Truppen angegriffen haben.«
Seine Miene war jetzt undeutbar. Er trat aus den Linien des Sterns heraus, kam auf sie zu und deutete dann auf die Öffnung. »Wollen wir weitergehen? Ich würde dir gern das Untere Sanktuarium zeigen, wo wir zusammenkommen und uns um die Belange der Öffentlichkeit kümmern. Wenn dir Frieden, Ordnung und Wohlstand so sehr am Herzen liegen, wirst du es gewiss interessant finden.«
Sie lächelte und gestattete ihm, sie aus dem Raum zu führen.
Die Wolken, die den Himmel überzogen, waren von einem leuchtenden Orange, das langsam in ein dunkles Rot überging, aber eine Wand aus Dunkelheit verbarg die Quelle des verblassenden Lichts. Die Steilwand, die das trockene Land überragte, verkürzte die Tage, weil bereits nachmittags die Sonne dahinter verschwand.
Hier möchte ich nicht leben, dachte Emerahl. Dieses Kliff hat etwas Bedrohliches. Es ist ein Gefühl, als könnte es jeden Augenblick auf uns herabstürzen.
Die Schnelligkeit, mit der es den Denkern gelungen war, eine Plattan-Karawane zusammenzustellen und nach Sorlina zu gelangen, war beeindruckend. Zwei Tage nachdem sie die Knochen gelesen hatte, hatte Emerahl ihre Unterkunft bezahlt und ihre Habe in einen von mehreren geschlossenen Plattans gebracht, die danach aus der Stadt gerollt waren. Barmonia hatte ihr mitgeteilt, dass er die Gruppe leiten würde; er war so viele Male in der Ruinenstadt gewesen, dass er seine Besuche dort nicht mehr zählen konnte. Hätte sie seine Geringschätzung ihr gegenüber nicht deutlich spüren können, hätte sie seine leutselige Art vielleicht als Hinweis gewertet, dass er sich langsam für sie erwärmte.
Soll er doch ruhig freundlich tun, überlegte sie. Anderenfalls würde die Reise weniger angenehm werden. Ich kann ihm wohl kaum sagen, dass ich weiß, dass er und seine Gefährten planen, mich auf irgendein Schiff zu verfrachten, sobald sie die Schriftrolle gefunden haben.
Ein schwaches Beben lief durch den Boden, gerade stark genug, um die Seile der Zelte in Schwingung zu versetzen. Emerahl blickte zu den Männern hinüber, die um das Lager herumsaßen. Die meisten hatten innegehalten und wirkten jetzt äußerst wachsam, aber als das Beben sich wieder legte, entspannten sie sich schnell.
»Ein Erdbeben«, murmelte Yathyir vor sich hin, bevor er sich noch eine Schale von der überwürzten Getreidespeise nahm, die die Diener für sie gekocht hatten.
Ray sah zu Emerahl auf und lächelte. »Das passiert hier ständig«, erklärte er ihr. »Der große Denker Marmel glaubte, die Steilwand sei entstanden, weil ein flacher Teil der Welt sich über einen anderen Teil schiebe - denjenigen, auf dem wir gerade sitzen. Manchmal zittert die Erde so heftig, dass man nicht stehen kann. Manchmal bringt das Beben Häuser zum Einsturz.«
Emerahl blickte zur Steilwand auf und runzelte die Stirn. »Es überrascht mich, dass Hannaya noch steht.«
»Oh, von Zeit zu Zeit brechen Stücke davon ab, aber es ist stark genug, um den meisten Beben standzuhalten. Es heißt, Zauberer hätten die Stadt aus dem massiven Fels geformt.«
»Wie weit reicht die Steilwand?«
»Bis hinüber zur Südwestküste. An manchen Stellen ist sie höher, an manchen niedriger. Wir gehen zu einer der wenigen Lücken darin, wo sie sich geteilt hat.« Er breitete die Hände aus und demonstrierte mit Gesten, wie die aufgleitende Scholle auseinanderbrach und ihre beiden Teile sich in unterschiedliche Richtungen weiterschoben. »Das Land dazwischen ist ein langer, steiler Hang. Es war tausend Jahre lang eine der wenigen Binnenverbindungen von Avven nach Mur, so dass die Menschen, die den Transport von Waren von einem Land zum anderen kontrollierten und Zölle erheben konnten, sehr wohlhabend wurden. Dann kam der Krieg der Götter, und binnen eines Jahres ging die Macht von den Anhängern der toten Götter auf die Anhänger der Fünf über.«
»Ein Jahr? Woher weißt du das?«
»Wenn du dir die Geschichten aus dieser Zeit ansiehst, kannst du eine gewisse Ordnung erkennen. Natürlich behaupteten einige Menschen, ihre Götter lebten noch, obwohl das nicht der Fall war. Andere behaupteten, die Götter ihrer Feinde seien tot, obwohl diese noch lebten. Aber die meisten wurden binnen einer kurzen Zeitspanne getötet.«
Emerahl schüttelte erstaunt den Kopf. Sie hatte nicht gewusst, wie oder wann sich die Todesfälle ereignet hatten. Die Konsequenzen hatten sich nur langsam bemerkbar gemacht. »Die Sterblichen müssen einige Zeit gebraucht haben, um zu begreifen, was geschehen war.«
»Einige haben es nie begriffen. Es ist schwer, den Tod unsichtbarer Wesen zu beweisen. Es gibt keine Leichen. Keine Zeugen. Nur Schweigen.«
»Und doch hatte der Verlust dieser Götter dramatische Folgen für die Welt.«
»Ja. Priester verloren ihre Macht. Götter gaben ihren Anhängern nicht länger Leitung und übten keine Kontrolle mehr aus. Manche Menschen nutzten die Schwäche und Ungewissheit ihrer Feinde. Aber nicht lange. Die Fünf vereinten sich, um Ordnung in das Chaos zu bringen.«
»Also haben die pentadrianischen Götter schon vor dem Krieg existiert?«
»Ich glaube es. Sheyr war der Gott des Wohlstands, Hrun die Göttin der Liebe, Alor der Gott der Krieger, Ranah die Göttin des Feuers und Sraal der Gott der Fülle. An manchen Orten werden sie immer noch als solche verehrt.«
Emerahl bedachte die Liste von Namen und Titeln. Die zirklischen Götter hatten einst ihre eigenen Titel eingefordert. Chaia war zum Gott der Könige geworden und Huan zur Göttin der Fruchtbarkeit.
Fruchtbarkeit und Liebe. Kein allzu großer Unterschied. Und beide Seiten haben ihren Kriegsgott. Das sind wahrscheinlich die Dinge, um die die Menschen am ehesten beten. Gib mir einen Geliebten, schütze meinen Geliebten, gib mir Kinder, mach mich wohlhabend, lass mich nicht sterben…
Was den Rest der Götter betraf, schienen die Pentadrianer im Vorteil zu sein, ging es Emerahl durch den Kopf. Ein Gott des Wohlstands musste nützlicher sein als Saru, der ehemalige Gott des Glücksspiels - oder nützlicher sogar als ein Gott der Könige. Aber der südliche Kontinent hätte eine Göttin der Frauen gut gebrauchen können, wenn die Abneigung gegen ihr Geschlecht bei der gewöhnlichen Bevölkerung ebenso groß war wie bei diesen Denkern.
Barmonia stand auf und gähnte laut. »Wir fangen morgen in aller Frühe an«, warnte er. »Also, bleibt nicht zu lange auf.«
Als er zu den Zelten hinüberstolzierte, erhoben sich die anderen Männer wie gehorsame, aber widerstrebende Kinder. Emerahl ertappte Ray, dass er sie anlächelte.
»Würdest du mir die Ehre erweisen, dich zu deinem Zelt begleiten zu dürfen?«, fragte er.
Sie lachte leise. »Ich wäre diejenige, die sich geehrt fühlen würde«, antwortete sie mit der gleichen gespielten Förmlichkeit.
Kereon blickte zu ihnen hinüber und verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts. Yathyir starrte sie an, und das leidenschaftliche Leuchten in seinen Augen und die Eifersucht des Heranwachsenden, die sie spürte, machten seinen Verdacht, was Rays Beweggründe betraf, überdeutlich.
Von Raynora fing sie erwartungsvolle Vorfreude auf. Es überraschte sie nicht. Männer nutzten jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, und gingen häufig davon aus, dass Frauen, die eine andere Lebensform gewählt hatten als die einer pflichtschuldigen Ehefrau, dies taten, um sich Liebhaber zu nehmen, wann immer ihnen der Sinn danach stand.
Nicht dass das auf Emerahl nicht zugetroffen hätte.
Das Zelt war nicht weit entfernt, aber um dorthin zu gelangen, musste man über mehrere Seile steigen. Ray hielt sich dicht an ihrer Seite, bereit, ihr zu helfen, sollte sie stolpern, und als sie ohne jedes Missgeschick ihr Ziel erreichte, spürte sie Enttäuschung von ihm. Sie wandte sich zu ihm um.
»Du bist sehr schön«, sagte er leise.
Sie hätte um ein Haar laut aufgelacht. Er betrachtete sie, als sei er voller Ehrfurcht, aber sie konnte spüren, dass hinter seinem Verhalten hauptsächlich Begehren steckte.
Trotzdem, er war charmant und gutaussehend. Es könnte seine Vorteile haben, wenn sie ihn in ihr Bett ließ. Außerdem war er der erste Mann, der Interesse zeigte, seit Mirar …
… und daraus ist auch nichts geworden.
Bei dem Gedanken stiegen leichte Schuldgefühle in ihr auf. Es war ungerecht. Er hatte damals unter Leiards Kontrolle gestanden.
Dann fiel ihr plötzlich eine Szene in der Höhle in Si ein, als Leiard sie mit Mirars Augen angesehen hatte.
»… die Sache mit dem Bordell war notwendig… aber ich frage mich, ob du nicht unbewusst die gleiche Art von Bestätigung suchst, um die es auch Mirar zu tun ist. Du suchst die Bestätigung, dass du ein körperliches Wesen bist und kein Gott…«
Sie rückte ein Stück von Ray ab. Die Vorstellung, mit ihm zu schlafen, hatte plötzlich keinen Reiz mehr für sie. Die anderen Denker würden das vielleicht als Beweis dafür nehmen, dass ihre Vorurteile in Bezug auf fremdländische Frauen zutreffend waren - nicht dass sie sie mit einem Mal mit Respekt betrachtet hätten, wenn sie keusch blieb.
»Gute Nacht, Ray«, sagte sie. »Ich bin müde. Wir sehen uns dann morgen früh.«
Sie trat ins Zelt und zog die Türlaschen entschieden hinter sich zu. Zuerst kamen nur Überraschung und Enttäuschung von ihm, dann Erheiterung und Entschiedenheit. Kurz darauf hörte sie ihn davongehen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie zog Magie in sich hinein und legte eine Barriere über den Eingang.
Ich werde ihn wohl einige Male abweisen müssen, bevor er aufgibt, sagte sie sich. Dann betrachtete sie die schmale, mit einer dünnen Matratze belegte Bank, die als Bett diente, und zuckte die Achseln. Nun, es ist besser als die Planken eines Bootes, und ich möchte ohnehin nicht allzu schnell einschlafen.
Sie legte sich nieder, schloss die Augen und entspannte sich. Langsam begannen ihre Gedanken zu wandern. Schon bald hatte sie jedes Zeitgefühl verloren.
Emerahl.
Die Doppelstimme der Zwillinge war wie ein flüsterndes Echo in ihrem Geist.
Surim. Tamun.
Es war klug von dir, deinen Bewunderer abzuweisen, bemerkte Tamun.
Oh? Warum?
Surim hätte das viel zu interessant gefunden.
Eine Woge der Erleichterung stieg in Emerahl auf. Sie hatte nicht bedacht, dass die Zwillinge durch die Augen Raynoras ihre Schlafzimmermätzchen beobachten könnten. Die Vorstellung war beunruhigend.
Du hättest mir doch nicht zugesehen, oder, Surim?
Ich hätte es tun müssen, für den Fall, dass dir etwas zugestoßen wäre. Ich hätte es ausschließlich zu deinem eigenen Schutz getan.
Ich verstehe. Und wenn tatsächlich etwas passiert wäre, was hättest du tun können, um mich zu beschützen?
Er antwortete nicht.
Wir haben die wahre Quelle des Geldes entdeckt, das man Raynora für die Schriftrolle angeboten hat, sagte Tamun. Es kommt von den Stimmen. Sie oder ihre Götter müssen gewusst haben, dass die Denker nach der Schriftrolle suchen, und das hat ihnen nicht gefallen.
Was unseren Argwohn bestätigt, dass die Schriftrolle etwas enthält, von dem eine Gefahr für die Götter ausgeht, ergänzte Surim.
Könnte ich Ray mit einer Bestechung dazu bringen, sie mir zu geben?, fragte Emerahl.
Nein. Damit würdest du das Risiko eingehen, ihm dein Wissen über seine Mission zu offenbaren. Seine Götter könnten ihn beobachten.
Wenn sie das tun, werden sie mich bereits mit Argwohn betrachten, da sie meine Gedanken nicht lesen können.
Das ist wahr. Wahrscheinlich dulden sie deine Beteiligung an dem Ganzen nur, weil Ray die Schriftrolle mit deiner Hilfe schneller stehlen kann.
Wie kann ich ihn aufhalten?
Das ist einfach. Stiehl sie selbst.
Ich soll die Schriftrolle von den Denkern stehlen, den klügsten Menschen in ganz Südithania, während ihre Götter zusehen? Emerahl lachte erheitert. Nun, das dürfte eine Aufgabe für mich sein.
Nachdem Ton keuchend und schwitzend die Kuppe des Hügels erreicht hatte, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen. Als er aufblickte, vergaß er seine Müdigkeit und riss voller Ehrfurcht die Augen auf. Das Land vor ihm wellte sich zu sanften Hügeln, die abrupt dort endeten, wo sich eine im Licht der tiefstehenden Sonne glänzende Fläche erstreckte, so weit das Auge reichte, bis sie schließlich mit dem Himmel verschmolz.
Das Meer, dachte er. So sieht es also aus.
Das Wasser schimmerte wie teurer Stoff oder wie ein gewaltiges, gekräuseltes Blatt aus Gold. Plötzlich wurde ihm klar, dass der eigenartige Geruch in der Luft vom Salz kam.
Ich muss mich der Zuflucht langsam nähern… Es sei denn, sie läge auf der anderen Seite des Meeres. Er ließ den Blick über die Hügel vor ihm wandern, und sein ganzer Körper zitterte vor Erregung und Erschöpfung. Er hatte das Gefühl, als sei er eine Ewigkeit gelaufen. Das Leben, das er hinter sich gelassen hatte, erschien ihm wie ein Traum. Ein böser Traum.
In der Nähe der Küste erhoben sich die winzigen Umrisse ungezählter Häuser. Ein dünner Faden schlängelte sich zwischen ihnen hindurch: ein Fluss. Er konnte Rauch ausmachen, der in der staubigen Luft aufstieg. War das die Zuflucht, von der Chemalya ihm erzählt hatte?
Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er zwang sich, seinen Weg fortzusetzen. Zumindest geht es von jetzt an hügelabwärts.
Während die Stunden verstrichen, lenkte er sich mit Gedanken an seine Frau Gli und ihre beiden Söhne ab. Es würde ihnen hier gefallen. Seine Söhne hatten das Meer noch nie gesehen. Er musste segeln lernen, um mit ihnen hinauszufahren. Vielleicht würden sie Fischer werden. Oder Bauern. Es würde harte Arbeit sein, aber in jedem Fall besser als eine Existenz, in der man wie ein Sklave behandelt wurde. Nicht dass Ton so gelitten hatte wie Gli in ihrer Jugend. Sie beide hassten Gim und seinen Clan. All dieses Gerede von Ehre und Stolz. Ihm war noch nie ein Krieger begegnet, der auch nur einen einzigen anständigen Gedanken im Kopf gehabt hätte. Je eher Ton seine Familie von dort wegbrachte, desto besser.
Mit Einbruch der Nacht wurde seine Stimmung düsterer. Er rastete am Straßenrand, bis der Mond aufging und er seinen Weg in seinem Licht fortsetzen konnte. Gerade als er sich zu fragen begann, ob die Straße gar nicht zu dem Dorf hinführte, bemerkte er Lichter in der Ferne. Sein Magen flatterte vor Aufregung, und der Hunger, der tagelang an ihm genagt hatte, regte sich mit Macht.
Aber als er das erste Haus erreichte, überkam ihn ein mächtiges Widerstreben, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen oder die Dorfbewohner zu stören. Er verlangsamte seine Schritte und trottete leise weiter. Zuerst lagen die Häuser weit voneinander entfernt, aber schon bald wurde die Besiedlung dichter, bis ein Gebäude neben dem anderen stand. Aus einer Tür ein Stück vor ihm erschien ein Mann. Als er auf Ton zukam, runzelte er die Stirn und sah ihn unfreundlich an. Aber dann breitete sich plötzlich ein Lächeln auf seinen Zügen aus.
»Du bist ein Neuankömmling, wie? Sie werden schon auf dich warten. Das große Schankhaus ein paar Türen weiter unten auf der rechten Seite.«
Ton murmelte einige Worte des Dankes und eilte weiter. Er hätte das Schankhaus nicht übersehen können. Aus den Fenstern und der Tür drangen Licht und der Lärm vieler Stimmen. Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann, der draußen auf einer Bank saß, lächelte, als er Ton sah, und stand auf.
»Ich bin Warwel. Und wer bist du?«, fragte er.
»Ton.«
»Ah. Willkommen in Dram. Komm herein. Du musst müde sein. Und hungrig.«
»Sehr«, gestand Ton.
Der Mann legte Ton eine Hand auf die Schulter und schob ihn durch die Tür. Es dauerte ein wenig, bis Tons Augen sich an das helle Lampenlicht gewöhnt hatten, aber die Pause im Gespräch entging ihm nicht. Er blickte sich um und sah, dass der Raum voller Männer und Frauen war. Einige betrachteten ihn mit einem freundlichen Lächeln, andere mit Neugier und einige wenige mit Argwohn.
»Das ist Ton«, erklärte Warwel laut. »Ein Neuankömmling aus…?« Er sah Ton an.
»Chon«, sagte Ton leise.
»Aus Chon«, donnerte Warwel. »Ton aus Chon. Er hat eine lange Reise hinter sich.«
Ein Murmeln ging durch den Raum, als die Gäste der Schankstube ihn begrüßten. Warwel deutete auf eine Frau. »Kit, würdest du ihm etwas zu essen bringen?« Bei der höflichen Bitte und angesichts der würdevollen Kleidung der Frau ging Ton das Herz auf. Die Frau musste eine Dienerin sein, sonst hätte Warwel sie nicht gebeten, etwas zu holen, und doch hatte er sie nicht wie eine Sklavin behandelt.
Vielleicht ist es wahr, was der Gewürzhändler gesagt hat. Natürlich ist es wahr. Ich hätte meine Familie nicht verlassen und eine so weite Reise gemacht, wenn ich ihm nicht geglaubt hätte.
Trotzdem war es eine solche Erleichterung zu wissen, dass er nicht getäuscht worden war.
Warwel führte Ton zu einer Bank an einem großen Tisch, an dem bereits mehrere andere Personen saßen. Sie tranken, aber keiner von ihnen wirkte betrunken.
»Chem hat mir von dir erzählt«, bemerkte Warwel.
Ton blinzelte ihn verwirrt an. »Ach ja? Ich dachte, er wüsste nicht, wo du zu finden bist?«
Warwel tippte sich an die Stirn. »Wir setzen uns in Gedanken in Verbindung. Ich brauche ihm nicht mitzuteilen, wo ich bin.«
»Oh.« Magie. Ton musterte die anderen Gäste. Sie hatten große Ähnlichkeit mit Chem. Oder anders gesagt, Chem hatte große Ähnlichkeit mit ihnen. In dem Moment, als ihm die Wahrheit dämmerte, wurden eine große Schale Suppe und ein Teller mit Brot vor ihn hingestellt.
Sie sind alle Pentadrianer, ging es ihm durch den Kopf. Er blickte auf die Suppe hinab, und sein Magen knurrte. Der Feind. Eine Art Löffel lag in der Schale. Er griff danach. Wenn ich mich ihnen anschließe, werde ich zum Verräter an meinem Land. Es war ein Schöpflöffel, und darin lag ein Stück Fleisch. Er starrte es ungläubig an. Fleisch! Aber die Krieger werden mich und meine Familie töten, wenn sie es herausfinden. Als er den Schöpflöffel losließ, versank das Fleisch in der Suppe. Er blickte zu Warwel auf.
»Meine Familie…«, begann er und suchte dann nach den richtigen Worten, um zu erklären, was er meinte.
»Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um sie hierherzuholen«, versicherte ihm Warwel. »Obwohl ich ehrlich sein muss: Jetzt, da die Clans nach Spionen Ausschau halten, wird es schwieriger werden.«
Ton nickte. »Ist Chem…?«
»Du willst wissen, ob er noch lebt? Ja, anscheinend hat ihn bisher niemand bemerkt.«
Dann bestand noch eine Chance. Ton griff nach dem Schöpflöffel und führte ihn an die Lippen. Die Suppe war heiß und würzig, und sie roch wie Chems Laden. Das Fleisch war zart und genauso köstlich, wie er es immer vermutet hatte. Warum sonst hätten die Krieger alles Fleisch für sich beanspruchen sollen? Er aß, bis sowohl das Brot als auch die Suppe verzehrt waren, dann wandte er sich zu Warwel um.
»Also, wie kann ich zu eurem Glauben übertreten?«
Der Mann blinzelte überrascht, dann lachte er. »Das brauchst du nicht zu tun, Ton. Aber wenn du willst, werden wir dir alles über die Fünf beibringen.« Er zögerte. »Du würdest dich so leicht vom Zirkel abwenden?«
Ton zuckte die Achseln. »Was hat Lore je für mich oder meine Familie getan? Er kümmert sich nur um Krieger.«
»Und die anderen Götter?«
»Auch von denen hat mir keiner je etwas Gutes getan.« Ton gähnte. Die Erschöpfung, die Wärme im Raum und das Essen machten ihn schläfrig. Gli hatte ihn immer bezichtigt, übereilte Entscheidungen zu treffen, wenn er müde war. Er runzelte die Stirn. »Ich sollte wohl warten, bis Gli herkommt, aber in der Zwischenzeit kann es nichts schaden, mehr über eure Götter zu erfahren.«
Warwel lächelte breit. »Dann werden wir dich unterrichten. Aber fürs Erste denke ich, dass du dich vor allem einmal ausschlafen musst. Komm mit mir, dann werde ich zusehen, dass man dir ein Bett gibt.«
Der freigelassene Siyee war jetzt nur noch ein Tupfen am nebligen Morgenhimmel. Aus den Augenwinkeln sah Auraya, wie Nekaun die Arme sinken ließ, und sie wusste, dass das Spiel nun von neuem beginnen würde.
»Ich dachte, wir könnten heute zusammen die Stadt erkunden«, bemerkte er leichthin. »Ich würde dich gern mit meinem Volk bekannt machen.«
Sein Volk, überlegte sie. Als sei er der alleinige Herrscher dieses Kontinents. Ich frage mich, wie die anderen Stimmen das finden mögen.
»Das wäre interessant«, antwortete sie. »Ich habe inzwischen sicher alles im Sanktuarium gesehen und jeden kennengelernt - bis auf die anderen Stimmen natürlich.«
»Sie können es kaum erwarten, dir vorgestellt zu werden«, erwiderte er.
Sie lächelte dünn. »Das bezweifle ich.«
Er kicherte. »Du darfst nicht vergessen, dass sie dir im Gegensatz zu mir einmal auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden haben. Möglicherweise hast du sie damals ziemlich eingeschüchtert.«
Eingeschüchtert? Sie runzelte die Stirn. Er wird sich wohl eher Sorgen machen, dass sie mich angreifen und damit sein Versprechen brechen könnten, dass mir hier nichts geschehen wird.
Er deutete auf die Treppe. »Wollen wir weitergehen?«
Sie folgte ihm in das Gebäude und dann weiter durch das Sanktuarium. Turaan eilte schweigend hinter ihnen her. Mehrere Götterdiener blieben stehen, um sie kurz anzustarren, bevor sie weitergingen. Aus ihren Gedanken las sie eine mittlerweile vertraute Mischung aus Neugier und Abneigung ihr gegenüber. Die Pentadrianer kannten sie nur aus der Schlacht. Sie war eine Feindin, die ihren früheren Anführer getötet hatte. Sie akzeptierten jedoch Nekauns Urteil und waren zu dem Schluss gekommen, dass sie, wenn er Auraya mit Höflichkeit begegnete, das Gleiche tun sollten.
Ihre Wertschätzung für Nekaun war hoch, aber dahinter verbarg sich nicht die gleiche Zuneigung, die sie für die anderen Stimmen empfanden. Außerdem hatte sie Gedanken aufgefangen, in denen man ihn mit seinem Vorgänger verglich, und diese Informationen sagten ihr, dass die Menschen Nekaun zwar mochten und respektierten, dass sie Kuar jedoch verehrt hatten.
Diese Verehrung möchte Nekaun ebenfalls, vermutete sie. Was wird er tun, um sie sich zu verdienen? Sie schauderte. Noch einmal Nordithania angreifen? Aber indem er sie mit seinem Volk bekannt machte, hatte er einen kleinen Schritt getan, um das Verständnis zwischen Zirklern und Pentadrianern zu fördern. Vielleicht hoffte er, dass es ihm Ansehen bei seinem Volk bringen würde, wenn er einen Krieg vermied.
Sie hatten jetzt die große Halle erreicht, durch die man ins Sanktuarium kam. Es waren genauso viele Menschen zugegen - Götterdiener und andere - wie an dem Tag, an dem Nekaun sie zum ersten Mal hierhergeführt hatte. Die Leute blieben stehen, um sie zu beobachten, während sie Nekaun zu der überwölbten Fassade vor dem Gebäude folgte. Er trat hindurch und ging die breite Treppe hinab.
Am Rand der Straße unter ihnen standen neben einer Sänfte mehrere muskulöse, barbrüstige Männer und ein Götterdiener. Als Auraya genauer hinschaute, fing sie Langeweile und Groll, aber auch Resignation auf. Dies waren die ersten Sklaven, die sie sah. Nekaun hatte ihr von der Tradition, Verbrecher zu versklaven, erzählt. Es war eine neuartige Idee für sie - vielleicht barmherziger als die Hinrichtung -, auch wenn sie lediglich den Götterdienern von Nutzen war, da das System nur funktionierte, wenn die Sklavenmeister genug Gaben besaßen, um Rebellionen zu unterdrücken.
Nekaun half ihr in die Sänfte, wo sie ihm und seinem Gefährten gegenüber Platz nahm. Der Götterdiener blaffte einige Befehle, und die Sklaven bückten sich, um die Sänfte aufzunehmen. Es war ein beunruhigendes Gefühl, von den Männern getragen zu werden. Obwohl ihr nichts Schlimmeres passieren konnte, als dass sie die Sänfte fallen ließen, konnte sie ihr Unbehagen nicht unterdrücken.
Auf Nekauns Anweisung hin gingen sie die breite Hauptstraße der Stadt hinunter. Ihr Gastgeber begann zu sprechen, und Turaan übersetzte. Er redete von den Häusern, die vor langer Zeit abgerissen worden waren, um diese Promenade zu schaffen, und von anderen Veränderungen, die man vor hundert Jahren vorgenommen hatte. Auraya hörte kaum zu. Ihre Aufmerksamkeit galt den Gedanken der Menschen um sie herum.
Als sie die Sänfte bemerkten, blieben sie stehen, um das Geschehen zu beobachten. Anfangs war es Nekaun, dem ihr Interesse galt, da der Anblick der Ersten Stimme sie in Aufregung versetzte. Auraya fing Eindrücke von Plänen auf, die darauf zielten, bei Freunden und Verwandten mit diesem Ereignis zu prahlen.
Aber die Aufregung war kurzlebig. Überall um sie herum wurde das Interesse bald von Erschrecken und Wut verdrängt, und sie war der Grund dafür. Jene, die sie nicht mit dem Krieg in Zusammenhang brachten, wurden von ihren Nachbarn, die mehr darüber wussten, ins Bild gesetzt. Es hatten bereits Gerüchte die Runde gemacht, dass sie sich im Sanktuarium aufhielt. Nur wenige Pentadrianer betrachteten ihre Anwesenheit mit Wohlwollen, aber jetzt waren sie entrüstet, dass sie sich den Menschen so offen zeigte.
Es dürfte niemanden scheren, dass dies Nekauns Idee war, dachte sie ironisch.
Als sich der Zorn der Menge verschärfte, überlief Auraya ein warnendes Kribbeln. Sie zog ein wenig Magie in sich hinein und umgab sich mit einer leichten, unsichtbaren Barriere. Nekaun sprach jetzt langsamer. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine schwache Falte gebildet, aber er redete weiter. Auraya gab sich alle Mühe, unbefangen zu wirken, und hoffte, dass die Menge keine Gelegenheit haben würde, sich ihnen in den Weg zu stellen, solange sie nur in Bewegung blieben.
Nicht dass ich etwas von ihnen zu befürchten hätte, sagte sie sich. Aber es wäre peinlich für Nekaun, und das ist bei einem Mann in seiner Position niemals gut.
Inzwischen hatten sich etliche Menschen dem Tross angeschlossen. Aurayas Herzschlag beschleunigte sich. Als die Menge wuchs, bemerkten auch die Sklaven, was geschah, und sahen sich mit besorgter Miene um. Turaan war bleich, übersetzte jedoch halsstarrig weiter. Nekaun gab den Befehl, in eine Nebenstraße einzubiegen.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als aus schmalen Straßen zu beiden Seiten weitere Menschen erschienen. Eine lärmende Menge umringte die Sänfte und zwang sie zum Halten.
»Mörderin!«, rief jemand.
»Geh nach Hause. Du bist hier nicht willkommen!«
Diese Schmähungen wurden in der Sprache der Einheimischen vorgebracht, aber Auraya wusste, dass sie so tun konnte, als hätte sie dem Tonfall der Menschen entnommen, was ihre Worte bedeuteten. Sie sah sich um. Ein Mann begegnete ihrem Blick, runzelte die Stirn und spuckte ihr dann ins Gesicht. Der Speichel prallte gegen ihren Schild und tropfte zu Boden.
Ihr wurde bewusst, dass ihr Herz hämmerte. Obwohl sie diese Menschen nicht fürchtete, reagierte sie unwillkürlich auf ihr drohendes Verhalten. Nekaun gab den Sklaven die Anweisung, die Sänfte zu Boden zu lassen, dann stand er auf. Die Menge zog sich einige Schritte zurück, und Stille kehrte ein.
»Männer und Frauen von Glymma, beschämt mich nicht«, bat er. »Ich verstehe euren Zorn. Hier vor euch sitzt eine Zauberin, die einst eure Feindin war, und ihr seht keinen Grund, ihre Gunst zu erringen. Aber es gibt einen Grund. Einen sehr guten Grund. Sie kennt euch nicht und versteht euch nicht. Wenn sie es täte, würde sie euch ebenso lieben wie ich. Wie ich würde sie es nicht ertragen mitanzusehen, wie euch oder euren Familien Schaden zugefügt wird. Ich weiß, dass ihr ehrenhaft und treu seid. Lasst sie das sehen, nicht diesen sinnlosen Hass.«
Die Menschen waren nicht zur Gänze überzeugt, aber nachdem Nekaun gesprochen hatte, trat an die Stelle ihrer Wut unzufriedener, widerstrebender Gehorsam. Murrend zogen sie sich zurück. Nekaun nahm wieder Platz und nickte dem Götterdiener zu, der die Aufsicht über die Sklaven führte. Die Sänfte wurde abermals angehoben, und die Menge teilte sich, um sie durchzulassen.
Obwohl Nekaun entspannt wirkte, nahm Auraya doch eine gewisse Steifheit in seiner Haltung wahr. Außerdem sah er ihr nicht in die Augen. Es war offenkundig, dass er sich übel verschätzt hatte, was sein Volk betraf.
Ihr Herz schlug noch immer sehr schnell, doch sie verspürte nur Traurigkeit. Sie hassen mich, dachte sie. Sie hassen mich, und ich verstehe, warum. Ich stehe für ihren Feind. Es wird Nekaun einige Anstrengungen kosten, sie dazu zu bewegen, sich in Zukunft mit Nordithania zu verbünden. Tatsächlich könnte ein solches Unterfangen durchaus unmöglich sein.
Sobald die Sänfte in die nächste Straße eingebogen war, befahl Nekaun den Männern, ins Sanktuarium zurückzukehren. Auraya sah ihn fragend an.
»Wir werden zurückfahren und in einen geschlossenen Plattan umsteigen«, erklärte er ihr. »Nicht um deiner Sicherheit willen«, fügte er hinzu. »Dir droht keine Gefahr, aber es wird bequemer sein und weitere Verzögerungen verhindern. Es tut mir leid, dass du das erleben musstest.«
»Tut es dir wirklich leid? Oder diente dieser Ausflug dazu, mir zu zeigen, welche Auswirkungen meine angeblichen Verbrechen haben?«
»Nein. Ich hatte mit etwas Derartigem nicht gerechnet«, sagte er. »Ich vergesse manchmal, dass es den meisten Menschen schwerer fällt als mir zu verzeihen.«
»Dann warst du nicht im Krieg?«
»O doch.« Er wandte sich zu ihr um, und alle Zeichen von Schwäche waren verschwunden.
»Dann wirst du ihren Zorn gewiss verstehen«, sagte sie. »Es ist niemals einfach, jemandem zu vergeben, dass er Verwandte und Freunde getötet hat, und ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu glauben, euer Angriff gegen Nordithania sei gerechtfertigt gewesen, denn sonst würden sie das Vertrauen in ihre Götter und ihre Anführer verlieren. So geben sie dem Volk die Schuld, das sie angegriffen haben.«
»Dein Volk ist dieses Verbrechens jetzt ebenfalls schuldig«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Es ist erheiternd zu hören, wie du uns tadelst, obwohl du selbst jene begleitet hast, die uns überfallen haben.«
»Der Angriff der Siyee auf die Vögel?« Sie schüttelte den Kopf. »Das war keine Invasion, sondern ein törichter Racheakt für die Taten deines Volkes in Jarime.« Veranlasst von Huan, fügte sie im Stillen hinzu.
»Interessant, dass du das denkst«, sagte er.
»Was sonst sollte es sein? Eure Abwehrmaßnahmen müssen wahrhaftig schwach sein, wenn etwa dreißig Siyee eine Bedrohung für Südithania darstellen können.«
»Dreiunddreißig Siyee und eine Zauberin«, korrigierte er sie. »Ah, aber deine Götter haben dir verboten, an Kampfhandlungen teilzunehmen, nicht wahr? Wie eigenartig.«
Sie zuckte die Achseln.
Er lächelte. »Ich vermute, deine Götter hatten andere Gründe, dich hierherzuschicken. Das Problem ist, ich komme nicht dahinter, um was es sich dabei handelt. Abgesehen davon vielleicht, dass du ein Spion bist.«
»Warum hast du mich dann durch deine Stadt geführt?«
»Weil ich weiß, dass du hier keine großen Geheimnisse oder Schwächen entdecken wirst. Wir planen keine weitere Invasion Nordithanias. Was den Frieden zwischen unseren Völkern betrifft, ist es mir ernst.«
Sie sah Nekaun an. »Aber ich habe hier durchaus eine Schwäche gefunden. Du verstehst dein eigenes Volk nicht wirklich. Du magst ihre Gedanken lesen, aber du willst nicht akzeptieren, dass inzwischen zu viel Hass zwischen unseren Völkern ist, als dass ein Friede so leicht zu bewerkstelligen wäre. Beide Seiten werden sich jedem Versuch widersetzen, sich mit jenen zu verbinden, die ihre Freunde und Verwandten getötet haben. Sie sinnen auf Rache, und wenn sie sie bekommen, wird die jeweils andere Seite Vergeltung üben. Es könnte so weitergehen, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert. Warum? Weil deine Götter dein Volk gedrängt haben, meins zu überfallen.«
Er musterte sie, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf seinen Zügen aus. »Ah, aber hast du dich jemals gefragt, warum sie das getan haben?«, hakte er nach. »Weil deine Götter nur die Anhänger des Zirkels dulden. Haben die Völker der Welt nicht die Freiheit verdient zu huldigen, wem sie wollen?«
Die Sänfte näherte sich jetzt der Treppe des Sanktuariums. Auraya hielt Nekauns Blick stand. »Vielleicht haben sie es verdient, aber wenn deine Götter glaubten, eine Invasion Nordithanias würde die Sterblichen von der Intoleranz der Zirkler befreien, haben sie einen ungeheuren Fehler gemacht. Sie haben lediglich dafür gesorgt, dass viele Menschen starben, Zirkler wie Pentadrianer gleichermaßen, und dass auch in Zukunft noch viele sterben werden.«
Die Sänfte hielt an. Nekaun gab keine Befehle, sondern erwog stattdessen ihre Worte.
»Darauf gibt es zwei Antworten. Erstens, dass die Entscheidung nicht die der Götter war, da sie uns dergleichen Dinge überlassen. Zweitens, dass wir niemals Frieden finden werden, wenn wir uns nicht darum bemühen. Es mag viel Zeit und Anstrengung kosten.« Er lächelte. »Im Gegensatz zu dir habe ich alle Zeit der Welt.«
Seit ihrer Ankündigung, dass der Diener sein Ziel erreicht habe, und ihrem Befehl an Yem, Gillen und Danjin, wieder in den Plattan zu steigen, war Ella mit ihren Gedanken an einem weit entfernten Ort. Die Männer sprachen jetzt mit gedämpfter Stimme, um sie nicht abzulenken. Als Gillen ein Spiel gewann, machten seine komischen, erstickten Laute und seine triumphierenden Gesten Danjins Verlust einer Münze weit weniger schmerzlich.
Es half Danjin, dass er aus Spielen mit Gillen nur selten als Verlierer hervorging. Yem dagegen war überraschend geschickt in dem Spiel. Glücklicherweise verachtete Yem Wetten und Glücksspiel geradeso sehr, wie Gillen sie liebte. Wenn er an ihn verlor, kostete das Danjin nur ein wenig Stolz.
Gillen hatte das Spielbrett und die Figuren jetzt beiseitegeräumt und saß mit geschlossenen Augen da. Langsam kippte der Kopf des Mannes zur Seite, und sein Mund öffnete sich. Leises Schnarchen erfüllte den Wagen.
Yem schien nichts davon zu bemerken. Er saß mit der entspannten Haltung eines jüngeren Mannes da, die Augen fast geschlossen und den Blick ins Leere gerichtet. Wann immer das Gespräch verebbte, verfiel er in diesen meditativen Zustand, und es hätte Danjin nicht überrascht herauszufinden, dass dies eine Fähigkeit war, die man allen Kriegern beibrachte. Wann immer ein lautes Geräusch erklang oder jemand sprach, öffnete Yem die Augen und war auf der Stelle hellwach.
Diese Fähigkeit könnte ich ebenfalls gebrauchen, überlegte Danjin.
Er wandte sich zu Ella um und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie ihn musterte. Sie lächelte.
»Hast du viel herausfinden können?«, fragte er.
Sie nickte, dann sah sie Yem an, der sie jetzt erwartungsvoll beobachtete.
»Ich werde es euch erzählen«, sagte sie. »Danach müssen wir schlafen, so gut wir können. Wir werden bei Nacht reisen, um die Gefahr zu verringern, dass die Dorfbewohner von unserer Ankunft erfahren. Ein Plattan, der bei Nacht unterwegs ist, mag eine gewisse Neugier erregen, aber wenn wir tagsüber reisen, wird man uns mit Sicherheit bemerken.«
»Die Arems werden das nicht durchhalten«, warnte Yem sie.
»Dann werden wir weitere Tiere kaufen.«
Yem runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Danjin hatte gesehen, wie der Krieger den Dienern half, die Tiere zu versorgen, und er hatte sogar gehört, wie er einem Arem beruhigende Worte ins Ohr murmelte, nachdem ein fernes Heulen aus dem Wald es erschreckt hatte. Nur wenige dunwegische Krieger besaßen Reynas, aber jene, die es taten, beteten die Tiere beinahe an. Danjin hatte zuvor noch nie gesehen, dass ein Krieger den langsamen, schwerfälligen Arems gegenüber auch nur die geringste Wertschätzung gezeigt hätte.
Danjin blickte zu Gillen auf, der immer noch schnarchte. Er tippte mit der Spitze seiner Sandale den Fuß des Mannes an. Er musste dies mehrmals wiederholen, bevor Gillen aufwachte.
»Was? Rasten wir jetzt?«, fragte Gillen blinzelnd.
»Nein. Ellareen wird uns mitteilen, was sie herausgefunden hat«, erwiderte Danjin.
Gillen rieb sich die Augen. »Oh.«
»Nimm dir einen Moment Zeit, um richtig wach zu werden«, sagte Ella sanft.
Der Botschafter schlug sich auf die Wangen. »Ich bin so weit. Erzähl nur.«
Ella lächelte und zuckte die Achseln. »Die Geschichte, die ich aus den Gedanken der Dorfbewohner zusammengesetzt habe, ist folgende: Vor fast einem Jahr ist in der Nähe eines Dorfes namens Dram ein pentadrianisches Schiff gesunken. Die Dorfbewohner haben von dem Schiff viele Menschen gerettet und in ihren Häusern willkommen geheißen. Die Überlebenden haben ihnen ihre Hilfe vergolten, indem sie auf den Feldern arbeiteten oder häusliche Pflichten versahen. Als sie den Wunsch äußerten zu bleiben, unterstützten die Dorfbewohner sie dabei, Häuser zu bauen und Arbeit zu finden, und das mit der Erlaubnis des Clans, dem dieses Land gehört.
Was sie nicht wissen, ist, dass das Schiff mit Absicht auf Grund gesetzt worden war und dass die angeblichen Opfer in ihrem unfruchtbaren Heimatland kein kärgliches Dasein gefristet hatten, wie diese behaupteten. Es waren pentadrianische Priester und ihre Familien, ausgeschickt, sich mit Dunwegern anzufreunden und diese dann zu bekehren.«
Sie zog die Brauen zusammen. »Bisher ist es ihnen gelungen, das halbe Dorf zu bekehren. Die Übrigen akzeptieren die Bekehrung der anderen, obwohl einige den Neuankömmlingen aus verschiedenen eher kleinlichen Gründen grollen.« Sie sah Yem an. »Sobald die Pentadrianer sich niedergelassen hatten, trafen sie Vorkehrungen, unzufriedene Diener nach Dram bringen zu lassen. Ich weiß nicht, warum der einheimische Clan diesen Pentadrianern erlaubt hat zu bleiben, aber ich habe die Absicht, es herauszufinden. Die Dorfbewohner glauben, der Zuwachs der Ernteerträge durch die zusätzlichen Arbeiter sei der Grund dafür, warum ihre Anführer sich die Dinge nicht allzu genau ansehen.«
Yem zuckte die Achseln. »Wir bekommen in Chon nicht oft Mitglieder des Correl-Clans zu Gesicht. Sie zahlen ihre Steuern und nehmen an den Abstimmungen teil, bleiben ansonsten aber unter sich.«
»Ich möchte ihnen einen Besuch abstatten«, sagte sie.
»Wir werden morgen an der Straße zu ihrer Festung vorbeikommen«, erwiderte er.
Ella blickte nachdenklich drein. »Gut. Wir werden ihre Hilfe brauchen, wenn wir diese Pentadrianer zusammentreiben.«
»Wenn du die Festung besuchst, gehst du das Risiko ein, dass die Pentadrianer von deiner Ankunft erfahren«, warnte Gillen sie. »Was ist, wenn es dort Spione gibt?«
»Ich werde sie finden und mich um sie kümmern«, entgegnete sie entschieden.
Yem rutschte auf seinem Platz hin und her. »Was wirst du mit den Pentadrianern machen?«
Ella runzelte die Stirn. »Das zu entscheiden wird bei Juran und I-Portak liegen.«
»Und sie werden auch über das Schicksal der Dorfbewohner entscheiden?«
»Ja.«
Yem runzelte abermals die Stirn, aber er schwieg. Gillen verzog das Gesicht und seufzte.
»Die Dorfbewohner sind getäuscht worden«, bemerkte Danjin. »Sie haben sich lediglich des Vergehens schuldig gemacht, Menschen eine helfende Hand zu reichen, von denen sie glaubten, sie seien in Not. Dafür wird man sie doch gewiss nicht bestrafen.«
»Die Clans wird das nicht interessieren«, sagte Gillen. »Sie werden an ihnen ein Exempel statuieren wollen, um in Zukunft Diener davon abzuhalten, ihre Herren zu verlassen oder Feinde zu verstecken.«
»Man wird ihnen eine Gelegenheit geben, ihr Verhalten zu erklären«, versicherte Yem Danjin.
Wird ihnen das etwas nutzen?, fragte sich Danjin. Die dunwegische Rechtsprechung war im Allgemeinen unversöhnlich und brutal.
»Sie haben sich von den Göttern abgewandt«, erklärte Ella düster. »Sie sind nicht vollkommen schuldlos, Danjin.«
Er sah sie bestürzt an. Ihre Augen wurden schmal, und ein kalter Schauer überlief ihn. Warum habe ich das Gefühl, dass sie förmlich nach Anzeichen von Treulosigkeit sucht? Er drängte das Gefühl beiseite. Meine Rolle besteht darin, sie zu beraten. Es wird von mir erwartet, dass ich unbequeme Fragen stelle.
»Was ist mit den Dorfbewohnern, die sich nicht von den Göttern abgewandt haben, mit denen, die nicht wissen, dass sie betrogen wurden?«
»Du meinst diejenigen, die die Anwesenheit des Feindes in ihrem Dorf hätten melden sollen?«, fragte sie zurück. »In diesem Fall ist niemand schuldlos, Danjin.«
»Sie könnten die Tatsache, dass der Clan sich nicht eingemischt hat, als Zustimmung gewertet haben«, wandte Danjin ein. »Sie hätten es nicht gewagt, sich gegen ihre Herren zu stellen.«
»Das kannst du nicht wissen, Danjin«, erwiderte sie lächelnd, »aber wir werden es bald genug herausfinden. Wenn es dein Gewissen erleichtert, werde ich bei den Dorfbewohnern nach solchen Gedanken Ausschau halten. Ich bezweifle jedoch, dass die Clans ebenso mitfühlend sein werden wie du.« Sie blickte zu Yem hinüber, der resigniert die Achseln zuckte. »Jetzt lasst uns zusehen, dass wir so viel Schlaf wie möglich bekommen. Morgen liegt ein anstrengender Tag vor uns.«
In dem Saal, in dem die Stimmen offizielle Bankette für Gäste abhielten, hallten Reivans und Imenjas Schritte wider. Am Ende des langen Tisches waren fünf Gedecke hergerichtet. Nur fünf Menschen aßen in diesem riesigen Raum. Es wirkte lächerlich, aber es war alles ein Teil von Nekauns Bemühungen, Auraya zu beeindrucken.
Als Reivan und Imenja sich dem Ende des Tisches näherten, wurde eine Tür geöffnet. Eine Frau trat ein, und einen Moment lang sah Reivan nichts als die weiße Gewandung einer zirklischen Priesterin, und Angst stieg in ihr auf.
Dann bemerkte sie Nekaun hinter der Frau und kurz darauf Turaan, der den beiden folgte. Das Schwarz seiner Roben bildete einen starken Gegensatz zu Aurayas weißer Kleidung, und Reivans Furcht machte einer nervösen Erregung Platz.
Da sowohl Imenja als auch Nekaun anwesend waren, fühlte sie sich wieder sicher. Auraya hatte keine Chance, Nekaun und Imenja an magischer Stärke zu übertreffen… Obwohl es Reivan schwerfiel, sich vorzustellen, dass die beiden Stimmen am gleichen Strang zogen.
Sie würden es tun, wenn es sein müsste, dachte sie. Dann holte sie tief Luft und hoffte, dass ihre Angst sich nicht auf ihrem Gesicht gezeigt hatte. Natürlich würde das nicht viel nutzen, wenn Auraya nach wie vor Gedanken lesen konnte. Sie blickte zu Imenja hinüber.
Kann sie es?
Wir sind uns nicht sicher.
»Priesterin Auraya, dies ist die Zweite Stimme, Imenja«, sagte Nekaun. Turaan übersetzte die Worte ins Hanianische. »Imenja, dies ist Priesterin Auraya, eine ehemalige Weiße«, beendete Nekaun die Vorstellung.
»Willkommen in Glymma und im Sanktuarium«, erwiderte Imenja auf Avvensch. »Es ist viel angenehmer, dir beim Essen zu begegnen, als auf einem Schlachtfeld.« Aurayas Miene blieb ausdruckslos, bis Turaan übersetzte, was Reivan dahingehend deutete, dass Auraya doch nicht in der Lage war, Gedanken zu lesen.
Die ehemalige Weiße lächelte schwach. »Das ist es gewiss - auch für mich.«
Imenja drehte den Kopf leicht in Reivans Richtung, als widerstrebe es ihr, Auraya auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen.
»Dies ist meine Gefährtin, Reivan.«
Auraya sah Reivan direkt an. »Ich fühle mich geehrt, dich kennenzulernen, Gefährtin Reivan. Nekaun hat mir viel von dir erzählt, unter anderem, dass du die pentadrianische Armee aus den Minen geführt hast.«
Reivan schoss die Röte ins Gesicht. »Auch ich fühle mich geehrt, dich kennenzulernen.« Wie viel hat er ihr über mich erzählt? Oh, mach dich nicht lächerlich, Reivan. Er wird wohl kaum mit einer ehemaligen Weißen Herzensangelegenheiten besprechen.
Die ehemalige Weiße wirkte erheitert, was zweifellos auf Reivans Erröten zurückzuführen war. Reivan war erleichtert, als die Frau ihre Aufmerksamkeit wieder Imenja zuwandte, die eine Bemerkung darüber machte, dass Reivan die sennonische Sprache beherrsche und sie ihre Unterhaltung vielleicht auf Sennonisch fortsetzen sollten. Reivan hörte jedoch kaum zu, da Nekaun endlich ihren Blick erwiderte. Sein Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen, dann wandte er sich wieder ab und deutete auf den Tisch.
»Bitte, setzt euch«, sagte er. »Wir werden es uns bequem machen, während wir reden.«
Imenja und Auraya gingen zu gegenüberliegenden Seiten des Tisches, während Nekaun seinen gewohnten Platz am Kopfende der Tafel einnahm. Reivan fand sich Turaan gegenüber. Der Mann bedachte sie mit einem kurzen, hochmütigen Blick, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen richtete.
»Es ist eine interessante Idee, diese Position eines Gefährten«, bemerkte Auraya. »Ich hatte einen Ratgeber, aber es wurde nicht von ihm verlangt, Priester zu werden.«
»Warum nicht?«, fragte Imenja.
»Ein Ratgeber braucht nur klug und gebildet zu sein und gute Beziehungen zu haben. Ein Priester oder eine Priesterin muss über Gaben verfügen. Wenn wir unsere Ratgeber ausschließlich aus der Priesterschaft wählten, würden wir möglicherweise wertvolle Kandidaten aus unserem Dienst ausschließen.«
»Das ist wahr«, pflichtete Imenja ihr bei. »Und das ist auch der Grund, warum wir nicht mehr von all unseren Götterdienern verlangen, dass sie über Befähigungen verfügen.«
Bitte, verrate ihr nicht, dass ich nicht über Magie gebiete, dachte Reivan und sah Imenja dabei an. Es wäre mir lieber, wenn eine ehemalige Weiße das nicht wüsste.
»Die meisten unserer Götterdiener verfügen über Befähigungen«, ergänzte Nekaun. »Die wenigen Ausnahmen besitzen herausragende Talente, die ihren Mangel an magischer Stärke mehr als wettmachen.«
»Habt ihr eine Gruppe, die den Denkern ähnelt?«, wollte Imenja wissen.
Auraya schüttelte den Kopf. »Es gibt wohlhabende, gebildete Männer und Frauen, die zum Vergnügen oder zu Zwecken des Handels akademischen Tätigkeiten nachgehen, aber soweit ich weiß, haben sie sich nie zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Was haben eure Denker denn in letzter Zeit herausgefunden oder entwickelt?«
Nekaun beschrieb mehrere Konstruktionen, die die Denker entworfen hatten. Einige Diener brachten die ersten Speisen herein, und das Gespräch wandte sich anderen Themen zu, wobei es gelegentlich ins Stocken geriet, da Turaan immer wieder übersetzen musste. Er trank zwar eine Menge Wasser, aber seine Stimme wurde im Laufe des Abends heiser. Reivan brauchte kaum etwas zu sagen. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, alles in sich aufzunehmen, was Auraya betraf.
Nachdem der letzte Gang abgeräumt worden war, beugte Imenja sich vor. »Also, welchen Eindruck hast du bisher vom Sanktuarium und von Glymma gewonnen?«
Auraya lächelte. »Das Sanktuarium ist so schön wie ein Palast. Glymma ist offensichtlich mit Bedacht und gesundem Menschenverstand geplant und erbaut worden. Besonders beeindruckt bin ich von euren Aquädukten und den müllfreien Straßen.«
»Und von den Bewohnern der Stadt?«
»Sie sind nicht besser oder schlechter als die in den Städten des Nordens.«
Imenja lächelte. »Nicht schlechter?«
»Nein.«
»Ich hätte gedacht, dass wir einen Vorzug gegenüber den Menschen im Norden hätten.«
»Und der wäre?«
»Wir begegnen Traumwebern oder jenen, die toten Göttern folgen, nicht mit Verachtung, und wir misshandeln sie nicht.«
Auraya nickte. »Das ist wahr. Aber mein Volk verzichtet darauf, andere Länder zu überfallen. Ich denke, das ist ein Punkt zu unseren Gunsten, der euren Vorzug bei weitem überwiegt.« Sie hielt inne, um Imenja anzusehen, dann zuckte sie die Achseln und wandte sich zu Nekaun um. »Und die Einstellung den Traumwebern gegenüber verändert sich langsam zum Besseren, dank der Weißen.«
Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Dank der Weißen? Haben sie nicht erst kürzlich Mirar aus Nordithania vertrieben?«
Aurayas Augen weiteten sich, dann wurden sie wieder schmal. »Das war nicht ihre Absicht«, sagte sie mit einem Anflug von Ironie.
»Nein? Dann kann er also zurückkehren, wann immer er es wünscht, und die Weißen werden ihn willkommen heißen?«
»Das bezweifle ich. Der Zirkel mag zwar bereit sein, auf die Duldung von Traumwebern hinzuwirken, aber was Mirar betrifft, werden sie wohl kaum ihre Meinung geändert haben.«
»Warum haben sie eigentlich eine so schlechte Meinung von ihm?«, hakte Nekaun nach.
Auraya dachte einen Moment lang über ihre Antwort nach. »Ihr Konflikt hat vor Jahrhunderten seinen Anfang genommen, und ich kann euch nicht sagen, was genau der Grund dafür war.«
»Es muss um mehr gegangen sein als um die Tatsache, dass die Traumweber keinen Göttern huldigen«, erwiderte Imenja.
Auraya nickte. »Ich glaube, er hat sich törichterweise gegen sie gestellt. Ich denke nicht, dass er denselben Fehler zweimal machen wird.«
Wirklich nicht?, fragte sich Reivan. Die Stimmen müssen wissen, ob Mirar gefährlich ist. Wenn er so gefährlich ist, dass die zirklischen Götter versucht haben, ihn zu töten, ist er dann auch für uns gefährlich? Er hat einen Angriff des mächtigsten Weißen überlebt, daher muss er über starke Magie verfügen… Und Genza bringt ihn hierher!
Auraya sah kurz zu Reivan hinüber, dann wandte sie den Blick hastig wieder ab.
»Würdest du gern wissen, wo er ist?«, fragte Nekaun.
»Ich habe kein Interesse an Mirar«, antwortete Auraya. »Wenn er in Südithania ist, kannst du ihn gern haben.«
»Kann ich das?« Nekaun kicherte. »Wie großzügig von dir.« Er lehnte sich zurück und sagte dann: »Es ist spät. Morgen will ich Auraya noch mehr von der Stadt zeigen, und dann haben wir ein Essen mit der Dritten Stimme Vervel. Ich werde Auraya zu ihren Räumen begleiten.«
Reivan hörte ihm kaum zu. Sie war sich sicher, dass soeben etwas Eigenartiges passiert war, obwohl sie keine Ahnung hatte, was es war. Und jetzt schien Nekaun es kaum erwarten zu können, sich zu verabschieden. Als die anderen sich erhoben und ihre Stühle zurückschoben, folgte Reivan ihrem Beispiel. Sie wechselten einige höfliche Worte, dann verließen Nekaun, Auraya und Turaan den Raum durch die Tür, durch die sie gekommen waren.
Als Imenja in die Halle hinaustrat, ging Reivan im Geiste noch einmal das Gespräch über Mirar durch. Sie hat mich so eigenartig angesehen, aber ich hatte nichts gesagt. Das kann doch nur bedeuten…
»Sie hat wahrscheinlich deine Gedanken gelesen«, sagte Imenja. »Ich glaube, wir haben sie endlich ertappt. Ich möchte jedoch nicht, dass sie davon erfährt. Sobald sie es weiß, werden wir diesen kleinen Vorteil verlieren.«
»Also werde ich ihr nicht noch einmal begegnen?«
»Nicht, bis wir ihr offenbaren, dass wir um ihre Fähigkeit wissen.« Imenja lächelte entschuldigend. Sie verließen die Halle und gingen in den Flur. »Was hältst du von ihr?«
Reivan überlegte. »Ich stufe die Chancen, dass sie sich mit uns verbünden wird, als nicht besonders hoch ein.«
»Nicht einmal dann, wenn Nekaun sich erböte, ihr Mirar auszuliefern oder ihn zu töten?«
»Nein«, antwortete Reivan langsam. »Wenn sie ihren Göttern treu ergeben ist, wird sie sich nicht von ihnen abwenden, ganz gleich, was Nekaun ihr anbietet.«
»Das hängt ganz davon ab, was ihren Göttern mehr gefallen würde. Würden sie sie im Austausch für Mirars Tod opfern? Sie ist keine Weiße mehr, daher wäre ihr Verlust für ihre Götter vielleicht nicht wichtig.«
»Sie ist eine mächtige Zauberin. Sie würden sie nicht verlieren wollen - zumindest nicht an uns.«
Imenja nickte. »Ich stimme dir zu. Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass sie sich uns zum Schein anschließen wird, um Mirars Tod zu erwirken.«
»Das wäre ein gefährliches Spiel. Würde sie eine Entdeckung und ihren eigenen Tod riskieren, nur um Mirars Ermordung zu sichern?«
»Das hängt davon ab, wie sehr ihre Götter Mirars Tod wollen.«
»Und ob Nekaun es will«, fügte Reivan hinzu. »Mirar ist ein mächtiger, unsterblicher Zauberer. Wenn er sich mit uns verbündet, wird es keine Rolle spielen, ob Auraya sich uns anschließt oder den Zirklern treu bleibt.«
»Das wäre für alle Beteiligten besser, denke ich«, pflichtete Imenja ihr bei. »Genza mag ihn und denkt, dass wir ihn ebenfalls mögen werden.«
»Es gibt jedoch ein entscheidendes Problem.«
»Welches?«
»Traumweber töten nicht. Im Kampf gegen Auraya wäre er uns als Verbündeter nicht von großem Nutzen.«
»Ah. Das ist wahr.«
»Noch besser wäre es, sie beide auf unserer Seite zu haben.« Reivan kicherte. »Obwohl das problematisch wäre, wenn die beiden einander ständig an die Kehle gingen.«
Imenja lachte düster. »Ja, allerdings könnte es auch recht unterhaltsam sein.«
Als Danjin die Türlasche des Plattans anhob, sah er die Tore eines beeindruckenden Bauwerks vor sich. Die Festung des Correl-Clans umwand den Gipfel eines Hügels mit beinahe schlangenhafter Anmut. Man konnte nicht mehr von ihr sehen als hohe Mauern, aber diese Mauern erhoben sich wie natürliche Felsvorsprünge aus der Erde. Sie machten den Eindruck, als stünden sie schon seit Jahrtausenden dort, und trotz oder vielleicht wegen der unterschwelligen Anzeichen von Reparaturen hier und da konnte man sich gut vorstellen, dass sie für immer dort bestehen würden.
Im Innern lebte der kleine, von der Welt abgeschiedene Correl-Clan. Yem hatte ihnen erzählt, dass der Niedergang der Familie größtenteils darauf zurückzuführen sei, dass sie nur wenige männliche Erben hervorbrachte. Der gegenwärtige Clanführer war ein alter Mann, dessen einziger Sohn bei einem Unfall während seiner Ausbildung ums Leben gekommen war. Er hatte das Kind einer seiner Enkeltöchter zu seinem Nachfolger bestimmt.
Aber es gab genug Neffen und Vettern, um eine kleine Streitmacht von Kriegern zusammenzustellen.
Yem war vorausgeritten, um ihre Ankunft anzukündigen. Danjin konnte nicht umhin, sich um die Sicherheit des jungen Mannes zu sorgen. Wer wollte sagen, was geschehen würde, falls die Pentadrianer auch diese Krieger bekehrt hatten?
Danjin ließ die Türlasche sinken und sah Ella an. Sie lächelte.
»Mach dir keine Sorgen, Danjin. Yem ist in Sicherheit und hat bereits alles Notwendige veranlasst.«
Der Plattan verlangsamte das Tempo, als er den Hügel erreichte. Die Arems waren erschöpft. Plötzlich hallte das Geräusch ihrer Hufschläge von den engen Felsmauern wider, und der Plattan erreichte ebenen Boden. Der Wagen hielt an, und Ella zog sich die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. Danjin folgte ihr nach draußen, und Gillen stieg als Letzter aus.
Sie waren in einem Innenhof zwischen zwei Mauern der Festung angekommen. Der Hof lag verlassen bis auf zwei Krieger, die an einem zweiten Tor standen, und zwei Wachmänner, die Ella einen flüchtigen Blick zuwarfen. Einer der Krieger war Yem, der andere ein breitschultriger Mann mit grauen Strähnen im Haar.
»Sei mir gegrüßt, Ellareen von den Weißen. Willkommen in meinem Heim«, sagte der ältere Krieger leise.
Ella lächelte. »Sei mir gegrüßt, Gret, Talm von Correl. Dies sind Danjin Speer, mein Ratgeber, und Gillen Schildarm, Botschafter von Hania.«
»Willkommen. Begleitet mich hinein, wo wir es bequemer haben«, lud er sie ein.
Ella hatte Yem gebeten, dafür zu sorgen, dass diese Zusammenkunft in einem möglichst kleinen Kreis stattfand. Als sie durch das zweite Tor traten und durch einen schmalen Flur in eine Halle gingen, begegneten sie niemandem mehr. Ellas Blick war ein wenig geistesabwesend, und Danjin vermutete, dass sie nach den Gedanken unsichtbarer Zuschauer Ausschau hielt.
Gret führte sie durch die Halle zu einer Treppe, und sie stiegen in einen Flur hinauf. Kurze Zeit später blieb der Krieger vor einer Tür stehen und geleitete sie in einen höhlenartigen, mit großen Wandbehängen geschmückten Raum.
Ella nahm auf dem Stuhl Platz, den Gret ihr anbot. Der alte Mann ging zu einem Nebentisch und goss Fwa in fünf Becher, die er anschließend verteilte.
»Das ist ein beeindruckender Wandbehang«, murmelte Gillen, den Blick auf den größten der Behänge gerichtet. Er stellte eine prächtige Ansicht von Hügeln dar, die durch niedrige Mauern in Felder eingeteilt waren. In den Falten waren kleine Dörfer zu sehen. Das Meer war eine schimmernde Fläche dahinter, und am Himmel trieben riesige Wolken.
Es ist nur buntes Garn auf Stoff, dachte Danjin. Wie schaffen sie es, mit wenigen Stichen die Wirkung zu erzielen, als schimmere das Meer und als seien die Wolken vollkommen echt?
»Meine verstorbene Frau hat ihn gemacht«, sagte Gret. »Sie besaß großes Talent in dieser Kunst. Der Wandbehang zeigt den Blick vom Dach dieser Festung.«
»Sie war tatsächlich begabt«, erwiderte Gillen. »Es ist ein ungewöhnliches Thema für einen dunwegischen Wandbehang.«
»Ungewöhnlich bei einem so großen Stück«, pflichtete Gret ihm bei. »Frauen fertigen oft kleinere Wandbehänge dieser Art und hängen sie in ihren privaten Räumen auf - was der Grund ist, warum ihr noch nichts Derartiges gesehen habt.« Er lächelte. »Tia war ehrgeiziger. Mir gefallen ihre Arbeiten, daher habe ich sie nach ihrem Tod hierherbringen lassen.«
Er wandte sich ab und nahm Ella gegenüber Platz. Gillen und Danjin setzten sich links und rechts neben die Weiße. Danjin blickte abermals zu dem Wandbehang hinauf und fragte sich, ob eins der Dörfer, die darauf abgebildet waren, dasjenige war, in dem die Pentadrianer sich niedergelassen hatten.
»Yem meinte, es sei eine drängende und wichtige Angelegenheit, die euch herführt«, sagte Gret. »Wie kann ich euch helfen?«
»Ich brauche die Unterstützung deiner Krieger«, begann Ella. Als sie ihm von den Pentadrianern erzählte, die sich in Dram angesiedelt hatten, zeichnete sich Entsetzen auf den Zügen des alten Mannes ab.
»Bist du dir dessen sicher - dass ihre Absichten böse sind?«
»Ich habe es aus ihren Gedanken gelesen«, erwiderte Ella.
»Man hat mir erzählt, dass sie hart arbeiten und nicht versuchen, irgendjemanden zu beeinflussen.«
»Du bist der Sache nicht selbst nachgegangen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vertraue dem Anführer von Dram. Wenn es Probleme gegeben hätte, hätte er mir Meldung erstattet. Die Pentadrianer zahlen ihren Zehnten. Einige haben sogar Einheimische geheiratet.«
»Du hast Ehen zwischen Zirklern und Pentadrianern gestattet?«
Er zuckte die Achseln. »Natürlich.«
Ella schüttelte ungläubig den Kopf. »Wurden die Trauungen nach pentadrianischem oder nach zirklischem Ritus vollzogen?«
Gret hob die Hände. »Ich habe nicht danach gefragt.«
»Sind die Pentadrianer, die Mischehen eingegangen sind, Zirkler geworden, oder sind die Zirkler zum pentadrianischen Glauben übergetreten?«
Er zog die Schultern hoch.
»Was werden ihre Kinder sein, Pentadrianer oder Zirkler?«
»Ich weiß es nicht.« Zwischen seinen Brauen stand jetzt eine steile Falte. »Ich ziehe es vor, mich nicht in das Leben der Menschen einzumischen.«
»Eine bewundernswert großzügige Politik, wenn diese Neuankömmlinge aus Sennon oder Hania stammten. Aber diese Menschen sind unsere Feinde. Sie folgen Göttern, die uns vernichten würden, wenn sie könnten. Wir können ihnen nicht trauen - wie es uns hier deutlich gemacht worden ist.« Sie beugte sich vor, um Gret durchdringend zu mustern. »I-Portak pflichtet mir bei. Die Pentadrianer und die Bewohner von Dram müssen nach Chon gebracht und vor Gericht gestellt werden.«
Gret klappte der Unterkiefer herunter, aber dann schloss er den Mund hastig wieder. Sein Gesicht rötete sich. »Nach Chon? Ist das notwendig? Wir könnten die Verhandlungen auch hier abhalten.«
Ella schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich, etwas von solchem Ausmaß verborgen zu halten, Gret. Die Menschen werden es herausfinden.«
»Aber wollen wir den Pentadrianern die Befriedigung geben, dass die Welt von ihrem Erfolg erfährt - und sei er auch von noch so kurzer Dauer gewesen?«
»Die Menschen müssen sehen, was die Pentadrianer getan haben, um in Zukunft auf der Hut vor solchen Intrigen zu sein. Und sie müssen sehen, dass jenen, die Pentadrianer beherbergen, eine prompte und dem Vergehen entsprechende Strafe auferlegt wird.«
»Aber müssen alle Dorfbewohner nach Norden gehen? Was ist mit den Alten? Den Frauen? Den Kindern? Es ist eine weite Reise und eine grausame Härte für die Unschuldigen.«
Ella verzog das Gesicht. »Sie müssen alle gehen, oder es werden in Zukunft Unschuldige zu Opfern gemacht werden. Wirst du mich unterstützen?«
Gret ließ die Schultern sinken. »Natürlich.«
Während Ella die Zahl der erforderlichen Männer und eine Strategie erörterte, wie sie sich dem Dorf nähern und mit den Menschen dort verfahren wollten, dachte Danjin über den alten Krieger nach. Selbstverständlich würde sein Stolz leiden, wenn andere erführen, dass der Feind ihn hintergangen hatte. Auch sein Einkommen würde leiden. Ein Dorf, aus dem man die Bewohner entfernte, bedeutete, dass niemand sich um die Ernten, die Tiere und die Fischerei kümmerte. Danjin musste sich fragen, wie viel von Grets Entsetzen auf den Verlust von Ehre und Gewinn zurückzuführen war und wie viel auf die anstrengende Reise und die Strafe, die seine Untertanen erwartete.
Gleichzeitig hatte Danjin ein gewisses Verständnis für Grets Beteuerungen, und ein nagendes Unbehagen stieg in ihm auf. War Ella so erpicht darauf, an dem Dorf ein Exempel zu statuieren, dass sie alle mit gleicher Härte bestrafen würde, ob sie nun zum pentadrianischen Glauben übergetreten waren oder nicht, ob sie alt waren oder jung, erwachsen oder noch Kinder?
Ich nehme an, wir werden es bald herausfinden.
Während die Morgendämmerung durch den Dschungel kroch, wischte Mirar sich die Stirn ab und versuchte, den Schweiß zu ignorieren, der ihm bereits jetzt den Rücken hinunterlief. Schon bald würde Genza aus ihrer Kajüte kommen und die Barkasse wieder flussaufwärts steuern, und der Fahrtwind würde ein wenig Erleichterung bringen.
Mirar konnte sich gut vorstellen, wie unangenehm eine Flussreise durch Dekkar ohne eine Stimme an Bord sein würde. Jeden Abend, wenn Genza für eine Mahlzeit und einige Stunden Schlaf rastete, erstarb die Brise. Es gab nur wenig oder gar keinen Wind auf dem Fluss, und die Hitze war gnadenlos.
Mirar fand es in seiner Kajüte furchtbar schwül, daher schlüpfte er jeden Abend hinaus, um zusammen mit der Mannschaft auf Deck zu schlafen. Im Dschungel war es niemals still. Das Summen von Insekten und die Rufe der Vögel bildeten eine ständige Geräuschkulisse. Gelegentlich hallten auch andere Rufe durch die Bäume. Einige davon erregten mehr Aufmerksamkeit als andere. Einmal war dicht am Ufer ein tiefes Knurren erklungen, und alle Gespräche während des Essens hatten ein abruptes Ende gefunden. Ein Seemann hatte Mirar erklärt, dass dies der Ruf des legendären Roro sei, eines riesigen, schwarz bepelzten fleischfressenden Raubtiers mit gewaltigen, spitzen Zähnen. Die anderen Männer hatten Geschichten von Roros erzählt, die bei Nacht zu Schiffen hinausgeschwommen seien und Fahrgäste oder Seeleute davongeschleppt hätten.
Was erklärte, warum sie bei Nacht mehrere Lampen hell brennen ließen und warum sie mitten im Fluss festmachten, fernab überhängender Zweige, und Seile, an denen Glocken befestigt waren, um das Schiff banden.
Der Seemann war ein drahtiger Mann in mittleren Jahren namens Kevain. Jede Nacht lud er Mirar ein, auf dem überfüllten Deck an seiner Seite unter seinem Insektennetz zu schlafen, und als Gegenleistung dafür erbat er sich etwas von Tintels Öl. Kevain holte dann einen kleinen Schlauch mit einem starken Schnaps hervor, und sie tauschten Geschichten aus, bis das Getränk sie müde genug machte, um Schlaf zu finden.
Ein Geräusch in seiner Nähe lenkte Mirars Aufmerksamkeit auf Kevain. Der Mann rappelte sich hoch, rollte mit geschickten Griffen das Insektennetz auf und verstaute es. Dann grinste er Mirar an.
»Wir erreichen heute Unterstadt«, sagte er. Unterstadt war der Name des Ortes, auf den sie zusteuerten. »Du hast Angst vor Höhen?«, fragte er und zeigte auf die Steilwand, die über ihnen aufragte.
Mirar schüttelte den Kopf.
»Gut. Gut.« Der Mann ballte eine Hand zur Faust und schüttelte sie - eine Geste, die, wie Mirar vermutete, Zustimmung oder Ermutigung bedeutete. »Für jene, die es tun, ist es hart. Wenn du dich schlecht fühlst, schau nicht hinunter.«
»Das werde ich mir merken«, erwiderte Mirar.
Kevains Grinsen wurde breiter. »Danach reitest du die Winde. Du kannst dich glücklich schätzen. Ah, die Vierte Stimme ist wach, und ich mache mich am besten wieder an die Arbeit.«
Er gesellte sich zum Rest der Mannschaft und überließ es Mirar, Genza zu begrüßen. Man trug ein schnelles Morgenmahl auf, dann nahm Genza ihre Position am Bug ein.
Mirar suchte sich ein Plätzchen, wo er niemandem im Weg war, und sah zu, wie der Dschungel an ihnen vorüberglitt und die Steilwand mit ihren Felsen näher kam. Nach etwa einer Stunde verlangsamte die Barkasse ihr Tempo. Vor ihnen war ein kleiner Pier aufgetaucht. Genza überließ das Lenken des Bootes dem Stakenmann, der es geschickt zum Pier manövrierte und dort vertäute.
Domestiken trugen Vorräte von Bord. Mirar holte seinen Beutel aus seiner Kajüte, nickte dann zum Abschied Kevain zu und wartete in Genzas Nähe, bis sie ihm bedeutete, sich zu ihr zu gesellen. Schließlich traten sie gemeinsam auf den Pier und gingen, gefolgt von Götterdienern und Domestiken, an Land.
Am Ende des Piers führte eine schmale Straße zwischen dicht an dicht gebauten Holzhäusern hindurch. Die leuchtend bunt gestrichenen Mauern befanden sich in verschiedenen Stadien des Verfalls. Die Straße war mit Sand bedeckt, was seltsam wirkte. Mirar hatte bisher keinen Sand im Dschungel gesehen. Über jeder Tür hing ein Schild, das das Gewerbe des jeweiligen Hauses beschrieb. Die Einheimischen verkauften Essen und Wein und boten Transportmittel an oder vermieteten Betten und Frauen.
Letztere standen in Hauseingängen bereit, mit einem wenig überzeugenden Lächeln auf dem Gesicht und leuchtend bunten Kleidern am Leib, die ihre Reize deutlich erkennen ließen. Sie wirkten krank und unglücklich und zogen sich beim Anblick Genzas und der Götterdiener hastig in die Häuser zurück. Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte Mirar, und er beschloss, eines Tages hierher zurückzukehren und festzustellen, ob er ihnen helfen konnte. Genza sah die Frauen kaum an, während sie auf das Ende der Straße zuschritt.
Dort stand ein großes Gebäude. Direkt dahinter erhob sich die Steilwand. Genza blieb stehen, um zu beobachten, wie eine hölzerne Kiste vom Dach aufstieg. Mirar bemerkte die dicken Seile, die nach oben gezogen wurden. Er blickte auf. Die Steilwand überragte das ganze Dorf. Ein winziger Gegenstand bewegte sich an dem dunklen Fels entlang: eine weitere Kiste.
»Die Vorräte sind bereits auf dem Weg nach oben«, sagte Genza. »Wir werden eine der Kisten nehmen, wenn sie wieder heruntergelassen werden.«
Mirar bemerkte eine kleine Gruppe, die sich vor dem Gebäude zusammengefunden hatte. Er spürte Ärger, der jedoch bereits einem widerwilligen Respekt Platz machte, während diese Männer und Frauen den Grund dafür erkannten, warum ihr Aufstieg verzögert worden war.
Genza führte ihn in das Gebäude. Der größte Teil des Raums wurde von einem massigen Eisenrad beansprucht. Seile, so dick wie Mirars Arme, zogen sich durch eine Öffnung im Dach in die Höhe.
»Die Männer, die den Seilzug bedienen, müssen darauf achten, dass die hinauf- und hinabfahrenden Lasten immer gleich schwer sind. Da aber mehr Waren nach oben befördert werden als nach unten, weil Dekkar mehr Erzeugnisse nach Avven verkauft als umgekehrt, werden oben Sandsäcke als Ballast zugeladen.«
Mirar nickte. Das würde die sandigen Straßen des Dorfes erklären. Es hätte keinen Sinn gehabt, den Sand zurückzuschicken.
Als die Kiste, die gerade auf dem Weg nach unten war, langsam durch das Dach herabgelassen wurde, führte Genza Mirar eine Holztreppe zu einer Plattform hinauf. Ein Mann stand dort bereit, und als er Genza sah, machte er respektvoll das Zeichen des Sterns.
Die Kiste hielt auf gleicher Höhe mit der Plattform an. Die obere Hälfte der Kiste war offen, und Mirar konnte mehrere Menschen darin sehen. Er spürte Furcht und Erleichterung, aber auch Jubel und Langeweile. Mirar erkannte den Geruch einer Wurzel, die die Dekkarener wegen ihrer beruhigenden Wirkung gern benutzten. Mehrere der Fahrgäste kauten an einer solchen Wurzel.
Als die Fahrgäste Genza bemerkten, weiteten sich ihre Augen. Alle machten das Zeichen des Sterns. Der Führer der Kiste öffnete eine Tür darin. Sobald die Insassen ausgestiegen waren und die Plattform über eine zweite Treppe verlassen hatten, lud der Mann einige Beutel Sand aus der Kiste. Er trat beiseite, und ließ Genza mit gesenktem Blick einsteigen. Als Mirar folgte, bemerkte er, wie der Mann die Götterdienerin einer schnellen, neugierigen Musterung unterzog.
Eine Glocke läutete. Die Kiste setzte sich ruckelnd in Bewegung. Als sie aus dem Dach auftauchte, sah Mirar auf ein Meer von Bäumen hinab. Der Dschungel erstreckte sich unter ihnen, nur durchbrochen von den zahlreichen Windungen des Flusses. Je höher sie kamen, umso besser wurde die Aussicht, die sich ihnen bot. Mirar stellte fest, dass er in der Ferne das Meer sehen konnte. Das also ist es, was Auraya sieht, wenn sie fliegt, dachte er plötzlich. Ein unerwarteter Stich des Neids durchzuckte ihn. Emerahl hat das Fliegen nicht gelernt, aber das bedeutet nicht, dass es mir genauso gehen würde. Ich frage mich, ob ich wohl je eine Chance bekommen werde, Auraya zu bitten, mich zu unterrichten. Und ob sie dazu bereit wäre. Schließlich habe ich sie in der Heilkunst unterwiesen. Sie schuldet mir eine Gegenleistung…
»Was hältst du von dieser kleinen Vorrichtung?«, fragte Genza.
Mirar wandte sich zu ihr um. »Beeindruckend. Hat es schon viele Unfälle gegeben?«
»Einige.« Sie zuckte die Achseln. »Meistens aufgrund der Torheit der Fahrgäste. Das Seil wird jedes Jahr erneuert und gründlich auf Mängel untersucht.« Sie schaute sich um und stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich werde dieses Anblicks niemals müde, ganz gleich, wie oft er sich mir bietet.«
Auch Mirar sah sich noch einmal um. Die Aussicht war in der Tat phantastisch. Nur allzu bald verlangsamte die Kiste ihre Fahrt und kam schließlich ruckartig zum Stehen. Sie hatte auf gleicher Ebene mit einer Plattform angehalten, die vom oberen Ende der Felswand aus über den Abgrund vorragte und mit einem stabilen Geländer versehen war. Mirar stieg hinter Genza aus und folgte ihr in eine weitere Siedlung.
Dieser Ort war ebenso weitläufig, wie Unterstadt gedrängt in seiner Anlage schien. Zwischen den weit auseinanderstehenden Häusern aus gestampftem Lehm verlief eine breite Straße. Alles schien im selben ausgebleichten sandfarbenen Ton gehalten zu sein - selbst die Kleider der Einheimischen -, obwohl dieser Eindruck vielleicht von der hellen Sonne hervorgerufen wurde. Es war hier sowohl heißer als auch trockener, und an die Stelle des unablässigen Sirrens von Insekten und des Zwitscherns der Vögel war das stete Heulen des Windes getreten.
»Dies ist Oberstadt«, sagte Genza. »Ich weiß, es sind keine sehr einfallsreichen Namen.«
Die Kisten und Truhen aus der Barkasse wurden auf einen Tarn geladen, und für die Götterdiener standen zwei Plattans bereit. Genza versicherte sich, dass alles zu ihrer Zufriedenheit geregelt war, dann wünschte sie den Götterdienern eine gute Reise. Mirar sah sie fragend an. Sie lächelte.
»Von hier aus werden wir allein weiterfahren. Es wird viel schneller gehen.«
»Wie?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Wir fahren mit einem Windboot. Folg mir.«
Sie gingen durch die Siedlung. Am Rand des Ortes sah Mirar eine ebene Wüste, die sich eintönig bis zum Horizont erstreckte. Genza führte ihn zu einem von mehreren fensterlosen, zwei Stockwerke hohen Holzhäusern und trat durch eine Tür. Nach dem grellen Sonnenlicht musste Mirar sich erst an die Dunkelheit im Innern gewöhnen, bis er erkannte, dass es darin weder eine Decke noch Innenwände gab, sondern nur die Außenmauern und das Dach. In einer der Außenwände befanden sich mehrere große Holztüren. Eine stand offen und ließ gerade genug Licht herein, um die seltsamen, in dem Haus gelagerten Gegenstände erkennen zu können.
Boote. Eigenartige, schmale Boote mit übergroßen Segeln. Mirar besah sich die verschiedenen Gefährte. Alle hatten flache, schmale hölzerne Rümpfe und helle Segel, die fest an schlanke Masten gebunden waren. Genza blickte mit einem Grinsen zu ihm auf.
»Das wird dir gefallen.« Als ein Einheimischer auf sie zugeeilt kam, wandte sie sich ab. Der Mann geleitete sie nach draußen.
»Die beiden Windsegler dort drüben warten auf euch«, sagte er und zeigte auf zwei Gestalten in der Ferne, die neben zweien der eigenartigen Boote standen.
»Ich werde keinen Segler benötigen«, erwiderte sie, »aber mein Begleiter wird sich über Hilfe freuen. Sind die Winde günstig?«
Der Mann nickte. »Wenn es so bleibt, werden sie euch bis nach Glymma tragen.«
Sie dankte ihm und schritt auf die fernen Gestalten zu. Mirar folgte ihr.
»Können sie uns wirklich den ganzen Weg bis nach Glymma bringen?«
»Solange der Wind weht«, antwortete sie. »Wir sollten in vier Tagen dort sein.«
Vier Tage? Mirar schüttelte den Kopf. Jetzt weiß ich, warum sie sich nicht die Mühe gemacht hat, um die Küste herumzusegeln. Ein Schiff hätte es niemals so schnell bis nach Dekkar und zurück geschafft.
Die beiden Segler waren junge Männer. Als Genza an sie herantrat, lächelten sie und machten das Zeichen des Sterns. Sie nahm die Windboote in Augenschein und wählte dann eines aus. Der Segler ließ es widerstrebend los. Mirar vermutete, dass die Boote ihren Seglern gehörten, und er fragte sich, wie der junge Mann seines zurückbekommen würde.
Ein Windstoß erfasste sie, und der zweite Windsegler hatte offenkundig Mühe, sein Boot stillzuhalten. Als die Bö sich gelegt hatte, deutete Genza auf den vorderen Teil des Rumpfs.
»Du wirst dort sitzen, mit dem Gesicht nach vorn«, erklärte sie. »Beweg dich nicht. Man braucht Gleichgewicht ebenso wie Windsinn und Magie, um diese Boote zu segeln.«
Mirar nahm Platz und stellte seinen Beutel zwischen die Knie. Als er sich wieder umdrehte, sah er, dass der Windsegler sich einen Schal um das Gesicht gebunden hatte und jetzt am Heck saß. Genza nahm im selben Teil ihres eigenen Windbootes Platz, und als ein weiterer Windstoß aufkam, entfaltete sich das Segel, und Genza schnellte nach vorn.
Als das Boot unter Mirar sich neigte, hielt er sich mit beiden Händen am Rand fest. Als er hinabblickte, entdeckte er Griffe. Außerdem befanden sich zwei Hohlräume auf dem Boden, in die er die Fersen stemmen konnte. Während er von beidem Gebrauch machte, stieß der junge Mann einen lang gezogenen Ruf aus, und das Boot setzte sich in Bewegung.
Es flog nicht vorwärts, wie Genzas Boot es getan hatte, sondern gewann langsam an Schwung. Über ihm entfaltete sich nach und nach das Segel.
Sie nahmen Tempo auf, und das Boot entfernte sich von Oberstadt. Ein weiterer Windstoß traf Mirar von der Seite, dann erklang hinter ihm ein weiterer Ruf, und er hörte das Schlagen von Stoff, als das Segel sich zur Gänze entfaltete. Das Boot drehte sich abrupt und schoss über den Sand davon.
Es war ein berauschendes Gefühl, und Mirar stimmte unwillkürlich in das Triumphgeschrei des Windseglers ein. Sie jagten auf den Horizont zu. Aber schon bald verstummte der Segler, obwohl das Boot keineswegs an Fahrt verlor. Gelegentlich wehte ein Seitenwind Mirar Staub ins Gesicht. Die Luft war trocken, und die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab.
Stunden verstrichen. Schließlich erreichten sie eine Abfolge flacher Dünen. Mirar spürte jede Bewegung des Seglers, während dieser gegen die Seitenwinde ankämpfte. Er empfand mehr und mehr Respekt vor dem Geschick des jungen Mannes.
Dann fiel ihm Genza wieder ein, und er hielt im Sand vor ihnen nach ihr Ausschau. Er konnte keine Spur von ihr entdecken, aber ihr Boot brauchte nur eine Person zu tragen, daher würde es sich schneller bewegen als seines. Wahrscheinlich würde er sie in den nächsten Stunden überhaupt nicht sehen - nicht bevor sie für die Nacht Rast machten.
Eine Sandfontäne und ein freudiger Aufschrei sagten ihm jedoch, dass er sich geirrt hatte. Genza schoss lachend an ihnen vorbei. Mirar konnte ein Kichern nicht unterdrücken, als sie ihr Boot sachkundig über die Dünen schnellen ließ und dabei ein erstaunliches Geschick bewies. Sie musste diese Fähigkeit über eine Zeitspanne hinweg erworben haben, wie sie keinem Sterblichen zu Gebote stand, um diese Kunst zu meistern.
Wenn Genza ein Maßstab ist, verstehen diese Stimmen sich erheblich besser als die Weißen darauf, sich ein wenig Spaß zu verschaffen, dachte er.
Dann wurde er jäh wieder ernst. Es war so einfach, Genza an diesem Ort und in diesem Augenblick zu bewundern. Aber es war dieselbe Frau, die Vögel dazu abrichtete, Sterbliche zu töten, dieselbe Frau, die Krieg führte und zusammen mit den anderen Stimmen einen ganzen Kontinent beherrschte.
Ich werde diese Seite an ihr nicht vergessen, dachte er bei sich, aber ich werde ihrem Zauber nicht so weit erliegen, dass ich darüber meinen gesunden Menschenverstand und die notwendige Vorsicht über Bord werfe.
Obwohl er Gleichgültigkeit heuchelte, verfehlten die Ruinen von Sorlina niemals ihre Wirkung auf Barmonia; sie hatten ihn bisher noch jedes Mal ungemein fasziniert.
Die hohe Steilwand, die während der vergangenen Nachmittage ihren Schatten auf sie geworfen hatte, war an dieser Stelle eingestürzt, und auf ihren Trümmern war eine Stadt erbaut worden. Die Einsturzstelle hatte einen natürlichen, wenn auch steilen Zugang vom avvenschen Hochland zum Tiefland von Mur geformt, und obwohl es keine Überraschung war, dass eine Stadt sich diesen Umstand in der Vergangenheit zunutze gemacht hatte, war es doch eigenartig, dass das Land jetzt brachlag.
Die fremdländische Frau hatte den ganzen Morgen, wie betäubt von Erstaunen, zu der Stadt hinaufgestarrt. An einer Stelle, als sie den Fluss überquert hatte, hatte sie zu Raynora eine Bemerkung darüber gemacht, dass der Fluss zu wenig Wasser führe, um eine Stadt am Leben zu erhalten. Mikmer hatte sie an ihren Platz verwiesen, indem er entgegnet hatte, dass Trockenzeit sei und der Wasserstand deshalb selbstverständlich niedrig sein müsse.
Daraufhin hatte sie Mikmer mit erheitertem, beinahe mitleidigem Blick angesehen, aber nichts erwidert. Barmonia war klar, dass eine Stadt, wenn sie sich nicht ganzjährig erhalten konnte, in jedem Fall sterben würde, aber er hatte Mikmer nicht beschämen wollen, indem er darauf hinwies.
Die alte Straße schlängelte sich im Zickzackkurs den Hang hinauf. Früher einmal war sie ordentlich gepflastert gewesen, aber inzwischen war die Oberfläche an verschiedenen Stellen aufgebrochen. Aus diesem Grund hatten sie die Wagen zurückgelassen und ritten jetzt auf den Arems, die sie gezogen hatten. Die Tiere, die Zelte und Vorräte trugen, trotteten hinter ihnen her.
Die Straße führte an niedrigen Steinmauern vorbei, den Überresten alter Häuser. So alt sind sie gar nicht, korrigierte sich Barmonia. Die Stadt ist erst vor einigen hundert Jahren gestorben. Ganz anders als Alt-Jeryma im Norden oder Karn im Süden.
Aber je jünger die Ruine war, desto geringer war die Gefahr, dass sie bereits geplündert worden war. In der Vergangenheit hatte Barmonia hier Gräber geöffnet, die immer noch voller Schätze gewesen waren, und er hatte viele Statuen und Schnitzereien in die Bibliothek von Hannaya gebracht und an Sammler verkauft. Sie waren nicht so selten wie die wahrhaft alten Stücke anderer Ruinenstädte, aber sie erzielten dennoch gute Preise. Auf den Statuen war oft noch ein Rest Farbe gewesen, was den Käufern nicht gefiel, und er hatte stets eine Methode gefunden, diese Schichten zu entfernen, ohne den Stein zu beschädigen.
Er lächelte. Wenn die Anweisungen auf den Knochen des Priesters korrekt waren, würde er nicht nur ein neues Grab entdecken, sondern einen ganz neuen Bereich des Tempels der Sorli.
Sie kamen jetzt an den größeren Häusern in den höher gelegenen Teilen der Stadt vorbei. Barmonia konnte Raynora mit der Frau reden hören.
»… dort drüben. Öffentliche Latrinen. Ja, das ist richtig. Sie haben vor den Augen ihrer Nachbarn ihre Notdurft verrichtet, und sowohl Männer als auch Frauen haben sie benutzt. Kannst du dir den Gestank vorstellen - oh, wir haben etwas von dem Schmutz darin ausgegraben. Keine Kohle und auch keine Färbemittel, sondern Unmengen einer strohähnlichen Substanz, die wir in den Latrinen privater Häuser gefunden haben. Und wir haben auch viele Münzen entdeckt…«
Die Straße machte eine Biegung, und sie erreichten die erste der höher gelegenen Ebenen der Stadt, auf der öffentliche Gebäude errichtet worden waren. Viele Mauern standen noch immer, da sie dicker und stabiler waren, um größere Bauten tragen zu können. Ray nannte die Namen der Gebäude und beschrieb ihren Verwendungszweck.
Dann machte die Straße abermals eine Biegung, und sie ritten auf einen großen, öffentlichen Platz zu. Der Anblick war wie immer gleichzeitig beeindruckend und beunruhigend. Der Platz war mit gewaltigen Steinplatten gepflastert worden, aber da die Erde darüber sich bewegt hatte, waren viele der Platten emporgehoben worden. Nur wenige waren in ihrer alten Lage verblieben, so dass der ganze Platz wie ein unruhiges Meer von Steinen wirkte. Manche der Platten standen sogar senkrecht, und andere sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick umstürzen.
Als Barmonia absaß und sein Arem und das Packtier über den Platz führte, verfiel Raynora in Schweigen. Dieser Ort hatte schon immer etwas Unheimliches gehabt. Der Wind machte eigenartige Geräusche, und außerdem erforderte die Überquerung des Platzes große Konzentration. Wenn die Arems schwere Lasten trugen, konnten sie keine allzu starken Steigungen bewältigen.
Als er die andere Seite erreichte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Er setzte sich auf eine umgestürzte Säule und wartete darauf, dass die anderen zu ihm aufschlossen. Die Frau blickte zu dem Gebäude hinter ihm empor.
»Der Tempel der Sorli«, sagte Raynora leise und beugte sich zu ihr vor.
Die anderen sahen auf, und Barmonia bemerkte die Enttäuschung in ihren Zügen.
»Die Kuppel ist fort«, machte Yathyir sie auf das Offenkundige aufmerksam.
»Ja.« Barmonia erhob sich und betrachtete die Überreste des Gebäudes. »Wahrscheinlich ist sie bei einem noch nicht allzu lange zurückliegenden Beben eingestürzt. Hoffen wir, dass sie nicht alles blockiert, sonst müssen wir Einheimische bitten, uns hineinzuhelfen.«
Er reichte den Zügel des Arems an einen Domestiken weiter, dann drehte er sich um und betrat den Tempel.
Die große Halle, in der es stets recht dunkel gewesen war, lag jetzt lichtdurchflutet und geröllübersät vor ihnen. Das Licht zeigte die Wandgemälde in ihrer vollen Pracht, offenbarte aber auch den Schaden, den der Regen angerichtet hatte. Barmonia ging zum Altar hinüber und hielt inne, um aufzublicken. Der Kopf der riesigen Steingöttin war abgebrochen. Er sah sich suchend um und entdeckte hinter einem großen Stück der eingestürzten Kuppel ein Auge.
Ein anderes Stück lag zwischen der hinteren Mauer und den Hüften der sitzenden Statue. Barmonia musste in die keilförmige Lücke dahinter hinaufsteigen, um den Eingang zu der inneren Kammer zu erreichen. Die prächtigen geschnitzten Türen waren schon vor Jahrhunderten entfernt und in die Villa eines Sammlers in Glymma gebracht worden.
Besser, als hier zu verrotten, dachte er. Wahrscheinlicher wäre allerdings, dass die Einheimischen sie schon vor Jahren zu Feuerholz verarbeitet hätten.
Die Kammer dahinter war überdacht und dunkel, daher schickte er Raynora zurück, um Fackeln zu holen. Kurze Zeit später kehrte Ray mit nur fünf Fackeln zurück und verteilte sie an die Denker, so dass die Fremdländerin leer ausging, ein Umstand, der Barmonia sehr erheiterte.
Vielleicht ist er doch nicht so hingerissen von ihr, wie es den Anschein hat.
Die innere Kammer war ein kleiner Raum mit einem leeren Altar in der Mitte. Barmonia hatte keine Ahnung, wo die Statue hingekommen war, und er hätte mit Freuden ein ordentliches Sümmchen gezahlt, um dieses Rätsel zu lösen, aber er hatte Skizzen des Kunstwerks gesehen. Außerdem beobachtete er mit Befriedigung, dass die Fremdländerin den Altar mit einem unübersehbaren Stirnrunzeln betrachtete.
»Die Knochen haben gesagt: ›Sorli wird euch den Weg weisen‹«, bemerkte sie. »Sorli ist nicht mehr hier.«
»Daran kann kein Zweifel bestehen«, erwiderte Mikmer trocken.
»In der Bibliothek hängt ein Bild von ihr«, meldete sich Yathyir mit ernster Stimme zu Wort. »Ich erinnere mich daran.«
Barmonia lächelte. Das war der Grund, warum er sich mit dem seltsamen Jungen abfand. Er mochte ein Spinner sein, aber sein Gedächtnis war beeindruckend gut.
»Beschreib sie uns«, befahl Barmonia.
Der Junge musterte den Stein eine Zeitlang, dann trat er zu Raynora.
»Hilf mir hinauf«, sagte er.
Ray hob Yathyir hoch. Der Junge bewegte sich zum Zentrum des Altars und hielt dort inne, um nachzudenken.
»Sie hält einen Becher in einer Hand und zeigt mit der anderen zu Boden«, erklärte er und ahmte die Haltung der Statue nach.
»Dann befindet sich der Eingang zu dem geheimen Tempel also unter diesem Stein?«, fragte Ray und betrachtete den großen Quader mit einem zweifelnden Blick.
»Wahrscheinlich.« Barmonia trat hinter den Stein und rieb mit dem Schuh über den Boden. »Hier sind Kratzer. Die Denker haben immer geglaubt, sie seien entstanden, als der Stein seinerzeit hierhergeschafft wurde, aber vielleicht ist er häufiger bewegt worden.«
»Wie?«, fragte Yathyir, bevor er heruntersprang, um die Kratzer in Augenschein zu nehmen.
»Mit Magie«, antwortete Barmonia. »Von den Priestern wird immer ein gewisses Maß an Befähigung erwartet.«
»Also, wie wollen wir ihn bewegen?«
»Mit unseren Fähigkeiten.« Barmonia wandte sich dem Eingang zu. »Was auch der Grund ist, warum ich so viel Ausrüstung mitgebracht habe.«
»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte die Frau leise.
Barmonia drehte sich zu ihr um. Sie wollte zweifellos mit ihren magischen Fähigkeiten angeben, worin diese auch immer bestehen mochten, aber er hatte nicht die Absicht, das zuzulassen. »Dieser Stein sollte vorsichtig und behutsam bewegt werden, sonst könntest du…«
»Oh, erspar mir den Vortrag«, fiel sie ihm ins Wort. »Du weißt offensichtlich nicht das Geringste über Magie, wenn du glaubst, sie sei weniger raffiniert als Hebel und Seile.«
Bei ihrem arroganten Tonfall loderte Ärger in ihm auf, dann unterdrückte er einen Fluch, als sie sich von ihm abund dem Altar zuwandte.
»Wage es nicht…« Er machte einen Schritt vorwärts, um sie an den Schultern zu packen, aber seine Hände glitten an einer unsichtbaren Barriere ab. Die anderen zogen sich zurück, und ihre Gesichter verrieten Neugier und Erregung.
»Ich werde den Stein zuerst anheben«, sagte sie zu Raynora. »Schau darunter und sag mir, was du siehst.«
Als der Altarstein sich langsam hob, lief Barmonia ein Schauer über den Rücken, und sein Magen krampfte sich zusammen. Magie hatte immer diese Wirkung auf ihn. Eine Frau sollte nicht in der Lage sein, einen riesigen Steinblock anzuheben. Es war unnatürlich.
Ray ließ sich auf die Knie nieder und untersuchte die Lücke zwischen dem Stein und dem Boden. Unglaublicherweise schob er die Hände darunter; er vertraute offenkundig darauf, dass sie den Stein nicht fallen lassen würde.
»Darunter befindet sich eine quadratische Öffnung. Es sieht so aus, als könne man den Altar an die Rückseite des Raums schieben, ohne etwas zu zerbrechen.«
Die Frau nickte, und der Stein glitt rückwärts. Eine Treppe, die in die Dunkelheit hinabführte, wurde sichtbar. Der Stein ließ sich lautlos auf dem Boden nieder.
Das Miststück schafft es, schlussfolgerte Barmonia. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. Wenn sie so mächtig ist, wie sollen wir sie dann loswerden?
Sie würden sie überlisten müssen, was nicht weiter schwierig sein sollte. Sie war als Frau allein unterwegs in einem Land, das sie nicht kannte und in dem die Menschen eine Sprache sprachen, die sie nach eigenem Eingeständnis erst vor kurzem gelernt hatte. Vielleicht würden sie sich davonstehlen können, statt die Frau fortzuschicken. Was auch immer geschehen mochte, er würde nicht zulassen, dass eine fremdländische Zauberin die Anerkennung für die Entdeckung dieses Grabes erhielt.
Ich kann diese Wendung der Ereignisse zu unserem Vorteil nutzen. Wenn wir den Menschen erzählen, dass sie Steine bewegen kann wie ein magisches Arbeitstier, wird das alles sein, wofür man sie im Gedächtnis behält.
Er machte einen Schritt nach vorn. Mit plötzlichem Respekt trat sie zurück und gestattete ihm, die anderen die Treppe hinunterzuführen. Zumindest kannte sie ihren Platz. Sie war in der Tat einfach ein magisches Arbeitstier. Er war der Führer dieser Unternehmung.
Auf den Wänden fanden sich Steinmetzarbeiten religiöser Szenen, aber sie waren zu staubig, um Einzelheiten erkennen zu können. Dafür würde später noch Zeit sein. Nach hundert Stufen gab er den Versuch auf mitzuzählen. Der Abstieg schien eine Ewigkeit zu dauern, daher überraschte es ihn, als er sich plötzlich am Fuß der Treppe wiederfand. Er blieb stehen.
Ein schmaler Korridor, der kaum breiter war als seine Schultern, führte in die Dunkelheit. Langsam ging er weiter. Zuerst war der Korridor frei von Trümmern, was sich jedoch bald änderte. An einer Stelle stieg er über einen Riss, der so breit war wie seine Hand und sich quer durch den Tunnel zog. Kurz darauf sah er vor sich ein schwaches Licht, und einige Schritte später hatte er das Ende des Gangs erreicht.
»Halt!«, rief er, weil er befürchtete, die anderen könnten mit ihm zusammenprallen und ihn über den Vorsprung stoßen.
»Was ist das?«, fragte Mikmer, dessen Stimme dicht hinter Barmonia erklang.
»Ein Spalt«, antwortete Barmonia. »Ein gewaltiger Spalt. Es müssen zweihundert Schritte sein bis zur anderen Seite.«
»Geht der Tunnel auf der anderen Seite weiter?«
»Das weiß ich nicht. Ich kann kaum etwas sehen.«
»Lass mich vortreten, dann werde ich ein Licht schaffen«, erbot sich die Frau.
Barmonia fühlte sich versucht, ihr Angebot aus reiner Gehässigkeit abzulehnen, aber ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, wie sie die Ausmaße des Felsspalts in Erfahrung bringen konnten.
»Also schön, dann komm.«
Ein leises Scharren erklang hinter ihm, als die Männer ihr Platz machten. Einen Moment später flammte ein Licht auf, schwebte an seiner Schulter vorbei und bewegte sich langsam tiefer in das Gewölbe. Die gegenüberliegende Wand kam in Sicht. Es befand sich kein Durchgang darin.
»Nein«, sagte Barmonia. »Der Gang endet hier.«
Als das Licht heller wurde, blickte er hinab. Nicht weit unter ihm füllten etliche Felsbrocken den Spalt. Als er wieder aufsah, gefror ihm das Blut in den Adern.
Ein gewaltiger Brocken der Wand war abgestürzt und hatte sich zwischen den beiden Flanken des Spalts verkeilt.
Er sog scharf die Luft ein und betrachtete den Boden der Felsspalte. Einige der Trümmer dort waren größer als ein Haus.
»Hoffnungslos«, murmelte er. »Wenn dort unten etwas war, ist es jetzt fort.«
Er drehte sich um und schob sich an der Frau vorbei. Die anderen musterten ihn forschend und lasen die Enttäuschung aus seinen Zügen.
»Im Fels sind Handläufe.«
Barmonia drehte sich um und sah Yathyir am Rand der Felsspalte hocken.
Er spähte in den Abgrund und sah, dass der Junge recht hatte. In die Wand unter dem Tunnel waren Rillen eingemeißelt. Barmonia schaute genauer hin und stellte fest, dass die äußerste Kante des Gangs unmittelbar am Abbruch mit einer eingemeißelten Zierleiste versehen worden war. Der Gang sollte hier enden.
Nachdem er sich weiter vorgebeugt hatte, sah er, dass die Griffe bis auf den Boden hinabreichten.
»Wenn dort unten etwas ist, ist es begraben«, erklärte er.
»Aber man kann es ausgraben«, sagte die Frau.
»Das wird Monate dauern.«
»Nicht unbedingt.«
Barmonia funkelte sie wütend an.
»Aber es könnte natürlich Monate dauern.« Sie zuckte die Achseln. »Die Entscheidung liegt bei euch.«
»Lasst mich sehen«, sagte Kereon.
Die Frau und Yathyir traten in den Tunnel zurück, damit Mikmer und Kereon in die Felsspalte blicken konnten. Dann machte Mikmer Platz, um Raynora vorbeizulassen.
»Dieser Teil der Wand über uns gefällt mir überhaupt nicht«, bemerkte Mikmer. »Was wir auch tun, ich denke, wir sollten es schnell tun.«
Kereon nickte zustimmend.
»Ich bin unbedingt deiner Meinung«, sagte Raynora vom Ende des Tunnels aus.
Barmonia konnte sich nur mit Mühe daran hindern, ihnen einen bösen Blick zuzuwerfen. Einheimische Arbeiter würden bezahlt werden müssen. Und beaufsichtigt, was bedeutete, dass jemand bei ihnen in dem Gewölbe bleiben musste. Sie konnten unbeholfen sein. Ein lautes Geräusch würde vielleicht dazu führen, dass die Wand über ihnen einstürzte. Dann würden sie noch mehr Geröll und verwesende Leichen fortschaffen müssen.
Er wandte sich zu der Frau um. »In diesem Fall solltest du besser gleich anfangen.«
»Das werde ich tun«, sagte sie, ohne seinem Blick auszuweichen. »Morgen. Diese Arbeit wird Konzentration erfordern, und vorher werde ich einige Stunden Schlaf brauchen.«
Er zuckte die Achseln. »Also gut, morgen.« Die anderen wirkten erleichtert - glücklich, die Arbeit einem anderen überlassen zu können. Aber Barmonia gefiel der Gedanke nicht, dass sie etwas entdecken könnte, wenn sie allein war. Sie würde vielleicht etwas einstecken. Irgendjemand musste sie beobachten. Er überlegte, welcher der anderen Denker für diese Aufgabe geeignet war.
Nicht Raynora. Er ist zu schwach, wenn es um Frauen geht. Wenn ich mich für Mikmer und Kereon entscheide, werden sie darauf bestehen, in Schichten zu arbeiten. Damit bleibt nur Yathyir übrig. Ja, er wird den Zweck erfüllen.
Der Junge war ein nützlicher Spinner, aber trotzdem ein Spinner. Wenn die Decke einstürzte, würde es kein großer Verlust für die Welt sein.
Schließlich machte Barmonia auf dem Absatz kehrt und führte die anderen zurück durch den Tunnel.
Aurayas Abende folgten inzwischen einem bestimmten Muster. Zuerst gingen sie und Nekaun in ihre Räume. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit dann auf ein neues Geschenk, und sie machte die entsprechenden Bemerkungen, um ihren Dank und ihre Bewunderung zum Ausdruck zu bringen. Anschließend ließ er sie allein, und sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen und vor Erleichterung zu seufzen.
Auf den Tischen und Regalen des Raums waren jetzt viele Gegenstände verstaut. Große Steinstatuen von Tänzern, winzige Krieger aus geblasenem Glas und geschnitzte Holztiere standen neben Spielzeugschiffen, die in Tonschalen schwammen. Über einer Bank hingen, säuberlich arrangiert, Stoffballen, die Bilder von Bauern und Aquädukten zeigten. An dem Tag, an dem sie den Fluss besucht hatten mit seinen Riedfeldern, die regelmäßig abgeerntet wurden, hatte sie aus Ried geflochtene Sessel bekommen. Und als sie von einem Spaziergang durch die üppigen Gärten der Stadt zurückgekehrt war, hatte sie einen Käfig mit zwei leuchtend bunten Vögeln vorgefunden.
All diese Dinge gehörten ihr - zumindest hatte Nekaun das gesagt. Was nichts bedeutete, da sie nicht mit Riedsesseln und Steinstatuen nach Si zurückfliegen konnte und nicht die Absicht hatte, auf einem pentadrianischen Schiff zu reisen.
Als Nächstes würde sie nach Unfug Ausschau halten, der sich stets versteckte, wenn Nekaun in der Nähe war. Heute Abend brauchte sie nicht lange, um ihn zu finden. Hinter einer der großen, irdenen Wasserschalen, die man ihr jeden Tag brachte, kam eine vertraute, spitze Nase zum Vorschein. Auraya ging neben der Schale in die Hocke.
»Da bist du ja, Unfug.« Lächelnd beobachtete sie, wie er sich mit offenkundiger Anstrengung hochrappelte und ihr erlaubte, ihn am Kopf zu kraulen. Die Hitze machte den kleinen Veez schläfrig und kraftlos. Tagsüber lag er der Länge nach auf dem Steinboden und erhob sich nur, um zu fressen oder zu trinken. Die Domestiken waren offenkundig fasziniert von ihm und hatten ihn die avvenschen Worte für Essen und Wasser gelehrt.
Danjin würde staunen, wenn er Unfug jetzt sehen könnte. Es würde ihn ärgern zu hören, dass der Veez den Pentadrianern keine Probleme bereitet hat.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass Unfug gesund und munter war, setzte sie sich für ihre nächste abendliche Aufgabe auf einen der Riedsessel. Sie schloss die Augen und konzentrierte ihren Geist auf den Ring an ihrem Finger.
Juran.
Auraya. Wie geht es dir?
Ich bin dieses Spiels langsam müde. Und den Anblick Nekauns bin ich ebenfalls gründlich leid. Aber davon abgesehen geht es mir gut.
Und was ist mit den Siyee?
Einundzwanzig sind frei, zwölf noch eingekerkert. Was hat Teel berichtet?
Dass sie alle wohlauf seien, obwohl es ihnen schwerfalle, ihre Kräfte in der Enge ihres Gefängnisses hinreichend zu bewahren, um fliegen zu können.
Ist einer von ihnen schon in Si eingetroffen?
Das weiß ich nicht. Bisher hat noch keiner das Offene Dorf erreicht. Er hielt inne. Ich nehme nicht an, dass die Stimmen irgendwelche nützlichen Informationen preisgegeben haben?
Nichts Neues.
Wann wird Mirar erwartet?
Aurayas Herz setzte einen Schlag aus.
Er müsste jetzt jeden Tag eintreffen.
Wir haben über dieses Thema ausführlich gesprochen. Zuerst hielten wir es für das Beste, wenn du ihn ignorieren würdest. Aber wenn die Stimmen die Absicht haben, ihn für ihre Sache anzuwerben, dann solltest du alles in deinen Kräften Stehende tun, um sie daran zu hindern. Oder ihn zu überreden, sich den Pentadrianern nicht anzuschließen.
Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen? Auraya konnte einen gewissen Groll in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken.
Juran schwieg einen Moment.
Ich schlage nicht vor, dass du ihn verführen sollst.
Nein, aber bei unserer letzten Begegnung hatte ich den Auftrag, ihn zu töten. Er wird mir jetzt wohl kaum vertrauen.
Vielleicht doch. Schließlich hast du ihn nicht getötet.
Keiner von ihnen sprach das Offensichtliche aus: dass Mirar jetzt kein Problem gewesen wäre, wenn sie ihn tatsächlich getötet hätte.
Ich werde erst wissen, was möglich ist, wenn er hier ist, erklärte sie Juran. In der Zwischenzeit ist mein wichtigstes Ziel die Befreiung der Siyee.
Ja. Natürlich. Wir werden morgen Abend wieder miteinander sprechen.
Auraya stand auf, ging ins Schlafzimmer und legte sich nieder. Sie schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen, aber ihre Gedanken wanderten immer wieder zwischen der schlimmen Lage der Siyee und Mirars bevorstehender Ankunft hin und her. Schon bald starrte sie zur Decke empor.
Sie hatte sich mit den Priestern im Offenen Dorf in Verbindung gesetzt und sie gebeten, die schlechten Neuigkeiten an Sprecherin Sirri weiterzuleiten. Später hatte sie ihnen von ihrem Handel mit Nekaun erzählt und vorgeschlagen, dass die Siyee für ihre befreiten Kameraden Essen und Wasser in die sennonische Wüste bringen sollten. Einige Male hatte sie Gedanken abgeschöpft und nach den Siyee Ausschau gehalten, die auf dem Rückflug in ihre Heimat waren. Sie hatte nur einige wenige von ihnen gefunden, und diese waren müde, durstig und unglücklich gewesen. Sie konnte nichts tun, um ihnen zu helfen.
Das Letzte, worüber sie sich den Kopf zerbrechen wollte, war eine Begegnung mit Mirar. Aber man würde sie und Mirar genau im Auge behalten. Die Pentadrianer würden von ihr erwarten, dass sie Mirar wie einen Feind behandelte oder zumindest wie jemanden, den sie für gefährlich und für nicht vertrauenswürdig hielt. Von ihm würden sie das gleiche Verhalten erwarten. Das Problem war, dass ihre Beziehung nicht so einfach war. Sie hatte keine Ahnung, wie sie wirklich auf ihn reagieren würde.
Ich werde so tun müssen, als hasste ich ihn, dachte sie. Und er wird sich mir gegenüber genauso benehmen müssen. Was für ihn eine noch größere Herausforderung darstellen dürfte, wenn er immer noch glaubt, mich zu lieben.
Wenn die Stimmen Verdacht schöpften, dass sie und Mirar etwas füreinander empfanden, würden sie sich diesen Umstand zunutze machen. Nekaun hatte bereits bewiesen, dass er vor Erpressung nicht zurückschreckte.
Ich erwarte schon jetzt, dass er sich erbieten wird, Mirar als Gegenleistung für irgendeine Gefälligkeit zu töten. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er anbieten wird, mich zu töten, um einen Handel mit Mirar zu besiegeln.
Hoffentlich ist Mirar klar, dass sein kleiner Besuch zu keinem schlechteren Zeitpunkt stattfinden könnte.
Hoffentlich hat er die Gefahr erkannt, in die er uns beide bringen wird.
Hoffentlich weiß er, dass er so tun muss, als hasste er mich.
Hoffentlich hat er nicht die Absicht, Nekauns Angebot, mich zu töten, anzunehmen.
Hoffentlich… bah! Ich sollte mich einfach mit ihm vernetzen und ihn fragen.
Sie schloss die Augen und zwang sich, tief durchzuatmen. Obwohl sie versuchte, ihre Gedanken schweifen zu lassen, konnte sie nicht mehr erreichen als einen ängstlichen, halbbewussten Zustand.
Ein leiser Aufprall und eine schwache Vibration schreckten sie auf. Sie hob den Kopf und lächelte schief, als sie sah, dass Unfug auf das Bett gesprungen war und sich neben ihr zusammengerollt hatte. Obwohl er es bei den Wasserschalen kühler hatte, zog er es immer noch vor, in ihrer Nähe zu sein, wenn sie schlief.
Irgendwie fiel es ihr in seiner Anwesenheit leichter, sich zu entspannen. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Ihre Gedanken splitterten sich auf und fügten sich dann wieder zusammen, so dass sie einen Zustand zwischen Bewusstsein und Schlaf erreichte. Es wurde Zeit, Mirar zu rufen.
Seine Antwort kam sofort.
Auraya!
Die Überraschung und die Freude, die seine Antwort begleiteten, sagten ihr, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte: Er hatte nicht die Absicht, sie von Nekaun töten zu lassen. Sie brauchte sich lediglich zu sorgen, dass seine Vernarrtheit sie beide in Schwierigkeiten bringen würde.
Trotzdem war es schön, dass jemand sich freute, von ihr zu hören.
Mirar. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du nach Glymma kommen wirst.
Ja. Ich fürchte, ich habe in dieser Hinsicht keine Wahl. Die Vierte Stimme Genza hat keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Einladung eher ein Befehl war als ein Vorschlag.
Wie haben die Pentadrianer herausgefunden, wer du bist und wo du warst?
Hast du von mir erwartet, dass ich meine Identität hier verborgen halten würde?, fragte er zurück.
Sie dachte über seine Frage nach. Die Pentadrianer duldeten die Traumweber. Warum sollte er sich verstecken? Ihr fiel nur ein Grund dafür ein, nämlich der, dass er auf diese Weise der Aufmerksamkeit der Stimmen entgangen wäre. Vielleicht hatte er genau das nicht gewollt. Vielleicht hatte er von Anfang an die Absicht gehabt, sich mit ihnen zu verbünden.
Aber wenn sie glaubte, dass jetzt ein schlechter Zeitpunkt für seinen Besuch in Glymma sei, musste sie sich doch eingestehen, dass sein Kommen in Wahrheit keineswegs unerwartet genannt werden konnte. Es war vermutlich einfach ein schlechter Zeitpunkt für sie, hier zu sein.
Nein, das habe ich wohl nicht erwartet, antwortete sie. Aber dass wir beide zur selben Zeit hier sein werden, dürfte peinlich werden. Die Stimmen werden von uns erwarten, dass wir uns wie eingeschworene Feinde benehmen.
Und das sind wir nicht?
Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten.
Selbst wenn die Götter es befehlen?
Sie kennen die Grenzen meines Gehorsams. Wohlgemerkt, ich würde noch einmal darüber nachdenken, solltest du mir einen Grund dafür liefern.
Dann sollte ich dir besser versichern, dass ich nicht die Absicht habe, dich zu töten oder irgendein Angebot der Stimmen anzunehmen, dies für mich zu tun, sagte er.
Das ist eine Erleichterung. Wie gut sind deine schauspielerischen Fähigkeiten?
Ich denke, ich kann sie davon überzeugen, dass ich dich verabscheue. Das ist es doch, was du im Sinn hast, oder?
Wir könnten kaum so tun, als seien wir die besten Freunde. Nekaun hat mich bereits erpresst. Ich glaube nicht, dass er zögern würde, es noch einmal zu tun. Falls er einem von uns oder uns beiden vorschlägt, den anderen zu töten, können wir zumindest Zeit schinden, während wir uns entscheiden. Falls er auf die Idee kommen sollte, dass er einen von uns manipulieren könne, indem er den anderen bedroht, wird er es ohne zu zögern tun.
Und indem wir so tun, als hassten wir einander, verschaffen wir den Siyee mehr Zeit.
Ja. Eine unerwartete Dankbarkeit und Zuneigung stiegen in Auraya auf. Danke, dass du das tust. Es wird doch weder dich noch die Traumweber im Süden in Gefahr bringen, oder?
Nein. Sobald du fort bist, kann ich behaupten, ich sei an mein Traumwebergelübde gebunden gewesen, niemals einem anderen Schaden zuzufügen - nicht einmal meinem Feind.
Ein Gelübde, das dich in ihren Augen zu einem weniger wertvollen Verbündeten macht.
Aber es sagt ihnen hoffentlich auch, dass ich keine Bedrohung für sie darstelle. Ich bin davon überzeugt, dass die Stimmen und ich zu einer Einigung kommen können.
Ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Wann wirst du hier eintreffen?
Morgen oder übermorgen. Das hängt vom Wind ab.
Vom Wind?
Ich werde es dir erklären, wenn ich da bin.
Vergiss nur nicht, es in einem wütenden, anklagenden Tonfall zu tun.
Sie spürte eine Welle der Erheiterung.
Ich werde es dir in einer Traumvernetzung erklären, erwiderte er. Wir sollten uns jede Nacht vernetzen, um sicherzugehen, dass wir beide wissen, was der andere gesagt oder getan hat - und was die Stimmen gesagt oder getan haben. Ich frage mich, welcher von uns beiden das beste Angebot erhalten wird, falls er sich ihnen anschließt. Wir sollten eine Art Trefferliste führen.
Das ist kein Spiel, Mirar.
Nein, natürlich nicht. Aber wir könnten ein wenig Spaß auf ihre Kosten haben, solange dabei kein Schaden entsteht.
Die Idee war verführerisch, aber …
Ich würde dieses Risiko lieber nicht eingehen. Nicht solange das Leben von Siyee auf dem Spiel steht.
Du hast recht. Nun, ich sollte wohl zusehen, dass ich ein wenig Schlaf bekomme. Es könnte morgen eine lange Fahrt werden.
Sie wünschte ihm eine gute Nacht, und während sie langsam dem Schlaf entgegendämmerte, musste sie widerwillig erkennen, wie viel besser sie sich fühlte. Als sei eine Last von ihr genommen worden. Es war mehr als nur Erleichterung, dass Mirar ihre Meinung darüber teilte, wie sie sich verhalten sollten.
Ich werde hier nicht länger allein sein, dachte sie schläfrig. Ich werde einen… einen Verbündeten haben? Nein, vielleicht nur einen Freund.
Das Gespräch auf dem Balkon verebbte, als im Flur dahinter Schritte laut wurden. In einem der Bogengänge erschien ein Götterdiener und machte das Zeichen des Sterns.
»Die Erste Stimme Nekaun lässt sich entschuldigen. Er wird nicht in der Lage sein, an der Zusammenkunft teilzunehmen«, sagte der Mann.
Die Stimmen und ihre Gefährten tauschten einen Blick.
»Vielen Dank, Götterdiener Ranrin«, erwiderte Imenja.
Der Mann neigte den Kopf, dann eilte er davon. Eine quälende Enttäuschung stieg in Reivan auf. Sie hatte Nekaun seit Wochen nicht mehr gesehen. Nicht mehr seit Aurayas Ankunft. Sie vermutete, dass er, wenn er am Abend mit seinem Gast fertig war, den gewohnten Aufgaben einer Ersten Stimme nachkam. Er hatte zu viel zu tun, um sie zu besuchen. Das konnte sie akzeptieren…doch je länger sich dieser Zustand hinzog, umso stärker wurde die Eifersucht, die immer wieder in ihr aufkeimte.
Aber… heute Abend hatte sie sich darauf gefreut, ihn einfach nur zu sehen. Seine Stimme zu hören. Sie hatte sich auf die Art gefreut, wie er sie anzulächeln pflegte, als sei sie sein ganz besonderes Geheimnis …
Als die Schritte des Götterdieners verklungen waren, drehten die drei Stimmen sich auf ihren Plätzen so um, dass sie einander anblickten. Vervel verzog das Gesicht, als habe er einen unangenehmen Geschmack im Mund.
»Wollen wir uns an die Arbeit machen?«, fragte er.
Imenja sah Shar an. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«
Die blonde Stimme nickte. »Ich auch nicht. Wo wollen wir anfangen?«
»Bei unseren eigenen Ländern, wie immer«, befand Imenja.
Reivan lauschte, während sie über Dinge in Glymma redeten und dann auf einige Probleme in Avven, Mur und Dekkar zu sprechen kamen.
»Die Idee des neuen Hohen Häuptlings hat ihre Vorteile«, sagte Imenja.
Vervel zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich?«
»In anderen Städten ist es niederen Bürgern möglich, in die höheren Schichten der Gesellschaft aufzusteigen. Vom Bettler zum Domestiken zum Beispiel. Aber die Bedingungen, unter denen die Armen, die in Kave leben, ihr Dasein fristen, macht es für sie fast unmöglich, eine bessere Position zu erlangen.«
»Und wie soll die Idee des Hohen Häuptlings daran etwas ändern?«, fragte Shar.
»Sie schafft eine mittlere Schicht, die wie eine Stufe auf einer Leiter wirken könnte. Einer Leiter, die zu einem besseren persönlichen Los führt.«
»Eine ziemlich verstiegene Idee«, meinte Vervel. »Ich bezweifle, dass sich das durchführen lässt.«
»Aber einen Versuch ist es wert.« Imenja zog die Schultern hoch. »Für den Anfang vielleicht nur in einem kleinen Gebiet.«
Vervel zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
Die beiden Stimmen musterten einander, dann lächelte Imenja.
»Setz dich mit Genza in Verbindung und frag sie nach ihrer Meinung. Sie war erst kürzlich in Kave.«
Vervel prustete leise und wandte den Blick ab. »Warum sollte ich ihre Zeit verschwenden?«
Imenja runzelte die Stirn. »Weil wir zumindest versuchen sollten, den Göttern zu dienen«, sagte sie energisch.
Ein peinliches, aber barmherzig kurzes Schweigen folgte. Reivan blickte auf ihr Wasserglas hinab. Dies war das erste Mal, dass die Stimmen zumindest ansatzweise die Veränderungen anerkannten, die Nekaun bewirkt hatte. Sie kannte die Frage, die Vervel auf der Zunge lag. Warum Genzas Zeit mit der Frage nach ihrer Meinung verschwenden, wenn Nekaun bei der endgültigen Entscheidung doch die Meinung aller anderen Stimmen übergeht?
Sie sog scharf die Luft ein, widerstand aber dem Drang zu seufzen. Die Art, wie Nekaun die anderen Stimmen behandelte, war gewiss unnötig - aber gleichzeitig glaubte ein Teil von ihr, dass er einen guten Grund dafür haben musste, selbst wenn sie diesen im Augenblick nicht erkennen konnte. Die Götter hatten ihn erwählt. Er war intelligent und klug.
Wie war es möglich, dass sie seine Mängel sah, aber nicht glaubte, was sie sah? Oder es nicht einmal erschreckend fand?
»Genza meint, wir sollten die Idee unterstützen.« Vervels Blick war in die Ferne gerichtet.
Imenja nickte. »Jetzt sollten wir über unsere Länder hinausschauen«, sagte sie. »Hat Sennon auch nur die geringste Neigung gezeigt, sich von den Weißen abzuwenden und sich wieder uns anzuschließen?«
Shar schüttelte den Kopf. »Nein. Der Kaiser weigert sich, unsere Boten zu empfangen, und schickt unsere Geschenke zurück.«
Imenja verzog das Gesicht. »Ich erwarte nicht, dass sich daran etwas ändern wird.« Die anderen Stimmen nickten beifällig. Sie seufzte. »Unsere Leute in Jarime sind hingerichtet worden.«
Ein Schock durchlief Reivan. Sie wusste nicht, was bei der Mission schiefgegangen war, die die Götterdiener in Jarime vorangetrieben hatten, aber ein Stich des Mitgefühls für jene, die gestorben waren, durchzuckte sie.
»Ist die neue Weiße in letzter Zeit in Dunwegen gesehen worden?«, fragte Imenja.
»Nicht mehr, seit sie verschwunden ist«, erwiderte Vervel.
»Sind unsere Leute dort gewarnt worden?«
Vervel wandte den Blick ab. »Nein. Er dachte, sie würden in Panik verfallen und so nur Aufmerksamkeit auf sich lenken.« Reivan vermutete, dass »er« Nekaun war.
Imenjas Augen wurden für einen Moment schmal. »Ich verstehe. Nun, ich habe eigenartige Neuigkeiten aus Genria und Toren. Die beiden Länder haben abrupt ihre Armeen zu den Fahnen gerufen; sie haben sie außerhalb der Hauptstädte ihr Lager aufschlagen lassen und sie dann ohne Erklärung wieder entlassen.«
»Die beiden Monarchen verstehen sich nicht gut, und die Völker haben in der Vergangenheit oft Krieg gegeneinander geführt«, warf Shar ein.
»Aber seit der Schlacht sind sie die besten Freunde gewesen.« Imenja schüttelte den Kopf. »Es hat keine Berichte über Konflikte zwischen den beiden Ländern gegeben. Tatsächlich rechneten beide Armeen damit, sich zu irgendeinem Ziel zusammenzuschließen, obwohl niemand den Grund dafür kannte.«
»Vielleicht war es ein Wettstreit, um herauszufinden, wessen Armee die stärkere ist«, sagte Shars Gefährtin Bavalla.
Imenja lächelte und breitete die Hände aus. »Wer weiß? Ich finde, dass die Torener und die Genrianer manchmal die unverständlichsten der nördlichen Völker sind.«
Vervel räusperte sich. »Ich habe Neuigkeiten der weniger willkommenen Art. Unsere Leute haben Befehl erhalten, Somrey zu verlassen.«
Imenja runzelte die Stirn. »Warum?«
»Eine Entscheidung des Ältestenrats. Es geht das Gerücht, dass die Traumweber und die Zirklerältesten zum ersten Mal in der Geschichte zu einem einstimmigen Ergebnis gekommen sind.«
»Von allen nördlichen Ländern mit Ausnahme Sennons war Somrey anderen Religionen und Kulten gegenüber stets das aufgeschlossenste«, sagte Imenja. »Unser Volk hat die Gesetze Somreys studiert. Es war keines darunter, das angewandt werden konnte, um uns des Landes zu verweisen, sobald wir dort erst einmal Aufnahme gefunden hatten.«
»Der Rat hat ein neues Gesetz erlassen, das es ihnen ermöglicht, ihr Ziel zu erreichen«, erwiderte Vervel.
Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Wir sollten uns dieses Gesetz ansehen, um festzustellen, ob es sich irgendwie umgehen lässt.«
»Ich habe bereits Anweisung dazu erteilt.«
»Gut. Und jetzt zu Genza.« Die drei Stimmen blickten einen Moment lang ins Leere, dann lächelten sie und wandten sich wieder einander zu. »Es ist alles in Ordnung«, erklärte Imenja den Gefährten. »Gibt es noch weitere eigenartige, unangenehme Neuigkeiten aus dem Norden? Oder vielleicht gute Neuigkeiten?«
Die anderen schüttelten den Kopf.
»Also schön. Die beiden nächsten Themen hätte ich gern mit Nekaun zusammen erörtert, aber ich würde sie lieber gleich jetzt und ohne ihn in Angriff nehmen, als sie überhaupt nicht anzuschneiden. Erstens wäre da die Anwesenheit der Priesterin Auraya. Zweitens der bevorstehende Besuch des Traumwebers Mirar. Nekaun scheint die Absicht zu verfolgen, Auraya auf unsere Seite zu ziehen«, erklärte Imenja. »Wir sollten nichts tun, was dieses Ziel gefährden könnte.«
»Bist du sicher, dass das sein Ziel ist?«, fragte Shar.
Imenja sah ihn an. »Hat er etwas Gegenteiliges angedeutet?«
Shar schüttelte den Kopf. »Aber wir müssen auch andere Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Vielleicht will er Aurayas Abreise lediglich hinauszögern, um sie daran zu hindern, den Weißen beizuspringen. Oder aber er möchte, dass sie hier ist, wenn Mirar eintrifft.«
»Vielleicht haben Genria und Toren ihre Armeen entlassen, weil Aurayas Anwesenheit hier einen größeren Plan durchkreuzt hat«, sagte Vervel.
»Wie eine Invasion Südithanias?«, hakte Imenja nach.
»Keins der anderen nordithanischen Länder rüstet zum Krieg, soweit wir wissen.«
»Soweit wir wissen«, wiederholte Shar lächelnd. »Es ist schwer zu beurteilen, da sie beschlossen haben, ihre Armeen regelmäßig exerzieren zu lassen und außerdem neue Soldaten anwerben, aber es ist ihnen noch nicht gelungen, sich richtig zu organisieren.«
»Wenn Nekaun verhindern will, dass sie den Weißen zur Seite steht, warum tötet er sie dann nicht einfach?«, fragte sie.
»Er ist sich vielleicht nicht sicher, ob eine Invasion geplant ist«, erwiderte Vervel langsam. »Wenn das nicht der Fall ist und er Auraya tötet, könnte das der Auslöser für einen Krieg sein.«
»Aber er wird sie doch gewiss nicht gehen lassen«, sagte Shar. »Er wird sie töten, wenn der letzte Siyee fortfliegt.« Er wandte sich zu Imenja um, die Augenbrauen fragend hochgezogen.
Imenja sagte nichts. Reivan sah die Zweite Stimme an und bemerkte, dass ihre Herrin geistesabwesend die Stirn runzelte.
»Was ist los?«, murmelte sie.
Imenja blickte in die Runde. »Ich habe einen Verdacht. Ich habe ihn bisher für mich behalten, weil es nach Kuars Tod keinen Sinn hatte, darüber zu sprechen. Es ist schwer, gegen das scheinbar Offenkundige anzugehen, und wenn ich es getan hätte, hätten manche vielleicht geglaubt, ich versuchte, die Schuld auf Kuar abzuwälzen. Das wäre verabscheuenswert gewesen.« Sie hielt inne, und einen Moment lang trat ein leerer Ausdruck in ihre Augen, während sie an vergangene Ereignisse zurückdachte. »Während der Schlacht mit den Zirklern haben wir bis an die Grenze unserer Fähigkeiten Magie in uns hineingezogen. An diesem Punkt ist es verführerisch, Risiken einzugehen, und ich habe mich törichterweise darauf verlassen, dass die Götterdiener mir Rückendeckung geben würden. Ein Siyee hat mich mit einem vergifteten Pfeil getroffen.«
Alle nickten. Reivan konnte sich lebhaft an diesen Moment erinnern.
»Ich musste Magie benutzen, um das Gift aus meinem Körper auszutreiben«, fuhr Imenja fort. »Das hat mich einiges an Kraft gekostet. Und in diesem Augenblick hat Auraya Kuar angegriffen.«
Und ihn getötet, dachte Reivan. Bei der Erinnerung daran schnürte sich ihre Brust zu. Sie hatte den Leichnam gesehen. All seine Knochen waren von dem Angriff zerschmettert worden.
Imenja schüttelte den Kopf. »Meine Macht war zu diesem Zeitpunkt kaum merklich verringert. Nicht genug, um zu erklären, dass Kuar gescheitert ist.«
»Also… argwöhnst du, dass die Weißen stärker sind als wir?«, fragte Vervel stirnrunzelnd.
»Ich vermute es«, sagte Imenja. »Aber wichtiger ist, dass es Auraya war, die Kuar besiegt hat. Die anderen haben in der Wucht ihres Angriffs nicht nachgelassen. Sie muss diejenige gewesen sein, die über zusätzliche Kraftreserven verfügte.«
Die anderen tauschten einen Blick.
»Bedeutet das, dass sie mächtiger ist als eine Erste Stimme?«, hakte Shar nach.
»Es wäre möglich.«
»Dann kann Nekaun Auraya also vielleicht nicht töten.«
»Nicht ohne Hilfe.«
»Und ihm ist dieser Umstand nicht bewusst.«
Imenja zuckte die Achseln. »Ich habe versucht, ihn darauf hinzuweisen.«
Vervel seufzte und verdrehte die Augen. »Wie kommt jetzt Mirar ins Spiel?«
Imenja lächelte schief. »Das hängt davon ab, wie groß Aurayas Wunsch ist, ihn tot zu sehen. Ich bezweifle, dass sie sich als Gegenleistung für seine Ermordung auf unsere Seite schlagen würde, aber sie würde vielleicht länger hierbleiben, wenn das bedeutete, dass er getötet wird.«
»Du glaubst nicht, dass Nekaun versuchen wird, Mirar für unsere Sache zu gewinnen?«, fragte Shar.
»Ich denke, Mirar weiß, dass seine Zukunft in Südithania davon abhängt, dass er mit uns zu einer Einigung kommt, aber ich bezweifle, dass er im Krieg einen nützlichen Verbündeten abgeben würde, da Traumweber nicht töten. Er wird uns keinen Vorteil verschaffen, wenn die Zirkler Auraya auf ihrer Seite haben.«
»Es sei denn, wir töten Auraya«, warf Shar ein.
Imenja verzog grimmig das Gesicht. »Das ist wahr.«
»Sollen wir dafür sorgen, dass Auraya und Mirar nicht aufeinandertreffen?«, fragte Vervel.
Imenja dachte nach. »Nur wenn Nekaun es für notwendig erachtet. Ich würde die beiden gern bei ihrer ersten Begegnung beobachten.«
Vervel lachte leise. »Ich denke, das würden wir alle gern tun. Es dürfte sehr interessant werden.«
»Dann wollen wir sehen, was wir arrangieren können.« Imenja richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Gibt es noch andere Fragen? Andere Themen, die erörtert werden müssen?«
Als eine der Stimmen begann, von einer Fehde zwischen Kaufleuten in der Stadt zu reden, ließ Reivan ihre Gedanken schweifen.
Ob Auraya wohl weiß, dass Nekaun nicht die Absicht hat, sie gehen zu lassen? Ob sie weiß, dass sie stärker ist als Nekaun, und darauf setzt, dass er versuchen wird, sie ohne die Hilfe der anderen Stimmen zu töten? Ihr wurde schwindlig, als ihr plötzlich eine furchtbare Möglichkeit in den Sinn kam.
Sie wird ihn töten! Er wird nicht auf Imenja hören, daher hat er keine Ahnung, in welcher Gefahr er sich befindet. Ich muss ihn warnen!
Es dauerte lange, bis ihr Herz zu hämmern aufhörte und sie dem Gespräch wieder folgen konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur noch den Wunsch, dass die Stimmen zum Ende kommen würden, obwohl sie wusste, dass sie nicht zu Nekaun stürmen und ihm von ihrem Verdacht erzählen konnte. Nicht solange Auraya bei ihm war, Auraya, die Reivans Gedanken lesen konnte.
Es wird ein sehr langer Tag werden.
Emerahl hatte mehrere Stunden gebraucht, um die Trümmer und die Erde an die Ränder des Felsspalts zu schaffen. Sie hätte schneller arbeiten können, wollte aber das Risiko nicht eingehen, dass die Vibrationen den Steinbrocken lösten, der in so wackliger Position über ihr eingekeilt war. Obwohl die Barriere, die sie ständig über ihrem Kopf aufrechterhielt, stark genug sein sollte, um sie zu schützen, gefiel ihr der Gedanke, bei lebendigem Leib begraben zu werden, überhaupt nicht.
Außerdem wollte sie nichts von dem, was sie freilegte, zerstören. Mithilfe von Magie blies sie zuerst Erde und Staub weg, dann hob sie die Steinbrocken an, die sie freigelegt hatte, bis sie innehalten und neues Erdreich beiseiteschaffen musste.
Inzwischen hatte sie vom Ende des Handlaufs bis zur gegenüberliegenden Felswand einen freien Gang geschaffen. Die meisten Tempel waren streng symmetrisch angelegt - wenn hier also etwas vergraben lag, dann vermutlich in der Flucht der Handläufe und des Ganges darüber.
Während sie arbeitete, war ihr die Schrift auf den Knochen ständig gegenwärtig. Wenn nur ein Sterblicher die Schriftrolle an sich nehmen konnte, dann musste es irgendetwas geben, das einen Unsterblichen daran hinderte. Was es auch war, es musste mächtig sein. Und gefährlich.
Als sie einige Zeit zuvor Rast gemacht hatte, hatte sie ihr Licht höher steigen lassen, um den Steinbrocken über ihr zu untersuchen, und dabei hatte sie noch etwas anderes entdeckt. Sie konnte an einer Ecke daran vorbeiblicken. Die Reste des Gewölbes darüber waren von Rissen durchzogen. Im Gegensatz zu den Rissen im Tunnel, die in gleicher Richtung verliefen wie der Felsspalt, bildeten diese Risse strahlenförmige Muster. In der Mitte eines dieser Muster befand sich ein kleiner Krater.
Emerahl war davon überzeugt, dass es sich dabei um die Folgen eines magischen Angriffs handeln musste. Es gab jedoch keine derartigen Muster an den Wänden. Wer auch immer sie geschaffen hatte, hatte zielgerichtet das Dach attackiert, vielleicht um den Einsturz zu bewirken, der den Boden des Felsspalts mit Geröll gefüllt hatte.
Als sie weiteres Erdreich wegblies, wurde eine glatte Steinfläche sichtbar. Sie verlagerte weiteren Schutt und legte etwas frei, das möglicherweise ein Kuppeldach war.
»Du hast es gefunden!«, rief Yathyir.
»Sieht so aus«, stimmte Emerahl ihm zu.
»Ich werde den anderen Bescheid geben.«
Sie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er warten solle, entschied sich dann aber dagegen. Es würde nicht schaden, wenn die Denker beobachteten, wie sie ihre Arbeit vollendete, und begriffen, mit wie viel Vorsicht sie zu Werke gegangen war. Nicht dass Barmonia ihr jemals dafür seine Anerkennung zollen würde.
Während sie weiteren Schutt beiseiteschaffte, kam immer mehr von der Kuppel zum Vorschein. Schon bald war das Geräusch von Schritten in der Halle zu hören. Sie drehte sich um und sah die fünf Denker die Wand hinuntersteigen.
Barmonia kam auf sie zu, blickte auf die Kuppel hinab und runzelte die Stirn.
»Yathyir war wahrscheinlich ein wenig voreilig«, sagte sie achselzuckend.
Er musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, dann drehte er sich auf dem Absatz um.
»Mach weiter«, befahl er.
Sie verdrehte die Augen, wandte sich wieder dem Loch zu, das sie ausgehoben hatte, und setzte ihre Arbeit fort. Die Kuppel war groß, daher konzentrierte sie sich darauf, die Trümmer an der einen Seite zu entfernen. Eine Kante wurde sichtbar. Emerahl räumte weitere Steine beiseite und legte eine Wand frei. Schließlich erschien der obere Teil eines Bogengangs. An einer Angel hingen noch Reste einer Holztür, und Trümmer waren in das Gebäude gestürzt.
»Halt!«, blaffte Barmonia.
Sie verharrte. Er stieg zu der Öffnung hinab und schob seine Fackel hindurch. Nachdem er die inneren Wände ausgeleuchtet hatte, kletterte er wieder nach oben.
»Mach weiter.«
Emerahl unterdrückte einen Seufzer und legte die Öffnung frei. Als sie damit fertig war, befahl Barmonia ihr barsch, abermals innezuhalten. Er ging an ihr vorbei, blickte in das Gebäude und kehrte dann zurück.
»Wir werden den Rest von Hand erledigen.«
Die anderen Denker folgten ihm hinein. Raynora blieb neben ihr stehen und sah zu den steilen Geröllhalden zu beiden Seiten auf.
»Wir wissen deine harte Arbeit zu schätzen, Emmea«, murmelte er.
Sie lächelte. Sprichst du von dir oder von deinem heimlichen Wohltäter?
Er blickte auf. »Es ist beängstigend. Diese Felsspalte und die Risse im Tunnel verlaufen in derselben Richtung wie der Steilabbruch. Ich kann nicht umhin zu denken, dass die Stadt langsam ins Tiefland abstürzt.«
Emerahl sah ihn überrascht an, denn ihr wurde plötzlich klar, dass er wahrscheinlich recht hatte. Wenn er mit seiner Vermutung richtig liegt, wäre dies eine törichte Stelle, um einen Schatz zu verstecken. Aber um gerecht zu sein muss man wohl einräumen, dass der Priester der Sorli vermutlich nicht wusste, dass dies geschehen würde.
Raynora trat in das Gebäude. Emerahl folgte ihm und blieb im Eingang stehen, als sie sah, dass die Denker mit bloßen Händen Schutt von einer großen, steinernen Kiste räumten. Barmonia grinste breit, und sie konnte Vorfreude und Erregung bei ihm wahrnehmen. Sie ging einen Schritt weiter …
… und blieb abrupt stehen. Ein vertrautes Gefühl war in ihr aufgestiegen. Ihre Haut kribbelte, aber sie brauchte einige Sekunden, um den Grund dafür zu erkennen.
Dieses Gewölbe ist ein Leerer Raum!
Ein Leerer Raum. Ausgerechnet hier. War das einer der Gründe, warum kein Unsterblicher die Schriftrolle an sich nehmen konnte? Ohne Magie konnte sie sich nicht schützen oder heilen. Aber das Gleiche galt für jeden Sterblichen.
Yathyir hatte innegehalten, um sie anzusehen. Sie zwang sich, über die Schwelle zu treten, wobei sie die ganze Zeit über Ausschau nach einem tödlichen Mechanismus hielt, der in den Wänden, der Decke oder dem Boden versteckt sein könnte. Der Gedanke an den Steinbrocken, der über ihnen hing, war plötzlich weitaus beunruhigender als zuvor.
Emerahl blickte auf die Kiste hinab. Sie hatte die Form eines Sarges. Barmonia beugte sich vor, blies den Staub von der Oberfläche und legte einige Glyphen frei.
»Was steht da geschrieben, Emmea?«, fragte Ray.
Sie trat vor und strich mit den Fingern über die Schrift. »Hier steht: ›Selbst was kein Fleisch hat, kann sterben.‹«
»Ein Grab für eine Göttin«, bemerkte Kereon.
»Nun, zumindest werden wir diesmal keinen Leichnam stören«, sagte Barmonia leichthin. Dann legte er die Hände auf den Rand der Kiste und drückte. Nichts geschah. Ray half ihm, und der Deckel glitt mit einem trockenen, scharrenden Geräusch langsam beiseite.
Die Männer sogen einstimmig die Luft ein, ein Ausdruck der Ehrfurcht wie auch der Habgier.
Das Licht der Fackeln wurde von kostbaren Metallen und Edelsteinen zurückgeworfen. Die Kiste war mit einem Gewirr von Ketten, Kelchen, Schnallen und Waffen gefüllt, aber es war der goldene Gegenstand in der Mitte, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Eine goldene Schriftrolle, dachte Emerahl. Pergament wäre inzwischen wohl verrottet.
Die Schriftrolle lag offen da, das »Pergament« kunstvoll gewellt, auf eine Art und Weise, wie echte Haut es nicht vermocht hätte. Auch die Runen waren reich verziert, einige davon in solchem Maße, dass ihre Form verzerrt wurde.
»Sie ist wunderschön«, flüsterte Kereon.
Nein, das ist sie nicht, dachte Emerahl. Sie ist protzig und übertrieben.
»Was steht da, Emmea?«, wollte Yathyir wissen.
Emerahl zwang sich, die ungeheure Hässlichkeit des Gegenstands zu ignorieren, und konzentrierte sich auf die Schrift. Um ein Haar hätte sie laut aufgestöhnt.
»Die Worte reimen sich. Es ist Poesie. Sehr schlechte Poesie.«
»Aber was steht dort?«
Emerahl hielt inne, um zu lesen. »Es ist eine Geschichte. Sie erzählt, dass die Göttin den Tod anderer Götter betrauert habe und… das ist interessant. Hier steht, sie habe mitgeholfen, sie zu töten, und unter schrecklichen Schuldgefühlen gelitten.« Sie las weiter. »Sie vertraute ihrem Priester alle Geheimnisse der Götter an. Hier steht, sie habe ihn gebeten, diese Geheimnisse in einer unzerstörbaren Form festzuhalten. Dann… wahrhaftig!«
»Was?«, fragte Barmonia scharf.
Emerahl blickte zu ihm auf und lächelte. »Dann hat sie sich selbst getötet. Hier. An genau dieser Stelle. Ich frage mich, ob die Götter Geister werden.«
Yathyir sah sich nervös um, und die anderen lächelten.
»Und die Geheimnisse?«, fragte Ray.
»Die Schriftrolle beschreibt sie nicht«, antwortete sie und runzelte die Stirn, als ihr bewusst wurde, dass dies die Wahrheit war.
Die Zwillinge werden enttäuscht sein, dachte sie mit unerwarteter Verbitterung. Und ich habe mich ganz umsonst mit den Denkern abgegeben. Zumindest wird es keine Rolle spielen, wenn Ray die Schriftrolle zerstört. Sie hat nur den Wert des Geldes, das man für das Gold erhalten würde, wenn man es einschmelzt.
»Lasst uns all das nach draußen schaffen«, sagte Barmonia. Die anderen verfielen in Schweigen, während er sich vorbeugte, um die Schriftrolle anzuheben. Er stöhnte vor Anstrengung.
»Sie ist schwer«, erklärte er. »Yathyir?«
Die Augen des jungen Mannes weiteten sich, und er streckte die Hände nach der Schriftrolle aus. »Ja?«
»Nicht das hier, du Narr«, knurrte Barmonia. »Kletter wieder nach oben und hol uns etwas, um all das zu transportieren. Taschen wären das Beste. Leere Taschen.«
Als Yathyir gehorsam aus dem Gebäude eilte, folgte Emerahl ihm. Sie trat hinaus und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie wieder vertraute Magie um sich spürte. Nichts Schlimmes war ihr zugestoßen. Welche Falle man auch immer für Unsterbliche aufgestellt hatte, sie war vielleicht schon vor langer Zeit wirkungslos geworden.
»Emmea?«, rief Ray.
Sie drehte sich um und sah, dass er die noch immer halb vergrabenen Überreste der Holztür betrachtete.
»Was gibt es?«, fragte sie.
Er deutete auf die Tür. »Was steht dort geschrieben?«
Sie zwang sich, wieder durch die Öffnung zu treten, wandte sich der Tür zu und sah, dass in die Oberfläche große Glyphen geschnitzt waren. Ein kalter Schauer überlief sie.
»Hier steht: ›Hütet euch, Unsterbliche‹«, erklärte sie ihm. »Aber da ist noch mehr.«
Er räumte weitere Steinbrocken beiseite und legte den Rest der Nachricht frei.
»Hütet euch, Unsterbliche. Im Innern liegt keine Magie. Tretet ein, und ihr werdet euer wahres Alter erfahren.«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Keine Magie. Ein Leerer Raum. Wer immer diese Botschaft in die Tür geschnitzt hatte, hatte geglaubt, Unsterbliche könnten in Leeren Räumen nicht existieren. Wahrscheinlich hatte der Betreffende sich vorgestellt, dass Unsterbliche ohne Magie, die sie nährte, ihr wahres Alter annehmen würden.
Das wäre ein beeindruckender, wenn auch grauenerregender Anblick. Sie wandte sich ab, damit Ray ihr Lächeln nicht sehen konnte. Es ist schön zu erfahren, dass Götter und ihre Priester nicht immer alles wissen.
Trotzdem wünschte sie sich sehnlichst, diesen Ort zu verlassen und ins Sonnenlicht zurückzukehren, fort von diesen selbstsüchtigen, arroganten Männern. Heute Nacht würde sie das Gedicht, soweit sie es sich hatte einprägen können, an die Zwillinge weitergeben. Morgen… morgen würde sie den Denkern gratulieren und sich auf die lange Reise zurück in vertraute Länder machen.
Danjin starrte die Abdeckung des Plattans an und begriff langsam, dass er wach war. Die beiden Männer ihm gegenüber waren ebenfalls wach, hatten den Blick jedoch auf etwas anderes gerichtet. Gillen wirkte aufmerksamer als während ihrer ganzen bisherigen Reise und rieb sich erregt und erwartungsvoll die Hände, während Yem gedämpfter wirkte als sonst. Seit sie die Festung verlassen hatten, zeigte das Gesicht des Kriegers stets einen besorgten Ausdruck, und Danjin vermutete, dass er hin- und hergerissen war zwischen Mitgefühl mit den Dienern, die der Knechtschaft des Clans entkommen waren, und Empörung darüber, dass die Pentadrianer sie ihrem Glauben entfremdet hatten.
Danjin sah Ella an. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Atmung ging langsam und gleichmäßig.
Ich muss auf sie und auf die Weisheit der Götter vertrauen. Wenn diese harte Haltung jenen gegenüber, die mit den Pentadrianern gemeinsame Sache machen, nicht notwendig wäre, würden wir nicht mithilfe der einheimischen Krieger ein Dorf überfallen.
Der Plattan verlangsamte die Fahrt. Ella beugte sich abrupt vor, um den Schlag zu öffnen.
»Wir sind da.«
Danjins Magen krampfte sich zusammen, aber er sagte nichts. Er hörte Türen schlagen und ferne Rufe. Wütende, ängstliche Stimmen umgaben den Plattan, als der Wagen anhielt.
Ella strich ihren Zirk glatt, dann blickte sie zu Yem, Gillen und Danjin hinüber.
»Bleibt in meiner Nähe«, sagte sie, bevor sie ausstieg.
Danjin folgte ihr, dann verließen auch Yem und Gillen den Wagen. Männer und Frauen scharten sich um den Plattan. Als sie Ella sahen, weiteten sich ihre Augen, und Stille kehrte ein. Einige Gesichter verrieten Entsetzen und Erschrecken. Andere zeigten nur Erstaunen und Neugier.
Danjin bemerkte etliche Krieger auf der Straße, die Menschen zusammentrieben. Männer, Frauen und Kinder kamen aus den Häusern, einige bekleidet mit ihren Nachtgewändern. Aus einer anderen Richtung kam eine große Gruppe Einheimischer. Dem Schweiß auf ihrer Stirn entnahm Danjin, dass sie aus Häusern und Bauernhöfen geholt worden waren, die weiter vom Zentrum des Dorfes entfernt lagen.
Während die Menge immer größer wurde, besah sich Danjin die Menschen. Im Schein der Fackeln wurden die äußeren Merkmale, die sie als Dunweger oder Südithanier auswiesen, deutlicher. Unter den Pentadrianern gab es blasse wie auch dunkelhäutige Typen, und ihr Körperbau konnte ebenfalls unterschiedlich ausfallen, daher waren sie am besten dadurch zu erkennen, dass ihnen die typischen Merkmale der Dunweger fehlten. Er vermutete, dass etwa ein Viertel der Menschen Pentadrianer waren.
Eine Gruppe dunwegischer Krieger, deren Gesichter fast schwarz waren von den vielen Tätowierungen, umringte die Dorfbewohner. Der grauhaarige Clanführer, Gret, trat vor und machte das Zeichen des Kreises.
»Wir haben die Bewohner aller Bauernhöfe und Häuser des Ortes hergebracht«, erklärte er Ella. »Einige sind uns allerdings möglicherweise entkommen.«
Ella nickte. »Wer steht dieser Gemeinschaft vor?«, fragte sie, und ihre Stimme erhob sich über den Lärm der Menge.
Eine Debatte folgte. Danjin konnte genug verstehen, um zu erfahren, dass ein Dorfältester das Dorf dem ansässigen Clan gegenüber vertrat. Der Mann trat einen Schritt vor.
»Wer steht der pentadrianischen Gemeinschaft vor?«, verlangte sie zu wissen.
Er zögerte, aber Ella hatte sich bereits von ihm abgewandt.
»Götterdiener Warwel, tritt vor.«
Stille kehrte ein, und die Menschen tauschten nervöse Blicke. Ella musterte sie einen Moment lang.
»Du kannst freiwillig vortreten, Götterdiener Warwel«, sagte Ella warnend, »oder dich herbeizerren lassen. Es ist deine Entscheidung.«
Ein Mann trat vor. Er war hochgewachsen und strahlte Würde aus. Seine Miene war grimmig und resigniert gleichermaßen. Einige Schritte von Ella entfernt blieb er stehen und erwiderte schweigend ihren Blick.
»Männer und Frauen von Dram, ihr seid betrogen worden. Dieser Mann und seine Leute wurden von Nekaun, dem Anführer der Pentadrianer, hierhergeschickt«, sagte Ella und sah dabei dem Dorfältesten fest in die Augen. »Ihr Schiff ist nicht versehentlich hier auf Grund gelaufen. Es war eine vorsätzliche Tat, mit der die Pentadrianer das Mitgefühl der Dunweger erringen wollten. Anschließend sollten sie sich hier niederlassen und sich mit so vielen Dunwegern wie möglich anfreunden, um sie zu ihrer eigenen Religion zu bekehren.«
Sie ließ den Blick über die Menge gleiten. »Sie konnten ihren Plan nur allzu leicht in die Tat umsetzen. Ich sehe viele hier, die sich von ihrem Einfluss haben verderben lassen. Außerdem sehe ich viele, die mit dem Versprechen auf Freiheit dazu verleitet wurden, ihren Clans den Dienst aufzukündigen. Clans, deren Krieger erst vor wenigen Jahren für sie gekämpft haben. Diese Männer haben gegen jene gekämpft, die unsere Länder überfallen haben, um uns zu Sklaven zu machen.« Ein Raunen des Protests wurde laut, aber Ella hob die Stimme. »Sie mögen diesmal sanftere Methoden angewandt haben, aber ihre Absicht ist zweifellos dieselbe. Dies ist - war - lediglich eine weitere Invasion. Sie sind hierhergekommen, um euch dem Zirkel der Götter zu entfremden, um eure Großzügigkeit zu missbrauchen und eure Schwächen auszunutzen.«
Abermals hielt sie für einen Moment inne, um die Menschen vor ihr zu mustern. »Es ist ein Jammer, dass ihr alle es so weit habt kommen lassen. Ich sehe einige hier, die sich nicht haben verderben lassen, die jedoch aus Furcht oder aus Habgier Stillschweigen bewahrten. Ich sehe nur sehr wenige hier, die nicht die Macht hatten, zu protestieren oder zu handeln, und ich werde zu ihrer Verteidigung sprechen. Was euch Übrige betrifft: Es liegt an I-Portak zu entscheiden, was mit euch geschehen soll, ob ihr nun Pentadrianer oder Dunweger seid.«
Ella wandte sich zu Gret um und nickte. »Verfahre mit ihnen, wie du es für richtig hältst.«
Der Clanführer blaffte einige Befehle, und die Krieger machten sich daran, die Menschen die Straße hinunter aus dem Dorf zu treiben. Danjin bemerkte, dass der alte Krieger Ellas Anweisungen mit deutlichem Ekel befolgte. Wann immer ein weinendes Kind vorbeigeführt wurde, sah Gret Ella vielsagend an. Sie beachtete ihn nicht, und ihre Miene war unnahbar und missbilligend.
»Wohin bringt ihr uns?«, rief jemand.
»Nach Chon«, antwortete einer der Krieger.
»Lasst uns in unsere Häuser zurückkehren, damit wir Kleider holen können«, bettelte eine Frau. »Wenn wir so weitergehen, wie wir sind, werden wir erfrieren.«
»Meine Heilmittel«, krächzte ein alter Mann. »Ohne meine Heilmittel werde ich es nicht schaffen.«
»Was werden wir essen?«
»Meine Mutter ist krank. Sie wird es niemals bis nach Chon schaffen.«
Gret wandte sich zu einem seiner Krieger um. »Irgendjemand soll die Frau und den alten Mann in ihre Häuser zurückbringen.«
Sofort erklangen mehrere weitere Stimmen, die um die gleiche Chance flehten.
»Nein«, sagte Ella. »Wenn ihr einige gehen lasst, werden die Übrigen dasselbe verlangen. Behaltet die Gefangenen hier und schickt Krieger in die Häuser, um Decken, Essen und Kleider für alle zu holen.«
Gret zog die Augenbrauen hoch, dann nickte er seinem Begleiter zu. »Tu es.«
Ein Schauder überlief Danjin. Gewiss wäre eine Verzögerung besser als etliche Todesfälle auf dem Weg nach Chon …
Ella drehte sich zu Danjin um. »Finde heraus, was der alte Mann braucht, und hole es«, murmelte sie.
»Ja, Ellareen von den Weißen«, antwortete er.
Er eilte davon und hielt Ausschau nach dem alten Mann. Während er um die Menge herumlief, wandte er sich noch einmal zu Ella um. Sie hielt den Kopf hoch erhoben und blickte herablassend auf ihre Gefangenen hinab. Ihm wurde ein wenig flau im Magen.
Sie tut das nur, um sie einzuschüchtern und zum Gehorsam zu zwingen, sagte er sich.
Aber sie werden es nicht vergessen. Sie werden anderen davon berichten, wie kalt und gleichgültig Ellareen die Weiße ist. Wie grausam und unbarmherzig ihre Rechtsprechung war.
Er schüttelte den Kopf. Sie muss das tun. Sie kann sich nicht über dunwegisches Gesetz hinwegsetzen. Und wenn sie ohne Erbarmen wäre, hätte sie mir nicht den Auftrag gegeben, die Heilmittel des alten Mannes zu holen.
Warum hatte er dann den Verdacht, dass Ellareen nicht versucht hatte, die Dunweger dazu zu bringen, die Dorfbewohner mit ein wenig Mitgefühl zu behandeln, weil sie genau das nicht wollte?
Warum fand er ihr Verhalten bisweilen so beängstigend?
Seufzend wandte er sich ab, suchte nach dem alten Mann und nahm ihn beiseite, um ihn zu befragen.
Das Sanktuarium war nicht so beeindruckend wie der Tempel in Jarime. Es gab keinen Weißen Turm und keine Kuppel, die alles überragten, nur eine breite Treppe und eine einstöckige, von Säulen getragene Fassade und eine Ansammlung von Gebäuden auf dem Hügel dahinter.
Vielleicht ist das der Sinn der Sache, überlegte Mirar. Sie wollen Besucher nicht einschüchtern; sie wollen ihnen das Gefühl geben, willkommen zu sein.
Die Winde hatten sie nicht so weit getragen, wie Genza es gehofft hatte, daher hatten sie den Rest des Weges in einem Plattan zurücklegen müssen. Die Sänfte, die ihn und Genza vom Fährhafen hergebracht hatte, blieb stehen, und die Träger ließen sie zu Boden. Als Genza sich erhob, folgte Mirar ihrem Beispiel. Sie lächelte.
»Willkommen im Sanktuarium, Mirar von den Traumwebern.«
»Danke.«
Sie deutete auf die Treppe. Sie gelangten durch einen der Bogengänge in eine große, luftige Halle voller schwarz gewandeter Götterdiener und gewöhnlicher Menschen.
»Dies ist der Ort, an dem wir alle Besucher des Sanktuariums begrüßen«, erklärte Genza ihm. »Die Götterdiener schenken allen Bittstellern Gehör, vom niedersten Bettler bis hin zu den Reichen und Mächtigen, und führen sie zu demjenigen, der ihnen am besten helfen kann.«
Mirar bemerkte, dass einige der Besucher in ihren Gesprächen mit den Götterdienern Kühnheit und Zuversicht an den Tag legten. Andere waren zaghaft und warteten ängstlich darauf, dass jemand an sie herantrat, oder sie hielten den Blick gesenkt, während sie sprachen. Mirar fing eine Welle des Kummers auf und entdeckte kurz darauf einen Götterdiener, der einer weinenden Frau auf die Schulter klopfte.
»Glaubst du, dass du meine Tochter finden kannst?«, hörte er die Frau fragen.
»Wir können es nur versuchen«, antwortete der Götterdiener. »Bist du dir sicher, dass ihr Vater sie mitgenommen hat?«
»Ja. Nein… ich…«
Ein Lachen lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen kostbar gewandeten Mann, der in Gesellschaft eines Götterdieners die Halle durchquerte.
»… wir würden den Elai gern auch Geschenke machen. Schließlich haben sie die Schiffe versenkt, die…«
Elai, die Schiffe versenkten? Er widerstand dem Drang, dem Mann nachzublicken.
»Dies ist der Haupthof«, sagte Genza. »Von hier aus führen Flure in alle Bereiche des Sanktuariums.«
Der Innenhof wurde von einer Veranda umrahmt. Mirar murmelte einige Worte der Bewunderung, als Genza ihn auf den Springbrunnen aufmerksam machte und ihm erklärte, dass der Brunnen einerseits helfe, die Luft zu kühlen, und andererseits ein Hintergrundgeräusch liefere, das den Besuchern die Möglichkeit gab, ihre Anliegen vortragen zu können, ohne dabei belauscht zu werden. Als sie tiefer in das Sanktuarium hineingelangten, fiel ihm auf, dass die Götterdiener stehen blieben, um Genza zu beobachten und ein Zeichen über ihrer Brust zu machen, wenn sie zufällig in ihre Richtung blickte. Er spürte Bewunderung und Respekt - sogar Verehrung - von ihnen.
Außerdem nahm er Neugier wahr, die auf ihn selbst zielte, und er fragte sich, wie viel sie über ihn wissen mochten. Waren sie deshalb neugierig, weil man im Sanktuarium nicht oft Traumweber zu sehen bekam? Fragten sie sich, ob er der legendäre, unsterbliche Begründer der Traumweber sei, oder wussten sie bereits, wer er war, weil man ihnen gesagt hatte, dass Genza ihn hierherbringen würde?
Genza führte ihn durch Flure und Innenhöfe, wobei sie sich stetig aufwärtsbewegten. Gelegentlich erhaschte er durch ein Fenster oder von einem Balkon einen Blick auf die Stadt, und die Bilder, die sich ihm boten, wurden von Mal zu Mal beeindruckender. Als sie weiter in das Sanktuarium vordrangen, stieg eine nagende Beklommenheit in Mirar auf.
Ich bin hier absolut im Nachteil, ging es ihm durch den Kopf. Die Stimmen könnten mächtiger sein als ich. Selbst wenn sie sich einzeln nicht mit mir messen könnten, wären sie zusammen stärker als ich. Sie sind von hunderten, vielleicht tausenden sterblicher Zauberer umgeben, die jeden ihrer Befehle befolgen.
Nichts anderes hatte ich erwartet. Womit ich nicht gerechnet habe, ist der Umstand, dass dieses Sanktuarium ein solches Labyrinth ist. Ohne Genza wäre ich hier verloren.
Dennoch hatte er nicht das Gefühl, in Gefahr zu sein. Die Geräusche der Stadt klangen gedämpft, und er nahm keine Bedrohung von den Götterdienern wahr, an denen er vorbeikam. Außerdem verströmte das Sanktuarium mit seinen vielen Innenhöfen und den offenen Wandelgängen Ruhe und Frieden. Trotzdem war es auch ein Ort großer politischer und magischer Stärke, und er ließ die magische Barriere, mit der er sich umgeben hatte, keinen Moment lang sinken.
Schließlich trat Genza aus einem Flur auf einen lang gezogenen, breiten Balkon, auf dem mehrere Männer und Frauen auf Riedsesseln saßen. Bei seinem Erscheinen blickten sie alle voller Interesse zu ihm auf.
»Dies ist Mirar, der Anführer der Traumweber«, erklärte Genza. Dann sah sie ihn an. »Traumweber Mirar, dies ist die Zweite Stimme, Imenja.«
Die Frau, auf die sie deutete, war schlank und hochgewachsen. Es war schwer, ihr wahres Alter zu schätzen.
Das ist die Frau, die während des letzten Krieges für einen Moment ins Wanken geraten ist, so dass es Auraya möglich war, Kuar zu töten, dachte er.
Sie lächelte höflich. »Ich freue mich, dich endlich einmal kennenzulernen. Genza war voll des Lobes, was dich betrifft.«
Mirar neigte den Kopf. »Auch ich freue mich, dich kennenzulernen, Zweite Stimme.«
»Das ist die Dritte Stimme, Vervel«, fuhr Genza fort und deutete auf einen Mann von stämmigem Körperbau.
Ich erinnere mich, dass ich ihn in der Schlacht gesehen habe, aber ich weiß nichts über ihn. Das werde ich ändern müssen.
»Dies ist die Fünfte Stimme, Shar.«
Der schlanke, gutaussehende Mann mit dem blonden Haar lächelte, und Mirar nickte ihm grüßend zu.
Er ist derjenige, der die Worns züchtet. Derjenige, von dem die südlichen Traumweber sagen, dass er sehr grausam sein könne.
Anschließend machte Genza ihn mit den anderen bekannt. Sie waren »Gefährten« und dienten den Stimmen als Gehilfen und Ratgeber. Die Zwillinge und Auraya hatten ihm bereits von ihnen erzählt.
»Setz dich zu uns, Traumweber Mirar«, lud ihn die Zweite Stimme Imenja ein und zeigte auf einen leeren Sessel.
Mirar setzte sich und nahm ein Glas Wasser von einem der Gefährten entgegen.
»Wir haben soeben über den Krieg gesprochen«, eröffnete Imenja ihm.
»Über einen bestimmten Krieg?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Über den Krieg und die Kriegsführung im Allgemeinen. Traumweber führen keine Kriege, nicht wahr?«
»Nein. Wir erkennen das Bedürfnis eines Menschen an, sich selbst oder sein Land zu verteidigen, aber unser Gelübde, niemals einem anderen Schaden zuzufügen, verbietet es uns, selbst zu kämpfen.«
»Dann heißt du unseren Angriff auf Nordithania also nicht gut, würdest es aber billigen, wenn wir uns im Falle einer Invasion verteidigen würden?«, fragte Imenja.
Er nickte.
»Und doch würden deine Leute nicht bei der Verteidigung ihres Landes helfen.«
»Das tun wir nur, indem wir die Verletzten heilen.«
»Ihr heilt die Verletzten beider Seiten.«
»Ja. Die Traumweber stehen zu ihrem Gelübde, allen Bedürftigen zu helfen, auch wenn sie ihrem Heimatland treu ergeben sind.«
»Ich verstehe.«
»Diese Einstellung führt doch sicher zu Konflikten zwischen den Traumwebern und ihren Landsleuten?«, hakte die Gefährtin der Frau nach. »Nehmen die Menschen es den Traumwebern nicht übel, dass sie dem Feind helfen?«
»Natürlich tun sie das.« Mirar lächelte. »Aber ebenso oft sind sie vielleicht einem Traumweber aus dem Land ihres Feindes dankbar, weil er einen der ihren gerettet hat.«
»Die Weißen und die Zirkler haben deinen Leuten großen Schaden zugefügt«, sagte Vervel. »Würden deine Anhänger gegen sie kämpfen?«
Mirar schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Nicht einmal, um der Unterdrückung zu entfliehen? Nicht einmal, um die Freiheit zu erstreiten, den eigenen Sitten folgen zu dürfen?«
»Nicht einmal dann, wenn wir das eine oder das andere für möglich hielten. Wir könnten zwar alle Weißen töten, aber die Götter würden schnell einen Ersatz für sie finden.«
»Dann glaubst du also, dass die zirklischen Götter real sind?«, fragte Imenja.
Mirar lächelte kläglich. »Ich weiß, dass es so ist. Und ich weiß aus einer verlässlichen Quelle, dass auch eure Götter real sind.«
Die Stimmen sahen einander bedeutungsvoll an.
»Wenn wir die Weißen besiegten«, begann Vervel, »und wenn alle Zirkler Pentadrianer würden, würden die zirklischen Götter niemanden finden, der bereit wäre, den Platz der Weißen einzunehmen.«
»Ah, wenn das doch nur der Wahrheit entspräche!« Mirar seufzte. »Unglücklicherweise müsste zu diesem Zweck jeder einzelne Zirkler bereitwillig seinen Göttern abschwören und sich den euren anschließen.«
»Irgendwann werden sie das vielleicht tun«, meinte Shar. »Natürlich würde es Anhänger des Zirkels geben, die sich insgeheim treffen, und Rebellen und dergleichen. Wir müssten sie aufspüren und…«
»Worauf wir hinauswollen, ist Folgendes: Wenn wir die Macht hätten, wären die Traumweber frei, so zu leben, wie es ihnen gefällt«, unterbrach ihn Vervel. »Dafür würde es sich doch gewiss lohnen, einige Regeln zu brechen?«
Mirar schüttelte den Kopf. »Das Problem ist, dass es sich dabei nicht um eine minder wichtige Regel handelt, sondern um unser oberstes Gesetz und Prinzip.«
»Aber die Zirkler haben versucht, dich zu töten«, rief Genza ihm ins Gedächtnis.
Mirar hielt dem Blick der Frau stand. »Und deine Leute haben in Jarime Traumweber ermorden lassen und es so eingefädelt, dass zirklische Priester als die Schuldigen dastanden.«
Genzas Augen wurden ein wenig schmaler, dann wandte sie sich zu Imenja um.
»Wir können uns wohl glücklich schätzen, dass ihr Traumweber niemandes Partei ergreift«, sagte Imenja leise. »Sei versichert, dass wir nicht alle mit diesem schmutzigen kleinen Plan einverstanden waren.« Er bemerkte, dass Imenjas Gefährtin sie voller Argwohn und Entsetzen anstarrte. »Wir haben nicht die Absicht, diesen Fehler zu wiederholen. Andererseits bin ich mir sicher, dass die Weißen abermals versuchen würden, dich zu töten, wenn sich ihnen eine Gelegenheit dazu böte.«
Mirar lachte düster. »Ich weiß. Sie haben es bereits versucht.«
In Imenjas Augen leuchtete Interesse auf. »Kürzlich? Ist das der Grund, warum du nach Südithania gekommen bist?«
»Ja. Und jetzt stelle ich fest, dass ebendie Frau, die sie mir als Henker geschickt haben, hier wie ein Ehrengast behandelt wird.«
Er beobachtete, welche Gesichter Überraschung verrieten und welche nicht. Imenja lächelte.
»Du weißt, dass Auraya hier ist?«, fragte Genza. »Und du bist trotzdem hergekommen?«
Mirar zuckte die Achseln. »Natürlich weiß ich es. Die Stadt ist voller Gerüchte - und Traumweber.«
Imenja lachte leise. »Und Nekaun hat ihre Anwesenheit kaum geheim gehalten.« Dann sah sie Mirar an, und ihre Miene wurde wieder ernst. »Dir droht keine Gefahr. Wir werden nicht zulassen, dass sie dir etwas antut. Und anscheinend brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen, dass du ihr etwas antun wirst.« Sie musterte ihn forschend; wahrscheinlich hielt sie Ausschau nach Anzeichen dafür, dass er in Aurayas Fall vielleicht eine Ausnahme von seiner Regel machen würde, die ihm Gewalt untersagte. »In einer Woche wird sie fort sein.«
Mirar nickte.
»Es besteht kein Grund, warum du ihr begegnen solltest. Vielleicht würdest du es vorziehen, ihr aus dem Weg zu gehen«, fuhr sie fort. Er spürte Enttäuschung von den Gefährten und verkniff sich ein Lächeln. Sie waren offenkundig neugierig zu sehen, was geschehen würde, wenn er und Auraya aufeinandertrafen.
Neugierig bin ich auch, dachte er. Zu wissen, dass sie in der Nähe ist, und sie nicht ein einziges Mal zu sehen… Gewiss konnte eine Begegnung nicht schaden.
»Mir ist es gleichgültig«, sagte er. »Tatsächlich fände ich es befriedigend, sie sehen zu lassen, dass ich am Leben bin und von ihren Feinden gut behandelt werde.«
Imenja lachte abermals. »Auch das lässt sich arrangieren.«
Traumweber Mirar ist ein gutaussehender Mann, ging es Reivan durch den Kopf, während sie beobachtete, wie er und Imenja auf die Flamme des Sanktuariums zuschlenderten. Allerdings nicht mein Typ. Er sieht aus wie ein Nordländer, und dann ist da noch etwas anderes…
Er erinnerte sie an einen Denker, in den sie als junge Frau einmal vernarrt gewesen war. Dieser Denker war eines Tages bei einer Zusammenkunft erschienen und hatte alle in seinen Bann geschlagen. Einige Monate später war er dann verschwunden. In den folgenden Jahren war er viele Male unangekündigt aufgetaucht und wieder gegangen. Wann immer er nach Glymma kam, suchte er sich ein anderes hübsches Mädchen, um es dann wieder fallen zu lassen. Reivan war zunächst eifersüchtig gewesen, bis ihr die Mädchen leidtaten, denen so viel versprochen wurde und die dann mit gebrochenem Herzen zurückblieben und manchmal auch mit einer sprießenden Last in ihrem Schoß.
Mirar verströmte eine Sicherheit, die die Menschen anzog, und das war es, was sie an den Denker erinnerte. Er hatte die gleiche Rastlosigkeit in den Augen, als plane er bereits die Reise zu seinem nächsten Ziel. Doch während der Denker fortgegangen war, wann immer er einen Grund hatte, die Flucht zu ergreifen, vermutete sie, dass Mirar einfach umherzog, beobachtete, was immer ihm begegnete, und dann weiterzog.
Er hat es nicht eilig, dachte sie plötzlich. Das ist der Unterschied. Und warum sollte es auch anders sein, wenn er doch unsterblich ist?
Das war es, was sie am meisten faszinierte. Die Stimmen waren unsterblich, weil die Götter es so wollten. Mirar hatte diesen Zustand irgendwie ohne Hilfe erreicht. Sie hätte ihn liebend gern gefragt, wie er das zuwege gebracht hatte, obwohl sie bezweifelte, dass sie die Antwort begreifen würde.
Er und Imenja hatten vor der Flamme des Sanktuariums gestanden. Jetzt machten sie kehrt und kamen wieder auf Reivan zu.
»… jemals ausgeblasen?«
»Einige wenige Male. Wir haben diese Tatsache nicht verschleiert. Die Menschen können in solchen Dingen recht abergläubisch sein. Wenn wir ihnen nicht erzählen würden, dass es gelegentlich geschieht, würden sie, wenn die Flamme tatsächlich erlischt, womöglich denken, das Ende der Welt sei gekommen oder etwas ähnlich Lächerliches. Auch so versuchen sie, in die seltene Gelegenheit, da die Flamme erloschen ist, irgendeine Bedeutung hineinzugeheimnissen.«
Mirar lachte leise. »Das kann ich mir vorstellen.« Er sah auf. »Ist das ein Siyee?«
Reivan folgte seinem Blick und bemerkte eine geflügelte Gestalt, die langsam emporstieg.
»Ja«, antwortete Imenja. »Einer aus der Gruppe, die wir gefangen halten. Sie haben eins unserer Dörfer angegriffen. Nekaun lässt einen nach dem anderen frei, als Gegenleistung dafür, dass Auraya hierbleibt.«
Mirar nickte. »Davon habe ich gehört. Es ist klug, sie nur nacheinander ziehen zu lassen. Auf diese Weise können sie sich nicht so leicht wieder zusammenrotten und abermals angreifen.«
»Ja.«
»Ihr scheint sie gut zu behandeln«, fügte er hinzu. »Sonst wären sie mittlerweile nicht mehr in der Lage zu fliegen. Gebt ihr ihnen Vorräte mit, damit sie es bis nach Hause schaffen?«
»Unglücklicherweise können sie nicht genug tragen, um den ganzen Weg bis nach Si damit auszukommen, aber was wir ihnen mitgeben, müsste genügen, bis sie Sennon erreichen.«
Imenja geleitete ihn zu der Treppe, die von der Flamme des Sanktuariums in das Gebäude darunter hinabführte. Reivan, die ihnen folgte, hörte irgendwo im Flur vor ihr Stimmen. Imenja und Mirar bogen um eine Ecke und blieben stehen. Als Reivan sie erreichte, erkannte sie die Stimme, und ein Schauer überlief sie. Sie sah Mirar an. Um seine Lippen spielte ein starres Lächeln. Seine Augen leuchteten - vielleicht vor Angst, vielleicht vor Erheiterung.
Reivan betrachtete den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit. Auraya starrte Mirar mit schmalen Augen an. Sie stand reglos da, wie angewurzelt. Nekaun warf Imenja einen sehr direkten Blick zu, dann drehte er sich zu Auraya um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen - aber er bekam keine Gelegenheit dazu.
»Mirar«, bemerkte Auraya mit vor Verachtung triefender Stimme. »Wie ich sehe, bist du in der Stadt eingetroffen.«
»So ist es«, erwiderte er und schaute kurz zu Imenja hinüber. »Und ich bin herzlich empfangen worden.«
»Nichts Geringeres hätte ich von unseren Gastgebern erwartet.«
Aurayas Blick war durchdringend, aber Mirar zuckte nicht mit der Wimper.
»Nach dem rüden Empfang, den man mir im Norden bereitet hat, hätte ich durchaus etwas anderes erwartet«, erwiderte Mirar hochtrabend. »Aber dann dachte ich: Es muss im Süden besser sein, denn schlechter könnte es kaum sein.«
Auraya lächelte. »Hier haben sie dich einfach noch nicht kennengelernt.«
Mirars Lächeln verblasste ein wenig, und zwischen seinen Brauen erschien eine kleine Falte.
»Wie geht es den Siyee?«
»Gut«, antwortete Auraya knapp.
»Die Weißen haben in ihnen nützliche Verbündete gefunden?«
»Natürlich.«
»Wie ich höre, ist ihre jüngste Mission gescheitert.«
»Ich fürchte, das ist hier nichts Neues mehr.«
»Ja«, pflichtete Mirar ihr bei. »Wahrscheinlich habe ich den Weißen diese Gelegenheit zu verdanken, dir wieder zu begegnen - und dass unter erheblich erfreulicheren Umständen.« Er sah Imenja an. »Ich hoffe, dass wir vor deiner Abreise noch Zeit für ein weiteres Gespräch finden werden. Vielleicht beim Essen?«
»Das lässt sich machen«, erwiderte Imenja milde.
»Vielleicht bei einem ruhigen Essen nur unter uns«, sagte Auraya mit leuchtenden Augen. »Wir könnten unser früheres Gespräch fortsetzen. Da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«
»Ich bin davon überzeugt, dass meine neuen Freunde die Gelegenheit willkommen heißen würden, sich uns anzuschließen«, entgegnete Mirar. »Vor allem, da du so bald abreisen wirst. Sie haben vorrangige Ansprüche auf dich, da deine Zeit hier begrenzt ist und meine nicht.«
Nekaun kicherte. »Traumweber Mirar hat recht. Wir haben dir noch immer viel zu zeigen, und deine Zeit hier nähert sich schnell ihrem Ende.« Er wandte sich zu Imenja um. »Vielleicht können wir uns alle heute Abend zum Essen zusammensetzen.«
»Ich werde es veranlassen«, erwiderte sie.
»Und nun möchte ich dich auf einen weiteren Ausflug entführen, der uns aus der Stadt hinausbringt.« Nekaun berührte Auraya sacht an der Schulter, und sie riss den Blick von Mirars selbstgefälliger Miene los, um die Erste Stimme anzusehen. »Wir werden den halben Tag brauchen, um dorthin zu gelangen, daher sollten wir ohne weitere Verzögerungen aufbrechen.«
Mirar beobachtete mit schmalen Augen, wie Auraya davonging, aber als Imenja sich zu ihm umdrehte, sah er sie an und lächelte breit. Sie deutete auf einen Flur, der in die andere Richtung führte. »Möchtest du den Sternensaal sehen, in dem wir unsere Zeremonien abhalten?«
Er nickte. »Klingt faszinierend.«
Als sie in gemächlichem Tempo davonschlenderten, analysierte Reivan das Gespräch zwischen Mirar und Auraya.
»Nach dem rüden Empfang, den man mir im Norden bereitet hat, hätte ich durchaus etwas anderes erwartet.«
»Hier haben sie dich einfach noch nicht kennengelernt.«
Aus diesem Wortwechsel ist Auraya als Siegerin hervorgegangen, überlegte Reivan. Die ehemalige Weiße hatte angedeutet, dass Mirar sich keine Freunde machte, wo immer er hinkam. Damit könnte sie recht haben.
Mirar hatte mit einem verschleierten Seitenhieb reagiert und etwas darüber bemerkt, dass die Weißen die Siyee auf eine aussichtslose Mission geschickt hätten, aber Auraya hatte den Köder nicht geschluckt. Dann hatte Mirar sie verhöhnt und darauf hingewiesen, dass sie ihm hier nichts anhaben könne.
»… nur unter uns. Wir könnten unser früheres Gespräch fortsetzen. Da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«
Reivan unterdrückte das Kichern, das in ihr aufstieg. Diesen Wortwechsel hat Auraya ebenfalls gewonnen, dachte sie. Sie hat praktisch angedeutet, dass seine Sicherheit von uns abhänge und dass sie bereit sei, ihn zu töten, wenn ihr die Stimmen die Gelegenheit dazu gaben. Aber Mirar hatte das letzte Wort, glaube ich. Was hat er noch gesagt?
»Ich bin davon überzeugt, dass meine neuen Freunde die Gelegenheit willkommen heißen würden, sich uns anzuschließen… da deine Zeit hier begrenzt ist und meine nicht.«
Sie runzelte die Stirn. Hatte Mirar erraten, dass die Stimmen nicht beabsichtigten, Auraya gehen zu lassen? Oder hatte er lediglich darauf hingewiesen, dass die Stimmen mehr Grund hatten, ihn zu schützen als sie, da er unsterblich war und langfristig einen nützlicheren Verbündeten abgeben würde?
Er ist klug genug, um die Pläne der Stimmen zu erraten, befand Reivan. Jeder, der die Situation gründlich durchdenkt, könnte zu diesem Schluss kommen.
Aber hatte Auraya es auch getan?
Unfug sprang auf die Matratze. Einige Minuten lang drehte er sich immer wieder um die eigene Achse und prüfte nach Kriterien, die nur er verstand, die beste Position, um zu schlafen. Als er eine annehmbare Stelle gefunden hatte, rollte er sich zusammen und seufzte.
Auraya, die zur Decke emporblickte, ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie Juran an diesem Abend berichtet hatte. Oder vielmehr das, was sie nicht berichtet hatte.
Mirar ist hier, hatte sie ihm mitgeteilt. Es war einer dieser Zufälle, dass wir einander begegnet sind, nur dass es offensichtlich kein Zufall war.
Was ist passiert?
Nichts. Er hat mich darauf hingewiesen, dass die Stimmen ihn schützen würden und dass die Mission der Siyee von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei.
Ich fürchte, er hat in beiden Punkten recht.
Sie hatte Juran nichts von ihrer Übereinkunft mit Mirar erzählt, so zu tun, als seien sie Feinde. Damit wäre allzu offenkundig geworden, dass sie Mirar nicht als Feind betrachtete, und das würde Juran kaum gefallen. Sie wollte ihm keinen weiteren Grund liefern, ihr zu misstrauen.
Jetzt stand ihr noch die letzte abendliche Aufgabe bevor. Seit ihrer ersten Traumvernetzung mit Mirar hatten sie in jeder Nacht auf solche Weise zueinander Verbindung aufgenommen. Heute Nacht würden sie viel zu besprechen haben. Sie schloss die Augen und ließ sich in den Geisteszustand sinken, den sie brauchte.
Auraya.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie sofort eingeschlafen sein musste.
Mirar?
Endlich! Wie spät gehst du eigentlich ins Bett?
Seine Ungeduld erfüllte sie mit Erheiterung.
So spät, wie ich möchte.
Ah. So ist das also, ja? Seit die Stimmen angefangen haben, dich wie einen Ehrengast zu behandeln, glaubst du, etwas Besseres zu sein?
Vielleicht. Haben wir unsere Sache heute gut gemacht?
Es war ein Anfang.
Ha! Mir sind die besten schnippischen Antworten eingefallen!
Ich hatte das letzte Wort.
Das ist wahr, pflichtete sie ihm bei.
Also, wo warst du heute Abend? Ich hatte mich darauf gefreut, unser Gespräch beim Essen fortzusetzen.
Hat Imenja es dir nicht erzählt? Wir haben uns zu weit von der Stadt entfernt, als dass wir rechtzeitig hätten zurück sein können.
Dann ist das also die Wahrheit?
Ja. Natürlich haben Nekaun und ich vielleicht ein wenig länger als nötig mit der Begutachtung der Glasbläserwerkstätten verbracht.
Nun, die Stimmen werden wahrscheinlich von dir erwarten, dass du mir aus dem Weg gehst.
Und ich fürchte, wenn wir uns allzu oft begegnen, könnten mir die schnippischen Antworten ausgehen.
Dann hast du also eine ganze Sammlung davon?
Eine Handvoll. Und sie warten alle auf den richtigen Augenblick.
Wer hätte gedacht, dass du ein so begabter Zankteufel bist.
Danke. Also, haben die Stimmen dir schon irgendwelche Angebote gemacht?
Nein. Am Tag meiner Ankunft haben sie mich über das Traumwebergesetz gegen Gewalt befragt. Vielleicht hat meine Antwort sie abgeschreckt.
Hm. Vergiss nicht, selbst wenn sie dir nicht anbieten, mich für dich zu töten, könnten sie mir immer noch das Angebot machen, dich für mich zu töten.
Dann verstehen sie sich bemerkenswert gut darauf, das zu verbergen. Wir haben ausführlich über die Traumweber und meinen Platz unter ihnen gesprochen. Ob meine Rolle eher die eines Anführers oder die eines Beraters sei. Imenja meinte, dass die Traumweber mich in jedem Fall voller Ehrfurcht betrachten würden, ganz gleich, ob ich ihr Anführer sein wolle oder nicht. Es hat einen Nachteil, wenn man für eine Weile tot war: Die Menschen zeichnen ein geschöntes Bild von einem. Ich habe ihr versichert, dass ich ihnen zuvor nicht gestattet habe, mir zu huldigen, und dass ich es auch jetzt nicht tun werde. Sie meinte, sie glaube mir.
Er war mit einem Mal ernst geworden, und Auraya hatte das beunruhigende Gefühl, mit Leiard zu sprechen. Sie drängte die Regung beiseite.
Wahrscheinlich hat sie die Gedanken von Traumwebern gelesen, um herauszufinden, was sie von dir halten.
Ja. Oh, da ist noch etwas anderes, das sie sagte… Ich glaube, sie wissen, dass du Gedanken lesen kannst.
Ein leichtes Frösteln überfiel Auraya. War es möglicherweise gefährlich, dass die Stimmen wussten, dass sie Gedanken lesen konnte? Jade hatte vermutet, es könne gefährlich sein, wenn die Götter wüssten, dass Auraya diese Fähigkeit zurückerlangt hatte, aber damals hatte sie von den zirklischen Göttern gesprochen.
Wie dem auch sei, es war möglich, dass die zirklischen Götter gelegentlich die Gedanken von Pentadrianern lasen. Es sei denn …
Glaubst du, nur die Stimmen wissen Bescheid oder auch andere?
Ich weiß es nicht. Ich könnte mir heute Nacht einige Träume ansehen und feststellen, ob ich etwas für dich in Erfahrung bringen kann.
Ja. Ich werde ebenfalls ein wenig Gedanken abschöpfen. Vielleicht finde ich ja jemanden, der noch wach ist.
Wenn du es tust, halte Ausschau nach Gedanken, die die Elai betreffen. Bei meiner Ankunft habe ich etwas aufgeschnappt, das den Verdacht nahelegt, sie würden Schiffe versenken.
Sie versenken Schiffe? Das ist eine beunruhigende Möglichkeit.
Ja. Also, wir haben beide viel zu tun, und die Nacht wird nicht länger.
Nein. Gute Nacht.
Gute Nacht.
Mirar?
Ja?
Sie zögerte, plötzlich besorgt, dass sie mit dem, was sie zu sagen im Begriff stand, einen falschen Eindruck erwecken könnte. Nachdem sie einen Moment darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass dies nicht zu befürchten sei.
Danke für deine Hilfe.
Du solltest mir noch nicht danken. Nicht bis der letzte Siyee frei ist und du aus der Stadt fliehen konntest. Wenn der letzte Siyee fliegt, sei bereit für einen Verrat, Auraya, warnte er sie. Ich glaube nicht, dass die Stimmen die Absicht haben, dich gehen zu lassen.
Als er die Verbindung abbrach, trieb sie in einem beklommenen Traumzustand dahin und dachte über seine Warnung nach. Wenn ich an Nekauns Stelle wäre, würde ich mich auch nicht gehen lassen. Ich werde ihm einen Grund geben müssen, mich ziehen zu lassen. Sie war zu müde, um sich jetzt weiter mit dieser Frage zu beschäftigen, und sie musste immer noch Gedanken abschöpfen. Sie konzentrierte sich und sandte ihren Geist in die Welt hinaus.
Während sie sich von einem Geist zum nächsten bewegte, schöpfte sie die Gedanken der Götterdiener und Domestiken im Sanktuarium ab, die noch wach waren. Als sie auf den Geist der Gefährtin einer Stimme traf, stieg ein Gefühl der Befriedigung in ihr auf. Die Frau, Reivan, war rastlos und konnte nicht schlafen, und ihre Gedanken kreisten um die Erste Stimme Nekaun.
Es ist schon so lange her, überlegte Reivan. Gewiss hätte er die Zeit für einen einzigen Besuch gefunden. Wie soll ich ihm von Imenjas Verdacht erzählen? Ich darf mich ihm nicht nähern, für den Fall, dass Auraya Gedanken lesen kann.
Auraya wurde flau. Das bestätigte, was Mirar ihr erzählt hatte. Ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, war entdeckt worden.
Aber andererseits, warum sollte er auf mich hören, wenn er nicht auf Imenja hört. Nein, ich kann nur hoffen, dass er Auraya nicht unterschätzt. Sobald er sie getötet hat, wird er zu mir zurückkommen, sagte Reivan sich.
Auraya erschrak. Irgendwie war es beängstigender, Nekauns Absichten so deutlich in den Gedanken der Frau formuliert zu hören. Aber sie spürte auch Zweifel. Die Gefährtin Reivan wusste, dass die anderen Stimmen glaubten, Nekaun werde sie töten, aber sie waren sich nicht sicher. Er hielt seine Pläne vor ihnen verborgen. Dann sah Auraya die größte Angst der Frau, die ständig am Rand ihres Bewusstseins lauerte. Die anderen Stimmen glaubten, Auraya sei mächtiger als Nekaun. Reivan machte sich Sorgen, dass er, wenn er Auraya zu töten versuchte, es allein tun würde. Sie befürchtete, dass er scheitern würde.
Interessant, ging es Auraya durch den Kopf. Ich frage mich, ob sie recht haben. Und es ist eigenartig, dass Nekaun sich nicht den anderen Stimmen anvertraut. Das ist eine Schwäche, die sich ausnutzen ließe.
Die Gefährtin schlief jetzt langsam ein. Wenn sie etwas über die Elai wusste, würde sie in absehbarer Zeit nicht darüber nachdenken. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um Nekaun. Auraya machte sich auf die Suche nach dem Geist anderer Menschen.
Sie würde die verbliebenen Siyee, die noch hier eingekerkert waren, nicht im Stich lassen, aber sobald der letzte von ihnen wegflog, würde sie gewappnet sein, sich gegen Nekaun zu verteidigen.
Hast du eine Kopie dieser Schriftrolle angefertigt?, fragte Tamun Emerahl, sobald die Zwillinge sich im Traum mit ihr vernetzt hatten.
Ich versuche es, erwiderte Emerahl. Barmonia hat sie mich nur aus dem einen Grund sehen lassen, weil ich sie für ihn übersetzen kann. Er wird mir nicht erlauben, die Übersetzung für ihn niederzuschreiben. Er erlaubt mir nicht einmal, mir Notizen zu machen. Ich muss mir einprägen, so viel ich kann, und es heimlich aufschreiben.
In welcher Form schreibst du es auf?, fragte Tamun.
Ich habe es in die Innenseite meines Wasserschlauchs eingebrannt. Dort werden sie es niemals finden.
In welcher Sprache?
Auf Hanianisch, so dass sie nicht wissen würden, was ich dort festgehalten habe, selbst wenn sie den Text finden sollten.
Du musst die ursprünglichen Glyphen benutzen! Der kleinste Fehler in der Übersetzung kann die Bedeutung eines Satzes verändern!
Sie wird keinen Fehler machen, warf Surim ein.
Danke, sagte Emerahl, erfreut darüber, dass er sie verteidigte.
Sie würde es vielleicht gar nicht bemerken, widersprach Tamun. Wir dürfen keine Risiken eingehen. In der alten Priestersprache hatten Wörter häufig zwei Bedeutungen.
Wenn Emerahl wach gewesen wäre, hätte sie geseufzt. Tamun hatte die Neuigkeit, dass die Schriftrolle nutzlos war, nicht gut aufgenommen. Sie weigerte sich, es zu glauben, und behauptete, das Gedicht müsse eine verschlüsselte Botschaft enthalten.
Also schön. Ich werde die Glyphen irgendwie kopieren. Aber was dann? Es ist lediglich eine Geschichte. Sie liefert keine Hinweise auf diese Geheimnisse der Götter.
Nein? Tamuns Erheiterung umspülte Emerahls Geist. Das, was du uns wiedergegeben hast, birgt einige offenkundige Fingerzeige.
Offenkundig?
Die Geheimnisse wurden in einer unzerstörbaren Form bewahrt. Was ist unzerstörbar?
Nichts.
Gold, sagte Surim. Oder zumindest hat mir das ein Schmied einmal erzählt. Man kann es einschmelzen und mit anderen Metallen mischen, aber es wird niemals verrosten oder zerfallen.
Wenn die Geheimnisse in Gold festgehalten wurden und man Gold einschmelzen kann, dann kann man die Geheimnisse zerstören, stellte Tamun fest.
Dann muss es etwas sein, das so hart und massiv ist, dass man es nicht zerbrechen kann.
Ein Diamant?, meinte Emerahl. In Gedanken ging sie noch einmal die Schätze durch, die sie in dem Sarg gefunden hatten. Unter dem Schmuck und den anderen Kostbarkeiten waren reichlich Edelsteine gewesen.
Einen Diamanten kann man mit einem anderen Diamanten schneiden, bemerkte Tamun. Damit ist er ebenso zerbrechlich wie Gold.
Was gibt es sonst noch?, fragte Surim.
Die Zwillinge verfielen in Schweigen, während sie nachdachten. Emerahls Gedanken kreisten immer wieder um den Schmuck und die Kleinodien. Wenn die Geheimnisse auf einem Diamanten bewahrt wurden, wäre es eine kluge Idee gewesen, diesen zwischen den anderen Schätzen zu verbergen.
Obwohl es nicht viele Geheimnisse geben konnte, wenn man sie in einen Diamanten eingeritzt hatte. Einige Edelsteine in der Sammlung waren beeindruckend groß, aber auch sie boten zu wenig Platz, um mehr als einige Wörter darauf festzuhalten.
Es wäre einfacher, wenn du die Schriftrolle einfach stehlen und zu uns bringen würdest.
Ich werde diesen gewaltigen Brocken Gold ganz sicher nicht stehlen! Selbst wenn er kein großes, hässliches Stück Dung wäre, das zu schwer ist, um es zu transportieren, wissen wir, dass die pentadrianischen Götterdiener diese Schriftrolle haben wollen. Ich hätte wahrscheinlich während der ganzen Reise zur Küste die Hälfte der Götterdiener Südithanias auf meinen Fersen, und ich würde vielleicht kein Schiff finden können, um…
Wach auf. Es ist etwas geschehen. Der Verräter hat…
Plötzlich nahm Emerahl eine Stimme wahr. Barmonias Stimme. Er schrie. Sofort schüttelte sie den Traum ab und kehrte ins Bewusstsein zurück.
»… diese stinkende Hure von einem Dieb! Ich werde dir mit bloßen Händen die Gedärme aus dem Leib reißen und sie verfüttern…!«
Emerahl stand auf, schlang sich eine Decke um die Schultern und eilte aus ihrem Zelt. Die Schreie kamen aus der Richtung, in der sich die Arems und die Domestiken befanden. Barmonias Worte hallten durch die stille Nacht. Kereon und Yathyir standen neben dem Feuer; Kereon trug eine finstere Miene zur Schau, und Yathyir hatte die Augen vor Angst weit aufgerissen. Der ältere Mann sah zu Emerahl hinüber, dann deutete er mit dem Kopf auf Barmonias Zelt.
Die Türlasche war geöffnet, und sie konnten das Durcheinander dahinter sehen. Auf dem Boden lag ein zerschlagener, verformter Gegenstand: die Schriftrolle.
»Zerschmettert«, sagte er.
Nun begann auch Emerahl lautlos zu fluchen. Barmonia hatte die Schriftrolle mit solcher Inbrunst gehütet und darauf bestanden, zugegen zu sein, wann immer irgendjemand sie studierte, daher hatte sie geglaubt, dass das Artefakt in seiner Obhut sicher sei.
Ich bin eine Närrin!, dachte sie. Die Zwillinge werden außer sich sein.
Das Geschrei verebbte, und zwei Gestalten traten aus der Dunkelheit hervor. Mikmer und Barmonia stritten miteinander.
»… ihn in der Dunkelheit verfehlt. Wenn die Sonne aufgeht, können wir uns auf seine Fährte setzen«, sagte Mikmer.
»Sobald er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind, wird er seine Spuren verwischen. Ich werde mich auf die Jagd machen nach diesem von einer Schlampe großgezogenen, verräterischen…«
Barmonia erstarrte, als er Emerahl bemerkte, und schloss den Mund. Sie versuchte, sich ihre Erheiterung über sein Verhalten nicht anmerken zu lassen.
»Was ist passiert?«, fragte Yathyir mit leiser, verängstigter Stimme.
Barmonia runzelte die Stirn. »Ray hat die Schriftrolle zerschlagen. Die Domestiken sagen, er habe ein Arem genommen und sei davongeritten.«
»Wann?«
»Vor nicht allzu langer Zeit.«
Erst vor einigen Minuten, ging es Emerahl durch den Kopf. Ray muss sich zu diesem Schritt entschieden haben, während die Zwillinge und ich über die Schriftrolle gesprochen haben. Wenn er diesen Plan früher geschmiedet hätte, hätten sie es gewusst.
»Hatte er etwas bei sich?«, fragte Kereon.
»Ein Bündel und eine große Tasche«, antwortete Mikmer. Dann zog er die Brauen zusammen, als Barmonia in sein Zelt eilte. »Warum?«
Aus dem Zelt des Anführers kam ein Brüllen. Barmonia kehrte zurück, das Gesicht dunkel vor Zorn. »Er hat den Schatz mitgenommen.«
Ein kalter Schauer kroch über Emerahls Haut. Wenn ich recht habe und die Geheimnisse sich auf einem Diamanten irgendwo in dem Schatz befinden…
Es überraschte sie nicht, dass Raynora den Schatz gestohlen hatte. Er würde Geld brauchen, da seine Zugehörigkeit zu den Denkern enden würde, sobald sich herumsprach, dass er sie verraten hatte. Was keinen Sinn ergab, war der Umstand, dass er die Schriftrolle zerschmettert hatte. Er hätte sie eigentlich stehlen müssen.
Ist er dahintergekommen, dass das Geheimnis sich in dem Schatz befindet?
Die Schriftrolle würde nirgendwohin gebracht werden. Wenn die Denker sie wiederherstellen konnten, würden sie das tun. Sie brauchte nicht dazubleiben, bis es so weit war.
Ich muss den Schatz wiederfinden. Das ist das Einzige, was zählt.
»Wir können nicht bis morgen früh warten«, knurrte Barmonia.
»Wir sollten uns aufteilen, jeder einige Domestiken mitnehmen und in verschiedene Richtungen gehen«, schlug Kereon vor.
Mikmer seufzte, dann nickte er. »Ich werde nach Norden gehen. Irgendjemand sollte hierbleiben und das bewachen, was von der Schriftrolle übrig ist.«
Barmonia machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es hat keinen Sinn, Yathyir auszuschicken. Ich sollte besser im Lager bleiben.« Er sah Kereon und Mikmer an. »Bringt ihn hierher zurück. Ich werde mich um ihn kümmern.«
Die beiden Männer nickten, dann eilten sie davon. Emerahl hörte, wie sie den Domestiken Befehle zuriefen.
»Ich könnte ebenfalls gehen«, erbot sie sich.
Barmonia bedachte sie mit einem harten, argwöhnischen Blick. »Nein. Er könnte gefährlich sein.«
Sie lächelte schwach. »Das bezweifle ich.«
»Nein. Ich brauche dich hier.«
»Ich habe die Schriftrolle übersetzt«, wandte sie ein. »Was könnte ich sonst noch tun?«
»Hierbleiben, wo ich dich sehen kann«, blaffte er. »Um ehrlich zu sein, ich traue dir nicht.«
Sie zuckte die Achseln. »In Ordnung. Dann werde ich wieder ins Bett gehen.«
»Bleib beim Feuer«, befahl er.
Sie zögerte und fühlte sich versucht, einfach aufzubrechen. Er konnte sie nicht aufhalten. Aber vielleicht barg die Schriftrolle noch andere wichtige Hinweise. Möglicherweise war es klug, wenn sie sich gut mit ihm stellte.
Aus der Dunkelheit kam ein Domestik. Er berichtete, dass auf der Straße ins Tiefland ein Licht gesehen worden sei.
Ein Licht, wie? Ich glaube nicht, dass Raynora so töricht wäre, eine Lampe zu benutzen, wo es doch hell genug sein wird, wenn der Mond aufgeht. Wahrscheinlich hat er eine Lampe an ein Arem gebunden, es in die Richtung gedreht, in der das Tiefland liegt, und ihm einen ordentlichen Klaps gegeben. Er selbst wird in die andere Richtung geritten sein, nach Glymma, wo ihn sein Lohn erwartet.
Sie brauchte nur ein wenig Gedanken abzuschöpfen, um eine Bestätigung für ihren Verdacht zu finden.
Also stieß sie einen falschen Seufzer des Ärgers aus und ging zu dem fast erloschenen Feuer hinüber, wo sie sich auf eine der Matten legte und in eine Decke hüllte.
Yathyir und Barmonia kehrten in ihre Zelte zurück. Sie hörte Barmonia über die Schriftrolle reden und darüber, ob er sie retten könne. Schon bald würde er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt sein, um zu bemerken, dass sie sich davonstahl.
Dann würde sie ihr Bündel und ein Arem holen und sich an die Verfolgung des Verräters machen.
Auraya trieb allein durch ihre Traumtrance. Unter dem Sanktuarium warteten zwei Siyee auf ihre Freilassung. In weniger als zwei Tagen würde sie Glymma und Nekaun entfliehen.
In einem Raum irgendwo in der Nähe lag Mirars Körper auf einem Bett, während sein Geist die Gedanken anderer Menschen abschöpfte. Eine Woge der Zuneigung zu ihm stieg in ihr auf, gefolgt von einem Gefühl sehnsüchtiger Erheiterung. Als Leiard war er zuerst ein Lehrer, dann ein Geliebter für sie gewesen. In Si war er abermals zu einem Lehrer und schließlich zu einem Feind geworden. Jetzt war er ein willkommener Verbündeter. Ein Helfer. Ein Freund.
Ich mag ihn, dachte sie, und das liegt nicht daran, dass er mich an Leiard erinnert. Ich kann ihn nicht sehen, also können meine Augen mir nicht vorgaukeln, dass ich mit Leiard rede. Manchmal liegt in dem, was er während der Traumvernetzungen sagt, eine Spur von Leiard, aber meistens spreche ich mit jemand anderem.
Mit Mirar. Dem Feind der Götter. Auraya zuckte im Geiste die Achseln. Auch Jade ist eine Feindin der Götter, aber das hat mich nicht daran gehindert, sie zu mögen, nachdem ich sie einmal kennengelernt hatte. Muss ich zum Beweis meiner Treue jeden hassen, den die Götter hassen?
Sie können mich nicht dazu zwingen, jemanden zu lieben. Gilt dasselbe für den Hass?
Es war eine interessante Frage, aber sie hatte noch viel zu tun. Seit Mirar es zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, hatte sie jede Nacht Gedanken abgeschöpft. Stück um Stück hatten sie genug Informationen zusammengetragen, um zu bestätigen, dass pentadrianische Götterdiener in alle Länder Nordithanias geschickt worden waren, wo sie sich niederlassen und Einheimische bekehren sollten. Die Weißen hatten die meisten dieser Versuche entdeckt und ihnen ein Ende gemacht, einschließlich der erfolgreichsten dieser Unternehmungen in Dunwegen.
Sie streckte ihre Gedanken nach dem Geist aus, der ihr am nächsten war, hielt dann jedoch überrascht inne.
Nicht weit entfernt summten innerhalb der Magie der Welt laute Stimmen.
… geschieht, wenn du dich nicht mit anderen berätst.
Ich habe mich beraten.
Wir haben über Übungen und Prüfungen gesprochen, nicht über die Aufstellung von Armeen.
Um schnell eine ganze Armee aufzustellen, bedarf es der Übung.
Die Stimme, die die Vorwürfe abwehrte, gehörte Huan, während der Ankläger Saru war.
Ein solches Unterfangen weckt außerdem Erwartungen, und…
Ich bin wieder einmal in ein Gespräch der Götter hineingestolpert, dachte Auraya. Chaia hat mich gewarnt, dass man mich dabei entdecken könnte. Ich sollte aufhören zu lauschen und…
Denkst du wirklich, dass er eine so jämmerliche Ausrede glauben wird? Dies kam von einer älteren, männlichen Stimme. Lore. Auraya zögerte, erstaunt darüber, dass außer Chaia auch andere Götter Huan kritisierten. Die Zirkler fragen sich jetzt, ob wir überhaupt wissen, was wir tun.
Was wohl kaum mein Werk sein dürfte, sagte Huan. Nicht ich habe den Befehl gegeben, dass die Armeen wieder heimgeschickt werden sollen.
Was sollten sie denn tun, wenn sie ihre »Übung« nicht beenden und nach Hause ziehen sollten?
Die Frage kam von Chaia. Beim Klang seiner Stimme wurde Auraya warm ums Herz.
Weitere Übungen?, schlug Huan vor. Wirklich Pech, dass du ihnen den Befehl gegeben hast, sich zurückzuziehen. Sie hätten ein wenig Exerzieren gut gebrauchen können.
Und du wusstest, dass die Pentadrianer davon hören würden, sagte Lore. Du kannst nicht so tun, als hättest du keine Ahnung von den Konsequenzen gehabt.
Sie hätten Auraya getötet, erklang jetzt eine leise Frauenstimme. Dies konnte nur Yranna sein. Auf diese Weise wäre das Gleichgewicht wiederhergestellt worden.
Nein, die Waage hätte sich zugunsten der Pentadrianer gesenkt, warf Lore ein. Sie haben Mirar.
Der nicht kämpfen wird, rief Saru den anderen ins Gedächtnis.
Huan beachtete ihn nicht. Wir waren nie in einer besseren Position, um auch ihn loszuwerden, bemerkte sie.
Wenn das Gleichgewicht alles ist, was dir Sorgen macht, können wir Auraya befehlen, sich aus jedweden Schlachten herauszuhalten.
Und sie würde gehorchen, wenn die Zirkler verlören?
Obwohl die Götter jetzt um die Frage stritten, ob man ihr vertrauen könne oder nicht, grübelte Auraya über Huans Behauptung nach, dass die Situation günstig sei, um Mirar loszuwerden. Wie konnte das sein, wenn er sich im Zentrum der pentadrianischen Macht befand? Vielleicht gab es hier jemanden, der im Dienst der Weißen stand und bereit war zu töten. Wie war es ihm oder ihr gelungen, einer Entdeckung durch die Stimmen zu entgehen? Oder hatte der Betreffende keine Ahnung, wer sein Auftraggeber war?
Auraya ist nicht der Grund, warum die Zirkler in den Krieg ziehen werden, donnerte Huan plötzlich.
In den Krieg ziehen? Auraya bedauerte plötzlich, dass sie ihre Gedanken hatte schweifen lassen. Wollten die Zirkler die Pentadrianer tatsächlich angreifen, oder sprachen die Götter lediglich von einer theoretisch möglichen Situation?
Sie werden nicht in den Krieg ziehen, erwiderte Lore. Einige pentadrianische Verschwörungen zur Bekehrung von Zirklern sind nicht Grund genug, um einen anderen Kontinent zu überfallen.
Auraya war erleichtert.
Die Weißen würden nur dann in den Krieg ziehen, wenn wir den Befehl dazu gäben, stimmte Saru ihm zu.
Und?, sagte Yranna leise.
Es ist nicht recht, wenn wir uns einmischen, erwiderte Lore energisch. Sie müssen von sich aus zu dem Entschluss kommen.
Ich sehe nicht ein, warum wir ihnen nicht einen kleinen Stoß geben sollten, bemerkte Saru. Beim letzten Mal war es die Entscheidung eines Sterblichen, warum sollte es diesmal nicht unsere Entscheidung sein?
Ich werde dem nur zustimmen, wenn Auraya nicht in die Angelegenheit verwickelt wird, sagte Chaia.
Du Narr, entgegnete Huan, und ihre Stimme troff vor Wut und Verachtung. Wenn es nach dir ginge, würden wir zu den Sitten der alten Zeiten zurückkehren, als die Welt übervölkert war mit Göttern und keiner von uns irgendetwas tun konnte, ohne dass die anderen uns nachspioniert hätten.
Nachspioniert… Chaias Warnung fiel Auraya wieder ein, und als die Götter von neuem zu streiten begannen, zog sie sich widerstrebend zurück.
… werde ihr sagen..
Sobald du es getan hast, welchen… töten?
Ich werde nicht…
Während ihre Stimmen langsam verklangen, wurde Auraya sich wieder ihres eigenen Ichs bewusst und öffnete die Augen. Bruchstücke des Gesprächs der Götter gingen ihr durch den Sinn. Es gab vieles, was sie verwirrte. Sie listete auf, was sie erfahren hatte.
Die Götter wollen einen Krieg, sie sind sich nur nicht einig, was den Zeitpunkt betrifft und wer darin verwickelt werden soll.
Für Wesen, denen es nicht widerstrebt, ihre eigenen Gesetze zu brechen, um Mirar zu töten, machen sie sich erstaunlich viele Sorgen darüber, ob ein Krieg ein ausgeglichener Kampf zwischen gleichstarken Gegnern wäre.
Chaia verteidigt mich immer noch. Tatsächlich hatte ich den Eindruck, dass er seine Unterstützung für den Krieg als Gegenleistung dafür anbietet, dass mir dabei nichts geschehen wird.
Mirar ist hier nicht so sicher, wie er glaubt.
Und wenn sie ihn warnte, würde sie sich mit dem Feind der Götter verbünden.
Kümmerte sie das?
Lu war nicht mehr so müde gewesen, seit… seit Ti auf die Welt gekommen war. Wie in jener Nacht konnte sie auch heute trotz ihrer Erschöpfung nicht schlafen. Damals hatte die Sorge um Ti sie wach gehalten, die schwach und kränklich gewesen war. Jetzt hatte sie Angst um ihre ganze Familie.
Sie blickte zu ihrem Mann, Dor, hinüber. Er starrte in den Nachthimmel hinauf. Sein Wangenknochen war geschwollen und dunkel verfärbt; einer der Krieger war es müde geworden, Dors Versuchen zu lauschen, sich aus dieser Geschichte herauszureden, und hatte ihn geschlagen.
Ebenso gut könnte er versuchen, die Sterne vom Himmel herunterzureden, dachte sie. Ob Krieger oder Diener, wir alle folgen blind unseren Regeln und Traditionen. Das ist es, was die Pentadrianer gesagt haben. Sie runzelte die Stirn. Sie haben gesagt, sie könnten Dunwegen verändern, aber es wird sich nichts verändern, solange die Clans es nicht wollen. Ihnen gefällt die Situation, so wie sie ist.
»Es ist alles ihre Schuld«, bemerkte jemand in der Nähe. Eine andere Stimme murmelte eine Antwort. Etwas Abwehrendes.
Seit die Krieger ihnen befohlen hatten, sich niederzulegen und zu schlafen, tuschelten die Dorfbewohner und die Neuankömmlinge miteinander. Lu hatte Argumenten und Anklagen gelauscht, Ängsten und Hoffnungen. Und die ganze Zeit über war aus allen Richtungen leises Weinen gekommen, und der alte Ger hatte wieder zu husten begonnen.
»… glauben wir? Ihr oder ihnen?«, sagte eine Stimme. Lu erkannte Mez, den Schmied.
»Sie kennt die Wahrheit. Sie verfügt über Magie. Sie kann Gedanken lesen«, antwortete ein anderer. Pol, ein Bauer.
»Sie könnte lügen.«
»Warum sollte sie?«
»Weil es ihr nicht gefällt, wenn Außenseiter sich einmischen und einfachen Menschen den Rücken stärken. Sie hat sich mit I-Portak zusammengetan, um dafür zu sorgen, dass er und seine Krieger die Oberhand behalten.«
»Die Götter haben sie erwählt«, sagte Pol. »Ich folge dem Zirkel nach wie vor.«
»Das alles wäre nie geschehen, wenn wir unseren eigenen Priester gehabt hätten«, lamentierte eine andere Stimme. Roi, die Frau des Bäckers.
»Es spielt keine Rolle«, sagte Ger heiser. »Niemand schert sich um uns. Weder die Neuankömmlinge noch die Krieger oder die Weißen. Wenn wir den Neuankömmlingen nicht gleichgültig wären, wären sie nach Hause gegangen, statt uns alle in Schwierigkeiten zu bringen.«
»Wir haben versucht, die Situation zu verbessern«, bemerkte eine Frau. Lu erkannte Noeneis Stimme. Lu hatte die Würde und die Gelassenheit der anderen Frau immer bewundert. Jetzt, auf dem Weg nach Chon und zu ihrem Richter, spielten solche Eigenschaften keine Rolle mehr.
»Ihr hättet die Diener nicht herholen sollen«, sagte Roi. »Das hat ihre Aufmerksamkeit erregt.«
»Wir… wir wollten ihnen nur helfen.«
»Nun, das habt ihr aber nicht getan. Seht euch doch nur an, was aus uns geworden ist. Wir alle werden sterben, weil ihr nicht wusstet, wann ihr aufhören musstet.«
Abermals trat Stille ein.
»Warum konntet ihr euren Göttern nicht um unserer Götter willen abschwören?«, fragte jemand, der weiter weg lag, mit unüberhörbarer Wut. »Nicht einer von euch ist zum zirklischen Glauben übergetreten, aber viele von uns sind Pentadrianer geworden. Wenn ihr wirklich Dunweger hättet werden wollen, wie ihr behauptet habt, hättet ihr euch dem Zirkel angeschlossen.«
Ein anderer der Neuankömmlinge, der zu weit entfernt war, als dass Lu ihn hätte verstehen können, antwortete.
»Eure Götter helfen euch jetzt nicht, oder?«, fragte eine Frau voller Bitterkeit. »Und sie helfen uns auch nicht. Ich wünschte, ihr wärt nie hierhergekommen!«
Andere Stimmen gesellten sich dem Streit bei. Gers Husten wurde lauter. Weitere Anklagen erklangen. Plötzlich riefen viele Menschen durcheinander. Aufgestaute Wut und Angst ließen die Luft vibrieren. Jemand sprang auf, und Lu zuckte zusammen, als der Mann wütend auf einen anderen eintrat, obwohl sie nicht sehen konnte, wer das Opfer war. Irgendjemand schrie vor Schmerz, dann rappelten sich plötzlich überall auf dem Feld Menschen auf - einige, um die Neuankömmlinge zu schlagen, andere, um sich in Sicherheit zu bringen.
Lu packte Ti und stand auf, dann drehte sie sich nach Dor um, aber er war fort. Mit vor Angst rasendem Herzen suchte sie nach ihm.
»AUFHÖREN!«
Ein Licht flammte auf, so hell, dass Lu nicht mehr richtig sehen konnte. Ti begann zu weinen.
»ES WIRD NICHT GEKÄMPFT!«
Die Stimme gehörte der Weißen. Langsam kehrte Lus Sehkraft zurück. Sie blinzelte heftig und hielt Ti dicht an sich gedrückt, während sie weiter nach ihrem Mann suchte. Etliche Krieger marschierten quer über das Feld und blafften Befehle.
»Die Pentadrianer nach links, die Zirkler nach rechts«, rief einer der Männer.
Sie trennen uns, schoss es ihr durch den Kopf. Wo ist…?
In diesem Moment löste sich Dor aus der Menge, das Gesicht dunkel von unterdrücktem Zorn. Sie eilte zu ihm hinüber und sah, wie seine Miene weicher wurde. Als er einen Arm um ihre Schultern legte, seufzte sie vor Erleichterung. Dann bemerkte sie das Blut auf seinen Knöcheln und sah ihn fragend an.
Er lächelte grimmig. »Ein Glückstreffer«, sagte er. »Danach bin ich nicht mehr nahe genug herangekommen. Die anderen hatten auch keinen Erfolg. Die meisten von ihnen sind Zauberer.«
»Zauberer?«, wiederholte sie.
»Ja.« Er seufzte. »Ich denke, die Weiße muss recht haben. Gewöhnliche Menschen mögen über einige wenige Gaben verfügen, aber doch nichts in dieser Art. Man hat uns überlistet, Lu.«
Lu blickte auf Ti hinab, deren kleines Gesicht sich zusammengezogen hatte, während sie mit Inbrunst weinte. Dann schaute sie zu der Menge der Neuankömmlinge hinüber - nein, der Pentadrianer -, die sich jetzt auf der anderen Seite des Felds niederließen. Sie spürte etwas in sich, das sie noch nie zuvor verspürt hatte.
Hass.
Fesseln wurden gelöst und ein Wasserschlauch sowie ein Päckchen mit Essen überreicht. Sreil drehte sich zu Auraya um. Seine Sorge um sie und um den Priester, der allein im Kerker zurückblieb, war so stark, dass sie sie körperlich spüren konnte. Sie hielt seinem Blick stand und beobachtete, wie seine Gedanken zu jenen wanderten, die vor ihm nach Hause geflogen waren. Er nickte knapp, dann wandte er sich wieder um und sprang von dem Gebäude.
Während sie ihm nachsah, schlug eine Welle der Erleichterung über ihr zusammen. Er musste immer noch die lange Heimreise überleben, aber die Chancen, dass sie Sprecherin Sirri ohne schreckliche Schuldgefühle und Trauer würde gegenübertreten können, hatten sich verbessert. Sie wusste nicht, wie sie eine solche Begegnung ertragen sollte, falls Sirris Sohn es nicht nach Hause schaffte.
Es ist nur noch ein Siyee übrig, der freigelassen werden muss, dachte sie, wobei sie den Mann an ihrer Seite überdeutlich wahrnahm. Wenn Nekaun etwas gegen mich unternehmen will, wird er es bald tun.
»Was wirst du mir heute zeigen?«, fragte sie und drehte sich zu ihm um.
Er hob die Schultern. »Nichts. Ich habe dir alles gezeigt, was man von der Stadt aus erreichen kann. Heute… ich dachte, wir könnten uns vielleicht einfach entspannen und reden.«
Auraya lächelte schief. Sie würde sich niemals entspannen, wenn sie mit ihm redete. Er führte sie in das Gebäude hinab und durch mehrere Flure. Einige Teile des Sanktuariums waren ihr inzwischen vertraut. Sie verlor kaum jemals die Orientierung. Als Nekaun sie nun in höhere Bereiche brachte, in die sie bisher nie vorgestoßen war, wuchs ihre Neugier.
Am Ende eines Flurs angekommen, führte Nekaun sie durch eine Doppeltür und in einen großen, luftigen Raum. Mehrere Domestiken standen dort bereit.
»Dies ist mein privates Quartier«, erklärte er ihr. Nach einigen knappen Worten auf Avvensch eilten die Domestiken davon. Nekaun öffnete eine Doppeltür, hinter der sich ein Balkon verbarg.
»Komm mit nach draußen«, sagte er. »Es ist angenehm, dort zu sitzen und zu reden, besonders an einem Tag wie diesem, wenn kühle Brisen die Sommerhitze ein wenig lindern. Ich habe etwas zu trinken und zu essen bestellt.«
Auraya folgte ihm zu den kunstvoll gewobenen Riedsesseln auf dem Balkon. Auf einem Tisch standen ein Krug aus geblasenem Glas und zwei reich verzierte Kelche. Nekaun goss Wasser in einen der Kelche und reichte ihn Auraya.
Sie setzte sich und nippte vorsichtig an dem Getränk. Nekaun nahm ihr gegenüber Platz.
Turaan hatte einen Stuhl ein wenig weiter entfernt gewählt. Der Gefährte sprach in letzter Zeit kaum einmal, und meistens vergaß sie, dass er da war. Während Nekaun normalerweise in seiner eigenen Sprache redete und Turaan übersetzen ließ, benutzte er jetzt das Hanianische. Trotzdem blieb der Gefährte bei ihnen. Bei den weniger alltäglichen Worten, die er noch nicht kannte, brauchte Nekaun nach wie vor seine Hilfe.
Auraya wartete stets, bis Hanianisch gesprochen wurde, obwohl sie wusste, dass ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, entdeckt worden war. Solange die Stimmen so taten, als sei dies ein Geheimnis, würde sie sich genauso verhalten.
»Also, was hältst du von meiner Heimat, jetzt, nachdem du mehr davon gesehen hast?«, fragte Nekaun.
»Das Sanktuarium ist sehr schön«, antwortete sie.
Er lächelte. »Und die Stadt?«
»Wohlhabend. Ordentlich. Ich wünschte, Jarime wäre ebenfalls mit so viel Voraussicht geplant worden.«
»Man macht nur dann Pläne, wenn es notwendig ist. Hania ist nicht so trocken wie Avven. Was ist mit meinem Volk? Wie stehst du jetzt zu ihm?«
»So wie immer«, erwiderte sie. »Die Menschen sind überall gleich. Sie lieben und hassen. Sie folgen guten Traditionen und schlechten. Sie arbeiten, essen, schlafen, ziehen Familien groß und betrauern die Toten.«
Nekaun hob die Brauen. »Und doch stehst du anders zu ihnen als zu den Siyee?«
»Die Siyee hassen mich nicht. Dein Volk tut es.«
»Hmm.« Er nickte. »Aber das wusstest du nicht, bevor du hierhergekommen bist.«
»Nein, allerdings habe ich es vermutet. Ich wäre irregeleitet gewesen, hätte ich geglaubt, hier willkommen zu sein. Dein Volk hat reichlich Grund, mich zu hassen.«
Seine Augen leuchteten auf. »Das könntest du ändern«, sagte er leise. »Wenn du hierbleiben würdest. Du hast eine Gelegenheit, die Gunst der Menschen hier zu gewinnen.«
»Und mir den Hass meines eigenen Volkes zuzuziehen?«, fragte sie.
»Ah, aber würde es wirklich so kommen? Wenn du einen dauerhaften Frieden zwischen unseren Völkern stiften würdest, würden sie dich vielleicht beide lieben. Es würde zu Beginn nicht einfach sein, aber wenn du Erfolg hättest…«
Auraya wandte den Blick ab und schaute durch das Geländer des Balkons auf die Stadt unter ihr. Nekauns Vision war mächtig und verführerisch. Als Weiße war sie für ihre Fähigkeit bekannt gewesen, Völker zu einen. Ihre naiven Vorschläge hatten seinerzeit die Befreiung ihres Dorfes von den Dunwegern bewirkt, die die Menschen dort als Geiseln genommen hatten. Ihr Verständnis für die Traumweber hatte es ihr ermöglicht, ein Bündnis mit den Somreyanern zu stiften und Toleranz und Zusammenarbeit zwischen Traumwebern und Zirklern zu fördern. Ihre Liebe zu den Siyee hatte das Himmelsvolk mit den Zirklern vereint. Es schien beinahe der nächste logische Schritt zu sein, Frieden zwischen den Zirklern und den Pentadrianern zu stiften.
Aber sie war keine Weiße mehr. Und wichtiger noch, sie besaß nicht länger deren absolutes Vertrauen. Ein Unterhändler brauchte das Vertrauen aller Parteien, mit denen er zu tun hatte.
Dann waren da die Götter. Sie würde niemals erfolgreich Frieden zwischen Zirklern und Pentadrianern stiften können, wenn Huan gegen sie arbeitete. Sie konnte ihr Ziel nur dann erreichen, wenn die Götter Frieden wollten. Wenn alle Götter ihn wollten.
Bis die Mitglieder des Zirkels sich dafür entscheiden, die pentadrianischen Götter zu akzeptieren, kann es keinen Frieden geben.
Ein Schaudern durchfuhr sie, als ihr die Wahrheit dieses Gedankens bewusst wurde. Der Friede lag nicht in ihren Händen, noch in den Händen irgendwelcher Sterblicher oder Unsterblicher. Die Sterblichen waren hilflos, solange die Götter gegeneinander kämpften.
Und solange die Götter Sterbliche als ihre Werkzeuge und Waffen benutzten. Warum müssen sie uns in ihren Streit hineinziehen?, dachte sie, und Wut stieg in ihr auf. Warum können sie ihre Meinungsverschiedenheiten nicht unter sich regeln und uns in Ruhe lassen? In Kriegen verlieren sie Anhänger. Da wäre es doch gewiss besser, wenn sie miteinander Frieden schließen würden?
Nach dem, was sie von Huan gehört hatte, bezweifelte sie, dass die Göttin sich jemals über schäbigen Hass und Stolz erheben würde, um mit den pentadrianischen Göttern zu verhandeln. Und was sie von den Gesprächen der anderen Götter mitbekommen hatte, sagte ihr, dass auch deren Bündnis nicht so stark war, wie sie Sterbliche gern glauben machten.
Nekaun bewegte sich auf seinem Stuhl und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Unerwartetes Mitgefühl regte sich in ihr. Er konnte nicht begreifen, dass sein Vorhaben aussichtslos war.
»Ich wünschte, es wäre möglich«, erklärte sie. »Aber ich kann nicht als Friedensstifterin fungieren. Nicht, solange nicht alle Götter es wünschen.«
»Meine Götter wünschen es vielleicht. Tun deine es?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
Er blickte in den Raum. Sie sah, dass einige Domestiken mit dem Essen gekommen waren. Sie brachten die Teller nach draußen und stellten sie auf niedrige Tische. Nekaun nahm sich eine Handvoll Nüsse und aß sie, während er darauf wartete, dass die Domestiken wieder gingen.
»Gibt es irgendetwas, das ich dir anbieten kann, um dich dazu zu bewegen hierzubleiben?«, fragte er, als sie fort waren.
Auraya zögerte mit ihrer Antwort. Wenn sie ihm erst mitgeteilt hatte, dass sie auf keinen Fall hierbleiben würde, würde er keinen Grund mehr haben, den letzten Siyee gehen zu lassen. Keinen Grund als den Schwur, den er geleistet hatte.
»Vielleicht nur ein Weilchen«, sagte er. »Einige Monate?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du den Frieden stiften kannst, nach dem du trachtest, würde ich es in Erwägung ziehen, Glymma später noch einmal zu besuchen.«
Er lächelte. »Etwas wäre da, das ich dir anbieten könnte, obwohl es zu geringfügig ist, um dich zu mehr zu bewegen als zu einer Verzögerung deiner Abreise.«
In Turaans Gedanken regte sich plötzlich Erwartung, und ein Name schimmerte in seinem Geist auf. Es gelang Auraya, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Was?«
»Mirar.« Nekaun machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sein Tod ließe sich arrangieren. Es ließe sich sogar einrichten, dass du ihn selbst tötest, wenn das dein Wunsch ist.«
Auraya gestattete sich ein kurzes Kichern. »Verzeih mir, aber einen Moment lang habe ich mich gefragt, ob du Interesse hättest, der zirklischen Religion beizutreten.«
Er wirkte verwundert. »Warum?«
»Das würde meinen Göttern sehr gefallen.«
»Ich verstehe. Und es würde ihnen nicht gefallen, wenn du hierbleibst.«
Sie zuckte die Achseln. »Solange sie nichts anderes durchblicken lassen, muss ich das wohl annehmen.«
Er nickte. »Dann kann ich nur hoffen, dass sie uns ein anderes Zeichen geben werden.« Er nahm sich noch eine Handvoll Nüsse. Auraya nutzte die Gelegenheit, um vorsichtig von den getrockneten Früchten zu kosten.
In dem Raum, zu dem der Balkon gehörte, wurde eine Tür geschlossen. Nekaun blickte stirnrunzelnd auf. Ein Götterdiener, der spürbare Furcht verströmte, trat heraus und sagte etwas. Als Auraya seine Gedanken las, fror sie plötzlich.
Nekaun wandte sich zu ihr um. »Ich fürchte, der letzte Siyee ist krank geworden. Es ist zweifelhaft, ob er morgen früh wird fliegen können.«
Sie erhob sich. »Bring mich zu ihm.«
Er nickte und stand ebenfalls auf. »Natürlich. Wir werden sofort zu ihm gehen.«
Der Morgen hatte bestätigt, was die Nacht bereits hatte ahnen lassen: Avven war praktisch eine Wüste. Der Sonnenaufgang hatte die erodierte Landschaft mit wunderschönen Farben überhaucht, aber sobald die Sonne höher stieg, verschwanden die Farben wieder, und alles wirkte wie ausgebleicht. Die Luft war trocken und voller Staub. Die Pflanzen kauerten sich entweder um die seltenen Wasserquellen oder breiteten sich dünn und verkrüppelt auf dem felsigen Land aus.
Die einzige Straße Sorlinas führte aus der Stadt in eine tiefe Schlucht und folgte dem schmalen Fluss, der den Ort einst mit Wasser versorgt hatte. Emerahl hatte das Arem die ganze Nacht über in einem stetigen Tempo gehen lassen. Am Morgen lagen die Schlucht und der Fluss weit hinter ihr, und die Straße schlängelte sich zwischen auf phantastische Weise verwitterten Felsformationen hindurch.
Ein Stück vor ihr hatte sie einen Funken von Triumph und Häme verspürt. Manchmal entfernte er sich, dann wieder kam sie ihm näher. Raynora trieb das Arem unerbittlich an, und wenn es müde wurde, machte er Rast, damit das Tier sich ausruhen konnte. Er war nicht dumm genug, um es zu töten. In diesem Falle hätten seine Verfolger ihn nicht nur leicht einholen können, es wäre auch unangenehm und möglicherweise tödlich gewesen, in diesem heißen, trockenen Land zu Fuß zu gehen.
Als Emerahl sich aus dem Lager der Denker davongestohlen hatte, hatte sie ihren Wasserschlauch mitgenommen, doch der Inhalt genügte bei dieser Hitze nur für einen einzigen Tag. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es entlang des Weges Wasserquellen gab. Wenn Arems in dieser Gegend eine alltägliche Erscheinung waren, musste es einen Brunnen für sie geben. Aber sie war sich nicht sicher, ob die Straße noch immer von Reisenden benutzt wurde. Auf dem Weg durch die Stadt ins Tiefland hatte sie keinen Menschen gesehen, und die Stadt selbst würde nur hie und da einen neugierigen Reisenden anziehen.
Raynora hätte diese Route nicht genommen, wenn er nicht glaubte, dass er es bis nach Glymma schaffen konnte, sagte sie sich. Er ist ein habgieriger Verräter, aber er ist nicht dumm.
Der lange Ritt durch die Nacht hatte Ray ermüdet, und seine Gefühle waren für ihre Sinne nicht mehr so deutlich wahrnehmbar wie zuvor. Leichter war es dagegen, den Fußabdrücken seines Arems auf der staubigen Straße zu folgen. Sie war müde, und der Kampf gegen den Schlaf wurde schwieriger, als sie die Erschöpfung des Arems spüren konnte. Sie hätte den Zwillingen gern erzählt, was geschehen war, konnte aber nicht sicher sein, dass sie nach einer Traumvernetzung wieder aufwachen würde.
Ob ich wohl während des Ritts ein wenig dösen könnte? Ich könnte es versuchen. Wenn ich auf dem Boden aufpralle, werde ich wissen, dass es nicht funktioniert hat… Nein, ich muss wach bleiben, falls die Fährte…
Sie ließ das Arem halten. Die Straße vor ihr war vollkommen unberührt. Keine Spuren.
Nachdem sie sich in ihrem Sattel umgedreht hatte, blickte sie zurück. Nicht weit hinter ihr konnte sie Spuren sehen, die von der Straße wegführten. Sie wendete das Arem und ließ es zu dieser Stelle zurückkehren. Die Spuren führten zu einem Felsvorsprung.
Sie sandte ihre Sinne aus und verspürte eine gewisse Erleichterung. Was sie wahrnehmen konnte, war sehr schwach, und das ließ darauf schließen, dass die Quelle ihrer Wahrnehmung schlief. Sie lächelte.
Das Absteigen war schmerzhaft. Sie unterdrückte ein Stöhnen und rieb sich die Beine und das Gesäß, dann reckte sie sich vorsichtig. Schließlich goss sie ein wenig Wasser in eine Schale, die sie zwischen einige Felsen klemmte und für das Arem stehen ließ.
Sie verließ die Straße und ging langsam zu den Felsen hinüber, wobei sie versuchte, sich so lautlos wie möglich über den steinigen Boden zu bewegen. Der Felsvorsprung hatte die Ausmaße eines großen Hauses. Vorsichtig bewegte sie sich durch den Schatten des Felsens, dann blieb sie stehen und lächelte.
Ray lag auf einer Decke. Sein Arem stand mit hängendem Kopf da, den Zügel an Rays Taille gebunden. Das Tier trug noch immer Bündel und Sattel.
Eine Vorsichtsmaßnahme, dachte sie. Für den Fall, dass er in aller Eile fortmuss. Armes Ding. All diese Schätze müssen schwer sein.
Sie zog Magie in sich hinein, schuf einen einfachen Schutzschild und ging auf die beiden zu. Das Arem trat einige Schritte zurück, so dass der Zügel an Rays Taille sich zusammenzog. Emerahl lächelte, als Ray das Gesicht verzog, sich aufrichtete und die Augen rieb. Wenn man müde war, war es nicht besonders angenehm, geweckt zu werden.
»Sei mir gegrüßt, Raynora«, sagte sie und blieb einige Schritte entfernt von ihm stehen.
Er sah sie blinzelnd an, dann verschränkte er die Beine und seufzte. Sein Entsetzen war förmlich mit Händen zu greifen. Außerdem spürte sie auch Enttäuschung. Er wusste, dass sie eine Zauberin war und dass er nichts tun konnte, um sie aufzuhalten.
»Emmea. Das hätte ich mir denken können. Barmonia war so erpicht darauf, dich loszuwerden. Bist du hier, um mich zu töten oder um mich zurückzuschleifen?«
»Weder noch. Bar hat mich nicht hergeschickt«, erklärte sie ihm. »Er hat mir befohlen, im Lager zu bleiben, und dann hat er Mikmer und Kereon beauftragt, dir zu folgen. Sie sind natürlich auf deine Schliche hereingefallen und deinem Köder gefolgt.«
Sein Lächeln war angespannt. »Aber du bist nicht darauf hereingefallen.«
»Natürlich nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß, wo du hinwillst, und ich weiß, warum. Ich habe die ganze Zeit über von deiner Mission gewusst.«
»Aber wie? Mir war selbst bis gestern Nacht nicht klar, dass ich den Auftrag annehmen würde.«
Sie lächelte nur.
Er runzelte die Stirn. »Warum hast du es den anderen nicht erzählt?«
»Denkst du, sie hätten mir geglaubt?«
Raynora schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn du über meine Mission Bescheid weißt, warum hast du mich dann nicht daran gehindert, die Schriftrolle zu zerstören?« Seine Augen weiteten sich. »Du wolltest, dass sie zerstört wurde, geradeso wie die Götterdiener es wollten!«
Sie kicherte. »Nein. Die Schriftrolle selbst kümmert mich herzlich wenig. Ein hässliches Ding, wirklich. Nicht das Gold wert, aus dem sie gemacht ist. Ich hätte sie nie außer Landes bringen können. Nein, ich wollte nur das, wozu die Schriftrolle führt.« Sie deutete mit dem Kopf auf das Bündel.
Er folgte ihrem Blick, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus. »Ah.«
»Ja. Exotisch. Alt. Relativ hübsch.« Sie ging zu dem Arem hinüber und streichelte ihm die Nase. »Und jetzt brauche ich es mit niemandem zu teilen.«
»Aber…«
»Aber was? Du willst eine Belohnung?« Sie ging zu den Bündeln und öffnete die sperrige schwer aussehende Tasche. Gold, Silber, Edelsteine und andere Schmuckstücke glitzerten darin. Sie durchstöberte den Inhalt und hielt halbherzig Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem, obwohl sie nicht wusste, was das sein sollte. Etwas mit einem…
Ein Diamant! Der Edelstein war beeindruckend groß und eingebettet in eine eigenartige Silberfassung. Sie zog ihn heraus und nahm ihn genau in Augenschein. Die ganze Einfassung war übersät mit Glyphen. Nachdem sie sich den Edelstein selbst genauer angesehen hatte, setzte ihr Herz einen Schlag aus, als sie die winzigen Markierungen darin sah.
Das ist es!, dachte sie. Ich weiß es!
Sie zog die Kette heraus und legte sie sich um. Raynora saß, den Kopf in die Hände gestützt, teilnahmslos da. Gerade als sie das Bündel wieder schließen wollte, bemerkte sie etwas Grünes, Leuchtendes: ein riesiger Smaragd an einer dicken Goldkette. Sie löste die Kette von dem übrigen Schmuck. Dann schloss sie das Bündel, nahm es von dem Arem und schlang es sich über die Schulter.
»Ray.«
Er blickte zu ihr auf.
»Fang.«
Sie warf ihm den Smaragd zu, der genau in seiner Hand landete. »Wofür ist das?«, fragte er.
»Eine Erinnerung an mich.«
Er seufzte. Erschöpfung und Resignation dämpften seinen Ärger. Sobald er erst einmal ordentlich geschlafen und Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, würde dieser Ärger ihn vielleicht auf die Idee bringen, ihr zu folgen, ging es ihr durch den Kopf. Es sei denn, sie gab ihm keinen Grund dafür. Sie ging in Richtung Straße, dann wandte sie sich um, als sei ihr gerade noch etwas eingefallen.
»Haben die Pentadrianer dich gebeten, die Schriftrolle zu zerstören oder die Geheimnisse, die sie enthält?«
Er zuckte die Achseln.
»Oh, Ray«, sagte sie lächelnd. »Du bist der Einzige, der nett zu mir war. Ich wünschte wirklich, nicht ausgerechnet du wärst derjenige gewesen… Es wäre mir grässlich, wenn du keine Belohnung für all deine Mühe bekämest. Wusstest du, dass Barmonia eine Kopie der Schriftrolle nach Hannaya geschickt hat?«
Seine Augen weiteten sich, und sie spürte jähe Furcht bei ihm.
»Viel Glück«, sagte sie. Dann drehte sie sich um, schob das schwere Bündel auf die andere Schulter und kehrte zu ihrem Arem zurück.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Diamanten richtig liege, dachte sie. Aber ich wette, dass ich recht habe, was die Schriftrolle betrifft. Barmonia ist kein Narr. Er hat wahrscheinlich tatsächlich eine Kopie in die Stadt geschickt. Vermutlich sogar mehr als eine.
Sie hoffte, dass er es getan hatte, da es möglich war, dass die Schriftrolle weitere wichtige Hinweise enthielt. Die Zwillinge würden außer sich sein, wenn es Ray tatsächlich gelungen war, alle Kopien zu zerstören, und Emerahls Vermutung, was den Diamanten betraf, sich als falsch erwies.
Als sie und Nekaun den Balkon verließen, erforschte Auraya den Geist des Siyee-Priesters. Sie brauchte einige Zeit, um ihn zu finden, und als sie es tat, begriff sie auch, warum das so gewesen war. Teel war fast bewusstlos und litt schreckliche Schmerzen.
Obwohl Nekaun ein zügiges Tempo vorlegte, wünschte sie, er würde schneller gehen. Oder sogar rennen. Andererseits konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass Teel der einzige Siyee war, für den sie jemals Abneigung empfunden hatte. Sein selbstgerechter Stolz und sein von Huan geschürter Fanatismus hatten während der Reise hierher an ihren Nerven gezerrt. Aber sie hätte dem jungen Mann niemals solchen Schmerz und solches Leiden gewünscht.
Im älteren Teil des Sanktuariums angekommen, eilten sie den Flur hinunter, der in die Halle führte. Als sie und Nekaun erschienen, öffneten die beiden Götterdiener, die als Wachen aufgestellt worden waren, das Tor. Dahinter warteten zwei weitere Götterdiener - ein Mann und eine Frau. Sie standen vor einem Siyee, der neben dem riesigen Thron lag. Aus ihren Gedanken las sie Verwirrung und Sorge. Sie wussten nicht, was Teel fehlte. Als sie sie und Nekaun sahen, traten sie zurück. Auraya zog Magie in sich hinein, errichtete eine Barriere um sich herum und ging neben dem Siyee in die Hocke.
»Was ist los?«, fragte Nekaun.
Die beiden Götterdiener begannen gleichzeitig zu sprechen, dann verfiel die Frau in Schweigen. Auraya legte dem Siyee eine Hand auf die Brust.
»Heute Morgen schien er noch vollkommen gesund zu sein«, gestand der männliche Götterdiener. »Es ist eigenartig. Er hat…«
Nekaun hob die Hand, um den Mann zum Schweigen zu bringen. »Auraya wird sich ihr eigenes Urteil bilden wollen«, sagte er. Dann sah er sie an und nickte.
Sie schloss die Augen und leerte ihren Geist, wie Mirar es sie gelehrt hatte. Es war nicht einfach, aber das Ungemach des Körpers unter ihrer Hand zog sie hinein. Als sie sah, was Teel fehlte, sog sie scharf die Luft ein.
»Er stirbt«, sagte sie.
»Kannst du irgendetwas tun?«, fragte Nekaun.
Sie begann, die Körperfunktionen zu beeinflussen, verlieh seinem Herz Kraft und ermutigte seine Lunge, härter zu arbeiten. Wo sie auch hinsah, überall drohten Organe zu versagen. Dann erkannte sie den Grund. Etwas floss durch seine Adern. Die Quelle war sein Magen.
Teel war vergiftet worden.
Sie griff nach weiterer Magie… und war überrascht und entsetzt, als ihre Bemühungen, den Siyee zu heilen, ins Stocken gerieten. Sie streckte ihre Macht weiter aus, aber nichts geschah. Ihr Bewusstsein verließ voller Eile den Priester und flog in alle Richtungen davon. Sie erkannte den Mangel, der sie umgab.
Ein Leerer Raum. Ich bin in einem Leeren Raum. Einem großen. Ich hätte es schon vorher spüren sollen, aber ich habe mich nur um Teel gesorgt. Man wird ihn von hier wegbringen müssen. Ob Nekaun wohl Bescheid weiß…
Ein kalter Schauer überlief sie. Natürlich wusste Nekaun von dem Leeren Raum. Wie hätte es auch anders sein können? Er befand sich innerhalb des Sanktuariums, dem Heim der Stimmen.
Eine Falle. Und ich bin mitten hineingetappt.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Nekaun sich über sie beugte. Sie stand auf und sah ihm ins Gesicht.
»Er ist vergiftet worden«, sagte sie.
Nekaun lächelte. Es war nicht das bestrickende Lächeln, an das sie sich gewöhnt hatte, sondern ein Grinsen, das Befriedigung und Drohung ausstrahlte. Ihr Herz begann zu rasen.
Er machte einen Schritt auf sie zu. »Dann werden wir deinen Siyee-Freund morgen wohl nicht freilassen können.«
Sie wich zurück. Vielleicht weiß er doch nichts von dem Leeren Raum. Vielleicht deute ich sein Lächeln falsch…
»Hast du den Befehl dazu gegeben?«, fragte sie.
»Ja. Wie hätte ich dich sonst hier herunterlocken sollen?« Er blickte über ihre Schulter. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als ihr bewusst wurde, dass die beiden Götterdiener hinter ihr standen. Aus ihren Gedanken las sie seine Befehle.
Umstellt sie. Sie kann nicht gegen euch kämpfen. Wie ihr bemerkt haben werdet, gibt es hier keine Magie.
Die beiden hatten nichts von seinen Plänen gewusst, erholten sich aber sehr schnell von ihrer Überraschung. Sie packten ihre Arme, und sie versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden, aber die beiden waren stark. Beide waren Kriegerdiener, die sich ihrer körperlichen Kraft ebenso rühmten wie ihrer magischen Befähigungen.
»Lasst mich los«, verlangte Auraya.
Ihr Befehl erheiterte die beiden; sie hatten nicht die leiseste Absicht, ihn zu befolgen.
Nekaun, der breit lächelte, kostete den Augenblick aus. Als er näher kam, beschleunigte sich Aurayas Puls. So werde ich also sterben?, ging es ihr durch den Kopf. Wird Chaia meine Seele annehmen? Sie hielt Ausschau nach irgendeinem Hinweis darauf, dass die Götter in der Nähe waren, konnte aber keinen finden. Nekaun sah an ihr vorbei zu den Götterdienern hinüber.
»Hinter dem Thron werdet ihr Ketten finden.«
Ketten? Eine verzweifelte Hoffnung stieg in Auraya auf. Er hat nicht die Absicht, mich zu töten! Es sei denn, er will mich langsam töten. Was wird es sein? Werde ich verhungern? Hat er ein langsames Gift für mich geplant? Oder etwas Schlimmeres?
Ihr Geist zuckte vor dem Gedanken zurück. Sie starrte Nekaun an und wollte irgendetwas sagen, das ihn dazu bewegen würde, seine Meinung zu ändern - eine Drohung, die ihn abschrecken sollte, oder ein Angebot, das ihn in Versuchung führen würde. Aber sie konnte nicht klar denken, und sie konnte sich nicht dazu bringen zu sprechen. Ihr Herz hämmerte, und sie wehrte sich automatisch gegen die Hände, die sie festhielten, und die ganze Zeit über versuchte sie erfolglos, Magie in sich hineinzuziehen. Einer der Götterdiener machte sich an den Ketten zu schaffen, die fest in Aussparungen der Lehnen des Throns verankert waren.
»Bringt sie zum Thron«, wies Nekaun die beiden an. »Umschließt ihre Handgelenke mit den Fesseln.«
Die Götterdienerin hielt zuerst Aurayas linken Arm, dann den rechten ausgestreckt fest, während der Mann die Ketten um Aurayas Handgelenke legte. Als sie fertig waren, bedeutete Nekaun ihnen zurückzutreten. Dann griff er nach Aurayas Hand. Als er ihr den Priesterring abstreifte, unterdrückte sie einen Ausruf des Protests.
Aber der Ring funktioniert in Leeren Räumen ohnehin nicht, überlegte sie.
Er trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten.
»Das war viel zu einfach«, sagte er kopfschüttelnd. »Wer hätte gedacht, dass eine Weiße - eine ehemalige Weiße - so leicht einzufangen wäre?«
Sie biss die Zähne zusammen. Wollte er, dass sie bettelte und flehte? Dass sie einen Handel mit ihm einging, um ihre Freiheit wiederzuerlangen?
So viel zum Thema Frieden und Bündnisse. So viel zu Schwüren und Versprechungen.
»Du hast bei deinen Göttern geschworen, dass mir während meines Aufenthalts hier nichts zustoßen würde«, sagte sie in seiner Sprache, damit die Götterdiener sie verstehen konnten. »Wie kannst du, ihre Erste Stimme, ein Gelübde brechen, das du in ihrem Namen abgelegt hast?«
Sein Lächeln erlosch, aber seine Augen funkelten noch immer. »Ich kann es«, entgegnete er mit harter, ernster Stimme. »Aber nur auf Geheiß meiner Götter. Sie haben mir befohlen, das zu tun. Geradeso wie sie mich angewiesen haben festzustellen, ob man dich überreden könne, dich uns anzuschließen. Geradeso wie sie mir berichtet haben, dass deine Siyee auf dem Weg hierher seien, um uns anzugreifen.« Er zuckte die Achseln. »Geradeso, wie ich dich töten werde, wenn sie es von mir verlangen. Du solltest besser hoffen, dass sie es nicht tun werden.« Dann kehrte sein Lächeln zurück. »Zumindest kann ich mich jetzt wieder einer interessanten Arbeit zuwenden.«
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ die Halle, gefolgt von Turaan und den beiden Götterdienern.
Es war eine traurige Prozession, die über die Straße nach Chon zog. An der Spitze gingen die Pentadrianer, umringt von Kriegern. Als Nächstes kamen Ella, Danjin, Yem, Gillen und Gret, die in einem geschlossenen Plattan fuhren. Die Dorfbewohner bildeten das Schlusslicht, und auch sie waren umringt von Kriegern. Auf einem der Bauernhöfe hatte man einen Karren und ein Arem für die kleinen Kinder, die Alten und die Kranken gefunden.
Die Menschen in dem geschlossenen Plattan hatten bisher nur wenig gesprochen. Gillen hatte kurz nach Antritt der Fahrt versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber die anderen hatten ihn praktisch ignoriert. Gekränkt war er schließlich in ein mürrisches, resigniertes Schweigen verfallen.
Danjin sah Yem an. Jetzt, da er sich in der Gesellschaft eines Clanführers befand, strahlte der junge Krieger stille Würde aus. Gret schien entschlossen zu sein, mit Verdrossenheit auf die Schande zu reagieren, dass eins seiner Dörfer Pentadrianer willkommen geheißen hatte. Ella zeigte die gleiche Reserviertheit, die sie auf dem Weg zum Dorf an den Tag gelegt hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt anderen Dingen. Von Zeit zu Zeit veränderte sich ihre Miene kaum merklich. Ohne erkennbaren Grund runzelte sie plötzlich die Stirn, seufzte oder lächelte. Danjin wusste, dass sie ein Auge auf die Pentadrianer hielt, für den Fall, dass sie versuchen sollten, zu fliehen oder die Krieger anzugreifen. Obwohl es den Kriegern nicht an Gaben mangelte, fanden sich doch keine mächtigen Zauberer unter ihnen, und sie würden Hilfe brauchen, sollten ihre Gefangenen rebellieren.
Man hatte die Schläge des Plattans geöffnet, so dass Danjin die Aussicht hätte genießen können, wäre sie nicht von den Dorfbewohnern »verschandelt« worden, die ihnen folgten, ein Anblick, bei dem sich immer wieder sein Gewissen regte. Um die Dinge noch schlimmer zu machen, hörte er jetzt ein leises Plätschern und begriff, dass es regnete. Wie lange würde es dauern, bis die durchnässten Dorfbewohner krank wurden?
»Die Scalar-Krieger haben das Dorf auf der Strecke vor uns erreicht«, sagte Ella plötzlich. »Wir werden sie dort treffen und Halt machen, um uns auszuruhen und Essen zu besorgen.«
Alle sahen sie an und nickten. Gret brachte es fertig, die Brauen noch enger zusammenzuziehen. Er wandte sich ab und starrte in den Regen hinaus.
Sie kamen an einem Haus vorbei und passierten einige Minuten später ein weiteres. Der Plattan verlangsamte das Tempo, um in ein Tal hinunterzufahren, und folgte dabei einer Straße, die neben einem schnell dahinströmenden Fluss verlief. Dann befanden sie sich plötzlich inmitten einer Gruppe von Häusern, die sich alle in eine Biegung des Flusses schmiegten. Am Straßenrand und in Hauseingängen standen Einheimische, die sie beobachteten.
Ella blickte zu Gret hinüber. »Möchtest du die Scalar für uns begrüßen?«
Bei dieser Frage glättete sich Grets Stirn ein wenig. Ella gab ihm die Gelegenheit, so zu tun, als habe er die Kontrolle über die Gruppe. Er nickte knapp, dann sprang er aus dem Plattan, noch während der Wagen sich bewegte. Danjin hörte, wie er einige Befehle blaffte.
Kurze Zeit später kam der Plattan zum Stehen, und Ella stieg aus. Danjin, der ihr folgte, betrachtete seine Umgebung. Die Pentadrianer waren anscheinend in eine Anlage getrieben worden, die der Aussonderung von Vieh diente. Gret und einige dunwegische Zauberer standen in der Nähe. Die in Arrest genommenen Dorfbewohner wurden unter die breite Veranda eines Lagerhauses geführt. Ein Untergebener Grets kam auf Ella zugeeilt, zusammen mit einem breitschultrigen Mann, durch dessen Haar sich graue Strähnen zogen.
»Dies ist der Dorfvorsteher, Wim«, stellte der Krieger seinen Begleiter vor. »Er sagt, er habe reichlich Essen, und er hat vorgeschlagen, dass wir etwas davon für die Reise mitnehmen sollen.«
Der Mann machte das Zeichen des Kreises. Ella nickte. »Das werden wir tun. Vielen Dank.«
Als die beiden sich wieder entfernten, trat Ella auf die Scalar zu, um sie zu begrüßen. Die Zaubererkrieger wirkten überaus beeindruckend mit ihren blauen Gewändern und den strahlenförmigen Gesichtstätowierungen. Gret stellte sie deren Anführer, Wek, vor.
Nachdem einige Grußworte gewechselt worden waren, wandte Ella sich um und deutete mit dem Kopf auf die pentadrianische Gruppe.
»Einige der Pentadrianer besitzen starke Gaben«, warnte sie. »Bisher haben sie uns allerdings nur wenig Probleme bereitet.«
Wek nickte. »Wir haben Anweisung, sie unverzüglich hinzurichten.« Er sah sie an. »Kannst du bestätigen, dass alle Männer und alle Frauen in dieser Gruppe Pentadrianer sind?«
»Ja«, sagte sie und nickte. »Alle mit Ausnahme dreier Frauen und eines Mannes stammen aus Südithania. Die vier Dunweger betrachten sich als zur Gänze bekehrte Pentadrianer.«
Wek rümpfte angewidert die Nase. »Und die Dorfbewohner?«
»Einige haben sich des Vergehens schuldig gemacht, den Pentadrianern zu helfen, andere haben es lediglich versäumt, ihre Anwesenheit zu melden. Manche von ihnen kann man vielleicht entschuldigen, da sie zu jung waren oder das Alter ihren Geist bereits zu sehr verwirrt hat, um aus eigenem Antrieb handeln zu können.«
Wek nickte. Als er keine weiteren Fragen stellte, stieg Mutlosigkeit in Danjin auf. Er musterte Ella durchdringend, aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Stattdessen wandte sie sich zu Gret um. »Ich muss unter vier Augen mit dir reden.«
Als sie sich einige Schritte entfernt hatte, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu Danjin um.
»Mit dir auch, Danjin.« Sie schien beinahe zu lächeln, doch als sie außer Hörweite der anderen waren, wurde ihre Miene wieder ernst. »Ich werde so schnell wie möglich nach Chon reisen«, sagte sie zu Gret. »Danjin, du wirst mich begleiten, aber die anderen nicht. Ich muss mit leichtem Gepäck reisen, denn ich habe es eilig.« Sie hielt inne. »Ich muss euch beiden die schlimme Nachricht überbringen, dass wir in den Krieg ziehen werden. Die Götter haben die Weißen vor kurzem zum Altar gerufen. Sie haben beschlossen, dass wir tun müssen, was wir die ganze Zeit über hätten tun sollen - die Welt von diesen pentadrianischen Zauberern befreien.«
Das hat sie also getan, während wir in dem Plattan gesessen haben, ging es Danjin durch den Kopf. Vernetzt mit Juran oder einem der anderen Weißen, hat sie mit den Göttern gesprochen!
Gret zog überrascht die Augenbrauen hoch, und ein erwartungsvolles Leuchten trat in seine Augen. Danjin begriff, dass diese Wendung der Ereignisse überaus günstig für ihn war. Er mochte unwissentlich Pentadrianer beherbergt haben, aber jetzt hatte er die Chance, diese Schande wiedergutzumachen. Und er würde die Scham, die Dorfbewohner nach Chon zu begleiten, nicht ertragen müssen.
»Ich werde mit dir gehen, Ellareen von den Weißen«, sagte er. »Wann werden wir aufbrechen?«
Sie lächelte grimmig. »Sobald wir einen Plattan und frische Pferde finden können.«
»Dann gestatte mir, diese Dinge für dich zu beschaffen.«
Mit geradem Rücken und federndem Schritt ging er davon. Danjin schüttelte den Kopf.
»Krieger«, murmelte er.
Ella lachte leise. »Ja, ihnen ist jede Möglichkeit willkommen, mit ihren Fähigkeiten anzugeben.«
Er sah sie von der Seite an. »Ein Krieg, ja? Und diesmal sind wir die Angreifer.«
Sie nickte. »Diese letzten Versuche, Zirkler vom wahren Glauben abzuwenden, haben die Geduld der Götter auf eine allzu harte Probe gestellt. Wir haben in allen Ländern mit Ausnahme von Si pentadrianische Götterdiener entdeckt. In Somrey waren sie erschreckend erfolgreich darin, Konvertiten zu gewinnen. In Toren sind wir auf eine geheime Gruppe gestoßen, die Arme und Heimatlose angeworben und in der Magie unterrichtet hat, um die Reichen zu berauben. In Genria geben sie sich als Heiler aus, die auf Fruchtbarkeit spezialisiert sind. Und in Sennon… nun, in Sennon sind sie schon immer gewesen, zusammen mit jedem anderen Wahnsinnigen, der toten Göttern folgt oder neue erfindet.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Es gibt dort einen neuen Kult, der dem ›Schöpfer‹ huldigt; dieser Schöpfer hat anscheinend die Götter selbst erschaffen. Nur eigenartig, dass die Götter nichts davon wissen.«
Danjin lächelte. »In der Tat, eigenartig.«
Sie seufzte. »Aber sie machen sich keine Sorgen wegen dieses weisen Mannes und seiner Ideen. Es sind die Pentadrianer, vor denen wir auf der Hut sein müssen. Wir können ihre Götter nicht töten, aber wenn wir die Stimmen töten, schwächen wir sie vielleicht genug, um sicherzustellen, dass sie uns eine Zeitlang nicht bedrohen werden.«
Er nickte, konnte sich aber des Gedankens nicht erwehren, dass der Ausgang der vorangegangenen Schlacht auf Messers Schneide gestanden hatte. Bis Auraya den Anführer des Feindes getötet hatte, hatte es so ausgesehen, als würden die Zirkler verlieren.
Ella lächelte. »Ja, das haben wir bedacht, Danjin. Aber diesmal haben wir einen Vorteil.«
»Auraya?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Wir können uns nicht auf ihre Hilfe verlassen, aber die Götter haben uns versichert, dass sie uns nicht behindern werde. Nein, der Vorteil liegt nicht in einer einzelnen Person, sondern in einer ganzen Nation: Diesmal haben wir Sennon auf unserer Seite.«
»Solange der Kaiser nicht im letzten Augenblick seine Meinung ändert.«
»Das wird er nicht tun«, versicherte sie ihm. »Nicht diesmal. Wir werden diese Schlacht gegen die Pentadrianer führen, und er weiß, was das bedeutet: Der Kampf wird auf seinem Land ausgefochten werden, auf der Landenge.«
Danjin blickte zu den Dorfbewohnern hinüber. »Was ist mit diesen Menschen? Woher soll I-Portak wissen, wer unschuldig ist, wenn du nicht hier bist, um ihre Gedanken zu lesen?«
Ella zuckte die Achseln. »Ihre Rechtsprechung hat in der Vergangenheit auch ohne meine Hilfe funktioniert, und so wird es sicher auch in diesem Fall sein.«
»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.
Sie sah ihn an und seufzte. »Ich muss es glauben. Was bleibt mir anderes übrig?«
»Mach eine Liste«, schlug er vor. »Schreib auf, welche Dorfbewohner sich welcher Verbrechen schuldig gemacht haben.«
Sie musterte ihn einen Moment lang, dann nickte sie. »Das kann ich tun.«
»Ich kann dich wohl nicht überreden, gleichzeitig auch die Kinder und die Kranken von diesem Marsch freizusprechen?«
Ella schüttelte den Kopf. »Wer sollte sich um sie kümmern?«
»Irgendjemand würde es sicher tun.«
»Falls sich tatsächlich jemand finden sollte, möchtest du dann derjenige sein, der ein Kind von seinen Eltern trennt?«
Darauf konnte er nichts erwidern. Ich würde so viel Zeit wie möglich mit meinem Kind verbringen wollen, wenn ich glaubte, nicht mehr lange zu leben zu haben, dachte er.
Sie seufzte und wirkte plötzlich müde. »Ich muss zugeben, es ist eine Erleichterung, endlich aufzubrechen.«
Mitleid regte sich in Danjin. »Es ist niemals leicht, mitanzusehen, wie andere Länder Menschen eine solch harte Strafe auferlegen.«
Sie warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Ich habe davon gesprochen, in den Krieg zu ziehen. Die Götter haben immer wieder ihre Meinung geändert. Sie haben uns befohlen, uns für den Krieg bereitzumachen, dann sollten wir unsere Armeen abrüsten, dann wieder aufstellen. Ich denke, der Grund dafür war Auraya. Als sie beschloss, in Glymma zu bleiben, hat sie die Pläne der Götter durchkreuzt. Jetzt hat sie die Stadt vielleicht wieder verlassen, und wir sind frei, unseren nächsten Schritt zu tun.«
Danjin nickte. »Dann wird sie sich uns also in Kürze anschließen?«
»Ich weiß es nicht.« Ella zuckte die Achseln und ging zu Gret hinüber, der einen von zwei frischen Arems gezogenen Plattan lenkte.
Die Schritte klangen wie Hammerschläge in Teels Kopf. Er öffnete die Augen. Schwarzgewandete Männer kamen auf ihn zu und umringten ihn. Dann spürte er Hände unter sich, die hart zupackten. Ein Schmerz, der all seine Gedanken auslöschte, zuckte durch seinen Körper.
Etwas Kühles berührte seine Lippen. Er schluckte, als Wasser seine Kehle hinunterrann. Es schmeckte sauer. Er erinnerte sich an eine Stimme, die er vor einer Weile gehört hatte. Eine vertraute Stimme.
»Er ist vergiftet worden.«
Er spie das Wasser aus, aber die Hände und die schwarzen Roben engten ihn ein. Grausame Finger bohrten sich in seinen Kiefer. Dann war es wieder da, das abscheuliche Wasser, und er unterwarf sich ihm. Je eher er starb, umso eher würde der Schmerz enden. Er würde zu Huan gehen. Er war ihr Liebling. Sie würde ihn aufnehmen.
Eine Zeitlang suhlte er sich in Schwärze. Der Schmerz ließ nach. Er hatte keine Kraft, und er fror furchtbar, aber er fühlte sich besser. Schließlich öffnete er die Augen und blickte zu der hohen Decke der Halle empor. Die anderen Siyee fielen ihm wieder ein.
Sie sind alle fort, dachte er. Ich bin allein hier.
Nein, Teel, du bist nicht allein.
Die Stimme in seinen Gedanken erschreckte ihn. Es war nicht Huan, sondern eine männliche Stimme.
Ich bin Chaia.
Chaia!
Ja. Schau nach rechts, Teel.
Er gehorchte. Der übergroße Thron ragte über ihm auf. Er konnte sich daran erinnern, dass er hierhergeschleift worden war, nachdem die Krankheit - das Gift - die Oberhand über ihn gewonnen hatte. Außerdem erinnerte er sich daran, dass er hochgehoben und zurückgetragen worden war.
Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, und einen Augenblick lang konnte er nicht glauben, was er sah. Eine Frau stand vor dem Thron. Sie war gefesselt.
Auraya!
Ja. Sie ist verraten worden.
Teel stöhnte.
Ich werde niemals hier rauskommen, nicht wahr?
Es ist unwahrscheinlich. Ich kann dich nicht befreien. Hier ist niemand, der meine Befehle ausführen wird.
Warum benutzt Auraya nicht ihre Magie, um die Fesseln zu sprengen?
Sie ist an einem Ort, an dem es keine Magie gibt.
Aurayas Blick war auf einen fernen Ort gerichtet. Sie wirkte benommen. Unerwartetes Mitgefühl regte sich in Teel. Sie war so daran gewöhnt, mächtig und unverletzbar zu sein. Diese Situation war gewiss schwer zu akzeptieren.
Ich kann sie nicht erreichen, sagte Chaia. Also musst du es tun. Wirst du für mich zu ihr sprechen?
Natürlich.
Sag ihr Folgendes….
Teel hörte aufmerksam zu, dann holte er Atem und rief Aurayas Namen. Seine Stimme klang schwächer, als er beabsichtigt hatte, aber ihr Blick schärfte sich, und sie wandte sich zu ihm um.
»Teel!« Sie runzelte besorgt die Stirn. »Wie geht es dir? Die Götterdiener haben dir etwas gegeben. Ich habe gehofft, dass es ein Gegenmittel für das Gift war.«
Plötzlich wusste er, wen er von Gift hatte sprechen hören.
»Oh. Ich dachte, sie würden…« Plötzlich atemlos, hielt er inne. »… mir noch mehr Gift einflößen.« Das Reden fiel ihm schwer. Es kostete ihn viel Kraft.
Sie lächelte schwach. »Nein, aber es war eine logische Schlussfolgerung. Ich hätte dasselbe gedacht.«
Er hätte die Achseln gezuckt, hätte er es der Mühe für wert befunden. »Es spielt keine Rolle. Chaia… hat mir … eine Nachricht für dich gegeben.«
»Chaia?« Ihre Augen weiteten sich, und er sah Hoffnung darin aufschimmern.
»Ja. Er sagte… er wolle versuchen… durch mich… weiter zu dir zu sprechen.« Es war so anstrengend zu reden. »Wenn der Feind… mich fortholt… wird er… jemand anderen finden. Du wirst ihn… an einem Wort… erkennen … ›Schatten‹.«
Er hielt inne, denn die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Er schloss die Augen und spürte, wie er langsam das Bewusstsein verlor.
»Teel!«
Mühsam öffnete er die Augen wieder und lächelte ihr zu.
»Bleib wach, Teel«, sagte sie. »Sprich mit mir.«
Er wollte die Lippen bewegen, aber die Anstrengung war zu groß. In seinen Ohren war ein Rauschen. Der Raum wurde heller und gleichzeitig seltsam trüb. Es war ein kaltes Licht. Er konnte seine Hände nicht spüren. Oder seine Füße. Das Atmen kostete so viel Kraft.
Zu viel. Er gab es auf, und das Licht stürzte auf ihn ein und löschte alle Gedanken aus.
Reivan seufzte, als sie ins Bett stieg. Die Sommerhitze war unbarmherzig. Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, wie die anderen Jahreszeiten waren, aber sie hatte keine Mühe, sich vorzustellen, dass diese niemals enden würde.
Seit Nekauns letztem Besuch war mehr als ein Monat vergangen. In letzter Zeit hatte sie begonnen, sich zu sagen, dass er nicht wiederkommen würde. Er hatte alles von ihr gesehen, was er sehen wollte. Seine Neugier war befriedigt. Er hatte sich interessanteren Herausforderungen zugewandt.
Wie Auraya.
Aber Nekaun versuchte nicht länger, Auraya zu betören. Imenja hatte Reivan mit offenkundiger Befriedigung erzählt, dass Nekaun Auraya eingekerkert habe.
Wie das möglich war, war Reivan noch immer nicht klar. Oder warum Nekaun Auraya nicht getötet hatte. Als sie Imenja danach gefragt hatte, hatte diese einfach das Thema gewechselt.
Die Neuigkeit hatte ein Lächeln auf die Gesichter vieler Götterdiener gezaubert, und die Erleichterung aller war in den Stimmen jener zu hören, die in den Bädern und Fluren schwatzten. Reivan hatte über ihre eigene Freude angesichts der Neuigkeit gestaunt. Es ist uns nicht gelungen, Auraya auf unsere Seite zu ziehen, und eigentlich sollte ich mir deswegen Sorgen machen, aber ich kann nur daran denken, dass Nekaun jetzt nicht mehr all seine Zeit mit ihr verbringen wird!
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Sie seufzte. Die Nachricht musste sich inzwischen auch über das Sanktuarium hinaus verbreitet haben. Viele der Menschen, mit denen sie in Imenjas Auftrag Umgang hatte, würden eine Bestätigung wollen.
Als sie die Tür öffnete, erstarrte sie voller Ungläubigkeit.
»Guten Abend, Reivan.«
Ich träume, schoss es ihr durch den Kopf. Wahrscheinlich habe ich geträumt, dass ich aus dem Bett gestiegen bin, und gleich werde ich aufwachen.
Aber so war es nicht. Nekaun stand wirklich dort. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Oder sagen.
Nekaun lächelte. »Willst du mich nicht hereinlassen?«
Sprachlos trat sie zurück. Als er an ihr vorbeiging, fing sie seinen Duft auf und verspürte eine brennende Sehnsucht. Nekaun wandte sich zu ihr um. »Es ist viel zu lange her, seit wir das letzte Mal geredet haben, Reivan.«
Sie nickte und schloss die Tür. Dann ging sie zum Tisch hinüber, goss Wasser in zwei Gläser und reichte eins davon an ihn weiter.
Geradeso wie sie es früher immer getan hatte.
Er trank, stellte das leere Glas beiseite und nahm ihr ihres aus der Hand.
Geradeso wie er es immer getan hatte.
»Du hast die Neuigkeiten gehört?«, fragte er. »Auraya ist in dem Gewölbe unter dem Sanktuarium gefangen.«
Auraya. Dieses eine Wort riss sie aus ihrer Versunkenheit, und sie runzelte die Stirn. »Ja.«
Er seufzte. »Ich weiß nicht, warum die Götter mir all das auferlegt haben. Haben sie mich geprüft oder sie? Ich weiß es nicht. Und im Augenblick kümmert es mich nicht.«
»Dann hast du ihre Gesellschaft also nicht genossen?«, fragte sie unwillkürlich.
Er verzog das Gesicht. »Es war unaussprechlich mühsam.« Seine Augen wurden schmal. »Warst du eifersüchtig auf sie?«
Sie wandte den Blick ab, denn sie wusste, dass es sinnlos war zu leugnen.
Er lachte leise. »Oh, Reivan. Wie töricht von dir. Wer würde sich zu einer solch mürrischen, argwöhnischen Frau hingezogen fühlen? Lieber würde ich ein Arem betören.«
Sein Geruch und seine Wärme überwältigten sie. Er ist wieder da!, dachte sie.
Für wie lange?, fragte eine dunkle Stimme.
Sei still, entgegnete sie der Stimme.
»Ich habe dich vermisst«, sagte er.
Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. »Ich habe dich auch vermisst.«
Er trat näher an sie heran. Sie wusste, was als Nächstes kam, und ihr Puls begann zu rasen, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen.
Dann erstarrte er, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Ein grimmiger, leidenschaftlicher Ausdruck trat in seine Augen. Reivan löste sich aus seinen starren Armen, ein wenig verängstigt von seiner Miene. Er zog die Augenbrauen finster zusammen, dann sog er scharf die Luft ein, und seine Augen blitzten vor Wut.
»Es tut mir leid, Reivan. Ich kann nicht bleiben.« Sein Kiefer verspannte sich. »Die Götter haben mir soeben den Befehl gegeben, unsere Armee bereitzumachen. Die Zirkler haben die Absicht, uns anzugreifen.«
Sie starrte ihn an, und der Schreck überlagerte beinahe die Enttäuschung, als er sie sanft an der Wange berührte und dann aus dem Raum marschierte.
Die Zweite Stimme Imenja hielt Mirar den ganzen Tag über beschäftigt, indem sie ihn zu einigen Kunsthandwerkern am Stadtrand führte. Sie hatten frisch aus dem Fluss gefangenen Fisch gegessen und über Heilkunst und Magie gesprochen. Den ganzen Tag über war er sich dessen bewusst, dass nur noch ein einziger Siyee freigelassen werden musste. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass Imenja ihm anbieten würde, Auraya zu töten, aber sie hatte nichts gesagt.
Als er abends in das Sanktuarium zurückkehrte, spürte er ein Summen der Erregung und der Befriedigung in der Luft. Sobald er in seinem Quartier war, legte er sich hin und ließ sich in eine Traumtrance sinken; er beabsichtigte, die Gedanken der Menschen um ihn herum abzuschöpfen und herauszufinden, was die Götterdiener in diesen Zustand versetzt hatte. Aber bevor er seinen Geist aussenden konnte, rief jemand seinen Namen.
Mirar!
Surim? Tamun?
Ja, sagte Surim. Ich habe Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten.
Was ist geschehen?
Die Stimmen haben Auraya unter dem Sanktuarium eingekerkert, erklärte Tamum.
Mirar war mit einem Schlag hellwach. Er starrte zur Decke hinauf, dann schloss er die Augen und zwang seinen Herzschlag, sich zu verlangsamen. Es dauerte zermürbend lange, bis er wieder in eine Traumtrance versank.
Surim?
Mirar. Du bist aufgewacht?
Ja.
Tut mir leid. Ich hätte es dir schonender beibringen sollen, sagte Tamun.
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Erzähl mir einfach, wie und warum.
Anscheinend befindet sich unter dem Sanktuarium ein Leerer Raum. Es muss ein Geheimnis gewesen sein, dass nur die Stimmen kannten.
Ein Leerer Raum. Sie wird absolut verletzbar sein.
So verletzbar wie jeder Sterbliche.
Warum hat sie den Leeren Raum nicht gespürt? Wenn sie es getan hätte, hätte sie ihn doch gewiss nicht betreten.
Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich war sie abgelenkt.
Warum haben sie sie gefangen genommen? Warum haben sie sie nicht getötet? Mirar hielt inne. Sie haben doch nicht herausgefunden, dass sie und ich einmal Liebende waren, oder?
Nicht soweit es die Sterblichen dort betrifft, versicherte ihm Surim.
Du wirst es wissen, wenn sie versuchen, sie gegen dich zu benutzen, stellte Tamun fest.
Es ist eher wahrscheinlich, dass sie dich dort hinunterbringen und dir anbieten werden, sie als Gegenleistung für irgendetwas zu töten, warnte Surim ihn.
Und was werden sie tun, wenn ich mich weigere?
Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich das Angebot nicht ausschlagen. Ich würde so tun, als dächte ich darüber nach.
Du kannst dir nicht sicher sein, dass du der einzige Grund bist, warum sie so gehandelt haben, warf Tamun ein. Die Zirkler haben ihre Armeen zusammengerufen. Sie ziehen aus, um Südithania anzugreifen. Es war eine weise Entscheidung, Auraya aus dem Weg zu schaffen.
Noch weiser wäre es, sie zu töten, widersprach Mirar grimmig. Wenn die Pentadrianer wissen, dass es zum Krieg kommen wird, werden sie abermals versuchen, mich und meine Traumweber auf ihre Seite zu ziehen.
Was wirst du tun?
Mirar antwortete nicht. Würden die Pentadrianer ihn dazu zwingen, sich zu entscheiden, ob er die Gesetze seines Volkes brechen oder Auraya opfern wollte?
Sie werden es versuchen, dachte er.
Ich werde Auraya retten, erklärte er den Zwillingen.
Das wäre überaus töricht, sagte Tamun. Du würdest dir damit die Feindschaft der Pentadrianer zuziehen. Alle Traumweber werden darunter leiden.
Nur wenn sie wissen, dass ich es war, der sie gerettet hat.
Mirar löste sich aus der Traumvernetzung und starrte zur Decke empor. Dann sandte er seinen Geist aus, um die Gedanken der Menschen um ihn herum abzuschöpfen.
Und tatsächlich, die Neuigkeit von Aurayas Gefangenschaft hatte sich überall im Sanktuarium verbreitet. Er suchte weiter und fand den Geist zweier Kriegerdiener, die eine unterirdische Halle bewachten. Durch ihre Augen sah er eine einzelne Gestalt, deren Arme an einen übergroßen Stuhl gekettet waren. Sein Herz schnürte sich zusammen, als sei es von dem Anblick ebenso angewidert wie sein Geist.
In einem Leeren Raum hatte sie keinen Zugang zu Magie. Sie war verletzbarer als die mit den geringsten Gaben gesegnete Bettlerin. Für sie musste es noch schlimmer sein, denn sie war nicht an körperliche Härte oder Demütigung gewöhnt.
Er zog sich zurück, versank wieder in der Traumtrance und suchte nach ihrem Geist.
Auraya?
Sie antwortete nicht. Nach mehreren Versuchen kehrte er zu den Geistern der Wachen zurück. Die angekettete Gestalt bewegte sich, und Mirar wurde klar, dass Auraya wach war.
Ich könnte auch nicht schlafen, wenn ich in ihrer Lage wäre, dachte er. Enttäuscht sah er ein, dass er nicht mehr tun konnte, als sie durch die Augen eines anderen zu beobachten. Ich werde sie befreien, sagte er sich. Ich werde einen Weg finden. Und wenn ich ihn gefunden habe, werden die Stimmen nicht einmal wissen, dass ich etwas damit zu tun hatte.
Kluge Pläne werden besser von zwei ausgebrütet als von einem. Mirar löste sich von dem Anblick Aurayas und trat abermals in eine Traumtrance ein, um nach dem Geist einer alten Freundin zu suchen.