Kapitel 16

Wieder war das Zimmer erfüllt von dem gespenstischen dunstigen Licht, das eine unsichtbare Quelle verströmte und das kalt wirkte. Als ich über die Schwelle trat, spürte ich jemanden neben mir. Es war Jennifer. Sie war mit mir eingetreten, schien jedoch meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Ihr Blick war auf den Kleiderschrank gerichtet, und genau wie ich blieb sie einen Moment zögernd stehen.

Die Szene war mir schrecklich vertraut. Ich war schon früher hier gewesen. Das Zimmer umfing mich mit der gleichen Aura lauernder Schrecknisse und höllischer Bilder. Vielleicht war es nur Einbildung, aber diesmal hingen die Schatten in seltsamen Winkeln in dem Raum, so daß er verzerrt wirkte, wie gekippt. Ich hatte den flüchtigen Eindruck, ein Gespensterkabinett zu betreten. Ein kalter Luftzug traf mich — uns —, der von allen Seiten zu kommen schien und mich bis ins Innerste auskühlte. Das geisterhafte Licht schluckte alle Farben im Raum; was blieb, waren Kontraste in Schwarz, Weiß und Grau. Bedrückend wie in einem Alptraum.

Jennifer und ich setzten uns in Bewegung. Ihr Gesicht war ungewohnt starr, während sie zuerst hierhin und dann dorthin blickte, um schließlich den Blick wieder auf den Kleiderschrank zu richten. Sie schien hierhergekommen zu sein, um etwas zu suchen, aber ich fühlte, daß sie schon ahnte, schon fürchtete, daß sie es im Kleiderschrank finden würde.

Wir wurden beide wie magisch zu ihm hingezogen, während unsere Blicke auf dem polierten Holz ruhten, auf der geschwungenen Maserung, den glänzenden Messingbeschlägen. Es kann sein, daß Jennifer sich im Zimmer umsah, während sie vorwärtsschritt; ich tat es nicht. Ich hatte eine Todesangst vor dem, was ich in den Schatten erblicken könnte. Ein solches Grauen packte mich, daß ich am liebsten laut geschrien hätte. Doch meine Füße bewegten sich unerbittlich vorwärts, im Gleichschritt mit Jennifers. Dann standen wir vor dem Schrank. Wir standen da und starrten ihn an und spürten, wie sich uns die Haare im Nacken sträubten. Wir hatten beide das heftige Verlangen, kehrtzumachen und zu fliehen, aber wir konnten es nicht. Wir mußten wissen, was in dem Schrank war.

Ich sah, wie unsere Hände sich hoben und zum Schrank griffen. Jennifers, lang und bleich, berührte den kleinen Messingknopf. Meine eigene Hand hing nur ausgestreckt in der Luft, bloße Nachahmung ihres Handelns. Wir zögerten immer noch, bedrängt von der unheimlichen Aura des Zimmers, schaudernd vor böser Vorahnung.

Dann ergriff Jennifer den kleinen Messingknauf und begann, ihn zu drehen.

Ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Auf dem Boden zu unseren Füßen war eine Spur von Blutstropfen, die zum Schrank führte, und dort, an seinem Sockel, glänzte dunkel ein frischer Fleck, aus dem Inneren hervorgequollen. Starr vor Angst und dennoch unfähig einzuhalten, zog Jennifer langsam die Schranktür auf.

Wir schrien beide. Wir schrien gleichzeitig, beinahe im Gleichklang. Wir schlugen die Hände auf unsere Münder, um die Schreie zu ersticken. Ich spürte, daß Jennifers Herz so rasend hämmerte wie meines, daß plötzliche Schwäche sie überwältigte, und sie glaubte, sie würde zuammenbrechen. Aber das verging. Wir faßten uns, wenn auch zu Tode erschrocken von dem, was wir sahen. Es war Harriet.

Sie lag zusammengekrümmt in der Ecke des Kleiderschranks und starrte aus blicklosen Augen zu uns auf. Ihr Gesicht trug einen Ausdruck, der eine Mischung aus Scham, hilflosem Erstaunen und Hinnahme war. Mit Jennifer zusammen kniete ich nieder, aber obwohl wir uns über Harriet neigten, brachten wir es nicht über uns, sie zu berühren. Wir wußten schon, daß Harriet tot war. Wir blickten sie an, zu entsetzt und verwirrt, um eine Bewegung zu machen, und wurden starr und kalt unter der Wirkung des Schocks. In Harriets Brust steckte ein Messer, ein langes Brotmesser, das ihrem Körper grausame und unnötige Verletzungen beigebracht hatte. Das Blut floß nicht mehr, es begann schon in kleinen Lachen um ihre Hände und Füße und in ihrem Schoß zu gerinnen. Mit der linken Hand umklammerte sie einen Brief:»Für Jenny«, stand auf dem Umschlag.

Eine unendlich lange Zeit blieben wir so, über den verstümmelten Körper Harriets geneigt, und sahen ganz ohne Gefühl die vielen Wunden und Verletzungen und dachten, es hätte nicht schlimmer sein können, wenn ein Schlächter sie unter dem Messer gehabt hätte. Harriet schien noch eine ganze Weile mit ihren Wunden gelebt zu haben, ehe sie endlich hatte sterben dürfen. Als Gefühl und Empfinden langsam wiederkehrten, griff Jennifer nach Harriets Hand. Nicht vorsichtig oder zaghaft, sondern mit Traurigkeit und Liebe. Sie umfaßte den Brief und zog ihn Harriet aus den Fingern. Mit einem Gefühl tiefer Resignation schob sie ihn in ihre Rocktasche und stand auf.

Auch ich stand auf, aber als Jennifer sich abwandte und ging, blieb ich stehen und starrte in den Schrank, bis er leer war und ich nichts weiter sah als ein paar Staubflusen.

Als ich irgendwann später erwachte, ohne die geringste Ahnung, wie spät es war, lag ich auf dem Bett. Ich war voll bekleidet und lag auf den Decken und konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen war. Langsam richtete ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Es war wieder 1894.

Die Türen des Kleiderschranks standen offen, einige von Jennifers Kleidern hingen darin. Im Kamin brannte ein Feuer, und davor saß Jennifer, still und allein, in dem burgunderroten Samtsessel.

Muß ich jetzt für immer hierbleiben? fragte ich mich beunruhigt. Hat sich das Zeitfenster hinter mir geschlossen, als ich die Kluft überwand? Werde ich niemals wieder in meine eigene Zeit zurückkehren?

Auf den Ellbogen gestützt, blieb ich auf dem Bett liegen und beobachtete Jennifer. Ihr Gesicht war gezeichnet von den Nachwirkungen ihres grausigen Funds. Es war bleich und schmal, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Jennifer sah aus wie eine Frau, die alle Hoffnung aufgegeben hat. In ihrem Blick, der in die Flammen gerichtet war, blitzte kaum noch ein Lebensfunke. Sie hatte kapituliert und sich in sich selbst zurückgezogen. Ich hörte die Schritte draußen erst, als Jennifer sich plötzlich lauschend aufrichtete und das Gesicht der Tür zuwandte. Aber dann horchte ich so gespannt wie sie. Die Schritte schallten dumpf durch den Korridor und wurden merklich lauter. Wie gebannt starrte ich zur Tür.

Und dann kam Victor Townsend herein.

Jennifer und ich schrien gleichzeitig auf. Doch während sie aus ihrem Sessel sprang, rührte ich mich nicht von der Stelle. Victor Townsend sah wieder aus wie damals, als er aus London zurückgekehrt war, das Gesicht eine strenge, unbewegte Maske, die kein Geheimnis preisgab, die Augen Spiegel von Enttäuschung und grausamer Ernüchterung. Reglos blieb er an der Tür stehen, den Blick mit einem Ausdruck von Schmerz und Resignation auf Jennifer gerichtet, die vor ihrem Sessel stehengeblieben war. Sie sah ihn so ungläubig an, als hielte sie ihn für ein Gespenst. Schließlich sagte Victor:»Ich habe unten geklopft, und als niemand aufmachte, bin ich einfach hereingekommen. Ich hatte von der Straße das Licht hier im Zimmer gesehen und nahm an, es sei jemand da. Jennifer…«

Sie konnte nicht sprechen. Ihr Körper neigte sich ihm ein wenig zu, sie hob die Hände, aber noch immer konnte sie kein Wort sagen. Es war, als stünde sie jemandem gegenüber, der aus dem Reich der Toten zurückgekehrt war.

«Ich habe deine Briefe bekommen«, sagte er zögernd, als suchte er nach den richtigen Worten.»Aber ich konnte sie nicht beantworten, Jennifer. Ich habe die Beerdigung verpaßt, nicht wahr?«

«Ja«, antwortete sie, immer noch wie in einem Traum.»Und John…«Victor schien unsicher.»Hast du von ihm gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

«Sie haben ihn gefunden, Jenny«, sagte Victor mit tonloser Stimme.»Im Mersey. Er konnte den Buchmachern nicht entkommen. Es tut mir leid.«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.»Es mußte wohl so kommen«, sagte sie leise.»Im Grunde habe ich es wahrscheinlich nicht anders erwartet.«

«Jenny«, sagte er stockend.»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«

Jennifer begann zu zittern.»Lebewohl?«Ihre Stimme war nur ein Hauch.

«Ach Gott, Jenny, wie mich das quält. Du siehst krank aus. Du bist zu dünn. Geh fort aus diesem Haus, Jenny. Geh fort von dieser Familie, ehe du umkommst.«

«Warum bist du gekommen, wenn du mir nur Lebewohl sagen willst?«

«Jennifer, ich habe mich dir ferngehalten, um dich vor meinem schlimmen Ruf zu schützen. Du bist so unschuldig in das alles hineingerissen worden. Und sieh dich an, was es aus dir gemacht hat. Ich hoffte, du würdest mich mit der Zeit vergessen, wie an einen Toten an mich denken.«

«Niemals, Victor!«Sie trat einen Schritt auf ihn zu.»Aber es muß so sein. Ich bin sofort gekommen, als ich von Harriet hörte. Ich wollte bei der Beerdigung dabeisein. Aber ich bin zu spät gekommen. Wo sind meine Eltern, Jenny?«Sie befeuchtete ihre spröden Lippen.»Sie sind nach Wales gereist. Deine Mutter hat den schrecklichen Schock nicht ertragen können. Sie hatte einen Zusammenbruch, Victor. Sie kann nicht mehr gehen. Und dein Vater gibt sich die Schuld an Harriets Tod… Sie mußten einfach eine Weile weg von hier, weißt du.«

«Und du hast sie nicht begleitet?«

«Ich — konnte nicht. Ich habe — «

«Du hast auf Johns Rückkehr gewartet.«

«Nein, Victor. Ich habe auf dich gewartet. «Ihre Stimme gewann jetzt an Kraft.»Die Hoffnung, daß John zurückkehren würde, hatte ich längst aufgegeben. Ich hoffe, er hat da, wo er jetzt ist, seinen Frieden gefunden. Aber dich habe ich nie verloren gegeben, Victor. Ich habe nur von der Hoffnung gelebt, daß du zurückkehren würdest. Wie hätte ich nach Wales reisen können, da du ja jederzeit zurückkommen konntest? Wie es nun auch geschehen ist…«

Sie schwiegen beide und sahen sich nur an. Und beide konnten sie nicht genug voneinander bekommen.

Ich stand langsam vom Bett auf. Ich schwang die Beine zu Boden und stellte mich vorsichtig auf die Füße. Ohne zu überlegen, ging ich zu Jennifer und blieb an ihrer Seite. Jetzt sahen wir beide den Mann an, den wir liebten.»Du hast gesagt, du seist gekommen, um mir Lebewohl zu sagen«, bemerkte Jennifer leise.

«Ja, ich werde jetzt für immer von hier fortgehen. England kann nicht mehr meine Heimat sein. Ich bin ein Mann ohne Ehre. Ich habe kein Recht darauf, unter anständigen Menschen zu leben. Vielleicht werde ich in Frankreich — «

«Bleib, Victor. «Nicht leidenschaftlich und nicht flehend. Einfach:»Bleib.«

Und ich sah, wie es ihn ergriff.

Er schien schwankend zu werden in seinem Entschluß und sagte unsicher:»Ich bin nicht gekommen, um mit dir allein zu sein. Ich wollte meine Mutter besuchen, um ihr, wenn möglich, ein wenig Trost zu spenden. «Jetzt, da sie zwei ihrer Kinder verloren hat, dachte er bitter.»Ich hatte gehofft, dich nur in ihrem Beisein zu sehen. Aber nicht — nicht so.«

«Und warum nicht so?«

«Weil ich dich nur unglücklich machen kann.«

«Wie alle anderen?«Er nickte.

«Dann…«Jennifer griff in ihre Rocktasche und zog einen Brief heraus. Am Umschlag erkannte ich, daß es das Schreiben war, das Harriet ihr hinterlassen hatte. Und ich sah mit Trauer, daß es das gleiche etwas kitschige Briefpapier war, auf dem sie ihre heimlichen Briefe an Scan O'Hanrahan geschrieben hatte.»Lies das«, sagte sie und hielt ihm den Brief hin. Victor betrachtete den Umschlag.»Was ist das?«

«Bitte lies es.«

Er überlegte einen Moment, dann kam er langsam zu uns. So weit wie möglich von uns entfernt blieb er stehen und nahm den Brief. Als er den Bogen aus dem Umschlag zog und entfaltete, sah ich Harriets feine Handschrift mit eigenen Augen. Ich las den Brief mit ihm.

«Liebste Jennifer, ich weiß, wenn Du diesen Brief liest, Du, meine einzige wahre Freundin, wirst Du sehr traurig und bekümmert sein, und ich weiß auch, daß ich Dir großen Kummer bereitet habe. Aber es mußte so geschehen. Ich muß Dir sagen, warum. Ich weiß schon seit einiger Zeit, daß ich mein Leben auf diese Weise beenden muß, so, wie Du mich nun gefunden hast, denn ich habe immer geglaubt, daß Vater es so gewollt hätte.

Meine Zeit ist knapp, ich werde Dein Elend nicht verlängern. Als mein Vater mir das Recht verweigerte, Scan O'Hanrahan zu heiraten, ihn einen Papisten und anderes schimpfte, gehorchte ich ihm nicht, sondern ging mit Scan zur alten Abtei hinaus. Du weißt davon. Und als ich guter Hoffnung war, selbst dann glaubte ich immer noch, daß mein geliebter Sean mich heiraten würde. Bis er mir die grausame Wahrheit sagte. Ich war entehrt. Aber schlimmer noch, ich war zurückgewiesen worden. Ich glaube, das war der Moment, liebste Jenny, als alles in mir umschlug. Es war, als hätte eine andere Person von mir Besitz ergriffen und täte mit mir, was sie wollte. Ich sage das nicht, um mich von den Handlungen freizusprechen, die ich begangen habe, sondern um Dir wenigstens eine kleine Erklärung dafür zu geben, warum ich getan habe, was ich tat.

Victor hat keine Abtreibung an mir vorgenommen. Ich habe es mit eigener Hand getan. Ich wollte ihn verletzen. Ich wollte Euch alle verletzen, weil ich glaubte, das würde meinen Schmerz lindern. Ich wollte auch John ruinieren, darum ging ich zu den Buchmachern und erzählte ihnen von seinem Plan, aus Warrington fortzugehen. Ich will jetzt nicht behaupten, daß ich an dem Unglück, das ich herbeiführte, nicht eine gewisse grausame Freude hatte, so schändlich das ist. Ich hatte in meinem Schmerz und meiner Bitterkeit nur einen Gedanken: anderen gleich Schlimmes zuzufügen, wie mir angetan worden war.

Aber als mir in einem klaren Moment bewußt wurde, was ich Victor tatsächlich angetan hatte, gerade dem Menschen, den ich immer mehr als alle anderen geliebt und verehrt habe, traf mich das wie ein Schlag. Ich hatte ihn nicht vernichten wollen, ich hatte ihn nur in Deinen Augen ein wenig schlechtmachen wollen. Ja, Jennifer, auch Dich wollte ich unglücklich machen. Weil Dir Schönheit und Anmut gegeben waren und so vieles, was ich niemals haben würde. Auch Victor, ja. Denn da er mein Bruder ist, ist er mir verwehrt.

Aber als ich sah, was ich angerichtet hatte, daß ich erst ihn und dann John fortgetrieben hatte, daß Mutter meinetwegen den Rest ihres Lebens leidend sein würde, da konnte ich es nicht mehr ertragen. In meinen rachsüchtigen Momenten freute ich mich an dem Werk der Zerstörung, das ich vollbracht hatte. Aber in meinen klaren Momenten quälten mich Schuld und Reue. Und als Vater mir zur Strafe für das, was ich mit Scan getan hatte, das Haar abschnitt, da wußte ich, daß es keinen anderen Ausweg gab, als Euch alle von mir zu befreien, die Euch soviel Kummer und Schmerz bereitet hat.

Verzeih mir, liebste Jennifer, ich habe Dich immer wahrhaft gern gehabt, und es war nur eine dunkle Seite von mir, die eifersüchtig war auf Deine Schönheit und Victors Liebe zu Dir. Verzeih mir, daß Du mich so finden mußtest. Es ging nicht anders. Vater hätte es so gewollt. Gott verzeih mir. Harriet.«

«Du hast das alles gewußt, nicht wahr?«sagte Jennifer, die jetzt sehr nahe bei mir stand.

Victor sah noch lange auf den Brief. Mit einem kaum merklichen Nicken beantwortete er ihre Frage.

«Warum hast du dann nichts gesagt? Dir ist schreckliches Unrecht geschehen, Victor.«

Darauf antwortete er nicht. Er hob nur den Kopf, und ich sah sein Gesicht und die tiefe Traurigkeit in seinem Blick und hätte am liebsten geweint.

Noch einmal las er den Brief durch, dann hielt er ihn mir hin. Als Jennifer die Hand hob, um ihn entgegenzunehmen, hob auch ich den Arm. Und als Victor den Brief in meine Hand legte, war ich nicht erstaunt.

«Niemand sonst hat diesen Brief gelesen«, hörte ich Jennifer sehr nahe an meinem Ohr sagen. Obwohl ich mich nicht vom Fleck bewegt hatte, berührten wir uns beinahe.»Ich fand ihn bei Harriet, als ich sie im Kleiderschrank entdeckte. Ich habe ihn aufgehoben, weil ich hoffte, ihn dir eines Tages zeigen zu können. Es bestand kein Zweifel daran, daß Harriet freiwillig aus dem Leben gegangen war. Es war der Art ihrer Verletzungen zu entnehmen und der Tatsache, daß sie nicht von fremder Hand in den Schrank gebracht worden war, sondern sich diesen Platz selbst gewählt hatte. Das — das sagte jedenfalls die Polizei. Und Dr. Pendergast bestätigte es. Aber kein Mensch weiß von diesem Brief und seinem Inhalt.«

«Verbrenn ihn«, sagte er kurz.

«Aber warum? Er spricht dich frei, Victor«, entgegnete Jennifer, und ich fügte hinzu:»Durch ihn wird dein guter Ruf wiederhergestellt. Du kannst frei und stolz nach Warrington zurückkehren. Ich werde ihn nicht verbrennen, Victor.«

Er sah mich mit einer Intensität an, die keiner Worte bedurfte. Als er mir die Hand hinstreckte, übergab ich ihm wortlos den Brief und war nicht überrascht, als er ihn zusammenknüllte und ins Feuer warf. Ich sah, wie er in Flammen aufging und verbrannte.»Das alles weiß ich, aber meine Unschuld beweisen, hieße meine Schwester verdammen, und das kann ich nicht. Sie kam an jenem Tag zu mir in die Praxis und sagte mir, daß sie guter Hoffnung sei. Ich schlug ihr vor, das Kind auszutragen und zur Welt zu bringen. Ich dachte, du und John würdet es vielleicht nehmen und ihm einen Namen geben. Später merkte ich, daß das Instrument fehlte, und ich wußte instinktiv…«

«Du hast deine einzige Chance der Rehabilitierung verbrannt. «Victor schüttelte den Kopf.»Was kann Gutes davon kommen, wenn ich der Welt jetzt offenlege, was aus meiner Schwester geworden war? Was kann Gutes davon kommen, wenn ich meinen Vater diese letzten Worte lesen lasse, die ihm sagen, daß er an ihrem Tod Schuld trägt? Ich kann aushaken, was mir angetan wurde. Ich kann ins Ausland gehen und einen neuen Anfang machen. Mit der Zeit wird alles in Vergessenheit geraten. Zukünftige Townsends werden nichts davon wissen, was in diesem Haus vorging. «Eine Stimme, die merkwürdige Ähnlichkeit mit meiner eigenen hatte und doch mit Jennifers vermischt war, fragte:»Und wirst du nach England zurückkommen?«

«Das glaube ich nicht. Mein Leben hier ist beendet. Alle meine Hoffnungen sind zerstört, ich habe nichts von dem erreicht, was ich wollte. Es wäre sinnlos, einen neuen Versuch zu machen. Aber in Frankreich oder Deutschland…«

Seine Simme verklang. Ich sah den Konflikt in seinen Augen, die Bitterkeit und die Trauer. Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Und als er ebenfalls die Hand hob, und unsere Finger sich berührten, war es ganz natürlich. Jennifer war nicht mehr bei uns. Ich stand allein vor dem offenen Kamin. Der Saum meines langen Kleides berührte raschelnd meine Fesseln.

Ich spürte die Hitze der Flammen auf meinem bloßen Nacken unter dem hochgekämmten Haar. Über die Jahre hinweg, losgelöst von Zeit und Raum berührten sich unsere Finger.

«Niemand sonst hat den Brief gelesen, Victor, Liebster — «, wie gut es tat, seinen Namen auszusprechen!» niemand weiß von ihm, nur du und ich. Die Monate ohne dich waren eine Qual. Ich war in deiner Praxis und dann im Horse's Head, aber niemand konnte mir etwas über deinen Verbleib sagen. Nacht für Nacht habe ich wachgelegen und fürchtete, du wärst tot, stellte mir vor, du wärst allein und elend, suchtest Trost im Gin oder bei anderen Zerstreuungen. Aber jetzt — dich hier vor mir zu sehen! Es ist wie ein Traum!«

«Jenny«, murmelte er und umschloß meine Hand mit seinen Fingern.

Ja, ich bin Jenny, dachte ich. Ich bin Jennifer. Und ich liebe dich schon so lange, begehre dich so leidenschaftlich, daß ich glaubte, sterben zu müssen, wenn diese Gefühle unerfüllt blieben.»Eine Zeitlang dachte ich, ich würde den Verstand verlieren vor Angst und Besorgnis. Es ging alles so schnell. Die schlaflosen Nächte. Ich konnte nichts mehr essen.«

«Du bist zu dünn, Jenny. Und so blaß.«

«Ich hatte die merkwürdigsten Vorstellungen. Ich bildete mir ein, es spuke in diesem Haus, Victor. Ich habe eine junge Frau gesehen…«

«Ach, Jennifer«, sagte er und trat ganz nahe an mich heran. Seine tiefe Stimme erregte mich, als er sagte:»Ich sollte jetzt gehen, Jennifer.«

Ich hörte, wie ich — nein, wie wir beide zu ihm sagten:»Bitte bleib.«

Und wenn ich in diesem Zeitabschnitt gefangen und die Tür zur Zukunft mir für immer verschlossen sein sollte, wäre das so schlimm?

«Ich werde ewig dir gehören, Victor«, flüsterte ich. Als er mich in seine Arme nahm, und ich seinen Körper an meinem fühlte, durchschossen mich heiße Blitze. Im ersten Moment erstarrte ich, dann aber schmiegte ich mich an ihn, vertraute mich ihm an, als sei dies der Ort, an dem ich zu Hause war. Ja, bei ihm war ich zu Hause. Während Victor mich küßte und ich spürte, wie meine Beine nachzugeben drohten, so daß ich ihn ganz fest halten mußte, erkannte ich, daß dies der Ort war, an den ich immer gehört hatte.

Die strenge Zurückhaltung und Selbstbeherrschung langer Jahre fiel unter seinem leidenschaftlichen Kuß in Trümmer. Er hielt mich so fest, daß ich meinte, wir würden zu einem einzigen Wesen werden.

Alle meine erotischen Träume wurden wahr. Ich hatte die ganze Zeit gewußt, daß es so sein würde mit Victor, daß die Verschmelzung unserer Körper mir die Erfüllung bringen würde, die ich ein Leben lang gesucht hatte. Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, daß ich mich zum erstenmal einem Mann hingab, den ich wahrhaft liebte.

Und später, nach unserem Flug in die Ekstase und der Vereinigung unserer Seelen auf ewige Zeiten, wußte ich auch, wozu ich hier war. Es war alles so klar jetzt. Alles hatte zu diesem einen Moment hingeführt. Die Episoden der vergangenen Tage, das Erleben von Momenten aus der Vergangenheit, das Fragen und Forschen, alles hatte nur dazu gedient, mich auf diesen einen Moment vorzubereiten. Damit ich begreifen würde. Damit ich begreifen würde.

Ich hatte mich getäuscht. Meine Theorien waren weit von der Wahrheit entfernt gewesen. Ich war nicht hierhergeholt und in die Vergangenheit gezwungen worden, um eine imaginäre Tragödie abzuwenden. Ich war auserwählt worden, an diesem Ereignis teilzuhaben, nicht, es zu verhindern. Und der Grund war mir jetzt klar.

Während ich in Victors Armen lag und seinen warmen Atem an meinem Hals spürte, während ich sein Gesicht betrachtete, das ruhig und entspannt war, dachte ich an einen anderen Mann, der in einem Krankenhaus auf der anderen Seite der Stadt im Sterben lag und der die Wahrheit erfahren mußte.

Was auf unsere leidenschaftliche Umarmung folgte, ist mir nur in sehr unklarer Erinnerung. Es schien, als hätten wir die ganze Nacht beieinandergelegen, aber als ich erwachte, sah ich, daß es erst Mitternacht war. Und ich erinnere mich, daß ich wie in Trance die Treppe hinunterstieg und ins Wohnzimmer zurückkehrte, erfüllt einzig von der Euphorie unserer Liebe. Aufruhr und Unruhe, die mich während all dieser Tage im Haus meiner Großmutter umgetrieben hatten, waren verflogen, alle Fragen und Geheimnisse, die mich gequält hatten, waren gelöst. Ich befand mich stattdessen in einem wunderbaren Zustand, da ich wußte, daß ich diese eine Nacht mit dem einzigen Mann verbracht hatte, der mir wahrhaft etwas bedeutete.

Ich vermute, daß ich mich dann auf dem Sofa niedergelegt habe, denn ich scheine geschlafen zu haben, tief und fest wie jemand, dessen Geist von aller Unruhe befreit ist und dessen Körper gewaltige Höhen erklommen hat. Während dieser Stunden des Schlafs hatte ich meinen letzten bemerkenswerten Traum. Victor kam zu mir und blieb bei mir am Sofa stehen, nicht der Mann aus Fleisch und Blut, der er oben im Schlafzimmer für mich gewesen war, eher ein geisterhaftes Wesen, eine Erscheinung. Lächelnd sah er zu mir herunter, und in seinen Augen war Verwunderung. Ich erwiderte seinen Blick ohne Furcht und ohne Überraschung, nur voll Wärme und Dankbarkeit dafür, daß es mir vergönnt worden war, diesen Mann zu kennen. Und in meinem Traum sagte die Erscheinung Victors zu mir:»Wer bist du?«

Ich antwortete:»Deine Urenkelin. «Das schien ihn zu überraschen.»Wie kann das sein?«

Ich erwiderte:»Wie kann es sein, daß du jetzt mit mir sprichst. Träumeich?«

Aber er sagte nur:»Wie kannst du meine Urenkelin sein, wenn ich niemals geheiratet habe und auch keine Kinder hatte?«Ich lachte ein wenig und sagte dann:»Aus deiner einen Nacht mit Jennifer ist ein Sohn hervorgegangen. Sie taufte ihn Robert. Und als er erwachsen wurde, bekam er eine Tochter, meine Mutter. So kommt es, daß du mein Urgroßvater bist.«

Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, und während ich ihn noch anblickte, hatte ich den Eindruck, daß in seinen Augen etwas aufleuchtete, als hätte sich dort ein Funke der Hoffnung entzündet, der die Schleier von Bitterkeit und Enttäuschung durchdrang. Sein Gesicht schien mir ruhiger zu werden, entspannter und jünger. Er sah wieder so aus wie damals, ehe die Erfahrungen an den Krankenhäusern Londons ihn hatten altern lassen.»Ich hatte einen Sohn«, murmelte er.»Was ist aus dir geworden?«fragte ich ihn.

«Ich ging nach dieser Nacht nach Frankreich. Ich versprach Jennifer, daß ich zu ihr zurückkommen würde. Ich ging nach Frankreich, um ein neues Leben aufzubauen und mich Jennifers würdig zu erweisen, wenn ich sie bat, meine Frau zu werden.«

«Und was geschah?«

«Ich starb ein Jahr später auf einem Schiff bei der Überfahrt über den Kanal. Sie wußte nicht, daß ich auf der Rückreise war. Ich hatte ihr nicht geschrieben, weil ich sie überraschen wollte. Sie muß ihr Leben lang geglaubt haben, ich hätte sie vergessen.«

«Sie starb nicht lange nach dir, Victor. Wahrscheinlich vor Kummer. «

«Und ich erfuhr nie, daß sie ein Kind hatte.«

«Dein Kind«, sagte ich.

«Aber warum bist du hier? Warum sind wir beide hier? Dort, wo ich war, war es grau und häßlich…«

«Ich weiß es nicht. Vielleicht um die Dinge geradezurücken.«

«Wie hieß mein Sohn?«

«Robert.«

«Robert«, wiederholte er.»Aber er liegt jetzt im Sterben.«

«Wir müssen alle sterben«, sagte Victor.

«Sag mir was. Sag mir, wie das mit der Zeit ist. Wie ist es geschehen? Bist du irgendwo noch am Leben…«Aber mein Urgroßvater hörte mir nicht zu. Er drehte den Kopf und blickte über seine Schulter. Ich sah, wie helles Sonnenlicht sein Gesicht überflutete und ein strahlendes Lächeln es von innen erleuchtete.»Sie ist hier«, murmelte er.»Wir sind wohl alle hier.«

Aber er hörte mich nicht mehr. Victor Townsend wandte sich für immer von mir ab und verschwand in den Dunstschleiern, die das Sofa umgaben. Das letzte Wort, das ich von ihm hörte, war,»Jennifer… «

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