Kapitel 9

Ich stand am Fenster und blickte in einen grauen regnerischen Morgen hinaus, als sie ins Zimmer kam. Ich war seit Tagesanbruch auf. Ich hatte nur wenige Stunden geschlafen, und selbst da hatten mich merkwürdige, beunruhigende Träume heimgesucht. Sie erschrak wahrscheinlich, als sie mich da im dunklen, kalten Zimmer stehen sah.

«Andrea!«rief sie.»Ich habe nicht erwartet, daß du schon auf bist. «Sie knipste das Licht an.»Wieso ist es hier so kalt?«Ich hörte, wie sie durch das Zimmer humpelte. Laut schlug ihr Stock auf den Boden. Dann rief sie entsetzt:»Das Gas ist ja aus! Kind, hast du nicht gemerkt, daß das Gas ausgegangen ist?«

«Doch, Großmutter«, antwortete ich ruhig.»Ich habe es selbst ausgedreht.«

«Was? Aber was ist denn nur in dich gefahren? Es ist ja eiskalt hier drinnen. Warum hast du das Gas abgestellt?«Ich antwortete nicht, sondern blieb schweigend am Fenster stehen und sah hinauf auf die moosbedeckten Mauern und die dürren Rosenbüsche. Meine Großmutter humpelte zum Büffet, zog eine Schublade auf, nahm etwas heraus, kehrte zum Kamin zurück und zündete das Gas wieder an. Man konnte es leise zischen hören, aber es war nicht das Knistern und Prasseln des Holzfeuers, das einmal in diesem Kamin gebrannt hatte.

«Fühlst du dich nicht wohl, Kind? Stehst da in deinem dünnen Hemdchen wie versteinert. Komm, machen wir uns eine Tasse Tee.«

Schwerfällig bewegte sie sich durch das Zimmer, in dem zu viele Möbel standen, und humpelte in die Küche. Ich blieb am Fenster stehen. Der graue Morgen spiegelte meine Stimmung.»Der Nebel ist weg!«rief Großmutter aus der Küche.»Siehst du schon einen Sonnenstrahl?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Ja?«Sie erschien an der Tür.»Kommt die Sonne raus, Kind?«

«Nein, Großmutter. Der Himmel ist voller Wolken.«

«Natürlich. Hätte ich mir ja denken können. Bestimmt ist der Sturm schon im Anzug. Wir haben immer eine Menge Regen um diese Jahreszeit, weißt du…«Sie klapperte mit Töpfen und Tellern, während sie weiter schwatzte.»Aber dieses Jahr hatten wir einen herrlichen Sommer. Es war richtig heiß. Wir hatten eine Hitzewelle. Zwei Wochen lang jeden

Tag um die zweiundzwanzig Grad. Aber jetzt bezahlen wir dafür. Bestimmt bekommen wir zu Weihnachten schon Schnee. Meistens kommt er erst später. Aber dieses Jahr, ich fühl's in meinen alten Knochen…«Ich hörte ihr nicht mehr zu. Eine zynische Stimme in meinem Kopf flüsterte, wenn wir das Wetter nicht hätten, kämen neunzig Prozent aller Gespräche nie in Gang.

Nach einer Weile gab ich meinen Platz am Fenster auf und ging ziellos im Zimmer umher. Vielleicht hatte ich Weltschmerz, ich konnte es nicht sagen, da ich mich nie zuvor so gefühlt hatte wie an diesem Tag. Es war ein eigenartiger Zustand, eine Mischung aus Traurigkeit, Ängstlichkeit und Rastlosigkeit. Und daneben empfand ich eine schreckliche Leere.

Vor dem Kaminsims blieb ich stehen und starrte die Uhr an. Das war es. Es war ein Mangel, unter dem ich litt. Es war, als wären alle Emotionen und Gefühle aus mir herausgesogen worden und hätten nichts als graue Trostlosigkeit hinterlassen. Ach, wäre ich nur deprimiert gewesen! Das wäre wenigstens ein Gefühl gewesen. Ich aber war nur leer. Wohin waren meine Gefühle verschwunden?» Andrea!«schrie meine Großmutter schrill und packte mich am Arm. Ihre Finger gruben sich in mein Fleisch, und im nächsten Moment flog ich nach rückwärts und schlug krachend gegen das Büffet. Verwirrt starrte ich meine Großmutter an.»Andrea, du hättest dich beinahe in Brand gesteckt«, rief sie keuchend.

Ich sah verblüfft an meinen Jeans hinunter. Die Hosenbeine waren angesengt. Großmutter humpelte zu mir, bückte sich mühsam und zog ein Hosenbein hoch. Die Haut meines Beins war brandrot.

«Du hast dich verbrannt«, stieß sie atemlos hervor.»Wenn ich nicht zufällig gekommen wäre, wäre deine Hose in Flammen aufgegangen. Andrea, was ist denn nur los mit dir?«Sie legte mir die zitternde Hand auf die Wange.»Hast du wieder Kopfschmerzen?«

«Großmutter…«Ich wandte mich ab. Jetzt spürte ich den brennenden Schmerz an meinen Beinen, und es erschreckte mich.»Es ist meine Schuld. Ich habe das Gas zu hoch aufgedreht, und du hast es nicht gewußt. Die ganze Zeit stand es auf klein, und ich hab dir nicht gesagt, daß ich es aufgedreht hatte. Ach Gott…«Ich sah ihr ins Gesicht und beim Anblick ihrer vom Alter verwüsteten Züge hätte ich am liebsten geweint.

Warum konnten wir nicht so bleiben, wie wir in der Jugend waren, so wie John und Victor und Harriet und Jennifer, die immer noch jung und schön waren? Warum mußten wir diese Unwürdigkeit des Alterns erleiden?

«Armes Kind«, tröstete meine Großmutter und wischte mir die Tränen ab.»Es geht dir gar nicht gut. Komm, reiben wir die Beine mit Butter ein..«

Sie wollte mich zum Heizofen ziehen, aber ich ging nicht mit ihr.

«Keine Angst, Kind. Ich hab ihn schon runtergedreht.«

«Nein — mir ist warm genug. Ich setz mich hier aufs Sofa. «Ich setzte mich in die äußerste Ecke, so weit wie möglich vom Gas entfernt, und sah geistesabwesend zu, wie meine Großmutter meine verbrannten Beine mit ihrem alten Hausmittel behandelte. Mir war nach Weinen zumute. Nach jenem törichten Moment, als ich versucht hatte, Victor zu berühren, mit ihm zu sprechen, hatte ich die ganze Nacht auf ihre Rückkehr gewartet. Aber sie waren nicht gekommen.

«Bist du sicher, daß es dir nicht zuviel wird?«fragte Elsie und musterte mein Gesicht mit Besorgnis.»Mama hat schon recht, du siehst gar nicht gut aus. Du bist sehr blaß, Andrea.«

«Ach, es geht schon. «Meine Beine schmerzten mörderisch. Die Hitze im Zimmer setzte mir zu. Der Schlafmangel der vergangenen Nacht begann sich bemerkbar zu machen. Was hätte ich Elsie da anderes sagen sollen, als» ach, es geht schon«

«Du kannst morgen ins Krankenhaus fahren. Heute nicht«, entschied Großmutter.

Ich ließ mir das einen Moment durch den Kopf gehen. Das heißt, ich dachte nicht eigentlich darüber nach, ich versuchte vielmehr zu erspüren, was das Haus von mir wollte.

Doch da es mir nichts mitteilte, beschloß ich, den Versuch zu machen. Wenn es mich am Besuch im Krankenhaus hindern wollte, würde es das tun.»Ich möchte aber gern heute hinfahren, Großmutter. Großvater wird denken, ich wäre wieder abgereist, ohne mich von ihm zu verabschieden.«

«Laß sie doch, Mama«, sagte Elsie.»Eine kurze Autofahrt und dann eine Stunde im Krankenhaus. Das kann ihr nicht schaden. Aber hetz dich heute nicht so ab, bevor wir gehen, Andrea. «Brav ließ ich mich wieder einpacken wie zu einer Reise an den Nordpol, dann gingen wir los. An der Haustür zögerte ich flüchtig. Dann setzte ich den Fuß über die Schwelle und wußte, daß ich heute meinen Großvater sehen würde.

Ich war nicht zum Reden aufgelegt, aber Elsie redete dafür um so mehr, während sie mir auf der Fahrt sämtliche Sehenswürdigkeiten Warringtons zeigte: Das Stahlwerk und das Rathaus, das neue Mark's and Spencer's und den alten Woolworth, wo» deine Mutter und ich während des Krieges gearbeitet haben«. Ich nickte höflich lächelnd, obwohl mir ihr unablässiges Geschwätz auf die Nerven ging. Für meine lebenden Verwandten konnte ich nicht viel mehr aufbringen, als bemühte Toleranz; ich wollte mit den toten Zusammensein.

Mein Großvater lag wieder regungslos im Bett und war nicht ansprechbar. Das hielt Elsie und Edouard nicht davon ab, die gewohnten einseitigen Gespräche mit ihm zu führen. Ich begnügte mich damit, an seinem Bett zu sitzen und die magere alte Hand zu halten. Es brachte mir sonderbarerweise einen gewissen Frieden.

Zu Hause empfing uns Großmutter mit einem liebevoll zubereiteten Mittagessen, aber ich hatte kaum Appetit. Während ich der Form halber ein paar Bissen zu mir nahm, informierte Elsie ihre Mutter über die letzten Neuigkeiten von Warrington: wer heiraten wollte, wer schwanger war, wer in Scheidung lag. Warrington war wie jede andere Kleinstadt Geheimnisse gab es nicht. Aber ich, dachte ich mit einem heimlichen Lächeln, ich habe ein Geheimnis.

Während ich meine redselige Tante beobachtete, erwog ich flüchtig, ihr von meinen Erlebnissen in diesem Haus zu erzählen. Aber ich schlug mir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf, da ich erkannte, daß das zu nichts führen würde. Elsie würde meine Erzählungen abtun und auf ihre robuste, pragmatische Art darauf bestehen, daß ich mir das alles nur eingebildet hatte. Außerdem hatte ich immer noch Angst, daß es die fragile Verbindung zur Vergangenheit zerstören würde, wenn ich einem anderen Menschen von meinen Erfahrungen berichtete.

«Ich hab übrigens gute Nachrichten«, sagte Elsie plötzlich.»Ich hab ganz vergessen, es dir zu sagen, Mama. Ann hat heute morgen aus Amsterdam angerufen. Sie kommt am Sonntag auch nach Morecambe Bay zu Albert.«

«Ach, wie schön!«Großmutter strahlte mich an.»Für dich wird es bestimmt nett, deine jüngeren Verwandten kennenzulernen, Andrea. «

«Ja, ich glaube, es wird dir guttun, zur Abwechslung mal mit Leuten in deinem Alter zusammenzusein«, pflichtete Elsie ihr bei. Ich senkte hastig die Lider. Wie alt war Victor gestern abend gewesen? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig? Und John ein wenig jünger.

«Es wird dir gefallen bei Albert. Er hat ein sehr hübsches Häuschen, und das Kleine…«

Während sie erzählte, dachte ich, es wäre sicher nett hinzufahren, aber was, wenn das Haus mich nicht ließ? Elsie und William brachen bald nach dem Essen wieder auf. Großmutter brachte sie hinaus. Ich blieb am Tisch sitzen. Beide Schienbeine taten mir so höllisch weh, als hätte ich mir den schlimmsten Sonnenbrand geholt. Ich hörte die drei draußen miteinander sprechen, dann wurde die Tür zugeschlagen, Großmutter sperrte ab und kam wieder ins Zimmer.»Du denkst wohl an deinen Großvater, hm?«fragte sie, als sie mich noch immer am Tisch sitzen und zum Fenster hinausstarren sah.

Ich drehte ein wenig den Kopf.»Ja«, sagte ich, aber in Wirklichkeit hatte ich an >die anderen< gedacht.

Der endlose Nachmittag ging in einen endlosen Abend über. Meine Beine brannten jetzt so unerträglich, daß sie keinerlei Berührung vertragen konnten. Ich hatte die Hosenbeine meiner Jeans bis zu den Knien hinaufgerollt und mich soweit wie möglich vom Feuer weggesetzt. Großmutter strickte zufrieden vor sich hin.

Als ich Harriet in meinem Sessel sitzen sah, weit vorgebeugt und eifrig mit irgend etwas beschäftigt, das auf ihrem Schoß lag, warf ich einen Blick zu meiner Großmutter und stellte fest, daß sie eingeschlafen war. Friedlich schlummerte sie in ihrem Sessel. Vor ihr brannte ein helles Feuer, an den Wänden mit der bunten Tapete brannten die Gaslampen, auf zierlichen Tischchen stand Nippes, und sie war ihrer Umgebung überhaupt nicht gewahr. Aber wenn sie nun plötzlich erwachte, würde das alles dann verschwinden?

Ich neigte mich vor, um sehen zu können, was Harriet tat. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß liegen, mehrere Bögen Papier und einen Briefumschlag. In der Hand hielt sie eine Feder. Offenbar war sie dabei, einen Brief zu schreiben.

Ich beugte mich noch weiter vor, um genauer sehen zu können, aber aufzustehen wagte ich nicht. Ja, sie schrieb einen Brief. An Victor vielleicht? dachte ich, aber dann fiel mir der Brief ein, den sie an dem Abend, als Mr. Cameron die Familienaufnahme gemacht hatte, heimlich in ihrer Rocktasche hatte verschwinden lassen. Hatte Harriet vielleicht einen heimlichen Freund, mit dem sie korrespondierte?

Ihr Verhalten gab mir die Antwort. Immer wieder sah sie auf die Uhr, viel zu oft blickte sie argwöhnisch über die Schulter, und sie schrieb mit einer Hast, die verriet, daß sie etwas Verbotenes tat und fürchtete, dabei ertappt zu werden. Ein heimlicher Liebhaber vielleicht, dachte ich…

Köstliche Düfte wehten mir plötzlich in die Nase. Würziger Bratengeruch einer Ente, die am Spieß bruzzelte; das milchige Aroma von Reisbrei, der auf dem Ofen köchelte; Gerüche nach Fleischsoße, buttrigem Gemüse und frischem Brot. Ich blickte zur Küchentür hinüber. Großmutter und ich hatten nichts auf dem Herd stehen, wir waren längst fertig mit dem Essen. Es mußte also das Abendessen der Familie Townsend sein, das das Haus mit diesen appetitlichen Düften erfüllte. Es mußte Mrs. Townsend sein, die da nebenan in der Küche stand und das Abendessen bereitete. Und ich konnte die Gerüche wahrnehmen!

Auch das ein Geheimnis. Wie war es möglich? Aber ebenso gut konnte ich fragen, wie war es möglich, daß ich sie sehen und hören konnte. Alle meine Sinne bis auf einen waren miteinbezogen in diese Begegnungen mit der Vergangenheit, und ich fragte mich, ob irgendwann der Moment kommen würde, da ich auch berühren und fühlen konnte…

Aber jetzt wollte ich es nicht versuchen. Ich wollte Harriet nicht durch eine unbedachte Handlung vertreiben. Nein, ich würde ganz still auf meinem Platz sitzen bleiben, während sie ihren Brief schrieb.

Ein neuer Gedanke kam mir. Mit Victor hatte ich in der vergangenen Nacht gesprochen. Ich hatte ihn zweimal angesprochen, und beim ersten Mal — beim ersten Mal war er nicht verschwunden. Er hatte einfach mit Jennifer weitergesprochen. Erst beim zweiten Mal, als ich aufgesprungen war und ihn berühren wollte, erst da hatte sich die Szene aufgelöst.

Sollte es dann vielleicht möglich sein, mit ihnen Verbindung aufzunehmen? War es vielleicht einfach so, daß er mich nicht gehört hatte, weil er so stark auf Jennifer konzentriert gewesen war, als er sprach? Ich konnte es noch einmal versuchen. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren. Ich würde nur sprechen. Ich würde ganz ruhig, beiläufig, unaufdringlich etwas zu Harriet sagen.

Sie schrieb sehr eifrig. In der Stille des Zimmers waren nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Der Uhr von gestern. Vielleicht, vielleicht würde sie mich hören, wenn ich sie ansprach. Ich wünschte mir, daß sie mich hören würde.

Ich war ein wenig enttäuscht, daß Victor nicht hier war, obwohl ich seine Anwesenheit gar nicht erwarten konnte, da er ja gesagt hatte, er werde nach Schottland gehen und niemals in dieses Haus zurückkehren. Hieß das, daß ich ihn nie wiedersehen würde? Ich bezweifelte es. Schon bald würde das Schicksal ihn wieder in dieses Haus zurückführen. Ich wußte, daß er zurückkommen würde, ich wußte nur nicht, wann.

Sollte ich sie jetzt ansprechen? Sollte ich es wagen? Ich leckte mir die Lippen. Mein Mund war trocken. So sanft wie möglich sagte ich:»Harriet. «Sie sah nicht auf. Ich versuchte es ein wenig lauter.»Harriet. «Noch immer keine Reaktion.»Harriet, kannst du mich hören?«

Als sie endlich den Kopf hob, stockte mir der Atem, aber dann erkannte ich, daß es nur eine Bewegung der Nachdenklichkeit war. Sie überlegte sich bloß die nächsten Worte für ihren Brief.

Meine Bemühungen waren vergeblich gewesen. Harriet würde mich niemals hören können. Verrückt, sich so etwas einzubilden.

Dennoch versuchte ich es ein letztes Mal.»Harriet, bitte hör doch!«

Rein zufällig blickte ich zu meiner Großmutter hinüber. Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

Ich stieß einen Schrei aus und griff mir an den Hals.»Großmutter! Hast du mich erschreckt!«

«Mit wem hast du geredet?«fragte sie und sah mich dabei ganz merkwürdig an.

Mein Blick schweifte zum anderen Sessel. Er war leer. Die Gasheizung stand wieder im Kamin.»Mit niemand, Großmutter. Ich dachte, du schläfst.«

«Ich habe dich mit jemandem reden hören. Ich hab's gesehen. Du hast Harriet gesagt.«

«Nein, Großmutter, ich hab nur…«Ich wußte nicht weiter und breitete hilflos die Hände aus.»Wahrscheinlich hab ich einfach laut gedacht.«

Großmutter drehte den Kopf und betrachtete lange den leeren Sessel vor dem Kamin. Ihr Gesicht war eine Maske der Unergründlichkeit, still und ausdruckslos. Lange blickte sie den Sessel an, dann sagte sie langsam und betont:»Hast du hier im Haus irgendwas gesehen, Andrea?«

Ihre Worte erschreckten mich. Unsere Blicke trafen sich und hielten einander fest, und ich fragte mich, was weiß sie? Schließlich wandte ich mich ab und sagte:»Ich habe nur laut gedacht, Großmutter. Meine beste Freundin in Los Angeles heißt Harriet. Immer wenn ich Probleme habe, spreche ich mit ihr. «Ich lachte nervös.»Lieber Gott, Großmutter, ist es dir noch nie passiert, daß du Selbstgespräche geführt hast?«Die Härte in ihrem Gesicht wich Besorgnis.»Armes Kind, dir geht's gar nicht gut hier, nicht? Die Umstellung von Amerika nach hier ist wahrscheinlich viel zu schnell gegangen. Ich hab mal im Manchester Guardian einen Bericht über etwas gelesen, das die Wissenschaftler Biorhythmus nennen. Das ist es, was dir zu schaffen macht. Du bist ganz aus dem Rhythmus. Und es ist dir bestimmt auf den Magen geschlagen, hm?«

«Ich — «

«Aber keine Angst, dafür hab ich genau das Richtige. Du wirst sehen, wie es wirkt.«

Sie stemmte sich ächzend aus dem Sessel und humpelte auf ihren Stock gestützt zum Büffet — diese unerschöpfliche Schatzgrube —, griff hinein und brachte eine unbeschriftete Flasche mit einer weißen Flüssigkeit zum Vorschein.

«Bei mir hilft das jedes Mal«, erklärte sie, während sie in die Küche hinüberging. Als sie zurückkam, hielt sie einen großen Löffel in der Hand, in den sie einen guten Schuß der dicklichen weißen Flüssigkeit goß.

«Hier, Kind. «Sie stieß mir den Löffel förmlich unter die Nase.»Was ist das denn?«

«Medizin. Der Arzt hat sie mir verschrieben. Ich hatte fürchterliche Verstopfung. Aber das Zeug hat gewirkt wie der Teufel. Und seitdem hab ich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr.«

«Aber, Großmutter, ich hab ja gar keine — «

«Komm schon, Kind, nimm die Medizin. «Lächelnd stieß sie mir wieder den Löffel unter die Nase. Der Geruch war widerlich. Ich schloß die Augen, öffnete den Mund wie ein folgsames Kind und schluckte die ganze Ladung in einem. Beinahe hätte ich alles wieder erbrochen.

«Oh, Großmutter — «Ich drückte die Hand auf den Mund.»Das schmeckt ja scheußlich.«

«Aber es wirkt, paß nur auf.«

Ich schnitt eine Grimasse. Der Nachgeschmack war abscheulich, kalkig und bitter mit einer Spur von irgend etwas Undefinierbarem.

«Ich finde, du gehörst mit deinen Brandwunden an den Beinen und deiner Verstopfung eher ins Krankenhaus als dein Großvater«, bemerkte Großmutter, während sie die Medizinflasche zuschraubte und wieder ins Büffet stellte.»So«, sagte sie, unverkennbar zufrieden mit dem Erreichten,»jetzt gehen wir am besten zu Bett, sonst nicken wir wieder hier in unseren Sesseln ein. Möchtest du heute oben schlafen, Kind, für den Fall, daß du nachts schnell raus mußt? Ich kann dir zwei Wärmflaschen ins Bett legen.«

Aber ich wollte nicht nach oben. Die Szene mit dem alten Kleiderschrank war mir noch in allzu lebhafter Erinnerung.»Ich schlafe lieber hier, Großmutter. Bis zum Bad hinauf schaffe ich es schon, wenn ich wirklich raus muß.«

«Na schön, Kind, wie du willst. Dann gute Nacht. «Sie küßte mich auf beide Wangen und drückte mich überraschend kräftig an sich. Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich. Als ich sie die Treppe hinaufhumpeln hörte, stand ich auf und stellte das Gas ab.

Ich war überrascht, als ich erwachte. Überrascht und ein wenig beunruhigt. Ich konnte mich nicht erinnern, mich entkleidet und mein Nachthemd angezogen zu haben, und ich konnte mich nicht erinnern, unter die Decken auf dem Sofa geschlüpft zu sein. Als ich plötzlich aus dem Schlaf fuhr und mit weit offenen Augen in die Dunkelheit starrte, wußte ich im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich warf die Decken ab, die schmerzhaft auf meine Beine drückten, und setzte mich auf. Wie aus weiter Ferne hörte ich die Klänge von >Für Elise<, und da wußte ich, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte.

Es war stockfinster im Zimmer. Ich stand auf und tastete mich von Möbelstück zu Möbelstück zum Fenster vor, um die Vorhänge aufzuziehen. Aber die Nacht draußen war so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht drinnen. Kein Mond, kein Stern war am wolkenverhangenen Himmel zu sehen. Vorsichtig tappte ich durch das Zimmer zurück zur Tür. Ich wollte wissen, wer da Klavier spielte. Ich fand den Lichtschalter und knipste ihn an. Ich fuhr schreckhaft zusammen, als ich Harriet und Jennifer am

Kamin stehen sah. Aber gleich wurde ich ruhig und wurde mir mit Verwunderung bewußt, daß diese ungebetenen Besuche aus der Vergangenheit mir keine Angst mehr machten. Nicht allzuviel Zeit schien in ihrer Epoche vergangen zu sein. Die beiden hatten sich kaum verändert. Ich schätzte sie auf ungefähr siebzehn Jahre, zwei offenkundig modebewußte junge Frauen. Sie trugen beide zu ihren schmalen langen Röcken hochgeschlossene weiße Blusen und kurze Jäckchen, deren Ärmel an den Schultern gekraust waren. Beide blickten sie gespannt zur Tür, an der ich immer noch stand.

Das Klavierspiel, fiel mir plötzlich auf, hatte aufgehört. Die beiden jungen Mädchen wirkten unruhig, über irgend etwas besorgt. Harriet sah immer wieder auf ihre Armbanduhr, während sie sich wiederholt aufgeregt die farblosen Lippen leckte. Sie war sehr zierlich, doch ihr Gesicht hatte mit dem Erwachsenwerden nicht an Reiz gewonnen. Die Augenbrauen waren ein wenig zu buschig, die untere Gesichtshälfte eine Spur zu breit, die Nase unverhältnismäßig klein. Und auch sie hatte die Townsend-Furche, die ihrem Gesicht weniger einen Zug der Eigenwilligkeit als der Schärfe verlieh. Neben Jennifer, deren Schönheit sich wie die einer Rose von Tag zu Tag mehr zu entfalten schien, wirkte Harriet Townsend wie eine graue Maus. Fast konnte sie einem leidtun. Ich konnte den Blick nicht von Jennifer wenden. Wie an jenem ersten Abend, als Großmutter mir ihr Foto gezeigt hatte, war ich fasziniert von diesem jungen Mädchen und betrachtete sie unverwandt mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Ich konnte sie nicht als geisterhafte Erscheinung aus der Vergangenheit begreifen, denn meine Sinne sagten mir, daß ich hier einem lebendigen Menschen gegenüberstand, einer Frau von ungemein intensiver Ausstrahlung. Ihre braunen Augen zeigten Erregung; ruhelos wie ein Schmetterling flog ihr Blick durch das Zimmer. Und ihre Hände waren keine Sekunde still.

Endlich, nach qualvoller Wartezeit, wandte sich Harriet ihrer Freundin zu und flüsterte:»Ich höre sie kommen.«

Die furchtsame Erregung der beiden jungen Frauen teilte sich mir mit. Mit klopfendem Herzen trat ich von der Tür weg und drückte mich an die Wand, als die beiden Männer eintraten. Draußen schien es zu regnen. John war naß und klopfte sich die Regentropfen von den Hosenbeinen, nachdem er eingetreten war. Er lief zum Feuer, hielt die Hände darüber und machte mit halblauter Stimme eine Bemerkung, die ich nicht verstand. Meine Aufmerksamkeit galt aber auch weniger John als seinem Begleiter, Victor, der so nahe bei mir stand, daß ich die Feuchtigkeit seiner Kleider riechen und die Nässe seines Haars sehen konnte. Ich sah auf den ersten Blick, daß er völlig verändert war. Er schien um Jahre gealtert. Mit seinen fünf- oder sechsundzwanzig Jahren sah er aus wie ein Mann, der zuviel vom Leben gesehen hat, um noch für jugendliche Unbekümmertheit Raum zu haben. Fast alle Weichheit war aus seinen Zügen gewichen. Das glattrasierte Gesicht war kantig und angespannt, als berge es in sich ein grausames Geheimnis. Die Augen lagen tiefer in den Höhlen als früher, so als wollte er lieber nach innen sehen als nach außen, und sie schienen mir wie umschattet von der Erinnerung an das Elend und das Gift eines Londoner Krankenhauses. Das lockige schwarze Haar war länger, reichte ihm fast bis auf die Schultern, notdürftig gebürstet nur, als interessiere ihn äußere Wirkung nicht mehr. Er wirkte sehr streng und distanziert, wie er da stand, so reglos, daß er kaum zu atmen schien. Und ich fragte mich, was diese tiefgreifende Veränderung bewirkt hatte.

Er und Jennifer sahen einander an, und ich gewahrt in ihrem Blick die Bestürzung über seine Verwandlung.

Was hatte Victor in den Londoner Krankenhäusern gesehen? Wie oft hatte ihn der eisige Hauch des Todes gestreift, hatte er schrecklichen Verlust erlebt, die bittere Enttäuschung ertragen müssen, daß er, dessen Aufgabe es war, Leben zu retten, am Ende nur ohnmächtig geschehen lassen mußte? Victors Gesicht war gezeichnet. Sein Wissen und seine Reife, so ungewöhnlich für einen so jungen Menschen, zeigten sich im ernsten Schwung seiner Lippen, die das

Lächeln verlernt zu haben schienen. Sein Gesicht hatte etwas Schwermütiges, unter dem sich Bitterkeit verbarg. Victor Townsend hatte einen Patienten zuviel verloren.

Harriet, die auf ihren Bruder hatte zugehen wollen, war stehengeblieben, als sie den Blick bemerkte, der zwischen ihm und Jennifer getauscht wurde. Ihre Arme waren halb ausgestreckt, ihr Mund geöffnet. Sie stand wie zur Salzsäule erstarrt. Als hätte sie eben einen Blick auf das Haupt der Gorgone geworfen. Während John sich am Feuer die kalten Hände rieb und sich die Nässe von den Stiefeln stampfte, ohne der Szene hinter ihm gewahr zu sein, hielt Victor noch immer Jennifers Blick fest. Im Feuerschein wirkte sein Gesicht wie gemeißelt, wie eine Studie in Chiaroscuro.

In diesen Sekunden, während ich ihn so intensiv betrachtete und die Mauer zu durchdringen suchte, die er um sich hochgezogen hatte, spürte ich, wie etwas in mir sich zu regen begann…»Mr. Townsend«, sagte Jennifer endlich leise.»Willkommen zu Hause. «Sie blieb am Kamin stehen, als hätte sie Angst, sich zu bewegen.

«Danke«, antwortete er. Seine Stimme war tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte.

Auch er rührte sich nicht von der Stelle, als fürchtete er, durch eine Bewegung das Traumhafte dieses Augenblicks zu zerstören. Er verzehrte Jennifer mit seinen Blicken, einem

Menschen gleich, der völlig ausgehungert ist oder lange keine Wärme gekannt hat oder sich danach sehnt, ein Zuhause zu finden, ohne den Weg dorthin zu wissen.

Jetzt erst wurde John auf die Stille im Zimmer aufmerksam und drehte sich herum.»Was denn?«rief er.»Keine Fanfaren? Warum so ernst? Das ist doch ein freudiger Anlaß. Der verlorene Sohn ist heimgekehrt.«

Ich hörte Bitterkeit unter der gezwungenen Fröhlichkeit und hätte gern gewußt, ob auch die anderen sie wahrnahmen.»Ach, Victor!«rief Harriet jetzt, lief zu ihm hin und warf ihm die Arme um den Hals.»Du bist wieder da! Du bist nach Hause gekommen. Ich fürchtete schon, es wäre nur ein Traum. «Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als wäre er aus tiefem Schlaf erwacht.»Ja, Harriet, ich bin wieder da.«

«Und bleibst du? Bitte, sag, daß du bleibst. «Harriet drückte ihren Kopf an seine Brust, und Victor sah über sie hinweg zu Jennifer, als er sagte:»Ja, ich bleibe.«

«Ach, wie schön!«rief Harriet.»Als Vater es mir sagte, habe ich ihm nicht geglaubt. «Sie trat einen Schritt zurück und wischte sich die Tränen von den Wangen.»Er zeigte mir deinen Brief, in dem du schriebst, du hättest den Posten in Edinburgh aufgegeben, um hierher zurückzukommen, und trotzdem glaubte ich es nicht. Ich habe so darum gebetet, daß du wieder heimkommen würdest, und nun sind meine Gebete erhört worden.«

Sie drehte sich herum.»John, wo ist der Sherry, den du versprochen hast?«

«Ach ja!«Er schnalzte mit den Fingern.»Im Salon.«

«Und Gläser. Ich hole die Gläser. Heute abend feiern wir. «Schon eilte Harriet, von Lavendeldüften umhüllt, zur Tür hinaus, und John folgte ihr. Eine kleine Weile waren Victor und Jennifer allein.

Immer noch sahen sie einander stumm an, als genüge jedem fürs erste der Anblick des anderen, um die Sehnsucht zu stillen. Dann sagte Jennifer zaghaft:»Ich war so überrascht, Mr. Townsend, als Harriet mir die Neuigkeit erzählte. Es kam so plötzlich und unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich denken sollte. «Victor lächelte ein wenig unbehaglich.»Und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Denn nachdem ich Ihnen das erstemal begegnet war, kamen mir an meinem Entschluß, nach Schottland zu gehen, die ersten Zweifel.«

Sie griff sich ans Herz.»Wieso? Was habe ich — «

«Seit dem Abend unserer ersten Begegnung vor fünf Monaten spüre ich eine Unruhe in mir, die sich nicht zurückdrängen läßt, und ich weiß jetzt, daß ich in Schottland unglücklich geworden wäre. Jennifer, wenn Sie wüßten, wie groß meine Angst war, daß Sie nicht mehr hier sein könnten, wenn ich zurückkomme. Dann wäre alles umsonst gewesen.«

Jennifer wurde sehr bleich, Qual und Erschrecken spiegelten sich in ihrem Gesicht. Doch ehe sie etwas sagen konnte, erschienen lohn und Harriet wieder im Zimmer. Sie hatten ein Tablett mit Gläsern und eine Flasche Sherry mitgebracht, und nachdem John eingeschenkt und die Gläser herumgereicht hatte, brachte er einen Toast aus.

Auf unseren Bruder, Dr. Victor Townsend, auf sein Glück und einen Erfolg hier bei uns.«

Alle vier leerten ihre Gläser und John schenkte neu ein. Die Augen leicht zusammengekniffen gegen den Feuerschein und den Blick. i u f ihr Glas gerichtet, fragte Jennifer:»Wo werden Sie Ihre Praxis eröffnen, Mr. Townsend?«

Victor trat von der Tür weg und ging durch das Zimmer, um sich /u den drei anderen zu gesellen.»Warum nennen Sie mich immer i loch beim Nachnamen, Jennifer? Wir sind doch Freunde. Da können wir uns ruhig bei den Vornamen nennen.«

Wie recht du hast, Victor«, stimmte John zu und hob wiederum sein Glas zum Toast.»Schließlich gehört Jennifer ja jetzt zur Familie, da sie deine Schwägerin ist.«

Zum erstenmal seit seinem Eintreten sah Victor seinen Bruder an.»Pardon?«

«Aber du mußt doch meinen Brief bekommen haben! Soll das heißen, daß du es nicht weißt?«John legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter.»Und ich habe mich schon gewundert, warum du mir am Bahnhof nicht gratuliert hast. Jennifer und ich haben vor zwei Monaten geheiratet.«

Es war, als steckte ich in Victors Haut. Die Nachricht traf mich mit ungeheurer Wucht, das Zimmer schien zu schwanken, die Stimmen der anderen hörte ich wie aus weiter Ferne. Ich sah das Blitzen der Gläser im roten Licht des Feuers und glaubte wie er, unter dem grausamen Schlag zusammenbrechen zu müssen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch so tiefen Schmerz und so bittere Enttäuschung empfinden konnte. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in den Sälen der Krankenhäuser, an Blut und Krankheit, an sinnloses Leiden, an die unterernährten Kinder und die notleidenden Mütter, an die, welche sich in die Krankenhäuser schleppten und auf ihren Stufen starben, weil sie nicht wußten, wohin, und weil die Ärzte drinnen sie nicht heilen konnten. Ich dachte an die einsamen Abende in dem schäbigen kleinen Zimmer, in dem ich bis spät in die Nacht hinein aufgesessen und an Jennifer gedacht hatte. Wie ist es möglich, fragte ich mich, eine Frau mit solcher Leidenschaft zu lieben, ohne sie überhaupt zu kennen. Ich dachte an die inneren Kämpfe, das qualvolle Ringen um die Entscheidung zwischen der wissenschaftlichen Karriere mit ihrer Verlockung beruflichen Erfolgs und dem brennenden Verlangen, Jennifer Adams wiederzusehen und sie zu lieben…

Ein eisiger Hauch wehte durch meine Seele, in der nun nichts war als Finsternis und Schmerz, Bitterkeit und Niedergeschlagenheit.»Ach, Victor«, hörten wir Harriets hohe, erschreckte Stimme,»du hast den Brief nicht bekommen? Wir haben ihn vor zwei Monaten abgesandt. Hast du wirklich keine Ahnung gehabt?«Wir sahen Harriet an und versuchten, uns zu erinnern, wie man sich in einer solchen Situation verhält, was sich schickt, und Victor schaffte es zu sagen:»Nein, ich habe keinen Brief bekommen… Ich hatte keine Ahnung.«

Er brachte es fertig, den Blick zu heben und Jennifer anzusehen. Er brachte es fertig, ruhig und gefaßt zu sagen:»Verzeiht mir also bitte, daß meine Glückwünsche so spät kommen. «Ein trostloses Bild stieg vor uns auf und ließ sich nicht vertreiben: das Bild eines Mannes, der sich lächerlich gemacht hat, indem er der Frau, die soeben seinen Bruder geheiratet hat, seine Liebe erklärte. Und im Hintergrund, fern und grau, die Mauern des Königlichen Krankenhauses von Edinburgh, dessen Tore nun für immer verschlossen bleiben würden…

«Ich habe den Brief nie erhalten«, wiederholte er mit mühsam beherrschter Stimme.»Die Postverteilung hat am College nie besonders gut geklappt. Aber verzeiht, ich habe nicht mit euch auf euer Glück getrunken.«

Victor hob sein Glas, neigte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas mit einem Zug. Dann sah er wieder Jennifer an. Noch härter wirkte jetzt sein Gesicht, als hätte er eine neue Mauer hochgezogen, um seine Gefühle in Schach halten zu können. Er tat mir in der Seele leid. Victor stand in der Mitte des Zimmers, größer als die drei anderen, und doch schien er an Statur verloren zu haben. Seine Schultern waren gekrümmt, seine Arme hingen schlaff zu seinen beiden Seiten herunter. Nur er und ich wußten, was in diesem Augenblick in seiner Seele vorging; nur er und ich spürten die Bitterkeit und den Groll. Seinen Geschwistern zeigte er die Maske, die diese sehen wollten, und verbarg sich hinter ihr.»Nochmals — meinen Glückwunsch«, sagte er.»Das scheint mir ein sehr schneller Entschluß gewesen zu sein. Denn vor fünf Monaten, als ich das letzte Mal hier war, wart ihr doch noch nicht einmal verlobt, nicht wahr?«Sein Ton war leicht und ungezwungen.»Richtig, Victor, damals waren wir noch nicht verlobt. Aber wir haben es kurz danach nachgeholt. «John hielt Victor, der zur Sherryflasche gegriffen hatte, sein Glas hin.»Mach es doch gleich ganz voll, ja? — Danke. Du siehst also, Victor, du bist nicht der einzige Überraschungskünstler in der Familie.«

Johns Lächeln, als er das sagte, gefiel mir nicht. Seine Stimme hatte einen metallischen Unterton. Es war klar, daß er auf Victor eifersüchtig war und glaubte, einen Sieg über ihn davongetragen zu haben.

«Victor«, sagte Jennifer, mit kräftigerer Stimme jetzt,»wir glaubten, Sie würden nie zurückkehren. Wir hatten keine Ahnung. «Seine Augen verrieten nichts von seinen Gefühlen, als er sie ansah.»Ich wußte es ja bis vor vierzehn Tagen selbst nicht. Ich habe mich ganz impulsiv entschieden.«

«Das sieht dir gar nicht ähnlich, Victor«, warf John ein.

«Ach, wenn wir es nur gewußt hätten«, sagte Jennifer und versuchte, ihm mit Blicken mitzuteilen, was sie nicht in Worte zu fassen wagte.

«Was wäre dann gewesen?«Victor leerte sein Glas.»Hättet ihr dann die Trauung bis zu meiner Ankunft aufgeschoben? Wie aufmerksam von euch. Und wie rücksichtslos von mir, daß ich euch nicht viel früher von meinen Plänen Mitteilung gemacht habe. Aber das konnte ich eben nicht.«

«Aber Victor, laß doch! Hauptsache, du bist zurück!«Harriet faßte seine Hand und drückte sie. Das Strahlen ihrer Augen verriet mir, wie sehr sie ihren großen Bruder vergötterte. Doch von seinen Gefühlen schien sie nichts zu ahnen.»Vater hat sich so gefreut, als dein Brief kam. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat richtig gelächelt, Victor. Und er ist jetzt so stolz auf dich. Dein hervorragendes Examen — «

«Danke, Schwesterchen«, sagte er trotz aller Bitterkeit mit Wärme in der Stimme.»Es tut gut zu wissen, daß ich willkommen bin.«

«Und Mutter hat die ganze Nacht geweint, nachdem sie deinen Brief gelesen hatte. Sie konnte sich gar nicht fassen. Sie ist fortgegangen, um eine Gans zu besorgen, Victor. Heute abend gibt es dir zu Ehren ein richtiges Festessen.«

Während Harriet in einem fort plapperte und John sich mit einem frischen Glas Sherry ans Feuer setzte, tauschten Victor und Jennifer einen letzten Blick.

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