ZWEITES KAPITEL Die Botschaft des Zauberers

Es war ein wunderschöner Morgen über der Gegend von Ortry aufgegangen. Die Sonne hatte den Tau von den Blättern und Halmen verschwinden lassen, nur hier und da glänzte noch ein silberner Tropfen aus dem tiefen Kelch einer Blume hervor.

Um diese Zeit pflegte Marion de Sainte-Marie dem Unterricht beizuwohnen, welchen Doktor Müller ihrem Bruder Alexander gab. War es die Schwesternliebe oder das Interesse an den Lehrgegenständen, was sie zu diesem Opfer veranlaßte? Sie wußte es sich vielleicht selbst nicht zu sagen.

Nanon aber benutzte diese Zeit meist zu einsamen Spaziergängen im Wald. Da war es freier, besser und schöner als im Zimmer bei den Büchern – da draußen gab es allerlei Kräuter und Gräser, und zuweilen kam einer, um dieselben abzupflücken und in seinen großen Sack zu stecken.

Ein Plätzchen gab es, wo sie gar zu gern verweilte. Es war der Ort, an welchem sie zum ersten Mal mit Fritz ausgeruht hatte. Und wunderbar. Sooft Fritz in den Wald kam, er streckte sich gewiß nicht eher in das Moos oder in die Heide nieder, als bis auch er dieses Fleckchen erreicht hatte.

So strich sie leise und langsam zwischen den Bäumen dahin und trällerte vor sich hin:

„Fern im Süd', das schöne Spanien,

Spanien ist mein Heimatland,

Wo die Schatten der Kastanien,

Rauschen an des Ebros Strand,

Wo die Mandeln rötlich blühen,

Wo die süße Traube winkt,

Wo die Rosen schöner glühen

Und das Mondlicht goldner blinkt.“

Sie blieb stehen und lauschte. Kein Echo! Und sie war doch eine so große Freundin des Echos; sie hörte es so gern. Sie setzte also ihren Weg fort und sang weiter:

„Längst schon wandr' ich mit der Laute

Traurig hier von Haus zu Haus,

Doch kein einzig Auge schaute

Freundlich noch zu mir heraus.

Spärlich reicht man mir die Gaben;

Mürrisch heißet man mich gehn.

Ach, mich armen, braunen Knaben

Will kein einziger verstehn!“

Sie hielt abermals inne, um zu lauschen. Über ihr allerliebstes Gesichtchen glitt ein glückliches Lächeln, denn jetzt, ja jetzt ließ sich ein Echo hören. Aber kam das von einem Berg oder von einer Felswand zurück? Wohl nicht, denn die Töne lagen um eine volle Oktave tiefer, und die Worte waren auch ganz andere. Gibt es denn auch Echos, welche nicht von Felswänden zurückgeworfen werden, und die ihre eigenen Töne und Worte haben? Jedenfalls, denn das Echo, welches sich jetzt hören ließ, sang:

„Als beim letzten Erntefeste

Man den großen Reigen hielt,

Habe ich das Allerbeste

Meiner Lieder aufgespielt.

Doch als sich die Paare schwangen

In der Abendsonne Gold,

Sind auf meine dunklen Wangen

Heiße Tränen hingerollt!“

Eine volle, kräftige Baritonstimme sang diese Verse. Nanon lauschte, und erst als das letzte Wort verklungen war, setzte sie sich wieder in Bewegung, aber schneller als vorher. Sie kam dem erwähnten Plätzchen immer näher, und als sie es erreichte, da – da lagen zwei im Moos, nämlich der volle Kräutersack und Fritz, der jetzige Besitzer dieses medizinisch und offiziell höchst wichtigen Gegenstandes.

Er hatte natürlich nicht die mindeste Ahnung, daß außer ihm noch irgendwer im Wald sein könne; ebensowenig hatte er jemand singen gehört. Er lag eben da und blickte zum Himmel auf wie einer, der sich auf der Erde sehr wohl befindet und dies jenen, die da oben wohnen, von ganzem Herzen auch wünscht.

„Guten Morgen, Herr Schneeberg!“ erklang es hinter ihm.

Wäre es möglich, daß er sich getäuscht hätte? Wunderbar! Er sprang auf und tat, also ob er im höchsten Grad überrascht worden sei.

„Ah, Sie sind es!“ meinte er dann beruhigt. „Guten Morgen, Mademoiselle Nanon. Ich dachte, ich wäre ganz allein.“

„Darum haben Sie auch so schön gesungen.“

„Schön? Wohl kaum leidlich, denn ich habe niemals Gesangunterricht gehabt.“

„Aber Ihre Stimme ist hübsch.“

„Oh, wie eben die Stimme eines Kräutermannes sein kann.“

„Sie sind sehr bescheiden. Und was Sie da sangen, das war mein Lieblingslied.“

„Wirklich? Das hätte ich wissen sollen.“

Und doch hatte er es gewußt, denn sie hatte es ihm bereits einige Male gesagt, ganz mit denselben Worten wie jetzt.

„Ich habe sogar, ehe ich Sie hörte, auch zwei Strophen desselben Liedes gesungen.“

„Drum! Drum hörte ich so etwas aus der Ferne, gerade wie wenn es vom Himmel käme. Es war so schön.“

„Gehen Sie! Sie schmeicheln.“

Er legte die Hand auf das Herz und beteuerte eifrig:

„Gewiß nicht! Ich sage die reine Wahrheit. Wenn Sie singen, so klingt es ganz anders als bei anderen Leuten. Es muß bei Ihnen da drin ganz anders beschaffen sein. Viel zierlicher und akkurater.“

Dabei deutete er auf seine Brust. Sie war ihm jetzt ganz nahe gekommen und reichte ihm ihr kleines weißes Händchen.

„Wie weich und fein“, sagte er, indem er es leise und vorsichtig ergriff. „Gerade wie seidener Samt, aber von der besten und allerteuersten Qualität. So ein Händchen ist doch etwas recht Wunderbares.“

„Wieso, Herr Schneeberg?“

„Es ist ein Meisterstück aus Gottes Hand und muß doch so viele irdische, dumme Arbeit vornehmen. Ein solches Händchen sollte immer ruhen dürfen. Es sollte nur da sein zum Entzücken dessen, der ein Recht darauf hat. Meinen Sie nicht auch?“

„Sie sprechen stets in einer Weise, daß es einem leid tut, das Geringste dagegen zu sagen.“

„Und Sie zeigen in Ihren nachsichtigen Worten eine Güte, über welche ich erröten möchte.“

Sie standen voreinander und blickten sich in die Augen, so offen, so treuherzig, so redlich, der hohe, starke Mann und sie, das liebliche, sonnige Mädchen. Sie betrachteten sich, als ob sie sich noch gar nicht gesehen hätten. Sie lächelten und sagten nichts dazu, bis Fritz endlich dachte, daß er nun doch wieder etwas reden müsse. Darum fragte er:

„Sind Sie nicht ermüdet, Mademoiselle Nanon?“

„Eigentlich nicht sehr, nur ein wenig.“

„Wollen Sie nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?“

„Wieder auf den Kräutern? Ich werde Ihnen noch den Sack durchsitzen, und dann wird Ihr Doktor zanken.“

„Oh, haben Sie keine Sorge. Der zankt nicht mit mir.“

„Weil Sie so gut und treu sind.“

„O nein, sondern weil er meint, daß Zanken doch nichts helfen und bessern würde. Kommen Sie! Er ist so weich, und ich habe ihn so gelegt, daß er bequem ist wie ein vornehmer Thronsessel.“

Sie setzte sich auf den Kräutersack und meinte lächelnd:

„Sie werden mich gewiß noch ganz und gar verwöhnen.“

„Ich wollte, ich könnte das! Dann möchte ich den ganzen Tag und das ganze Jahr bei Ihnen sein, um Ihnen alles so sanft und weich wie möglich zu machen.“

„Ja, so sind Sie. Nur immer für andere sind Sie besorgt. Und wir anderen mißbrauchen das nur zu sehr.“

„Oh, mißbrauchen Sie das nur getrost“, lächelte er ganz glücklich. „Ich wollte, ich könnte Ihnen noch weit mehr dienen, als ich es vermag.“

„Wirklich? Meinen Sie das wirklich?“

„Gewiß! Wollen Sie das etwa nicht glauben?“

„Ich glaube es, denn ich weiß, daß Sie niemals die Unwahrheit sagen. Aber gerade weil Sie so gütig sind, habe ich gar nicht das Herz, eine Bitte auszusprechen, von der ich heute eigentlich reden wollte.“

Er blickte ihr so selig entgegen; er nickte ihr aufmunternd zu und sagte:

„Das ist es ja gerade, was ich wünsche. Ich wollte, Sie hätten alle Tage tausend Bitten, die ich gewähren könnte.“

„Das ist es ja eben. Ich weiß nicht, ob Sie imstande sind, mir die gegenwärtige zu gewähren.“

„Ist's denn gar so schwer? Versuchen Sie es doch einmal.“

„Schwer ist's nun gerade nicht; aber Zeit gehört dazu, und die wird Ihnen wohl nicht zur Verfügung stehen.“

„Warum nicht? Zeit habe ich stets.“

„Ja, für Ihr Geschäft, aber nicht für mich.“

„Für Sie am allermeisten. Doktor Bertrand läßt mich machen, was ich will. Also bitte, sagen Sie mir ja, womit ich Ihnen dienen kann.“

„Nun, so will ich es wagen. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß mein Vater gestorben ist.“

„Ihr Vater?“ fragte er erschrocken. „Herrgott, das ist ja ganz und gar traurig.“

„Allerdings, obgleich er nicht mein eigentlicher Vater, sondern nur mein Pflegevater, mein Vormund war.“

„So haben Sie keine rechten Eltern mehr, Mademoiselle?“

„Nein. Ich bin ein Waisenkind.“

„Geradeso wie ich.“

„Ja, geradeso wie Sie.“

Da ergriff er ihr Händchen, streichelte es, aber vorsichtig, um ihr ja nicht weh zu tun oder etwas an der Herrlichkeit dieses ‚Meisterstücks‘ zu verändern und sagte:

„Gott schütze Sie. Man sagt, daß ein jedes Kind einen Engel habe, ein Waisenkind aber drei, nämlich zwei anstelle des Vaters und der Mutter.“



„Das ist ein sehr lieber und schöner Glaube, aus dem man reichen Trost zu schöpfen vermag. Also mein Pflegevater ist gestorben und soll morgen beerdigt werden. Ich will hin, und auch meine Schwester kommt.“

„Eine Schwester haben Sie, eine Schwester?“

„Ja, ein gutes, heiteres, herziges Wesen. Ich habe ihr telegraphiert, und sie wird morgen auf dem Bahnhof sein. Dort empfange ich sie, und wir fahren weiter, nach Metz und von da nach Etain. Denken Sie sich, so weit wir zwei.“

„Ja, das ist nun freilich schlimm. Zwei Damen, so allein.“

„Zwar fürchte ich keine Gefahr; aber man weiß doch niemals, was geschehen kann. Denken Sie, damals auf der Mosel.“

„Ja, wer sollte meinen, daß man da Schiffbruch erleiden könne.“

„Und doch mußten Sie mich aus dem Wasser retten. Seit jener Zeit ist es mir, als ob ich nur dann sicher sein könne, wenn ich bei Ihnen bin. Darum kommt nun meine heutige Bitte, lieber Schneeberg – aber es fällt mir wirklich schwer, sie auszusprechen.“

Er lächelte ihr freundlich entgegen und sagte:

„Nun, da muß ich sie Ihnen leicht machen. Wissen Sie, was mich recht froh und glücklich machen könnte?“

„Nun, was?“

„Wenn ich Sie begleiten dürfte. Aber so eine Dame wie Sie wird sich mit so einem armen Kräutersammler nicht abgeben wollen. Nicht wahr?“

„Wo denken Sie hin? Das war es ja gerade, um was ich Sie bitten wollte.“

„Wirklich? Dann hätten sich unsere Wünsche ja recht schön begegnet!“

„So wie immer. Aber werden Sie denn auch Zeit haben?“

„So viel Sie wünschen. Ich werde es meinem Herrn melden, und dann wird alles abgemacht sein.“

„Gut. Werden Sie mit dem Vormittagszug fahren können?“

„Das versteht sich ganz von selbst.“

„So treffen wir uns auf dem Bahnhof. Wie freue ich mich, meine Schwester wieder zu sehen! Es sind Jahre vergangen, seit wir uns trennten. Wissen Sie, daß ich ihr von Ihnen geschrieben habe, von Ihnen und dem Löwenzahn? Ich dachte, sie könne sich erkundigen; sie wohnt in Berlin.“

Er horchte auf.

„In Berlin?“ fragte er. „Ist sie da verheiratet?“

„O nein; sie ist Gesellschafterin gerade wie ich. Es geht ihr sehr gut. Ihre Herrin ist eine Gräfin von Hohenthal.“

„Von Hohen – Hohenthal?“ fragte er, indem er Mühe hatte, seinen Schreck zu verbergen.

„Ja. Ihr Sohn ist Husarenrittmeister.“

„So, so! Darf ich ihren Namen wissen?“

„Madelon heißt sie. Also Sie kommen gewiß?“

„Ganz gewiß.“

„Dann will ich wieder gehen. Marion wird mich erwarten.“

Sie erhob sich und reichte ihm die Hand.

„Wollen Sie allein gehen?“ fragte er.

„Ja. Ich nehme morgen so viel von Ihrer Zeit in Anspruch, daß ich Sie nicht auch noch heute berauben will. Leben Sie wohl, mein bester Herr Schneeberg!“

„Adieu, Fräulein Nanon!“

Sie trennten sich; sie ging, und er blieb zurück. Als sie sich entfernt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte:

„Na, na, was soll daraus werden! Hohenthals Madelon ist ihre Schwester! Die kennt mich ganz genau; sie wird gleich ahnen, weshalb wir uns hier befinden. Was ist da zu tun? Es wird am besten sein, ich frage den Herrn Rittmei – wollte sagen, den Herrn Doktor Müller. Was der sagt, das wird gemacht. Auf mich allein kann ich es nicht nehmen.“

Er nahm seinen Sack auf die Achsel und schritt davon. Er war allerdings keineswegs wirklich verpflichtet, für Doktor Bertrand Pflanzen zu sammeln; oft aber, wenn es seine eigenartigen Geschäfte zuließen, brachte er offizielle Kräuter mit heim. Auch heute sagte er sich, daß er Muße zum Sammeln solcher Tees habe, und so verweilte er noch längere Zeit in Wald und Feld. Es war bereits weit über Mittag, als er mit den Ergebnissen seines Botanisierens nach Thionville kam. Er begab sich, als er dieselben abgeliefert hatte, nach dem Gasthof, in welchem damals die Seiltänzer logiert hatten und in dessen kleinem Zimmer er den Auftritt mit dem nachher verunglückten Mädchen erlebt hatte.

Als er quer über die Straße hinüberschritt, erblickte er Müller, seinen Herrn, welcher langsam, mit den Schritten eines Spaziergängers, dahergeschlendert kam. Ein kurzer Wink zwischen beiden genügte zum Verständnis, daß Fritz mit dem jetzigen Erzieher zu sprechen habe. Der erstere trat in den Gasthof ein. In dem Gastzimmer befand sich kein Mensch; dennoch aber begab er sich nach dem erwähnten kleinen Stübchen, um vor etwa noch ankommenden Gästen ungestört zu sein. Müller war so vorsichtig, die Straße vollends hinaufzugehen und durch zwei Nebengassen zurückzukehren. Auch er begab sich nach dem hinteren Zimmerchen, da er in der vorderen Stube niemanden erblickte. Gerade als er dort eintrat, erhielt Fritz die bestellte Flasche Wein. Er grüßte, als ob er den letzteren nicht kenne, und bestellte sich ebenso Wein. Als derselbe gebracht worden war, und die Kellnerin sich entfernt hatte, fragte er in halblautem Ton:

„Du hast mir etwas zu sagen?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Etwas Wichtiges?“

Fritz zuckte die Achsel, machte ein schelmisches Gesicht und antwortete:

„Hm! Für mich vielleicht, für Sie aber wohl weniger. Es ist eine private Angelegenheit.“

„So, so! Laß doch einmal hören!“

„Ich brauche sehr notwendig einen kurzen Urlaub.“

„Weshalb?“

„Na, weil der Pflegevater gestorben ist!“

„Der Pflegevater?“ fragte Müller erstaunt. „Doch wohl nicht der deinige?“

„Nein. Zweimal stirbt bekanntlich keiner. Ich meine nämlich den Pflegevater von Mademoiselle Nanon.“

„Ah! Das verstehe ich nicht!“

„Nun, sie hat in der Gegend von Etain einen Pflegevater, welcher gestorben ist. Sie will ihn begraben lassen, und ich soll die Ehre haben, sie zu begleiten.“

„Du, du!“ drohte Müller mit dem Finger. „Was soll ich davon denken? Ich will doch nicht hoffen, daß –“

Er hielt inne, und Fritz fiel schnell ein:

„Daß ich etwa nicht der Kerl bin, eine Dame zu begleiten und zu beschützen?“

„Eine alte, eine recht alte, ja; aber eine so junge und zugleich hübsche? Nein!“

„Donnerwetter! Ein königlich preußischer Ulanenwachtmei –“

„Pst!“ warnte Müller.

„Ach so! Ich wollte sagen, ein französischer Kräuterfex, der mit Blumen und Blättern umzugehen weiß, wird wohl auch verstehen, eine junge Dame zart genug anzufassen!“

„Also beim Anfassen bist du schon?“

„Warum nicht?“

„Duldet sie das?“

„Was will sie machen?“

„Hm! Wie kommt sie denn gerade auf dich?“

„Da ist jedenfalls nur der Kräutersack schuld.“

„Wieso?“

„Weil der ihr stets als Kanapee dient.“

„Ach so! Ich beginne zu begreifen! Ihr trefft euch zuweilen im Wald?“

„Freilich.“

„So ganz zufällig?“

„Ganz und gar.“

„Dann setzt ihr euch nieder und plaudert?“

„Natürlich.“

„Sie sitzt auf dem Sack?“

„Gewöhnlich.“

„Und du daneben?“

„Zuweilen. Es kommt auch vor, daß ich liege. Wir haben nämlich bei unseren Konferenzen jede Etikette verbannt.“

„Das ist sehr praktisch. Und wovon unterhaltet ihr euch?“

„Vom Wetter, von Frostballen, von Klarinetten und auch wohl von sauren Gurken und hölzernen Pantoffeln.“

„Schlingel. Gibt es keinen besseren und interessanteren Unterhaltungsstoff?“

„O doch!“

„Nun?“

„Wir gucken uns an. Das ist das Liebste und Interessanteste, was wir machen können.“

„Fritz, du bist verliebt!“

„Donnerwetter, ja, das ist wahr!“

„Und sie, die Nanon?“

„Die wohl schwerlich. Leider! So ein kleines Mäuschen wird sich in so einen großen Bären vergaffen!“

„Das ist richtig. Du hast übrigens auch ganz und gar nichts an dir, was geeignet sein könnte, das Herz eines jungen, hübschen Mädchens zu erobern!“

„Ah! Wirklich? Ja, das kann wahr sein. Es fehlt mir das Haupterfordernis, um Liebe und Anbetung zu erwecken.“

„Was?“

„Der Buckel, den Sie haben.“

„Du bist ein Galgenstrick! Aber lassen wir diese heikle Angelegenheit. Deine Bekanntschaft mit Nanon Köhler kann uns sehr nützlich werden. Wie lange soll der Urlaub währen?“

„Das weiß ich nicht. Doch wohl nicht länger als bis übermorgen abend oder den nächsten Vormittag.“

„Wann fahrt ihr ab?“

„Morgen mit dem Mittagszuge.“

„Nun gut! Du sollst den Urlaub haben, und hier auch das Reisegeld. Da, nimm!“

Er zog die Börse und reichte dem Wachtmeister einige Goldstücke hin; dieser nahm sie mit lachender Miene in Empfang und sagte:

„Großen Dank, Herr Doktor! Auf diese Weise kann ich nobel auftreten und mich sehen lassen. Das ist mir besonders deshalb lieb, weil eine alte, gute Bekannte mitfahren wird.“

Müller horchte auf.

„Eine Bekannte?“ fragte er. „Von hier?“

„Nein, sondern von Berlin.“

„Das wäre?“ fragte Müller erstaunt.

Fritz streckte behaglich die Beine aus, machte ein höchst wichtiges Gesicht und sagte:

„Ja, mein verehrtester Herr Doktor, das ist eine ganz verteufelte Geschichte. Wir können gewaltig in den Käse fliegen. Wer hätte aber auch so etwas denken können.“

„Du machst mich besorgt. Was gibt es denn?“

„Hm. Sie kennen doch die Familie des Husarenrittmeisters von Hohenthal?“

„Natürlich! Ich bin ja mit dem Rittmeister innig befreundet. Wir besuchen uns sogar.“

„Das weiß ich. Sie kennen also auch die Gesellschafterin seiner gnädigen Frau Mutter?“

„Die kleine Madelon? Ja.“

„Fällt Ihnen nicht auf, daß sie gerade Madelon heißt?“

„Warum sollte mir das auffallen? Wohl weil dieser Vorname ein französischer ist?“

„Ja. Nanon und Madelon, Madelon und Nanon. Ist Ihnen der Familienname dieser kleinen Dame bekannt?“

„Hm. Ich glaube, ihn gehört zu haben. Ah, jetzt fällt er mir ein. Ich glaube, daß der Rittmeister ‚Fräulein Köhler‘ zu ihr sagte.“

„So ist es. Und Nanon heißt auch Köhler. Daraus folgt, daß –“

„Daß sie verwandt sind?“ fiel Müller schnell ein.

„Sogar, daß sie Schwestern sind.“

„Sapperment. Ist das wahr?“

„Ja. Nanon hat es mir selbst gesagt.“

„Und ich habe keine Ahnung davon gehabt. Wer hätte das denken können. Du willst doch nicht etwa sagen, daß diese Madelon kommen wird?“

„Gerade das will ich sagen. Auch sie ist von dem betreffenden Pflegevater erzogen worden. Nanon hat ihr telegraphiert, und nun wird sie morgen mit dem Mittagszug in Thionville eintreffen, um sich ihrer Schwester anzuschließen.“

„Das ist unangenehm, höchst unangenehm.“

„Allerdings. Du wirst Nanon nicht begleiten können.“

„Das habe ich mir auch gesagt. Man dürfte sich eigentlich gar nicht sehen lassen; aber – hm – ich habe mir das Ding genau überlegt; ich habe es nach rechts und links gewendet und bin da zu der Ansicht gekommen, daß es doch wohl besser ist, wenn ich mich vor ihr zeige. Erstens habe ich Nanon mein Wort gegeben. Es ließe sich zwar eine Ausrede nicht schwer finden, aber es könnte auffallen und, aufrichtig gestanden, fahre ich doch gar zu gern mit.“

„Deine persönlichen Gefühle müssen hier vor den Rücksichten der Klugheit zurücktreten.“

„Das wäre richtig, wenn es richtig wäre. Aber die beiden Schwestern haben einander seit Jahren nicht gesehen. Madelon wird dieser kleinen Nanon einige Tage widmen; sie wird nach dem Begräbnis ganz sicher mit nach Schloß Ortry kommen, und dann ist es ja gar nicht zu vermeiden, daß Sie von ihr bemerkt oder gesehen werden.“

„Das ist leider sehr richtig.“

„Das kann gefährlich werden; das kann alles verraten. Im Augenblick des Erkennens hat man sich nicht so wie zu anderer Zeit in der Gewalt. Wie nun, wenn die kleine junge Dame vor Überraschung mit Ihrem wirklichen Namen herausplatzte.“

„Das wäre verteufelt.“

„Das meine ich auch, und darum ist es besser, daß ich mich vor ihr sehen lasse und sie vorbereite.“

„Das mag sein. Aber womit wollen wir unsere Anwesenheit, unser Inkognito begründen?“

„Dies zu bestimmen überlasse ich Ihnen. Die Wahrheit dürfen wir auf keinen Fall sagen.“

„Natürlich nicht. Du kennst wohl einiges aus der Vergangenheit meiner Familie?“

„Ja, was ich so hier und da gehört und weggeschnappt habe.“

„Der alte Kapitän spielt da eine große Rolle –“

„Ich weiß es. Sie meinen, daß ich ihr auf diese Weise unsere Anwesenheit erklären soll?“

„Ja, es wird dies das Beste sein.“

„Jedenfalls. Aber, was soll ich ihr da sagen?“

„Das überlasse ich dir. Du bist klug und vorsichtig genug, um das richtige zu treffen und weder zuviel noch zuwenig zu sagen. Ich kann dir keine Vorschriften machen, da ich ja nicht weiß, wie sich euer Zusammentreffen gestalten wird.“

„Und darf Nanon davon hören?“

„Kein Wort!“ antwortete Müller schnell.

„Sie darf also gar nicht wissen, daß ihre Schwester mich kennt. Das erschwert die Sache.“

„Ich halte diese Madelon für klug, verschwiegen und gewissenhaft.“

„Ich auch. Ich hoffe, daß sie selbst gegen ihre Schwester nicht plaudern wird. Aber, hm, da macht mir eben der Augenblick des Zusammentreffens Sorge.“

„Du hast dich mit Nanon auf dem Bahnhof bestellt?“

„Freilich. Ihre Schwester weiß, daß sie dort von ihr erwartet wird. Da wird sich die Coupétür öffnen; die beiden Schwestern fliegen sich in die Arme; ich stehe dabei wie ein Ölgötze, Madelon erkennt mich und schreit: Ei potz Blitz, bist du nicht der Gustel von Blasewitz? Ich bin erkannt und entlarvt; die Butter fällt mir vom Brot; Nanon staunt mich an und fragt nach meinem Heimatschein – es wird eine Szene, welche wir auf alle Fälle vermeiden müssen.“

„Sehr richtig.“

„Aber das Mittel. Es will mir augenblicklich nichts einfallen.“

„Es gibt da nur ein einziges Mittel, vorzubeugen, daß wir nicht verraten werden.“

„Und das wäre?“

„Du mußt ihr entgegenfahren.“

„Alle Wetter. Das ist richtig. Und ich Dummkopf komme nicht selbst darauf. Aber wie weit fahre ich?“

„Der Zug trifft nach zwölf Uhr hier ein. Auf einem kleinen Anhaltepunkt, wo es keinen Aufenthalt gibt, hast du keine Zeit, ihr Coupé zu entdecken. Du mußt ihr unbedingt bis Trier entgegenfahren, und das ist nur mit dem Morgenzug möglich.“

„Gut. In Trier hält der Zug zehn Minuten; das genügt, um einen Passagier ausfindig zu machen, zumal ich annehmen kann, daß sie nicht in dritter Klasse fahren wird.“

„Du brauchst dich nur an die Schaffner zu wenden. Du steigst bei ihr ein, und bis du hier ankommst, ist die Angelegenheit in Ordnung gebracht. Ich weiß, daß ich keine Befürchtung zu hegen gebrauche, da ich mich auf dich verlassen kann.“

„Keine Sorge, Herr Doktor. Aber wie kommt es, daß Sie sich jetzt in der Stadt befinden?“

„Ich kam, um beim Buchhändler einige Bücher zu kaufen. Horch! Es scheinen Gäste gekommen zu sein.“

Die Kellnerin hatte die nach dem großen Zimmer führende Tür nicht fest zugemacht, sondern nur angelehnt. Die beiden hörten Schritte, und eine Stimme fragte:

„Ist der Wirt zu Hause?“

„Ja“, antwortete das Mädchen.

„Gib mir einen Absinth und rufe ihn. Dich aber brauchen wir nicht dabei.“

Das Mädchen ging.

„Ah, eine heimliche Unterredung, wie es scheint“, flüsterte Müller.

Er trat an die Tür, warf einen Blick durch die Spalte und gewahrte einen Mann, dessen Gesicht durch einen dunklen Vollbart verhüllt war. Er trug ganz gewöhnliche Kleidung, doch war der Eindruck, den er machte, ein martialischer. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und trank von dem Schnaps, den ihm das Mädchen gegeben hatte, ehe es aus der Stube gegangen war.

Müller und Fritz verhielten sich unwillkürlich ganz schweigsam. Es währte eine ziemliche Zeit, bis der Wirt eintrat.

„Du läßt mich lange warten“, sagte der Mann zu ihm. „Und meine Zeit ist kurz bemessen.“

„Kann ich dafür? Was gibt's?“

„Versammlung.“

„Ach so. Dann hast du allerdings gehörig zu laufen. Versammlung für alle?“

„Nein, nur die Anführer sollen kommen.“

„Wann?“

„Punkt elf Uhr.“

„In den Ruinen?“

„Nein; das ist nicht mehr möglich, seit wir damals belauscht worden sind. Möchte nur wissen, welchem Subjekte es gelungen ist, sich einzuschleichen. Einen Verdacht hat man.“

„Ah! Wirklich? Wer?“

„Es läuft ein fremder Kerl den ganzen Tag im Wald herum, um Kräuter zu sammeln. Man hat ihn auch bei den Ruinen gesehen. Vielleicht ist der es gewesen.“

Der Wirt schüttelte den Kopf und antwortete:

„Der? Das fällt ihm gar nicht ein.“

„Kennst du ihn?“

„Ja. Er ist der Pflanzensammler von Doktor Bertrand. Ich kenne ihn genau, da er bei mir viel verkehrt.“

„Was ist es für ein Mensch?“

„Der ist ebenso dumm, wie er lang und stark ist. Saufen kann er wie ein Loch. Aber sonst ist ganz und gar nichts mit ihm. Er tut das Maul nicht auf, spielt weder Billard noch Karten; der hat für nichts Sinn als für seinen Kräutersack.“

„Das ist sein Glück. Wollte er seine Nase in unsere Angelegenheiten stecken, so würde sie ihm bald breitgedrückt werden. Woher stammt er?“

„Aus Genf, überhaupt aus der französischen Schweiz, glaube ich. Um den brauchen wir uns nicht zu grämen.“

„Schön. Der Kapitän hat ihm mißtraut und will ihn beobachten lassen. Ich werde ihn also beruhigen.“

„Das kannst du getrost tun. Also in den Ruinen kommen wir nicht zusammen? Folglich beim alten Turm?“

„Auch nicht. Wo denkst du hin. Wie können wir so etwas wagen! Hast du denn die Kerls vergessen, welche damals das Grab geöffnet haben?“

„Ah, richtig. Ihr hättet sie erschießen sollen.“

„Pah! Du hast gut reden. Der Kapitän hatte den Klingeldraht falsch angebracht; es läutete zu spät. Wir waren nur drei Personen am Wachen, und als wir kamen, ging eben der Spektakel los, mit dem Donnern und Blitzen.“

„Diese Kerls mögen schön erschrocken sein.“

„Und wie! Der eine riß sofort aus. Der schrie etwas in einer fremden Sprache, welche der Teufel vielleicht versteht, ich aber nicht.“

„Habt ihr keinen erkannt?“

„Nein. Es waren drei. Also einer riß aus, aber die beiden anderen blieben furchtlos stehen. Natürlich kam der Kapitän dazu, von den Glockenzeichen herbeigerufen. Er befürchtete, daß diese zwei bleiben würden, um zu lauschen, was nun von unserer Seite geschehen werde; darum mußten wir uns vollständig still verhalten. Und wirklich. Ein Rascheln, welches später zu hören war, überzeugte uns, daß sie sich zwar entfernt hatten, aber wiedergekommen seien.“

„Schlauköpfe.“

„Ja. Ich möchte wissen, wer es gewesen ist. Erst am Morgen entfernten sie sich, und von da an hatten wir Gelegenheit, das Loch wieder zuzuwerfen und die Zerstörung, welche sie angerichtet hatten, zu beseitigen.“

„Hoffentlich aber ist der Alte so klug gewesen, das Arrangement verändern zu lassen!“

„Jedenfalls. Er schweigt natürlich darüber; aber ich vermute, daß einige Kameraden, welche ich mehrere Tage lang nicht zu Gesichte bekam, heimlich bei ihm arbeiten mußten.“

„So bleibt uns nur noch das Trou du bois, wo wir uns versammeln könnten?“

„Jetzt ja. Also heute abend zehn Uhr im Trou du bois. Jetzt muß ich weiter.“

„Ist etwas mitzubringen?“

„Nein. Wir werden einige Befehle erhalten; das ist alles. In einer Viertelstunde ist's abgemacht. Adieu!“

Er gab dem Wirt die Hand und ging. Der letztere begleitete ihn hinaus und kehrte nicht wieder zurück.

Die beiden Lauscher blickten einander an. Dann nickte Fritz wohlgefällig vor sich hin und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Bon! Das war famos! Nicht?“

„Sehr gut!“

„Der Wirt muß von unserer Anwesenheit gar nichts wissen.“

„Jedenfalls. Darum wollen wir die Tür zumachen, damit er, wenn er unsere Gegenwart bemerkt, nicht auf die Vermutung kommt, daß wir etwas hören konnten.“

Fritz drückte die Tür ins Schloß, nahm wieder Platz und sagte:

„Also auf mich haben diese Kerls Verdacht! Wie gut; daß ich dies weiß! Jetzt kann ich mich danach verhalten.“

„Und ich freue mich sehr, daß nicht ich es bin, auf den ihr Augenmerk gefallen ist. Seit mich der Kapitän mit dir in den Ruinen sah, war ich überzeugt, daß der Verdacht sich einzig gegen mich richten werde.“

„Heut abend wieder eine Zusammenkunft! Alle Wetter! Wenn man die belauschen könnte!“

„Den Ort wüßten wir. Im Trou du bois.“

„Das heißt auf deutsch im Waldloch. Kennen Sie vielleicht diesen Ort, Herr Doktor?“

„Nein; aber ich muß ihn zu erfahren suchen.“

„Die Erkundigung könnte auffallen!“

„Nein. Ich spreche auf dem Nachhauseweg beim Förster vor.“

„Wenn nun der mit ihnen unter der Decke steckt?“

„Ich halte mich an den Forstgehilfen. Dieser ist ein junger unerfahrener Mensch, vor dem mir nicht bange zu sein braucht.“

„Was werden Sie tun, wenn Sie erfahren, wo dieses Waldloch sich befindet?“

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen; ich muß die Umstände berücksichtigen.“

„Vielleicht kommen Sie auf den Gedanken, die Versammlung zu belauschen?“

„Möglich!“

„Donnerwetter! Das ist gefährlich!“

„Allerdings“, antwortete Müller, indem er die Achsel zuckte. „Das kann mich nicht abhalten, meine Pflicht zu tun!“

„Aber Sie haben sich vor allen Dingen zu erhalten, schon um Ihre Aufgabe zu erfüllen.“

„Die erfülle ich ja eben indem ich horche!“

„Aber man jagt Ihnen unter Umständen eine Kugel durch den Kopf!“

„Ich bin auch bewaffnet. Übrigens wirst du mir wohl die nötige Vorsicht zutrauen.“

„Man kann bei aller Klugheit und Vorsicht in die allerdickste Tinte geraten!“

„Ich danke dir für die Besorgnis, welche du für mich zeigst! Aber denke an dich selbst! Hast du etwa gezaubert, als du damals des Nachts dich bei der Ruine befandest?“

„Nein. Ich habe allerdings meine Nase, die sie mir so gern breitschlagen möchten, sofort in die Ruine gesteckt.“

„Und das Leben dabei gewagt!“

„Pah! Man hat mir nichts getan!“

„Aber man hätte dich beinahe ergriffen, und dann wäre es jedenfalls aus mit dir gewesen!“

„Aber ich hätte mich doch vorher ganz gehörig meiner Haut gewehrt, und es ist doch auch ein Unterschied zwischen Ihnen und mir zu machen!“

„Das sehe ich nicht ein!“

„Oh! Ein Rittmeister und ein Wachtmeister, oder ein Doktor der Philosophie und ein Kräutermann! Wenn sie mich wegputzen, so sind Sie immer noch Manns genug, Ihre Aufgabe zu lösen, dreht man aber Ihnen den Kopf auf den Rücken, so ist's aus mit der Laterne. Also, lieber Herr Doktor, schicken Sie lieber mich nach dem Trou du bois!“

„Das geht nicht. Ich muß selbst da sein.“

„So nehmen Sie mich wenigstens mit.“

„Du mußt ausschlafen.“

„Pah! Etwa der morgigen Reise wegen?“

„Natürlich!“

„Das fehlte noch. Ich bitte wirklich von ganzem Herzen, nicht ohne mich zu gehen.“

Das klang so treu und dringend, daß Müller nicht zu widerstehen vermochte. Er antwortete:

„Gut! Wenn ich dir damit einen so großen Gefallen tue.“

„Einen sehr großen. Wo treffen wir uns?“

„Punkt zehn Uhr da, wo vom Schloß aus der Fußweg in den Wald führt.“

„Werden Sie bis dahin wissen, wo das Waldloch zu suchen ist?“

„Ich hoffe es. Natürlich bewaffnest du dich.“

„Das versteht sich ganz von selbst. Befehlen Sie vielleicht, daß ich mich nun zurückziehe?“

„Nein. Wir warten noch. Gehen wir jetzt und der Wirt erblickt uns, so schöpft er Verdacht. Sieht er uns aber erst später, so meint er vielleicht, daß wir erst später gekommen sind. Apropos! Hast du Abu Hassan wiedergesehen? Er ist seit jener Nacht spurlos verschwunden.“

„Aber seine Requisiten befinden sich noch hier im Gasthof.“

„So kehrt er sicher zurück.“

„Auf alle Fälle. Er müßte sonst gewärtig sein, daß man ihn steckbrieflich verfolgt. Er hat ja vor Gericht seine Aussage über den Tod der Schauspielerin zu tun. Bleibt er damit im Rückstand, so wird er gesucht.“

„Solltest du ihn sehen, so benachrichtigst du mich sofort.“

„Sie haben mit ihm zu sprechen?“

„Ja. Ich muß mir über einiges klarwerden. Ich bedaure jetzt, nicht aufrichtiger mit ihm gewesen zu sein. Übrigens möchte ich jetzt am Schluß ein aufrichtiges Wort mit dir reden, Fritz.“

„Ganz wie der Herr Doktor befehlen.“

„Sage mir einmal ohne allen Rückhalt: Liebst du diese Nanon wirklich?“

Der Gefragte wurde rot. Er blickte eine Weile vor sich nieder, hob dann den Kopf, richtete seine treuherzigen, guten Augen auf Müller und antwortete:

„Herr Doktor, das ist eine ganz und gar verdonnerte Frage! Man ist so manchem Gesicht gut gewesen; aber was Liebe ist, wirkliche, richtige Liebe, hm! Wenn Sie mir doch sagen könnten, was das ist?“

„Nun“, antwortete Müller lächelnd, „in diesem Punkt bin ich gerade ebenso gescheit wie du. Auch ich bin nicht imstande, eine Definition von diesem Wort zu geben.“

„Nicht? Da will ich es doch einmal versuchen.“

„Laß dich hören.“

„Ist das Liebe, wenn man ein Mädchen zum ersten Mal sieht und sie doch gleich mit Haut und Haar fressen möchte?“

„Nein; das ist vielmehr der Heißhunger eines Menschenfressers.“

„So! Oder ist das Liebe, wenn man so ein Mädchen an das Herz nehmen und gar nicht wieder von sich lassen möchte?“

„Vielleicht.“

„Wenn man für sie durchs Feuer gehen und tausendmal für sie sterben möchte, wenn das möglich wäre?“

„Hm! Hübscher ist es doch jedenfalls, für die Geliebte zu leben als für sie zu sterben.“

„Das leuchtet auch mir ein. Aber alles in allem gerechnet, bin ich doch wohl auf der richtigen Fährte, wenn ich annehme, daß ich dieser Nanon von ganzem Herzen gut bin.“

„Hast du dir aber auch überlegt, was daraus folgen kann?“

„Eine Hochzeit oder ein alter Junggeselle.“

„Unsinn.“

„Herr Doktor, das ist kein Unsinn. Wenn dieses Mädchen meine Frau nicht werden will, so bleibe ich ledig.“

„Und da tust du noch zweifelhaft, ob du sie wirklich liebst?“

„Gut, so will ich den Zweifel zur Tür hinauswerfen.“

„Dann bedenke, wer sie ist.“

„Ein wunderbar gutes und liebes Mädchen.“

„Eine Gesellschafterin ohne Familie und Vermögen.“

„Habe ich etwa Vermögen oder Familie?“

„Fritz! Du weißt ja, daß ich daran arbeite, das Geheimnis deiner Geburt zu enthüllen.“

„Lassen Sie lieber den Vorhang drüber. Ich bin jetzt ein ganz und gar glücklicher Kerl. Ich habe Sie. Ich habe meine Uniform – wollte sagen, meinen Kräutersack; ich kann zuweilen einige Augenblicke mit Nanon sprechen; ja, ich darf sogar morgen mit ihr verreisen. Das ist bereits mehr, als dazu gehört, zufrieden zu sein.“

„Aber wenn du doch der Sohn eines Grafen, eines Generals wärst?“

„Dieses Glück wäre wohl nicht so groß wie dasjenige, der Mann dieser Nanon sein zu dürfen.“

„Nun gut, sprechen wir jetzt nicht weiter darüber. Wenn es mir gelingt, diesen Bajazzo ausfindig zu machen, so – – –“

„So werden Sie vielleicht erfahren“, fiel Fritz ein, „daß wir Spinnweben gesponnen haben.“

Da wurde die Tür geöffnet; der Wirt blickte herein.

Er machte, als er die beiden sah, ein finsteres Gesicht, trat näher und fragte, sich an Fritz wendend:

„Sind Sie schon lange hier?“

Fritz machte das dümmste Gesicht, welches er fertigzubringen vermochte, und antwortete:

„Sie wissen es ja.“

„Ich? Ich sah Sie nicht kommen.“

„O doch! Als ich zum ersten Mal bei Ihnen einkehrte, standen Sie unter der Tür.“

„Ah, wer fragt denn danach.“

„Sie doch.“

„Ist mir nicht eingefallen.“

„Donnerwetter! Sie fragten mich doch, wie lange ich bereits hier bin, in Thionville.“

„Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich meine, wie lange Zeit Sie bereits hier sitzen, nämlich heute.“

„Hm! Ich habe nicht nach der Uhr gesehen.“

„War jemand im vorderen Zimmer?“

„Die Kellnerin.“

„Kein Gast?“

„Nein.“

Jetzt schien der Wirt beruhigt zu sein. Er wendete sich an Müller und fragte diesen:

„Sie waren noch nie bei mir, Monsieur. Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Aus welchem Grund fragen Sie? Muß man, um ein Glas Wein bei Ihnen zu trinken, sich legitimieren?“

„Nein; das nicht, aber ich liebe es, die Herren zu kennen, welche bei mir verkehren. Sie wissen ja, Monsieur, es ist Pflicht eines Wirtes, jeden nach seinen begründeten Ansprüchen zu behandeln.“

„Möglich. Was mich betrifft, so sind meine Ansprüche nicht groß. Ich bin Erzieher. Auf Schloß Ortry.“

Ein leises Zucken ging über das Gesicht des Wirtes. Er ließ sein Auge von dem einen auf den anderen herüber und hinüber schweifen und fragte:

„So sind Sie Herr Doktor Müller? Sie haben das gnädige Fräulein gerettet? Und auch den jungen Baron Alexander?“

„Es gelang mir, ihn vor dem gefährlichen Sturz zu bewahren.“

„Sie müssen ein sehr mutiger Mann sein.“

Dabei musterte er ihn mit offenbar mißtrauischem Blick.

„Pah! Man tut seine Pflicht“, meinte Müller kalt.

„Haben diese Herren sich zufällig getroffen?“

„Zufällig“, nickte der verkleidete Offizier, der damit ja auch die Wahrheit sagte.

„Kennen Sie sich vielleicht?“

Das war denn doch zu unverschämt. Müller stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und antwortete:

„Bringen Sie Ihre Fragen bei Schulknaben an, nicht aber bei einem, der selbst gewohnt ist, Antworten zu hören. Hier die Bezahlung. Adieu!“

Er ging. Der Wirt blickte ihm nach und sagte dann, zu Fritz gewendet.

„Ein grober Mensch.“

„Ja“, meinte der Kräutersammler kurz.

„Finden Sie das nicht auch?“

„Sogar sehr. Ich hätte ihn beinahe ohrfeigen mögen.“

„Wieso?“

„Er trat hier ein, als ich mich eben niedergesetzt hatte. Meinen Sie etwa, daß er grüßte?“

„Nicht?“

„Fiel ihm gar nicht ein. Ich wollte ein Gespräch beginnen –“

„Er mochte nicht?“

„Nein. Ich fing vom Wetter an; er aber gönnte mir nicht einmal einen Blick. Ich brachte Verschiedenes vor, lauter prächtige und interessante Sachen; wissen Sie, was er da zu mir sagte?“

„Nun?“

„Ich sollte meinen Schnabel halten.“

„Das ist allerdings sehr stark.“

„Sehr! Mich wundert es, daß er es nicht auch zu Ihnen gesagt hat. Schnabel! Als ob man ein Star oder eine Blaumeise wäre. Dieser Kerl wird dem jungen Baron eine schauderhafte Bildung beibringen.“

„Ja, das scheint so! Aber sagen Sie: Ist wirklich niemand in der vorderen Stube gewesen? Sie haben nicht gehört, daß jemand gesprochen hätte?“

„Kein Wort.“

„So ist's also doch gut. Ich erwarte nämlich den Briefträger, er ist aber, wie ich nun höre, noch nicht dagewesen. Waren Sie heute bereits nach Pflanzen aus?“

„Allüberall, im Wald und im Feld.“

„Wo sind da Ihre liebsten Stellen?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, wo sie sich am allerliebsten aufhalten?“

„Hm. Im Bett.“

Fritz sagte das, indem seine Miene die größte Unbefangenheit zeigte. Der Wirt warf ihm einen zornig forschenden Blick zu und fragte:

„Monsieur, wollen Sie mich etwa zum Narren haben?“

Fritz sah erstaunt zu ihm auf und antwortete:

„Wieso? Sie fragen mich, wo ich mich am allerliebsten aufhalte, und ich sage es Ihnen. Was ist da weiter daran?“

Der Wirt sah ein, daß er es mit einem Menschen zu tun habe, dem die Intelligenz nicht mit Scheffeln zugemessen worden sei. Er beruhigte sich also und erklärte:

„Ich meinte, ob Sie im Wald vielleicht ein Plätzchen haben, an welchem Sie sich am liebsten aufhalten.“

„Ich gehe dahin, wo ich meine Pflanzen finde; andere Plätze können mich gar nicht interessieren.“.

„Sind Sie oft beim alten Turm?“

„Brrr! Dort geht es ja um.“

„Wer sagte Ihnen das?“

„Alle Welt weiß es ja.“

„Oder gehen Sie zuweilen nach der großen Ruine, welche mitten im Wald liegt?“

„Was soll ich in Ruinen? Dort wächst das, was ich suche, jedenfalls nicht.“

„Oder halten Sie sich öfters am Trou du bois auf?“

Fritz merkte natürlich, daß er ausgehorcht werden solle. Je mehr der Wirt in ihn drang, ein desto dümmeres Gesicht machte er. Jetzt freute er sich innerlich, daß der Ort erwähnt wurde, von dem er gern wissen wollte, wo er liege. Er fragte darum:

„Am Trou de bois? Was ist das?“

„Ein Loch im Wald.“

„Das heißt, ein Ort, an welchem sich keine Bäume befinden?“

„Nein. Es ist ein großes Loch in der Erde.“

„Es gibt viele Löcher im Wald, bei denen ich gewesen oder vorübergekommen bin.“

„Es ist, wenn Sie von dem großen Steinbruch aus über die nächste Waldecke eine gerade Linie ziehen.“

„Was verstehe ich von dem Steinbruch, der Waldecke und der Linie! Wer soll das begreifen!“

„Ich meine, wenn Sie auf dieser Linie fortgehen, so gelangen Sie in der Zeit einer guten halben Stunde nach dem Loch.“

„Meinetwegen. Fällt mir gar nicht ein, eines alten Lochs wegen, welches mich gar nichts angeht, eine Linie durch den Steinbruch und den Wald zu ziehen. So eine Heidenarbeit! Da habe ich mehr zu tun.“

Der Wirt lachte laut auf. Er fühlte sich außerordentlich befriedigt und sagte, noch immer lachend:

„Aber, Monsieur, ich habe doch auch gar nicht gemeint, das Sie eine wirkliche Linie ziehen sollen.“

„Na also! Da lassen Sie mich auch mit der Linie in Ruhe. Warum reden Sie überhaupt von ihr, wenn Sie gar nicht verlangen, daß ich sie ziehen soll.“

„Sie sind köstlich, wirklich köstlich. Also Sie waren noch nicht an dem Loch? Sie kennen es nicht?“

„Nein.“

„Finden Sie nicht, daß der Wald, gerade dieser Wald, sehr einsam ist?“

„Wie jeder andere auch.“

„Oh, es gibt doch Wälder, in denen viel Verkehr ist. Dieser Wald wird aber wohl nicht viel von Menschen besucht?“ forschte der Wirt weiter.

„Ich weiß nichts davon. Wenigstens habe ich nicht gefunden, daß dort so viele Menschen verkehren, daß sie geradezu mit den Köpfen zusammenrennen.“

„Aber zuweilen trifft man jemand?“

„Das schon.“

„Wen denn zum Beispiel?“

„Den Förster, einen Holzhauer oder auch einen Handwerksburschen.“

„Sonst niemanden?“

„Ich kann doch nicht wissen, wer da herumläuft. Ich habe verteufelt wenig Personen gesehen.“

„Aber man spricht davon, daß besonders zur Nachtzeit zuweilen viele Menschen dort zu treffen sind.“

„Unsinn. Welcher vernünftige Kerl läuft des Nachts im finsteren Wald herum.“

„Oh! Man redet Eigentümliches.“

„Dummheiten redet man! Gäbe es hier eine Grenze, die sich durch den Wald zieht, so wäre es möglich, daß sich Pascher an derselben herumtreiben. Wenn man aber da von Leuten redet, welche sich des Nachts im Wald herumtreiben, so befindet man sich gehörig auf dem Holzweg. Ich weiß das viel besser.“

Der Wirt stutzte. Sollte dieser dumme Bursche dennoch vielleicht etwas ahnen? Er fragte darum: „Nun, wer könnte es denn sonst sein, wenn es keine Leute sind, Monsieur?“

„Hm! Ja. Davon darf man eigentlich nicht sprechen.“

„Nicht? Warum nicht?“

„Es ist gefährlich.“

„Wieso gefährlich?“ fragte der Wirt, dessen Mißtrauen wieder zu wachsen begann.

„Weil sie einem sonst erscheinen, sogar wenn man gar nicht in den Wald geht, sondern im Bett liegt.“

„Wer denn? So reden Sie doch.“

„Na, leise darf man schon davon sprechen. Also wissen Sie, was sich des Nachts im Wald herumtreibt? Menschen sind es nicht.“

„Nun, wer sonst?“

„Kommen Sie her.“

Der Wirt trat ihm näher. Fritz faßte ihn am Arm, zog seinen Kopf zu sich nieder und flüsterte ihm in das Ohr:

„Die wilde Jagd.“

Dann ließ er den Arm des Wirts wieder los, schüttelte sich, als ob es ihn schaure, machte ein höchst ernstes Gesicht, nickte einige Male sehr bedeutungsvoll und fügte dann hinzu, indem er drei Kreuze schlug:

„Ja, so ist es, wenn man auch nicht laut davon sprechen darf. Aber des Nachts brächte mich keine Macht der Erde in den Wald, selbst wenn man zehn Pferde vorspannte!“

Jetzt fühlte sich der Wirt vollständig überzeugt, daß er es mit einem höchst unschädlichen und im Superlativ harmlosen Menschen zu tun habe. Er nickte, indem er innerlich sehr belustigt war, dem Pflanzensammler verständnisinnig zu und sagte:

„Ja, so ist es! Ich habe auch bereits davon gehört.“

„Wissen Sie auch, wer während der wilden Jagd in den Wald geht, dem dreht der wilde Jäger das Gesicht auf den Rücken!“

„Ich habe es gehört.“

„Und dann muß er mitjagen und hetzen in alle Ewigkeit. Der Himmel behüte mich davor.“

„Ja, das ist schlimmer als selbst das Fegefeuer und die ewige Verdammnis. Es graut einem, wenn man nur daran denkt. Ich will lieber an meine Arbeit gehen.“

Er ging; aber als er sich in dem vorderen Zimmer befand und die Tür hinter sich zugemacht hatte, drehte er sich um, schlug ein Schnippchen und brummte vergnügt:

„O du tausendfacher Dummkopf du! Du bist im ganzen Leben nicht zu kurieren. Und diesen albernen Menschen haben wir für gefährlich gehalten! Sind wir da nicht noch viel dümmer gewesen als er?“

Und drinnen im kleinen Zimmer lächelte Fritz leise vor sich hin und sagte zu sich selbst:

„Jetzt wird er draußen lachen und seine Glossen reißen. Dieser Franzmann ist doch ein unendlich gescheiter Kerl! Er hat die Güte gehabt, mir die allerbeste Auskunft zu geben. Nun weiß ich genau, woran ich bin. Diese Linie vom Steinbruch aus über die Ecke des Waldes ist ganz famos. Ich werde den Herrn Doktor erfreuen, wenn ich ihm heute abend sagen kann, wo sich dieses Waldloch befindet. Ich breche sofort auf, um es mir anzusehen. Aber vorher muß ich nach Hause, erstens um beim Wirt keinen Verdacht zu erregen, und zweitens, um mir noch eine Waffe zu holen. Man weiß nicht, ob ich gleich draußen bleiben muß.“

Er ging, um einen Revolver zu sich zu stecken und verließ dann die Stadt, indem er die Richtung nach dem ihm sehr wohl bekannten Steinbruch einschlug. –

Müller war froh gewesen, vom Wirt loszukommen. Er nahm sich vor, nicht direkt nach Schloß Ortry zu gehen, sondern das Forsthaus aufzusuchen und lenkte also von der Straße ab. –

Unterdessen hatte sich auf dem Schloß eine aufregende und etwas stürmische Szene ereignet.

Noch befanden sich nämlich die beiden Rallions hier, Vater und Sohn. Die Wunde, welche Fritz bei seiner Flucht aus der Ruine dem ersteren in die Hand beigebracht hatte, war als nicht bedeutend erkannt worden. Der Schnitt jedoch, welchen der Deutsche dem Sohn versetzt hatte, war fataler. Erstens verursachte er eine heftige Entzündung und große Schmerzen, und sodann entstellte er das Gesicht, auf welches der Oberst stets sehr eitel gewesen war.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die beiden Grafen sich nicht in der allerbesten Laune befanden. Ihre heimlichen Angelegenheiten befanden sich zwar scheinbar im besten Gang, aber in Beziehung der beabsichtigten Verbindung des Obersten mit Marion wollte sich kein erfreulicher Fortschritt zeigen. Darum war Rallion, der Vater, am Morgen, als Marion beim Unterricht ihres Bruders zugegen war, zu dem alten Kapitän gegangen.

Er fand denselben über Briefen und Berechnungen sitzend. Der Alte reichte ihm die Hand und fragte ihn nach dem Grund des unerwarteten Besuchs.

„Hier“, sagte Rallion, „lesen Sie die Botschaft, welche mir durch die Morgenpost zugegangen ist.“

Der Kapitän nahm das Papier. Es enthielt nur wenige Zeilen, welche also lauteten:

„Dem Grafen Jules Rallion auf Ortry!

Kommen Sie sofort. Ihre Gegenwart ist dringend notwendig, um Gegenströmungen zu bekämpfen.

Herzog von Gramont.“

Der Befehl war also von dem Minister des Auswärtigen unterzeichnet, welcher, der Kaiserin zur Seite stehend, zu der Kriegspartei gehörte.

„Was sagen Sie dazu?“ fragte Rallion.

„Daß Sie reisen müssen. Wer mag der Urheber dieser Gegenströmung sein?“

„Das ist mir hinlänglich bekannt, interessiert mich aber augenblicklich gar nicht. Sie selbst sagen, daß ich reisen müsse. Aber denken Sie dabei auch an die Absichten, welche mich zu Ihnen führten?“

„Natürlich.“

„Sie sind unerfüllt geblieben.“

Der Alte blickte verwundert auf. Er legte die Feder weg, zupfte an den Spitzen seines Schnurrbartes und sagte:

„Daß ich nicht wüßte. Sie haben gesehen, daß unsere Organisation nahezu vollendet ist. Sie haben ferner die Vorräte gesehen, welche sich täglich vergrößern und –“

Rallion schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab und fiel ein:

„Das ist es nicht, was ich meine, ich denke vielmehr an unsere Privatangelegenheit.“

„Nun, ist diese nicht in Ordnung?“

„Was nennen Sie Ordnung, bester Kapitän?“

„Den gegenwärtigen Zustand der Dinge.“

„Pah, ich finde ihn sehr unbefriedigend, also nicht in Ordnung!“

Der Alte sah ihn groß an; auf seiner Stirn zeigte sich eine Falte des Unmuts.

„Mein lieber Graf“, sagte er, „wenn ich von Ordnung spreche, so weiß ich, was ich sage. Ich hoffe, Sie kennen mich.“

„Ja, ich kenne Sie allerdings; aber selbst der sorgfältigste Rechner irrt sich einmal. Vielleicht nähern wir uns einem Fazit, an welches wir nicht gedacht haben.“

„Wieso? Es gibt Gründe, welche uns eine Verbindung unserer Kinder dringend wünschen lassen. Ich habe Ihnen gesagt, das Marion die Gemahlin Ihres Sohnes wird. Beide haben sich hier eingefunden, um sich kennenzulernen. Ist das nicht genug?“

„Nein, das ist es nicht.“

Da zog sich ein eigentümliches Lächeln über das Gesicht des Alten.

„Hm!“ sagte er. „Sollten Sie so heißblütig sein, an eine sofortige Vermählung zu denken?“

„Das kann mir nicht einfallen. Aber eine Sicherheit wünsche ich doch zu erhalten.“

„Sie haben mein Wort. Genügt Ihnen das nicht?“

„Nein.“

Der Graf sagte das ruhig, konnte sich aber doch nicht enthalten, einen ängstlichen Blick auf den Kapitän zu werfen. In den Augen desselben leuchtete es zornig auf.

„Wie?“ fragte er. „Was sagen Sie? Mein Wort, mein Versprechen, mein Ehrenwort genügt Ihnen nicht?“

„Wie hoch Ihr Wort mir steht, das wissen Sie. Sie haben es oft und zur Genüge erfahren. Aber in diesem Fall kommt es in eben dem Grad, vielleicht noch mehr, auf das Wort einer anderen Person an.“

„Wen meinen Sie? Den Baron? Oder die Baronin?“

Der Graf kannte die Verhältnisse des Hauses genau. Er lachte verächtlich und sagte:

„Pah! Nach dem Willen oder den Wünschen dieser beiden fragen Sie doch auf keinen Fall!“

„Allerdings. Sie können also nur Marion selbst meinen.“

„Ja, sie ist es.“

„Nun, da beruhigen Sie sich sehr. Marion wird gehorchen!“

„Sie erlauben mir, das zu bezweifeln.“

„Wieso? Haben Sie Gründe?“

„Beobachten Sie doch die Dame, wie sie sich meinem Sohne gegenüber verhält.“

„Nun, wie denn?“

„Kalt abweisend, fast möchte ich sagen verächtlich.“

„Ja, das Mädchen hat Temperament, und Ihr Sohn gibt sich keine Mühe, sich ihrem Ideal zu nähern. Denn ein Ideal, so ein lächerliches Phantom, schafft sich ja jedes junge Ding. Er mag versuchen, sie zu gewinnen!“

Der Graf schüttelte den Kopf.

„Dazu habe ich keine Zeit. Ich bin gekommen, Sicherheit mit hinweg zu nehmen. Jetzt muß ich reisen. Was bieten Sie mir?“

„Ah! Denken Sie vielleicht an eine Verlobung?“

„Vielleicht!“

„Bei dem Zustand Ihres Sohnes? Er hütet das Bett; er ist Patient; er ist entstellt!“

„Nun, so mag mir die Zusage Marions genügen. Diese aber muß ich haben, wenn ich beruhigt abreisen soll.“

„Sie ist nicht nötig, Graf!“

„Und dennoch verlange ich sie. Wie nun, wenn Marion bereits gewählt hätte?“

Da zogen sich die Spitzen des weißen Schnurrbartes in die Höhe. Der Alte hatte jetzt jenes bissige Aussehen, welches man in den Augenblicken des Zorns an ihm zu beobachten pflegte.

„Die?“ fragte er in verächtlichem Ton. „Was hätte denn die zu wählen?“

„Und wenn es nun doch so wäre!“

„So bin ich doch derjenige, dem sie zu gehorchen hat, und dem sie gehorchen muß.“

„Überzeugen Sie mich!“

„Graf, Sie sind wirklich unbegreiflich! Aber aus alter Freundschaft will ich Ihnen den Willen tun. Ich werde mit Marion sprechen.“

„Wann?“

„Wann reisen Sie?“

„Morgen früh.“

„Ihr Sohn bleibt hier?“

„Ja. Sein Zustand verträgt nicht, daß er seinen hiesigen Aufenthalt unterbricht.“

„Nun gut, so werde ich nach der Tafel mit Marion reden, und dann können Sie deren Zustimmung aus ihrem eigenen Mund vernehmen.“

„Ich will es hoffen!“

„Übrigens habe ich Ihnen auch außer dieser Angelegenheit eine höchst erfreuliche Mitteilung zu machen. Ich erhielt, gerade wie Sie, heute Briefe; darunter befindet sich einer, den wir längst mit Sehnsucht erwartet haben.“

Der Graf horchte auf.

„Doch nicht aus New Orleans?“ fragte er rasch.

„Ja, doch.“

„Gott sei Dank! Wie lautet er? Zustimmend?“

„Ja. Die Firma sendet uns einen ihrer Beamten, einen Master Deep-hill, welcher den Auftrag hat, mit uns abzuschließen. Der Mann hat die Millionen bei sich und wird morgen mit dem Mittagszug hier eintreffen.“

„Von Trier oder Luxemburg aus?“

„Auf der ersteren Linie.“

„So haben wir gewonnen! Dies gibt mir die Hoffnung, daß auch die Privatangelegenheit sich glücklich ordnen lassen wird.“

„Verlassen Sie sich auf mich!“

Damit war diese Besprechung zu Ende. –

An der Mittagstafel ging es sehr einsilbig, fast möchte man sagen, düster her. Der Baron speiste wie ein Automat; er war geistesabwesend und sprach kein Wort. Der junge Graf konnte nicht erscheinen; sein Vater hatte keine Lust, ein Gespräch zu beginnen. Der alte Kapitän konnte es noch immer nicht verwinden, daß er gezwungen worden war, den Erzieher mit an dem Tisch zu sehen. Die Baronin, Marion und Nanon berücksichtigten diese Verhältnisse durch tiefes Schweigen, und wenn ja ein lautes Wort gehört wurde, so waren es nur Müller und Alexander, welche miteinander sprachen.

Nach Tisch, als sich alle erhoben, beorderte der Kapitän Marion und die Baronin auf sein Zimmer. Dies geschah in jenem harten, befehlenden Ton, welcher nie etwas Gutes verhieß.

Der Alte ging langsam in dem Raum auf und ab. Die Baronin erschien zuerst.

„Wo ist Marion?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Ich hatte natürlich Grund, sie hier zu vermuten.“

Sein Schnurrbart zuckte, aber er sagte doch nichts. Die Baronin nahm Platz, und beide warteten, bis endlich Marion in das Zimmer trat.

Der Alte lehnte sich an seinen Schreibtisch, musterte sie eine Weile und begann dann:

„Warum kamst du nicht sofort?“

Ihr Gesicht war bleich, aber ruhig. Sie ahnte den Gegenstand der Unterhaltung, und sie hob ihr Auge unerschrocken zu ihm auf und antwortete:

„Ich mußte erst Papa nach seinem Zimmer bringen.“

„Pah! Er kann selbst gehen! Du hast meinen Befehlen stets ohne alles Zaudern nachzukommen. Ich habe sehr Wichtiges mit dir zu besprechen.“

„So erlaube, daß ich mich setze.“

Sie machte Miene, nach einem Sessel zu greifen; er aber hielt sie durch eine gebieterische Handbewegung davon ab.

„Das ist nicht nötig!“ sagte er. „Was ich dir zu sagen habe, ist zwar wichtig, aber kurz. Du wirst gehorchen, und so ist die Unterredung in einer Minute beendet.“

Er fuhr sich mit der Hand über die kahle, glänzende Stirn, wendete sich an die Baronin und fragte:

„Sie wissen, Madame, weshalb ich Marion heimgerufen habe?“

„Ja, Herr Kapitän“, antwortete sie.

Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln nicht zurückzuhaltender Befriedigung. Sie wußte, worüber jetzt gesprochen werden sollte. Sie haßte Marion, haßte sie von ganzer Seele und freute sich, sie los zu werden, und ebenso großes Vergnügen gewährte ihr der Gedanke, daß das schöne Mädchen einem Mann gehören werde, den sie nicht liebte.

„Und weshalb Graf Rallion mit seinem Sohn sich gegenwärtig auf Ortry befindet?“ fragte der Alte weiter.

„Auch das weiß ich.“

„Ich denke mir, daß dieses Arrangement nicht gegen Ihren Geschmack sein wird?“

„Ich fühle mich vielmehr sehr befriedigt von demselben. Oberst Rallion hat eine Zukunft und ist überdies eine sehr interessante Persönlichkeit.“

„Hörst du, Marion! Der Brief, mittelst dessen ich dich zurückrief, enthielt bereits einen ziemlich deutlichen Wink. Seit deiner Rückkehr wirst du die Güte und Zweckmäßigkeit meiner Absichten erkannt haben, und so bin ich überzeugt, daß du dem Grafen eine freudige Antwort geben wirst, wenn er dich jetzt besucht, um dich zu fragen, ob er dich von heute an als die Verlobte seines Sohnes betrachten darf.“

Das ernste, blasse Gesicht Marions war während dieser Rede vollständig gleich geblieben. Noch stand sie an der Tür. Sie hatte auf ihre Absicht, einen Sessel zu nehmen, verzichtet. Auf ihre Stiefmutter hatte sie nicht einen einzigen Blick geworfen. Dem Alten aber blickte sie voll, fest und offen in die Augen, und auch ihre Stimme klang fest und sicher, als sie jetzt fragte:

„Du meinst, daß ich den Obersten Rallion heiraten soll? Welche Gründe hast du dazu?“

„Viele Gründe habe ich, verstanden? Doch du hast nichts danach zu fragen.“

Sie nickte leise vor sich hin und sagte:

„Nun, so will ich die kurze Unterhaltung nicht unnützerweise in die Länge ziehen und dir sagen, daß ich zweierlei einzuwenden habe.“

Das war doch ein ganz und gar eigentümliches Verhalten!

Es zuckte über des Alten Gesicht wie Wetterleuchten, dann fragte er:

„Nun, was ist es, was meinst du?“

Seine Stimme hatte einen wegwerfenden, beleidigenden Ton.

„Zweierlei, woran du gar nicht zu denken scheinst“, antwortete sie; „nämlich meine Menschenrechte und meinen persönlichen Willen!“

Da zog sich sein Bart drohend empor. Er fragte:

„Was soll das heißen?“

„Daß ich den von dir anbefohlenen Bräutigam zurückweise. Ich werde den Obersten Rallion nie heiraten!“



„Ah! Das ist lustig“, lachte er. „Wie willst du das anfangen, Marion?“

„Frage dich vielmehr, wie du es anfangen willst, mich zur Frau eines Mannes zu machen, den ich verabscheue!“

„Das kannst du dir denken! Ich werde dich zwingen!“

Sie zuckte die Achsel, und dieses charaktervolle, feste Achselzucken stand ihr gar prächtig zu dem ernsten, bleichen Gesicht.

„Auch das begreife ich nicht, wie du mich zwingen willst“, antwortete sie. „Ich bin kein Kind. Die Obrigkeit gewährt mir ihren Schutz. Wenn ich einem Mann gehöre, so wird es nur derjenige sein, den ich mir selbst wähle. Ich räume in dieser Angelegenheit weder dir noch einem anderen Menschen einen Einfluß oder gar ein Recht über mich ein!“

Das war dem Alten zu viel. Er trat einen Schritt auf sie zu und donnerte:

„Das wagst du mir zu sagen, mir, mir.“

„Ja, dir“, antwortete sie kalt.

„Du ahnst es nicht, welche Mittel ich habe, dich zu zwingen!“

„Du kannst nicht ein einziges haben!“

„Du bist ruiniert, wenn du nicht gehorchst!“

„Wohl! Ich werde das zu tragen wissen!“

„Deine Familie ist ebenso ruiniert!“

Da schüttelte sie mit einer wahrhaft königlichen Bewegung den Kopf und antwortete, indem sich ein geringschätziges Lächeln um ihre Lippen zeigte:

„Ich bitte dich dringend, solche verbrauchten Theatercoups zu vermeiden. In Romanen und auf der Bühne kommt es vor, daß eine Tochter, welche ihre Familie liebt, um diese vor dem Untergang zu retten, ihre Hand einem ihr verhaßten Mann gibt. Hier aber spielen wir nicht Theater, und sodann habe ich auch keine Veranlassung, meiner Familie ein solches Opfer zu bringen.“

„Ungeratene Person! Weißt du, daß wir dich aus dem Haus stoßen können?“

„Tut es! Dann bin ich frei. Das ist es ja, was ich wünsche!“

„Ah!“ knirschte er. „Frei! Frei willst du sein. Du gibst mir gerade das Mittel, dich zu zähmen, in die Hand. Ich werde dich einsperren, bis du dich fügst!“

„Das darfst du nicht. Das Gesetz bestraft die unerlaubte Freiheitsberaubung.“

„Was frage ich nach dem Gesetz. Hier gilt einzig und allein mein Wille. Den deinigen werde ich zu brechen wissen. Du hast mir sofort zu sagen, ob du mir gehorchen willst.“

Die Baronin hatte Widerwillen erwartet, aber keinen Widerstand. Sie erhob sich, besorgt, über die Szene, welche sich jetzt entwickeln werde. Der Alte hatte sich bei den letzten Worten Marion noch um einen Schritt genähert. Sie zeigte dennoch keine Spur von Frucht, sondern sie antwortete ohne die mindeste Scheu:

„Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.“

„So kommen die Folgen über dich! Zeig her, Mädchen!“

Er wollte mit beiden Händen nach ihr fassen, fuhr aber mit einem lauten Schreckenslaut zurück. Auch die Baronin sprang in die äußerste Ecke des Zimmers. Marion hatte die rechte Hand in der Tasche gehabt. Als der Alte sie erfassen wollte, zog sie dieselbe hervor: eine große Brillenschlange fuhr ihm mit weitgeöffnetem Rachen entgegen.

„Was ist denn das?“ rief er. „Woher ist die Bestie?“

„Ein Gruß aus Algerien ist es“, antwortete sie. „Fasse mich an, wenn du den Mut dazu hast.“

„Ah! Du hast mit Abu Hassan, dem Zauberer, gesprochen!“

„Ja“, antwortete sie.

„Wohin ist er?“

„Suche ihn! Und nun zwinge mich, den Obersten zu heiraten.“

Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Jetzt erst atmete die Baronin wieder auf.

„Mein Gott“, rief sie. „Welch ein Auftritt. Welch ein Affront. Dieses Mädchen wagt es, ein so giftiges, scheußliches Tier anzurühren.“

Der Alte wendete sich zu ihr und sagte:

„Jammern Sie nicht. Dieses Mädchen hat mich überrumpelt. Es ist das erstemal in meinem Leben, daß es geschehen ist. Die Schlange ist nicht giftig; die Zähne sind ihr genommen; sie würde zunächst ihre Trägerin beißen und töten.“

„Warum flohen Sie denn?“

„Die Überraschung. Aber es soll ihr nichts nützen. Wann und wo hat sie mit diesem Abu Hassan gesprochen? Was hat er ihr erzählt? Das muß ich wissen! Das muß ich erfahren.“

„Kennen Sie diesen Menschen?“

Jetzt erst merkte er, daß er sich eine Blöße gegeben hatte. Darum fuhr er sie zornig an:

„Was geht Sie das an! Gehen Sie! Gehen Sie zu der Dirne, und sagen Sie ihr, daß ich ganz bestimmt erwarte, daß sie bis zur Dämmerung des heutigen Tages ihren Entschluß ändere. Tut sie das nicht, so wird sie einsehen müssen, daß ich viel mächtiger bin als sie.“

Er schob die Baronin zur Tür hinaus und verschloß die letztere hinter sich. Niemand wußte, was er jetzt vornahm. Und selbst, als nach einiger Zeit der Graf klopfte, wurde nicht geöffnet, sondern es ertönte nur die Frage:

„Wer ist draußen?“

„Ich, Graf Rallion.“

„Was wollen Sie?“

„Antwort!“

„Warten Sie bis zur Dämmerung. Ich habe jetzt keine Zeit.“

Der Graf mußte ohne Resultat zurückkehren. –

Als Marion in ihr Zimmer kam, fand sie dort Nanon ihrer harrend. Diese hatte natürlich den Befehl des Alten vernommen und ahnte, daß die Freundin des Trostes bedürfen werde.

„Mein Gott, wie bleich du bist!“ rief sie ihr entgegen. „Was ist geschehen?“

„Was ich längst erwartete.“

„Oberst Rallion?“

„Ja, liebe Freundin.“

„Dein Großvater verlangte es, und was hast du geantwortet?“

„Das, was ich mir vorgenommen hatte: Ich werde nie Gräfin Rallion sein.“

Sie setzte sich neben Nanon auf das Sofa. Die Freundin brannte vor Neugierde, über die stattgefundene Szene unterrichtet zu werden, sagte aber doch vorher:

„Weißt du, was du über den Obersten sagtest, als du ihn zum ersten Mal gesehen hattest?“

„Nun?“

„Er sei nicht übel.“

„Weiter nichts?“

„Er erscheine galant, ja chevaleresk. Und nun?“

„Das war nicht ein Urteil von mir, sondern ich hatte nur die Absicht, den ersten Eindruck zu bezeichnen, den er auf mich machte.“

„Und dieser Eindruck hat sich verwischt?“

„Vollständig. Der Oberst ist ein Laffe, und nicht nur das, sondern er erscheint mir jetzt als ein herz- und gewissenloser Mensch. Und sein Vater macht einen Eindruck auf mich, der mich zum Fürchten bringen könnte. Denk an das Verhalten des Obersten gegen diesen armen, braven Doktor Müller.“

Nanon nickte.

„Ihm sein Gebrechen vorzuwerfen, an welchem er so schuldlos ist!“

„Müller hat die Beleidigung nur aus Rücksicht für mich so ruhig hingenommen. Er ist ein außerordentlicher Mensch. Er zwingt mir, trotzdem er bloß Lehrer ist, die allergrößte Achtung ab.“

„Und dazu seine sonderbare Ähnlichkeit mit – mit deinem Ideal“, bemerkte Nanon lächelnd.

„Es mag sein, daß dieses Naturspiel einen ganz unwillkürlichen Eindruck äußert; aber auch abgesehen davon, ist dieser Müller ein Mann, den man achten und vielleicht sogar – lieben könnte, wenn –“

„Nun, wenn?“

„Wenn er nicht – nicht –“

„Wenn er nicht nur Lehrer und noch dazu bucklig wäre?“

„Das allerdings. Er hat einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich gemacht. Es ist mir oft, als wenn ich ihn umarmen müsse. Dir als meiner innigsten Freundin darf ich das sagen. Ich könnte ihm mein Leben, meine Seele anvertrauen.“

„Oh weh. Und das Ideal?“

Marion blickte trübe vor sich hin.

„Es wird mir unerreichbar bleiben“, sagte sie. „Wo ist er, den ich damals gesehen habe? Wo ist er? Ist er Mann, ist er Jüngling? Es ist eine Torheit, sein Herz an ein Phantom zu hängen. Ich bestehe jetzt aus zwei Einzelwesen, die ich nicht begreife. Die Wirklichkeit wird mich leider bald zur Selbsterkenntnis bringen. Ich fürchte, daß ich einer trüben Zeit entgegengehe.“

Da legte Nanon den Arm um die Freundin und sagte:

„Ich werde mit dir dulden, ich werde dich nicht verlassen.“

„Ja, du Liebe, du Gute, das wirst du. Ich muß leider annehmen, daß der Großvater auf Schlimmes sinnt. Er ist höchst rücksichtslos und gewalttätig. Er wollte mich einsperren.“

„Einsperren? Mein Gott, wie bist du dem entgangen?“

„Ich habe ihm gedroht.“

„Womit?“

„Mit dem Gesetz.“

Das war allerdings wahr, aber die volle Wahrheit wollte sie doch nicht sagen. Der Besitz der Schlange war der Freundin bisher noch Geheimnis geblieben.

„Dieses Gesetz wird dich schützen“, sagte Nanon.

„Wenn ich Gelegenheit habe, es anzurufen. Wenn man sich meiner aber plötzlich bemächtigt, wie will ich da Zuflucht zu dem Richter finden?“

„Ich würde Anzeige machen.“

„Wer weiß, ob es fruchten würde. Wie waren wir vor kurzer Zeit noch so glücklich. Und jetzt? Weißt du, wie Müller mit mir ins Wasser sprang?“

„Und der andere mit mir“, fügte Nanon schnell hinzu.

„Jetzt ist es mir, als ob mir ein ganz ähnliches Unwetter, eine ganz gleiche Gefahr nahe sei. Und wenn ich während des Unterrichts bei dem Bruder sitze und des Müllers Augen ruhen forschend auf mir, so ist es mir, als ob ich mich ihm auch in dieser Gefahr anvertrauen könne und müsse.“

„Ist das nicht phantastisch, liebe Marion?“

„Was nennst du phantastisch? Gehören Gefühle in das Reich der Wirklichkeit oder der Phantasie? Willst du mich deswegen belächeln, weil ein einfacher Hauslehrer einen solchen Eindruck auf mich macht, daß ich stets und immer an ihn denken muß?“

„Nein. Er ist ja dein Lebensretter und hat auch deinen Bruder gerettet.“

„Und sodann, wenn er so still an der Tafel sitzt, oder wenn er sich so sicher mitten unter uns bewegt, so ist es mir, als ob er alles beherrsche, und als ob selbst der Großvater Furcht vor ihm haben müsse. Ich begreife mich eben nicht – ich, und er, ein Lehrer.“

Da legte Nanon das Köpfchen an ihre Schulter und sagte halblaut, fast im Ton der Verschämtheit:

„Wenn du dich nicht begreifst, ich begreife dich, Marion.“

„Du? Bist du so plötzlich eine so große Menschenkennerin geworden?“

„Ja, eine sehr große. Mein Beispiel erklärt mir nämlich das deinige.“

„Du spricht von einem Beispiel.“

„Ja. Auch ich habe jemand, an den ich immer denken muß.“

„Du? Du?“ fragte Marion überrascht.

„Ja, ich.“

Da schob Marion die Gesellschafterin sanft von sich fort, um ihr in das erglühende Gesichtchen blicken zu können und fragte, während aus ihrem Ton fast eine Art Entzückung klang:

„Du? Du? Kleine Nanon, du liebst?“

Die Gefragte senkte die Augen und antwortete:

„Ich weiß es nicht.“

„Aber du denkst an ihn?“

„Oft, sehr oft.“

„Und gern?“

„Mit Freuden. Und dann, wenn ich ihn treffe und mit ihm spreche, so –“

„Ach, du triffst ihn, du sprichst sogar mit ihm? Wo?“

„Denk dir, im Wald.“

„Im Wald? Das ist ja ganz und gar romantisch. Du hast einen Geliebten, ohne daß ich es weiß!“

„Ich kann es ja selbst nicht sagen, ob ich ihn liebe.“

„Das mußt du doch wissen.“

„Ich weiß nur, daß ich ihm gut bin, herzlich gut.“

„Nun, dann liebst du ihn auch. Darf ich vielleicht wissen, wer er ist? Oder muß es Geheimnis bleiben?“

„Vielleicht ist es besser, daß ich es verschweige. Du würdest dich wundern, du würdest mich schelten, oder gar mich auslachen.“

„Denke das ja nicht. Warum sollte ich denn das tun?“

„Weil er kein vornehmer Herr ist, den ich meine.“

„Dann irrst du sehr. Der, für welchen ich mich in neuerer Zeit so sehr interessiere, ist ja auch nur ein Lehrer.“

„Aber der meinige ist noch viel weniger.“

„So sage es doch.“

Da drängte sich Nanon ganz an die Freundin heran, verbarg das Gesicht ganz an deren Brust und sagte:

„Denk dir, er ist nur ein Kräutersammler.“

Marion machte eine Bewegung des Erstaunens. Sie fragte:

„Ein Kräutersammler? Wohl gar dein Lebensretter, und du triffst ihn im Wald?“

„Ja, ganz unwillkürlich.“

„Wie wunderbar“, sagte Marion. „Aber doch wie leicht erklärlich! Derjenige, dem man das Leben verdankt, hat jedenfalls das Verdienst, daß man oft und gern an ihn denkt. Weiß er, daß du ihn liebst?“

„Er bemerkt jedenfalls, daß ich ihn gut leiden kann. Und, meine liebe Marion, ich muß dir etwas gestehen, aber wirst du mich nicht auslachen, wirklich nicht?“

„Nein, meine Liebe, ganz gewiß nicht. Das sind so ernste Sachen, daß ich ans Lachen gar nicht denken werde.“

„Nun, so will ich dir gestehen, daß – daß ich ihn, daß ich ihn bereits geküßt habe!“

„Wirklich? Wirklich? Ist das möglich!“

„Ja“, antwortete Nanon, bis in den Nacken erglühend.

„Er hat dich geküßt, willst du wohl sagen?“

„Nein, sondern ich ihn!“

„Das ist ja unbegreiflich! Wie ist denn das gekommen?“

„Ich muß es dir erzählen. Wir trafen uns im Wald, zufällig, wirklich ganz zufällig. Ich hatte mich verirrt und rief aus Angst laut um Hilfe. Da kam er des Weges daher.“

„Und rettete dich abermals!“ lächelte Marion.

„Ja, er kam. Ich war müde und setzte mich, und er ließ sich neben mir nieder. Hast du ihn genau betrachtet?“

„Nein.“

„Nun, als er so vor mir im Moos lag, da fiel es mir auf, was für eine prächtige Gestalt er hat, so stark, so kräftig und doch so proportioniert. Seine Hände und Füße sind so klein, wie bei einem Aristokraten und gar nicht wie bei einem gewöhnlichen Pflanzensammler.“

„So genau hast du ihn betrachtet?“

„Ja; aber geh! Du lachst doch! Und sein Gesicht, so lieb und gut, seine Augen so treu und ehrlich. Wir sprachen viel; wir kamen auch darauf, daß er mich aus dem Wasser gerettet hatte, und da redete ich von Dankbarkeit, die ich gar nimmer abtragen könne. Da sagte er, daß ich mit einem Mal die ganze Schuld bezahlen könne, und zwar so, daß nun er mein Schuldner werde.“

„Was verlangte er? Ich ahne es! Einen Kuß.“

„Nein. Er ist gut und bescheiden! Er bat mich um die Erlaubnis, meine Hand küssen zu dürfen.“

„Das erlaubtest du ihm natürlich!“

„Nein. Ich weiß gar nicht, wie mir wurde und was mich da überkam. Es war eine große, gewaltige Rührung. Ich hätte weinen mögen, ob vor Freude, oder vor Schmerz, das weiß ich nicht. Es war mir, als sei es geradezu eine Beleidigung, eine Herabsetzung, wenn ich ihm meine Hand zum Kuß gäbe, und da – da hielt ich ihm lieber den Mund hin.“

„Ich kann mir's denken; das war wie Inspiration. Du konntest nicht anders?“

„Ja, so ist es. Hast du so eine Eingebung auch an dir erfahren?“

„Oft; aber ich habe ihr nicht Folge geleistet.“

„Warum nicht?“

„Dieser – dieser – o bitte, laß das sein! Wenn ich so seine Gestalt betrachte und seine Züge, so ist es mir, als ob ich ihn gleich küssen möge; aber dann fällt mein Auge auf – auf – auf den –“

„Ich verstehe! Du meinst den Doktor Müller?“

„Ja. Also er küßte dich auf den Mund?“

„Ja und auch nein; denn diese Berührung war so zaghaft, so vorsichtig, so zart! Und dann war er so glücklich und sagte, daß er nun niemals wieder küssen werde, denn der Mund, der mich geküßt hatte, dürfe keine anderen Lippen wieder berühren. Das klang so lieb und wahr und aufrichtig. Und dabei wurden seine Augen feucht. Ich sah, daß er mich anbetete und sich doch nicht getraute, mich liebzuhaben.“

„Wie herzig!“

„Ja. Und da ging mir abermals das Herz auf. Ich weiß nicht, wie es kam und geschah, aber ich faßte ihn ganz herzhaft beim Kopf, und küßte ihn nun selbst auf den Mund, ich glaube gar, dreimal!“

„Nanon, ich glaube, das ist Liebe, wirkliche Liebe!“

„Meinst du?“

„Ja. Und du hast ihn dann wiedergesehen?“

„Einige Male.“

„Nur zufällig?“

„Ganz zufällig! Aber es ist mir, als spräche eine innere Stimme zu mir: Jetzt mußt du in den Wald, denn er ist dort.“

„Und dann findest du ihn auch wirklich?“

„Jedesmal.“

„Ich möchte das beinahe begreifen. Aber, liebste Nanon, wir wollen einmal recht aufrichtig und ernst sein! Was soll aus dieser Liebe werden?“

„Weiß ich es?“

„Ein Kräutersammler!“

„Ah, das meinst du? Du glaubst, ich stehe zu hoch für ihn? Da täuschest du dich! Jetzt, ja, jetzt ist er ein gewöhnlicher Arbeiter; aber – doch, da hätte ich beinahe mein Wort gebrochen!“

„Welches Wort?“

„Zu schweigen. Ich soll auch nicht das mindeste davon erzählen.“

„Wovon denn? Das klingt ja ganz außerordentlich geheimnisvoll!“

„Das ist es auch. Nicht einmal zur dir darf ich davon sprechen. Ich habe es meiner Schwester geschrieben, aber darüber ist er beinahe zornig geworden. Es ist so rührend, wenn er zornig werden möchte und doch nicht kann!“

„So handelt es sich also wirklich um ein Geheimnis!“

„Und sogar um ein ganz außerordentliches! Sobald ich wieder mit ihm spreche, werde ich fragen, ob ich es dir sagen darf.“

„Tu das! Wann triffst du ihn wieder?“

„Morgen mittag.“

„Ich denke, da vereisest du!“

„Ja freilich! Aber er fährt ja mit!“

Da schlug Marion die Hände zusammen und sagte:

„Nun seht mir einer diese Nanon! Sie bestellt den Geliebten, um sie auf der Bahn zu begleiten!“

„Geh! Das ist anders, als du denkst! Er ist gar nicht so wie andere Männer. Ihm darf man sich gern anvertrauen!“

Eben wollte Marion eine weitere Entgegnung machen, da klopfte es an die Tür, und dann trat die Baronin ein.

„Fast hätte ich es vergessen“, sagte sie. „Mich sendet der Herr Kapitän.“

Marion erhob sich, bleib aber in reservierter Haltung stehen. „Da ist der Bote dessen würdig, der ihn sendet.“

Die Baronin tat, als ob sie die Beleidigung nicht vernommen hätte und fuhr fort:

„Er gibt dir bis zur Dämmerung Zeit zum Überlegen.“

„Danke!“

„Gehorchst du dann noch nicht, so hast du dir selbst die Folgen zuzuschreiben!“

„Ich werde sie nicht mir, sondern euch zuschreiben. Hoffentlich ist diese Angelegenheit nun für immer erledigt!“

Die Baronin verließ das Zimmer. Marion trat an das Fenster und blickte hinaus. Sie konnte nicht sagen, welche Gefühle sie bewegten. Sie hatte ja vorhin selbst gestanden, daß sie jetzt aus zwei Wesen bestehe, die sie nicht begreifen könne.

„So hat man dir also noch eine Frist gegeben!“ sagte Nanon.

„Eine sehr unnötige Frist, denn ich werde meinen Entschluß auf keinen Fall ändern.“

„Aber was wird dann geschehen?“

„Das mag Gott bestimmen. Mir ist so eigentümlich zumute. Ich muß denken, muß mir klarwerden. Ich werde einen Spaziergang unternehmen.“

„Wohin? Darf ich dich begleiten?“

„Ich setze mir kein Ziel. Willst du recht freundlich sein, so laß mich allein gehen. Es gibt Zeiten, in denen man nur mit sich selbst zu Rate gehen darf.“

„Aber dann bitte ich, daß du dich sogleich nach deiner Rückkehr bei mir sehen läßt!“

Sie verabschiedete sich und ging.

Erst jetzt griff Marion in die Tasche und zog die Schlange hervor. Damen hegen gewöhnlich eine unüberwindliche Abneigung gegen Reptilien. Es war wunderbar, daß das schöne Mädchen keinen Abscheu fühlte.

„Er hat recht gehabt; du hast mich geschützt!“ sagte sie. „Komm, ich werde dich wieder verbergen.“

Sie trat zu ihrer kleinen Bibliothek und versteckte das Tier hinter die Bücher, wo sie von Watte ein Lager für dasselbe bereitet hatte. Dann kleidete sie sich zum Ausgehen an und verließ das Schloß, ohne am Spaziergang gehindert zu werden.

Ihr Weg führte sie in den Wald, zum alten Turm, an das Grab der Mutter. Dort im Turm, auf den Stufen, hatte sie mit Müller gesessen an jenem Gewittertag!

Wie kam es doch nur, daß sie immer und immer an den Erzieher denken mußte. Machte die Art seines Unterrichts einen solchen Eindruck auf sie? Gab es gewisse sympathische Beziehungen, die ja kein Mensch begreifen kann? Sie überließ sich diesen Regungen, ohne sich über dieselben Rechenschaft zu geben.

Am Grab kniete sie nieder und betete. Sie ahnte nicht, daß es geöffnet worden war. Während des Gebetes fiel ihr Blick auf die eingefallene Zinne des Turms, und es war ihr, als müsse jene geheimnisvolle Gestalt erscheinen, welche damals das islamitische Gebet hinaus in Wind und Wetter gerufen hatte. Es war darauf heller Sonnenschein geworden.

Gibt es auch Gebete, welche die Stürme des Herzens und des Lebens beschwichtigen können?

Fast war es so; denn als sie sich jetzt erhob, war eine wunderbare Ruhe über sie gekommen. Sie schritt weiter, aus dem Wald hinaus, über das freie Feld. Der Weg senkte sich, und dann stand sie unten im Steinbruch, dessen Wände senkrecht in die Höhe stiegen. Sie maß mit ihrem Auge den jähen Absturz. Da oben auf diese fürchterliche Kante war ihr Bruder zugeflogen. Sie schauderte. Müller hatte ihn gerettet! Wieder dieser Müller! Warum doch?

Ein großer Stein lag in der Nähe. Sie ließ sich auf demselben nieder. Sie hatte dasselbe Täschchen am Gürtel hängen wie damals auf dem Dampfschiff. Sie öffnete es und langte hinein. War es unwillkürlich oder mit Absicht? Sie zog die Photographie hervor, welche sie sich in Berlin erbeutet hatte.

Das Bild hatte selbst im Wasser der Mosel nicht gelitten, da der Verschluß ein dichter war. Sie richtete ihr Auge auf die Photographie. Wie oft, wie unzählige Male war dies in letzter Zeit geschehen! Und dann war es nicht jener glänzende Reiter gewesen, an den sie dachte, sondern Müller, der unscheinbare Erzieher.

Da hörte sie nahende Schritte. Schnell steckte sie die Photographie wieder ein und wendete sich um, dem Mann entgegen, welcher soeben um die Ecke trat. Es war – Müller.

Sie erhob sich. Eine tiefe Röte verbreitete sich über ihr Gesicht. Er war überrascht, aber nicht verlegen, als er sie erblickte. Er zog den Hut, grüßte und sagte:

„Sie hier, gnädiges Fräulein? Verzeihung! Gestatten Sie mir, mich zurückzuziehen.“

Sie schüttelte leise den Kopf und antwortete:

„Sie verursachen mir keine Störung, Monsieur Müller.“

„Und doch ist die Einsamkeit ein Heiligtum, welches man nicht entweihen soll, Fräulein.“

„Suchten vielleicht Sie, allein zu sein?“

„Nein. Mein Weg führt zufällig hier vorüber, und da trat ich in den Bruch, um –“

„Um den Schauplatz einer kühnen Tat wieder zu sehen“, fiel sie ihm in die Rede. „Ich sehe erst jetzt, was wir Ihnen zu danken haben. Wissen Sie, daß Sie ein verwegener Mann sind, Monsieur Müller?“

Er verbeugte sich und antwortete höflich ablehnend:

„Man handelt im Drang des Augenblicks.“

„Ja, ein jeder Mensch tut das. Aber der eine kämpft, und der andere flieht im Drang dieses Moments. Und hierbei fällt mir ein, daß ich Sie um Verzeihung zu bitten habe.“

Er blickte sie fragend an, und sie fügte hinzu:

„Erinnern Sie sich meiner Verwunderung darüber, daß Sie die Beleidigung des Obersten Rallion so ruhig hinnahmen?“

„Es ist mir gegenwärtig“, antwortete er.

„Was ich damals für Mangel an Mut hielt, war Heldentum: Sie siegten über sich selbst.“

Da trat eine freudige Röte in sein Gesicht; seine Augen blitzen auf, und er sagte im Ton herzlicher Freude:

„Nehmen Sie meinen Dank, Mademoiselle. Sie bieten mir da eine Gabe, welche für mich von höchstem Wert ist.“

„Und Sie brachten mir ein Opfer, welches Ihnen große Überwindung kostete, ohne mir eine Freude zu machen.“

„Wie! Sollte es Ihnen lieber gewesen sein, wenn ich den Obersten niedergeschlagen hätte?“

„Ich hätte Ihnen nicht gezürnt.“

Er blickte sie forschend an. Tief, tief hinten in seinen blauen Augen funkelte etwas, als ob die helle Sonne durch dunkle Wolken brechen möchte und doch nicht dürfe.

„Das konnte ich nicht denken“, sagte er. „Es wurde mir gesagt, daß der Oberst im Begriff stehe, zu Ihrer Familie in Beziehungen zu treten –“

„Die niemals existieren werden“, unterbrach sie ihn. „Bitte, setzen Sie sich hier neben mich, Monsieur! Ich möchte eine Frage an Sie richten.“

Er gehorchte ihrem Befehl. Der Stein war von keinem bedeutenden Umfang; er mußte ganz dicht bei ihr Platz nehmen. Sie langte in die Tasche und zog ein Papier hervor, aber nicht nur dieses, sondern auch die Photographie mit, welche zur Erde fiel. Sie hatte dies gar nicht bemerkt; er aber sah es und bückte sich nieder, um sie aufzuheben.

Sein Blick fiel auf das Bild. Was war denn das? Ein gewaltiger Schlag durchzuckte ihn, aber nicht ein schmerzender, sondern es war, als ob die Seligkeit eines ganzen Himmels ihn durchflutete.

Sein Bild! Wie kam sie in den Besitz desselben?

Jetzt erst bemerkte sie es. Sie erglühte, wurde aber nicht verlegen. Sie streckte die Hand aus und sagte:

„Ah, da ist mir die Photographie mit in die Hand gekommen. Ich danke! Bitte, betrachten Sie sich dieses Bild.“

Er tat, als habe er noch keinen Blick darauf geworfen, und musterte sein eigenes Konterfei.

„Wie finden Sie es?“ fragte sie.

„Hm! Ein preußischer Offizier“, sagte er.

„Höchstwahrscheinlich. Ich kenne ihn nicht. Halten Sie das für möglich?“

„Wenn Sie es sagen, so ist es wahr.“

„Ich ließ mich in Berlin photographieren. Der Photograph hat mir aus Versehen das Porträt dieses Offiziers mit unter meine Abzüge gesteckt.“

Es war ein feines Lächeln, welches um die Lippen Müllers spielte. Eine Photographie, welche man nur dem Zufall verdankt, trägt man nicht beständig mit sich herum.

„Bemerken Sie nichts Auffallendes an dem Bild?“ fragte sie.

Er forschte nach dem, was sie meinte, schien es aber nicht finden zu können.

„Ich gestehe meine Insolvenz ein“, lächelte er.

„Das ist wunderbar. Finden Sie nicht die große Ähnlichkeit heraus?“

„Mit dem Original? Wie sollte ich diesen Offizier kennen.“

„Nein, mit Ihnen, mit Ihnen selbst. Bemerken Sie das wirklich nicht?“

Er betrachte die Photographie jetzt scheinbar aufmerksamer als vorher und sagte dann:

„Es gibt allerdings einige ähnliche Züge. Die Natur treibt oft das gleiche Spiel.“

„Einige Züge? Das ist zu wenig gesagt. Es ist ganz genau Ihr Gesicht. Nur Ihr Haar ist ein anderes, und Ihr Teint ist dunkler, auch tragen Sie keinen Bart, während dieser Offizier einen solchen von seltener Schönheit besitzt. Aber nicht dieses Bild ist es, über welches ich mit Ihnen sprechen wollte, sondern dieses Papier. Bitte, wollen Sie es sich einmal ansehen.“

Es war nicht ein einfaches Papier, sondern es waren zwei zusammengefaltete und vollgeschriebene Bogen.

„Kennen Sie diese fremde Schrift?“

„Ja, es ist Arabisch.“

„Verstehen Sie diese Sprache?“

„Soweit, daß ich diese Zeilen lesen kann, ja.“

Ihr Auge ruhte mit einem bewundernden Blicke auf ihn.

„Monsieur Müller, ich erstaune“, sagte sie. „Bis jetzt fand ich nichts, was Sie nicht kennen und verstehen. Wie kommen Sie zur Kenntnis dieser Sprache?“

„Mein Vater ist in der Sahara gereist. Der Sohn pflegt von den Kenntnissen des Vaters zu profitieren.“

„Das ist richtig. Ich muß Ihnen zunächst sagen, daß diese Zeilen ein Geheimnis enthalten, welches, das weiß ich selbst nicht. Ich will es kennen lernen; ich habe Veranlassung dazu. Kennen lernen aber kann ich es nur durch Sie. Werden Sie es bewahren?“

„Mademoiselle!“ rief er. „Ich bitte dringend, nicht an meiner Verschwiegenheit zu zweifeln.“

„Gut. Ich vertraue Ihnen. Wollen Sie einmal lesen?“

„Gern. Doch erlauben Sie mir zuvor, diese Zeilen einmal zu überfliegen.“

Sie nickte ihm zu, und er las. Unterdessen ruhte ihr Auge auf ihm. Hätte er sich nicht mit Walnußabkochung einen falschen Teint gemacht, so hätte sie bemerken müssen, daß er tief, tief erbleichte. Aber auch so glaubte sie zu gewahren, daß die Schrift einen ungewöhnlichen Eindruck auf ihn machte. Sie fragte:

„Verstehen Sie diese Worte?“

„Vollkommen, nur zu sehr, Mademoiselle“, antwortete er, indem er tief Atem holte.

„Und was enthalten sie? Bitte, übersetzen Sie es mir.“

Er schüttelte langsam den Kopf, las noch bis zu Ende, faltete dann das Papier zusammen und fragte:

„Haben Sie eine Ahnung von der Wichtigkeit, welches dieses Dokument für Sie hat?“

„Daß es wichtig ist, wurde mir gesagt, in welchem Grad aber, das ist mir nicht bekannt.“

„Von wem haben Sie es?“

Sie machte eine abwehrende Handbewegung und antwortete:

„Ich glaube nicht, dies sagen zu dürfen.“

„So glaube ich aber auch nicht, es übersetzen zu dürfen.“

„Ah! Sie wollen sich weigern?“

„Ja“, antwortete er einfach.

„Aus welchem Grund?“

„Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, so darf auch ich Ihnen keins schenken.“

Da nahmen ihre Züge eine Strenge an, welche man diesem engelschönen Gesicht wohl schwerlich zugetraut hätte. Sie sagte:

„Monsieur, was soll ich von Ihnen denken. Ist das Höflichkeit? Heißt das Wort halten? Ich sehe, daß ich mich in Ihnen geirrt habe. Geben Sie mir das Papier zurück.“

Er erhob sich und verbeugte sich.

„Hier, Mademoiselle!“ sagte er. „Sie haben sich keineswegs in mir geirrt. Der Inhalt dieser Zeilen ist für mich vielleicht von größerer Wichtigkeit als für Sie. Indem ich sie Ihnen zurückgebe, bringe ich Ihnen ein Opfer, von dessen Größe Sie gar keine Ahnung haben. Adieu!“

Er drehte sich zum Gehen. Sie blickte ihm bestürzt nach, ließ ihn einige Schritte tun und rief aber dann:

„Monsieur! Halt!“

Er hielt an und wendete sich ihr wieder zu.

„Sie befehlen?“

„Kommen Sie wieder her.“

Er gehorchte ihr.

„Sollte wirklich das Wunder stattfinden, daß diese Schrift auch für Sie von Wichtigkeit ist?“

„Ganz gewiß.“

„Inwiefern?“

„Das darf ich nicht sagen, da auch Sie kein Vertrauen zeigen.“

„Mein Gott! Ist es denn so schwer, an mich zu glauben.“

Er hätte ihr zu Füßen sinken mögen, so schön und hoheitsvoll stand sie vor ihm. Er antwortete:

„Ich glaube Ihnen, und ich vertraue Ihnen, Mademoiselle. Ich bin bereit, Ihnen alle, alle meine Geheimnisse anzuvertrauen, aber ich darf es doch nicht tun.“

„Sie glauben an mich, Sie vertrauen mir, und dürfen mir dieses Vertrauen doch nicht schenken? Das verstehe ich nicht, ganz und gar nicht.“

„Und doch ist es sehr leicht erklärlich. Diese Geheimnisse sind nämlich nicht allein mein Eigentum.“

„Das lasse ich gelten.“

„Und sodann würde Ihnen die Enthüllung Schmerzen bereiten, gnädiges Fräulein.“

„Wirklich?“

„Ja, gewiß!“

„Nun, so bitte ich um so dringender um diese Enthüllung. Ich bin keineswegs ungewohnt, Schmerzen zu ertragen.“

Da nahm er sie bei der Hand, führte sie zu dem Stein und sagte in bittendem Ton:

„Nehmen Sie wieder Platz, Mademoiselle, und haben Sie die Güte, mir einige Fragen zu beantworten.“

Sie gehorchte seiner Bitte und sagte:

„Fragen Sie, Monsieur. Sie werden jede Antwort erhalten, die mir möglich ist.“

„Dann muß ich Ihnen zuvor eine Bemerkung machen, welche mir Ihren höchsten Zorn zuziehen wird; aber ich kann nicht anders; ich muß sprechen.“

„Ich glaube schwerlich, daß ich zornig über Sie werden kann. Ich habe Sie als einen Mann kennen gelernt, der nichts ohne gute Gründe tut.“

„Und dennoch wird es so sein. Mademoiselle, erschrecken Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, daß es einen Menschen gibt, der Sie liebt, wie wohl noch selten ein Mensch geliebt hat. Sie sind sein Abgott, sein Leben, seine Seligkeit. Er ist bereit, für Sie alles, alles, aber auch alles zum Opfer zu bringen, nur seine Ehre nicht. Er würde gern tausend Schmerzen erdulden, nur um Ihnen eine kleine Freude zu machen. Er sollte von seiner Liebe nicht sprechen, denn sie ist unbeschreiblich. Dieser Mann bin ich.“

Er hielt inne. Sie war bleich, sehr bleich geworden. Sie blickte ihn mit großen Augen an und sagte kein. Wort. Er nahm dies für die Erlaubnis, fortfahren zu dürfen.

„Dies mußte ich voraussenden, Mademoiselle“, sagte er. „Ein Mann, der keine anderen Gedanken hat, als nur Sie, Sie allein, wird es ehrlich mit Ihnen meinen. Wenn ich frage, so habe ich die triftigsten Gründe dazu, selbst, wenn ich dieselben noch nicht angeben darf. Bitte, von wem haben Sie die Schrift erhalten? Von Abu Hassan, dem Zauberer?“

„Ja.“

„Hat er Ihnen gesagt, in welcher Beziehung er zu dem Inhalt dieser Zeilen steht?“

„Nein.“

„Und zu Ihrer Familie?“

„Nein“, antwortete sie, ihn erstaunt anblickend.

„Wann sprachen Sie mit ihm?“

„Am Abend des zweiten Tages nach jener unglücklichen Vorstellung in Thionville.“

„Wo trafen Sie ihn?“

„Im Garten von Ortry. Er hatte mich da abgelauert.“

„Darf ich das Gespräch erfahren, welches er mit Ihnen führte?“

„Ich befand mich allein im Garten, da trat er zu mir. Ich erschrak, aber er beruhigte mich.“

„Er erwähnte Liama, Ihre Mutter?“

„Ja. Er sagte mir, ihr Geist sende ihn zu mir, mich zu beschützen.“

„Er meint es gut mit ihnen, er ist ein braver, ein ehrlicher Mann. Bitte, weiter.“

„Er sagte mir auch, daß mir vom Kapitän Unheil drohe.“

„Da hatte er recht.“

„Um dieses Unheil abzuwenden, vertraute er mir zwei Talismane an.“

„Welche?“

„Diese Schrift und eine Schlange.“

„Ah! Eine von seinen Brillenschlangen?“

„Ja. Er sagte mir, wenn der Kapitän mich zu etwas zwingen wolle, was gegen mein Glück sei, so solle ich mich mit dieser Schlange verteidigen. Ihr bloßer Anblick sei geeignet, einen Angriff zurückzuweisen. Sie sei zwar nicht mehr giftig, aber ihr Maul sei doch mit Zähnen besetzt, welche Wunden verursachen, die nur sehr schwer heilen.“

„Sie haben die Schlange wirklich in Empfang genommen, ohne sich vor ihr zu fürchten?“

„Dieser Mann flößte mir großes, unbeschreibliches Vertrauen ein.“

„Er hat es verdient. Haben Sie die Schlange noch?“

„Ja. Ich habe ihr ein verborgenes Nestchen hergestellt. Sie ist bereits ganz und gar an mich gewöhnt.“

„Und niemand hat sie gesehen?“

„O doch! Der Kapitän und die Baronin haben sie heute nach Tisch gesehen. Ich ahnte, daß mir Gefahr drohe, und nahm das Tier mit mir.“

„Und diese Gefahr trat auch wirklich ein?“

„Leider. Der Kapitän wollte mich zwingen, mich dem Oberst Rallion zu verloben. Ich widerstand; der Kapitän wollte mich, wie es schien, der Freiheit berauben. Er streckte die Hände nach mir aus, um sich meiner zu bemächtigen; da hielt ich ihm die Schlange entgegen, und er ließ ab von mir.“

Wie wohl, wie unendlich wohl tat ihm diese Nachricht und diese Aufrichtigkeit. Er sagte:

„Ich danke Ihnen für das Vertrauen, welches sich in dieser Mitteilung ausspricht. Aber werden Sie nicht auch noch weiterhin des Schutzes bedürfen?“

„Ich habe Grund, dies zu vermuten, denn man hat mir nur eine Bedenkzeit bis heute zur Dämmerung gestellt.“

„Ah! Dann wird die Schlange Ihnen nichts mehr nützen. Der Kapitän wird denken, daß sie nicht giftig ist.“

„So greife ich zum zweiten Talisman.“

„In welcher Weise soll er helfen?“

„Abu Hassan sagte, wenn ich in eine sehr große Gefahr käme, solle ich die Schrift der Obrigkeit übergeben.“

„Er ist Orientale, also mehr oder weniger Phantast. Er kennt die hiesigen Verhältnisse nicht. Die Zeilen sind nicht imstande, als Deus ex machina zu Ihren Gunsten zu wirken.“

„Er versprach es mir aber.“

„Das glaube ich gern. Aber wie nun, wenn der Kapitän Sie einsperrt, so daß Sie die Schrift gar nicht an die Obrigkeit gelangen lassen können? Wie nun, wenn er sie Ihnen abnimmt und vernichtet?“

„Ah, daran dachte ich nicht.“

„Abu Hassan hat ebenso wenig daran gedacht. Und selbst wenn diese Zeilen in die Hände des Anklägers oder Richters gelangen, sind sie vollständig wertlos. Es ist da eine Geschichte erzählt, aber es fehlt vollständig die Garantie der Wahrheit derselben. Ich glaube, ein Rat von mir ist Ihnen nützlicher als diese beiden Talismane. Erwarten Sie heute einen abermaligen Angriff?“

„Mit voller Bestimmtheit.“

„Dann gibt es ein prächtiges Mittel, den Angreifer sofort niederzuschmettern. Aber bitte, erlauben Sie mir die Frage, ob Sie den Alten lieben?“

„Mir graut vor ihm. Ich berühre lieber die Brillenschlange als die Hand dieses Mannes. Und doch ist er mein Verwandter.“

„Vielleicht täuschen Sie sich da. Lieben Sie vielleicht die Baronin?“

„Nein, ich verachte sie.“

„So haben Sie auch durchaus keine Veranlassung, diese beiden zu schonen. Hören Sie also meinen Rat. Wenn heute der Kapitän einen Zwang auf Sie äußern will, so fragen Sie ihn, ob er folgende Personen gekannt habe: den Hadschi Omanah, den Sohn desselben, den Fruchthändler Malek Omar und den Gefährten desselben, welcher sich Ben Ali nannte. Haben Sie sich diese Namen gemerkt, Mademoiselle?“

„Ja. Hadschi Omanah, seinen Sohn, den Fruchthändler Malek Omar und dann Ben Ali, seinen Gefährten.“

„Gut. Die beiden ersteren wurden eines Abends von den beiden letzteren ermordet, gewisser Papiere willen, welche die Mörder an sich nahmen.“

„Mein Gott! Steht der Kapitän vielleicht in einer Beziehung zu diesem Mord?“

Der Gefragte wiegte den Kopf hin und her und erkundigte sich anstatt der direkten Antwort:

„Halten Sie ihn eines Mordes fähig?“

„Ich weiß es nicht zu sagen.“

„So lassen wir es einstweilen dahingestellt sein, warum ich Ihnen diese Namen nenne. Kennen Sie die Vergangenheit des Kapitäns?“

„Ja. Er ist pensionierter Offizier der alten Kaisergarde.“

„Hm! Haben Sie einmal den Namen Goldberg gehört?“

„Nein.“

„Oder Königsau?“

„Ja. Ich entsinne mich, daß dieses Wort von dem Grafen Rallion ausgesprochen wurde, und daß der Kapitän darauf in eine entsetzliche Aufregung geriet.“

„Hat der Kapitän Geschwister gehabt?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hat Ihr Papa, der Baron, in Deutschland vielleicht Verwandte?“

„Auch das ist mir unbekannt.“

„Das ungefähr sind die Fragen, die ich an Sie zu richten hatte. Ich habe mich orientiert, soweit dies notwendig war, und ich möchte nur noch wissen, wohin der Zauberer gegangen ist.“

„Nach der Sahara, sagte er.“

„Wird er wiederkommen?“

„Ja. Er sprach von Beweisen, welche er bringen wolle.“

„Wofür oder wozu?“

„Das verschwieg er mir.“

„So will ich Ihnen ein großes Geheimnis mitteilen. Erinnern Sie sich des Gewitters, währenddessen wir uns im alten Turm befanden?“

„Noch sehr genau“, antwortete sie.

Sie hatte doch erst vorhin an dieses Ereignis gedacht.

„Wir sahen da die Gestalt, welche an uns vorüberging und die Turmtreppe bestieg?“

„Den Geist meiner Mutter“, nickte Marion, indem ein leiser, wie geistiger Schimmer ihr Gesicht überflog.

„So dachten Sie; ich aber teilte Ihnen mit, daß ich nicht an die überirdische Natur dieser Erscheinung glaubte. Ich wollte die Gestalt verfolgen, aber Sie hielten mich zurück.“

„Ich weiß dies noch sehr genau. Alle Welt erzählt sich, daß meine arme Mutter im Grab keine Ruhe habe, weil sie nicht die Anhängerin des allein seligmachenden Glaubens gewesen sei.“

„Und alle Welt täuscht sich; denn Ihre arme Mutter ist gar nicht gestorben. Und ist sie ja gestorben, so hat sie ihre Ruhestätte in einer anderen Gegend gefunden. Wahrscheinlicher aber ist mir der erstere Fall. Ich möchte wetten, daß Liama, die Tochter der Beni Hassan, noch am Leben ist.“

Marion hatte ihm zugehört, die weitgeöffneten Augen starr auf ihn gerichtet.

„Großer Gott!“ sagte sie jetzt. „Haben Sie vielleicht Gründe zu dieser Vermutung?“

„Sogar sehr triftige. Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich der Verbündete des Zauberers war. Er kam von Afrika, um Liama, die Tochter seines Scheiks, zu suchen. Er hörte, daß sie tot sei, und er wollte sich überzeugen, ob man ihre Überreste wirklich bestattet habe. Wir haben des Nachts ihr Grab geöffnet.“

Marion stand da, selbst starr wie eine Tote. Ihre Lippen bebten, und erst nach längerer Pause stieß sie hervor:

„Das haben Sie getan? Und was haben Sie gefunden?“

„Einen mit Steinen gefüllten Sarg, eine Leiche hat nie darin gelegen.“

„Mein Heiland! Das ist ja entsetzlich. Sollte sie anderswo begraben sein?“

„Das glaube ich nicht. Welchen Grund hätte man dann gehabt, dieses Grab als das ihrige auszugeben?“

„Ja. Ich war ja als Kind selbst dabei, als man ihren Sarg hier in die Erde senkte. Es geschah das ohne Sang und Klang, ohne Predigt und Segen, weil sie ja eine ‚Heidin‘ gewesen war. Sie ist nirgends anderswo begraben.“

„So bleibt nur die Annahme, daß sie damals gar nicht gestorben ist.“

„Sie lebt also noch. Aber wo? Wo, Monsieur Müller?“

Das schöne Mädchen befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung, er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und antwortete:

„Ich vermute, daß Liama ihre Zustimmung zu dem Coup gegeben hat, welcher da ausgeführt worden ist. Welche Gründe sie dabei gehabt hat, das werden wir jedenfalls noch erfahren.“

„Und mein Vater weiß es auch?“

„Vielleicht. Ich möchte behaupten, daß sein gegenwärtiger Geisteszustand zu diesem Geheimnis in inniger Beziehung steht. Man hat Ihre arme Mutter veranlaßt, zu verschwinden, damit die jetzige Baronin ihre Stelle einnehmen könne. Warum, das werden wir vielleicht noch entdecken.“

„Aus alledem ersehe ich, daß ich die Verhältnisse meiner eigenen Familie nicht kenne, und daß ich von Geheimnissen und von – Verbrechen umgeben bin.“

„Wahrscheinlich vermuten sie da das Richtige.“

„Gott, mein Gott! An wen soll ich mich denn da halten?“

„An den, den Sie da soeben genannt haben, nämlich an Gott. Und wenn es Ihnen möglich sein sollte, zu mir ein wenig Vertrauen zu fassen, so stelle ich mich Ihnen mit Leib und Leben, mit allem, was ich habe und bin, zur Disposition.“

Da streckte sie ihm ihre beiden Hände entgegen und sagte:

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich habe die Meinigen nie lieben und achten und mich nie in der Heimat wohlfühlen können. Ich bin mir vorgekommen, wie ohne Halt und Wurzel im Leben. Es hat in mir gelegen wie eine Ahnung, daß alles um mich her eine einzige große Lüge sei. Und nun geben Sie mir Gewißheit und zugleich die Hoffnung, daß alles Dunkel klar werden könne. Ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie selbst kommen mir vor wie ein Rätsel, welches ich noch zu lösen habe, aber Sie werden mir dabei helfen.“

Er trat zurück, ohne die ihm dargebotenen Hände zu ergreifen und antwortete:

„Sie haben in allen Ihren Vermutungen recht. Aber wenn auch ich Ihnen ein Rätsel bin, so werde ich Sie doch wenigstens überzeugen, daß Sie mir vertrauen können.“

„Ich bedarf keines Beweises“, fiel sie ein.

„Nun, so möge das, was ich sage, als einfache Bemerkung gesprochen sein. Ich habe Ihnen anvertraut, wie teuer Sie mir sind; dieses Geständnis, welches mir nur durch die augenblickliche Situation entlockt werden konnte, hat nicht im mindesten den Zweck, mir gegenüber die Freiheit Ihres Fühlens und Handelns zu beschränken.“

„Wie verstehen Sie das?“

„Ich weiß, daß meine Liebe eine hoffnungslose ist, ja, eine hoffnungslose sein muß, nur daher konnte ich von ihr sprechen, ohne lächerlich zu werden. Sie sind der Gedanke meiner Tage und der Traum meiner Nächte; ich bete zu Ihnen wie zu einer Heiligen, aber zu einer Heiligen kann man nicht gelangen. Sie sind die Sonne, welche den fernen Planeten erwärmt und erleuchtet, das ist alles, was er sich wünscht; in Ihre Nähe wird er nie gelangen. Mein aufrichtiges Geständnis wird nur die Folge haben, daß ich mich noch mehr zurückziehe, aber sobald Sie meiner bedürfen, werde ich mit Freuden, ja, mit Entzücken alles tun, was meinen Kräften möglich ist. Das mag der Pakt sein, den wir schließen.“

Sie zauderte eine Weile. Dann ging ein eigentümliches Leuchten über ihr Gesicht; sie streckte ihm abermals die Hände entgegen und sagte:

„Nun gut! Ganz, wie Sie wollen. Sie erlauben mir also, Sie für meinen Freund zu halten?“

„Ich bitte inständig, dies zu tun.“

„Ein solcher Vertrag muß aber bekräftigt werden, wenigstens durch einen Handschlag. Wollen Sie mir wirklich Ihre Hand verweigern?“

„Gegen Ihre Befehle kann ich nicht! Hier ist die Hand. Verfügen Sie über mich!“

„Zunächst muß ich mich für heute abend rüsten. Glauben Sie wirklich, daß die Namen, welche Sie mir nannten, geeignet sind, den Kapitän zurückzuweisen?“

„Ich hoffe es, ja, ich bin überzeugt davon!“

„Und diese arabische Handschrift. Darf ich nicht erfahren, was sie enthält?“

„Für jetzt liegt es in Ihrem eigenen Interesse, daß ich Ihnen die Übersetzung vorenthalte. Auch möchte ich das Dokument nicht sofort in Ihre Hand gelangen lassen, weil es mir da nicht sicher scheint.“

„Sie meinen, die Schlacht, welche ich dem Kapitän zu liefern habe, könne einen für mich unglücklichen Ausgang nehmen?“

„Heute werden Sie siegen, was aber dann geschieht, ist bei dem Charakter dieses Mannes nicht vorauszusehen.“

„Ich werde tapfer sein!“

„Aber Vorsicht ist ebenso nötig wie Tapferkeit. Übrigens dürfen Sie überzeugt sein, daß ich über Sie wachen werde. Also, darf ich dieses Schriftstück behalten?“

„Ja“, nickte sie; „behalten Sie es. Ich vertraue mich Ihnen an wie damals, als Sie mit mir ins Wasser gingen. Leben Sie wohl, mein Freund!“

Sie reichte ihm das schöne Händchen, welches er an seine Lippen zog. Als sie sich entfernte, blickte er ihr nach, so lange er nur konnte. Dann legte er beide Hände auf das Herz und jauchzte:

„Sie liebt mich! Sie liebt mich! Sie hat meine Photographie! Aber woher hat sie dieselbe?“

„Vom Photographen gemaust!“ erklang es hinter ihm.

Rasch und betroffen drehte er sich um. Fritz kam hinter einem Felsstück hervorgekrochen, in diesem Augenblick seinem Herrn denn doch nicht sehr willkommen.

„Donnerwetter!“ sagte er. „Mensch, du hast gehorcht!“

„Ja“, nickte Fritz ganz unverfroren.

„Warum bist du mir nachgeschlichen?“

„Ich Ihnen nachgeschlichen? Habe keine Idee davon!“

„Aber wie kommst du denn nach dem Steinbruch?“

„Um die Linie zu suchen.“

„Sprich nicht in Rätseln! Welche Linie meinst du?“

„Die, welche von hier aus über die nächste Waldecke nach dem Trou du bois führt.“

„Ah, du kennst die Richtung nach dem Waldloch?“

„Sehr genau.“

„Von wem hast du es erfahren?“

„Vom Wirt. Herr Doktor, dieser Kerl ist ein Erzschlingel. Ich bin überzeugt, daß er in der Franctireursgeschichte keine gewöhnliche Rolle spielt. Er wollte mich ausfragen, ich aber habe mich so dumm und albern gestellt, daß ihm vor Vergnügen das Herz überlief. Er kam ins Reden und beschrieb mir die Lage des Lochs.“

„Das ist prächtig! Ich habe mich noch nicht danach erkundigen können. Wo finden wir dasselbe?“

„Auf der geraden Linie von hier nach der Waldecke hat man gegen dreiviertel Stunden zu gehen, bis man es erreicht.“

„Du wolltest es aufsuchen?“

„Ja. Ich wollte heute abend au fait sein. Ich eilte durch dick und dünn und war eher da als Sie. Eben als ich mich zwischen diesem Steingewirr durchwinden wollte, kam die Dame. Ich wollte mich nicht sehen lassen und versteckte mich hinter den Felsen. Dann kamen Sie, und so war ich gezwungen, alles anzuhören.“

„Ein anderes Mal jedoch wirst du ein anderes Arrangement treffen, hoffe ich!“

„Ich hoffe es auch!“ rief Fritz mit gewisser Betonung. „Ich werde dann die Sache so arrangieren, daß ich bei der Dame bin und Sie gucken zu, Herr Doktor!“

„Kerl!“

„Na, ich meine ja meine Dame und nicht die Ihrige! Aber, mit Verlaub, Herr Doktor, ein Prachtfrauenzimmer ist sie! Sie hat so etwas Fremdländisches an sich. Ich glaube, man kann fürchterlichen Staat mit ihr machen!“

„Mit dir weniger, Luftikus! Also, wir wollen aufbrechen!“

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