Als er am anderen Morgen aufgestanden war und sein Frühstück erhielt, hörte er, daß Berteu bereits ausgegangen sei. Er machte sich zunächst mit den alten Bildern des Verwalters zu schaffen und begab sich sodann hinüber in das Schloß zur Familie Melac.
Er wunderte sich, als er bemerkte, daß man sämtliche Fenster geöffnet und die Gardinen zurückgeschlagen habe. Als er eintrat, empfing ihn der alte Schließer mit dem freudigen Ausruf:
„Monsieur, wenn Sie wüßten, was für eine gute Botschaft wir gestern abend spät noch erhalten haben!“
„Ich errate es“, antwortete er.
„Nun?“
„Sie bekommen Besuch.“
„Richtig! Aber wer kommt?“
„Sie lüften das ganze Schloß, folglich kommt der Besitzer.“
„Erraten, erraten. Fast gegen Mitternacht erhielten wir noch diese Depesche.“
Er zeigte dem Maler dieselbe. Sie lautete:
„Morgen kommen wir. Graf Latreau.“
„Was sagen Sie dazu?“ fragte er dann.
„Daß Sie Ihre Herrschaft sehr lieb haben müssen. Das sehe ich an Ihrer Freude, die Sie empfinden. Und ferner sage ich dazu, daß ich nun gleich wieder gehen kann.“
„Gehen? Warum?“
„Sie werden keine Zeit haben, sich mit einem so fremden Mann zu beschäftigen.“
„Oh, wir haben die ganze Nacht gearbeitet. Mutter und Marie sind droben bei den Gardinen. Wollen Sie einmal mit?“
„Gern, sehr gern.“
Der Beschließer führte den Maler hinauf in die gräflichen Gemächer, wo Mutter und Tochter beschäftigt waren. Er wurde von beiden herzlich willkommen geheißen. Er wußte gar nicht, wie es kam, aber bald stand er selbst auf der Gardinenleiter, und die alte, brave Beschließerin schlug immer die Hände zusammen und rief:
„Vater, siehst du es denn auch?“
„Was diesen?“
„Dieser Unterschied.“
„Zwischen den alten Gardinen und neugewaschenen?“
„O weh! So ein Mann! Ich meine, in welcher Art und Weise Monsieur seine Arrangements trifft. Das hat Chic und Schmiß. Man merkt es, daß er ein Künstler ist.“
Der kleine Hieronymus bewegte sich in wahrhaft halsbrecherischer Weise auf seiner Leiter; heute kam es ihm kein einzigesmal in den Sinn, zu stolpern oder gar herabzufallen.
Gegen Mittag war die Arbeit getan. Die Wohnung stand zum Empfang der Herrschaft bereit. Schneffke wurde zum Essen eingeladen und machte sich dann an das Pastellbild, an welchem er noch einige vollendende Striche vorzunehmen hatte.
Vater und Mutter befanden sich in den herrschaftlichen Zimmern; nur Marie saß bei ihm, mit einer Häkelarbeit beschäftigt, wobei sie von Zeit zu Zeit einen bewundernden Blick auf das Porträt warf und auf den Maler, welcher keine Sekunde und kein Wort für sie übrig zu haben schien.
Endlich legte er den Pastellstift weg, trat vom Bild zurück und betrachtete es.
„Fertig?“ fragte sie.
„Ja“, nickte er.
Da kam sie zu ihm, stellte sich an seine Seite und ließ ihre guten Augen auch auf dem Gemälde ruhen.
„Es ist doch wunderbar, so etwas fertigzubringen“, sagte sie. „Wie macht man so ein Lächeln, so einen Blick, der sich doch eigentlich gar nicht beschreiben läßt?“
Er sah ihr in die Augen und antwortete:
„Wie bringen Sie das Lächeln fertig, welches jetzt soeben um ihre Lippen spielt?“
Sie errötete.
„Und wie bringen Sie diesen tiefen, feuchten und doch so reinen Blick fertig, welcher jetzt aus Ihrem Auge fällt?“ fuhr er fort. „Wissen Sie, daß Sie ein Auge haben, ein Auge, hm, ich finde den rechten Ausdruck nicht; aber wenn man Ihnen in dieses Auge blickt, so – so – so –“
Er stockte. Sie sah in fragend an und darum fügte er hinzu, aber im vorsichtigsten Ton:
„So möchte man – hm! Darf ich es sagen?“
Sie nickte nur.
„Aber Sie werden mir bös werden.“
„Nein; nie!“
„Ah! Wirklich nie, Mademoiselle?“
„Ich kann mir nicht denken, daß es etwas gibt, weshalb ich Ihnen zürnen könnte“, antwortete sie freundlich.
„Aber das, was ich Ihnen sagen wollte, das ist doch etwas, worüber Sie zornig werden könnten.“
„Versuchen Sie es einmal!“
„Nun, ich wollte sagen: Wenn man Ihnen in diese guten, lieben Augen blickt, da möchte man Sie – – – küssen!“
Er mußte das letztere Wort fast mit Gewalt herausstoßen. Über ihr Gesicht flog eine dunkle Glut, und es war, als ob sie sich von ihm abwenden wolle.
„Sehen Sie, Mademoiselle“, sagte er, „daß Sie mir zürnen! Sie gehen fort!“
Da wendete sie sich schnell um. Ihr Gesicht war unbefangen, und helles Lachen ertönte von ihren Lippen.
„Sind denn meine Augen gar so lieb und gut?“ fragte sie.
„Ganz und gar!“
„Und so ein Kuß ist wohl etwas sehr Wertvolles?“
„Ungeheuer“, nickte er.
„Hm! Das habe ich bisher noch gar nicht gewußt.“
„Herrgott von Mannheim. Wenn ich es Ihnen doch einmal beweisen könnte!“
„Wozu? Ich müßte es bereits längst schon wissen.“
Er fuhr doch ein wenig zurück.
„Bereits wissen? Wieso? Haben Sie einen Schatz?“
„Nein.“
„Aber gehabt?“
„Auch nicht, wie ich Ihnen bereits gesagt habe.“
„Aber wie können Sie da sagen, daß Sie es längst wissen müßten, daß ein Kuß so kostbar ist?“
„Weil ich schon geküßt habe.“
„Alle Wetter! Keinen Geliebten und doch geküßt?“
„Ja.“
„Aber wen denn in aller Welt?“
„Na, den Vater und die Mutter!“
Er holte tief Atem, schlug die Hände zusammen und sagte:
„Ich Esel! Das konnte ich mir doch gleich denken. Aber, Mademoiselle, das ist nichts; das ist ganz und gar nichts. Was man dem Vater oder der Mutter, dem Bruder oder der Schwester gibt, das ist niemals ein Kuß zu nennen.“
„Nicht? Wie soll man es denn nennen?“
„Hm! Es heißt auch ein Kuß; aber es ist keiner.“
„Das begreife ich nicht.“
„Wenn ich es Ihnen nur begreiflich machen könnte. Aber mit Worten geht das nicht.“
„Auch nicht mit dem Pastellstift?“
„Nein.“
„Oder dem Pinsel?“
„Vollends gar nicht.“
„So werde ich wohl darauf verzichten müssen.“
„Das ist schade, jammerschade.“
Er warf dabei einen so sehnsüchtigen Blick auf ihre vollen, roten Lippen, daß sie sich diesesmal wirklich von ihm abwendete. Sie setzte sich; er zog sich einen Stuhl in ihre Nähe und betrachtete sie, wie ihre kleinen, dicken Fingerchen so gewandt mit der Häkelnadel umgingen. Es kamen ihm da allerlei Gedanken, welche aber alle auf nur eins hinausliefen. Und da entfuhr es ihm ganz unwillkürlich:
„Es müßte herrlich sein!“
Sie hatte es doch gehört. Sie erhob das Köpfchen und fragte:
„Was müßte herrlich sein?“
Er errötete wie ein Knabe, den man auf einer unrechten Tat ertappt hat. Es dauerte eine ganze Weile, eher er antwortete:
„Hm! Es entfuhr mir nur so.“
„Aber an etwas haben Sie doch dabei gedacht.“
„Gewiß.“
„Nun, was war denn das Herrliche?“
„Na, Mademoiselle, ich dachte mir eine Stube –“
„So, so“, lachte sie.
„Ja, das wäre nun ganz und gar nichts? Aber in dieser Stube stand ich –“
„Standen Sie“, wiederholte sie, als er abermals zögernd innehielt.
„An der Staffelei. Ich malte.“
„Was denn?“
„Hm! So einen allerliebsten, quatschigen, kleinen Buben, der in der Wiege lag.“
„Mit dem Zulp im Munde?“ fragte sie lachend.
„Nein“, antwortete er. „Einen Zulp würde ich als Vater niemals erlauben.“
„Ach so! Sie waren der Vater des kleinen, quatschigen Buben?“
„Ja.“
„Malten Sie weiter nichts?“
„Und doch, nämlich die Mutter.“
„Auch ohne Zulp?“
Er machte eine Bewegung der Ungeduld und sagte:
„Machen Sie mich nicht irre, Mademoiselle. Das Bild war so schön und wenn Sie mir einen Witz darüber werfen, dann male ich es gar nicht zu Ende.“
„Gut. Malen Sie weiter.“
„Also die Mutter. Sie saß auf dem Stuhl – und – raten Sie, was sie machte?“
„Sie strickte?“
„Nein, sie häkelte, gerade so wie Sie.“
„Das ist interessant.“
„Soll ich sie Ihnen beschreiben?“
„Ja. Ich möchte die Dame doch zu gern kennenlernen, welche die Mutter eines Wesens ist, der Ihr kleiner, quatschiger Bube genannt wird.“
„Sie ist blond.“
„Ah! Blond?“
„Gerade wie Sie. Nicht hoch und nicht schlank.“
„Also kurz und beleibt.“
„Ja, gerade wie Sie. Sie hat ein Paar Wangen, gerade wie die Äpfel.“
„Borsdorfer oder Reinetten?“
„Ein paar Augen wie Himmel und Karfunkel.“
„Ah, sie muß sehr schön sein.“
„Nein. Eine Schönheit ist sie nicht, aber häßlich sieht sie auch nicht aus und gut ist sie, seelensgut. Und Lippen hat sie, Sapperment, Lippen. Die möchte man –“
„Nun, was denn?“
„Küssen natürlich.“
„Sie haben heute, wie es scheint, eine wirkliche Passion gerade für das Küssen.“
„Allerdings. Es ist das um so eigentümlicher, als ich sonst gar nicht dafür eingenommen bin.“
„Wirklich?“
„Gewiß!“
Sie erhob den Finger drohend und sagte:
„Monsieur, Monsieur! Wer so ein Frau und so einen quatschigen Buben hat, der hat gewiß schon sehr viel geküßt!“
„Ich habe sie beide noch nicht.“
„Nicht? Ich denke, Sie malen sie bereits!“
„Ja, aus der Vogelschau oder vielmehr aus der Gedankenperspektive. Ich muß sie beide erst finden, die Frau und den Jungen. Und eigentümlich. Dieser kleine dicke Bube sieht nicht nur mir allein ähnlich.“
„Wem noch?“
„Ihnen.“
„Ah! Wunderbar! Wie käme das?“
„Weil auch die Mutter Ihnen ähnlich sieht, und zwar ganz und gar wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Vielleicht ist sie verwandt mit mir.“
„Nein, nein. Ich glaube vielmehr, Sie sind es selbst. Ja, an dieses Bild dachte ich, und da entfuhr es mir: Es müßte herrlich sein! Denken Sie, daß ich da unrecht habe?“
„Ich gebe niemals jemand unrecht, bevor ich überzeugt bin, daß er sich wirklich irrt.“
„Nun, ich irre mich sicherlich nicht. Schade nur, daß es ein Bild bleiben muß und keine Wirklichkeit werden kann.“
Ihre Züge hatten jetzt einen ungewöhnlich ernsten Ausdruck angenommen. Sie richtete das Auge träumerisch durch das Fenster. Er wartete, ohne weiterzusprechen. Da wendete sie sich wieder ihm zu und fragte:
„Ist es nicht zuweilen ein Glück, wenn uns ein Traum nicht in Erfüllung geht?“
„Gewiß haben Sie recht; aber die Erfüllung dieses Traums könnte nie ein Unglück sein!“
„Der Mensch darf nicht so bestimmt urteilen.“
„Pah! Wenn das Herz urteilt, so glaube ich, was es sagt. Das gerade macht ja unser Glück aus, daß wir unserem Herzen Glauben schenken dürfen. Um so weher tut es, wenn man von einer Überzeugung lassen muß, nur deshalb, weil – weil – weil –“
„Weil?“ fragte sie lächelnd.
„Sapperment! Weil ich heute schon abreisen muß.“
„Heute schon?“
Ihre roten Wangen waren etwas bleicher geworden.
„Ja heute schon, Mademoiselle.“
„Muß das denn sein?“
„Leider. Es ist unaufschiebbar.“
„Aber gestern sprachen Sie doch nicht in so bestimmter Weise von Ihrer Abreise.“
„Es hat sich etwas ereignet, was sie beschleunigte.“
„O weh! Sollten vielleicht wir Ihnen – – –“
„O nein, nein“, fiel er ein. „Der Grund ist ein ganz anderer, Ihnen fremder.“
„Und kommen Sie wohl wieder in diese Gegend?“
„Wer weiß das. Bin ich einmal fort, so gibt es wohl keinen Grund nach hier zurückzukehren.“
„Ich glaubte, einen zu wissen.“
„Welchen?“
„Unsere Angelegenheit in Beziehung auf Nanon und Madelon von Bas-Montagne.“
„Wer weiß, welche Wendung diese Angelegenheit nimmt. Meine Person gehört da auf alle Fälle in den Hintergrund. Möglich ist es zwar, daß ich sehr bald nach Frankreich zurückkehre, aber – als Ihr Feind.“
„Niemals. Mein und unser Feind werden Sie nicht sein.“
„Selbst im Fall eines Krieges nicht?“
„Nein. Sie kennen ja unsere Gesinnung. Aber, glauben Sie denn an diesen Fall?“
„Ja. Frankreich drängt und treibt zum Krieg.“
„Wie töricht. Mein Gott! Wenn ich an dieses Unglück denke. Die Kanonen brüllen; die Kugeln sausen; die Schwerer klirren. Und mitten darin sind –“
Sie hielt errötend inne.
„Weiter! Weiter“, bat er schnell.
„Und mitten darinnen Sie – Der doch nicht die mindeste Schuld daran trägt.“
Sein Gesicht glänzte vor Glück und Freude.
„An mich denken Sie dabei? An mich?“ fragte er.
„Ja. Ich habe sonst keinen Menschen, der durch den Krieg so direkt bedroht würde.“
„Wenn ich nun fiele. Wenn Sie eines Tages die Nachricht erhielten, daß man mich in ein Massengrab gelegt und – – –“
„Bitte, schweigen Sie“, wehrte sie ab. „Das wäre doch gar, gar zu traurig.“
Sie legte die Hand über die Augen, als ob sie etwas Schreckliches vor sich sähe. Er trat zu ihr, zog ihr die Hand weg und sagte:
„Mademoiselle! Marie! Werden Sie mich vergessen, wenn ich heute abgereist bin?“
„Nein“, antwortete sie leise.
„Werden sie vielmehr an mich denken?“
„Ja.“
„Und zwar oft, sehr oft?“
Da glitt ein schnelles, schalkhaftes Lächeln über ihr Gesicht und sie fragte:
„Soll ich denn?“
„Ja, ja. Es ist mein höchster Wunsch, daß Sie recht viel an mich denken.“
„Dann muß ich mich an diesen Ihren Wunsch recht oft erinnern.“
„Tun Sie das, Mademoiselle!“
Er legte leise und wie versuchend den Arm um ihre Taille. Sie widerstrebte nicht, sondern erkundigte sich neckisch:
„Aber was habe ich davon, Monsieur?“
„Nun, ich erinnere mich dann ebenso oft und ebenso gern an Sie. Oder soll ich nicht?“
„O doch! Wir wollen denken, daß unsere Gedanken zueinander fliegen und sich unterwegs treffen.“
„Unsere Gedanken bloß?“
„Was noch?“
„Nicht auch unsere Liebe?“
Da legte Marie die Hände zusammen und flüsterte:
„Liebe! Liebe! Soll das wahr sein?“
„Ja, ja, und tausendmal ja! Marie, willst du mir glauben, daß ich dich liebhabe?“
„Sie mich? Der Maler, der Künstler, das arme, einfache Mädchen?“
„Ja, Marie! Ich habe dich lieb, recht herzlich, herzlich lieb. Und du? Willst du mir eine Antwort geben?“
Da blickte sie ihm ernsthaft in die Augen und antwortete:
„Nein.“
„Wie? Nicht? Du willst mir keine Antwort geben?“
„Geben nicht; aber nimm sie dir.“
Sie hielt ihm die Lippen entgegen, nach denen er sich vorhin vergebens gesehnt hatte.
„Donnerwetter!“ rief er. „Das lasse ich mir gefallen. Das ist freilich die allerbeste Antwort, die es nur geben kann. Komm her.“
Er zog sie an sich und küßte sie wohl volle fünf Minuten lang ohne Aufhören. Dann stieß er einen Jauchzer aus und rief:
„Das sollte er wissen. Sapperment!“
„Wer?“
„Der Haller.“
„Wer ist das?“
„Ein Kollege von mir, ein Maler. Er hat die berühmte Rutschpartie mitgemacht und wegen der Gouver –“
Er hielt erschrocken inne. Er stand ja im Begriff, seine Liebesabenteuer zu verraten.
„Gouver – – – weiter!“ bat sie.
„Gouvernante wollte ich sagen.“
„Eine Rutschpartie wegen einer Gouvernante? Wie war denn das?“
„Hm! Das war eigentlich sehr einfach.“
„Bitte, erzähle es doch.“
„Nun, es war einmal eine Gouvernante – – –“
„Ach, so fängt die Geschichte an. Das ist ja recht ungewöhnlich.“
„Sie endet aber desto gewöhnlicher.“
„Das wäre schade. Also weiter.“
„Es war also einmal eine Gouvernante, und es war auch einmal ein Maler. Diesen Maler traf ich im Tharandter Wald.“
„Wo ist das?“
„Bei Dresden. Man geht dorthin wegen der Pilze und der Brunnenkresse, die man dort massenhaft findet.“
„Die Maler gingen wegen der Brunnenkresse?“
„Ja.“
„Die Gouvernante natürlich auch?“
„Erraten.“
„Ah, jetzt kommt der Roman.“
„Ja, jetzt kommt er. Der Maler nämlich wollte die Gouvernante küssen; sie aber litt es nicht.“
„Der, welcher sie küssen wollte, das warst natürlich du.“
„Ist mir bei Gott nicht eingefallen!“ beteuerte er.
„Also doch der andere?“
„Ja, Haller wollte sie partout küssen.“
„Sie litt es nicht?“
„Nein. Sie wehrte sich vielmehr aus allen Kräften.“
„Und du sahst ruhig zu?“
Schneffke beantwortete die Frage nicht sogleich, sondern blickte ihr freundlich ins Auge.
„Nun?“ drängte sie, schelmisch lächelnd.
Endlich antwortete er mit ernster Miene:
„Gott bewahre. Ich weiß, was sich schickt und gehört. Man ist ja Künstler und Kavalier. Ich versuchte, sie in Güte auseinanderzubringen, vergebens; Haller hielt zu fest. Endlich zog und zerrte ich zu sehr. Das gab einen fürchterlichen Riß. Ich hatte die Gouvernante in den Händen; Haller aber flog und rutschte und kugelte den Berg hinab, zerriß sich die Hosen, stürzte in das Wasser, mußte halb ersaufen und ließ sich nicht wieder sehen.“
„Das ist die Rutschpartie?“
„Nein, das war sie.“
„Und du? Du hattest nun die Gouvernante?“
„Ja.“
„War sie hübsch?“
„Sehr!“
„Weiter! Weiter!“
„Sie bedankte sich bei mir. Sie sagte mir sogar, daß sie mir einen Kuß gegeben hätte, aber nur diesem Haller nicht. Sie bot mir sogar einen Kuß an.“
„O weh!“
„Ja, wirklich.“
„Was tatest du?“
„Ich schüttelte den Kopf.“
„Weiter nichts?“
„Was soll ich sonst noch schütteln, außer dem Kopf!“
„Ich meine, ob du sonst weiter nichts getan hast?“
„Nein. Ich war zunächst ganz perplex, so daß es mir unmöglich war, etwas zu sagen.“
„Dann aber kam dir doch die Sprache wieder.“
„Ja, aber erst nach ungefähr fünf Minuten.“
„Und was sagtest du da zu ihr?“
„Ich danke, Fräulein! Ich mag keinen Kuß, denn ich habe sehr gute Grundsätze! – ah, wer ist da?“
Draußen ließ sich Wagenrollen und lautes Peitschenknallen hören. Eine herrschaftliche Equipage mit noch drei Kutschen und einem Küchenwagen kam angefahren.
„Der Herr! Der gnädige Herr!“ rief Marie. „Ich muß hinaus!“
Im nächsten Augenblick stand Hieronymus allein im Zimmer.
„Das war aufgeschnitten!“ brummte er wohlgefällig vor sich hin. „Sie wird meine Frau, und da ist es gut, wenn sie schon beizeiten gehörigen Respekt bekommt!“
Die Equipage hielt. Zwei Diener sprangen ab und öffneten. Ein alter Herr stieg aus.
„Jedenfalls der General selbst“, sagte der Maler. „Ein prächtiger Greis! Schön, stolz, mild, prachtvolle militärische Haltung.“
Nach ihm stieg seine Enkelin, Ella von Latreau, aus.
„Himmelelement!“ sagte der Maler drin am Fenster. „Ein Engel! Eine Houri aus Mohameds Himmel! Eine Kleopatra! Wer da noch?“
Die jetzt ausstieg, war – Alice, die Schwester des Sekretärs des Grafen von Rallion, die Geliebte des Telegrafisten Martin Tannert. Man wird sich erinnern, daß Ella von Latreau versprochen hatte, sie unter ihren Schutz zu nehmen.
„Ein allerliebstes Kind!“ sagte der Maler. „Hübsch, kräftig, doch mild und lieblich wie Brustkanaster, Mittelsorte.“
Aus den anderen Wagen stieg das Dienstpersonal.
An dem Tor stand der Schließer mit Frau und Tochter, um den Herrn zu bewillkommnen. Sie küßten ihm und Ella die Hände und führten sie hinauf in den Salon. Die Herrschaft war beliebt und verdiente es.
Es dauerte einige Zeit, bis man so leidlich in Ordnung war. Dann zog Ella sich mit Alice in ihren Gemächern zurück und ließ dem Großpapa Zeit, an die Geschäfte zu denken.
Hieronymus Aurelius Schneffke hatte mit seinem Scharfblick erkannt, daß nicht alle Kutschen dem Grafen gehören würden. Er ging daher hinaus und machte sich an einen der Wagenführer.
„Sind Sie im Dienst des Generals?“ fragte er.
„Nein, Monsieur.“
„Woher sonst?“
„Aus Metz.“
„Ah, der Graf ist in Metz ausgestiegen, nämlich aus der Bahn, und hat Sie für den Weg nach hier gemietet?“
„Ja, so ist es!“
„Wann kehren Sie zurück?“
„Noch heute, nachdem ich in Etain gefüttert und den Pferden einige Ruhe gegönnt habe.“
„Wollen Sie mich mit nach Metz nehmen?“
„Gern. Dann bitte ich aber, Ihre Angelegenheiten zu beschleunigen. In einer halben Stunde geht es fort.“
Der Maler besprach noch den Lohn und eilte dann nach seiner Wohnung im Verwalterhaus. Er hatte dort nur Kleinigkeiten, welche er zu sich stecken konnte. Er nahm sich gar nicht die Mühe, Abschied zu nehmen oder ein Wort über seine Absicht fallen zu lassen. Es war ihm sogar lieb, wenn Berteu heute noch nicht erfuhr, daß er fort sei.
Dann kehrte er nach dem Schloß zurück, wo er seine Mappe und den Feldstuhl gelassen hatte. Beides wurde in den Wagen getan, und dann wollte er sich verabschieden. Aber von wem? Kein Mensch war in der Stube. Der Schließer befand sich beim Grafen, und seine Frau und Tochter waren bei dessen Enkelin. Er machte es wie stets: Er tat ganz das, was ihm in den Sinn kam. Er stieg die Treppe empor. Droben stand ein Livreediener.
„Wer sind sie?“ fragte dieser.
„Künstler. Ich suche Monsieur Melac.“
„Der ist nicht zu sprechen. Befindet sich bei Exzellenz.“
„Madame Melac?“
„Beim gnädigen Fräulein.“
„Mademoiselle Melac?“
„Auch beim gnädigen Fräulein.“
„Donnerwetter! Ich habe keine Zeit! Ich muß Abschied nehmen. Der Kutscher wartet nicht.“
Der Diener musterte ihn und sagte dann lächelnd:
„Monsieur, ist es wirklich so eilig?“
„Sehr.“
„Herr Melac kann nicht, Frau Melac wohl auch nicht. Genügt es Ihnen vielleicht, wenn ich Ihnen Fräulein Melac sende?“
„Ja, ja; das genügt vollständig!“ beeilte sich Hieronymus zu antworten.
„Wohin soll ich sie Ihnen senden?“
„Hinunter in die Wohnung.“
„Schön! Verlassen Sie sich darauf, daß es gleich besorgt wird!“
Der Maler begab sich hinunter nach der Wohnung des Beschließers, und der Diener ging in das Vorzimmer des Fräuleins. Dort war eine Zofe beschäftigt, Servietten zu legen.
„Wer ist bei der gnädigen Komtesse?“ fragte er.
„Madame und Mademoiselle Melac.“
„Kann ich Madame einmal haben?“
Die Zofe ging hinein und brachte Frau Melac heraus.
„Madame, es war ein Herr hier, welcher Sie sehr notwendig zu sprechen hat“, meldete der Diener.
„Mich?“
„Ja. Wenigstens glaube ich richtig verstanden zu haben.“
„Wer war es?“
„Er nannte sich einen Künstler.“
„Ah, ein kleiner, wohlbeleibter Herr?“
„Ja, ja, das war er.“
„Wo ist er?“
„In Ihrer Wohnung.“
Sie ging hinab, und der Diener entfernte sich, ein lustiges Lächeln auf seinen Lippen.
Herr Hieronymus Aurelius Schneffke stand unten vor dem Spiegel und betrachtete sein dickes Konterfei, welches von der Glasscheibe in sprechender Ähnlichkeit zurückgeworfen wurde.
„Ein übler Kerl bin ich nicht“, meinte er. „Wer mich umarmt, der oder die hat etwas in den Händen! Donnerwetter, ich passe doch ganz prächtig zu dieser famosen Marie. Die Länge, die Breite, die Tiefe, das Gewicht, der Umfang, der Kubikinhalt, alles, alles klappt aufs Beste. Darum ist ein Kuß von ihren Lippen so hübsch bequem. Man braucht nicht in die Höhe zu springen, so daß man sich die Waden dehnt, und man braucht auch nicht sich zu bücken, so daß man sich das Kreuz verstaucht. Jetzt kommt der Abschied! Der soll – ah, ich höre sie! Das sind Frauenschritte. Sie kommt. Ich werde sie sofort umfangen.“
Er stellte sich neben den Eingang. Die Tür ging auf.
„Marie, meine liebe, süße – – himmelheiliges Schock – Sackerment – welch' ein Heidenpech!“
Er sprang zurück. Er hatte die Mutter der Erwarteten an sein sehnsüchtiges Herz gedrückt.
Frau Melac war erstaunt, sogar mehr als erstaunt.
„Monsieur!“ rief sie.
„Madame“, antwortete er, da ihm in diesem Augenblick nichts anderes einfiel.
„Sie umarmen mich?“
„Ja, leider!“ stieß er hervor.
„Leider! Das soll also heißen, daß ich nicht eigentlich zum Umarmen geeignet bin?“
Er schwitzte bereits vor Angst.
„Jetzt wohl nicht mehr!“ antwortete er.
Erst als diese Worte heraus waren, bemerkte er, was für eine Unhöflichkeit er begangen hatte. Sie sah seine Verlegenheit, sie hielt ihn für einen guten Menschen. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen.
„Jetzt also nicht mehr!“ meinte sie. „Bin ich denn gar so abschreckend häßlich?“
„Nein. Daß Sie so ein Monstrum sind, das habe ich doch nicht gemeint!“
„Gut! Ihre Umarmung hat jedenfalls einer anderen gegolten?“
„Ja.“
„Diese andere heißt Marie? Wenigstens glaube ich, diesen Namen gehört zu haben.“
„Ich kann es nicht leugnen!“
„Meinen Sie meine Tochter?“
„Ja“, nickte er zustimmend.
„So, so! Also diese wollten Sie umarmen?“
„Das war allerdings mein Wunsch.“
„Warum schicken Sie aber da zu mir?“
„Zu Ihnen?“ fragte er.
„Ja. Der Diener ließ mich doch rufen.“
„Ah! Hätte ich den Kerl hier!“
„Er wird Sie falsch verstanden haben.“
„Unmöglich! Ich bin nicht stumm und er ist hoffentlich nicht taub. Ich glaube, der Kerl hat sich einen Spaß machen wollen!“
„Wenn das der Fall ist, so ist ihm derselbe allerdings auch ganz prächtig gelungen.“
„Aber mir nicht! Ich verbitte mir solche Bedientenscherze!“
„Ich mir eigentlich auch. Da aber die Sache nun einmal nicht zu ändern ist, so wollen wir darüber hinweg zur Tagesordnung übergehen.“
„Hm!“ brummte er, indem er sie prüfend anblickte. „Was verstehen Sie unter Tagesordnung?“
„Das, was nun jetzt an der Ordnung ist. Oder sollten Sie sich das nicht selbst sagen können?“
Er hatte bereits nach seinem Hut gegriffen, um sich schleunigst zurückzuziehen, falls die Sache für ihn ein schlimmes Aussehen annehmen werde. Da aber Frau Melac sich ruhig niederließ und ein keineswegs unfreundliches Gesicht zeigte, so legte er den Kalabreser wieder fort und sagte:
„Es ist wahr, Madame; ich habe Sie zunächst herzlichst um Verzeihung zu bitten.“
„Ich verzeihe Ihnen“, antwortete sie lächelnd. „Es gibt nicht leicht eine ältere Dame, welche eine Umarmung unverzeihlich findet. Und übrigens haben Sie mir ja die freundliche Versicherung gegeben, daß ich wenigstens nicht geradezu ein Monstrum von Häßlichkeit bin.“
„Nein, das sind Sie nicht, denn sonst hätten Sie auch nicht die mindeste Ähnlichkeit mit Mademoiselle Marie.“
„Das ist's, worauf wir kommen müssen! Also Marie war es, welche Sie umarmen wollten?“
„Ja.“
„Aber wissen Sie, welche Person man umarmt?“
„Jedenfalls nur diejenigen, welche man liebhat.“
„Damit wollen Sie sagen –?“
„Daß ich Marie liebhabe? Ja.“
„Aber, Monsieur, Sie kennen Marie erst seit gestern. Das ist aber doch ganz ungewöhnlich schnell gegangen.“
„Ja, ich kam, ich sah, und ich siegte!“
Frau Melac lachte belustigt auf und antwortete:
„Oder vielmehr, Sie kamen, Sie sahen, und Marie siegte. Ist's nicht so?“
„Auch so, ja. Wir haben einander gesehen und besiegt. Wir haben voreinander die Segel und die Flaggen gestrichen, wir werden uns Bord an Bord legen, um als einträchtige Doppelfregatte über das Meer des irdischen Lebens zu stampfen und zu dampfen.“
„Sie verstehen es, sich außerordentlich poetisch auszudrücken, mein Lieber!“
„Ja, man hat das seinige gelernt“, lachte er.
Sie stimmte in seine Lustigkeit ein, was ihm all seinen Mut wiedergab, und sagte dann:
„Wie es scheint, haben Sie bereits mit Marie gesprochen?“
„Vorhin, vor der Ankunft des Grafen, der mir höchst ungelegen kam. Er konnte zehn Minuten später eintreffen.“
„Hat Marie Ihnen ihr Wort gegeben?“
„Nein, aber einen Kuß.“
„Einen Kuß? Ah!“
„Ja, so ungefähr.“
Er umarmte sie, ehe sie ihn abwehren konnte, und gab ihr einen herzhaften Kuß auf den Mund.
„Sachte, sachte!“ mahnte sie, ihn von sich schiebend. „Sie sind ja ein echter Alexander der Große im Erobern.“
„Das ist angeborene Gottesgabe“, antwortete er lachend.
„Und dennoch kann ich diese Schnelligkeit nicht begreifen, mit welcher Sie mit Marie einig geworden sind.“
„Ja, es kam auch für mich ein wenig rasch. Aber während der eine fünfzehn Jahre braucht, um nur zu erfahren, daß man lebt, um zu heiraten, hat der andere bereits die sechste Frau zu Tode geärgert. Die Liebe kommt bei dem einen wie eine Schnecke und bei dem anderen wie ein geölter Blitz. Das geht Puff auf Puff und Knall auf Knall. Es leuchtet, ein Donnerschlag, und man ist getroffen und erschlagen für die ganze Lebenszeit.“
Frau Melac mußte herzlich lachen. Sie meinte:
„Ich wiederhole, daß Sie Ihre Bilder vortrefflich zu wählen verstehen. An Ihnen ist ein zarter lyrischer Dichter verdorben. Nicht?“
„Vielleicht drücke ich mich in späteren Jahren kräftiger aus. Jetzt ist man jung und zart besaitet. Wenn einen später das Leben in die Schule nimmt, so wird man mürrisch, bekommt das Podagra und dichtet nur noch tragische Szenen.“
„So wünsche ich, daß Sie möglichst lange jung bleiben.“
„Da gebe ich Ihnen ohne alle Abstimmung meine Zustimmung. Aber nun einmal ohne Scherz, Madame! Hier meine Hand. Sind Sie mir bös, daß mein Herz mich getrieben hat, zu Marie von Liebe zu sprechen?“
„Ich kann Ihnen nicht zürnen. Kein Mensch kann die Stimme seines Herzens zum Schweigen bringen. Nur hat man die Pflicht, auch den Verstand sprechen zu lassen.“
„Oh, das tue ich ja.“
„Und glauben Sie, daß die Stimme der Vernunft in diesem Fall mit derjenigen des Herzens im Einklang stehen werde?“
„Ich bin überzeugt davon.“
„Aber wir wohnen in Frankreich, und Sie wohnen im Ausland. Wollen Sie uns das einzige Kind so weit fort entführen?“
Er schüttelte den Kopf und antwortete:
„Tragen Sie keine Sorge. Ich bin frei. Der Maler ist an keinen Ort gebunden. Überhaupt ist es mir auch noch gar nicht beigekommen, Ihnen oder Marie ein bindendes Wort abzufordern.“
„Ah! Wie habe ich das zu verstehen?“
„Ich habe Marie gesagt, daß ich sie liebe, und sie hat mir das gleiche erwidert. Dann kam der Graf und jetzt muß ich fort. Wir haben also über unsere Zukunft noch kein Wort sprechen können.“
„Ich glaubte, das sei in Ordnung gebracht?“
„Nein. Ich allerdings werde mich für gebunden betrachten. Komme ich wieder, und Marie ist noch frei, dann werde ich mir Mühe geben, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihres Kindes nicht ganz unwert bin. Sagen Sie dann ja, so werden Sie mich glücklich machen.“
„Das ist ehrenwert, Monsieur. Meine Sympathie haben Sie. Weiß mein Mann davon?“
„Nein.“
„Soll er es erfahren?“
„Das überlasse ich am besten Ihnen.“
„Werden Sie noch vor Ihrer Abreise mit ihm sprechen?“
„Ich muß fort und weiß nicht, ob er Zeit hat.“
„Ich glaube allerdings kaum, daß er eine Minute für Sie erübrigen kann. Er ist beim gnädigen Herrn und kann nicht um Entlassung bitten.“
„So muß es genügen, Sie von unserer Herzensangelegenheit unterrichtet zu haben. Werden Sie mir erlauben, Marien zuweilen eine Zeile zu senden?“
„Gern, Monsieur. Hoffentlich sehen wir Sie bald wieder?“
„Ich wünsche es. Schreiben muß ich Ihnen auf alle Fälle, da ich Sie ja über die Familie Bas-Montagne unterrichten muß. Jetzt darf ich Sie nicht länger zurückhalten. Bitte, nehmen Sie eine Hand des Dankes und des Abschieds. Seien Sie überzeugt, daß ich ein ehrlicher Mann bin und daß Sie mir das Glück Ihres Kindes anvertrauen können.“
„Ich glaube es. Leben Sie wohl, Monsieur.“
Sie hatte sich erhoben und reichte ihm ihre Hand, die er an seine Lippen drückte. Er wollte gehen; sie aber sagte:
„Warten Sie noch einen Augenblick. Soviel kann der Fuhrmann schon noch warten.“
Sie ging.
„Sackerment, jetzt wird sie mir den Alten auf den Hals schicken“, brummte Schneffke. „Na, mir auch recht! Es ist ganz in der Ordnung, auch mit dem Vater zu sprechen, nachdem man mit der Tochter und der Mutter gesprochen hat.“
Er mußte ein Weilchen warten; dann trat – Marie ein. Das war eine frohe Überraschung.
„Marie!“ rief er. „Mutter hat also bedeutend mehr Verstand als dieser Lakai, mit dem ich noch einige Worte im Vertrauen sprechen möchte.“
„Zweifelst du daran?“
„Nein, nachdem, was ich mit ihr gesprochen habe. Sie hat dich geschickt?“
„Ja; aber so schnell willst du fort?“
„Ja. Draußen warten bereits die Pferde.“
„Aber du wirst schreiben?“
Da zog er sie an sich und fragte:
„An wen, mein Engel? An den Vater?“
„Doch wohl auch an mich?“
„Ja, wenn ich gewiß wüßte, daß du meine Zeilen auch lesen wirst.“
„Gern, herzlich gern. Ich werde täglich einen Brief erwarten.“
„Kind, das ist zuviel verlangt. Sagen wir monatlich!“
„Das ist zuwenig.“
„Wöchentlich?“
„Das mag eher gehen.“
„Und du antwortest mir auch?“
„Ja, obgleich ich diese Art von Briefen noch nicht geschrieben habe.“
„Oh, das lernt sich leicht. Übrigens will ich dir einen kleinen Fingerzeig geben: Du schickst mir allemal einen tüchtigen Kuß mit.“
„Wie macht man das?“
„Man macht mit der Feder einen Kreis auf das Papier, gerade so groß, daß man die Lippen, wenn man sie spitzt, hineinbringt. Dann schreibt man in diesen Kreis das Wort ‚ein Kuß‘, und wenn es trocken geworden ist, setzt man den Kuß auch wirklich hinein.“
„Bleibt er drin?“
„Wenn das Kuvert gut ist, ja.“
„Und was wird dann später mit ihm?“
„Ich nehme mir ihn weg.“
„Womit? Mit den Fingern?“
„Nein, sondern mit der Beißzange, du kleiner, lieber Spaßvogel du!“
„Glaubst du, daß meine Küsse aus einem so harten, festen Material bestehen?“
„Das wollen wir sogleich einmal probieren.“
Und sie probierten solange, bis draußen der Fuhrmann durch ein lautes Peitschenknallen seine Ungeduld zu erkennen gab.
„Hörst du“, meinte der Maler. „Dieser Mensch ist ganz sicher höchst unglücklich verheiratet, sonst würde er uns diese paar Minuten gönnen. Also, lebe wohl, mein Leben.“
„Lebe wohl und – bleibe mir treu.“
Eine Minute später rollte der Wagen mit dem glücklichen Hieronymus von dannen. – – –
Charles Berteu hatte sich während des ganzen Tages nicht zu Hause sehen lassen. Erst am Spätnachmittage kehrte er zurück. Seine Mutter kam ihm ängstlich entgegen.
„Wo bleibst du solange?“ fragte sie. „Ich habe mit größter Ungeduld auf dich gewartet.“
„Warum?“ antwortete er rasch.
„Das weißt du noch nicht?“
„Was soll ich wissen? Ich hatte in der Pulvermühle zu tun. Da war ich bis jetzt.“
„Ohne es mir zu sagen. Hätte ich es gewußt, so konnte ich zu dir schicken, um dich holen zu lassen.“
„War es so notwendig?“
„Hast du denn nicht gesehen, daß sämtliche Vorhänge des Schlosses emporgezogen sind?“
„Die Rouleaux? Das habe ich gesehen. Jedenfalls stäubt man die Zimmer aus.“
„Nein. Der General ist angekommen.“
Er stand starr.
„Der General?“ fragte er. „Allein?“
„Nein, sondern mit dem Fräulein und sämtlicher Dienerschaft.“
„So bleibt er hier?“
„Wie es scheint.“
„Alle Teufel! Sein Kommen war, da der Vater gestorben ist, zu erwarten; aber so bald!“
„Er hat nach dir geschickt.“
„Auch das noch.“
„Du sollst die Bücher mitbringen und das Verzeichnis der Vorräte. Er will abschließen.“
„Himmeldonnerwetter! Da geht es dem Vater noch im Grabe schlecht.“
„Er ist zu unvorsichtig gewesen. Er konnte und mußte es viel klüger anfangen. Jetzt geht es auch uns an den Kragen.“
„Uns? Uns kann kein Mensch etwas tun.“
„Aber die Stelle.“
„Die wäre ja auf alle Fälle verloren gewesen. Oder glaubst du etwa, daß der General mich als Verwalter angestellt hätte?“
„Nein. Aber jetzt sei nun aufrichtig! Haben wir etwas beiseite gebracht?“
„Nein. Es ist alles verbraucht worden.“
„Dummkopf!“
„Wer? Ich?“
„Nein, der Tote.“
„Ach so! Na, fort müssen wir auf alle Fälle. Jetzt werde ich mich dieser Nanon versichern. Ich denke, daß uns dann geholfen ist.“
„Die bekommst du nicht.“
„Pah! Es gibt ein Mittel. Ich kenne einen Mann, der sie mir in die Hand geben wird.“
„Wer ist das?“
„Das ist nichts für dich! Jetzt will ich zum General!“
Er begab sich, eine Menge Bücher tragend, nach dem Schloß, von wo er erst nach längerer Zeit zurückkehrte. Sein Gesicht war finster.
„Wie ist es gegangen?“ fragte seine Mutter.
„Schlecht.“
„So hat er es bereits berechnet?“
„Nein. Den Verlust wird er erst später finden. Aber er empfing mich bereits in einer Weise, aus welcher ich ersah, daß es auch ohne dieses Defizit für uns aus sein würde. Ich mache, daß ich fort komme.“
„Um Gottes willen! Und mich läßt du da?“
„Nein. In einigen Tagen bin ich zurück, um dich abzuholen.“
„Wohin gehst du?“
„Nach Ortry.“
„Ah, zum Kapitän? Der muß sich unserer annehmen.“
„Muß? Der ist unberechenbar!“
„Er hat dem Vater viel zu verdanken!“
„Glaubst du, daß dieser Mann dankbar ist?“
„Er ist es eigentlich gewesen, der den Vater auf Abwege gebraucht hat. Er darf uns nicht fallenlassen.“
„Moralisch zwingen läßt der Alte sich nicht. Aber ich habe Geheimnisse von ihm in der Hand, die er mir abkaufen muß. Er muß sie mir bezahlen, entweder bar oder mit – Nanon; darauf kannst du dich verlassen!“ – – –
Am Nachmittage des Eisenbahnunglücks saß Doktor Müller im Garten von Ortry auf einer Bank, in tiefes Sinnen versunken, aus welchem er erst erwachte, als er Schritte vernahm, welche sich von der Seite her näherten. Er blickte auf und erkannte Deep-hill, den Amerikaner. Er erhob sich höflich und verbeugte sich, um ihn vorüberzulassen; dieser aber blieb stehen.
„Wir sahen uns bereits heute?“ fragte er, indem er den Hut zog.
„Ja, Monsieur.“
„Auf dem Unglücksplatz?“
„Ja. Ich hatte die Ehre, die Aufopferung zu bewundern, mit welchem Sie für die Verunglückten tätig waren. Ich heiße Müller und bin Erzieher des jungen Barons.“
„Meinen Namen kennen Sie?“
„Ja, Monsieur.“
„Erlauben Sie, für einige Augenblicke bei Ihnen Platz zu nehmen?“
Nichts konnte dem Erzieher lieber sein. Er verbeugte sich und antwortete:
„Sie haben zu befehlen!“
„O nein“, lächelte der andere. „Die kontinentale Anschauung, daß der Erzieher gesellschaftlich unter demjenigen steht, der ihn engagiert hat, ist uns Amerikanern nicht geläufig.“
„Amerika ist zu beneiden. Es ist ein Land, welches mit den schädlichen und lächerlichen Standesvorurteilen aufgeräumt hat.“
„Gott sei Dank, daß es so ist. Ein Mann, dem ich die Erziehung, also das Glück und die Zukunft meiner Kinder anvertraue, entweder weil ich keine Zeit zu dieser Erziehung habe, oder weil mir die Fähigkeiten dazu mangeln, dieser Mann kann doch unmöglich unter mir stehen.“
„Wollte Gott, auch andere vermöchten sich zu dieser richtigen Anschauung zu erheben!“
„Dieser Seufzer läßt mich vermuten, daß Sie in Ihrer Stellung hier sich nicht ganz glücklich fühlen?“
„Ich bin zufrieden“, antwortete Müller zurückhaltend.
„Was nennen Sie zufrieden? Zufrieden ist gar nichts; Zufriedenheit ist ein Mittelding, weder warm noch kalt, weder jung noch alt, weder arm noch reich!“
„Und doch trachten Millionen danach, nur zufrieden sein zu können.“
„Sie werden es niemals sein, weil sie es niemals sein können, weil die Ansprüche des Menschen mit seinen Erfolgen wachsen.“
„Sie sprechen von Ehrgeizigen.“
„O nein!“
„Und von Ungenügsamen.“
„Sie scheinen genügsam!“
„Mein Lebensweg ist mir vorgeschrieben. Ich tue meine Pflicht und vertraue auf Gott.“
Der Amerikaner blickte ihm forschend in das Auge.
„Herr, ist das Ihr Ernst?“ fragte er.
„Warum nicht?“
„So sind sie – ah, ja, Sie nannten sich Müller?“
„So ist mein Name.“
„So sind Sie ein Deutscher?“
„Ja.“
„Nur ein Deutscher kann so sprechen wie Sie. Nur ein Deutscher tut seine Pflicht und vertraut auf Gott. Was macht Gott aus Ihnen, wenn Sie sich nicht selbst rühren?“
„Ich rühre mich ja, wenn ich meine Pflicht tue!“
„Sie rühren sich, aber Sie streben nicht. Sie sind Erzieher; Sie werden unter Umständen Erzieher bleiben, obgleich Sie vielleicht das Zeug haben, Professor zu werden.“
Müller lächelte leise vor sich hin und antwortete:
„Haben Sie keine Sorge um uns Deutsche. Wir streben auch.“
„Wonach aber? Nach Idealen?“
„Das Ideale macht oft glücklicher als das Materielle!“
„Und doch – ja, nehmen Sie mir es nicht Übel – ich hasse diese idealen Deutschen!“
„Alle?“
„Alle! Sie haben mich um mein Ideal gebracht. Wohin werden sie gelangen? Wohin trachten sie? Wissen Sie es? Können Sie es mir sagen?“
„Von welchem Feld sprechen Sie?“
„Zunächst von der Politik.“
„Davon verstehe ich nichts.“
„Das dachte ich mir. Diese Herren Erzieher sind überall zu Hause, nur in der Politik nicht, während jeder Angehörige einer anderen Nationalität es sich angelegen sein läßt, in dieser Beziehung etwas zu leisten.“
„Hm! Es ist auch danach!“
Die Augen des Amerikaners blitzten.
„Herr, wollen Sie mich beleidigen?“ fragte er.
Es war ein eigentümlicher, übermächtiger Blick, welchen der Erzieher ihm zuwarf.
„Beleidigen?“ fragte Müller. „Wie kommen Sie zu dieser eigentümlichen Ansicht?“
„Weil Sie mir widersprechen.“
„Ist ein einfacher Widerspruch eine Beleidigung?“
„Es klang so!“
„Monsieur, Sie sind kein Amerikaner.“
„Was sonst?“
„Ein Franzose. Und zwar ein Südfranzose, wohl gar ein Korse.“
„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“
„Infolge Ihrer Gesichtszüge und Ihres hitzigen Temperaments. Sie erklären es für eine Beleidigung, daß ich mir erlaube, eine andere Ansicht als die Ihrige zu hegen und hatten mich doch selbst bereits vorher auf das empfindlichste, auf das tiefste beleidigt.“
„Donner! Wieso?“
„Indem Sie mir, dem Deutschen, in das Gesicht sagten, daß Sie die Deutschen hassen, alle, ohne Ausnahme.“
„Man darf die Wahrheit sagen.“
„Wenn sie nicht beleidigend ist, im anderen Fall verschweigt man sie, und wäre es auch nur aus reiner Höflichkeit oder aus wohlangebrachter Vorsicht.“
„Vorsicht? Meinen Sie, daß eine Offenheit wie die meinige Schaden bringen könnte?“
„Gewiß!“
„Wer will mir schaden?“
„Jeder Mann, den Sie sich zum Feind machen, kann Ihnen schaden. Ein einziger solcher aber kann Ihnen mehr schaden, als alle Ihre bedeutenden und einflußreichen Freunde Ihnen Nutzen bringen können.“
„Ah! Ist das nicht ein deutsches Sprichwort?“
„Jawohl.“
Um die Lippen des Amerikaners spielte ein eigentümliches, selbstbewußtes Lächeln. Er musterte Müller einige Augenblicke lang und sagte dann:
„Gut! Ziehen wir einen Vergleich! Ich bin reich.“
„Ich glaube es.“
„Unabhängig.“
„Höchstwahrscheinlich.“
„Einflußreich.“
„Ich gebe es zu.“
„Und Sie?“
„Hm! Ich bin das gerade Gegenteil: arm, gebunden und ohne allen Einfluß.“
„Ich glaube Ihnen, wie Sie mir geglaubt haben. Also, ich setze den Fall, daß ich sie beleidige. Wie wollen Sie mir schaden?“
Müller zuckte die Achseln.
„Gar nicht, weil ich nicht rachsüchtig bin. Ich weiß meine Ehre zu verteidigen, im übrigen aber bin ich Mensch und Christ.“
„Dann sind Sie ein seltenes Exemplar des Genus Homo. Aber so war es ja gar nicht gemeint. Setzen wir vielmehr den Fall, daß Sie rachsüchtig wären. In welcher Weise wollten Sie mir schaden?“
Da hoben sich Müllers Lider langsam empor; seine Augen ruhten eine ganze Weile still, fest und ernst in denen seines Nachbarn; dann zuckte er kurz die Achseln und antwortete:
„Ich würde mich dadurch rächen, daß ich mich ganz und gar nicht mit Ihnen beschäftige.“
Diese Worte wurden in einem Ton gesprochen, aus welchem eine gewisse Bedeutung klang, welche der Amerikaner nicht zu überhören vermochte. Er fragte:
„Ich verstehe Sie nicht. Wie meinen Sie das? Sie würden mich verachten?“
„Nein.“
„Nun denn, ich würde für Sie gar nicht existieren?“
„So meine ich es.“
„Und dadurch würden Sie mir schaden?“
„Ja.“
„Das ist mir ein Rätsel.“
„Und doch ist es so deutlich und verständlich. Wenn ich Ihnen schade, in dem ich Sie nicht beachte, bringe ich Ihnen –.“
„Jetzt verstehe ich“, fiel der Amerikaner rasch ein. „Sie meinen, daß es ein Vorteil für mich sein würde, daß Sie sich mit mir beschäftigen?“
„Ja.“
Man sah es Deep-hill an, daß er sich von dem Verhalten und den Worten Müllers frappiert fühlte.
„Sprechen Sie noch im Beispiel, oder bewegen Sie sich bereits in der Wirklichkeit?“ fragte er.
„Dies zu beurteilen muß ich Ihnen überlassen.“
„Gut! Das ist genug. Sie haben etwas. Sie haben ein Geheimnis. Sie können mir nützen, in dem Sie es mir mitteilen, und schaden, wenn Sie es verschweigen.“
Müller zuckte die Achseln und antwortete:
„Man merkt allerdings, daß Sie eine Art Diplomat sind. Diese Herren sehen hinter jedem Wort ein Geheimnis.“
„Hier aber handelt es sich in Wahrheit um ein solches.“
„Vielleicht sind Sie selbst dieses Geheimnis“, antwortete Müller.
„Oder Sie?“
Er fixierte den Erzieher abermals und fuhr dann fort:
„Mir ist, als ob ich Sie bereits gesehen hätte.“
„Ich war nie in Amerika.“
„Da nicht.“
„Auch nie in Südfrankreich.“
„Ich meine nicht, daß ich Sie, ihre wirkliche Person gesehen habe, sondern ich finde in Ihren Zügen etwas, so etwas, wie nenne ich es nur? So etwas Bekanntes, Anheimelndes.“
„Anheimelnd? Der Deutsche, den Sie hassen!“
„Dennoch! Ich möchte allerdings in diesem Augenblick sagen, daß ich doch nicht alle Deutschen hasse! Sie haben gewisse Züge, die mir entweder bereits lieb sind oder lieb werden könnten, ich weiß nur nicht – ah, da fällt es mir ein.“
Er faßte Müller beim Arm und drehte ihn so, daß er sein Profil vor sich hatte.
„Ja“, sagte er; „so ist es! Es ist kein Irrtum. Es sind dieselben Grundzüge, nur schärfer, ausgeprägter, mit einem Wort, männlicher! Waren Sie in England?“
„Nein.“
„Haben Sie Verwandte dort?“
„Auch nicht.“
Müller ahnte, was kommen werde. Er war zu scharfsinnig, um es nicht sofort zu vermuten, behielt aber seine ganz und gar unbefangene Miene bei und fragte:
„Es gibt wohl irgendeine zufällige Ähnlichkeit?“
„Ja.“
„Darf ich fragen mit wem?“
„Mit einer Dame.“
„Ihrer Bekanntschaft?“
„Eigentlich nicht, obgleich ich sie gesehen und gesprochen habe.“
„Fast möchte ich neugierig werden.“
„Auch Sie haben sie gesehen. Erinnern Sie sich Miß de Lissa, jener Engländerin, welche heute die Verwundeten mit verband?“
„Ja. Sie war meist in Gesellschaft unserer gnädigen Baronesse Marion.“
„Ja, ich bin mit ihr von Trier aus gefahren und hatte das Glück, sie zu retten. Mit dieser Dame haben Sie eine Ähnlichkeit. Jetzt weiß ich es ganz genau.“
„So ist es eben nur ein Zufall, wie so oft.“
„Gewiß. Diese Dame hat einen eigentümlichen, ich möchte sogar sagen, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und jedenfalls trägt diese Ähnlichkeit die Schuld, daß ich in Ihnen nicht den Deutschen vor mir habe.“
„So bin ich dieser Dame zu großem Dank verpflichtet.“
„Das soll heißen, daß Sie auch gegen mich keine Abneigung empfinden?“
„Ja, das wollte ich sagen.“
„Gut, mein Lieber. Lassen Sie uns, wenn auch nicht Freunde, aber doch auch keine Feinde sein.“
„Gern, gern. Und wunderbar! Was mich zu Ihnen zieht, scheint auch eine Ähnlichkeit zu sein.“
„Ah! Das wäre allerdings ungewöhnlich.“
„Es ist wirklich so. Ich kenne eine Dame –“
„Eine Dame?“ fiel der Amerikaner lachend ein. „Bin auch ich einer Dame ähnlich?“
„Ja.“
„Für welche Sie Sympathie hegen?“
„Gewiß.“
„Das ist lustig, Monsieur Müller. Wer ist diese Dame?“
„Die Gesellschafterin der Baronesse.“
„Sie wohnt also hier auf Ortry?“
„Ja, ist aber gegenwärtig verreist.“
„So bin ich neugierig, sie zu sehen. Wann kehrt sie zurück?“
„Vielleicht übermorgen. Sie ging, ihren Vater zu begraben.“
„Wie heißt sie?“
„Nanon Charbonnier.“
„Nanon! Welch ein Name. Ich hatte einst – ah, das gehört ja nicht hierher. Also ihr sehe ich ähnlich.“
„Ja.“
„Das ist ebenfalls Zufall.“
„Ich bezweifle es nicht. Aber die Dame, welcher ich ähnlich sehe, muß ich mir doch einmal genauer betrachten. Kennen Sie ihren vollständigen Namen?“
„Miß Harriet de Lissa aus London.“
„Wo wohnt sie?“
„Bei einem Doktor Bertrand in Thionville.“
„Hm! Man müßte einmal Patient sein.“
„Das ist nicht nötig. Ich bin überzeugt, daß Sie diese Dame hier auf Ortry sehen werden.“
„Wirklich?“
„Ja. Baronesse Marion scheint Freundschaft mit ihr geschlossen zu haben und sprach davon, sie einzuladen. Es war das heute beim Nachtisch, als Sie sich bereits von der Tafel entfernt hatten.“
„Diese Einladung ist nicht so leicht; sie hängt von dem Willen des Kapitäns ab, welcher hier ein sehr strenges Regiment zu führen gewohnt ist.“
„Pah! Gastfreundschaft wird doch gepflegt?“
„Auf Ortry nicht. Der Kapitän ist nicht gesellig.“
„Das habe ich bemerkt. Ich bin an ihn adressiert; ich wurde nach Ortry eingeladen; der Kapitän hat mich an der Bahn gesehen und mir die Weisung gegeben, auf das Schloß zu kommen, und dennoch habe ich ihn hier noch nicht gesehen.“
„Daß er sein Zimmer noch nicht verlassen hat, weiß ich, aber ich dachte, er hätte Sie zu sich rufen lassen.“
„Das ist nicht geschehen.“
Müller nickte leise vor sich hin.
„Diese Vernachlässigung scheint unbegreiflich; er ist aber ein vollständig unberechenbarer Charakter.“
„Seine Zurückgezogenheit muß mir um so mehr auffallen, als er begründete Ursache hat, sich darüber zu freuen, daß nicht auch ich zu den Opfern der heutigen Katastrophe gehöre. Meine Rettung bringt ihm Gewinn.“
Um Müllers Lippen flog ein fast unbemerkbares Zucken, doch ging er auf dieses Thema gar nicht ein, sondern sagte:
„Wie ich hörte, haben Sie Ihre Rettung einem Bürger aus Thionville zu verdanken?“
„Ich zweifle, daß er da Bürger ist. Ich saß mit ihm in einem Coupé. Er unterließ es, sich genau vorzustellen. Er sagte, daß er Pflanzensammler sei.“
„Ah! Bei Doktor Bertrand?“
„Ja, wo die Engländerin wohnt. Kennen Sie vielleicht diesen Kräutermann?“
„Ich bin ihm im Wald begegnet.“
„Er scheint mehr zu sein als das, wofür er sich ausgibt.“
„Hm. Möglich.“
Der Amerikaner fixierte Müller abermals. Er sagte:
„Sie sprechen diese Worte mit einer so eigentümlichen Betonung aus. Steckt vielleicht irgendein verborgener Sinn hinter ihnen?“
„Ja.“
„Welcher?“
„Das zu erklären, bitte ich, mir zu erlassen.“
„Wetter noch einmal! Sie spielen den Geheimnisvollen?“
„Geradeso wie Sie.“
„Monsieur! Ich begreife Sie wieder nicht!“
„Aber ich Sie. Sie werden diesen Pflanzensammler für seine Tat belohnen?“
„Ganz gewiß werde ich das.“
„Sie werden ihn also aufsuchen oder ihn nach Ortry kommen lassen?“
„Jedenfalls. Ich muß doch unserem Retter dem Kapitän vorstellen. Er hat ja auch die Schwester dieser Gesellschafterin gerettet.“
„Und doch werden Sie das nicht tun.“
„Nicht? Ihn nicht kommen lassen und auch nicht belohnen?“
„Auch nicht. Er würde nichts von Ihnen annehmen.“
„Sie kennen ihn also genauer, als Sie vorhin ahnen ließen?“
„Ja.“
„Monsieur Müller, so habe ich mich in Ihnen getäuscht. Sie sind nicht wirklich ein Deutscher.“
„Warum nicht?“
„Weil Sie ein Freund des sogenannten Pflanzensammlers sind. Habe ich recht?“
„Ich bin allerdings sein Freund. Ich nenne ihn sogar du, wenn wir uns unter vier Augen befinden.“
„Nun gut, so sind Sie auch kein Deutscher. Der Kapitän wird niemals einen Deutschen anstellen, und ein Deutscher wird, wenn er Ehre besitzt, nicht gegen sein Vaterland konspirieren.“
„Ah, ich konspiriere gegen Deutschland?“
„Ja. Der Pflanzensammler ist ein Eingeweihter, und Sie als sein Freund können es nicht weniger sein.“
„Ja, er ist eingeweiht, und ich bin noch unterrichteter als er, sogar unterrichteter als der Kapitän.“
Der Amerikaner machte doch ein sehr verwundertes Gesicht. Das hatte er nicht erwartet.
„Noch mehr als der Kapitän?“ fragte er.
„Ja, sogar noch unterrichteter als Graf Rallion.“
„Donnerwetter! Sie wissen alles?“
„Alles. Zunächst erwarte ich, daß Sie ein Ehrenmann sind?“
„Zweifeln Sie etwa daran?“ brauste der andere auf.
„Nein. Es liegt in Ihrem Interesse, daß Sie mir Vertrauen schenken. Ich habe eine Bitte, versichere Ihnen aber, daß ich nichts verlangen werde, was gegen Ihre Ehre oder auch nur gegen Ihren Vorteil sein würde.“
„Was wünschen Sie?“
„Ihr Ehrenwort, über alles, was wir jetzt gesprochen haben und noch sprechen werden, zu schweigen.“
Der Amerikaner blickte nachdenklich auf die Hand, welche Müller ihm entgegenstreckte, sagte dann aber doch:
„Sie sind eingeweiht, Sie machen auf mich einen guten Eindruck, den Eindruck, daß ich Ihnen vertrauen kann; gut, hier meine Hand! Ich werde schweigen, solange Sie es wünschen.“
Sie schlugen ein. Dann sagte Müller:
„Ich bin nicht der, welcher ich scheine –“
„Das habe ich mir bald gesagt“, fiel Deep-hill ein.
„Ich halte Fäden in der Hand, von denen Rallion und Richemonte keine Ahnung haben. Sie selbst, Monsieur, wissen noch weniger als diese beiden.“
„Das ist richtig. Ich hoffe aber, genügendes zu erfahren.“
„Das werden Sie. Sie sind gekommen, um Frankreich mit Geld zu unterstützen?“
„Frankreich eigentlich nicht, sondern die Arrangeurs des Freischarenwesens.“
„Als solche sind Ihnen nur Rallion und Richemonte bekannt, wenn ich mich nicht irre?“
„Allerdings.“
„Man wußte, mit welchem Zug Sie kamen?“
„Ganz genau.“
„Und daß Sie das Geld bei sich hatten?“
„Auch das.“
„Man wollte sich in den Besitz dieser Summen setzen, ohne sich Ihnen zu verpflichten –“
„Mich berauben, meinen Sie?“
„Ja.“
„Und töten?“
„Ja.“
„Durch die Entgleisung der Eisenbahn?“
„Ja.“
„Ich glaube es, denn das ist nunmehr nachgewiesen. Nur eines ist mir da unbegreiflich.“
„Sie werden es wohl bald begreifen.“
„Ich meine nämlich, daß die Mörder diese Umstände so genau wissen konnten.“
„Darüber bin ich mir sehr im klaren.“
„Aber Rallion und Richemonte waren ja ganz allein im Geheimnis!“
„Das eben beweist, wer die Mörder sind.“
Der Amerikaner öffnete die Augen weit und blickte Müller erschrocken an.
„Alle tausend Teufel!“ sagte er. „Sie meinen doch nicht etwa gar, daß –“
„Nun, was? Aber sprechen Sie leise!“
„Daß Rallion –“, fuhr der Amerikaner fort.
Müller nickte bloß.
„Und der Kapitän?“
„Jawohl.“
„Die Mörder gedungen haben?“
„Gerade das und nichts anderes meine ich.“
„Das wäre ja fürchterlich!“
„Oh, diese beiden haben noch ganz anderes vollbracht! Hören Sie, was ich Ihnen sagen werde. Der Kapitän hat sich heute vor Ihnen noch nicht sehen lassen, um nicht gezwungen zu sein, mit Ihnen über den Fall zu sprechen.“
„Er ließ sich mit Unwohlsein entschuldigen.“
„Welches Zimmer bewohnen Sie?“
„Da oben die drei Fenster.“
Er deutete empor. Es war dieselbe Wohnung, in welcher der Fabrikdirektor ermordet worden war. Müller nickte, er hatte bereits seine Beobachtungen gemacht.
„Gut“, sagte er. „Denken Sie einmal, daß ich allwissend bin. Der Kapitän hat heute ein Gift präpariert –“
„Donnerwetter! Doch nicht etwa für mich?“
„Für Sie.“
„Ich danke sehr!“
„Keine Sorge. Sie sollen nicht sterben, wenigstens jetzt noch nicht, sondern nur fest schlafen.“
„Wozu?“
„Jedenfalls will er Ihre Brieftasche untersuchen, in welcher Weise deren Inhalt Wert auch für ihn hat.“
„Ohne meine Unterschrift gar keinen.“
„Weiß er das?“
„Ich denke.“
„Trotzdem wird er kommen. Ich habe ihn beobachtet. Er hat den Eintritt bei Ihnen ganz genau untersucht und sich dann von dem Gift in einer Phiole gegossen; also handelt es sich um Sie.“
„Ich schieße ihn nieder!“
„Das werden Sie nicht tun, denn gegenwärtig befindet sich in dieser Phiole und auch in der Flasche, aus welcher sie gefüllt wurde, nur Wasser. Ich habe heimlich Zutritt bei ihm genommen und die Umtauschung bewerkstelligt. Nun steht zu erwarten, daß er Ihnen den Inhalt der Phiole heimlich beibringt.“
„Den Teufel werde ich trinken!“
„Nein, gerade alles werden Sie trinken, was man Ihnen vorsetzt. Der Alte wird dann überzeugt sein, daß das Gift bei Ihnen wirkt, und in Ihr Zimmer kommen, um Ihre Brieftasche zu untersuchen.“
„Woher wissen Sie das alles?“
„Ich weiß es nicht, sondern ich vermute es; ich kombiniere es mir. Es ist aber eben so gewiß, als ob ich es genau weiß.“
„Ich bewundere Sie. Was aber soll ich tun? Was Sie mir da raten, ist zu gefährlich.“
„Nein. Ich garantiere Ihnen mit meinem Ehrenworte, daß Sie keinen Schaden leiden werden.“
„Ihr Ehrenwort? Hm! Ja. Ich kenne Sie nicht. Sie sind der Hauslehrer Müller. Kann man einem solchen Mann so mir nichts, dir nichts das Leben und Vermögen anvertrauen?“
Da kam dem Erzieher ein Gedanke. Er ließ ein überlegenes Lächeln sehen und sagte:
„Gut, Sie sollen mich kennen lernen und Vertrauen zu mir haben. Ich mußte Ihnen die Wahrheit verschweigen, weil ich Ihrer noch nicht sicher war. Ich bin in England gewesen.“
Der Amerikaner horchte auf.
„Wirklich?“
„Ja. Ich bin sogar ein Engländer.“
„Alle Wetter! Und diese Ähnlichkeit –“
„Ich heiße de Lissa.“
„Welche Überraschung! Jene Dame ist Ihre Verwandte?“
„Ja, meine Schwester. Jetzt bin ich aufrichtig mit Ihnen gewesen. Werden Sie sich mir nun anvertrauen?“
Da streckte ihm der Amerikaner die Hand entgegen und sagte:
„Hier meine Hand! Ich bin der Ihrige ganz und gar, so weit Sie nur über mich verfügen wollen.“
„Gut. Sagen muß ich Ihnen, daß der Kapitän Sie heimlich beobachten wird. Er vermag Ihr ganzes Zimmer zu überblicken.“
„Wieso?“
„Das kann ich Ihnen nicht beschreiben, werde es Ihnen aber baldigst zeigen. Was Sie nur immer in Ihrem Zimmer tun, das tun Sie ganz in der Voraussetzung, daß der Alte Sie beobachtet. Sie werden also genießen, was man Ihnen bietet?“
„Ja, da Sie es wollen.“
„Sie beschäftigen sich vor dem Schlafengehen mit Ihren Wertpapieren, damit der heimliche Beobachter sieht, wo Sie dieselben hinlegen!“
„Sie sind schlau!“
„Dann stellen Sie sich tief schlafend und bewegen sich auch nicht, so lange er sich in Ihrem Zimmer befindet. Das Licht verlöschen Sie natürlich, sobald Sie sich zur Ruhe legen.“
„Aber wenn er mir an das Leben will?“
„Das tut er nicht; bevor Sie die Papiere nicht mit Ihrer Unterschrift versehen haben, wird er Sie schonen. Übrigens können Sie, wenn sie das Licht verlöscht haben, wieder aufstehen, um sich eine Waffe, ein Messer mit in das Bett zu nehmen. Später komme ich, um mich zu überzeugen, ob meine Vermutungen in Erfüllung gegangen sind.“
„So soll ich meine Zimmertür nicht verschließen?“
„Verschließen Sie dieselbe fest; ich komme trotzdem zu Ihnen, ebenso wie der Alte.“
„So gibt es einen geheimen Eingang in mein Zimmer?“
„Ja.“
„Nun, Monsieur, ich danke für so ein gastfreundliches Haus, in welchem man seines Lebens keinen Augenblick sicher sein kann.“
„Ich wache über Sie. Jetzt sind wir fertig und können uns trennen. Adieu, Monsieur.“
Er erhob sich von der Bank. Der Amerikaner tat dasselbe, faßte ihn aber bei der Hand und hielt ihn zurück.
„Halt, Mylord“, sagte er, „ich will –“
„Pst!“ fiel Müller ein. „Nicht dieses englische Wort, selbst nicht, wenn Sie denken, mit mir unter vier Augen zu sein. In diesem Haus hat alles Ohren.“
„Gut, Monsieur Müller. Noch eines, ehe wir uns trennen. Ich bin reich –“
Müller nickte nur. Er ahnte, was nun kommen werde.
„Und unabhängig, eigentlich auch von altem, gutem, makellosem Adel. Ich habe Ihre Schwester gesehen. Wollen Sie als Ehrenmann mir eine Frage beantworten?“
„Gern.“
„Ist das Herz dieser Dame noch frei?“
„Ich glaube es. Ich bin überzeugt, daß sie mir, falls das Gegenteil stattfände, sofort ihr Vertrauen geschenkt hätte.“
„Haben Sie oder hat Ihre Familie vielleicht irgendwelche Berechnungen auf die Hand dieser Dame gegründet?“
„Nein; sie hat das Recht, ihr Herz wählen zu lassen.“
„Würden Sie mir erlauben, mich ihr zu nähern?“
„Ja, wenn Sie wirklich der Ehrenmann sind, für den ich Sie halte.“
„Zweifeln Sie ja nicht daran. Sie haben recht geraten. Ich bin Franzose; ich stamme aus dem schönen Süden Frankreichs. Traurige Verhältnisse, an denen ich nicht schuld war und welche nicht den geringsten Makel auf meine Ehre werfen, trieben mich in die Ferne. Ich kann in jedem Augenblick meinen wahren Namen wieder tragen. Sollte es mir gelingen, das Herz dieser Dame zu erringen, so dürfen Sie versichert sein, in mir einen ehrenwerten Freund und Verwandten zu finden.“
Müller zeigte sich keineswegs begeistert; er antwortete kalt, aber freundlich:
„Versuchen Sie Ihr Heil! Vielleicht sind Sie glücklicher als andere. Meine Schwester ist ein ernster Charakter. Sie ist nicht leicht zu erringen.“
„Desto größeren Wert hat dann der Sieg. Und, Monsieur, ich darf doch erwarten, daß sie kein Wort von unserer Unterhaltung ahnen wird?“
„Gewiß. Unser gegenseitiges Ehrenwort legt uns ja das tiefste Schweigen auf. Adieu! Auf Wiedersehen heute in der Nacht!“
Er ging. Der Amerikaner blickte ihm nach und murmelte:
„Wer hätte das gedacht! Dieser Mann ist ein ganzer Mann, ein Diplomat wie selten einer. Ich bin überzeugt, daß ich ihn auch jetzt noch nicht zum kleinsten Teil durchschaue. Eine wahre Hünengestalt! Wie schade um diese häßliche Verkrümmung! Eigentümlich, daß gerade Buckelige meist so einen scharfen Geist besitzen! Ich werde ihm vertrauen, seinetwegen und seiner Schwester wegen.“ – – –
Der heutige Eisenbahnunfall hatte die Bevölkerung der ganzen Umgegend in Aufruhr gebracht und auch die Tagesordnung auf Schloß Ortry gestört. Es gab keinen Unterricht. Alexander hatte sich mit einem Reitknecht nach der Unglücksstelle begeben; so war Müller also frei.
Er tat, als ob er nach dem Park spaziere, bog aber bald seitwärts ein, um auf schmalen Feldwegen die Stadt zu erreichen. Dort angekommen, begab er sich zu Doktor Bertrand, welcher ihm entgegenkam.
„Ah, Herr Doktor Müller!“ sagte er. „Beabsichtigen Sie vielleicht eine Audienz bei Miß de Lissa nachzusuchen?“
„Ja. Ist sie zu sprechen?“
„Sie ist ganz allein in ihrem Zimmer. Soll ich Sie anmelden, oder –“
„Bitte, anmelden!“
Der Arzt öffnete die Tür und sagte hinein:
„Herr Doktor Müller aus Ortry. Ist es erlaubt?“
„Ja. Herein!“
Als Müller eintrat, hatte Emma sich von ihrem Sitz erhoben. Sie wartete, bis er die Tür zugemacht hatte, dann eilte sie auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
„Richard, lieber Richard!“ sagte sie, ihn herzlich küssend. „Endlich! Da draußen an der Bahn durfte ich ja gar nicht merken lassen, daß ich dich kenne!“
„Meine liebe Emma! Wer hätte gedacht, daß ich dich hier sehen würde!“
„Kannst du mir verzeihen?“
„Nun, einen ziemlichen Strich durch die Rechnung macht mir dein Kommen schon.“
„Schadet es sehr?“
„Vielleicht nicht; aber wenn man dich erkennt!“
„Wer sollte mich erkennen?“
„Der alte Kapitän!“
„Oh, der soll mich gar nicht sehr zu sehen bekommen!“
„Und dann unsere große Ähnlichkeit!“
„Ähnlichkeit? O weh! Bin ich dir auch jetzt noch ähnlich? Ich danke! Dieses Haar!“
„Falsche Perücke!“
„Der prachtvolle Bart fort!“
„Er mußte weichen!“
„Dieser Zigeunerteint!“
„Abgekochte Walnußschale! Sogar hier an den Händen!“
„Und dann dieser – dieser – schauderhaftes Wort! – dieser fürchterliche Buckel!“
„Wurde für notwendig gehalten!“
„Aber ich schäme mich in deine Seele hinein!“
„Pah! Die Metamorphose wird nicht auf sich warten lassen!“
„Hoffentlich! Also setze dich und beichte! Wie steht es mir dem Krieg?“
„Er ist vor der Tür.“
„Und mit dem Sieg?“
„Den erhalten wir!“
„Gott sei Dank! Nun will ich herzlich beten, daß du nicht verwundert wirst! Der Maler ist bei Großpapa.“
„Ah, doch!“
„Großpapa wird ihn an der Nase führen. Schreibe nur gleich mehrere Berichte, die wir ihm in die Hände spielen.“
„Das soll heute nacht geschehen. Aber nun ausführlich! Wie kommst du auf den Gedanken, mich zu überraschen?“
„Aufrichtig gestanden, zunächst aus weiblicher Neugierde.“
„Wegen Marion?“
„Ja.“
„Nun, wie gefällt sie dir?“
Da wurde Emma ganz begeistert.
„Ein wunderbar schönes, ganz und gar eigenartig schönes Mädchen!“ sagte sie.
„Orientalisch, nicht?“
„Ja, aber keineswegs jüdisch. Und dieser Geist, dieses Gemüt! Richard, ich bin in sie verliebt, ganz und gar verliebt, mehr als du selbst!“
„Das macht mich glücklich! Denkst du, daß Großpapa ihr gut sein kann?“
„Sofort, obgleich er ganz dagegen ist, daß du eine Französin heimführst.“
„Es scheint also, du hast ihm mein Geheimnis verraten?“
„Es ging nicht anders!“
„Plaudertasche! Und du? Aufrichtig! Möchtest du nicht auch so glücklich sein, wie ich?“
„Wie gern! Aber ich bin nun einmal ein großes, dummes Kind! Ich warte auf irgendeinen Prinzen. Der, den ich liebe, darf kein gewöhnliches Menschenkind sein.“
„Was sonst? Ein Engel? Ein Halbgott?“
„Nein, nein; das nicht. Ich kann nicht das rechte Wort finden es zu beschreiben. Ich habe eine ganze Fülle von Liebesbedürfnis in mir; ich befürchte, daß meine Zärtlichkeit einen Mann erdrücken möchte. Daher passe ich wohl für einen, der vorher viel gelitten hat.“
„Einen Ritter!“
„Aber nicht von der traurigen Gestalt! Schön muß er auf alle Fälle sein!“
„Reich auch!“
„Nein!“
„Vornehm!“
„Nein, aber edel und gut. Wenn ich so nachdenke, so meine ich, daß er dunkel sein müßte.“
„O weh!“
„Lockenköpfig! Südliches Profil!“
„Oh, noch weher!“
„Wieso?“
„Ich habe keine Sympathie für Südländer. Sie sind wie Strohfeuer. Ein nördlicher Jüngling mit semmelblondem Scheitel und Lieutenantspatent, das wäre mein Ideal, wenn ich eine junge Dame wäre.“
„Dann könntest du jeden guten Pommern heiraten. Die passen alle in diesen Rahmen. Hast du heute den Amerikaner gesehen, welcher mit beim Zug war?“
„Wegen dessen das Unglück überhaupt passiert ist. Natürlich sah ich ihn. Was ist mit ihm?“
„Das war ein schöner Mann!“
„Pah! Ein Sklavenbaron!“
„Das glaube ich nicht.“
„Nun, dann ein Ölprinz oder Baumwollgraf. Oder er pflanzt Mais und Tabak.“
Sie wendete sich ab und meinte schmollend:
„Weiß du, daß ich ihm das Leben zu verdanken habe?“
„Allerdings, du wirst dich bedanken müssen.“
„Er ist auf Ortry?“
„Ja.“
„Wenn er wissen dürfte, daß du mein Bruder bist, so –“
„Er weiß es bereits“, fiel Müller ein.
Rasch drehte sie sich ihm wieder zu.
„Wirklich? Ist das nicht außerordentlich gewagt? Es darf doch hier kein Mensch hören, daß wir Königsau heißen.“
„Das weiß er auch nicht. Ich lebe inkognito als Doktor Müller auf Ortry, heiße aber eigentlich de Lissa und bin ein Engländer.“
„Ah. Wie bist du auf diese Idee gekommen?“
„Auf eigentümliche Weise. Du hast gehört, daß er eine Menge Geld mitgebracht hat?“
„Ja.“
„Auch zu welchem Zweck?“
„Auch das.“
„Nun, er sollte doch getötet werden.“
„Ist das wirklich wahr?“
„Ja. Ich und Fritz haben gestern die Kerls belauscht. Die Tat ist nicht gelungen. Nun will ihm der alte Kapitän ans Leben.“
„Um Gottes willen! Kannst du ihn nicht warnen, ihn retten?“ fragte sie voller Angst.
„Ich habe ihn bereits gewarnt und hoffe, in ihm einen Verbündeten zu gewinnen. Dann entgeht den Franzosen seine Hilfe. Natürlich aber hält er mich für einen Freund Frankreichs, wenn auch für einen Feind des Kapitäns.“
„Es wird ihm doch nichts geschehen?“
„Nein. Ich wache über ihn!“
„Tu das! Du weißt, ich schulde ihm mein Leben“, sagte sie, indem sie in sichtlicher Angst seine Hand erfaßte. „Wird er deiner Warnung Gehör schenken?“
„Gewiß. Er hat es mir versprochen. Es ist möglich, daß du ihm begegnest. Sei dann vorsichtig. Laß dich nicht über die Verhältnisse der Familie Lissa ausfragen. Wir könnten uns widersprechen.“
„Ich glaube, Marion wird mich einladen.“
„O weh!“
„Hast du wirklich solche Sorge vor dem alten Kapitän?“
„Der Mensch ist wirklich gefährlich scharfsinnig.“
„Ich werde mich in acht nehmen. Ich möchte ihn doch zu gern einmal sehen.“
„Emma, du spielst mit dem Feuer!“
„Also soll ich absagen, wenn Marion mich bittet?“
„Na, versuche es! Wir wollen es wagen! Aber nun die weiteren Gründe deiner Reise?“
„Schneeberg.“
„Das hättet ihr mir überlassen können.“
„Du weißt alles?“
„Ja.“
„Hältst du ihn für einen der verlorenen Knaben?“
„Der Löwenzahn ist echt.“
„Das ist die Hauptsache.“
„O nein. Dazu gehört der Beweis, daß der Zahn niemals in unrechte Hände gekommen ist. Dieser Beweis muß erst noch erbracht werden.“
„Wer aber soll ihn führen?“
„Ich denke, das selbst zu tun!“
„Du? Inwiefern? Besitzt du die Unterlagen?“
„Noch nicht; ich werde sie aber besitzen. Ich muß nun erst den Aufenthalt dieses Bajazzo ausfindig machen.“
„Das soll dir schwerfallen!“
„Leider! Dann aber habe ich, wenn ich mich nicht irre, noch eine weitere Spur, über welche du dich nicht nur wundern, sondern geradezu erstaunen wirst.“
„Du macht mich neugierig!“
„Haller!“
„Der Maler?“
„Ja.“
„Mein Gott, wieso? Er hat allerdings eine ganz ungemeine Ähnlichkeit mit Fritz Schneeberg!“
„Das fiel mir auch sofort auf, als ich ihn hier in Ortry zum ersten Mal erblickte. Er heißt eigentlich Bernard Lemarch und ist Chef d'Escadron, also Rittmeister. Sein Vater ist ein Graf Lemarch in Paris.“
„So kann er doch kein Findelkind sein!“
„Warum nicht? Bei solchen Ähnlichkeiten glaube ich an keinen Zufall; ich glaube vielmehr, daß diese beiden Brüder sind. Ich habe auch bereits meine Maßregeln getroffen und an die Gesandtschaft nach Paris geschrieben. Ich werde bald erfahren, ob dieser Haller ein echter Sohn des Grafen Lemarch ist. Sollte dies nicht der Fall sein, so haben wir bereits sehr viel gewonnen.“
„Möchten wir nicht Onkel Goldberg doch eine Mitteilung machen? Vielleicht wäre es besser.“
„O nein. Regen wir ihn jetzt nicht auf. Wir müssen unbedingt schweigen, bis wir uns auf breiter Fährte befinden. Und das soll hoffentlich bald der Fall sein.“
Damit waren die Hauptsachen besprochen. Die beiden unterhielten sich noch einige Zeit von anderem, gaben einander Auskunft, besprachen verschiedenes, und dann entfernte sich Müller, um nach Ortry zurückzukehren.
Er ging jetzt nicht den Feldweg, sondern die Straße. Da lag an derselben eine Schenke, deren Wirt zugleich das Recht der Ausspannung besaß. Kurz bevor er dieselbe erreichte, lag ein junger Mann jenseits des Straßengrabens im Gras. Er war beinahe elegant gekleidet und hatte zum Schutz gegen die schrägfallenden Strahlen der untergehenden Sonne den Hut auf das Gesicht gelegt. So war es unmöglich, das letztere zu erkennen, während hingegen er unter dem Hut hervor alles genau sehen konnte.
Müller hatte nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen und wollte vorüber; da aber machte der im Gras Liegende eine Bewegung, doch ohne den Hut vom Gesicht hinweg zu nehmen.
„Alle Teufel! Sehe ich recht?“ rief er aus.
Müller blieb stehen. Es befand sich kein Mensch in der Nähe, folglich mußten diese Worte ihm gelten.
„Meinen Sie mich?“ fragte er.
Der Fremde hatte französisch gesprochen; jetzt antwortete er in deutscher Sprache:
„Natürlich! Wen denn sonst!“
Müller erschrak. Sollte er von irgendeinem beliebigen Menschen erkannt worden sein? Fatal! Er behielt also die französische Sprache bei:
„Wer sind Sie denn?“
„Kennt mich der Mensch nicht!“
„Nehmen Sie den Hut vom Gesicht weg!“
„Komm her, und nimmt ihn selber weg! Es ist nur der Überraschung wegen.“
„Hol Sie der Teufel! Ich weiß nicht, was Sie wollen!“
Er wollte weitergehen, da aber rief der andere, doch ohne den Hut noch zu entfernen:
„Richard, alter Junge! Das wirst du doch gerade mir nicht antun! Komm her! Mach mir den Spaß, und nimm den verteufelten Hut weg, damit sich meine Seele an deinem Gesicht weiden kann!“
Er zögerte. Ein Bekannter mußte es sein, darüber gab es gar keinen Zweifel. Er sprang also über den Straßengraben, bückte sich über den noch immer in dem Gras Liegenden und schob den Hut zur Seite. Sein Erstaunen war allerdings ebenso groß wie freudig.
„Hohenthal! Arthur! Wer hätte das vermutet!“
„Ich dachte auch nicht, dich gleich hier zu treffen“, antwortete der angebliche Weinhändler, in dem er endlich aufsprang.
„Du hier im Gras! So unverhofft!“
„Und du hier mit dem Buckel! Mensch, Kamel oder vielmehr, Dromedar, denn du hast ja nur einen Höcker! Wie siehst du aus!“
„Sehr distinguiert! Nicht wahr?“
„Ja. Dieses Haar, diese Farbe! Man könnte sich totlachen, wenn man nicht da in der Nähe Franzosen wüßte!“
„Aber doch scheint meine Verkleidung höchst unzureichend zu sein.“
„Warum?“
„Weil du mich sofort erkannt hast.“
„Das bilde dir nicht ein! Ich wußte, daß du auf Schloß Ortry haust; ich wollte dich besuchen. Daher kam es, daß ich dich erkannte, sonst aber nicht.“
„Mich besuchen?“
„Ja, natürlich.“
„Du kommst aus Paris?“
„Über Metz.“
„Wo hast du Station?“
„An letzterem Ort.“
„Welche Geschäfte?“
„Sehr gute. Und du?“
„Auch nicht schlecht.“
„Ich komme, um dir einige Mitteilungen zu machen, welche für dich von allergrößter Wichtigkeit sind. Hast du Zeit?“
„Für solche Angelegenheiten und für deine Person natürlich stets, lieber Arthur.“
„Gut! Aber wollen wir unsere Konferenz gleich hier abmachen? Gibt es keinen besseren Ort?“
„Hm!“ antwortete Müller, sich umblickend. „Wir müssen unbeobachtet sein!“
„Wenigstens unbelauscht!“
„Na, da an der Schenke ist eine Laube. Nicht?“
„Ja, ein Glas Wein oder Bier käme mir recht. Ich bin durstig gelaufen.“
„So komm!“
Sie schritten auf die Schenke zu. Da kam eine Equipage daher gerollt. Marion saß ganz allein in derselben. Müller blieb stehen und grüßte höflich. Hohenthal tat infolgedessen dasselbe.
„Himmelelement!“ sagte er, als der Wagen vorüber war. „Das war eine Schönheit!“
„Nicht wahr?“
„Pikfein! Wer das haben könnte!“
Er schnalzte mit der Zunge, wie ein Weinkenner, welcher einen guten Tropfen geschmeckt hat.
„Du hast doch stets Appetit!“ lachte Müller.
„Du nicht auch? Nein, du lebst nur für den Dienst des Königs, nicht aber für den viel süßeren der Frauen. Wer übrigens war diese Fee?“
„Die Baronesse von Sainte-Marie.“
„Auf Ortry etwa, deine junge Herrin also?“
„Nein, sondern die Schwester meines Zöglings.“
„Sapperlot! Unverheiratet?“
„Ja.“
„Verlobt?“
„Nein.“
„Verliebt?“
„Nein.“
„Du, Kamerad, zeige mir einmal deine Hand.“
„Hier! Warum?“
„Den Puls!“
„Ach so! Brennt es?“
Hohenthal fühlte mit ernster Miene den Puls und sagte dann in kläglichem Ton:
„Aus dir wird kein Mensch gescheit. Ich wollte, ich hätte meinen Martin da; der versteht es besser.“
„Allerdings, ein gelungener Kerl!“
Sie hatten jetzt die Laube erreicht und traten ein. Der Wirt fragte nach ihrem Wunsch, erfüllte denselben und entfernte sich dann. Hohenthal tat einen tiefen Zug und fragte nachher in scherzhaftem Ernst:
„Die war wirklich wunderbar schön. Aufrichtig, lieber Junge! Hast du auch hier nicht angebissen?“
Müller blickte ernst vor sich nieder und antwortete:
„Aufrichtig? Ja.“
„Halleluja! Endlich, endlich! Natürlich sofort?“
„Sofort, als ich sie zum ersten Mal sah. Und das war in Dresden.“
„In Dresden? Nicht hier? Mensch, Richard, ich wittere einen Roman oder wenigstens eine Novelle. Erzähle!“
„Unsinn! Hier! Wir haben andere Dinge zu sprechen. Und übrigens ist mir diese Sache zu ernst, zu heilig.“
„Ja, du hast die Gabe, alles von der heiligsten Seite zu betrachten. Aber, Liebster, vertraue mir nur eins!“
„Was?“
„Hat auch sie angebissen?“
Müller zuckte die Achsel und antwortete:
„Woran soll sie beißen? Etwa an diesen Buckel?“
„Pah! Dein Gesicht ist nicht das eines vergebens nach Liebe Jammernden. Sobald der Buckel fort ist, ist sie dein. Nicht?“
„Ich hoffe es. Ich sage das zu deiner besonderen Beruhigung, sonst bist du nicht von diesem Gegenstand fortzubringen.“
„Das rechnest du mir doch nicht etwa als Fehler an? Gründlichkeit ist stets eine Tugend, besonders aber in so hochwichtigen Dingen. Nun aber zur Sache! Zunächst muß ich dir sagen, daß ich Monsieur Belmonte heiße und der Vertreter eines Weinhauses im Süden bin.“
„Ah! Verkaufst du viel?“
„Massenhaft. Jetzt liefere ich nach Metz. Hoffentlich finde ich den Wein noch dort, wenn wir da einziehen, natürlich mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen.“
„Brr! Das kostet ein Geld! Natürlich gibst du den Wein auf Kredit?“
„Freilich. Sechs Monate Ziel.“
„Wer bezahlt ihn?“
„Das schöne Frankreich.“
„Also bist du mit deinen Erfolgen zufrieden?“
„Ich kann es ganz gern sein. Ein großer Anteil davon fällt auf meinen Wachtmeister.“
„Gerade so wie bei mir. Schneeberg ist ein braver Kerl.“
„Martin nicht minder. Ohne ihn stände ich nicht in dieser Weise da.“
„Aber, Arthur, was suchst du in Ortry?“
„Dich natürlich, Richard.“
„Doch nicht bloß Besuch?“
„Wo denkst du hin! Wie dürfte ich mir so einen Abstecher erlauben, wenn ich dir nichts Wichtiges mitzuteilen hätte!“
„Ah! Etwas Wichtiges? Da sollst du mir hochwillkommen sein, lieber Kamerad. Lege dich aus.“
„Da auf Ortry wohnt ein alter Kapitän, der Richemonte heißt.“
„Gerade so.“
„Du, nimm den aufs Korn!“
„Warum?“
„Er läßt in Paris Franctireurs werben.“
„Ah! Wirklich?“
„Ja. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört.“
„Wer es glaubt!“
„Und die Kerls mit eigenen Augen gesehen. Verstanden, ungläubiger Thomas! Ich bin eigens gekommen, um dich auf die Spur dieses Kerls zu bringen.“
„Danke sehr.“
Hohenthal blickte ganz erstaunt auf Müller, den diese große Neuigkeit gar nicht zu überraschen schien.
„Mensch“, sagte er, „wie kommst du mir vor? Ich würde für einen solchen Wink gut und gern tausend Taler zahlen!“
„Ich werfe kein Geld zum Fenster hinaus!“
„Was? Du glaubst nicht, was ich dir sage?“
„Gerade weil ich es glaube, bezahle ich nicht.“
„Dann begreife dich dieser und jener, aber ich nicht!“
„Ich glaube es, weil ich diesen alten Kapitän bereits fest habe.“
„Ach – so! Das ist etwas anderes! Du kennst also die Verhältnisse bereits?“
„Vollständig. Ortry ist der Herd der Freischärleragitation. Der Kapitän ist ein wahrer Teufel. Er hat unterirdische Magazine angelegt, in denen kolossale Vorräte von Waffen und Munition liegen.“
„Kennst du diese Magazine?“
„Ja.“
„Glückskind! So komme ich also zu spät?“
„Ja. Aber trotzdem bin ich dir herzlich dankbar!“
„Bitte, bitte! So kann ich also mit einer anderen Nachricht vorreiten!“
„Ja. Noch eine?“
„Und zwar eine nicht ganz unwichtige. Bei euch in Ortry hält sich nämlich ein Offizier auf, auf den ich dir raten würde ein scharfes Auge zu haben.“
„Wirklich? Das ist mir neu.“
„Ah, treffe ich da etwas, was du also doch noch nicht kennst? Ich denke, du wist dich wundern.“
„Wohl nicht. Er müßte inkognito da sein.“
„Möglich. Ich erfuhr es beim General Latreau und dann an anderer Stelle.“
„Wie heißt der Herr?“
„Lemarch.“
„Lemarch? Ah!“
„Nicht wahr, der Name ist dir unbekannt? Es ist der Sohn des Grafen Lemarch in Paris.“
„Er ist nicht in Ortry.“
„So müßte sich mein Gewährsmann sehr geirrt haben.“
„Geirrt hat er sich allerdings nicht. Lemarch war in Ortry, ist aber jetzt fort.“
„Fort? Du hast ihn gesehen?“
„Ja.“
„Beschreibe mir ihn. Er ist nämlich der Jugendverlobte einer Dame, für welche ich mich außerordentlich interessiere.“
„Hm. Auch angebissen?“
„Fürs ganze Leben.“
„An eine Verlobte?“
„Kann nichts dafür. Übrigens hoffe ich, daß diese Verlobung sich nicht zur Verheiratung entwickeln wird. Also, bitte, beschreibe mir diesen Lemarch. Ist er ein hübscher Kerl?“
„Ja.“
„Donnerwetter! Fällt er mehr in die Augen als unsereins?“
„Freilich. Er ist länger und breiter als du, wunderbar proportioniert, wie gesagt, ein hübscher Kerl.“
„Hole ihn der Teufel! Wo steckt er jetzt?“
„Bei Königsaus.“
„Bei Königsaus? Wo denn?“
„In Berlin.“
„Das seid ja ihr!“
„Allerdings, mein Lieber.“
„Mensch, erkläre dich!“
„Nun, Graf Rallion hat ihn nach Paris geschickt, um über unsere kriegerischen Krankheiten nach Paris zu berichten. Er ist inkognito dort, als ein Maler Haller aus Stuttgart.“
„So spricht er deutsch?“
„Sehr gut.“
„Hast du wohl selbst mit ihm gesprochen?“
„Ja. Er hatte großes Vertrauen zu mir und fragte mich nach dem Ulanenrittmeister Richard von Königsau.“
„Also nach dir selbst?“
„Ja.“
„Das ist klassisch.“
„Mir kam es mehr modern vor. Rallion scheint nämlich zu wissen, daß man mir ein gewisses Vertrauen schenkt und daß man bei mir verschiedene Sekrete erfahren könnte, wenn ich plaudern wollte. Darum hat er diesen Lemarch direkt an mich adressiert.“
„Und im Falle du nicht zu fangen bist?“
„Soll er sich an meine Schwester wenden.“
„An Emma? Da kommt er ganz und gar an die Rechte.“
„Dieser gute Maler fragte infolgedessen, ob meine Schwester hübsch sei.“
„Alle Teufel! Er will ihr den Hof machen?“
„Er denkt, sie werde aus Liebe plaudern.“
„Wenn diese Herren Franzosen auf solche Luftziegel bauen, wird die Geschichte bald zusammenstürzen. Also Lemarch ist jetzt bei euch?“
„Zwar nicht als Gast, aber er geht als Hausfreund da ein und aus. Unterdessen schicke ich gewisse fingierte Gutachten, Pläne und andere Arbeiten hin, welche ihm Großpapa als wirkliche Sekrete lesen läßt.“
„O weh! Da wird Napoleon eine gute Meinung von uns bekommen.“
„Das soll er auch. Er mag nur lachen; später lachen wir.“
„Und Emma? Tut sie schön mit dem Maler?“
„Fällt ihr nicht ein. Sie ist sofort verreist, als er ankam und sich vorstellte.“
„Das ist brav. Ein deutsches Mädchen ist viel zu gut, selbst zum besten des Vaterlandes einem Franzosen gegenüber die Rolle der Gefallsüchtigen zu spielen. Also das war wieder nichts. Ich dachte, dir wenigstens in Numero Zwei etwas wirklich Neues zu bieten: nun aber hast du es bereits besser ausgebeutet, als ich für möglich hielt. Ich habe zwar noch ein Drittes, werde es aber doch lieber für mich behalten.“
„Heraus damit.“
„Nein. Ich will mich mit meinen alten Neuigkeiten nicht länger blamieren.“
„Vielleicht taugt es doch etwas.“
„Wohl schwerlich. Unsere Aufgaben berührt es übrigens ganz und gar nicht. Es handelt sich um eine Privatperson, für welche du gar kein Interesse haben kannst.“
„Warum nicht, wenn sie dich interessiert?“
„Nein. Ich traf den Kerl unter eigenen Verhältnissen; sein Äußeres hat sich mir eingeprägt. Letzter Tage wurde ich an ihn erinnert, indem ich von einer Tat hörte, die er ganz sicher verübt hat; es soll hier in Thionville geschehen sein. Ich dachte nur eben daran.“
„In Thionville? Was für eine Tat ist es?“
„Ein Mord.“
„Wer war der Kerl?“
„Er wurde der Bajazzo genannt.“
Da sprang Müller auf.
„Mensch! Hohenthal! Arthur! Ist es möglich? Diesen Kerl suche ich.“
„Willst du eine Seiltänzergesellschaft etablieren?“
„Keinen Scherz! Die Sache ist von allergrößter Wichtigkeit. Erinnerst du dich, daß Onkel Goldberg seine beiden Knaben abhanden gekommen sind?“
„Natürlich. Alle Welt weiß das.“
„Nun, dieser Bajazzo ist es, der sie geraubt hat.“
„Donnerwetter! Wirklich?“
„Ganz zweifellos.“
„Herrgott! Das hätte ich wissen sollen!“
„Du hast ihn gesehen?“
„Sogar mit ihm verkehrt und mit ihm gesprochen und auch – Himmelschwerebrett – auch mit ihm getrunken!“
„Wo denn?“
„In Paris.“
„Das kann ich mir denken, aber an welchem Orte?“
„Es nützt dir nichts, den Ort zu hören, er ist von der Polizei zerstört worden. Es war in der Spitzbubenkneipe des Vater Mains. Ich ging als Pseudogauner hin, um meine Studien zu machen und zu horchen. Da verkehrte er.“
„Und jetzt?“
„Fort, weg.“
„Wohin?“
„Das weiß der Teufel! Herrgott, ich könnte mich ohrfeigen, zehn Stunden lang! Das hätte ich wissen sollen. Was hat er denn hier in Thionville verbrochen?“
Müller erzählte den Mord der Seiltänzerin möglichst kurz, aber doch ausführlich genug, und daran schloß Hohenthal den Bericht seiner Erlebnisse in Paris. Er war noch im Erzählen, da kehrte Marion de Sainte-Marie aus der Stadt zurück. Neben ihr im Wagen saß – Emma von Königsau. Jene hatte nicht mit Bitten nachgelassen, bis die so schnell und herzlich liebgewonnene Freundin eingewilligt hatte, den Abend mit auf dem Schloß zuzubringen.
Sie konnten im Vorüberfahren nicht in die grünumrankte Laube blicken, während die beiden Männer deutlich sahen, wer im Wagen saß. Hohenthal sprang auf.
„Sieh, Richard, sieh!“ rief er ernsthaft aus.
„Was denn?“ fragte Müller trocken.
„Das war die Baronesse wieder.“
„Nun ja. Du bist ja ganz und gar in Ekstase.“
„Hast du denn die andere gesehen?“
„Ja.“
„Kanntest du sie?“
„Du etwa?“
„Natürlich. Mensch, das war ja deine Schwester!“
„Allerdings.“
Hohenthal machte ein Gesicht, als ob er befürchte, daß der Freund verrückt geworden sei.
„Allerdings“, ahmte er ihm ganz verblüfft nach. „Das sagst du so ruhig.“
„Allerdings“, wiederholte Müller gleichmütig.
„Die Gazelle in der Höhle des Löwen.“
„Sie steht unter meinem Schutz.“
„Kerl, du mußt bedeutend an Macht und Selbstvertrauen gewachsen sein.“
„Ja, man wächst.“
„So wachse du und der Teufel!“ rief Hohenthal ärgerlich. „Sagt mir dieser buckelige Erzieher vorhin, daß seine Schwester verreist sei, aber wohin, daß hat er verschwiegen.“
„Wozu die überflüssigen Worte? Ich ahnte, daß Marion Emma holen werde, und so verstand es sich ganz von selbst, daß du sie sehen mußtest.“
„Marion? So also heißt sie?“
„Ja, zu dienen.“
„Bist du schon so weit mit ihr, daß du sie bei ihrem Vornamen rufst?“
„Ja.“
„Herrgott, macht dieser Mensch riesenhafte Fortschritte!“
„Es ist nicht so schlimm. Ich nenne sie beim Vornamen, aber nur ausnahmsweise, nämlich wenn sie nicht dabei ist und es also nicht hört.“
„Das kann ich mit meiner Ella auch, alter Schwede.“
„So tue es; ich habe nichts dagegen.“
„Wollte mir es auch verbeten haben. Aber ich kann noch gar nicht begreifen, daß deine Schwester in Ortry sein soll.“
„Schwester. Hm. Sie ist eine Engländerin.“
„Ah! Wieso?“
„Heißt Miß Harriet de Lissa und ist aus London.“
„Jetzt steht mir der Verstand still. Was will sie denn?“
„Ihre zukünftige Schwägerin kennen lernen.“
„Deine Marion?“
„Ja. Du hast ja gesehen, daß sie schon ganz dicke Freundinnen sind! Aber du hast dich ganz aus der Fassung bringen lassen und den Faden deiner Erzählung verloren.“
„Es ist auch danach. Du weißt doch, daß ich deiner Schwester seinerzeit den Hof machte.“
„Und riesig!“
„Ich liebte sie.“
„Unendlich.“
„Ich betete sie an.“
„Als wäre sie eine Göttin und du ein armer Paria.“
„Ich dichtete sogar Lieder auf sie.“
„Ja, Sonette.“
„Hymnen und Oden.“
„Die Schrift war nicht übel; aber die Gedichte taugten den Teufel. Sie wanderten alle in den Ofen.“
„Wirklich?“
„Gewiß.“
„Ihr Barbaren! Welch ein Undank! Ich ging ganz in deiner Schwester auf.“
„Und ans Billard!“
„Ich schickte ihr täglich einen Strauß.“
„Die Ziege unseres Wirtes bekam ihn zu fressen.“
„Dann stellte sich leider heraus, daß ihr Herz zu klein für mich sei.“
„Weil das deinige zu groß für sie war. Es wohnten stets ein Dutzend andere darin.“
„So ging die Sache futsch.“
„Gott sei Lob und Dank!“
„Aber dennoch halte ich noch große Stücke auf sie.“
„Schneide dir nach Belieben kleine Stücke davon herunter.“
„Du bist herzlos.“
„Desto entwickelter ist das deinige.“
Beide lachten herzlich übereinander, und dann nahmen sie wieder Platz, damit Hohenthal in seiner Erzählung fortfahren möge. So saßen sie, bis das Dunkel des Abends hereinbrach, ihre Gedanken, Meinungen und Erlebnisse austauschend. Sie lernten voneinander, und als sie sich endlich erhoben, um zu scheiden, sagte Müller:
„Wie leid tut es mir, dich nicht zu mir einladen zu können, aber es geht ja nicht.“
„Nein; das dürfen wir nicht wagen, lieber Freund. Wir müssen vorsichtig sein. Ich fahre mit dem letzten Zug nach Metz, da bin ich daheim.“
„Was hättest du getan, wenn ich nicht hier vorübergegangen wäre?“
„Ich hätte bis zum Dunkel gewartet und es dann auf irgendeine Art bewerkstelligt, zu dir zu kommen.“
„Ein anderes Mal gehst du zu Doktor Bertrand und fragst nach dem Kräutersammler Schneeberg.“
„Werde es mir merken. Aber höre, Richard, ist es nicht, daß wir zwei kleine Rittmeisterchen hier im Feindesland stehen mit dem stolzen Bewußtsein, daß im Kriegsfall das Gelingen zum nicht geringsten Teil mit von unserer jetzigen Tätigkeit abhängt?“
„Es mag so sein. Darum wollen wir die Augen offenhalten und nicht müde werden in der Erfüllung unserer Pflicht. Gute Nacht, lieber Arthur.“
„Gute Nacht, lieber Richard. Frohes Wiedersehen!“