Der Ex-Trunkenbold stand auf und blickte Jakob tragisch an.
»Was ist jetzt los?« fragte Jakob. »Was soll der tragische Blick?«
»Es bricht mir fast mein gottverdammtes Herz, Chef, aber wir haben Ihnen noch etwas zu sagen.«
»Wir? Was heißt ›wir‹?«
»Ich bin nicht allein gekommen. Ich bin zu zweit gekommen. Aber ich habe zuerst mit Ihnen allein reden wollen, um zu sehen, ob Sie auch in der Verfassung sind …«
»In was für einer Verfassung?«
»In einer genügend guten …« Schreiber war plötzlich verlegen.
»Ich bin in einer genügend guten Verfassung!« Der alte Jakob war wieder da. »Mit Ihrem blöden Witz haben Sie mir tatsächlich geholfen!«
»Sie haben keine Schuldgefühle mehr?«
»Nicht die geringsten! Morgen haue ich hier ab! Und verkitsche die OKAY! Nun sagen Sie mir schon, was Sie mir zu sagen haben! Es wird mich nicht umhauen! Holen Sie den zweiten Mann rein, mit dem Sie gekommen sind – wer immer es ist!«
Klaus Mario Schreiber nickte, ging zur Tür, öffnete sie und machte jemandem, der auf dem Gang draußen stand, ein Zeichen, einzutreten. Der zweite Mann trat ein und blieb bei der Tür stehen. Es war nur kein Mann.
Es war eine Frau. Und das haute unsern Jakob doch fast um. Ein Glück, daß er schon im Bett lag!
»Guten Tag, lieber Jakob«, sagte die blonde Claudia Contessa della Cattacasa.
43
»O hallo, Claudia«, sagte Jakob, charmant lächelnd. »Das ist aber eine freudige Überraschung!«
»Hoffentlich.«
»Hoffentlich was?«
»Hoffentlich wird’s auch eine freudige Überraschung bleiben.«
»Da bin ich ganz sicher, mein liebes Kind! Großartig siehst du aus!«
»Hör mal, Jakob, ich muß dich was fragen.«
»Immer jünger wirst du, mein liebes Kind«, lärmte Jakob.
»Ich muß dich fragen, ob du dich noch an unser Gespräch in deiner Villa auf Cap d’Antibes« – CHÂTEAU NATASCHA brachte Claudia einfach nicht über die Lippen – »erinnerst.«
»Jakob Formann erinnert sich an jedes Gespräch. Welches meinst du, liebes Kind?« forschte er, während Schreiber sich dezent in den Hintergrund zurückzog.
»Ich meine das Gespräch, bei dem du dich so bedankt hast für meine ganze Mühe beim Bau der Villa. Vor dem Fest. Als wir von dem Violetten gesprochen haben.«
»Natürlich erinnert Jakob Formann sich an dieses Gespräch, mein liebes Kind. Möchtest du, daß ich mich an das ganze erinnere oder nur an eine bestimmte Stelle?«
»Nur an eine bestimmte Stelle«, sagte die Contessa. Sie schob das Kinn vor.
»Du hast mich in deiner Dankbarkeit gefragt, ob ich einen Wunsch habe, den du mir erfüllen wolltest, und ich habe dir gesagt, ich würde schon noch einmal einen Wunsch haben. Erinnerst du dich?«
»Jakob Formann erinnert sich, liebes Kind.«
»Dann ist es gut. Jetzt hätte ich nämlich einen Wunsch.«
»Aha. Und welchen?«
»Von dir Abschied zu nehmen und fortzugehen.«
»Aha.«
»Und fortzugehen mit Klaus.«
»Mit wem?«
»Mit dem da!«
»Ach so, mit dem Schreiber. Warum sagst du das denn nicht gleich?«
»Ich sage es dir ja gleich, Jakob. Klaus und ich gehen jetzt fort. Zusammen. Für immer. Wir lieben uns, wenn du den Ausdruck verzeihst«, sagte Claudia. So etwas wie eine kleine Stunde der Rache war gekommen. Sie fuhr fort: »Du hast ja deine geliebte Natascha. Du bist nicht allein und verlassen. Darum sei uns nicht böse, wenn wir jetzt gehen. Das ist mein Wunsch, da hast du ihn.«
Donnerwetter, dachte Jakob verblüfft. Vor etwa einem Jahr, in Rostow, am stillen Don, hat mir BAMBI gesagt, daß sie den Jurij Blaschenko liebt und in der Heimat aller Werktätigen bleiben und den Jurij heiraten will, weil sie ihn so liebt und er sie, und da habe ich gedacht: Also eine bin ich los. Hoffentlich wird das mit der anderen auch so glatt gehen. Herrschaften, glatter kann es nun aber wirklich nicht gehen! Trotzdem darf ich jetzt nicht beispielsweise zu jodeln beginnen. Sei ernst, Jakob, seriös und feierlich! Seriös, feierlich und ernst sagte Jakob: »Ja, wenn das euer Wunsch ist, dann muß ich ihn natürlich respektieren.«
Claudia schluckte schwer.
»Was hast du denn noch, Claudia?« forschte er.
»Weil du ein so großartiger Mann bist, Jakob«, sagte die Contessa della Cattacasa bewegt. »Weil du sofort den Weg freigibst für eine wunderbare Liebe, wie sie Mario und mich verbindet.«
»Hör mal, wie redest du denn, Claudia? Du hast doch immer ein Schandmaul gehabt und geschweinigelt und geflucht wie drei Matrosen! Und jetzt fängst du mit diesem Lore-Roman-Quatsch von der so wunderbaren Liebe an! Was soll denn das?« fragte Jakob und dachte: Jajaja, prima glatt ist es mit der zweiten gegangen. Aber ist das eigentlich wirklich Grund zum Jubilieren? Früher habe ich immer gefunden, daß mich ein paar Weiber auf einmal mehr zieren als nur eine einzige. Jetzt geht der Umsatz zurück. Verflucht, und ich bin doch wirklich nicht alt! Und meine Schlittenfahrten, meine Chinesischen? Oder … oder, dachte er bange, lasse ich nach? Mechanisch fuhr er sich durchs Haar und schob, was er erwischen konnte, gegen den Mittelscheitel. Man kann es drehen und wenden, wie man will, dachte er, aber in diesem einen Jahr ist die kleine Glatze um eine kleine Kleinigkeit größer geworden …
Während er das gerade dachte, sagte Schreiber, neben Claudia tretend: »Wir lieben einander unendlich, Chef, und wir wollen heiraten.«
»Ihr wollt was?« Ogottogottogott. Fest zusammenpressen den Schließmuskel. Das Aufs-Klo-rennen-Müssen war doch schon vorüber. Wenn es jetzt wiederkommt und ich aus dem Bett springe und ins Badezimmer sause, versaue ich denen ihre ganze schöne, rührende Familienszene. Jakob preßte, so sehr er konnte. Der Druck ließ nach.
»Hören Sie, wenn Sie so einen Satz jemals in OKAY geschrieben hätten, hätte ich Sie sofort gefeuert!« sagte Jakob. »Sowas von Kitsch! Vielleicht haben Sie sich doch das Gehirn weichgesoffen?«
»Gewiß nicht, Chef. Wir lieben einander wirklich unend …«
»Jetzt langt’s, Schreiber!«
»Aber so ist es, Jakob«, sagte Claudia. Sie schlang die Arme um Schreiber. Er schlang die seinen um sie.
Das war zuviel! Alles Pressen half nichts angesichts dieses Anblicks.
Jakob sprang aus dem Bett und raste ins Badezimmer. Nach einer Weile kehrte er erleichtert wieder. Im Pyjama blieb er vor den Liebenden stehen.
»Entschuldigt die Unterbrechung. Sie war nicht zu vermeiden. Seit wann geht das denn schon mit euch?«
»Seit Ihrem Fest auf Cap d’Antibes, Chef. Da haben wir uns kennen und lieben gelernt, in dieser wundervollen Sommernacht …«
»Aus! Schluß! Kein Wort weiter, Schreiber! Sonst fängt es bei mir wieder an!«
»Entschuldigen Sie, Chef«, sagte Schreiber. Und zu Claudia: »Ich habe dir gleich gesagt, er ist noch zu schwach, Liebste, wir dürfen es ihm noch nicht gestehen.«
»Ich bin nicht zu schwach!« rief Jakob verärgert. »Also, ihr habt euch schon damals ineinander verkracht, ja?«
»Ja, Chef.«
»Und auch gleich …«
»Und auch gleich, Chef, ja. Es war ein coup de foudre.«
»Was war’s?«
»Ein Blitz aus heiterem Himmel. So hat uns die Liebe überfallen.«
»Reden Sie gefälligst anständig mit mir, Schreiber, ja?« Jakob setzte sich aufs Bett und ließ die Beine mit den nackten Füßen baumeln. Na ja, dachte er, erst BAMBI, jetzt Claudia. Sehr angenehm. Allerdings: Komplimente sind das keine für mich! Nicht ums Verrecken fahre ich mir wieder durchs Haar, obwohl es da oben plötzlich wie verrückt juckt. Scheiß drauf! Ich habe meine Natascha, das ist die Hauptsache! Und wenn die beiden da unbedingt an ihre Liebe glauben …
»Tja, also, wenn ihr glaubt, daß ihr euch liebt …«, begann er, und Claudia unterbrach ihn: »Wir glauben es nicht, mein Jakob. Wir wissen es.«
»Aha«, sagte Jakob, auf dem Bett sitzend, die Zehen bewegend. »Also dann meinen herzlichsten Glückwunsch, ihr beiden!«
»Bitte, sei jetzt nicht zynisch und verbittert, Jakob!« sagte die blonde Claudia.
»Bin ich gar nicht! Ich meine es ganz ernst.«
Claudia konstatierte: »Du bist doch wahrhaft ein wunderbarer Mann, Jakob.«
»Ach, Scheiße«, sagte dieser herzhaft. »Reden wir mal Tacheles. Ihr wollt also heiraten?«
»Ja.« (Im Duett)
»Und wovon wollt ihr leben?« Jakob hustete. »Entschuldigt die brutale Frage, aber auch wenn zwei sich unendlich lieben, brauchen sie Geld. Wenigstens ein bißchen.«
»Wenigstens ein bißchen haben wir«, gab Claudia bekannt. »Durch deine Güte.«
»Was hast du gesagt?«
»Durch deine Güte, habe ich gesagt. Schau mal, Mario hat bei dir ein irrsinniges Geld verdient und einiges zurückgelegt, du, du hast mir irrsinnige Geschenke gemacht – Schmuck, Kleider, Pelze, ein Auto –, damit kommt man schon eine Strecke.«
»Und nach der Strecke?«
»Ich habe einen Roman in Arbeit, Chef«, sagte Schreiber. »Ich schreibe jetzt nur noch für mich. Romane und Geschichten. Ich habe genug von Zeitungen. Zeitungen sind prima für einen Autor – aber er muß wissen, wann er aufhören soll. Ich weiß es. Und Sie verkaufen die OKAY jetzt ja doch. Unter einem anderen Verleger hätte ich ohnedies nicht gearbeitet.«
»Und wenn der Roman kein Erfolg wird?« fragte Jakob, jetzt ehrlich besorgt.
»Er wird ein Erfolg werden!« sagte Claudia fest.
»Jajaja«, sagte Jakob. »Und wenn nicht?«
»Im nächsten Monat kommt der HUMMER heraus, Chef. Von dem versprechen sich alle sehr viel.«
»Wer kommt raus?«
»ES MUSS NICHT IMMER HUMMER SEIN! Als Buch! Claudia hat gesagt, das muß unbedingt als Buch erscheinen! Mein Verleger ist ganz meschugge damit! Wir haben schon vierzehn Übersetzungsverträge – bevor die deutsche Ausgabe erschienen ist!«
»Donnerwetter, Schreiber!«
»Und dann hat Mario ein Theaterstück geschrieben – im Rahmen eines Autorenwettbewerbs. Gestern haben wir die Nachricht erhalten: Das Stück hat den ersten Preis bekommen! Die Premiere ist in drei Monaten.«
»Ein Theaterstück?« Jakob sah Schreiber ehrfürchtig an. »Donnerwetter! Haben Sie das noch unter Suff geschrieben?«
»Ja, Chef. Nachts. Wenn ich ganz voll war. Wenn mir alle den Buckel runterrutschen konnten und ich keine Rücksichten mehr auf Inseratenkunden, Schornsteinfegerinnungen und Kaninchenzüchterverbände nehmen mußte.«
»Wie heißt das Stück denn?«
»DER SCHULFREUND, Chef. Ein lustiges Stück, das eigentlich zum Heulen ist.«
»Schreiber«, sagte Jakob, »ich bin stolz auf Sie! Und stolz darauf, daß Sie so viele Jahre lang für mich gearbeitet haben. Denn jetzt glaube ich auch, daß Sie mit Ihren Romanen Erfolg haben werden, und nicht nur in Deutschland.«
»Deshalb gehen wir aus Deutschland ja auch weg, Jakob«, sagte Claudia.
»Ihr … was?«
»Weißt du, ich habe von meinen Eltern – sie sind lange tot – ein Haus geerbt, in Monte Carlo. Es ist wahrscheinlich ganz verkommen, ich war jahrelang nicht dort. Aber es ist groß genug für uns zwei, und wir werden es herrichten lassen. Und dann, Jakob, dann … direkt am Meer liegt das Haus, weißt du, und Mario wird Ruhe und Frieden haben und sich nicht mehr kaputtmachen lassen müssen in diesem irren Wirbel …«
»Das ist sehr vernünftig«, sagte Jakob und dachte plötzlich: Ich habe da unten an der Riviera einen Palast! Ich habe einen Haufen Paläste und Villen und Chalets. Aber wo bin ich eigentlich zu Hause? Es muß schön sein, so ein kleines Haus in Monte Carlo, direkt am Meer, und Ruhe und Frieden und nicht diesen irren Wirbel, in dem ich lebe. Ich erinnere mich noch, wie glücklich ich in diesem Drecksnest Theresienkron da bei Linz gewesen bin, damals, gleich nach dem Krieg, mit dem …«
Um Himmels willen! Nur nicht an den Hasen denken! Schnell, schnell an etwas anderes denken! Etwas tun! Er tat etwas. Er packte Schreiber bei den Ohren, zog ihn zu sich herab und küßte den Verblüfften auf die Wangen. Dann küßte er Claudia. Auf den Mund. Und sagte: »Ihr zwei Glücklichen! Recht habt ihr! Haut ab von hier! Lebt nur für euch! In der Sonne, am Wasser … Aber untersteht euch und laßt jetzt einfach nichts mehr von euch hören!«
»Ich bitte dich«, sagte Claudia, »wofür hältst du uns? Wir werden immer Kontakt zu dir halten, wir werden dich besuchen kommen, oder du kommst zu uns!«
»Dann ist es ja gut«, murmelte Jakob.
»Sie werden mehr von uns hören, als Ihnen lieb ist«, versprach Schreiber. Es klopfte.
Die bildschöne Schwester Kirsten mit dem bildschönen Busen und den bildschönen Beinen kam herein. Der Kittel klaffte …
»Es tut mir wirklich leid, daß ich stören muß«, sagte sie mit ihrer bildschönen Stimme, »aber die Besuchszeit ist längst um. Nachtruhe! Sie müssen in Ihr Bett, Herr Schreiber! Und Sie, Frau Gräfin, müssen jetzt das Klinikum verlassen.«
»Die beiden gehen ja schon«, sagte Jakob, »keine Sorge, Schwester Kirsten. Haben Sie heute bei mir Nachtdienst?«
»Ja, Herr Formann.«
»Gut. Also, ich schmeiße die beiden gleich hinaus!« sagte Jakob. »Verlassen Sie sich drauf!« Er lächelte wieder sein berühmt charmantes Lächeln. Auch Schwester Kirsten lächelte. Und verschwand.
»Ja, also dann«, sagte Jakob.
Noch einmal begannen Küsserei und Händeschüttelei.
Zuletzt sagte Claudia: »Einen Mann wie dich gibt es kein zweites Mal, Jakob.«
»Blödsinn!«
»Gar kein Blödsinn!« rief Klaus Mario Schreiber. »Claudia hat vollkommen recht! Ich habe das auch oft gesagt und gedacht. Wissen Sie was, Chef?«
»Was?«
»Ich überlege mir das schon lange. Es wird vielleicht noch eine Zeitlang dauern. Aber eines weiß ich bestimmt: Über Sie und Ihr Leben werde ich noch einmal einen Roman schreiben!«
44
Und dann war es wirklich soweit. Die beiden hatten sich ein drittes Mal verabschiedet und waren endlich verschwunden – händchenhaltend.
Händchen haben sie gehalten, dachte Jakob, nun allein in seinem Bett sitzend. Also wieder zwei weniger. Und die Glatze wird größer. Wäre es nicht Zeit, daß ich auch mit allem Schluß mache und mich irgendwohin zurückziehe und Ruhe gebe und spazierengehe und lese und Musik höre und Briefmarken sammle oder so etwas? Wäre das nicht das vernünftigste? Ganz in Gedanken hatte er eine Hand in eine Tasche seiner Pyjamajacke gleiten lassen. In der Tasche befand sich die Hasenpfote. Da er sie berührte, durchzuckte es ihn, als hätte er mit zwei nassen Fingern in die Löcher einer elektrischen Steckdose gegriffen! Er fuhr im Bett hoch. Die Narbe an der Schläfe zuckte. Von einem Moment zum anderen war unser Freund von seinen Überlegungen befreit.
Was denn: zurückziehen?
Was denn: aufhören?
Was denn: meinen Krieg beenden? Meinen schönen Krieg, den ich bisher (fast) immer gewonnen habe?
Und die Steuer? Niemals kriege ich eine Fahndung! (Er kriegte auch tatsächlich niemals eine. Dem Mutigen hilft Gott.) Da habe ich mich selbst in etwas reingeredet. Mein Laden ist wasserdicht!
Die kleine Glatze. Na und? Das kommt vom vielen Denkenmüssen. Aber sonst bin ich kerngesund und oho, das haben mir gerade die besten Ärzte der Welt bestätigt! Ein Jüngling, ein Jüngling bin ich (fast) noch!
Gut, die OKAY werde ich verscherbeln, da hat der Schreiber recht. Bestimmt auch mit vielem anderen, was er gesagt hat. Schön, ich werde mich entsprechend absichern gegen schlechte Zeiten, falls sie kommen. Und: Für Claudia und den Schreiber ist es das beste, daß sie aus Deutschland weggehen und der Kerl jetzt, wo er trocken ist, endlich seine Romane schreiben will und sonst nichts. Ich freue mich ehrlich, daß die beiden sich so lieben. Natascha und ich lieben uns doch auch so! Und da soll ich mich zurückziehen? Ich bin doch kein Trottel! Mein Krieg geht weiter! Und wie! Ich habe noch so viele Pläne, ich habe noch so viel zu tun! Ich muß noch so viel …
Jakob klingelte. Das muß ich jetzt gleich einmal, dachte der Mann, von dem wir gesagt haben, daß er, wenn er von dem schmalen Grat, auf dem er wandelte, einmal abrutschte und in die Tiefe sauste, sogleich wieder in die Höhe kletterte und auf des Messers Schneide weitermarschierte, unbeirrbar, heiter, nicht zu entmutigen.
Es klopfte. Und die bildschöne Kirsten trat ein.
»Sie haben geläutet, Herr Formann?« (Mensch, der Kittel klafft ja wie noch nie! Die hat noch einen Knopf aufgemacht! Oder zwei?)
»Ja.« Jakob schenkte ihr einen verführerischen Blick: »Viel zu tun, mein liebes Kind?«
»Ach, überhaupt nichts. Alle schlafen. Ich mache Nachtdienst zusammen mit Gudrun. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht auch einschlafen.«
»Sehr schön.«
»Was ist sehr schön, Herr Formann?«
»Kirsten – ich darf Sie doch so nennen? –, Kirsten, sperren Sie doch bitte die Tür ab.«
»Die Tür … Herr Formann!«
»Nun sperren Sie schon ab! Sonst kommt noch jemand rein, und das wäre doch unangenehm.«
»Aber Herr Formann!« Kirsten sah ihn kokett an. »Was haben Sie denn vor?« (Während sie das fragte, sperrte sie die Tür ab.)
»Komm her«, sagte er. Sie kam näher. Er begann die restlichen Knöpfe ihres Kittels (sehr wenige) zu öffnen.
Sie wand sich.
»Herr Formann …«
»Jakob, bitte!«
»Jakob … Jakob, was tust du denn da?«
»Ich ziehe dich aus, mein liebes Kind.«
»Und was machst du jetzt?«
»Wirst du gleich sehen …«
»Uj, was der Herr Formann da macht!«
Jakob verschwendete keine Zeit. Daß die bildschöne Kirsten gleich darauf in weitere »Uj! Uj! Uj!«-Rufe ausbrach und danach nicht mehr sprechen konnte vor keuchender Erregung, hat der geneigte Leser gewiß längst vermutet.
Wie ein junger Stier legte Jakob los.
Die bildschöne Kirsten machte Krach.
Jakob hielt ihr den Mund mit einer Hand zu.
Dafür biß sie ihn dann ein paarmal in dieselbe.
Nach eineinhalb Stunden entschuldigte sie sich.
»Es tut mir wirklich leid, daß ich dich gebissen habe, aber ich habe gedacht, ich sterbe, ich halte das nicht mehr aus … Jakob, Jakob, so einen Mann wie dich gibt es nicht noch einmal auf der Welt!« Das hat heute abend doch schon jemand anderer gesagt, überlegte er. Wer? Scheißegal! »Was … was war das bloß für ein Wahnsinn, den du mit mir getrieben hast, Jakob?«
»Man nennt es eine Chinesische Schlittenfahrt …«
»Also, da kann eine schon den Verstand verlieren«, sagte die bildschöne Kirsten. »Mensch, Mann, Jakob, du bist vielleicht eine Wucht!«
Da haben wir’s! Eine Wucht bin ich! Na also!
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Hei, jetzt ging es aber los!
So ein Tempo hatte Jakob noch nie vorgelegt!
Zunächst besetzte er die leer gewordene Stelle des Arnusch Franzl, dieses Schweins, mit dem Wenzel Prill (der seinen Doktor der Rechte noch immer nicht gemacht hatte). Dann trat er in Verhandlung mit einem Mann, der ein Regenbogenpresse-Reich hatte – seine bunten Zeitschriften wurden in Millionenauflagen gierig gekauft. Der Mann hatte einen Drang zum Höheren. Er wollte sich jetzt, wo er so reich geworden war mit dem Mist, den er produzierte, für seinen Monster-Verlag ein Paradepferd zulegen, etwas Seriöses, etwas Feines – eben OKAY.
Die Verhandlungen dauerten Monate, denn Jakob bestand darauf, daß Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen eines jeden seiner OKAY-Redakteure, Reporter, Techniker, Vertriebs- und Versandleute, Telefonistinnen – bis zur letzten Putzfrau – gesichert blieben. Die hundertunddreißig Millionen D-Mark, die unser Freund für die OKAY (samt Redaktion, einigen Häusern und allem Inventar) verlangte, zahlte der Regenbogenpresse-Verleger dann sozusagen mit der linken Hand.
In der Nacht nach dem Verkauf stand Jakob noch einmal vor dem Redaktionsgebäude in München. Er dachte daran, wie es mit dieser OKAY begonnen hatte vor vielen Jahren, an all die Abenteuer und all die Schufterei und all das Gefluche und all das Gelächter. Jetzt, dachte Jakob, ist OKAY in den großen Topf von diesem Kerl mit der Regenbogenpresse gekommen. Gott weiß, was aus ihr werden wird. Was Besseres bestimmt nicht. Eher im Gegenteil. Na ja, dachte Jakob zuletzt, aber es ist ja nicht mehr meine OKAY …
Von dieser Nacht an raste er wieder rund um den Erdball. Und baute Plastikfabriken in der ganzen Welt. Und verhandelte in der ganzen Welt. Und führte seinen Krieg in der ganzen Welt. Natascha, von ihrer Reise zurückgekehrt, begleitete ihn dabei natürlich. Und nun war es ihr schon in kürzeren Abständen immer wieder einmal danach. Jakob konnte nicht klagen. Nur für seine Schlittenfahrt, seine Chinesische, schien ihm die Zeit noch zu früh. Bei einem so wunderbaren, unverdorbenen und unschuldigen Geschöpf mußte er Geduld haben …
Er hatte Geduld, weil er gerade soviel zu tun hatte. 1961 – da wurde die Mauer in Berlin gebaut. Damals hatte Jakob Formann, seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus, aus seinen vielen Schiffen durch Hinzunahme von Charter-Flugzeugen und Charter-Eisenbahnzügen und Omnibussen ein internationales Mammut-Reiseunternehmen aufgebaut, dieses gekoppelt mit einem gigantischen Möbelversandhaus, das Pleite gemacht und das er blitzschnell günstigst erworben hatte, um daran noch eine Immobilienfirma zu hängen. Den Werbe-Slogan für das Unternehmen hatte er sich selber ausgedacht und war mächtig stolz darauf. Er lautete: SCHÖNER WOHNEN – SCHÖNER REISEN – SCHÖNER LEBEN! Blödsinniger ging’s kaum noch, und deshalb zog dieser Slogan wie ein Magnet!
Des weiteren besaß Jakob – in der Phase der größten Expansion – bereits ein Anlageberatungsbüro (mit zahlreichen Außenstellen) für Abschreibungsprojekte in Zonenrandgebieten und West-Berlin. Er sah einfach alles voraus.
Und was er voraussah, traf ein. Ende 1964 traten die Amerikaner fast schon offen an der Seite Südvietnams in den Krieg gegen Nordvietnam. Jakobs Fertighausfabriken in Deutschland arbeiteten rund um die Uhr. Er selber flog dauernd zwischen Deutschland und Amerika hin und her. Immer wieder traf er seinen alten Freund, den Senator Robert Jackson Connelly. (Die liebe Jill hatte geheiratet und bereits einen kleinen Sohn.) Connelly war ziemlich traurig. Cindy, seine entsetzliche, wahrhaft der Hölle entsprungene Gemahlin, hatte ihm einen Drachen von neuer Sekretärin ins Vorzimmer gesetzt.
Jakob flog (mit Natascha) nun auch oft nach Los Angeles, um Misaras zu besuchen und mit diesem den Bau neuer Werke in Südamerika und Mexiko zu besprechen. Am 5. November 1964 wurde er mitten in einer solchen Besprechung aus Washington angerufen. Sein Freund, der Senator, war am Apparat. Seine Stimme klang unglücklich und aufgeregt: »Jake, tut mir leid, daß ich dich stören muß, aber da ist was sehr Unangenehmes passiert …« Nach all der Zeit duzten sie sich.
»Was denn, Bob?« fragte Jakob milde.
»Du lieferst doch jetzt auch Fertighäuser für Truppenunterkünfte nach Südvietnam, von Bremerhaven aus, nicht wahr …«
»Ja!«
»… und zwar sehr große Mengen, nicht wahr?«
»Ja doch! Und?«
»Und ich bin gerade vom Pentagon angerufen worden, Jake. Du kannst natürlich nichts dafür, aber mit deinen Fertighäusern für Südvietnam, mit diesen Truppenunterkünften, die das Pentagon jetzt bei dir bestellt hat, ist eine Sauerei passiert.«
»Was für eine Sauerei?«
»Reg dich nicht auf, Jake! Alles ging glatt, sagen sie im Pentagon, alles ging prima, aber jetzt sind die Ladungen von drei Schiffen verschwunden.«
»Was sind sie?«
»Verschwunden! Geklaut! Von irgendwelchen Lumpen. Unsere Leute kommen nicht dahinter. Die da unten klauen alle wie die Raben. Aber du hast den Auftrag und die Häuser bezahlt gekriegt, und jetzt sind sie nicht mehr da, und deshalb …«
»Schon gut, schon gut, Bob«, sagte Jakob, die Augen schließend, »ich weiß, was du mir sagen sollst.«
»Du weißt, Jake?«
»Ja. Du sollst mir vom Pentagon sagen, daß ich meinen Arsch gefälligst ins nächste Flugzeug zu setzen und nach Saigon zu fliegen habe, weil ich für die Häuser verantwortlich bin und jetzt versuchen muß, sie wiederzufinden.«
»Wie konntest du das bloß ahnen, Jake?« Der Senator war fassungslos.
»Reine Sache der Intuition. Außerdem ist Jakob Formann auch den Gedanken anderer Leute immer um zwei Schritte voraus. Okay, okay, ich fliege in zwei Stunden los, mein Alter!« sagte Jakob und dachte, während er den Hörer niederlegte: Hübsch, hübsch, jetzt kann ich für die Amis da unten, wo es schießt, auch noch Detektiv spielen und rauskriegen, wer sich meine Häuser unter den Nagel gerissen hat!
Natascha und Misaras vernahmen voller Gram, was sich ereignet hatte. »Na ja«, sagte Jakob, »was soll man machen? Pack deine Sachen, Schatz!« Zu seiner Überraschung wollte Natascha ihre Sachen nicht packen.
»Aber warum nicht, Liebste? Du fliegst doch sonst immer mit mir überallhin! Warum nicht diesmal?«
»Mein Gott, Jake, ich würde ja so gerne mit dir fliegen, aber gerade jetzt, morgen, beginnt hier in Los Angeles dieses große Festival.«
»Was für ein Festival?«
»Das Mozart-Festival, Liebster. Mit den berühmtesten Sängern und Solisten!« erwiderte Natascha. »Es dauert zwei Wochen. Im Music Center of Los Angeles. Konzerte und Opern und alles – und, bitte sieh das ein: Meinen Mozart lasse ich mir nicht nehmen!«
46
Einskommafünf Millionen Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in Saigon, der Hauptstadt von Südvietnam, am rechten Ufer des Saigon-Flusses. Obwohl achtzig Kilometer vom Meer entfernt, besaß die Stadt einen Seehafen und war Standort großer Industrien. Am Flußufer befand sich das Geschäftsviertel, auf Schwemmlandterrassen lag das Regierungsviertel. Da ein öffentliches Verkehrsnetz in der Stadt fehlte, waren mehrere hunderttausend Motorroller in Betrieb.
Das alles und noch viel mehr wußte Jakob Formann bereits, noch bevor er einen Fuß auf vietnamesische Erde gesetzt hatte.
Nach Saigon flog er – wozu die guten Stücke gefährden? – einmal nicht mit einer seiner eigenen Maschinen, sondern mit einem Transporter der amerikanischen Luftwaffe. In diesem saß ein außerordentlich geschwätziger Oberst neben ihm, der stolz war auf seine intime Kenntnis Vietnams. Außerdem gab es noch einen Reiseführer … Jakobs Transporter landete auf dem Flugplatz von Than Son Nhut. Er fand es nicht gemütlich hier. Massenhaft waren da Düsenjäger geparkt, Hubschrauber mit Bordkanonen, Tieflader mit Napalm-Bomben. Alle Soldaten hatten traurige Gesichter. (Die armen Schweine, dachte Jakob, in Erinnerung an eigenes Erleben versunken.) Auf der Straße, die in die Stadt führte, gab es immer wieder Stacheldrahtsperren, Sandsackbarrikaden und Wachttürme. Auf ihnen sah Jakob Soldaten, Gewehr im Anschlag. Nein, dachte er, wir Menschen haben nichts dazugelernt seit 1945. Wahrscheinlich sind wir unbelehrbar.
In der City rasten Jeeps mit schwerbewaffneten Soldaten umher, LKWs mit kleinen Kanonen. Lastzüge voll Munitionskästen. Dazwischen glitten leichte Rikschas, eilten Wasserverkäuferinnen, die ihre Ware wie auf Waagschalen an einer Bambusstange hielten, fuhren Motorräder und Fahrräder, Taxis und Motorroller. Es war ein Chaos ohnegleichen.
Soldaten sah Jakob, Zivilisten, buddhistische Mönche, zierliche kleine Frauen mit langen Gewändern, langgeschlitzten Röcken und aufgestecktem Haar, schmutzige Kinder, die auf der Erde hockten, einen Holzblock vor sich, und Soldaten, Amerikanern und Vietnamesen sowie vornehm gekleideten Herren aus Europa die Schuhe putzten. Das alles sah Jakob … Er hatte draußen am Flughafen ein Taxi erobert. Sein Freund, der Senator, war der Ansicht gewesen, Jakob solle im Hotel METROPOL wohnen. Also hatte Jakob dort ein Zimmer bestellt. Nach dem langen Flug wollte er erst einmal baden und schlafen, bevor er sich auf die Suche nach den verschwundenen Fertighäusern machte.
Das Taxi erreichte das Hotel. Kinder prügelten sich darum, Jakobs Koffer tragen zu dürfen. Er bezahlte den Fahrer und drehte sich dann um, in der Absicht, das Hotel zu betreten. Dabei stieß er heftig mit einem amerikanischen Offizier zusammen, der aus dem Hotel herauskam.
»Entschuldigen Sie, Lieutenant-Colonel«, sagte Jakob höflich.
Der Lieutenant-Colonel stierte ihn mit hervorquellenden Augen an, rang nach Luft und stammelte: »Gott der Gerechte, Jake, alter Junge, was machst denn du hier?«
»Mojshe …«, stammelte Jakob fassungslos. Vor ihm stand – ein Irrtum war unmöglich! – tatsächlich jener Mojshe Faynberg, ehemals bei der Military Police in Wien und sodann beim Fliegerhorst Hörsching nahe Linz, Austria – der Gefreite, der damals so dick und rothaarig gewesen war, jener Sohn eines armen jüdischen Flickschusters aus New York Bronx. Dieser Sohn war noch immer dick, aber sein rotes Haar leuchtete graumeliert (was sehr merkwürdig aussah), und er war nicht mehr Gefreiter, sondern wirklich und wahrhaftig – Jakob kannte schließlich die Uniform noch – ein Lieutenant-Colonel!
»Jake!« schrie Oberstleutnant Mojshe nun, so lauthals, daß ein Junge einen Koffer fallen ließ. »Mann, ich werde verrückt! Du und in Saigon! In Saigon sehen wir uns endlich wieder – nach achtzehn Jahren!«
»Mein guter, alter Mojshe«, sagte Jakob gerührt.
»Jake, you son-of-a-bitch«, sagte Mojshe gerührt.
Und in den Armen lagen sich beide.
47
»In den letzten drei Jahren, in denen ich mit deiner Frau gevögelt habe, ist sie um zwanzig Jahre jünger geworden!«
»Ich vögle deine Frau zwar erst zwei Jahre, aber in denen ist sie auch um zwanzig Jahre jünger geworden! Das sagt sie selber immer, was, Joe?«
»Sagt sie selber immer, ja, Jim!«
»Sie hat mir erzählt, du hast einen so kleinen, daß mit ihm einfach keine Frau kommen kann!«
»Was heißt kommen! Mir hat sie gesagt, man weiß bei dir nie, ob er drinnen ist oder draußen!«
»Und außerdem bist du eine feige Sau, das muß auch mal gesagt werden!« Neun Herren, die in blauen Trainingsanzügen auf Matten im Kreis saßen, sprachen plötzlich alle zur gleichen Zeit auf einen zehnten Mann ein, der in der Mitte des Kreises hockte, an allen Gliedern bebend und lauthals schluchzend.
»In Korea, da beim Heartbreak Ridge, da hast du feige Sau die Kameraden nach vorne gejagt, mitten hinein ins Artilleriefeuer, und selber bist du im tiefsten Bunker gesessen und hast dir in die Hosen geschissen!«
»Dafür hast du jeden Morgen flammende Reden vor der Einheit gehalten, du Scheißkerl! Wir müssen die Freiheit verteidigen! Wir sind die Retter der Welt vor der Roten Flut!«
»Auf diese Weise hast du Karriere gemacht, du Lump! Andere sind verreckt, aber du bist befördert und befördert worden, bis du im Generalstab warst!«
»Weißt du noch, du Sauhund, wie du die eigenen Boys mit Granaten hast eindecken und krepieren lassen, weil du zu blöd warst, den Werfern die richtige Entfernung durchzugeben, so daß die Dinger direkt zwischen uns explodiert sind?«
Der zehnte Herr, auf den die anderen neun Herren solcherart einschrien, schluchzte jetzt nicht mehr. Er rollte über die Matratze und biß wie ein Rasender in viele bunte Kissen, die, zwanglos verstreut, herumlagen. Zwei Kissen hatte er schon erledigt, im Moment zerfetzte er mit seinen Zähnen ein drittes. Rot war es.
»Deinen Adjutanten hast du mit einem Spähtrupp in ein Gebiet geschickt, von dem du gewußt hast, daß es total vermint ist!«
»Und die armen Hunde sind auch prompt alle hochgegangen!«
»Weil dein Adjutant dir nämlich gesagt hat, er wird einen Bericht über dich schreiben! Über dich und deine Blödheit und Feigheit und Hinterfotzigkeit!«
Der arme Kerl, der also beschimpft wurde, biß nun auch nicht mehr in die Kissen. Schneeweiß im Gesicht, hielt er im Knien die Hände an den Leib gepreßt und kotzte, was das Zeug hielt.
»Mensch, Mojshe, ich werde verrückt! Das gibt es doch nicht«, flüsterte Jakob entgeistert.
»Du siehst ja, daß es das gibt. Und ich werde dir noch ganz andere Sachen zeigen«, antwortete Mojshe Faynberg. Er stand mit Jakob in einer Kammer, die dem Vorführraum eines Kinos ähnelte. Durch einen Spiegel, der auf der Innenseite durchsichtig war, konnte man in die große Turnhalle blicken, in der es unter den zehn Herren zuging wie in einem Tollhaus. Über einen Lautsprecher kam der Krach von draußen in die Kammer.
»Ja, aber was soll denn das?« fragte Jakob. »Ist das eine Klapsmühle hier?«
»Im Gegenteil, das ist ein Kursus für zusätzliche seelische Stärkung.«
»Mojshe, ich flehe dich an, sag, daß du mich auf den Arm nimmst!«
»Ich schwöre dir, ich nehme dich nicht auf den Arm, Jake!«
»Ja, aber warum wehrt sich denn der arme Kerl – mein Gott, jetzt hat er sich vor Wut auch noch in die Hosen gepißt! –, warum wehrt sich denn der arme Kerl nicht und brüllt die anderen auch an oder verdrischt sie?«
»Ah«, sagte der gereifte, rothaarig-graumelierte dicke Oberstleutnant Mojshe Faynberg in seiner piekfeinen Uniform ernst, »das dürfte er niemals! Damit wäre seine Karriere zu Ende! Er muß sich alles anhören, was die anderen über ihn denken, und er darf kein Wort sagen! Nur heulen, sich auf der Erde wälzen, kotzen und das andere da jetzt, das darf er. Sich vollscheißen auch.«
»Aber warum, Mojshe, warum?«
»Es ist wichtig, daß alle Mitglieder des Generalstabs genau wissen, was sie voneinander halten. Nur so entsteht echter Corpsgeist.«
»Das … das … das sind lauter Mitglieder des Generalstabs?«
»Natürlich! Hast du vielleicht gedacht, es sind einfache GIs, so wie du und ich es waren? Nein, nein, so was Feines gibt’s nur für Hohe Herren, mein Lieber!« Mojshe grinste.
Jakob sank auf einen Hocker.
»Wahnsinnig«, murmelte er, indessen von draußen, übertragen durch den Lautsprecher, immer weiteres Gefluche und Gebrüll in die Kammer drang, »ich bin wahnsinnig geworden. Bei mir ist es losgegangen! Ich bin gar nicht in Saigon! Und dich gibt es gar nicht, Mojshe! Und die da drinnen auch nicht! Das sind nur Ausgeburten meines Wahnsinns!«
»Hör auf«, sagte Mojshe streng. »Augenblicklich! Alles, was du hörst und siehst, gibt es! Vor allem mich! Du hast gesagt, ich soll dir zeigen, was ich in Saigon treibe – ja oder nein?«
»Ja – ha …«
»Na also. Und so zeige ich es dir also heute.« Heute, das war der 9. November 1964, und Mojshe zeigte Jakob das Innere eines großen Hauses an der Rue Catinat. Er setzte sich neben Jakob. »Ich betreue das ›T-Gruppen-Programm‹ der amerikanischen Streitkräfte, die sehr bald hier eingesetzt werden sollen. Verstehst du?«
»Kein Wort!«
Die Geräusche, die von der Turnhalle zu ihnen drangen, ließen Jakob erschauern. Die neun Mann brüllten immer noch auf den zehnten ein, und der zehnte übergab sich ununterbrochen.
»Paß auf, daß ich es dir erkläre: ›T-Gruppen‹, so nennen wir diese ›Trainings-Gruppen‹. Das Programm – von dem du erst ein bißchen gesehen hast, hat eine amerikanische Forschergruppe bereits 1947 auszuarbeiten begonnen. Das ist ein zusätzlicher Erziehungsfaktor für Normalpersonen – nicht eine Therapie für Neurotiker!«
»Mensch, bist du gebildet, Mojshe!«
»Man lernt natürlich mit der Zeit«, sagte Mojshe. »Diese ›T-Gruppen‹, die jeder vom Generalstab mitmachen muß …«
»Ja, aber um Himmels willen, wozu …«
»Laß mich es dir erklären, Jake, du kannst es nicht wissen in deiner Beschränktheit: Also, diese ›T-Gruppen‹ werden unterteilt in ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Trainingsgruppen. Ist beides dasselbe. Nur der Spaß ist verschieden – wie du gleich sehen wirst. Das hier, das ist eine ›Encounter‹-Gruppe. Das heißt, hier äußert jeder frei, was er über den andern denkt. Auch alle auf einmal können sich äußern.«
»Aber wozu?«
»Na, Jake, Junge, so was stärkt doch ungeheuer das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Kampfgeist! Darum macht man das jetzt auch hier in Saigon, wo’s gleich richtig losgehen wird. Früher hat man die Ausbildung in den Staaten gemacht. Ich bin ein armer Hund, das weißt du ja, bin es immer gewesen, und also bin ich in der Army geblieben, das habe ich dir auch schon erzählt. Nachdem mein Alter gestorben ist, war überhaupt kein Geld mehr für meine Mutter und meine Schwester da. Also, was ist mir übriggeblieben?«
»Das verstehe ich alles, Mojshe«, sagte Jakob und fuhr zusammen, weil von draußen ein besonders tierischer Schrei des so entsetzlich beschimpften zehnten Mannes in die kleine Kammer gedrungen war.
»Reg dich nicht auf, Jake! Nach diesem General kommt der nächste dran. Alle kommen sie dran! Wo war ich? Ach ja: Also was ist mir da übriggeblieben, als Soldat auf Zeit zu werden? So habe ich die ganze Korea-Scheiße mitgemacht – im Vertrauen: Den Kerl, den sie da drinnen gerade in der Mache haben, den kenne ich von damals, das ist wirklich ein ganz großes Arschloch! –, und dann bin ich natürlich befördert worden und befördert, und jetzt kann ich Mutter und Schwester ordentlich ernähren und fliege dauernd zwischen Los Angeles und Saigon hin und her.«
»Hast du Los Angeles gesagt?« hauchte Jakob.
»Habe ich. Ja. Warum?«
»George Misaras ist dort, und ich bin auch oft dort – aber das habe ich dir ja schon alles erzählt. Auch daß sie den armen Jesus umgebracht haben, die weißen Schweine da im Süden!« Mojshe nickte traurig. »Aber daß wir einander nie gesehen haben, das ist unfaßbar!«
»Viele Sachen sind unfaßbar«, sagte Mojshe. »Ich werde dir gleich noch ein paar zeigen. Stimmt schon, wir hätten uns mal begegnen können. Aber ich bin doch dauernd unterwegs gewesen! Korea. Deutschland. Weiß ich, wo überall. Und jetzt, jetzt fliege ich die ganzen Generalstäbler, die für den Krieg hier vorgesehen sind, hin und her. Sie machen solche ›T-Gruppen‹ auch drüben, aber hier machen sie das jetzt auch, damit die Herren sozusagen im Angesicht des bösen Feindes noch einmal richtig mutig werden. Und ich bin so was wie der Reiseleiter, kapierst du?«
»Gratuliere«, sagte Jakob. »Dann haben wir tatsächlich alle Karriere gemacht – bis auf den armen Jesus.«
»Ich muß sehen, daß ich heute noch neun Juden auftreibe, damit wir Kaddisch sagen können für Jesus.«
»Kaddisch?«
»Ein Totengebet sprechen, weißt du. Zu einem Gebet braucht man immer zehn Mann. Ich wäre der zehnte.«
Eine ferne Explosion ließ den Boden wanken.
»Was war das?«
»Ach, irgendwas ist explodiert in der Stadt«, sagte Mojshe. »In dieser Stadt explodiert dauernd was. Hast du eine Ahnung, wie das hier oft zugeht. Eine Rakete solltest du mal hören! Sind ein Haufen Vietcong in der Stadt, verstehst du. Da gibt’s immer wieder Morde, Anschläge, Feuerüberfälle, Entführungen. Wir haben hier einen Bürgerkrieg.«
Ein dumpfes Trommeln ertönte.
»Und was ist das?« fragte Jakob.
Mojshe sah durch das kleine Fenster in den Turnsaal.
»Ach, jetzt haut er mit den Fäusten auf den Boden, der General, weil sie ihm vermutlich was besonders Hübsches gesagt haben. Und hin und her rollen tut er sich auch in seiner eigenen … in seinen eigenen Ausscheidungen«, sagte Lieutenant-Colonel Mojshe Faynberg.
48
Am Abend zuvor, gleich nach ihrer Begegnung, hatte Jakob seinem Freund erzählt, warum er in Saigon war. Mojshe hatte nur genickt. Dann war er mit ihm in das Chinesenviertel der Stadt – Cholon – gefahren und hatte zielstrebig eine Opiumhöhle angepeilt. Jakob konnte da in der Finsternis, die von einer Ölfunzel kaum erhellt wurde, zuerst überhaupt nichts erkennen. Dann gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht, und er sah auf Pritschen, auf dem Boden oder auf Tischen reglose, zusammengekrümmte Gestalten.
»Keine Angst«, sagte Mojshe, der Jakobs Entsetzen bemerkte, schnell, »die sind nicht tot. Die haben nur alle ihr Opiumpfeifchen geraucht und träumen jetzt schön.« Nun erst empfand Jakob den schweren, süßlichen Geruch, der das Kellergewölbe erfüllte.
Ein alter Chinese kam mit vielen tiefen Verneigungen näher. Er schien Mojshe zu kennen und wollte ihn gerade untertänigst begrüßen, doch dieser ließ ihm keine Zeit.
»He, Hue-Sen«, sagte Mojshe. »Halt’s Maul und hör gut zu. Dieser Gentleman ist mein Freund. Ihm sind drei Schiffsladungen Fertighäuser abhanden gekommen. Du sollst das Maul halten! Ich weiß genausogut wie du, wer das Ding gedreht hat. Nämlich dein Vetter San-Tui. Widersprich nicht! Wir wissen beide, was San-Tui für einer ist. Der größte Dieb und Hehler von Saigon. Kusch. Du wirst sofort zu San-Tui gehen und ihm sagen, daß die drei Schiffsladungen morgen abend wieder dort sein müssen, wo man sie gestohlen hat – auf den drei Schiffen. Kusch, habe ich gesagt. Wir haben San-Tui bisher nichts getan und ihn seine Sauereien machen lassen, weil er uns so viele Informationen über geplante Aktionen des Vietcong gegeben hat – gegen viele Dollars, der Schweinehund. Jetzt ist Schluß. Wenn die Fertighäuser morgen abend nicht wieder auf den Schiffen dieses Herrn sind, lassen wir deinen Vetter hochgehen. Lebenslänglich ist dann noch ein Späßchen! Wahrscheinlich wird man ihn aufhängen.«
»Hue-Sen welden sofolt gehen und mit Vettel leden, Hell Faynbelg. Seien ganz beluhigt. Häusel kommen zulück bis molgen abend. Wäle nie passielt, wenn mein Vettel gewußt hätte, daß dieses Mistel Ihl Fleund, Hell Faynbelg. Wilklich, seien ganz beluhigt. Und nicht böse. Vielleicht ein klein Pfeifchen oder zwei gefällig, die Hellen?«
Die Herren Mojshe und Jakob hatten energisch abgelehnt. Sie waren zurück in Jakobs Hotel METROPOL gefahren und hatten die ganze Nacht durch beieinandergesessen, ein wenig getrunken (Mojshe ein wenig Bourbon, Jakob alkoholfreies ›Schweppes Tonic Water‹), geraucht und erzählt, wie es ihnen und allen anderen, die sie gemeinsam kannten, ergangen war. Gegen Morgen hatte Mojshe gesagt: »So, jetzt hauen wir uns aufs Ohr, und so um zehn hole ich dich ab und zeige dir, was ich hier mache.«
49
Na ja, und das hatte er dann auch getan …
»Nur ein kleiner erster Eindruck«, sagte er nun, in der Kino-Vorführkabine des Hauses an der Rue Catinat, zu Jakob, indessen durch den Lautsprecher das Fluchen, Beschimpfen, Heulen und Trommeln im Saal nebenan weiter zu hören war. »Komm mit. Ich zeig dir noch was.«
Sie verließen die Kabine, fuhren mit dem Lift ein Stockwerk höher, wanderten einen Gang hinab und betraten eine zweite Kabine. Als Jakob hier durch den Einwegspiegel blickte, hielt er sich an Mojshe fest, um nicht umzufallen.
Er sah in einem Saal wie dem ersten wiederum zehn Männer, diesmal in roten Trainingsanzügen. Fünf von den Herren Stabsoffizieren und Generälen krochen auf allen vieren durch die Halle. Die anderen fünf Herren saßen auf ihren Rücken und ritten. Wenn es ihnen nicht schnell genug ging – und es ging ihnen niemals schnell genug –, gaben sie ihren Pferdchen die Sporen, das heißt, sie hauten die Offizierskameraden klatschend auf die Hintern oder traten ihnen auf die Hände. Dann trabten die Pferdchen hurtiger.
»Mmmmmmmmm!!!« war alles, was Jakob herausbrachte.
»Der Witz hier«, ließ sich Mojshe vernehmen, »ist der, daß einmal hohe und einmal niedrigere Dienstgrade Pferdchen spielen müssen beziehungsweise reiten dürfen.«
»Aber wozu das, um Himmels willen?«
»Stärkung des Gefühls der Gleichheit aller. Keiner ist dem andern überlegen oder hat mehr Macht! Alle sind eine verschworene Gemeinschaft, klar?«
»Klar«, sagte Jakob.
Die Pferdchen trabten, die Herren ritten auf ihnen, daß es eine Lust war.
»Also, diesen Krieg gewinnt ihr ganz bestimmt!« sagte Jakob.
»Na was denn«, sagte Mojshe. »Komm.« Und er brachte Jakob in ein anderes Stockwerk und in eine andere Kabine. Jakob blickte durch den dritten Einwegspiegel. Er sah neun Mann im Kreis, wie schon gewohnt, der zehnte in der Mitte.
Totenstille.
»Der in der Mitte ist ein ganz hohes Tier«, sagte Mojshe. »Er wird sich gleich umfallen lassen.«
»Warum?«
»Damit ihn die anderen auffangen natürlich«, sagte Mojshe.
»Und wozu soll das gut sein?«
»Stärkung des Gemeinschaftsgefühls. Einer ist für den andern da, einer hilft dem andern. Alles von ersten Psychotherapeuten Amerikas entwickelt. Es gibt nichts Besseres.«
»Bestimmt nicht«, sagte Jakob.
Im nächsten Moment geschah zweierlei. Der General ließ sich – wie Mojshe prophezeit hatte – fallen. Er war überzeugt davon, daß ihn die Kameraden auffangen würden in ihrem starken Gemeinschaftsgefühl. Leider heulte im gleichen Moment eine Rakete heran – Jakob und Mojshe warfen sich zu Boden – und explodierte mit ohrenbetäubendem Getöse.
»Das war ganz schön nahe«, sagte Mojshe, sich erhebend. Auch Jakob erhob sich und sah durch den Spiegel. Ein schrecklicher Anblick bot sich ihm.
Die neun Generalstäbler hatten sich beim Heranheulen der Rakete gleichfalls zu Boden geworfen, die Köpfe zwischen den Händen – und deshalb war niemand dagewesen, um den General, der sich gerade fallen ließ, in verschworener Gemeinschaft aufzufangen. Jetzt richtete er sich auf und hielt sich den Schädel. Aus der Nase tropfte Blut auf den Trainingsanzug. (Hier wurden weiße getragen.) Der General, außer sich, rappelte sich auf und begann zu toben, daß die Membran des Lautsprechers klirrte: »Ihr Hurensöhne! Ihr Hunde! Ich lasse euch an die Wand stellen, alle miteinander! Verräter! Kommunisten! Schweine, verfluchte! Vors Kriegsgericht bringe ich euch alle! Auf! Stillgestanden! Hände an die Hosennaht! Niemand rührt sich!« Es rührte sich wirklich niemand. Die neun anderen Herren sahen ihn gespannt an. Im Sitzen.
»Auf!« schrie der General wie rasend. »Ich habe ›Auf‹ befohlen!«
Danach begannen plötzlich alle durcheinanderzuschreien.
»Du Arschloch, du verstunkenes, du kannst uns mal! General und noch nie eine Rakete gehört!«
»Klar hat er nicht! Die feige Ratte hat doch während des ganzen Korea-Kriegs nichts als Truppenbetreuung gemacht!«
»Und dann mußte er mit einem Trio ins Lazarett! Ich könnte schwören, er hat gewußt, daß das Mädchen nicht sauber war, als er ihn reinsteckte! Bloß damit er nicht an die Front mußte!«
»Aber sein Bruder ist Vizepräsident bei der … na, jetzt fällt mir der Name nicht ein … bei dieser Firma, die Napalm erzeugt! Dem sein Geld sollten wir haben, Boys!«
»Verdammt, verdammt, verdammt«, flüsterte Mojshe erschrocken. »So geht das aber auch nicht. Die haben da etwas mißverstanden, die Jungs.«
»Was haben sie mißverstanden?«
»Die glauben, sie sind noch im ›Encounter‹-Training, die Trottel, und sie sollen dem armen General alles sagen, was sie über ihn denken. Der Schock … man kann es ja verstehen. Aber dabei ist das hier schon die höchste Gruppe – nämlich die Erziehung zum Getragenwerden durch die Gemeinschaft.«
»Die hat ihn ja auch fein getragen«, sagte unser Freund, während nebenan der General und neun andere Herren sich heiserschrien.
An diesem Abend fuhr Jakob mit Mojshe im Jeep hinunter zum Hafen. Die drei Schiffe waren über Nacht wie durch ein Wunder wieder mit Fertighausteilen gefüllt worden.
»Zufrieden?« fragte Mojshe. »Dieser alte Ganeff, der San-Tui.«
»Warum sperrt ihr ihn nicht überhaupt ein?« fragte Jakob. »Der Kerl verdient’s doch wahrhaftig!«
»Ach Mensch, wenn wir hier alle einsperren wollten, die es verdienen … Außerdem, du hast es ja gehört, versorgt er uns zuverlässig mit Nachrichten über bevorstehende Aktionen des Vietcong.«
»Über die Rakete heute vormittag hat er euch aber nicht rechtzeitig informiert!«
»Ein Mann kann nicht alles wissen«, sagte Mojshe. »Du siehst ja, wie es hier drunter und drüber geht. Komm, erholen wir uns ein bißchen in deinem Hotel!«
Mojshe trank Bourbon, Jakob Tonic Water, sie redeten von längst Vergangenem und von hautnaher Gegenwart. Plötzlich sagte Jakob: »Du, Mojshe, ich hab eine Idee.«
»Soso.«
»Paß auf. Das hat tiefen Eindruck auf mich gemacht, was du mir da gezeigt hast, diese ›T-Gruppen‹. Ich war in den Staaten selber mal bei einem Püschoanalytiker. Das ganze Volk ist doch meschugge mit Püschoanalytikern und all dem Zeug. Willst du ein paar solche Institute wie das hier mit ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Training und dem ganzen Zeug in Amerika auf privater Basis eröffnen? Geld schieße ich vor. Du mußt für das Know-how und ein paar Püschater sorgen. Ich schwöre dir, da kommt Geld rein wie Scheiße in die Latrine!«
»Das brauchst du mir nicht zu schwören. Jake, das glaube ich dir unbesehen. Eine prima Idee. Machen wir, klar!«
»Hm …« Jakob war noch etwas eingefallen. »Hör mal, Mojshe. 1965 feiere ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag.«
»Ja, und?«
»Und meine Freundin, diese Natascha, ich habe dir von ihr erzählt …«
»Stundenlang«, seufzte Mojshe. »Was ist mit deiner Natascha?«
»Die will meinen fünfundvierzigsten Geburtstag ganz besonders festlich begehen! Die liebt mich so sehr, verstehst du!«
»Aha.«
»Ja, es ist nicht zum Beschreiben! Eine wunderbare Frau! Weißt du, was sie sich ausgedacht hat?«
»Was?«
»Wir feiern meinen Geburtstag auf dem Wiener Opernball! Der ist in der Nacht vor meinem Geburtstag! Toll, was?«
»Toll. War denn deine Natascha schon mal auf einem Opernball?«
»Nein.«
»Aha.«
»Was heißt aha? Ich war auch noch auf keinem! Natascha meint, ich soll ein paar Logen nehmen, damit ich meine besten Freunde und engsten Mitarbeiter einladen kann! Also, das gäbe eine Riesenhetz, Mojshe! Früher waren wir arme Schweine. Jetzt, jetzt sind wir alle wer und können die feinen Maxen machen!«
»Können wir, ja.«
»Würdest du kommen? Bitte, Mojshe! George Misaras kommt auch bestimmt!«
»Na, glaubst du, da bleib’ ich weg?« fragte Mojshe, fast beleidigt. »Wo wir doch so alte Freunde sind! Klar gehen wir alle zusammen mit dir 1965, zu deinem fünfundvierzigsten Geburtstag, auf den Wiener Opernball!«
50
Und so geschah’s.
Sie alle, alle kamen. Und Jakob erhielt das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹ und wurde von Bundeskanzler Josef Klaus (schwarz, ÖVP, aber ein ganz reizender Mensch!) auf beide Wangen geküßt, und alle beglückwünschten ihn, und alle umarmten ihn, und alle tranken zuviel, und nachts fuhr Jakob dann mit seinem Rolls-Royce noch los, weil er unbedingt anderntags in München eine wichtige Besprechung hatte, und auf der Autobahnbrücke über die Mangfall, da bei Weyarn, geriet sein Wagen auf der eisigen Bahn ins Schleudern, durchbrach das Geländer, stürzte in die Tiefe und explodierte dort, Jakob aber flog in das Geäst eines Baumes und hing da und versuchte verzweifelt, von diesem Baum wieder herunterzukriechen und dabei nicht auch in die Tiefe zu stürzen …
Tja, und da steht er nun.
Da steht er nun, glücklich aus dem Geäst des vereisten Baumes heruntergeklettert auf die vereiste Autobahnbrücke über die Mangfall, und es ist gräßlich kalt, und ein stürmischer Wind heult, und Jakob Formanns Frack ist ganz und gar verdreckt, und die stolz gestärkte Hemdbrust sieht aus wie aus dem … Kakao gezogen, und er selber – du liebes Gottchen! Verschrammt, verdreckt, bleich das Gesicht, wirr und naß das Haar. Die Fliege ist weg. Weg ist auch das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹. Beides ist in die Schlucht hinuntergeflogen, als Jakob noch im Baume hing. 7 Uhr 15 ist es nun am 26. Februar 1965, und Jakob feiert heute seinen fünfundvierzigsten Geburtstag. So kann man also seinen Geburtstag auch feiern!
Da steht er nun, dem Tode eben noch von dessen Schäufelchen gesprungen, am ganzen Leibe zitternd vor Schrecken, und kann sich kaum aufrecht halten, kann kaum richtig atmen, dieser Jakob Formann, dieser Multimillionär, dieser Herr eines weltweiten Wirtschaftsimperiums, dieser Träger hoher und höchster Orden und Ehrenzeichen, dieser Freund hoher und höchster Herrschaften in West wie in Ost, dieser Liebhaber vieler schöner Frauen, da steht er nun …
Nein, da sitzt er nun. Er ist einfach zusammengesackt, die Beine, sie trugen ihn nimmer.
Tiefe Winternacht ist es noch, unnötig zu sagen, aber wir sagen es trotzdem. Die Autobahn verlassen. Kein einziges Auto weit und breit. Verflucht, dachte Jakob, stehen kann ich nicht mehr, aber sitzen darf ich auch nicht zu lange, sonst klebe ich am Eis an. Der Tod durch Erfrieren scheint mir gewiß. Happy birthday! Na, wenigstens ziehe ich keinen anderen Menschen mit in das Malheur! Alle schlafen süß in ihren weichen, warmen Betten im schönen Hotel IMPERIAL, alle meine Freunde: der Wenzel Prill, der Karl Jaschke mit seiner Frau, George Misaras mit seiner Frau, Mojshe Faynberg (Herrgott, drei solche Idioteninstitute hat der in der Zwischenzeit in Amerika eröffnet, das Geschäft geht wie verrückt!), der gute alte Senator Connelly schläft im IMPERIAL, den habe ich allein rüberholen lassen, und die liebe BAMBI mit dem lieben Jurij Blaschenko, ihrem Mann, der wackere Oberst Assimow, der Plastic-Experte Dr. Addams Jones, und so weiter und so weiter, Millionäre, Künstler, die GANZ GROSSEN dieser Welt halt, ein paar von meinen Freunden halt, was so in drei Logen reingegangen ist halt. Und natürlich meine geliebte Natascha! Claudia und der versoffene Schreiber, der, wie ich höre, tatsächlich keinen einzigen Tropfen mehr trinkt, sind nicht gekommen. Sie haben angerufen und sich entschuldigt. So lieb! So rührend!
»Wir können unter keinen Umständen aus Monte Carlo weg, lieber Jakob«, hat Claudia gesagt. »Bitte, sei nicht böse und sieh es ein. Der Mario muß Ende Februar mit seinem neuen Roman fertig sein, er arbeitet wie ein Irrer von früh bis abends, damit er es schafft.«
»Klar«, habe ich gesagt. »Arbeit geht vor. Hat er schon einen Namen, der neue Roman?«
»ALLE MENSCHEN WERDEN BLÖDER.«
»Na«, habe ich gesagt, »da hat er aber ja recht, der Mario! Hoffentlich wird das Buch wieder so ein Erfolg wie das letzte, toi, toi, toi.« Und ich habe auf Holz geklopft und gehört, wie die süße Claudia auch auf irgend etwas aus Holz da in Monte Carlo geklopft hat. Der Schreiber, der hat nämlich mit seinem letzten Buch – Gott, steht eine bezaubernde Widmung in dem Band, den er mir geschenkt hat! – einen Bestseller geschrieben. Über die Mauer in Berlin und die ganze Scheiße mit dem zweigeteilten Deutschland, das keiner wiedervereinigen will, weil sie sich alle fürchten vor einem wiedervereinigten Deutschland, man kann’s ja verstehen. Sogar gelesen habe ich diesen Roman!
SCHLAFE, LIEB VATERLAND, SCHLAF EIN hat er geheißen. Hat mir sehr gut gefallen. Nur so säuisch sollte der Schreiber nicht schreiben. Ich weiß ja, ich weiß ja, den Leuten gefällt’s. Den meisten jedenfalls. Und ›in‹ ist so was auch. Aber hat er das nötig? Im übrigen ist da etwas sehr Komisches passiert: Seine ersten sieben Bücher haben sich schlecht verkauft, aber die Kritiker in Deutschland haben wahre Hymnen über sie angestimmt. Jetzt gehen seine Bücher, was heißt gehen? – sie verkaufen sich rasend, und die Kritiker in Deutschland zerreißen den Mario Schreiber in der Luft. Wie es eben so geht im menschlichen Leben, würde der Arnusch Franzl sagen, der elende Schuft. Den habe ich natürlich nicht zum Opernball eingeladen, den Scheißkerl! Den habe ich doch rausgeschmissen wegen seiner Steuerschweinereien, die er hinter meinem Rücken gemacht hat. Seitdem höre ich nichts mehr von ihm. Und so einem habe ich noch eine Bank in Wien finanziert – ich bin schon ein großer Trottel! Vielleicht sollte ich jetzt doch ein bißchen aufstehen, bevor mir der Hintern endgültig anfriert. Es kommt schon so grauenhaft kalt von da unten herauf, bis ins Hirn …
Jakob versuchte sich zu erheben.
Es ging nicht.
Er war bereits angefroren. Und er hatte nicht mehr die Kraft, sich loszueisen. Mit idiotischem Gesichtsausdruck saß er da. Na, schön. Wenn der Herrgott nicht will, nützt das gar nichts. Dann ist es mir also bestimmt, zu sterben. In meiner Jugendmaienblüte. Am 26. Februar 1965. Auf der Brücke über die Mangfall. An meinem fünfundvierzigsten Geburtstag noch dazu.
Der Tod durch Erfrieren soll ja ein sehr gnädiger Tod sein, habe ich gehört. Man wird immer schläfriger und schläfriger, und dann ist man hinüber. Ach, Natascha, nun werde ich dir die Chinesische Schlittenfahrt doch nicht mehr verpassen können! Das ist schon traurig. Besonders wenn man bedenkt, was ich bereits in dich investiert habe. Und wenn man weiter bedenkt, daß ich dich auch schon zu erwecken angefangen habe. Beim letzten Mal vor drei Wochen, da hast du schon Geräusche von dir gegeben! Und was für welche! Dreimal hintereinander hast du geniest. Na ja, wir sind eben alle in Gottes Hand.
Jakob zuckte zusammen.
Was habe ich da gedacht?
Wir sind alle in Gottes Hand?
Steht es so arg um mich? Na ja, jetzt bin ich wenigstens sicher: Das ist also das Ende …
Er ließ sich sanft seitwärts gleiten. Seine Gedanken wurden leichter und leichter. Wie war das Gedicht, eh, der Gesang, den mir Natascha auf Cap d’Antibes vorgesprochen hat, von diesem Danton? Quatsch, Danton! Danton, das ist der mit den hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! Und meine geliebte Natascha hat mir vorgesprochen – rezitiert heißt das –, was dieser Darwin da geschrieben hat …
Gerade in der Mitte meiner Lebensreise
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren …
Aus.
Schluß.
Jakob war mitten in der Erinnerung an diesen Gesang friedlich eingeschlafen. Schnee stäubte ihn zu …
51
»Herifi son anda bulduk!«
»Lânet olsun! Arkasi donmaÿa başlamiş bile.«
»Herifin kimin nesi oldogunu da bilmiyoruz.«
Einen Moment mal, ja?
Ein ganz kleines Momentchen, bitteschön!
Wer spricht denn hier Türkisch?
Ich kann selber nicht Türkisch, aber ich war oft genug in der Türkei wegen diesem Plastikwerk, das ich denen da hingebaut habe, um zu wissen, wie Türkisch klingt. Für diese Sprache habe ich überhaupt einen gut entwickelten Sinn!
Aber wieso Türkisch?
»Inşallah yolda geberip gitmez!«
Keine Ahnung, was es bedeutet, aber Türkisch ist es, da will ich verrecken, wenn nicht.
Verrecken?
Vielleicht bin ich schon verreckt! Sehr wahrscheinlich. Auf der Brücke über die Mangfall. Erfroren. Im Himmel.
Sprechen sie im Himmel Türkisch?
Ach, Mensch, ich und in den Himmel kommen!
Sprechen sie also in der Hölle Türkisch?
Und wieso ruckelt und wackelt alles so unter mir? Ruckelt’s und wackelt’s so in einer türkischen Hölle? Das muß ich mir mal besehen, wie so eine Hölle, eine türkische, ausschaut!
Jakob öffnete die Augen.
Er fand, daß er auf dem Rücksitz eines sehr alten, sehr dreckigen Autos lag, das vollgestopft war mit Gepäckstücken – mit Koffern, Persilkartons, Taschen. Jakob hob etwas den Kopf. Er befand sich, so stellte er fest, in einem ziemlich kaputten Auto. Die Stoßdämpfer waren jedenfalls im … na ja. Nicht immer so ordinär sein wie dieser Schreiber! dachte Jakob.
Über ihm krachte etwas. Da sind auch noch Koffer auf dem Dach, überlegte er. Und sah nach vorne. Vorne saßen zwei Herren in desolater Winterkleidung. Der eine hatte einen Schal um den Kopf gewickelt, der andere rauchte eine Zigarette. Gott, was für ein Gestank! Ach was, erstunken ist noch keiner, erfroren schon so mancher. Jakobs benebeltes Hirn begann besser und besser zu arbeiten.
Die zwei Herren da vorne reden miteinander. Türkisch! Werden also wohl Türken sein. Türken in Bayern? Ach so, Gastarbeiter! Die kommen offenbar gerade aus der Heimat zurück, wenn man sich die Koffer und Kartons anschaut, in denen wohl ihre Kleidung verpackt ist. Die Weihnachtszeit haben sie daheim verbracht und alles Geld, das sie in der Bundesrepublik erschuftet haben, ihren Familien gegeben, die guten Kerle, und dann vermutlich noch Urlaub drangehängt, und jetzt fahren sie zurück, wieder schuften.
Also bin ich gar nicht tot!
Jakob wurde es heiß.
Also lebe ich noch, hurra!
Sein Herz klopfte wild.
»He …«, krächzte er.
Der Türke, der rechts saß, drehte sich um und sah ihn an. Noch nie hat mich ein Mensch so liebevoll betrachtet, dachte Jakob, dem die Tränen kamen.
»Okay?« fragte der Türke.
»Okay, ja. Ganz okay! Sie haben mich aufgelesen da auf der Brücke, meine Herren?«
»Nix verstehn.«
»Brücke. Ich. Ihr Auto.« Jakob sprach automatisch wie ein Mann, der nur ein paar Worte Deutsch kann. Er war der Überzeugung, daß ihn die Türken so viel besser verstehen könnten.
»Ja, ja. Du gut. Wir …« Es folgte eine Flut türkischer Erklärungen.
Jakob verstand kein Wort. »Aha«, sagte er. Und noch einmal: »Aha.« Er klopfte den beiden Türken auf die Schultern. »Danke! Danke! Danke!«
»Was?«
»Danke! Thank you! Merci! Spassibo! Grazie …« Was heißt ›danke‹ auf türkisch? Der Mensch kann nicht alles wissen.
Der Wagen schleuderte und schlidderte auf der vereisten Autobahn, daß es eine Lust war. Der Türke am Steuer hielt eisern den Fuß auf dem Gashebel. Jakob sah auf das Armaturenbrett. Fünfundneunzig Stundenkilometer. Gelobt sei Jesus Christus! Und was ist das da? Eine Uhr ist das da. Und was zeigt die Uhr? Die Uhr zeigt die Zeit: 8 Uhr 58. Fast neun. Es ist schon hell draußen! Und es schneit wie verrückt. Fast neun. Nie im Leben komme ich mehr zu meiner Aufsichtsratssitzung zurecht! Die habe ich selber angesetzt. In meiner Münchner Fertighausfabrik, der ganz großen, da draußen in Solln. Wichtige Dinge sind mit den Direktoren meiner ausländischen und überseeischen Niederlassungen zu besprechen. Den Jaschke brauche ich nicht dazu. Darum habe ich ihn ja auch im IMPERIAL schlafen lassen. Eigentlich sollte er natürlich doch dabeisein. Aber ich hab’s nicht über mich gebracht, ihn zu wecken. Ich kann ihn sehr gut vertreten.
Sehr gut vertreten …
Wie?
So?
In diesem verdreckten Frack?
Was heißt verdreckten Frack?
So verdreckt, wie der ganze Jakob Formann, seiner Zeit immer um zwei Schritte verdreckt voraus, ist? Ich kann sehen, wie verdreckt ich bin, da vorne, im Rückspiegel, sehe ich mich. Großer Gott im Himmel, so was Dreckiges hat die Welt noch nicht gesehen! Ich muß aber zu der Vorstandssitzung. Natürlich nicht in diesem Zustand. Also muß ich mich schnell waschen im Werk. Aber der Scheißfrack! In dem kann ich doch unmöglich, also das ist doch absolut ausgeschlossen, daß ich in dem vor meine Direktoren trete und …
Was?
Was ist das?
Was sagt der Rechte da zu mir mit gewinnendem Lächeln?
»Wir Gastarbeiter«, sagte er mit gewinnendem Lächeln und zeigt auf sich und seinen Freund.
»Aha«, sage ich. Habe ich es mir doch gleich gedacht.
»Du schön Kleid …«
»Bitte?«
»Schön Kleid, du … wir arm … keine schön Kleid …« Und wieder ein türkischer Wortschwall.
Kein schön Kleid?
Den beiden gefällt mein Scheißfrack. Ist ja auch von einem erstklassigen Schneider! Und wenn man ihn reinigt … und ein bißchen zusammennäht …
»Wir tau … tau … tau … ja?«
Tauschen will der! Mensch, das ist die Rettung! Die haben doch ihre Klamotten in den Koffern! Die geben mir was, und ich gebe ihnen den Scheißfrack! Die Rettung! Die Rettung ist da! Was so ein Jakob Formann ist, der geht eben nicht unter.
»Du wollen …?«
»Klar will ich! Mit Vergnügen! Da vorne ist ein Parkplatz!« Jakob zeigte wie irre nach rechts. »Fahrt da rein! Das können wir gleich machen! Ihr müßt mich dann aber auch noch nach Solln hinausfahren, ich habe es wahnsinnig eilig, ich komme ohnehin schon viel zu spät!« sprudelte Jakob.
»Solln!«
Die Türken verstanden keines seiner Worte und verstanden dennoch, was er wollte. Der am Steuer fuhr schon in den hohen Schnee eines Parkplatzes im Hofoldinger Forst. Der Wagen hielt. Noch bevor der Türke rechts ausgestiegen war und einen Persilkarton geöffnet hatte, war Jakob schon aus Frackjackett, Frackweste und Frackhose geschlüpft …
52
»Herr über Leben und Tod, Jesus Christus, dem wir leben und dem wir sterben, wir bitten Dich bei Deinem hochheiligen und schweren Tode am Kreuz, verleihe Jakob Formann, daß Deine Ankunft bei seinem Tode ihn nicht als schlafenden, unvorbereiteten und trägen, sondern als wachen und guten Knecht angetroffen hat …«
»Was woaß denn der Depp, ob er aa wirklich hi is, der Formann?«
»Im Radio ham s’ es g’sagt um achte, daß s’ koa Spur g’funden ham von eahm da in der Mangfallschlucht und daß er mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sich … naa, umgekehrt: daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hi is. Verbrennt in seinem Schlitten, vastehst, Seppl?«
»Da hätten s’ doch aba wenigstens a paar Knochen finden müssen von dem Hund – aba gar nix?«
»Sag des net, Dschonni. Wenn er mit seim Rolls explodiert is, nacher hat’s ihn ganz z’riss’n, den Lumpen, den elenden. Drum hams uns ja alle zammg’holt. Und deswgn san ja de Fahnen aa bloß halbert aufzogn! Na, na, der is hi, da gibt’s nix!«
Also, das ist doch …
Ein Mann in mittleren Jahren, mit zerschrammtem Gesicht und wunden Händen, Pflaster darauf, angetan mit einer sehr abgetragenen Hose, einer sehr abgetragenen Jacke von undefinierbarer Farbe (an den Ellbogen Lederherzen!), einem zerdrückten grünlichen Hemd, am Halse offen, und einer Schirmmütze, die tief ins Gesicht gedrückt war, konnte sich nicht fassen vor Empörung. Er stand, eingekeilt in die Menge der Arbeiter, in der größten Halle des Fertigbauwerks München-Solln und hatte bebend vernommen, was der Betriebsratsvorsitzende, ein braver, gläubiger Bayer, ein wenig mühsam aus einem kleinen schwarzen Buch da vorlas.
Hirnschall, so heißt der Sack, dachte Jakob Formann, denn um ihn handelte es sich bei dem schäbig gekleideten Mann inmitten der Arbeiterschaft des Münchner Werks (Sie haben es doch nicht etwa schon vermutet?), Alois Hirnschall heißt der fromme Herr. Wahrscheinlich hat auch er angeordnet, daß die beiden Fahnen – die bundesdeutsche und die österreichische – draußen auf den Stangen beim Werkeingang halbmast zeigen –, und diese Trauergemeinde hat er auch zusammengetrommelt, Angestellte und Arbeiter, Putzfrauen und Direktoren, alles, das sieht ihm ähnlich, diesem Gschaftlhuber, diesem schwarzen, und jetzt muß er auch noch aus dem Büchl da das Gebet über mein seliges Sterben vorlesen, das Rindvieh, und wer paßt draußen auf? Kein Mensch. Nicht mal ein Portier war da, wie die beiden türkischen Gastarbeiter mich abgesetzt haben. Keine Maschine ist gelaufen. Ich habe gedacht, die sind hier alle ausgerissen oder machen Streik, und dann komme ich in die Halle fünf und sehe und höre so was, also, nein, pfui Teufel noch mal!
»… laß nicht zu, wir bitten Dich, daß Jakob Formann ohne Reue aus diesem Leben geschieden und gänzlich unversehen vom Tode überrascht worden ist«, las der Betriebsratsvorsitzende Alois Hirnschall, geboren in Tuntenhausen, Oberbayern, etwas mühsam, aber desto inbrünstiger weiter. Das Podest, auf dem Hirnschall seine Andacht zelebrierte, war schwarz drapiert mit einem Stück jener Kunststoff-Folie, die, in Streifen geschnitten, zum Abdichten der Verbundstellen an den Fertighäusern diente.
Einen Geistlichen Herrn hat der Hirnschall so auf die schnelle nicht auftreiben können, darum macht er es selber, dachte Jakob. Der Hirnschall ist ein guter Kerl, nur so entsetzlich hastig und impulsiv (auch bei Verhandlungen über Lohnerhöhungen), ich muß unbedingt was unternehmen, ich muß sagen, daß er aufhören soll, weil ich noch lebe, das ist ja nicht zum Anhören! Verflucht, wenn ich nur nicht so eingeklemmt wäre. Eine dicke Luft ist das hier. Kaum zu atmen! Na, ich werde mal laut schreien: »Ich lebe noch, Hirnschall!« Dann wird er schon aufhören. Jakob öffnete den Mund, um seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen, da hörte er einen Arbeiter zu einem anderen sagen: »Scheiß doch auf’n Formann. Reue! Was hat denn den scho g’reut, den Ausbeuter, den dreckat’n.«
»Da hast amal recht«, sagte sein Kollege nickend. »Und G’wiss’n hat er aa koans g’habt. A typischer Scheißkapitalist halt.«
Also, das ist doch …
Jakob schoß das Blut ins Gesicht. Er wollte den beiden eine knallen (somit zwei, jedem eine), aber er bekam den Arm nicht hoch, so dichtgedrängt standen sie hier zwischen den Maschinen.
»… wenn Jakob Formann alles verlassen hat, was man an hinfälligen und vergänglichen Gütern dieser Zeit besitzen kann, dann verlasse Du den Jakob Formann nicht, besonders nicht in dem letzten Kampf seines Lebens …«
»Was der scho zum Kämpfen g’habt hat, möcht’ i wissen«, fing ein anderer Arbeiter, hinter Jakob, an. »Multimillionär is er g’wesen! Unseroans muaß kämpfen um jedes Markl, aba der mit seine Flugzeug und Mercedes und Weiber und Häuser, der Hund, der verreckte, der hat doch überhaupt net g’wußt, wos des hoaßt: kämpfen!«
»Recht hast, Ferdl«, ertönte eine andere Stimme hinter Jakob. »Der hat allawei im Luxus g’lebt und Weiba g’habt und g’soffen, und dauernd is er spaziereng’flogen mit seine Dschets, und mir, mir ham uns krumm und bucklat schuften derfa weg’n eahm …«
»…wenn Jakob Formann mit dem bösen Feind hat ringen müssen«, las der Betriebsratsvorsitzende Hirnschall, leiernd und gequält hochdeutsch, »dann mögen ihm Deine Engel beigestanden und ihn wider alle Versuchungen beschützt haben …«
»Den Hund ham de Engel sei Leben lang b’schützt und ihm beig’standen! Unseroana plagt si und bringt’s doch zu nix. Und so a Pleeboi, so a ausg’schamter, der verdient an Haufa Geld mit unseroam!«
»Und net amoi a Bayer war a. A Österreicher!«
»Des aa no!« sagte der, der Jonny genannt wurde. »Und wegen dem Scheißkerl müaß ma mir uns jetzt d’Füaß in Bauch steh!«
»… verleihe dem Jakob Formann in jener Stunde lebendigen Glauben, festes Vertrauen, brennende Liebe und große Geduld …«, las Hirnschall. Der Arbeiter neben Jakob sagte: »Oiso, des woaß a jeda: I bin koa Kommunist! Aba wenn i an den Formann denk’, nacha könnt i oana werden!«
»Mir geht’s grad a so«, ließ sich eine andere Stimme vernehmen. »I mag die DDR, die sogenannte, g’wiß net. Aba was wahr is, des muaß wahr bleiben: Solchene Kreaturen, solchene, die hams drüben net!«
Herrgott, würde ich dir gerne die Zähne einschlagen, dachte Jakob, dem speiübel geworden war vor Wut. Euch allen! Was bin ich? Ein Ausbeuter? Ein Kapitalistenschwein? Eine Kreatur, wo es in der DDR, in der sogenannten, nicht gibt? Ich, ausgerechnet ich, der ich mein Leben lang ein anständiger Mensch gewesen bin? Der euch Armleuchtern Häuser gebaut hat und ganze Siedlungen und Schulen für eure Kinder und Kindergärten und Kinos und Supermärkte, und vierzehn Monatsgehälter kriegt ihr, wozu ich gar nicht verpflichtet bin, und mehr Urlaub als jeder andere, und bei dem ihr habt krankfeiern können bis zum Geht-nicht-mehr, sogar euern Weibern hab’ ich einen Zuschuß gegeben, wenn sie schwanger gewesen sind. Und die Sportplätze? Und die Betriebsausflüge? Und die Spielplätze für eure Kinder? Und das Schwimmbad, das große? Also, das ist ja … Herrgott, drängelt doch nicht so, ich kann mich ja nicht rühren, nicht einmal meine Knie kann ich einem reinrennen dort, wo’s weh tut. Die größte Sau, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, das ist ohne jeden Zweifel der Arnusch Franzl gewesen. Meine bitterste Enttäuschung. Aber da fällt mir ein, was er einmal gesagt hat: »Goldene Klos kannst du ihnen schenken, du Trottel, und sie werden doch nur vom ›schlechten Gewissen‹ reden und daß du ein ›kapitalistischer Ausbeuter‹ bist …« Eine ganz große Sau, der Arnusch Franzl, mein lieber, lieber Schulfreund, aber er hat halt wirklich gewußt, wie es zugeht im menschlichen Leben!
»… gib, daß Jakob Formann sich mit vollem Bewußtsein in Deine Hände empfohlen und im heiligen Frieden entschlafen ist …«, bemühte sich der Hirnschall.
»Heiligen Frieden!« murrte wieder einer der Arbeiter. »Den hat er sei Leben lang g’habt! Was hat der denn von Sorgen g’wußt, so wie wir?«
Gott sei Dank, wenigstens goldene Klos haben sie nicht von mir gekriegt!
»… Du hast dem reuigen Schächer Dein Reich verheißen und in Deiner großen Güte geschenkt! Gedenke auch des reuigen Jakob Formann, o Herr, in seiner letzten Stunde …«
»Reuig! Da machst da ja in d’Hos’n! Der is in sei’m ganzen Leben net reuig g’wesen, de Wuidsau!«
»Der hat net amal g’wußt, was des hoaßt: reuig!«
Also, das halte ich nicht aus. Nicht eine Sekunde länger halte ich das aus. Ihr seid Lumpen, alle miteinander! Kalt ist mir, der Kopf tut mir weh, einen Kater habe ich wie noch nie vom zu vielen Saufen, die Knie schlackern mir noch vor Aufregung wegen dem Malheur da auf der Autobahnbrücke über die Mangfall, und jetzt das! Ich könnte ja brüllen, daß ich noch lebe, und daß ich der Jakob Formann bin. Aber ich habe einfach keine Kraft mehr. Weg, weg, weg hier!
Mit gesenktem Kopf und Tränen der Wut in den Augen brach Jakob Formann sich zum Ausgang hin Bahn. Er rammte Bäuche, Gesichter, Brüste. Ihm war alles egal. Raus hier, raus, raus, raus!
Die Arbeiter wichen zurück.
»Was is denn des für a Trottel?«
»Schaut’s euch des an, Leutln, der woant ja!«
»Mamakind, tut er dir leid, der Herr Formann, gell?«
Ja, dachte Jakob erbittert, sich zum Ausgang kämpfend, ja, ihr undankbares Gesindel, er tut mir leid, der Herr Jakob Formann.
»… und gedenke seiner in seiner letzten Stunde. Amen!«
53
»Nach Starnberg«, sagte Jakob Formann, außer Atem, und ließ sich in den Fond eines Taxis fallen. Er war außer Atem, weil er ein weites Stück bis zum nächsten Taxistand hatte rennen müssen.
Der Chauffeur drehte sich um und musterte ihn angewidert.
»Was is los?«
»Nach Starnberg«, wiederholte Jakob, der eisern an sich hielt, »sollen Sie mich fahren. Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht oder vielleicht unangenehm ist.«
»Du bist b’soffen, was?«
»Nein! Ja! Das auch! Aber nicht mehr so sehr! Also wollen Sie nun fahren oder nicht?«
»Starnberg! Des is a schöns Stück Weg! Des kannst du doch nia bezahlen! Also los, los, los, schau, daß du aus mei’m Kübel rauskommst!«
Jakob schnappte nach Luft. »Wie reden Sie denn mit mir, Sie Lümmel?«
»Hast du Lümmel g’sagt, du Mausdreck, du aufg’stellter? Na wart, dir geb’ i glei’ an Lümmel!« Der Chauffeur stieg aus, ging um das Taxi herum, riß den Schlag an Jakobs Seite auf und zerrte unsern Freund heraus. Jakob hatte jetzt genug. Er holte weit aus und traf den Chauffeur mit einem rechten Schwinger direkt an der Kinnspitze. Der stürzte in den Schnee wie ein gefällter Baum. Klassischer K.o.
Jakob stieg über ihn hinweg und setzte sich in das Taxi hinter dem ersten. Der Chauffeur war ein kleiner, magerer Mann, der alles mit angesehen hatte und nun, um sein Leben fürchtend, die Hände hob.
»I hab’ Ihnen nix getan! Steigen S’ aus, Herr! Nehmen S’ a anderes Taxi!«
»Es sind nur Sie und der Kerl da am Stand!« sagte Jakob grimmig. Er hatte sich neben den Chauffeur gesetzt. Der griff in Verzweiflung zu dem kleinen Mikrofon, das am Armaturenbrett hing, und hob es an den Mund, um seiner Zentrale einen Notruf zu geben. Jakob riß ihm das Mikrofon aus der Hand und sicherheitshalber gleich das Kabel ab, an dem es hing.
»Hilfe!« schrie der Kleine. »Hilfe! A Verrückter! Der is aus Haar auskumma!«
Jakob wühlte in einer Tasche der Jacke des ersten türkischen Gastarbeiters. (Die Hose war vom zweiten.) Jakob suchte und fand einen Haufen Geldscheine. Die hielt er dem bebenden Chauffeur unter die Nase. »Da! Ich hab’ Geld! Ich will nach Starnberg! Zum Formann-Schloß! Ich bin der Formann!«
»Sie … sind … Um Gottes willen, der bringt mi um! Der glaubt, er is der Herr Formann! Hilfe!«
Jakob stopfte dem Chauffeur wahllos Scheine in die Tasche.
»Also, fahren Sie jetzt?«
Der Kleine betrachtete ihn bebend.
Dann sah er nach, was Jakob ihm in die Tasche gestopft hatte.
»Wenn ma’s net so dringend brauchen tät«, murmelte er. »Also schön, wie der Herr meinen. Zum Formann-Schloß am Starnberger See. Sie, aba ich warne Sie! I hab’ a Pistole!«
»Ach, leck mich doch am Arsch«, sagte Jakob, endgültig verärgert. Sonderbarerweise brachte die Aufforderung dem Kleinen neuen Lebensmut und ließ seine Ängste schwinden.
Er lachte sogar.
Die erwähnte Aufforderung ist nach höchstrichterlicher Entscheidung im Freistaat Bayern keine Beleidigung. Hingegen häufig ein Grund zur Erheiterung.
»Du g’fallst ma«, sagte der Kleine zu Jakob Formann und fuhr los.
Den Schrecken seines Lebens bekam er erst in Starnberg, als drei Diener aus dem Schloß Jakob Formann entgegeneilten, nachdem der Wagen vor der Treppe zum Eingang gehalten hatte, ihm aus dem Wagen halfen, in Glück- und Segenswünsche ausbrachen (auch sie hatten Radio gehört) und Tränen der Erleichterung und Freude vergossen. Da erwischte es den Taxichauffeur! Er saß mit offenem Mund da und würgte.
»Na los, fahren Sie schon ab, Mann«, sagte Jakob. »Geld genug habe ich Ihnen in die Tasche gestopft. Los, hauen Sie ab!«
»Sie … Sie … Sie sind wirklich der Herr Jakob Formann …«
»Das habe ich Ihnen von Anfang an gesagt, Sie Trottel. Los, fahren Sie ab!«
»I kann net … mir is schlecht … ich … ogottogottogott …« Der Chauffeur brach über dem Lenkrad zusammen.
»Nehmt ihn mit in die Küche und gebt ihm einen ordentlichen Kaffee und einen großen Kognak«, sagte Jakob. »Ihr seht ja, es steht nicht gut um den armen Kerl …«
Während heißes Wasser in die Wanne floß, in der Jakob sich zu reinigen gedachte, telefonierte er mit dem Münchner Büro der Deutschen Presse-Agentur, welches sich in der Sonnenstraße befindet.
Die Folge dieses Gesprächs war eine Meldung, die von der Hamburger Zentrale sodann über die Fernschreiber gejagt wurde. Sie lautete:
eil eil
dpa 423
muenchen 26. Januar 1965
formann lebt
jakob formann hat autounfall auf der mangfallbruecke unversehrt ueberstanden und befindet sich zur zeit in seinem schloss am starnberger see. alle vorangegangenen meldungen ueber seinen tod sind damit gegenstandslos. dpa wurde opfer eines missverstaendnisses und bittet um entschuldigung.
dpa el bf mm 26. jan 65 1412 nnnn
54
»Was wollen Sie?« fragte unser Freund am 29. November 1971 gereizt.
»Einen Privatjet«, antwortete sein Plastic-Experte Dr. Addams Jones. Die Herren saßen einander im Living-room von Dr. Jones’ schöner Villa an der Elbchaussee zu Hamburg gegenüber.
Jakob lief rot an.
»Alle meine anderen Herren fliegen mit der LUFTHANSA! Sie als einziger nicht! Sie haben mir schon ein Privatflugzeug abgepreßt!«
»Ja, eben«, sagte Dr. Addams Jones.
»Eben was?«
»Eine Propellermaschine haben Sie mir zur Verfügung gestellt, Herr Formann. Abgepreßt? Ich muß doch sehr bitten! Zum Zeichen der Anerkennung für meine unermüdliche Arbeit haben Sie mir das Propellerprivatflugzeug gegeben!«
»Na also!«
»Propellerprivatflugzeug habe ich gesagt, Herr Formann. Inzwischen gibt es aber Düsenprivatmaschinen. Also kann ich selbstverständlich von Ihnen erwarten, daß Sie mir als Anerkennung meiner unermüdlichen Arbeit jetzt eine Düsenprivatmaschine geben. Das ist doch nur logisch, nicht wahr?«
»Das ist Ihre, Logik, Jones!« sagte Jakob leise.
»Wie darf ich das verstehen, Formann?«
»Ich werde Ihnen ein Beispiel für Ihre Art von Logik geben, Jones«, sprach Jakob, noch leiser. »Ihre Art von Logik funktioniert so: Kuh ist ein einsilbiges Wort. Die Kuh gibt Milch. Auch ein einsilbiges Wort. Aus Milch macht man Käse. Also ist Käse ein einsilbiges Wort!« Jakob erstickte fast an seinen Worten. »Das ist Ihre Ich-kann-den-Hals-nicht-voll-genug-kriegen-Logik, Jones!«
»Immer noch Mister Jones für Sie, Formann!«
»Mann«, sagte Jakob, jetzt fast flüsternd, was ein Zeichen dafür war, daß er sich in einem nahezu unkontrollierbar erregten Zustand befand, »sind Sie denn vollkommen wahnsinnig geworden? Drei Autos haben Sie von mir gekriegt! Einen zweiten Diener! Einen Tennisplatz drinnen, falls es regnet und Sie auf dem draußen nicht spielen können! Einen Swimmingpool drinnen, falls es regnet und Sie draußen nicht schwimmen können, zwei Gärtner, zwei Chauffeure, eine Empfangsdame, prozentuelle Beteiligungen am Umsatz meiner Plastikwerke nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in der ganzen Welt, ein Gästehaus im Watzmanngebiet mit eigenem Lift, ein zweites Gästehaus auf Sylt, vier Monate Urlaub im Jahr, bezahlten natürlich, das höchste Gehalt, das ein Manager Ihrer Art in der Welt kriegt, den höchsten Spesensatz, Jahresappartements in fünf Hotels! Was wollen Sie denn noch?«
»Einen Düsenprivatjet«, sagte Dr. Addams Jones milde. »Das wäre ein nettes kleines Weihnachtsgeschenk, zum Beispiel, Formann, wenn es Ihnen so leichter fällt.«
»Weihnachten steht doch schon vor der …«
»Ich habe mir auch schon etwas ausgesucht und reservieren lassen«, gab der Experte bekannt.
Am 22. Dezember 1971 hielt Jakob dann anläßlich eines Festschmauses in der Kantine des Hamburger Plastikwerkes eine Rede. Festlich geschmückt war der Raum. Auf einem Podium stand Jakob vor dem Mikrofon, rechts von ihm saß der Wenzel Prill, links von ihm der Karl Jaschke. Jakob sprach nur kurz und zu Herzen gehend. Er schloß mit den Worten: »… der Wind, meine lieben Freunde, ist rauher geworden, und er wird noch rauher wehen. Die Zeiten werden auch schwerer werden, das wissen wir alle. Gerade darum müssen wir, die ich wie eine große Familie sehe, nun zusammenhalten und zusammenstehen! Keine Feindschaft darf es geben, nicht die geringste. Wir müssen alles verstehen und alles verzeihen …« Hier beugte sich Jakob kurz zu Wenzel und sagte dem ins Ohr: »Diesen Scheißkerl, den Jones, den schmeißt du zum nächstmöglichen Zeitpunkt raus, verstanden?«, und als Wenzel nickte, fuhr Jakob, wieder in das Mikrofon hinein, mit verklärtem Gesichtsausdruck und im Schein der Kerzen eines riesigen Weihnachtsbaumes fort: »….und so lassen Sie mich denn alles, was noch zu sagen bleibt, in dem alten Spruch zusammenfassen: ›Gott gebe uns die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die wir nicht ändern können, den Mut, die Dinge zu verändern, die zu verändern sind, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.‹«
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»Ja, mir san mit’m Radl da!« sang Jakob am Sonntag, dem 25. November 1973, um 10 Uhr 35 MEZ im Chor mit achtundsechzig Männern, Frauen und zarten Kindern. »Ja, mir san mit’m Radl da! Ja, mir san mit’m Radl da! Ja, mir san mit’m Radl da …« Der Text dieses bundesweit beliebten Liedchens hatte die Besonderheit, daß man, wenn man wollte, fast nur mit dieser einzigen Zeile auskam, und das, sofern man nur wollte, stundenlang. Jakob sang »Ja, mir san mit’m Radl da!« in dem schönen Kirchlein von Hammering bei Passau in Niederbayern. Auf der Kanzel stand Hochwürden Karl Dussl und sang mit. Saukalt war es in der Kirche. Und die gläubigen Schäflein waren denn auch wirklich fast alle mit’m Radl da. Die Radln lehnten draußen an der Kirchenmauer. Vierundfünfzig Radln. Ein paar, die ganz nahe wohnten, waren zu Fuß gekommen. (Die logen jetzt beim Singen, die meisten aber sangen die Wahrheit.)
»… ja, mir san mit’m Radl da …« steigerte sich der Chor der Gläubigen. Jakob war auch wieder ein Gläubiger geworden! Hatte er doch in der Nacht zu seinem fünfundvierzigsten Geburtstag, im Geäst eines Baumes über der Mangfallschlucht hängend, ein Gelübde getan. Nix wie wieder rein in die Kirche, wenn ich jetzt mit dem Leben davonkomme, hatte Jakob gelobt. Er war mit dem Leben davongekommen. Er hatte sein Versprechen gehalten. Er war wieder in die Gemeinschaft der katholischen Christen eingetreten. Trotz der ganz schön hohen Kirchensteuer! Aber versprochen ist versprochen!
»… ja, mir san mit’m Radl da …« Der Chor schwoll weiter an. Das Liedchen war noch lange nicht aus! Der Geistliche Herr, Hochwürden Dussl, hatte vor diesem Sonntag verlauten lassen, er verheiße den Einwohnern von Hammering (und Umgebung) Gotteslohn und das Absingen von ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹, wenn sie auch wirklich zur Sonntagsmesse kämen. Diese Verheißung hatte natürlich ihren Grund. Der Grund dafür, daß in einer katholischen Kirche in Niederbayern ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹ gesungen wurde, war Jom Kippur.
Jom Kippur, zu deutsch ›Tag der Sühne‹, bekannter als Versöhnungstag, ist das höchste jüdische Fest. Es wird am zehnten Tischri mit strengem Fasten, feierlichem Sündenbekenntnis und ununterbrochenem Gebet begangen. In biblischer Zeit entsühnte am Versöhnungstag der Hohepriester das Heiligtum, das Volk und sich selbst.
Zum Jom Kippur des Jahres 5734 jüdischer Zeitrechnung, am 6. Oktober 1973 (sieben Wochen also vor dem ›… mit’m Radl-da‹-Gottesdienst in Hammering, Niederbayern), startete Ägypten einen Überraschungsangriff gegen Israel und verwickelte das kleine Land in einen Zweifrontenkrieg, nämlich im Süden am Suezkanal und im Norden bei den Golanhöhen, wo die Syrer den Kampf eröffneten.
Es wurde mit äußerster Erbitterung gekämpft. Die Verluste waren auf beiden Seiten sehr hoch. Schließlich wurde die ägyptische Dritte Armee von israelischen Truppen eingeschlossen. Mit allbekannter Blitzgeschwindigkeit reagierte wie immer auch diesmal die UN. Augenblicks, 25. Oktober, erzwangen Amerikaner und Russen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen einen Waffenstillstand.
Die Israelis waren erbittert. Die Araber auch. Die Araber besannen sich darauf, daß sie im Besitz einer Waffe waren, die sie zwar niemals zuvor noch aggressiv eingesetzt hatten, mit der sie aber die Weltwirtschaft ruinieren konnten.
Diese furchtbare Waffe hieß Öl.
Die arabischen Staaten erklärten, ihre Öllieferungen einschränken oder gar ganz einstellen zu wollen. Sie hielten Wort. Der Schock war weltweit. Die Folgen waren unabsehbar …
Herr Daghely, Libyens Botschafter in Bonn, gab dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview. Er sagte:
DAGHELY: Die ganze Welt soll unser Problem fühlen. So viel wie wir im Nahen Osten verfeuert haben, sollen Sie hier frieren. Sie müssen Israel klar sagen, daß es unseren Boden verlassen soll.
SPIEGEL: Das ist eine Erpressung.
DAGHELY: Wenn Sie so fühlen, ist es Ihre Sache. Ich habe nicht dieses Gefühl.
SPIEGEL: Sie wollen uns also mit dem Versorgungsdruck zu einer ganz bestimmten politischen Haltung zwingen.
DAGHELY: Da es dem Frieden dient, ist es keine Erpressung …
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Nein, dann ist es keine Erpressung, dachte Jakob, der, während er (falsch) sang, auch (richtig) denken konnte, nun also am Sonntag, dem 25. November 1973, in der schönen kleinen Kirche von Hammering bei Passau (Niederbayern), weil ihm gerade eingefallen war, warum er hier stand und ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹ röhrte. Wenn da einer kommt und sagt, daß es dem Frieden dient, dann hat es in der Geschichte bisher schon immer eine Riesensauerei gegeben. Großer Gott, wie hat der Hitler dem Frieden dienen wollen.
Ach, lieber nicht dran denken …
»… ja, mir san mit’m Radl da …« Nun dröhnte der Gesang der Gläubigen schon so, daß die wunderschön bunten Kirchenfenster klirrten. Den Sangesfrohen schoß der Atem in Form weißer Wölkchen aus den Mündern. Das kam, weil es so hundsgemein kalt war.
Der Hochwürdige Herr Dussl war ein sehr kluger Mann. Natürlich durfte er nicht zulassen, daß in seiner Kirche gewöhnliche Schlager gesungen wurden. ›Ja, mir san mit’m Radl da‹ indessen ist, insbesondere dem Rhythmus und der Melodie nach, alles andere als ein gewöhnlicher Schlager. Rhythmus und Melodie sind exakt die der ›negro Spirituals‹, jener innig bewegt frommen Lieder, welche die Schwarzen in den Südstaaten der USA singen. Und also durchaus für eine Kirche zulässig, was Hochwürden Dussl auch bestätigt worden war von höchster Geistlicher Stelle. Man stelle sich das nur einmal vor: Ohne Hochwürden Dussls Angebot wäre an diesem bitterkalten Sonntag ganz gewiß kein einziges Schäflein in das bitterkalte Gotteshaus gekommen. So aber war es neben der Heiligen Messe auch noch eine Mordsgaudi, und eine Mordsgaudi mögen die Bayern alleweil.
»… ja, mir san mit’m Radl da …«
An diesem Sonntag war es still in der Bundesrepublik Deutschland und in allen umliegenden Ländern. Verwaist lagen Straßen und Autobahnen. Die Bundesregierung hatte ein striktes Fahrverbot von Sonntag 3 Uhr früh bis Montag 3 Uhr früh erlassen. (Die Araber hielten, was sie angekündigt hatten!) Jetzt mußte jedes Land sehen, daß es so lange wie möglich mit seinen Ölvorräten auskam. Also: Fahrverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen – höchstens 100 km/h –, Heizungsbeschränkungen – höchstens 20 Grad in öffentlichen Gebäuden und Schulen, im Bundestag, in Kinos und Theatern –, Fahrgenehmigungen.
Die deutschen Wohlstandsbürger hatte der Schock schwer getroffen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlten sie sich wieder an die Zustände bei Kriegsende erinnert. Vollgefressen, vollgesoffen, voller Erfolg, sahen sich nun auf einmal viele um den Sinn ihres Schuftens, Schaffens und Raffens gebracht: Sie durften am Sonntag nicht mehr Auto fahren!
Die geliebten Autos!
Es gibt nichts, was viele Deutsche mehr lieben als ihre Autos. Gatten, Gattinnen, Freundinnen, Freunde, Kinderlein, Gesundheit – alles ist diesen Leuten wurscht, wenn es um ihre Autos und um deren hemmungslose Benutzung geht. Und um die ging es jetzt. Also, das allein war für viele fast schon ein Grund zum Selbstmord …
»… ja, mir san mit’m Radl da …«
Für Jakob Formann war es kein Grund zum Selbstmord.
Sondern sozusagen im Gegenteil! Unser Jakob blühte richtig auf. Seit Kriegsende hatte er sich nicht so wohl gefühlt. Das kam so: Seit Kriegsende bis zur Ölkrise von 1973 hatte er kaum einmal so leben können, wie es immer sein Traum gewesen war: naturverbunden, sportlich, vor allem hoch zu Rad, so weit und so oft und so lange er wollte, zu körperlicher Ertüchtigung. Im Ernst: Das, was für Millionen in aller Welt ein Alptraum war, das bedeutete für Jakob Formann (zunächst!) etwas ganz und gar Wunderbares!
Ruhe! Frieden! In-sich-gehen-Können! Ausspannen! Ferien machen! Faulenzen! Wieder wie ein normaler Mensch leben! Ja, war das denn nichts? so fragte Jakob. Und vor allem: radeln, radeln, radeln! Nein, nein, versicherte Jakob sich glücklich immer wieder, ich bin noch der alte. Ich bin noch der Springinsfeld. Ein Springinsfeld mit kleiner Glatze meinetwegen. Aber sonst: oho! Mich müssen noch viele Schläge treffen, eh mich der Schlag trifft!
Und so sprach er denn stets ernst und eindringlich mit allen Kleinmütigen: »Was denn, was denn? Glaubt ihr, das halten die Araber durch? Glaubt ihr, die können auf ihrem Öl sitzenbleiben? Die brauchen schließlich auch Geld! Keine Sorge! Relaxt mal ein wenig (nein, nein, ›relax‹ hat nichts mit Abführmitteln zu tun, sondern bedeutet ›entspannen‹), und dann werdet ihr sehen, wie sie ankommen werden, die Scheichs, und vor uns hinknien mit ihren Ölkanistern und uns anflehen mit erhobenen Händen: Nehmt, so nehmt doch um Himmels willen wieder Öl von uns!«
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Hei, sauste Jakob dann in der folgenden Zeit über die verwaisten Autobahnen um München! War das eine Lust! War das eine Freude! Und tief einatmen, und tief ausatmen! Und strampeln, strampeln, strampeln!
Am 25. November 1973, an jenem Sonntag, da er in der Kirche von Hammering bei Passau so fröhlich gesungen hatte, war er anschließend noch ein Stündchen durch den schönen deutschen Wald gefahren, dann hatte er gegessen, dann ein Nachmittagsschläfchen gehalten (dazu war er seit 1946 nicht mehr gekommen!), und des Abends hatte er dann sogar Muße gefunden, mit der Lektüre eines neuen Romans von Klaus Mario Schreiber zu beginnen, den dieser ihm ausdrücklich (Gott, war das lieb von dem alten Saufaus, der nun keiner mehr war) dediziert hatte.
DIE ANTWORT KENNT NUR DER REGENBOGEN war der Titel des Romans, und Jakob las lange und entspannt im Zimmer des Hotels zu Passau, in dem er stets abstieg, denn in Passau stand eines seiner Fertighauswerke. Die ANTWORT gefiel Jakob sehr. Nur, warum mußte der Schreiber immer noch so schweinische Szenen ins Buch einbauen? Der war doch so begabt! Hatte der denn solche billigen Effekte nötig? fragte sich Jakob. Und also fragten viele andere von Schreibers Lesern (denn er hatte jetzt massig Leser), und nicht anders fragten die Kritiker, die ihn verrissen.
Na ja, jeder wie er kann und muß. Man muß tolerant sein, dachte Jakob noch, während er, das dicke Buch auf der Brust, selig entschlummerte. Siebenundzwanzig Jahre Nachmittagsschlaf nachzuholen hatte er! Siebenundzwanzig Jahre, das stelle man sich erst einmal vor! Der Ölboykott brachte Jakob sozusagen die ersten Ferien seines Lebens, zuvor hatte er nie Zeit für Ferien gehabt. Nur einmal zwei Monate mit BAMBI.
Natürlich ließ es sein Temperament einfach nicht zu, daß er überhaupt nicht arbeitete! Er arbeitete – aber sozusagen schaumgebremst. Er kümmerte sich um sein Imperium – aber nach dem Motto ›Eile mit Weile‹, und das mit Schwergewicht auf ›Weile‹. Er konnte nicht klagen, bei ihm ging überall in der Welt alles tadellos, es gab keinen Grund zu irgendwelcher Panik! Das sagte er auch immer dem Wenzel Prill, der ihm mit Unheilsprognosen die Ohren vollsang.
Karl Jaschke war ein fauler Hund, der sich überhaupt nicht für Sport interessierte. Nur für den mit seiner Rothaarigen in Garmisch.
Darum holte Chauffeur Otto an einem Samstagnachmittag, an dem man ja noch fahren durfte, Jaschkes Söhne in das Schloß am Starnberger See. (Komisch, da jammerten sie jetzt alle über die Kälte in den großen Sälen! Als ob frische kalte Luft nicht gesund wäre! Jeden Morgen machte Jakob eine halbe Stunde Gymnastik bei weit offenen Fenstern!) Und da übernachteten die Knaben dann, und am Sonntag radelten sie alle nach München, ins Stadion an der Grünwalder Straße, denn sie waren alle begeisterte Fußballer, und es spielte 1860 München gegen die SpVgg Fürth.
Die Organisatoren dieses Matchs hatten ähnliche Methoden angewendet wie der Geistliche Herr Karl Dussl aus Hammering bei Passau, um zu verhindern, daß keine Zuschauer oder nur ganz wenige kamen und die Veranstaltung eine Pleite wurde: Sie versprachen allen Besuchern Freibier und verbilligte WIENERWALD-Hendln!
Sein Freibier überließ Jakob den stämmigen Knaben, die, in Bayern großgeworden, das edle Getränk sozusagen von Mutterbrust an lieben und schätzen gelernt hatten. Jakob trank ›Überkinger‹. Sein WIENERWALD-Hendl aß er im Stehen. Im Mantel. In der klirrenden Kälte. Wie alle anderen, die gekommen waren.
Und wieder hatte er Grund, in Anlehnung an den Titel des ersten Romans von Klaus Mario Schreiber zu sich selber zu sagen: MICH WUNDERT GAR NICHT, DASS ICH SO FRÖHLICH BIN!
Denn warum?
Weil die WIENERWALD-Hendln allesamt und unterschiedslos mit zwei Schenkeln verkauft wurden, während Jakob – schon seit 1957 und den Erkenntnissen, die er bei der im übrigen eher peinlichen großen Party auf Saint-Jean-Cap-Ferrat bei Lord und Lady Alexander gewonnen hatte – seine Hühner, wenn deren Lege-Hoch-Zeit vorüber war, für die guten Leute mit nur einem Schenkelchen an Großabnehmer verkaufte, nämlich dem linken, weil, wie er seit Saint-Jean-Cap-Ferrat wußte, Hühner beim Schlafen gemeinhin auf dem rechten Bein stehen und deshalb die linken Schenkelchen wesentlich zarter sind als die rechten. Beim WIENERWALD kümmerte man sich nicht um derlei, stellte Jakob triumphierend fest.
Na ja, wenn man’s eben nicht weiß …
In vollem Glücksgefühl radelte er dann mit den beiden Knaben nebst Otto zurück zu seinem Schloß am Starnberger See. Noch nie im Leben war Jakob so optimistisch und so gut gelaunt gewesen wie in diesen Monaten, in denen alle Menschen immer pessimistischer und pessimistischer wurden und immer üblere und üblere Laune hatten …
58
25. Januar 1974.
Finster sah Wenzel Prill, Jakobs Generalbevollmächtigter für das Finanzwesen, die beiden Herren an, die vor ihm in der Halle jenes Hauses in Bonn saßen, in dem einmal der Arnusch Franzl residiert hatte.
»Die Lage war noch nie so ernst«, sagte er. (Immer noch kein Dr. jur.)
»Den Satz kenne ich doch«, rief Jakob fröhlich. »Den hat doch bei jeder Gelegenheit der Adenauer gesagt!«
»Du wirst gleich nicht mehr so fröhlich sein«, sagte Wenzel. »Jetzt geht es nämlich um die Wurscht.«
»Was für eine Wurscht?« fragte der Karl Jaschke.
»Um alle unsere Werke, überhaupt um alles, Mensch! Oder lebst du hinter dem Mond?«
»Wie redest du denn mit dem Jaschke?« Jakob wurde zornig.
»Reg dich ab und hör mir zu. Vor ein paar Wochen war ich im Bundeswirtschaftsministerium und habe mit ein paar von den höchsten Beamten gesprochen. Und da hat mir einer gesagt: ›Wenn die Araber diese Ölblockade noch lange durchhalten, dann steht uns allen einiges bevor!‹ Die Araber halten die Ölblockade durch, wie ihr seht. Und sie haben schon ganz hübsche Wirkungen erzielt.«
»Zum Beispiel?« fragte Jakob. Er drückte seine Hasenpfote, die er in der Hosentasche hielt. Mach, daß alles gutgeht, dachte er, daß nix Schlimmes passiert, Hasenpfote, liebe.
»Jeder tut, was er will, in Europa – und Amerika geht in den Arsch. Die Europäer haben dazu noch diese widerwärtige ›Alles schon mal dagewesen‹-Einstellung!« sagte Wenzel. »Schaut euch England an!«
»Warum sollen wir uns England anschauen, Wenzel?« frage Jakob unschuldig.
»Weil ich gerade aus London komme und England ein typisches Beispiel auch für uns ist. Ich war bei dem armen Sir Derrick. Er hat mich flehentlich gebeten, ihm zu helfen. Ich tu, was ich kann. Das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen und so weiter. Also, in England fehlen Milchflaschen! Coca-Cola bettelt in einem Werbefeldzug, der siebzigtausend Pfund kostet, um die Rückgabe von leeren Flaschen! Die Zeitungen drucken weniger, weil Papier fehlt. Kunstmaler malen auf Karton, weil Leinen ausverkauft ist. Außenhandelsdefizit im Oktober: dreihundert bis dreihundertsiebzig Millionen Pfund Sterling! Lebensmittelpreise seit 1971 um fünfundvierzig Prozent gestiegen! Die Bergarbeiter weigern sich, noch mehr Überstunden zu machen. Zusätzliche zweihundert Millionen Tonnen Kohle, die man dringend benötigt, bleiben in der Erde! Eisenbahnerstreiks! Die Lokomotivführer wollen am Sonntag nicht fahren! Hier!« Wenzel hob eine britische Zeitung. »›Evening Standard‹! Hundertundeine Methode, sich warm zu halten. Zum Beispiel: Besuch der Reptiliengehege im Zoo. Da ist es schön warm. Oder: Eßt Curry! Oder hier, bitte: Denkt an den Kaukasus! Und noch eine ganz spezielle Empfehlung: Gehen Sie mit dem Menschen Ihrer Wahl ins Bett!«
»Hör schon mit England auf«, maulte Jakob. »Wir sind in Deutschland!«
»Und du meinst, hier wird es blühender aussehen?« Wenzel lachte heiser. »Hast du eine Ahnung, Mensch! Überall sieht es beschissen aus! In Übersee! In Nord- und Südamerika! In Japan! Merkst du was?«
»Nein«, sagte Jakob.
»O Gott, Mensch, da hast du doch überall deine Werke! Die Plastikfabriken! Die Fertighausfabriken! Die Kliniken! Die Touristik-Unternehmen! Was glaubst du, was es dich jetzt kostet, zu fliegen oder ein Flugzeug zu chartern – bei dieser Benzinpreiserhöhung? Was glaubst du, wie lange deine Schiffe und Tanker überhaupt noch fahren können? Und womit? Für deine Plastikfabrikate braucht man zur Herstellung Öl! Die Fabriken brauchen Öl! Egal, welche! Egal, wo!«
»Eijeijei«, sagte Jakob.
»Oi weh«, sagte der Jaschke.
»Jetzt endlich geht euch der Arsch mit Grundeis, ja, ihr fröhlichen Idioten!« Wenzel regte sich mehr und mehr auf. »Dein ganzes Imperium kracht bereits, Jakob!«
»Das ist nicht wahr!« Jakob war hochgefahren.
»Und ob es wahr ist! Es kracht in allen Fugen. Die Umsätze sind bereits rückläufig. Die Fabriken, die Kurzarbeit eingeführt haben! Die Riesenaufträge, die storniert worden sind! Alles in den letzten paar Tagen!«
»Aber wieso …«, begann Jakob, und Wenzel unterbrach ihn erbost: »Stell dich nicht noch blöder, als du ohnehin schon bist! Ich habe gesagt, deine Fabriken brauchen Mineralöl, um arbeiten zu können. Weil sich alle Industrienationen des Westens und die meisten des Ostens ganz auf Öl eingestellt haben! Schlimm genug, daß ich euch Arschlöchern das noch erklären muß! Wir sind alle so abhängig vom Nahost-Öl, daß die Araber praktisch mit uns machen können, was sie wollen: die Preise und die Mengen für Öl diktieren – oder es uns überhaupt sperren. Erhöhte Preise genügen bereits. Denn dadurch werden wir mit unseren Produkten saftig teurer werden müssen! Und die Menschen haben Angst um ihr Geld! Sie kaufen weniger und weniger! Ich sage ja, haufenweise storniert sind unsere Aufträge – besonders in der Plastikfabrikation. Weil sie, zum Beispiel, die Autoproduktion eingeschränkt haben, da es nicht genug Benzin zum Fahren gibt. Also brauchen sie auch keine Kunststoffkarosserien oder was immer noch wir an Plastikzeug für ein Auto liefern. Weil es so wenig Öl gibt, ziehen andere ihre bereits erteilten Aufträge für Plastikrohrleitungen zurück – was soll durch die fließen? Das ist ein Teufelskreis. Weniger Aufträge, also weniger Geld. Also haben die Banken Angst um ihre Kredite. Weniger Aufträge, also weniger Arbeit. Also Kurzarbeit oder Entlassungen. Also Arbeitslosigkeit. Also Streiks. Also politische Unruhen. Das internationale Währungsgefüge wird durcheinandergeraten. Der Dollar ist schon runtergesaust. Mit unserer Mark werden wir dauernd andere Währungen stützen müssen! Ich sage euch, wir rodeln mitten in die dickste Scheiße hinein!«
»Du meinst also wirklich …«, murmelte Jakob nach einer langen Stille dumpf.
»Und ob, meine ich wirklich …« Wenzel rang nach Luft. »Ihr habt weiß Gott was gemacht in der letzten Zeit …«
»Erlaube mal, wir haben gearbeitet wie immer!« (Jaschke).
»Aber nicht wie Misaras drüben in Los Angeles! Nicht wie die in Tokio und Rom und Buenos Aires und Stockholm! Nicht wie ich, der ich versucht habe – sechzehn, achtzehn Stunden am Tag –, diese Lawine, die da auf uns zukommt, aufzuhalten – vergebens! Wie oft habe ich mit Experten gesprochen! Sie alle haben dasselbe gesagt: Bis neue Energieträger das arabische Ölmonopol brechen könnten, müßten mindestens fünfzehn Jahre vergehen.«
»Wieviel Jahre?« erkundigte sich Jakob, während seine Schläfennarbe zuckte wie verrückt. Pfote, Pfote, warum hilfst du nicht?
»Du hast schon richtig gehört«, sagte Wenzel. »Und mir san mit’m Radl da.«
Aber Jakob hatte sein Selbstvertrauen bereits wiedergefunden. Sie funktionierte also doch noch immer, die gute alte Hasenpfote. Er stand auf.
»Wo willst du hin?« fragte Wenzel.
»Losfliegen, sofort!«
»Wohin?«
»In die ganze Welt«, sagte Jakob. »Überall dorthin, wo meine Fabriken stehen. Mir scheint, jetzt geht’s wirklich um die Wurscht!« Und ohne ein weiteres Wort verließ er grußlos die Halle.
Die beiden Freunde starrten die Tür an, hinter der Jakob verschwunden war.
Dann fand der Karl Jaschke es an der Zeit, seinen Lieblingsausspruch in Zeiten schwerer Bedrängnis auszusprechen, laut und deutlich. Er sagte erschüttert: »Verflucht, sprach Max und schiß sich in die Hose.«
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Das erste Mal fuhr Jakob noch im Rolls-Royce und ungemein seriös gekleidet vom DOM-HOTEL in Köln zum CWWDWW. Das war am 18. Juni 1975, und Jakob hatte 282 451 Flugkilometer sowie an die sechzehn Monate der schwersten Schufterei seines Lebens hinter sich. Er war nicht mehr zur Ruhe gekommen seit jenem Gespräch mit Wenzel, das ihn im Januar 1974 aus seinen friedlichen Ferien gerissen hatte.
Wie ein Irrer war er um den Erdball gejagt, um sein selbstgeschaffenes Werk zu retten – denn leider hatten die Befürchtungen Wenzels sich bewahrheitet. Die Ölkrise war zur Weltkrise geworden, und sie hatte auch Jakobs Imperium nicht verschont. Sein Haar war in dieser Zeit vollkommen grau geworden, die Glatze doppelt so groß – aber damit hatte es sich auch. Ungebrochen wie eh und je waren Jakobs Optimismus, Jakobs Leistungsfähigkeit, Jakobs Unternehmergeist und Jakobs Chuzpe. Sein Lieblingsausspruch bei jeder sich bietenden Gelegenheit: »Noch hängt die Hose nicht am Kronleuchter!«
Otto fuhr schweigend südwärts, in Richtung der Kirche Sankt Severin. Dort, in einer vornehmen Straße, lagen die Räume des CWWDWW.
Jakob sah aus dem Fenster, lächelte, pfiff sich eins und drückte vorsichtshalber die Hasenpfote.
»Was heißt das eigentlich, CWWDWW, Jakob?« fragte Otto.
»Das heißt«, belehrte Jakob ihn milde, »CONSILIUM ZUR WAHRUNG DER WELTGELTUNG DEUTSCHER WERTE UND WÄHRUNGSINTERESSEN. So hat’s jedenfalls auf all den Briefen gestanden, die ich so ab und zu gekriegt habe. Was soll das eigentlich, habe ich mir gedacht. Ich mache mir meine Werte und meine Weltgeltung alleine. Also habe ich das Zeug in den Papierkorb geschmissen. Aber jetzt haben diese Brüder von dem Stotterverein mir ganz dringende Fernschreiben geschickt, ich soll unbedingt heute herkommen. Was wird schon sein?«
»Aber hängt das nicht vielleicht mit der Krise zusammen?« fragte Otto besorgt.
»Klar.« Jakob lachte, aber freudlos. »Diesen CW-Verein, verstehst du, Otto, haben die großen Banken aufgezogen. Und ich habe doch eine Menge mit den Banken zu tun.«
»Aber was bedeuten eigentlich solche Sprüche wie ›Weltgeltung Deutscher Werte‹?« fragte Otto. »Was ist das für eine blödsinnige Bezeichnung?«
»Ich kann es dir im Moment auch nicht sagen, mein Alter.« Jakob pfiff wieder fröhlich. Diesmal, weil ein Mädchen mit einem sehr kurzen Rock und einer sehr ausgeschnittenen Bluse an ihnen vorüberglitt. Er winkte dem Mädchen zu. Es winkte zurück. Na, funktioniert ja noch, dachte Jakob. »Bei uns gibt es eine Menge blödsinnige Bezeichnungen, weißt du?« fügte er hinzu. »Ich werde jetzt ja gleich erfahren, was das heißen soll: ›Wahrung der Weltgeltung Deutscher Werte‹!«
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»›Weltgeltung Deutscher Werte‹, das soll heißen: Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Sauberkeit, Qualität und Sicherheit, Herr Formann. All das hat die Markenbezeichnung ›Made in Germany‹ zu einem Begriff werden lassen! In diesen schweren Zeiten ist eine Institution vonnöten, die darüber wacht, daß der Weltbegriff ›Made in Germany‹ weiterhin bestaunt, begehrt und bewundert wird, und zwar meine ich damit ebenso alle Produkte ›made in Germany‹ wie die Hersteller aller Produkte ›made in Germany‹ beziehungsweise, und das eigentlich vor allem, die absolute Honorigkeit und über alles erhabene Integrität der Führer unserer Wirtschaft«, sagte der Herr an der Spitze des langen Tisches in dem kostbar eingerichteten Konferenzraum – Mahagonitäfelung, dicke Teppiche, ein Prachtleuchter – eine halbe Stunde später zu Jakob. Er lächelte ihn freundlich an. Jakob lächelte nicht. Jakob bekam keinen Ton heraus, und das wollte etwas heißen. Jakob war sprachlos. Und die Narbe an seiner Schläfe pochte wie noch nie.
Außer Jakob saßen an dem langen Tisch sieben Herren. Sechs davon waren Generalbevollmächtigte von Großbanken, mit denen Jakob zusammenarbeitete – seit vielen Jahren. Er kannte sie alle. Er kannte auch den siebenten Herrn, der an der Spitze der Tafel saß – als Präsident des CONSILIUM ZUR WAHRUNG DER WELTGELTUNG DEUTSCHER WERTE UND WÄHRUNGSINTERESSEN. Dieser siebente Herr hatte zu ihm gesprochen. Er war sehr groß, blond, blauäugig und von dezenter Eleganz. Ein Hauch eines äußerst dezenten Eau de Cologne umgab ihn. Er war sozusagen das fleischgewordene Sinnbild der Weltgeltung deutscher Werte.
»Sie!« sagte Jakob, während ihm immer mehr Blut in den Kopf schoß.
»Bitte?«
»Sie!« Jakobs Fäuste ballten sich.
»Herr Formann, Sie wiederholen sich.«
»Sie Schw …« Im letzten Moment fing sich Jakob. Die Bankenvertreter sahen ihn bereits mit hochgezogenen Augenbrauen an. Scheiße, dachte unser Freund, ich kann nicht so, wie ich will. Ich kann jetzt nicht ›Schweinehund‹ sagen zu diesem Schweinehund, diesem verfluchten. Nein, dazu ist meine Lage zu mies. Dazu sind diese Herren zu fein. Dazu bin ich zu abhängig von ihnen. Aber das ist doch wirklich die Höhe!
»Wie meinen Sie, Herr Formann?« fragte der Präsident, immer noch freundlich lächelnd.
»Herresheim …«
»Herr von Herresheim, nicht wahr?« mahnte der Präsident.
Da sitzt er also nun, dieser ehemalige Herr Wehrwirtschaftsführer aus dem Dritten Reich, dachte Jakob, schwer atmend. Dieses Arschloch, dem ich in all den Jahren immer wieder und wieder begegnet bin, und zwar in immer ehrenvolleren und höheren Positionen, dieses Herresschwein, das ich versucht habe, mit Hilfe von sowjetischem Belastungsmaterial abzuschießen, was mir nicht gelungen ist. Da sitzt dieser Schweinesherr, dem ich nichts anhaben kann, dem keiner etwas anhaben kann, nicht das geringste – er, der einzige, dem ich nicht gewachsen bin, er, der Unbesiegbare!
Einer der Bankmenschen räusperte sich lange und laut. Seine Kollegen waren gleich ihm verwirrt über Jakobs Betragen. So geht das nicht, dachte der, denn er bemerkte natürlich die Verwirrung. Ich muß hier einen glänzenden Eindruck machen, nicht einen absonderlichen. Und zwar schleunigst.
»Ich war nur so erstaunt, Sie hier wiederzutreffen, Herr von Herresheim«, sagte er darum, nun fließend (und die Hasenpfote beinahe zerquetschend).
»Das letzte Mal haben wir uns im …«
»… Verband Deutscher Unternehmer gesehen.« Der von Herresheim nickte und lächelte. »Ja, lieber Herr Formann. Das ist nun auch schon wieder eine kleine Ewigkeit her.«
»Eine kleine Ewigkeit, ja«, sagte Jakob, der um jedes Wort ringen mußte. Verflucht, dachte er, so ein Schleimscheißer! Da sitzt er nun, immer weiter die Treppe hinaufgeflogen, dieser Herresschweinehund. Und ich muß das Maul halten und darf das nicht sagen in meiner beschissenen Lage. Was darf ich denn überhaupt sagen? Höchstens – sehr mühsam – das: »Gratuliere, jetzt sind Sie aber wirklich ganz oben!«
»Mein lieber Herr Formann«, sprach der von Herresheim leutselig, »wo ich bin, da ist immer ganz oben.« Weiß Gott, dachte Jakob, ich habe die ganze Welt besiegt, nur den da nicht! Nur den da nicht! Hasenpfote, hilf! Nein, dachte Jakob, grün vor Wut, da kann wohl auch diese wunderbarste aller Hasenpfoten nicht helfen …
Der von Herresheim sprach. Jakob hatte die ersten Worte nicht mitbekommen. Jetzt riß er sich zusammen und sah den ehemaligen Wehrwirtschaftsführer an. Die andern sahen Jakob an.
»… ersuche ich Sie namens der hier versammelten Generalbevollmächtigten der Großbanken, bei denen Sie jeweils Kredite in der Höhe von Hunderten von Millionen aufgenommen haben, in möglichst kurzer Zeit eine konsolidierte Bilanz vorzulegen, in der die neuesten Bilanzen aller Ihrer Unternehmen zusammengefaßt sind.« Herresheim machte eine Pause und ein sehr bedeutendes Gesicht und fuhr dann fort: »Wir erwarten daraus Aufschlüsse über die Abhängigkeit Ihrer Werke von den in Anspruch genommenen Bankkrediten und Ihre Gesamtverschuldung.«
»Was heißt denn das: in möglichst kurzer Zeit?« Es hat keinen Zweck, dachte Jakob. Du sitzt in der Scheiße. Das weißt du. Und das wissen die Bankleute. Und das Herresschwein. Wer in der Scheiße sitzt, ist besser nicht auch noch frech. Also ruhig, Jakob. Besonnen, Jakob. Liebenswürdig, Jakob. »Ich habe allen Banken, mit denen ich gearbeitet habe, jährlich meine Bilanzen vorgelegt, und alle waren stets außerordentlich zufrieden, Herr von Herresheim. Warum waren sie wohl so außerordentlich zufrieden?« Jakob lächelte jetzt der Reihe nach die Bankenvertreter an, die sein Lächeln allerdings nicht erwiderten. »Weil«, beantwortete Jakob seine Frage selber, »die Banken für das Geld, das sie mir geliehen haben, seit vielen, vielen Jahren ungeheure Summen an Zinsen einstreichen, weil ich einer ihrer größten Kunden bin, weil sie an mir gewiß mehr als an den meisten anderen Unternehmern verdient haben, weil ich für sie ein solch potenter Großkunde bin, daß sie sehr oft gar nicht nach den Bilanzen gefragt oder sie, wenn ich sie ihnen zuschickte, gar nicht angesehen haben.«
Die Tür ging auf, und ein Herr im dunklen Anzug, mit Regenschirm (im Hochsommer!) und Melone trat ein.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte der Gentleman englisch, »aber mein Flugzeug hatte einen Maschinenschaden.«
»Ich bitte Sie, Mister Gregory«, sagte der von Herresheim gleichfalls in englischer Sprache, »wir haben schon einen Anruf aus London erhalten, daß Sie sich verspäten werden. Die Herren kennen einander alle, nicht wahr?« Die Herren nickten. Auch Jakob. Er kannte den Gentleman auch. Der Gentleman war der Generalbevollmächtigte von Sir Derrick Blossoms Bank in London. Die Unterhaltung lief nun englisch weiter, nachdem Mr. Gregory Regenschirm und Melone verstaut und sich gesetzt hatte. »Wir haben Mister Formann gerade gesagt, daß es nötig sein wird, uns binnen kürzester Zeit seine Bilanzen offenzulegen.«
Mr. Gregory nickte.
Was soll ich tun? dachte Jakob. Die Zähne fletschen und knurren wie ein Tiger? Er sagte, an alle gewandt, sehr liebenswürdig: »Selbstverständlich können Sie jederzeit meine Bilanzen sehen, Gentlemen. Ich bin, wenn Sie erlauben, daß ich das sage, indessen denn doch erstaunt über diese Haltung einem Ihrer ältesten Kunden gegenüber, der Ihnen weiß Gott Geld in Massen gebracht hat. Vielleicht darf ich bitten, mir zu sagen, was der Grund für diese … hrm, nun sagen wir … unfreundliche Aufforderung ist?«
»Die Aufforderung ist keineswegs unfreundlich, Herr Formann«, sagte der von Herresheim und lächelte wieder, und alle anderen Herren lächelten nicht und schüttelten die Köpfe.
»Was ist sie denn dann?« fragte Jakob. O Herresheim, o Herresheim, was bist du für ein Riesenschwein!
»Unerläßlich, Herr Formann!« Der von Herresheim stützte die Ellbogen auf den Tisch und preßte die Spitzen der edlen Finger aneinander. »Wir alle wissen, daß die Ölkrise die gesamte Weltwirtschaft in eine üble Lage gebracht hat. Daß die größten Unternehmen schwerste Rückschläge und Einbußen erlitten haben. Daß die seriösesten und ältesten Werke in Schwierigkeiten gekommen sind. Natürlich auch Sie, Herr Formann. Es wäre unsinnig, hierüber zu streiten. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf daraus. Unsere Bitte, Ihre Bilanzen vorzulegen, ist kein persönlicher Insult, Herr Formann!«
Alle anwesenden Herren beeilten sich, dies auch ihrerseits Jakob zu versichern. Keine Rede von einem individuellen Mißtrauen.
»So, dann müssen Sie ja jetzt viel zu tun haben, Herr von Herresheim«, sagte Jakob.
»Wieso, Herr Formann, wenn ich fragen darf?«
»Na, wenn – über das CWWDWW – die Banken jetzt von jedem Unternehmer, der bei ihnen Kredite laufen hat, das Offenlegen der Bilanzen verlangen!«
Es folgte eine Stille.
Dann sagte der von Herresheim: »Die Sache ist leider nicht ganz so, wie Sie denken, Herr Formann. Natürlich ersuchen die deutschen und ausländischen« – Verneigung vor Mr. Gregory, dem Generalbevollmächtigten von Sir Derrick Blossoms Bank – »Banken jetzt nicht jeden deutschen Unternehmer, seine Bilanzen vorzulegen.«
»Aber mich schon!«
»Aber Sie schon, Herr Formann.«
»Und warum mich, bitte?«
Der von Herresheim trieb Fingergymnastik. Jedes Wort, das er von nun an sprach, war ein Hochgenuß für ihn, das bemerkte Jakob sehr wohl. Die anderen bemerkten es nicht, weil sie nichts über die private Beziehung Formann-Herresheim wußten. Der hat jetzt was davon, dachte Jakob. Jeder Satz ein Organismus … äh, ein Orgasmus, meine ich.
»Weil uns Informationen vorliegen, daß Ihre Verluste Größenordnungen erreicht haben, die das übliche Maß des durch die derzeitige wirtschaftliche Lage Bedingten und uns Bekannten weit, sehr weit überschreiten.«
»Von wem haben Sie denn überhaupt Ihre großartigen Informationen bekommen?«
»Ach, Herr Formann, grundsätzlich würden wir Ihnen das natürlich nicht verraten. Indessen haben wir das vollständige Einverständnis des Betreffenden dazu, ja sogar seine Bitte, Ihnen dies zu eröffnen.«
»Welches Betreffenden?«
»Desjenigen, der den Banken, mit denen Sie arbeiten und die sich begreiflicherweise angesichts der Irrsinnsbeträge, die Sie aufgenommen haben, zu einem Konsortium vereinigen und gegenseitig rückversichern mußten … desjenigen also, der diesen Banken die zweifellos auch von Ihnen nicht bestreitbare Mitteilung hat zukommen lassen, daß Sie allgemein, insbesondere aber auf dem Gebiet der Plastikindustrie, und das ist ja Ihr Hauptgebiet, schwere, um nicht zu sagen schwerste Verluste hinnehmen mußten …«
Wie im Film blendete die Stimme des von Herresheim etwas aus und wurde leiser, während Jakob fieberhaft dachte: Wer war der Drecksack, der das getan hat? Warum schaut dieser Gregory mich auf einmal nicht mehr an? Hat sich Sir Derrick Blossom entschlossen, mich zu ruinieren? Vierhundert Millionen habe ich bei ihm aufgenommen – gleich nach dem Fest da auf Cap d’Antibes, wo seine liebe Frau, Lady Cordine, mich darum gebeten – sagen wir besser: erpreßt hat. Denn Lady Cordine ist ja nicht wirklich Lady Cordine, sie hat auch schon einmal Laureen Fletcher und, was weiß ich wie oft, noch anders geheißen, ursprünglich Hilde Korn, die ich in Wien in der MP-Wache kennengelernt habe, als dieser junge Lieutenant Connelly sie als ›Werwolf‹ hereingebracht hat. Ei weh, das war also wirklich eine richtige Wölfin, mit der ich dann in Paris den großen Devisenschwindel aufgezogen habe, um anschließend heimlich, still und leise zu meinen Hühnern abzuhauen, als sie nach einer Chinesischen Schlittenfahrt noch geschlafen hat, da in Paris, im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS? Ist das die (späte) Rache einer verlassenen Frau?
Jakob sagte: »Das ist natürlich Unsinn.«
»Das werden Ihre Bilanzen zeigen, Herr Formann.«
»Selbstverständlich. Nur: Sie haben erklärt, Herr von Herresheim, daß jene … Persönlichkeit geradezu darum gebeten hat, ihren Namen zu nennen, wenn ich Sie recht verstehe?«
»Sie verstehen mich völlig recht.«
»Dann können Sie mir also den Namen dieser … Persönlichkeit nennen?«
(Sir Derrick kann nichts dafür. Der war nur Werkzeug. Das Miststück, das mir das angetan hat, ist seine Frau!)
»Aber gewiß, wenn Sie es wünschen.«
»Natürlich wünsche ich es. Also, wer war es?«
»Es war«, sagte der von Herresheim und lehnte sich seufzend vor Genugtuung (jetzt kommt’s ihm wieder, dachte Jakob) in seinen Sessel zurück, »der Besitzer einer Bank, mit der Sie gar nicht zusammengearbeitet haben, der Ihre Geschäfte jedoch aus dem Effeff kennt.«
»Wie kann eine Bank, mit der ich niemals zusammengearbeitet habe … Wie heißt diese Bank?«
»FORTUNA.«
»Nie gehört.«
»Es ist eine sehr kleine Bank. Eine Privatbank. In Wien. Sie gehört Herrn Franz Arnusch«, sagte der von Herresheim. »Herr Arnusch war es, der alle Banken, deren Vertreter vor Ihnen sitzen, alarmiert hat mit präzisesten Informationen über Ihre desolate Lage.«
»Der Arnusch Franzl«, sagte Jakob fassungslos. Die versammelten Herren sahen ihn schweigend an.
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Der Arnusch Franzl.
Dieses monströse Schwein!
Dem ich die Gründung seiner Scheißbank überhaupt erst ermöglicht habe durch mein kleines Geschenk von fünfundsiebzig Millionen Schilling.
Mein Schulfreund!
Mein Generalbevollmächtigter für das gesamte Finanzwesen … ojweh. In dieser Funktion habe ich ihn doch damals, nach dem mißglückten Afrika-Geschäft (das er mir auch eingebrockt hat!) rausgeschmissen, weil er die üblen Schwindeleien mit den verschobenen Geldern organisiert und zuviel für sich eingesteckt hat. Und die Steuer um Hunderte von Millionen beschissen! So viele Millionen, daß ich sie nie hätte bezahlen können, wenn sie mir draufgekommen wären. Weshalb ich jetzt nur auf den Franzl losgehen und alles erzählen müßte, um sofort und mit absoluter Sicherheit auf die Schnauze zu fallen – aber wie! Großer Gott, was würde die Steuer sagen, wenn sie wüßte … Das hat er sich fein ausgedacht, der Arnusch Franzl, wahrlich wunderfein. Er hat sich also gerächt. Dem Werwolf habe ich Unrecht getan. Aber in der Scheiße sitze ich so oder so. Dieser gottverfluchte Hund von einem Franzl!
Jakob riß sich zusammen.
Jetzt nur nichts anmerken lassen! Alle lauern darauf, daß ich vielleicht zusammenbreche, heule, um Gnade winsle. Da können sie lange warten! Jakob wiegte den Kopf.
»Schau an, schau an, der Arnusch Franzl«, sagte er sanft. »Ausgerechnet der. Wer hätte das gedacht? Na ja, man erlebt halt immer noch Überraschungen …« Er sah in acht ernste Gesichter, die auf seine nächste Reaktion warteten. Er sagte fröhlich: »Vielen Dank für die prompte Auskunft, Herr von Herresheim.«
»Gerne geschehen, Herr Formann.«
»Somit, meine Herren, bleibt mir im Augenblick nichts mehr übrig als …« Jakob erhob sich, warf allen rundum einen tiefen Blick zu und ging langsam auf die Tür zu »… Ihnen Johann Wolfgang von Goethe, ›Götz von Berlichingen‹, dritter Akt, siebente Szene, ans Herz zu legen.« Damit verschwand er.
Offener Aufruhr brach aus.
Alle schrien durcheinander.
»Götz von Berlichingen!«
»Unverschämtheit!«
»Anzeigen, den Kerl!«
»Beleidigung!«
»Uns den Götz …!«
Es gab eine erlesene Klassikerbibliothek im Gebäude des CWWDWW. Alle Herren stürzten dorthin, um die Beleidigung wörtlich zu lesen, bevor sie Anzeige gegen Jakob erstatteten.
Da stand der Goethe. Achtzehn Bände. Hastige Sucherei. Dann hatten sie den ›Götz‹. Dann hatten sie den dritten Akt. Dann hatten sie die siebente Szene. (Jaxthausen.) Dann hatten sie die berühmten Schlußsätze:
›Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kayserlichen Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!‹
Neuerlicher Aufruhr.
Sofortiges Vorsprechen beim Anwalt des CWWDWW.
Dieser, ein äußerst honoriger Herr, rief Jakob eine Stunde später im DOM-HOTEL an und stellte ihm anheim, sich augenblicks mündlich und schriftlich zu entschuldigen, ansonsten er, der Anwalt, namens seiner zahlreichen illustren Klienten auf der Stelle Anzeige wegen gröblichster Beleidigung erstatten werde.
»Ich entschuldige mich mitnichten, Herr Rechtsanwalt«, sagte Jakob am Telefon.
»Mitnichten? Gut! Dann werden Sie sich die Folgen selber zuzuschreiben haben.«
»Ich werde mir gar nichts zuzuschreiben haben«, antwortete Jakob liebenswürdig. »Ich habe gesagt: ›Götz von Berlichingen, dritter Akt, siebente Szene.‹«
»Na ja, und da steht zum Schluß …«
»Vom Schluß habe ich nichts gesagt«, erklärte Jakob. »Lesen Sie die ganze siebente Szene des dritten Aktes, verehrter Herr Rechtsanwalt. Sie werden finden, daß – nur kurz vor dem Ende! – Götz zu Maria sagt: ›Wir werden uns verteidigen, so gut wir können.‹«
»Wa … was sagt Götz?«
»›Wir werden uns verteidigen, so gut wir können‹«, wiederholte Jakob mit Genuß. »Diese Stelle habe ich natürlich gemeint. Grüß Gott, Herr Rechtsanwalt.«
Natürlich hatte Jakob niemals im Leben den ganzen ›Götz‹ oder auch nur ein ganzes Epigramm, geschweige denn ein ganzes Gedicht von Goethe gelesen. Nur nach Götzens grobem Gruß hatte er gesucht. Und bei dieser Gelegenheit jene andere, von ihm mit soviel Erfolg zitierte Stelle entdeckt. Danach interessierte ihn Goethe nicht mehr. Doch Jakob war selig gewesen, von da an stets einen kleinen Scherz zur Hand zu haben.
Nun hatte er ihn also wieder einmal zur Hand gehabt.
Ach was, dachte er, ganz der alte Jakob, es wird alles nicht so heiß gegessen und so weiter. Ich komme schon wieder raus aus dieser Klemme. Ich bin immer noch aus allen Klemmen rausgekommen! Rutscht mir doch alle den Buckel runter! Genug für heute! Jetzt gehe ich in das Nebenappartement. Da wartet Natascha auf mich, meine geliebte Natascha. Die weiß, wer ich bin! Die weiß mich zu schätzen! Und der werde ich es jetzt besorgen!
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»Aber das macht doch nichts, Darling«, sagte Natascha Ashley eine Stunde später. Nackt lag sie auf dem großen Bett in Jakobs Appartement, rauchte eine Zigarette und streichelte tröstend den Arm eines leise keuchenden, schweißbedeckten, gleichfalls nackten Jakob, der, am Bettrand sitzend, die Beine und andere Dinge hängen ließ. »Du bist überarbeitet, da ist es doch kein Wunder! Ich habe so etwas schon lange erwartet. Raubbau treibst du mit deiner Gesundheit. Das hält kein Mensch von der Welt aus … So sag doch endlich auch etwas, Darling!«
Ja, Darling, dachte Jakob. Darling, Scheibenhonig! So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert! Noch nie! Und dabei war Natascha heute bereit, mir alles zu gewähren, sogar eine …
»Du sollst etwas sagen, Darling!« Jetzt hatte Natascha sich aufgerichtet. »Warum mußtest du dich in deiner Überarbeitung auch noch derartig verausgaben mit dem Versuch einer Chinesischen Schlittenfahrt?«
Jakob erstarrte zu Eis.
»Was ist denn, Darling? Was hast du?«
Er brachte kein Wort heraus.
»Jake! Mach mich nicht verrückt! Bist du krank?«
Kaum hörbar kam es über unseres Freundes Lippen: »Hast du Chinesische Schlittenfahrt gesagt?«
»Ja, natürlich! Die hast du doch mit mir machen wollen! Nur daß es nicht geklappt hat. Ich sage dir doch, das macht nichts, Darling, das …«
»Du …« Er mußte noch einmal ansetzen. »Du … weißt, was das ist, eine Chinesische Schlittenfahrt?«
Natascha sah ihn mitleidig an.
»Aber Jake, Darling, natürlich weiß ich, was das ist, eine Chinesische Schlittenfahrt. Das weiß doch jedes Kind!«
»Jedes Kind …«, wiederholte er blödsinnig.
»Entschuldige, Jake.«
»Was?«
»Daß ich gesagt habe, die kennt jedes Kind.«
»Na, offenbar ist es ja auch so«, antwortete er dumpf.
»Das spielt keine Rolle. Für dich war es etwas, von dem du gedacht hast, außer dir kennt es keiner, mein Armer … Und du warst sicherlich sehr stolz darauf …«
»Jetzt nicht mehr.«
»… und hast dir viel zugute gehalten auf diese Schlittenfahrt, und da sage ich dumme Kuh, jedes Kind kennt sie. Ich wollte dich doch nicht verletzen, dir nicht wehtun, mein Gott …« Natascha schluchzte auf. »Und doch muß ich es tun!«
»Eh?« Jakob kratzte seine Schulter. Er starrte Natascha an. »Was mußt du?« (Ein feiner Tag heute!)
»Dir wehtun«, jammerte die Dame.
»Warum denn, Natascha?«
»Weil … Nämlich … Es geht nicht anders …«
»Was geht nicht anders?«
»Ich habe so lange mit mir gekämpft!« gab Natascha bekannt. »Ich habe so viele Nächte keinen Schlaf gefunden! Ich habe mich eine Ewigkeit immer und immer wieder gefragt: Darfst du es tun?«
»Und jetzt bist du soweit, daß du weißt, du mußt es tun.«
»Jetzt bin ich soweit, ja.« Tragisch lastende Stille.
Dann forschte Jakob: »Was, verflucht und zugenäht, mußt du tun?« (Man sieht, Jakobs Lebensgeister kehrten trotz des schrecklichen Versagens seines kostbarsten Gutes wieder.)
»Ich muß dich verlassen«, hauchte Natascha und umarmte den nackten Jakob wild.
Bumm, dachte der. Wieder eine! Das geht ja immer schneller und schneller. Warum denn die?
»Warum denn?« fragte er, etwas allzu geschäftsmäßig, aber nur, weil er es eben wie ein Geschäftsmann schon allzu häufig gehört hatte.
»Ich liebe ihn so unendlich. Ich liebe auch dich unendlich«, behauptete Natascha. »Das ist ja mein Dilemma.«
»Dein … hrm … Dilemma, mein liebes Kind?«
»Ja …« Plötzlich heulte Natascha wie ein Schloßhund. »Ich liebe dich unendlich, Jake, Darling, und ich liebe Karl-Heinz unendlich … Aber nur platonisch, verstehst du, das ist ja die größte Qual für mich gewesen in all der langen Zeit, nur platonisch …«
»Was für ein Karl-Heinz, mein Kind?« Er hielt mit Mühe an sich. Wenn sie mich noch lange so naßflennt, scheuere ich ihr eine, dachte er.
»Mein Gott, der Prinz Karl-Heinz von Heidersdorff, mit dem ich diese Weltreise gemacht habe!«
»Ah, der.« Munter, munter.
»Den ich bei deiner großen Gala in Cap d’Antibes kennengelernt habe …«
»Jajaja, ich weiß schon … Also, den liebst du auch so sehr wie mich? Aber nur … wie hast du gesagt?«
»Aber nur platonisch«, antwortete Natascha. »Weil ich dich nie betrügen wollte und konnte … Doch so geht das nicht weiter … Das halte ich nicht aus … Daran gehe ich zugrunde … seelisch meine ich … Und er auch …«
»Er auch? Ja, also das ist natürlich unmöglich.«
»Nicht wahr, das verstehst du?«
»Das verstehe ich.« Komisch, wie man eine Frau von einem Moment zum anderen völlig verschieden sieht. So, als hätte man ein Opernglas umgedreht. Zuerst war Natascha riesig groß, jetzt ist sie winzig klein.
»Ich habe gewußt, du wirst es verstehen!« Natascha schlang beide Arme um Jakobs Hals. »Du bist ein Mann, der alles versteht! Ein Mann mit einem großen Herzen und mit einer großen Seele …« Wenn mich dieses Weib nur loslassen würde, die würgt mir ja noch die Luft ab, außerdem ist das widerlich, so verschwitzt wie ich bin. Aber nein, die klebt fest. »Gott, bin ich glücklich, daß ich es dir gesagt habe. Eine Zentnerlast ist von mir gefallen.« Ist immer noch eine Zentnerlast drauf, dachte er. Schmuck zum Beispiel, Bankkonten zum Beispiel, Gold, Häuser, Pelze, eine Jagd mit Forellenzucht zum Beispiel. »Du … du bist der Mann, der vom Leben unbarmherzig durch die Welt gehetzt wird, Tag und Nacht mit deinen Geschäften belastet … ein großer, ein unvergeßlicher Mann … Aber du hast so wenig Zeit für eine Frau … Wann haben wir einander schon richtig gesehen in den ganzen letzten Monaten? Auch daran kann die größte Liebe zugrunde gehen, Jake, Darling …«
»Kann sie, ja. Und dieser Karl-Heinz, dieser Prinz, der wird nicht so herumgehetzt wie ich? Der hat Zeit für dich?«
»Hätte.«
»Pardon, hätte. Mit dem könntest du immer zusammensein?«
»Ja-ha.«
»Aber der ist doch aus der Schwerindustrie, dieser Millionär«, grübelte Jakob.
»Er hat es sich anders eingeteilt, weißt du. Er arbeitet nicht selber, er läßt andere arbeiten. Er ist ein Erbe, dem sein Geld nur so zufließt. Es gibt dafür berühmte Beispiele in Deutschland, Jake. Zum Beispiel der …«
»An den habe ich auch gerade gedacht. Hm.«
»Bitte?«
»Nichts. Ich habe nur ›hm‹ gesagt.«
»Hm, was? Darling, sprich zu deiner Natascha. Schweige jetzt nicht. Gib ihr ein Wort! Ein einziges Wort, mein Gott …«
Also, jetzt steht’s fest: Diese Natascha, die hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank. Diesen Karl-Heinz mir vorzuziehen! Diesen Nichtstuer! Diesen Schönling … Nein, das war der vom Hasen. Ich meine diesen Playboy, diesen Herumtreiber! Das ist nicht die Natascha, die ich geliebt habe! Was geht mich diese Natascha an? Trottel verfluchter, der ich bin. Misaras hat ganz recht gehabt, damals, in Los Angeles, als er mir die Leviten gelesen hat wegen dieser Natascha. Ausgenommen wie eine Weihnachtsgans hat das Luder mich, und jetzt, wo ich … ich meine, mit der Glatze und all der Überarbeitung … jetzt hat sie plötzlich ihre Liebe für den Karl-Heinz entdeckt. Plötzlich? Die treibt’s mit dem doch ganz bestimmt mindestens seit der Weltreise. Vorher schon! Und das ist einige Jährchen her! Und einige Jährchen schleppe ich dieses Luder mit mir herum, und wahrscheinlich kennen alle die Wahrheit, nur ich nicht, und ich mache mich lächerlich vor aller Welt, und … Jakob unterbrach seinen Gedankenschwall und sprach milde: »Wie recht du hast, Natascha.«
»Wie-ie?«
»Mit deinen Worten. Ich bin kein Mann für dich. Ich habe dich vernachlässigt. Karl-Heinz dagegen, der wird immer für dich dasein …«
»Du … du … du …«
»Na!«
»… du gibst mich also frei?«
»Natürlich gebe ich dich frei. Ich wäre ja ein Verbrecher, wenn ich dich festhielte. Bei meinem Leben! Und dem Leben, das du an der Seite von Karl-Heinz führen kannst …« Und dem du die Chinesische Schlittenfahrt beibringen kannst, du ausgekochtes Stück, wahrscheinlich hast du sie ihm schon beigebracht, nein, wahrscheinlich noch nicht, denn so was hält das Bürschchen ja nicht aus, der täte nach einer Chinesischen ja sofort auf der Intensivstation landen! Aber versuch’s nur, versuch’s nur! Du wirst schon sehen …
»Und du bist mir nicht böse?«
»Warum sollte ich dir böse sein?« fragte er mit vor Edelmut bebender Stimme. »Wenn das Herz spricht, muß der Mund schweigen.« Das habe ich aus einem Buch von der Edlen. Dieser blöden Kuh.
»Du bist so gut, so gut …« Natascha war aufgesprungen und bedeckte Jakobs Gesicht mit vielen feuchten Küssen.
»Gar nicht gut. Nur vernünftig.«
»Nein, gut! Was … was machst du da?«
»Ich ziehe mich an, mein Kind.«
»Ja, das sehe ich. Aber warum, Jake, Darling?«
»Ich muß noch etwas ganz Dringendes erledigen.« Ins Badezimmer sollte ich eigentlich noch – ach was, zum Teufel!
»Das ist dir jetzt eingefallen?«
»Das ist mir jetzt eingefallen.«
»Da siehst du aber, Darling, wie recht ich habe! Wenn du sogar aus dem Bett aufstehst wegen deiner Geschäfte und deine kleine Natascha allein läßt …«
»Verflucht noch mal, warum komme ich nicht in diese Unterhose rein? Reg dich nicht auf, Natascha. Wir werden Freunde bleiben, für immer. Und werden noch richtig voneinander Abschied nehmen und später mit Karl-Heinz zusammentreffen, diesem wunderbaren Mann …«
»Jake, du bist einmalig!«
»Ach gar nicht. Ich bin meiner Zeit nur immer um zwei Schritte voraus. Herrgott, wo ist jetzt wieder mein zweiter Schuh hingeraten?«
63
Das zweite Mal fuhr Jakob Formann mit dem Fahrrad vom DOM-HOTEL zum CWWDWW. Das war am 2. Oktober 1976. So lange hatte es gedauert, bis zwei Dutzend seiner Buchhalter sämtliche Bilanzen für Jakobs Betriebe in der ganzen Welt auf den neuesten Stand gebracht hatten und diese an die Banken verschickt worden waren. Eine Kopie – auf Wunsch – auch an Herrn von Herresheim.
Es war ein schöner, sonniger Tag, noch sehr warm, und Jakob sah nicht mehr so feierlich angezogen aus, sondern vielmehr recht sportlich-salopp. Er hielt die Lenkstange mit einer Hand. In der anderen hielt er ein Schmalzbrot, das man ihm im DOM-HOTEL zubereitet hatte. Schmalzbrote waren inzwischen der letzte Schrei geworden. »Das Beste, was ich kenne«, hatte Marlene Dietrich einem Reporter gesagt. Man denke!
Jakob war ganz ruhig, denn was nun kam, wußte er genau. Also wozu sollte er sich noch aufregen? Prima Schmalzbrot, dachte er, radelnd, genau die richtige Menge Grieben …
Man wartete bereits auf ihn. Die Bankmenschen, allen voran der von Herresheim, sahen Jakob mit starren Gesichtern entgegen. Also haben sie die Bilanzen brav gelesen, dachte der befriedigt und lächelte sie sonnig an. Das Lächeln blieb unerwidert. Die Mienen verhärteten sich noch mehr. Vermutlich nehmen sie mir meine sportliche Kleidung übel, dachte Jakob und steuerte auf seinen Sessel vom letzten Mal zu. Danach geschah eine ganze Weile nichts.
Dann sagte der von Herresheim: »Tja, Herr Formann, das sieht ja bös aus.« Er sagte es mit Genuß. Und auf englisch. Mr. Gregory war wieder mit von der Partie.
Jakob nickte ihm freundlich zu.
»Das sieht ja noch viel böser aus, als wir gedacht haben, Herr Formann!«
»Mhm«, machte Jakob.
»Sonst haben Sie nichts zu sagen?« Der von Herresheim sah ihn an mit einem Stahlblick made in Germany.
»Ja, also wenn Sie mich so fragen, eigentlich nicht, Herr von Herresheim«, sagte Jakob liebenswürdig. Komisch, dachte er. Vor fast dreißig Jahren habe ich ihn gehabt. Dann habe ich ihn verloren. Und jetzt ist er plötzlich wieder da. Mein lieber stiller Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt! Er betrachtete die Bankmenschen einen nach dem andern. Vor jedem lagen stapelweise Papiere – Kopien seiner Bilanzen. Sie alle starrten ihn nun an – die Skala des Ausdrucks reichte von nacktem Grauen über absolute Fassungslosigkeit bis zu totaler Verachtung. Das fand Jakob besonders komisch.
»Ihre Bilanzen weisen unfaßbar hohe Verluste aus!«
»Mhm.«
»Die Verluste bei den Plastikwerken sind, wie ja Herr Arnusch schon angedeutet hat, geradezu grauenerregend.«
»Mhm.«
»Sagen Sie einmal, Herr Formann, was soll denn überhaupt dieses dauernde Mhm?«
»Das dauernde Mhm, Herr von Herresheim, soll bedeuten, daß ich Ihre Erschütterung und die …« Rundverneigung im Sitzen »… Erschütterung all der anderen Herren voll und ganz teile. Es ist tatsächlich eine Katastrophe, wie es um meine Bilanzen steht.«
»Wie es um Sie steht, meinen Sie, Herr Formann!«
»Oder wie es um mich steht, wenn Ihnen das besser gefällt, Herr von Herresheim!«
»Herr Formann, ein Fabrikgebäude, ein Werksgelände und Spezialmaschinen sind, wenn sie mit Gewinn arbeiten, natürlich sehr viel wert. Wenn sie jedoch – wie bei den allermeisten Ihrer Anlagen in der ganzen Welt – mit Verlust – und mit was für Verlusten, mein Gott! – oder gar nicht arbeiten, dann sind sie überhaupt nichts wert!«
»Mhm. Pardon. Ich wollte sagen, da haben Sie vollkommen recht, Herr von Herresheim.« Diesmal berührte Jakob die Hasenpfote erst gar nicht. Daß sie diesmal nichts mehr retten konnte, war sonnenklar. Und wieder überkam ihn das schöne alte Gefühl seines Nachkriegsstandpunkts. Na schön, alles hin, alles weg. Er konnte das einfach nicht ernst nehmen, beim besten Willen nicht.
Der von Herresheim regte sich mehr und mehr auf, und das gefiel Jakob natürlich.
»Wenn solche Werke mit Verlust oder gar nicht arbeiten, sind sie nur Steinhaufen, Herr Formann, und die Maschinen sind Schrott!«
»Schrott«, echote Jakob.
»Denn dann können Sie …« Der von Herresheim steigerte sich ob Jakobs Gleichmut und solch verblödeten Grinsens und Redens in immer größere Erregung, »… denn dann können Sie mit diesen Werkhallen überhaupt nichts anfangen! Sie können keine Wohnhäuser daraus machen! Sie können überhaupt nichts anderes daraus machen! Sie können keine andere Branche da unterbringen! Sie können so ein Ding nicht einmal abreißen, um den nackten Grund und Boden zu verkaufen, weil Sie ja auch dabei Geld verlieren würden! Also ist das alles, was Sie da aufgebaut haben, nicht nur nichts wert, sondern verursacht für Instandhaltung und so weiter dazu auch noch außerordentlich hohe Kosten!« Der von Herresheim schwitzte jetzt.
»Mhm«, machte Jakob. »Ich meine, Sie haben absolut recht, lieber Herr von Herresheim.«
»Damit ist der Verkehrswert aller Ihrer Unternehmen ungeheuerlich gesunken – und damit sinken die Sicherheiten der Banken, die all das finanziert haben, ebenfalls ganz ungeheuerlich.«
»Tja, leider.« Jakob betrachtete interessiert seine Fingernägel.
»Herr Formann!« kreischte der von Herresheim.
»Ich bitte vielmals, Herr von Herresheim?« Jakob warf ihm einen sanften Blick zu.
»Wollen Sie mich … wollen Sie uns alle hier … provozieren?«
»Um nichts in der Welt, meine Herren! Wie käme ich denn dazu?« sagte Jakob überhöflich.
»Ja, ist Ihnen dann denn nicht klar, wie man bei all diesen Banken, die Ihnen mit unzähligen Millionen den Aufbau Ihres Imperiums überhaupt erst ermöglicht haben, sich jetzt fühlen muß?«
»Herr von Herresheim, ich glaube schon, daß es mir klar ist.«
Unruhe unter den Bankern, Ausrufe von Unmut.
»Und was haben Sie also vorzuschlagen?«
»Ich weiß nicht … Was den Herren am liebsten ist. Mir ist alles recht«, sagte Jakob. Jetzt grinste er offen.
»Das ist ja unerträglich!« schrie der von Herresheim. »Dann will ich Ihnen einmal sagen, was die Banken vorschlagen.«
»Was schlagen sie denn vor?« erkundigte sich Jakob mit übertriebener Neugier.
»Die Banken wollen keine Fabriken, keine Werke, die nicht gehen, die Banken wollen, und das mit Recht, von Ihnen ihre Zinsen aus den Millionendarlehen und die Beträge für die Tilgung weitererhalten! Es ist jedoch sonnenklar, daß Sie dazu nicht in der Lage sind – oder?«
»Nein.«
»Was, nein?«
»Nein, Herr von Herresheim, dazu bin ich nicht in der Lage«, sagte Jakob zu dem ehemaligen Wehrwirtschaftsführer, der es so weit gebracht hatte.
»Sie sind nicht flüssig?«
»Sehe ich so aus?«
»Herr Formann!«
»Ich habe doch nur auf Ihre Frage geantwortet. Wahrheitsgetreu. Ich darf doch jetzt nur noch die Wahrheit sagen«, erklärte Jakob. »Nein, ich bin nicht flüssig. Es tut mir leid, meine Herren, die Sie alle mit mir so viele Jahre lang so viel schönes Geld verdient haben, aber jetzt ist Schluß. Jetzt können Sie mit mir kein Geld mehr verdienen. Jetzt bin ich pleite.«
»Jetzt sind Sie …« Der von Herresheim rang nach Atem, Jakob sah es mit Freude.
»Pleite, ja.«
»Sie haben den Mut, das so offen auszusprechen?«
»Entschuldigen Sie, aber wie soll ich es denn sonst aussprechen? Nein, nein, bitte erregen Sie sich nicht weiter! Sagen Sie es mir, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Sagen Sie mir, wie ich mich ausdrücken soll, Herr von Herresheim. Ich drücke mich dann sofort ganz genauso aus. Ich tue Ihnen doch jeden Gefallen!«
Der Aufruhr unter den Versammelten konnte vom Präsidenten des CWWDWW erst nach drei Minuten gebändigt werden.
Herr von Herresheim hatte größte Mühe, an sich zu halten und das zu formulieren, was er sagen wollte: »Sie können nicht einmal die Zinsen für die Bankdarlehen aufbringen?«
»Wie sollte ich das können, Herr von Herresheim?«
»Sie wissen, daß das ein zwingender Grund für Sie ist, Konkurs anzumelden?«
»Gewiß, Herr von Herresheim«, antwortete Jakob.
Die anderen Herren saßen nun wieder wie erstarrt da.
»Sie werden also zum Konkursgericht gehen!«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Sie wissen, daß Sie dort alle Ihre Aktiva, aber vor allem Ihre Schulden, bekanntgeben müssen …«
»Weiß ich, Herr von Herresheim.«
»… und zwar nicht nur Ihre Fabriken und Ihre Schiffe, überhaupt alle Ihre Unternehmen, Ihre Hühnerfarmen zum Beispiel! Auch Ihren privaten Besitz! Ihre Villen! Ihr Geld! Ihre Autos! Die Jacht! Die Schlösser! Einfach alles! Sie können ja nicht einmal Ihre Zahlungsbereitschaft wiederherstellen, Sie können weder die Zinsen noch die Kreditrückzahlungen aufbringen. Sie werden den Offenbarungseid leisten müssen. Wissen Sie das eigentlich?«
»Lieber Herr von Herresheim, ich bin doch kein kleines Kind«, gab Jakob bekannt. »Natürlich weiß ich das. Und wenn ich alles angemeldet habe, dann wird alles versteigert, verkauft oder sonstwie zu Geld gemacht bis auf ein paar Anzüge und Schuhe und Wäsche, und die Herren Banken stellen einen Antrag, ihnen diese ganzen Werte, die ich angegeben habe und die gepfändet sind, zu übertragen, weil ich doch solche Schulden bei ihnen habe, nicht wahr, und so können die Herren Banken versuchen, wenigstens einen Teil ihres Geldes zurückzukriegen …«
»Herr Formann, wenn Sie glauben, daß das hier ein Spaß ist, dann will ich Ihnen etwas sagen …«
»Ich glaube ja gar nicht, daß das hier ein Spaß ist«, sagte Jakob voller Unschuld. Aber der von Herresheim war jetzt zu sehr in Fahrt, als daß er noch hätte stoppen können. Er schrie weiter: »… Im Konkurs werden Ihre Machenschaften aufgedeckt werden! Wir werden schon feststellen, was Sie mit unserem Geld angestellt haben. Den Offenbarungseid schwören werden Sie! Und das wird dann in allen Zeitungen der Welt stehen! Auch in der OKAY! Mit dicken Überschriften! Wollen Sie das auch?«
»Natürlich will ich das auch, lieber Herr von Herresheim. Bloß: OKAY gehört mir nicht mehr. Aber sonst müssen sie wirklich groß sein.«
»Wer?«
»Die Überschriften in den Zeitungen der ganzen Welt. Das wäre mein inniger Wunsch!«
Der von Herresheim rang nach Luft.
»Sie wagen es, sich in Ihrer Situation auch noch lustig zu machen über uns?«
»Keine Spur, Herr von Herresheim. Ich will doch immer nur das tun, was den Herren von den Banken, die ich so furchtbar geschädigt habe – mein Gott, rote Teppiche haben sie früher für mich ausgerollt, wenn ich gekommen bin, um Millionenkredite aufzunehmen, so glücklich waren sie, und jetzt habe ich alle so entsetzlich enttäuscht … Wo war ich? Ach ja! Also, wie gesagt, ich will doch ganz gewiß nur das tun, was den Herren von den Banken am nützlichsten und angenehmsten ist!«
Die Bankherren sprachen schon die ganze Zeit halblaut miteinander. Jetzt sagte einer etwas zu dem von Herresheim. Der von Herresheim nickte und sprach mit bebender Stimme: »Um Sie nicht derart vor der Öffentlichkeit bloßzustellen, Herr Formann, sind die hier versammelten Bankenvertreter bereit, Ihnen den schmachvollen Weg zum Offenbarungseid zu ersparen.«
»Da danke ich aber tausendmal, meine Herren, Sie sind wirklich zu gütig«, sagte Jakob.
»Allerdings verlangen wir von Ihnen, sogleich alle Ihre Werke, Ihre Schiffe, Ihre Hühnerfarmen, die Investment- und Touristikfirmen, das Großklinikum, die übrigen Kliniken, Ihre Aktien und so weiter und so weiter und Ihren gesamten persönlichen Besitz, also die Flugzeuge, Häuser, Schlösser, für die Ihnen gewährten Kredite herauszugeben und in eine Auffang-GmbH der Banken einzubringen.«
»Das ist wahrlich sehr großzügig von Ihnen, meine Herren!« Jakob wischte sich Tränen, die nicht existierten, aus den Augen. »Bitte, bedienen Sie sich! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«
Wieder Stille.
»Na, was ist denn?« fragte Jakob schließlich. »Keine Angst, ich meine es so, wie ich es sage. Und ich bin nicht, wie Sie offenbar denken, verrückt geworden! Ich bin ganz normal!«
»Nun gut«, sprach der von Herresheim, der kaum noch richtig sprechen konnte, »dann soll es also auf diese Weise geschehen. Die Banken werden Ihren gesamten Besitz übernehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Immerhin, eine kleine Wiederbelebung der Wirtschaft – gerade auf dem Plastiksektor, aber auch ganz allgemein – ist schon zu spüren …«
»Eben«, sagte Jakob.
»Was soll denn das heißen?«
»Nichts, nichts. Verzeihen Sie. Ah ja, richtig, und bitte nicht vergessen: Ich bin der allein Schuldige, der allein Haftbare! Weil ich es in meiner grenzenlosen Verantwortungslosigkeit verschmäht habe, meinen Unternehmen die entsprechend günstigen Rechts- oder Gesellschaftsformen zu geben, durch die ich jetzt nur zu einem Teil oder vielleicht überhaupt nicht haftbar wäre. Ich bin aber haftbar, ich allein! Und es ist nur gerecht, daß man mir alles wegnimmt. Gerade wo sich die Wirtschaft jetzt wieder erholt. Ich schlage vor, daß jetzt, da ja für diese Riesen-Konkursmasse so etwas wie ein Verwalter eingesetzt werden muß, der alles zum Heile der Banken tut und der die Geschicke meiner Unternehmen weiter in hoffentlich für die Banken segensreiche Bahnen lenkt, daß jetzt Sie, Herr von Herresheim, der Mann sind, der eingesetzt wird!«
»Herr Formann, wenn Sie frech werden …«
»Ich werde nicht frech! Ich meine es so, wie ich es sage! Wer wäre besser geeignet für diesen Posten als Sie?«
Der von Herresheim sah Jakob mit flackernden Augen an.
Einer der Banker sagte: »Da hat Formann recht, Herr von Herresheim. Sie sind der Mann, an den auch wir alle gedacht haben.«
»Sehen Sie?« sagte Jakob.
Der von Herresheim mußte sich setzen. Und ein Glas Wasser trinken. Er brauchte eine Erholungspause.
Nachdem er seiner Stimme wieder mächtig war, begann er zu verlesen, was alles Jakob nun von den Banken abgenommen werden sollte.
Jakob hörte aufmerksam zu und erlaubte sich zuletzt, den von Herresheim auf etwas aufmerksam zu machen: »Bitte vielmals um Entschuldigung, aber es muß doch alles seine Ordnung haben, nicht wahr? Herr von Herresheim. Sie haben meine Strumpfhosenfabriken vergessen. Die gehören jetzt ja auch nicht mehr mir.«
Der von Herresheim konnte nur stumm nicken.
Zuletzt mußte Jakob zahlreiche Unterschriften leisten, dann war er sein Weltreich los. Demütig hob er den Kopf ein wenig.
»Einen letzten Wunsch hätte ich noch …«
»Welchen?« ächzte der von Herresheim.
»Ich bin mit einem Fahrrad hergekommen. Ist es sehr unverschämt, wenn ich bitte, dieses Fahrrad behalten zu dürfen?«
»Sie dürfen es behalten«, sagte der von Herresheim, fast unhörbar. Er zitterte am ganzen Körper.
Nach den Unterschriften ging alles in ein paar Minuten zu Ende. Der von Herresheim fragte Jakob, ob er noch ein Schlußwort sprechen wollte.
»Ja, bitte.«
»Dann sprechen Sie es, Herr Formann!«
Und Jakob sprach es. Er sagte, nachdem er auf den von Herresheim zugegangen war und ihm nun markig die Hand schüttelte: »Ich möchte mich noch herzlich bei Ihnen bedanken, Herr Wehrwirtsch … entschuldigen Sie, Herr von Herresheim wollte ich natürlich sagen. Wirklich, von ganzem Herzen!«
»Wofür?« hauchte der von Herresheim.
»Dafür«, sagte Jakob, »daß Sie mir diese ganze miese Scheiße abgenommen haben. Jetzt können Sie sich damit herumschlagen, und ich bin endlich wieder ein glücklicher, freier Mensch ohne Sorgen!«
64
›Ich fühl’ mich nicht zu Hause …‹
Es ist wirklich furchtbar, wie so ein Satz einem im Gehirn herumkriechen kann wie ein Wurm im Apfel und man andauernd an diesen Satz denken muß. Grauenhaft ist das!
›Ich fühl’ mich nicht zu Hause …‹ – so lautete ein Satz aus einem Lied auf einer Schallplatte, die Mojshe Faynberg dem Jakob vor einiger Zeit geschenkt hatte. ›Nichtarische Arien‹ hieß diese Platte, und die Lieder auf ihr, die Musik und die Texte, stammten – natürlich! – von einem Wiener namens Georg Kreisler.
Früher, vor vielen, vielen Jahren, existierten bei uns wunderbare jüdische Witze. Diese jüdischen Witze hatten alle eines gemeinsam: Sie waren so lustig, daß man über sie vor Lachen brüllen, und dabei so traurig, daß man über sie vor Kummer weinen mußte. Das macht den guten jüdischen Witz aus. Wir werden hier nicht erklären, warum es heute fast keine derartigen Witze mehr gibt – es will doch keiner hören.
Nun, die Lieder auf Kreislers Platte sind genau so, wie die besten jüdischen Witze es gewesen sind: lustig, weise und traurig – alles in einem! Ein Lied handelt von einem armen Juden, der nichts hat und nichts ist und gedemütigt und verachtet wird von allen in seinem Städtel und der zu seiner Schwester nach Berlin eingeladen wird, wo es ihm glänzend gehen könnte, aber leider, er fühlt sich nicht zu Hause. Und so nimmt er die Einladung seines Bruders nach New York an, da könnte es ihm noch besser gehen als in Berlin, aber leider, er fühlt sich nicht zu Hause. Und so nimmt er die Einladung seines Schwagers nach Buenos Aires an, und da könnte es ihm noch viele Male besser gehen, aber leider, er fühlt sich auch da nicht zu Hause. Und deshalb reist er in seine wahre Heimat Israel, aber leider, auch hier fühlt er sich nicht zu Hause. Und so kehrt er schließlich in sein Städtel zurück, aus dem er auszog, und hier schaut man ihn nicht an, und hier verachtet und verhöhnt und demütigt man ihn – und hier endlich fühlt er sich dann zu Hause!
Wie gesagt, so eine Zeile aus so einem Lied, wenn sie sich erst einmal im Gehirn festsetzt, kann fürchterliches Unheil anrichten!
Jakob Formann war von Köln nach München gereist und von da in sein Schloß (das ihm nun nicht mehr gehörte) am Starnberger See, um das zu holen, was man ihm erlaubt hatte zu behalten, nämlich etwas Kleidung und eine Armbanduhr, Wische und Schuhe. (Das Fahrrad hatte er im Zug nachkommen lassen und in die Garage des Schlosses gestellt.) Mitten im Packen hörte er plötzlich das Telefon läuten. Er hob ab, und eine Männerstimme – die Mädchen der Telefonzentrale kamen längst nicht mehr – fragte ehrerbietig: »Entschuldigen Sie, spreche ich mit dem Herrn Baron Rothschild?«
Jakob wurde von einem Lachsturm geschüttelt.
»Lieber Gott im Himmel«, ächzte er, »sind Sie falsch verbunden!« Und legte auf. Er mußte immer weiter lachen.
Da läutete das Telefon wieder.
Wenn es derselbe Kerl ist und mir da einer das mit Fleiß macht, dann werde ich ihm jetzt etwas erzählen, dachte Jakob, riß den Hörer ans Ohr und brüllte: »Formann!«
»Mensch, Jake, bist du wahnsinnig geworden?« ertönte die Stimme eines entsetzten George Misaras.
»Nein.«
»Warum brüllst du dann so?«
»Schade um das viele Geld für das Gespräch, George! Du weißt doch, jetzt steht ihr alle auf eigenen Füßen. Nicht mehr auf meinen!«
»Deshalb rufe ich dich ja an!«
»Weshalb?«
»Weil ich … weil du … weil wir …« Misaras war verlegen. »Weil wir doch so alte Freunde sind! Und seit du gesagt hast, ich soll dir alle Bilanzen deiner Werke schicken, weiß ich, wie tief du im Dreck steckst.«
»Tiefer, als du überhaupt denken kannst«, amüsierte sich Jakob.
»Haben sie dir alles genommen, die Hunde?«
»Alles, natürlich.«
»Dann weißt du ja jetzt nicht einmal, wo du wohnen sollst! Dann hast du ja jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf!«
»Stimmt. Hier aus dem Schloß muß ich bis zum Abend raus sein.«
»Und wo willst du dann hin?«
»Es gibt Nachtasyle, mein Alter.«
»For Christ’s sake! Das ist ja grauenhaft! Das kommt, weil du nie an dich gedacht hast, sondern immer nur an andere. An uns, zum Beispiel! Mojshe, ich, der Wenzel und der Jaschke, die haben jetzt ihre schönen Häuser und Autos und Bankkonten und werden sie auch behalten. Du hast gar nichts! Auch deine Bankkonten haben sie dir natürlich genommen!«
»Natürlich auch die Bankkonten! Und recht geschieht mir!«
»Du kannst doch aber nicht in einem Nachtasyl schlafen!«
»Ich habe schon schlimmer geschlafen! Im Strafbunker in Rußland oder in einem Loch bei Artilleriebeschuß oder später dann in Wien in Wärmestuben … Es gibt schon eine Million Arbeitslose in Germany. Warum soll ich nicht dazugehören? Laß mich doch in Ruhe, George!«
»Shut up! Ich habe schon alles vorbereitet! In zwei Stunden holt dich ein Chauffeur aus München im Mercedes ab und bringt dich nach Riem, zum Flughafen! Dort gehst du zum LUFTHANSA-Schalter! Eine Karte liegt da für dich! Erster Klasse Los Angeles! Ich hole dich hier am Airport ab. Du kommst jetzt erst mal zu mir! Zu meiner Frau und mir! Und ruhst dich aus und machst Urlaub und erholst dich …«
»Also hör mal, George«, sagte Jakob entschieden, »das ist ja alles sehr lieb von dir, aber das kommt natürlich unter gar keinen Umständen in Frage!«
65
Zwanzig Stunden später lag er dann im Garten von George Misaras’ Haus an der Rossmoyne Street im nördlichen Stadtteil und Nobelvorort Glendale von Los Angeles in der Sonne und grunzte zufrieden.
»Bist schon ein feiner Kerl, Georgie-Boy«, sagte er. »Ich denke, ich werde mich wirklich ein bißl erholen bei euch …«
Und das tat er! Er fuhr Rad, spielte Tennis, schwamm und machte seine gymnastischen Übungen, begleitete das Ehepaar Misaras zu vornehmen Partys oder nahm an solchen vornehmen Partys teil, wenn das Ehepaar Misaras sie gab. Jakob wurde von Hand zu Hand gereicht. Kein Wunder – der Eklat seines (ogottogott!) ›Zusammenbruchs‹ hatte weltweit Furore gemacht.
Jakob schlief lange, aß gut und reichlich, ja, und so tief war er gesunken, daß er nun eine Menge las – darunter ein neues Buch von Klaus Mario Schreiber, schon ins Englische übersetzt, deutscher Titel UND JIMMY GING ZUM SONNENUNTERGANG – wiederum ein internationaler Bestseller! Tja, der Schreiber, dachte Jakob versunken lächelnd. Der hat eine Nase gehabt, der alte Saufaus, der ist rechtzeitig abgehauen und hat Schluß gemacht mit dem Saufen und der OKAY und lebt jetzt mit seiner Claudia in Monte Carlo und schreibt nur noch, was er will – und verdient sogar einen Haufen Geld damit! Jakob versank tiefer und tiefer in Träumereien, mit jedem Tag mehr. Misaras hatte recht gehabt: Es war allerhöchste Zeit gewesen, daß er mal ausspannte! So blieb er denn bei seinem ehemaligen MP-Freund und dessen schöner Frau, und zu Weihnachten sang er brav mit ›I’m dreaming of a white Christmas!‹ und bekam einen Haufen Geschenke – hauptsächlich Anzüge und Kleidung – und war sehr glücklich, auch noch zu Silvester. Auch noch zu Ostern. Da war er dann allerdings nicht mehr so glücklich.
Misaras merkte es.
»Was ist denn los mit dir?« fragte er Jakob.
»Ach weißt du«, erklärte dieser, »ich kann es selber nicht sagen. Ihr seid so gut zu mir. Es ist so schön bei euch. Alle andern können mich am Arsch lecken. Meinen alten, stillen Standpunkt habe ich wieder. Jeden Abend freue ich mich vor dem Einschlafen, wenn ich daran denke, wie dieses Herresschwein nicht schlafen kann vor Sorgen – so wie ich früher oft nicht habe schlafen können vor Sorgen –, weil er jetzt meinen ganzen Krempel auf dem Buckel hat und bei den Banken seinen dämlichen Schädel hinhalten muß. Und trotzdem …«
»Und trotzdem?«
»Du bist mir nicht böse, Georgie-Boy, wenn ich es dir sage?«
»Ich werde dir niemals böse sein, Jake, was immer du sagst! Also raus damit, was ist es?«
Und da kam es dann zum ersten Mal über Jakobs Lippen: »Siehst du, Georgie-Boy, ich fühl’ mich nicht zu Hause …«
»Ist etwas passiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Hat meine Frau etwas falsch gemacht?«
»Richtig, nur richtig habt ihr alles gemacht! Das ist kein Gefühl, das sich gegen dich oder Los Angeles oder Kalifornien richtet. Es ist eigentlich überhaupt kein Gefühl. Es ist … so was Unruhiges, verstehst du? Du verstehst nicht, was ich meine … Aber ich fühl’ mich ganz einfach nicht zu Hause!«
»Natürlich verstehe ich dich! Man kann nicht zu lange bei einem Freund bleiben, nicht? Mojshe ruft mich schon seit Wochen an!«
»Mojshe?«
»Aus New York! Er hat da ein ganz phantastisches Penthouse am East River! Ich habe ihm versprochen, daß ich dich zu ihm schicke, wenn du hier die Nase voll hast!«
»Ich will aber gar nicht nach New York zu Mojshe!«
»Wo willst du denn hin? Sag es, und du bist dort! Sag irgendeinen Ort auf der Welt! Egal, wo! Na los, los, los, sag schon! Wo willst du hin?«
Jakob wand sich verlegen.
»Ja, also, ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich wirklich hin will, Georgie-Boy …«
»Na, aber dann nix wie nach New York zu Mojshe!«
Einen Tag später war Jakob dann bei Mojshe.
Mojshe bewohnte wirklich ein wunderbares Penthouse. Er war mit einem hohen Rang aus der Armee ausgeschieden, und er hatte massig Geld gespart, denn er bekam dazu noch eine hohe Pension und verdiente mit seinen ›Encounter‹- und ›Sensibility-Training‹-Instituten mehr denn je. Eine richtige jiddische Momme hatte er geheiratet, die ihn umsorgte wie ein kleines Kind und die nun auch Jakob umsorgte wie ein kleines Kind. Jakob war selig.
»Ach, Mojshe«, sagte er oft, wenn er dem Freund beim Pflegen und Züchten von Orchideen half, »weißt du noch …« Und dann erinnerten sie sich gemeinsam an irgendein völlig verrücktes Erlebnis aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Tja, und dreieinhalb Monate später war es dann auch in New York so weit, daß Jakob, neuerlich unruhig geworden, zu Mojshe sagte: »Bitte sei mir nicht böse, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht – ich fühl’ mich nicht zu Hause …«
»Zu Hause, zu Hause, ich fühl’ mich nicht zu Hause!« sang Mojshe sofort los, denn er kannte das Kreisler-Lied auswendig. »Dazu habe ich dir die Platte aber nicht geschenkt, Jake«, sagte er zuletzt ernst.
»Mojshe, versteh mich doch …«
»Ich versteh dich schon, Jake. Immer New York ist eben auch nichts für einen wie dich. Der Jaschke ruft schon die ganze Zeit an, ich hab dir nie was gesagt davon. Er will, daß du unbedingt zu ihm nach Murnau kommst … Meinetwegen flieg, Jake! Gut sollst du es haben beim Jaschke! Bleiben sollst du, solange du willst! Und wenn du dich wieder nicht zu Hause fühlst, dann wartet schon der nächste Freund auf dich! Das Ganze ist ein großes Ringelspiel. In einem Jahr oder so sehen wir uns wieder!«
»Ach, Mojshe«, sagte Jakob gerührt.
»Da geht eine herrliche Maschine heute abend vom Kennedy-Airport, die fliegt durch bis München. Ich bring dich hin – mit meiner Sarah natürlich!«
Und so war Jakob denn am nächsten Tag bei Karl Jaschke in Murnau und wurde empfangen wie ein Kaiser und freute sich von Herzen über das Wiedersehen und darüber, was für gute Freunde er hatte.
Er blieb tatsächlich bis zum Mai 1976 in Murnau und radelte und kraxelte auf die Berge und badete im Staffelsee, und siehe da, die alte Bootshütte, in welcher er einstens Frau Doktor Ingeborg Malthus kennengelernt hatte (›kennengelernt‹ ist gut, dachte Jakob grinsend, als ihm dies Wort durch den Kopf ging), war immer noch da! Aber ganz neu hergerichtet! Sie gehörte einem reichen Münchner, der sein Motorboot da aufbewahrte und zu den Wochenenden herauskam.
Ach, aber im Mai 1976 kam der Tag, da sagte Jakob zu seinem Freund Jaschke: »Sei mir bitte nicht böse, Karl, aber …«
»… du fühlst dich nicht zu Hause«, ergänzte der.
»Woher weißt du das?«
»Mojshe und George haben mich angerufen und gesagt, daß der Tag kommen wird. Wir können dich alle gut verstehen. Morgen fliegst du nach Nizza.«
»Was soll ich in Nizza?«
»Der Klaus Mario Schreiber wird dich vom Flughafen abholen und nach Monte Carlo fahren mit seinem Auto. Er ruft seit Wochen an und beharrt darauf, daß er der nächste sein muß, den du besuchen kommst!«
»Ich will aber nicht nach Monte Carlo!« protestierte Jakob.
Vierundzwanzig Stunden später war er dort.
Ach, fand er es schön in Monte Carlo!
Die Sonne! Das Meer! Die vielen Blumen! Der Frieden! Die milde Luft! Wellenreiten und Motorbootfahren und Golfspielen auf dem Mont Agel! Und was hatten die Schreibers doch für ein gemütliches Haus. Zum Verlieben!
Jakob verliebte sich in das Haus und in Monte Carlo, und in alle Menschen da, besonders in Claudia und Klaus Mario Schreiber. Die waren aber auch ganz besonders nett zu ihm. Schreiber schenkte ihm sein jüngstes Buch, als es frisch aus der Presse kam. JEDER IST EINE INSEL hieß es, und Jakob lag abwechselnd unter einem Palmen- und einem Olivenbaum und las, und ganz leise flüsterte der Wind. Bis Februar 1977 dauerte dieses Glück. Dann war es wieder soweit, und er nahm den Klaus Mario Schreiber (der nie wieder einen einzigen Tropfen Alkohol, egal in welcher Form, getrunken hatte und auch nicht zu trinken beabsichtigte) beiseite und sagte ihm, was er schon dreien seiner Freunde gesagt hatte.
Klaus Mario Schreiber nickte nur.
»Da haben wir schon drauf gewartet, Claudia und ich, Herr Formann«, sagte er. »Wann wollen Sie nach Frankfurt fliegen?«
»Wieso nach Frankfurt?« fragte Jakob.
»Na, zu Ihrem Freund Wenzel Prill. Der hat gesagt, er kommt runter und bringt uns um, wenn wir Sie nicht zu ihm in den Taunus schicken, sobald Sie sich hier nicht mehr zu Hause fühlen.«
»Aber ich will nicht zum Wenzel!« rief Jakob.
Achtundvierzig Stunden später war er bei ihm.
Und selig!
Gott, wie lachten die beiden alten Freunde miteinander! Wenzel war immer noch nicht verheiratet, und er hatte noch immer nicht seinen Doktor juris utriusque. (»Zu was brauche ich den jetzt noch?« pflegte er zu sagen.) Seine Leidenschaft für Rothaarige indessen hatte er noch. Jakob sah ein paar von ihnen in den folgenden Wochen und wurde munter.
»Tolle Bienen, was?« Wenzel strahlte. Jakob nickte. »Wenn du mal eine haben willst …«
Jakob wollte.
Mit dem, was folgte, war er sehr zufrieden. Donnerwetter, dachte er, ein Jüngling, ein wahrer Jüngling bin ich noch. Also diese süße Kleine, die ist mir doch nach der zweiten Schlittenfahrt glatt ohnmächtig geworden!
Aber ach …
Wie die Tage vergingen, so wuchs Jakobs Unruhe wiederum. Wenzel, der ihn nicht weglassen wollte, veranstaltete am Abend des 5. Oktober 1977 eine große Party, zu der er viele alte Bekannte seines Freundes lud – Finanzleute, Politiker, Aristokraten, Unternehmer und Kaufleute, die meisten mit ihren Frauen. Alle diese Leute waren Jakob früher stets mit größter Hochachtung und Freundlichkeit begegnet, und Wenzel hoffte zuversichtlich, daß Jakob viele dieser alten Bekanntschaften wieder auf- und zum Anlaß nehmen würde, zu bleiben. Leider irrte der gute Wenzel sich da gewaltig …
Die Zeiten waren mittlerweile sehr unruhig geworden in Deutschland. Es gab Kaufhausbrände, Attentate, Schießereien, Morde, Entführungen, Geiselnahmen, gekaperte Flugzeuge und jede Menge Terroristen.
Der Terrorismus bildete denn auch auf jener Party vom 5. Oktober 1977 das Hauptgesprächsthema, weil nämlich im September wiederum eine ganz hohe Persönlichkeit entführt worden war. Die Entführer verlangten für die Freilassung dieser Geisel die Freilassung inhaftierter Genossen, und um der Sache Nachdruck zu verleihen, entführten andere Terroristen wiederum einmal ein Flugzeug und flogen damit um die halbe Welt, und in der Maschine saßen einhunderteinundzwanzig völlig unbeteiligte Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Das Kommando an Bord drohte, das Flugzeug mit all diesen Menschen und sich selbst in die Luft zu sprengen, wenn den Forderungen nach der Freilassung der inhaftierten Terroristen nicht Folge geleistet würde.
Wenzel hatte es wirklich gut gemeint – und wirklich schlecht getroffen. Den Abend lang sprachen die so vornehmen und ehrbaren Damen und Herren über nichts als dieses Geschehen – und überhörten beharrlich alles, was Jakob sagte.
Also, das ist ja ein tolles Ding, dachte Jakob verblüffter und verblüffter. Da sind doch haufenweise Kerle darunter, die mir alles verdanken! Und wie benehmen die sich? Die benehmen sich, als wäre ich überhaupt nicht da.
Jakob wanderte von Grüppchen zu Grüppchen und versuchte, seine Ansichten bekanntzugeben. Es mißlang ihm hundertprozentig. Hm, dachte er, hm. Und setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl in der Nähe der Bar. Ein Kellner fragte nach seinen Wünschen. Er trug ein Silbertablett mit Gläsern voll Champagner und Whisky, und es erstaunte ihn, daß Jakob sich ein großes Glas voll Whisky griff, denn vorher hatte Jakob stets nur Orangensaft verlangt. Noch mehr erstaunte es ihn, als Jakob, nachdem er das Glas gekippt hatte, brummte: »Bringen Sie mir eine ganze Flasche und ein Kübelchen mit Eiswürfeln, bitte!«
»Sehr wohl, Herr Formann, aber Herr Prill hat doch gesagt, Sie trinken sonst nie Alkohol …«
»Manchmal schon«, sagte Jakob. »Heute abend zum Beispiel. Also, wenn ich um die Flasche ersuchen dürfte, mein Freund.«
»Gewiß, selbstverständlich, sofort, Herr Formann!« Der Kellner verschwand und kehrte gleich darauf mit allem Gewünschten wieder. Jakob goß ein neues Glas voll, ließ zwei Eisstückchen in den Whisky plumpsen und nahm einen weiteren Riesenschluck. Damit (wir kennen seine unheilvolle Beziehung zum Alkohol) war alles, was folgte, bereits sozusagen programmiert …
Scheißbande, dachte Jakob, aus seinem Sessel das bunte Treiben der Geladenen betrachtend, ihrer geistreichen Konversation lauschend, neuerlich Schlückchen nehmend. Scheißbande, verfluchte! Wie viele von euch Blaublütern, euch elendigen, haben mich – leider mit Erfolg – angeschnorrt, wieder und wieder? Wie vielen von euch biederen Wirtschaftsführern habe ich die Karriere ermöglicht? Was habt ihr, ihr Herren der Großbanken, an mir verdient? So geht’s ja nicht! (Schlückchen.) Weil ich nun pleite bin, existiere ich nicht mehr für euch, wie? Weil ihr von mir kein Geld mehr bekommt, kennt ihr mich nicht mehr, was? (Zwei Schlückchen.) Gesindel! Und wenn ich denke, daß es eine Zeit gegeben hat, in der ich vor euch Hemmungen gehabt habe, in der es mein größter Wunsch gewesen ist, aufgenommen zu werden in eure Kreise, verflucht noch mal! (Schlückchen … nein, das Glas ist leer. Füllen wir es also wieder. Das war doch eine gute Idee von mir, daß ich dem Kellner gesagt habe, er soll die Flasche gleich dalassen.) Also dann auf euer Wohl, ihr Mistviecher! Ihr Noblen! Ihr Reichen! Ihr Armleuchter!
Was seid ihr denn wirklich wert, ihr Noblen und Großen und Mächtigen dieser Welt? Als ich Geld gehabt habe, habt ihr mich angebetet! Jetzt? Jetzt scheißt ihr auf mich und werdet wahrscheinlich den Wenzel anschnorren, werdet ihn um Gefälligkeiten, um Fürsprache und was es so alles gibt bitten, denn der Wenzel, der hat noch Geld. (Das ganze Glas ex, neu gefüllt!) Ihr Kreaturen seid immer und überall dort, wo das Geld ist, wo die Macht ist! (Das ganze Glas auf einmal leer.) Die gerade ›herrschende Schicht‹ seid ihr. Und die gerade herrschende Schicht muß im SACHER fressen und im PALACE in St. Moritz wohnen! (Drei große Schlückchen.)
Jakobs jähe Erkenntnisse überwältigten ihn ebensosehr wie der Whisky. Und beides setzte einen unaufhaltsamen Gedankenstrom in Gang: Wer hat mir denn beigebracht, ›fein‹ zu sein und ›fein‹ zu speisen und ›fein‹ zu trinken und ›fein‹ Konversation zu machen? Wer hat mich denn dressiert, daß ich unbedingt (verdammt, es war ja ›bedingt‹, hat dieser dämliche Püschoanalytiker da in Washington gesagt!) – wer hat mich denn dressiert, daß ich bedingt unbedingt wissen muß, wer Hindemith ist und wer die heilige Anna Selbdritt? Durch wen bin ich denn in eure Scheißwelt überhaupt erst richtig hineingekommen und habe Orden und Ritterkreuze und was weiß ich gekriegt? Und meine Zeit mit Angeberei, Geldrausschmeißen und Jet-Set-Getue vergeudet? Wer ist das denn gewesen, der das alles fertiggebracht hat? Wer denn?
Das ist die Edle gewesen, Gott verflucht noch mal! (Drei Schlucke. Glas leer. Glas wieder voll.) Die Edle! Wie die mich getriezt und geschliffen und gequält hat! Was ich bei der ertragen und ausgehalten habe! Dieses hochmütige, selbstgefällige, niederträchtige Aas, das wo zurückgegangen ist bis auf Kaiser Lobgesang! Und damit war Jakob einem Tobsuchtsanfall nahe.
Und mächtig blau. Und verbohrt in seine Idee: Die Edle, die Edle, die Edle ist schuld an allem! Jawohl, an allem! So viele gute, einfache und anständige Menschen gibt es auf der Welt, drei oder vier Milliarden, glaube ich, aber nein, nicht zu ihnen hat die Edle mich gebracht, nicht zu ihnen, nein, sondern zu denen da, zu diesen Arschgesichtern, zu diesen angemalten Weibern (Schlückchen, küß die Hand, gnä’ Frau!), zu diesen ach so Auserlesenen, haha, zu diesen ach so Berühmten, haha, zu diesem ganzen beschissenen Pack, für das ich jetzt nicht mehr existiere, bloß weil ich arm bin.
Das Glas ganz voll!
Das Glas gekippt bis zur Neige!
Schwankend erhob sich Jakob.
Rot, rot, rot wehten Schlieren vor seinen Augen.
»Na warte«, murmelte er und stolperte davon, ohne daß jemand ihn beachtete. »Na warte …«
66
»Aaaaaahhh!«
Mit einem Entsetzensschrei fuhr die Edle in ihrem Bett im Schlafzimmer ihrer schönen Villa im Münchner Prominentenviertel Bogenhausen in die Höhe. Es war noch früh am Morgen – genau 6 Uhr 32.
»Wie kommen Sie hierher, Formann?«
»Mit dem Fahrrad.«
»Ich meine: Wie kommen Sie hier herein, Formann?«
»Durchs Fenster, Baronin. Es war offen.«
»Aber ich schlafe im zweiten Stock!«
»Draußen sind Streben mit Weinlaub, und ich bin ein sehr guter Kletterer.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Sind Sie irre geworden?«
»Das werden Sie gleich sehen, Baronin.« Weiß Gott, das wird sie, dachte Jakob, aus den Hosen steigend. Den ganzen Weg von Frankfurt bis München über hatte er seine Wut auf die Edle am Kochen gehalten. Jetzt war sie am Überkochen. Weg mit dem Hemd! Raus aus der Unterhose! Und rauf auf die Edle!
Sie kreischte (bis Jakob ihr den Mund zuhielt) und kratzte und trat und schlug, doch es half alles nichts.
Jakob war stärker.
»Jetzt bist du dran«, sagte er, während er ihren letzten Widerstand brach (der schon keiner mehr war – Jakob merkte, wie sie nachgab, mehr und mehr). »Jetzt zahle ich’s dir heim. Deine ganze Scheißerziehung, die keine gewesen ist, und das Gesindel, mit dem du mich verrückt gemacht hast!«
Keuchend, den Kopf hin und her werfend (es war das einzige, das sie noch werfen konnte), erlebte die Edle, was sie noch niemals erlebt hatte. Es brachte sie fast um den Verstand. Man bedenke: Eine Frau mit der Veranlagung dieser Edlen! Ein Mann! Und dieser Mann macht mit ihr, aus kaltem Haß und siedend heißem Zorn, die wüsteste Chinesische Schlittenfahrt seines Lebens!
So wüst war diese Fahrt, daß selbst Jakob, der Sportgestählte, eine Stunde später mit schlackernden Knien wieder in seine Hosen fuhr.
Die Edle aber lag zitternd vor völlig ungewohntem Entzücken und in totaler Schwäche auf dem Bett, unfähig, ein Glied zu rühren, unfähig, eine Silbe hervorzubringen, und so lauschte sie denn hilflos dem, was Jakob ihr noch zu sagen hatte, nämlich dieses: »Also. Sehr Edle und Sehr Mächtige Frau Baronin« (rein ins Hemd, die Knöpfe schließen können wir später) »von Lardiac, Edle Frau und Gerichtsherrin von Valtentante« (Jacke), »erbliche Palastdame am Hof« (linker Socken, linker Schuh), »von Jerusalem zufolge des Privilegs, verliehen der sehr ruhmreichen« (rechter Socken, rechter Schuh) »Familie Lardiac durch Kaiser Friedrich den Zweiten, späterhin König von Jerusalem« (tiefes Atemholen) – »ist Ihnen das jetzt obszön genug gewesen?«
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Epilog
Der Tod ist ein schlechter Abschluß vom Leben.
Es wäre viel schöner sicherlich:
Erst sterben, dann hätte man’s hinter sich –
und nachher leben!
Der Vortragskünstler OTTO REUTTER (1870–1931)
1
Etwa zwanzig Kilometer vor Theresienkron überholte ein junger Lackel auf seinem Rennrad den zügig die Pedale tretenden Jakob. Er überholte ihn auf die gemeinste Art und Weise und schnitt ihm dabei so heftig den Weg ab, daß Jakob bremsen mußte. Und fluchen.
Der Lackel trug Sportschuhe, eine Turnhose und ein gelbes Trikot, auf dessen Rückseite RADSPORTVEREIN LINZ zu lesen war. Der Lackel kam sich ganz groß vor.
Kommst dir wohl ganz groß vor, Lackel, dachte Jakob, der einen weiten Weg hinter sich hatte, aber noch im Vollbesitz seiner sportgestählten Kräfte war. Na, dir werde ich jetzt mal was zeigen, du Schneider, du dreckiger!
Jakob beugte sich tief vor, schaltete die Gänge, trat heftiger und heftiger auf die Pedale und fuhr schneller und schneller. Die Straße war staubig, die Sonne schien am Vormittag dieses 30. Oktober 1977.
Der Knabe vom RADSPORTVEREIN LINZ staunte nicht schlecht, als vier Minuten später Jakob an ihm vorbeisauste, sein Rad genauso gemein nach rechts riß, wie zuvor der andere es getan hatte, und zu dem Knaben auch noch kopfschüttelnd zurückblickte, indessen dieser notbremsen mußte. Mit heruntergeklapptem Unterkiefer stierte der Sportsfreund dem Herrn im grauen Flanell, mit Spangen an den Hosenbeinen, nach. Der hat doch schon ganz graue Haare, der Opa, dachte er, der ist ja mindestens fünfzig!
So was gibt’s doch nicht.
Der Lackel nahm die Verfolgung auf. Aber er erreichte den Opa nie mehr, er fuhr nur in der von diesem verursachten Staubwolke. Schließlich ließ er hustend und mit tränenden Augen von seinem Bemühen ab. Ich gäb’ was drum, wenn ich bloß wüßt’, wer dieser Kerl gewesen ist, dachte er, denn er ging noch ins Gymnasium, und da lasen sie gerade Goethes ›Faust‹. Mit verteilten Rollen. Der Knabe war das Gretchen. (Dereinst in Rußland war Jakob das Gretchen gewesen.) Und das Gretchen sagt so etwas Ähnliches.
Fünfundzwanzig Minuten später sauste Jakob an einem Schild mit der Aufschrift THERESIENKRON vorbei. Er mäßigte sein Tempo, als er in das Dorf einfuhr.
Dorf?
Er konnte nur staunen!
Da gab es jetzt eine richtige Hauptstraße mit Nebenstraßen und also Kreuzungen mit Verkehrsampeln! Da gab es moderne Häuser! Da gab es einen Supermarkt, ein Kino mit Riesenplakaten, die tolle Pornofilme ankündigten, alle möglichen Arten von Geschäften, drei Bankfilialen, ein schmuckes Postamt!
Junge, Junge, überlegte Jakob, 1946, da habe ich hier in der Nähe gedacht: Gebt mir sieben Jahre Zeit für meinen Krieg! Nun sind es dreißig Jahre geworden. Und was habe ich eigentlich erreicht in meinem Dreißigjährigen Krieg? Ist vielleicht nicht doch der ›Leckt-mich-am-Arsch‹-Standpunkt das einzig Richtige?
Die Leute, denen Jakob begegnete, schauten ihm neugierig nach. Er kannte keinen einzigen, und sie kannten den seltsamen Fremden nicht. Bei der nächsten Kreuzung hielt Jakob und überlegte scharf. Moment mal, wo war jetzt gleich das Haus von der Pröschl-Bäuerin? Das ist ja alles völlig neu hier. Fragen werde ich wohl müssen, so sehr hat sich alles verändert. Oder nein, Moment, da drüben, hinter der Allee, sehe ich die Kirche, die schon 1946 da gestanden hat! Und gleich rechts davon war doch das Haus der guten Frau Luise Pröschl. Na, wir werden ja gleich feststellen, ob es noch da ist.
Jakob bog ab und radelte in Richtung Kirche. Dann erblickte er das Pröschl-Haus. Es war noch da! Aber neu gestrichen, ganz weiß die Mauern, leuchtend grün die Fensterrahmen und -läden, und die Fensterscheiben blitzten nur so. 1946 ist das alles romantisch dreckig gewesen hier, dachte Jakob, über glatten Asphalt radelnd. Da hat es auch noch keinen Asphalt gegeben, nur holprige Wege voller Kuhfladen und Mist vom Misthaufen …
Jakob erreichte das Pröschl-Haus, lehnte das Rad gegen die weiße Wand und klingelte an der Eingangstür. Nichts rührte sich. Er klingelte noch einmal. Eine Frauenstimme ertönte: »Ja doch, ja, ich komm’ ja schon!« Jakobs Schläfennarbe klopfte plötzlich stürmisch.
Die grüngestrichene Tür wurde aufgerissen. In ihrem Rahmen stand, außer Atem, eine Küchenschürze umgebunden – der Hase. Jakob lächelte sein berühmtes Lächeln, während der Hase, im größten Schock seines Lebens, stammelte: »Der Bär …«
»Grüß Gott«, sagte Jakob, »also da bin ich wieder.« Es wäre unklug, dachte er, hinzuzufügen: ›Nach dreißig Jahren‹. Mit so etwas kann man die schönsten Wirkungen zunichte machen.
»Bär!« schrie der Hase jetzt, nachdem er sich ein wenig – ein wenig nur – von dem Schreck in der Vormittagsstunde erholt hatte. »Bär! Bär! Bär!«
Jakob brummte, wie er vor dreißig Jahren gebrummt hatte. Brummen ist noch das klügste, dachte er. Unmöglich kann ich sofort sagen, was mir da beim Wenzel eingefallen ist! So kracht man nicht mit der Tür ins Haus. Da würde der Hase ja was fürs Leben abkriegen! Nein, nein, so geht das nicht. Langsam, Jakob, langsam. Im übrigen dachte er, also Hut ab, der Hase schaut fabelhaft aus! Das braune, volle Haar, die rehbraunen Augen und alle Rundungen immer noch dort, wo sie 1946 gewesen sind. An diesem Hasen ist die Zeit offenbar spurlos vorübergegangen. Dieser Hase ist schon ein ganz außergewöhnlicher Hase. Jakob verspürte ein heftiges Rühren. Ach, dachte er, jetzt fühl’ ich mich endlich zu Hause. Bei meinem guten Hasen. Aber um Gottes willen, was wird mit mir, wenn der mich sofort wieder rausschmeißt?
Davon war indessen keine Rede.
Der Hase ließ den Kochtopf fallen, den er in der Hand gehalten hatte, Kartoffeln rollten Jakob um die Schuhe, und dann stürzten dem guten Hasen Tränen in die Augen, und der gute Hase als ganzer stürzte Jakob in die Arme. Der taumelte ein wenig rückwärts, so stark war die Wucht des Zusammenpralls. Der Hase umklammerte den Bären und küßte ihn wild auf den Mund, dann auf die Nase, auf die Stirn, auf die Wangen, auf die Ohren, er küßte einfach überallhin, wo er küssen konnte. Und flüsterte dazu: »Du bist wiedergekommen … Mein Gott, mein Gott, du bist wiedergekommen … Ich werd’ verrückt! Der Bär ist da! Der Bär ist da!«
»Na ja«, brummte Jakob, dem dieser ekstatische Ausbruch langsam unheimlich wurde, »du hast doch immer gesagt, Hase und Bär gehören zusammen für immer!«
»Für immer!« schluchzte Julia auf. Und weiter ging die Küsserei. »Und du fährst nie mehr weg?«
»Nie … hrm … mehr.«
»Du bleibst jetzt bei mir bis … bis … bis …«
»Na!«
»… bis daß der Tod uns scheidet?«
»Hase! Was ist das für ein Blödsinn?«
»Ich weiß nicht, Bär. Natürlich habe ich gemeint: bis an das Ende unserer Tage?«
»Viel besser klingt das auch nicht«, brummte Jakob. »Was für Bücher liest du denn? Was für einen Umgang hattest du denn?«
»Ach, Bär, ich bin ja vollkommen außer mir! Du darfst jetzt doch nicht jedes Wort, das ich sage, auf die Waagschale legen! Ich lese nur gute Bücher. Und einen Umgang habe ich überhaupt nicht gehabt seit einer Ewigkeit. Nur früher. Und das waren lauter Männer, die ich überhaupt nicht geliebt habe! Ich zähle sie dir sofort auf, ich lasse keinen aus, das schwöre ich! Das war also zuerst einmal – nach der Geschichte mit dem Dingsda, dem Erich Fromm – nie wieder nennen wir seinen Namen, nein, ja? – also da war der Quentin in Kalifornien, ein sehr netter Kerl …«
»Hase, hör auf! Du wirst mir doch nicht in den ersten zwei Minuten eine Generalbeichte ablegen! Ich weiß ja nicht einmal, ob du mich überhaupt noch willst. Wenn nicht, kannst du dir das alles ersparen.«
»Ob ich dich noch will?« Der Hase machte sich wieder über Jakob her.
»Wenn einer … was zu beichten … hat«, brummte Jakob, sooft er Luft bekam, »…dann bin … ich … es …«
»Beichten? Deine Weiber? Daß ich nicht lache. Das weiß ich doch, wie du dich rumgetrieben hast!«
»Nein, ich fürchte, das weißt du nicht …«
»Doch weiß ich! In der ganzen Welt hast du Weiber gehabt! Hunderte! Tausende!«
»Na, also, das ist ja nun wieder mächtig übertrieben!«
»Ich kenne dich doch, Bär! Alle Bären sind gleich! Glaubst du, das macht mir was? Einen Dreck macht es mir! Du kannst doch keine so liebgehabt haben wie mich! Sonst wärst du nicht zu mir zurückgekommen – oder? Na also!«
Das wird aber wirklich peinlich, dachte Jakob. Der Hase ist offenbar nicht informiert über das, was sich ereignet hat. Daß ich mit dem Fahrrad und nicht mit einem Rolls samt Chauffeur gekommen bin, hat Julia in ihrer Aufregung nicht bemerkt. Also, das muß ich sofort in Ordnung bringen.
»Hör mal, Hase, du weißt nicht, wie es um mich steht!«
»Klar weiß ich es, Bär!« behauptete Julia, an seinem linken Ohrläppchen nagend. »Pleite bist du. Haben tust du nichts mehr! Nicht einen Tupf! Gerade das Fahrrad da und den schäbigen Koffer und was in dem drin ist! Alles andere haben dir die Banken weggenommen! Du bist genauso arm, wie du vor dreißig Jahren gewesen bist. Aber gerade das macht mich ja so besonders glücklich!«
»Daß ich pleite bin?«
»Ja!«
»Lieb von dir. Woher weißt du das denn überhaupt?«
»Das wissen doch alle! Das hat ja in allen Zeitungen gestanden! Im Radio haben sie es gesagt und im Fernsehen!«
»Ganz Theresienkron weiß es also? Na servas!«
»Ganz Österreich! Ganz Deutschland! Die ganze Welt!« Der Hase zog den Bären hastig mit sich. »Komm ins Haus! Da drüben stehen sie schon und starren uns an!«
Er folgte ihr stolpernd.
»Bist du allein hier?«
»Ja. Die liebe Frau Pröschl ist tot! Sie hat mir alles vererbt!« Jakob sah sich staunend um. Auch innen war das Haus neu hergerichtet, verändert, modern und glänzend vor Sauberkeit. »Du mußt ja einen Mordshunger haben! Wo kommst du her?«
»Aus dem Taunus.«
»Was?«
»Aber ich habe ja sechsmal übernachtet.«
»Trotzdem. Vom Taunus nach Theresienkron geradelt – du bist sicher todmüde!«
»Müde? Keine Spur! Hase, wofür hältst du mich? Für einen alten Kacker?«
»Niemals, Bärchen! Donnerwetter, vom Taunus bis hierher! Das soll dir erst mal einer nachmachen! Aber Hunger hast du – oder?«
»Na ja, also wenn du mich so fragst …«
»Geh da hinein, Bärchen. Ins Eßzimmer. Ich komme gleich.«
Julia stürzte davon.
Jakob betrat das Eßzimmer, das offenbar ebenfalls funkelnagelneu war. Er setzte sich und griff in die Tasche. Hasenpfote, ich danke dir, weil du gemacht hast, daß bisher alles so gut gegangen ist und Julia mich nicht gleich rausgeschmissen hat. Hasenpfote, liebe, bitte, mach jetzt auch, daß alles so gut weitergeht und nix passiert …
Tiefer und tiefer versank Jakob in sein Hasenpfotengebet. Es wurde ihm geradezu schwindlig von so viel Beterei.
Die Tür ging auf. Julia kam herein. Ihre Küchenschürze hatte sie abgenommen. Sie trug ein Tablett, das sie auf den großen Tisch stellte.
»So«, sagte Julia Martens strahlend.
Auf dem Tablett erblickte Jakob ein Glas und zwei Flaschen ›Preblauer‹. Ferner ein Stück Pappendeckel, auf das Julia in fliegender Hast mit Buntstiften ein großes Herz, einen Bären und einen Hasen sowie viele Blumen gezeichnet hatte, unter denen zu lesen stand: HERZLICH WILLKOMMEN IM HASENSTALL, GELIEBTER BÄR! Und dann – und jetzt traten Tränen in Jakobs Augen – stand da noch etwas: ein Teller und darauf ein, zwei, drei dick bestrichene Schmalzbrote!
2
»Don’t know why, there’s no sun in the sky! Stormy weather! Since my man and I ain’t together, it keeps raining all the time …«, ertönte die aufregend heisere Stimme der berühmten schwarzhäutigen amerikanischen Blues-Sängerin Lena Horne aus dem Lautsprecher eines Plattenspielers. Die Platte, die da auf dem Teller kreiste, war alt – mehr als dreißig Jahre alt, zerkratzt, verschrammt und total abgespielt. Man konnte Lena Horne kaum verstehen.
»Du hast immer noch ›Stormy weather‹?« sagte Jakob gerührt.
»Natürlich«, antwortete Julia. »Das ist doch unser Lied! Diese Platte habe ich in der ganzen Welt mit mir herumgeschleppt und sie mir immer wieder vorgespielt!«
»… Stormy weather! Just can’t keep my thoughts together …«
»Weißt du, Bärchen, also es ist eigentlich ein großes Glück, daß wir solange auseinandergekommen sind und uns erst jetzt wiedergefunden haben«, sagte der Hase. Das war am Morgen des nächsten Tages. Der Hase lag neben dem Bären im Bett und war ganz voller Seligkeit. Sie hatten es gerade ausgiebig hinter sich. Und der Plattenspieler stand neben dem Bett.
»Denn«, fuhr der Hase fort, »wenn wir zusammengeblieben wären, dann hättest du mich doch sicher auf Teufel komm raus betrogen, als du das viele Geld gehabt hast, und ich hätte mich revanchiert natürlich, und es wäre nie etwas aus uns beiden geworden. So aber, weil du mich verlassen hast, ist alles anders! Du hast dich ausgetobt, und jetzt bist du wieder bei mir! Allein wegen dieser Chinesischen Schlittenfahrt lohnt es sich, dreißig Jahre auf einen Mann zu warten! Das ist ja vielleicht was. Ich kann mich kaum noch bewegen!«
»Weil du aber auch gleich drei Fahrten nacheinander hast haben wollen«, erinnerte Jakob zärtlich.
»Na ja, wenn das doch so aufregend ist, Bärchen!«
»Man tut, was man kann«, sagte Jakob mit gespielter Bescheidenheit.
»Aber ich bin nicht einverstanden mit dem, was du da vorher gesagt hast.«
»Was habe ich vorher gesagt?« Julia streichelte ihren Jakob unablässig.
»Über unsere Trennung! Denk doch bloß an die Gefahren, in denen du geschwebt hast – sehr oft gewiß, ohne es überhaupt zu ahnen!«
»… since he went away, cold fear walked in to wreck me! If he stays away ol’ rockingchair will get me …«
»Was für Gefahren?«
»Hast du eine Ahnung, was für Gefahren es gibt in dieser Welt! Du mit deinen Weltreisen! Eine dunkle Nacht. Du bist allein. Vielleicht ein Ungewitter. Und wer kommt? Ein Irrer! Ein Frauenmörder! Ein Einbrecher genügt schon! Und du wachst auf, und bevor du noch schreien kannst …«
»Ich hätte gar nicht geschrien«, gab der Hase bekannt.
»Du hättest gar nicht …«
»Nein.«
»Sondern?«
Der Hase wandte Jakob den nackten Rücken zu, öffnete eine Nachttischschublade, entnahm ihr einen Gegenstand, bückte sich und sah dann Jakob an.
»Da! Schau dir das an!«
Jakob schaute sich ›das‹ an. ›Das‹ war eine Neun-Millimeter-Pistole der US Army. Riesengroß sah sie aus in der Hand des Hasen, der gelassen und kühl bis ins Hasenherz hinein sagte: »Wer immer gekommen wäre, Bärchen, er hätte keine Freude gehabt. Zuerst einmal hätte ich ihn in den Bauch geschossen und dann an die Decke. Das hat mir einmal ein Freund – ich habe ihn dir gebeichtet – Larry, der Kriminalkommissar in Sydney, dieser nette Kerl …«
»Jajaja«, sagte Jakob gereizt.
»Was bist du denn so gereizt? Ich habe gedacht, wir haben keine Geheimnisse voreinander! Du hast es überhaupt nötig mit deinem ›Jajaja‹! Was du Weiber gehabt hast!«
»Aber ich protze nicht mit ihnen!«
»Ich protze doch auch nicht, Bärchen! Ich wollte dir doch nur erzählen, was dieser Kriminalkommissar in Sydney mir geraten hat.«
»Was hat dieser Kriminalkommissar in Sydney dir denn geraten?«
»Immer zuerst totschießen so einen Kerl, der mich überfallen will – und dann in die Decke! Und dann nach der Polizei schreien. Und der hätte ich gesagt: Das ist der erste Schuß, meine Herren, der da in der Decke! Das war der Warnschuß, damit der Kerl sieht, ich meine es ernst, und bleibt stehen! Tja, er ist aber nicht stehengeblieben, sondern er ist weiter auf mich eingedrungen, und da habe ich dann eben in Selbstverteidigung einen zweiten Schuß abgeben müssen, und der hat ihn in den Bauch getroffen. Sowas ist absolut idiotensicher! Das glaubt einem jedes Gericht! Muß es! Denn keiner kann einem das Gegenteil beweisen!«
Jakob starrte die große Pistole fasziniert an.
»Wo hast du das Ding denn überhaupt her?«
»Weißt du denn nicht mehr, Jakob … Ach nein, das kannst du ja nicht wissen, da warst du ja schon fort! Also, wie der Misaras und der Jesus und der Mojshe Faynberg auch weggekommen sind vom Fliegerhorst Hörsching, da hat mir der gute Mojshe zuvor noch diesen Revolver …«
»Diese Pistole!«
»Unterbrich mich nicht, Bärchen. Also, diese Pistole hat mir der gute Mojshe noch gegeben und mir das Schießen beigebracht und mir sogar bei den Behörden einen Waffenschein besorgt! Ja, da staunst du, was? Damit mir nichts zustößt, hat der gute Mojshe das gemacht. Seither bin ich mit dem Ding da geschützt.«
»Gib her«, sagte er heiser, entriß dem entgeisterten Hasen die Waffe und rannte im Pyjama, auf bloßen Füßen, zur Tür. Die Tür führte in das Arbeitszimmer des Hasen.
»Bär!« schrie dieser entsetzt. »Bär! Was willst du mit dem Revolver? Was hast du vor? Bleib stehen! Ich dulde es nicht, daß du … Ich verbitte mir, daß du mit dem Revolver … Sofort gibst du den Revolver zurück!« Doch Jakob gab nichts zurück. Er war schon ins Nebenzimmer gerannt. Die Tür hinter ihm fiel zu.
Der Hase purzelte aus dem Bett.
»…cold fear walked in to wreck …«, konnte Lena Hornes Stimme gerade noch herausbringen. Dann bekam der Plattenspieler, der auf der Erde stand, versehentlich einen Fußtritt, die Nadel glitt kreischend über die ganze Platte, und der Apparat schaltete sich aus.
Der Hase raste in einem langen Nachthemd auf die Tür zu. Noch ehe er sie erreichte, drehte sich zweimal ein Schlüssel im Schloß. Der Hase krachte gegen das Holz, rüttelte an der Klinke und schrie: »Jakob! Bär! Um alles in der Welt, mach auf! Komm zurück! Was immer dir zugestoßen ist, wir sind doch wieder zusammen, und das ist die Haupt …«
Nebenan krachte ein Schuß.
Der Hase kippte um und saß auf dem Boden.
»Heiland im Himmel«, flüsterte der Hase. »Er hat sich was angetan … Er hat sich erschossen … Er hat plötzlich an alles denken müssen, was sie ihm weggenommen haben und daß er wieder ganz arm ist … Bär!« schrie der Hase so laut es ging und schlug mit den kleinen Fäusten gegen die Tür. Keine Antwort. Nicht ein Laut. Totenstille. Der Hase brach in Tränen aus. »Er hat sich was angetan … Er lebt nicht mehr …«, flüsterte Julia. Ein Weinkrampf schüttelte sie. »Er ist tot! Mein Bär ist tot! Ich will auch tot sein! Ich will auch nicht mehr leben! Nein, sterben will ich, wenn er gestorben ist!«
Da krachte ein zweiter Schuß.
Der Hase erstarrte.
Wieso ein zweiter Schuß? Hat der Bär beim ersten danebengeschossen?
Dann hat er noch einmal geschossen und jetzt richtig getroffen!
»Bär!« schrie der Hase.
Da krachte nebenan ein dritter Schuß.
Julia, die sich schon halb erhoben hatte, sackte wieder zusammen.
Wieso ein dritter Schuß? Ein Mensch kann doch nicht zweimal danebenschießen, wenn er sich umbringen will! Na, aber dreimal nacheinander umbringen kann er sich doch auch nicht!
Panik verlieh dem Hasen Riesenkräfte. Einen Stuhl als Rammbock vor sich, so stürmte er auf die Tür zu und versuchte, sie aufzubrechen. Beim ersten Mal zitterte schon das Holz. Bei der zweiten Attacke flog der Hase mitsamt Tür und Sessel wie eine Kanonenkugel ins Nebenzimmer. Die Tür war aus dem Rahmen gebrochen. Der Hase tat sich weh, fluchte (was er noch nie im Leben getan hatte), hielt sich den Schädel und hob dann langsam, langsam den Kopf, um den armen Bären zu sehen.
Der arme Bär stand drei Schritte vor einem Tischchen, fluchte gleichfalls (aber viele Male gräßlicher), hielt die Neun-Millimeter-Kanone in beiden Händen und zielte auf eine alte eiserne Kassette, die er in die Mitte dieses Tischchens gestellt hatte.
Jetzt bin ich hinüber, dachte der arme Hase.
Achgottachgottachgott, ist das alles entsetzlich.
»Bär!« brüllte der Hase mit solcher Lautstärke, wie man sie bei einem derart zarten Geschöpf niemals vermutet hätte. Auch Jakob nicht. Der drehte sich gleich einem Schlafwandler um und fragte leiernd: »Was-machst-denn-du-da-Hase?«
»Und du? Was machst du?« Der Hase rappelte sich hoch. Das Nachthemd zerriß. »Warum schießt du auf die Kassette? Bist du wahnsinnig geworden?«
»Weil du mir gestern abend gesagt hast, daß du die beiden Schlüssel von den beiden Schlössern verloren hast, und weil in der Kassette das Grundsatzprotokoll über das Theresienkroner Eierkollektiv liegt! Ich habe es selber hineingelegt, damals, Anfang November 1946, das weißt du noch genau, hast du gestern abend gesagt! Der feine alte Geistliche Herr hat es geschrieben, weil er die schönste Schrift von uns allen gehabt hat. Der ruht nun auch schon lange in Gottes Schoß. Wie hast du bloß die Schlüssel verlieren können, Hase?«