Percy Jackson 02 - Im Bann Des Zyklopen
Rick Riordan
(2012)
Außerdem von Rick Riordan im Carlsen Verlag erschienen:
Percy Jackson – Diebe im Olymp
Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen
Percy Jackson – Der Fluch des Titanen
CARLSEN Newsletter
Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!
www.carlsen.de
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,
Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,
können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2006
Neu bearbeitete Ausgabe 2010
Originalcopyright © 2005 by Rick Riordan
Originalverlag: Hyperion Books for Children
Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Agency
Originaltitel: PERCY JACKSON AND THE OLYMPIANS –
THE SEA OF MONSTERS
Umschlagbild © Helge Vogt/trickwelt nach einem Entwurf von Kerstin Schürmann
Umschlaggestaltung und -typografie © Kerstin Schürmann, formlabor
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92001-7
Mehr über die griechischen Gottheiten,
Helden und Monster unter
www.percyjackson.de
Alle Bücher im Internet unter
www.carlsen.de
Für Patrick John Riordan,
den besten Geschichtenerzähler der Familie
Inhalt
Mein bester Freund geht ein Brautkleid kaufen 7
Ich spiele Völkerball mit Kannibalen 16
Wir winken dem Taxi der ewigen Qualen 35
Tyson spielt mit dem Feuer 49
Ich bekomme einen neuen Mitbewohner 61
Dämonische Tauben greifen an 82
Ich nehme Geschenke von einem Fremden an 103
Wir schiffen uns auf der Prinzessin Andromeda ein 128
Ich erlebe das schlimmste Familientreffen aller Zeiten 145
An Bord genommen von toten Südstaatensoldaten 160
Clarisse lässt die ganze Kiste hochgehen 176
Wir mieten uns in C.C.s Wellness-Hotel ein 196
Annabeth will nach Hause schwimmen 221
Wir treffen die Schafe der Verdammnis 240
Niemand bekommt das Vlies 255
Ich gehe mit dem Schiff unter 266
Überraschung am Strand von Miami 274
Invasion der Partyponys 285
Das Wagenrennen endet mit einem Knall 300
Das Vlies ist viel zu magisch 318
Glossar 330
Mein bester Freund geht ein Brautkleid kaufen
Mein Albtraum fing so an:
Ich stand auf einer verlassenen Straße in einem kleinen Ort am Meer. Es war mitten in der Nacht. Ein Sturm wütete. Wind und Regen schüttelten die Palmen am Straßenrand. Rosafarbene und gelbe Häuser mit Stuckfassaden rahmten die Straße, die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Einen Block weiter, hinter einer Reihe von Hibiskusbüschen, tobte der Ozean.
Florida, dachte ich. Ich habe keine Ahnung, woher ich das wusste. Ich war noch nie in Florida gewesen.
Dann hörte ich Hufe über das Pflaster klappern. Ich fuhr herum und sah meinen Freund Grover um sein Leben rennen.
Ja, ich habe wirklich Hufe gesagt.
Grover ist ein Satyr. Von der Taille aufwärts sieht er aus wie ein typischer schlaksiger Teenager mit einem flaumigen Ziegenbärtchen und fürchterlicher Akne. Er hinkt beim Gehen auf seltsame Weise, aber solange man ihn nicht ohne Hose antrifft (was ich wirklich nicht empfehlen möchte), würde man nie auf die Idee kommen, er könnte etwas Un-Menschliches an sich haben. Ausgebeulte Jeans und Fußattrappen verbergen die Tatsache, dass er Fell am Hintern und Hufe hat.
In der sechsten Klasse war Grover mein bester Freund gewesen. Er war mit mir und einem Mädchen namens Annabeth losgezogen, um die Welt zu retten, aber seit dem vergangenen Juli, als er allein zu einem gefährlichen Auftrag aufgebrochen war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen – und es war ein Auftrag, von dem noch nie ein Satyr zurückgekehrt war.
Also, in meinem Traum rannte Grover um sein Leben und hielt seine Menschenschuhe in der Hand, wie er das eben macht, wenn er sehr schnell sein muss. Er klapperte an den kleinen Andenkenläden und den Surfbrettvermietungen vorbei. Der Wind bog die Palmen fast bis auf den Boden.
Grover hatte schreckliche Angst vor etwas, das ihn verfolgte. Er kam offenbar gerade vom Strand. Feuchter Sand klebte in seinem Fell. Er war irgendwo entkommen. Er versuchte, vor … irgendetwas davonzurennen.
Ein markerschütterndes Knurren übertönte den Sturm. Hinter Grover, am Ende des Blocks, ragte eine schattenhafte Gestalt auf. Sie wischte eine Straßenlaterne beiseite, die einen Schauer von Funken aufstieben ließ.
Grover stolperte und wimmerte vor Angst. Er murmelte vor sich hin: Muss es schaffen. Muss sie warnen!
Ich konnte nicht sehen, was ihn jagte, aber ich konnte dieses Etwas knurren und fluchen hören. Der Boden bebte, als es näher kam. Grover jagte um eine Straßenecke und fuhr zurück. Er befand sich in einer Sackgasse, deren Abschluss ein Platz bildete, der von Läden gesäumt war. Keine Zeit umzukehren. Die nächstgelegene Tür war vom Sturm aufgeweht worden. Das Schild über dem verdunkelten Schaufenster trug die Aufschrift »St. Augustine Brautausstattung«.
Grover stürzte hinein. Er ließ sich hinter ein Gestell mit Brautkleidern fallen.
Der Schatten des Ungeheuers bewegte sich vor dem Laden vorbei. Ich konnte dieses Etwas riechen – eine Übelkeit erregende Kombination von nasser Schafwolle und verfaultem Fleisch und diesem seltsamen beißenden Körpergeruch, den nur Ungeheuer haben, wie ein Stinktier, das sich von mexikanischer Küche ernährt.
Grover kauerte zitternd hinter den Brautkleidern. Der Schatten des Ungeheuers zog weiter.
Stille, nur der Regen war zu hören. Grover holte tief Atem. Vielleicht war das Wesen nicht mehr da.
Da loderte ein Blitz auf. Die Frontseite des Ladens explodierte und eine grauenhafte Stimme brüllte: »DAS GEHÖRT MIIIIIIIR!«
Zitternd fuhr ich in meinem Bett hoch.
Es gab keinen Sturm. Und kein Ungeheuer.
Das morgendliche Sonnenlicht fiel durch mein Schlafzimmerfenster.
Ich glaubte, einen Schatten über das Glas huschen zu sehen – eine menschenähnliche Gestalt. Aber dann wurde an meine Schlafzimmertür geklopft, meine Mutter rief: »Percy, du kommst zu spät!« – und der Schatten vor dem Fenster verschwand.
Sicher hatte ich mir alles nur eingebildet. Ein Fenster im fünften Stock, neben einer wackeligen alten Feuerleiter … da draußen konnte niemand gewesen sein.
»Na los, mein Schatz«, rief meine Mutter. »Letzter Schultag. Du müsstest doch begeistert sein. Fast hast du es geschafft.«
»Schon unterwegs«, brachte ich heraus.
Ich schob die Hand unter mein Kopfkissen. Meine Finger schlossen sich wie zu meiner Beruhigung um den Kugelschreiber, der nachts immer dort lag. Ich zog ihn hervor und betrachtete die altgriechische Inschrift, die in den Kugelschreiber eingraviert war:
Anaklysmos. Springflut.
Ich spielte mit dem Gedanken, die Kappe abzudrehen, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ich hatte Springflut schon so lange nicht mehr benutzt.
Und außerdem hatte meine Mutter mir das Versprechen abgenommen, nie mehr tödliche Waffen in der Wohnung zu benutzen, seit ich einmal einen Wurfspeer in die falsche Richtung geschwenkt und die Vitrine mit ihrem Porzellan erwischt hatte.
Ich legte Anaklysmos auf meinen Nachttisch und quälte mich aus dem Bett.
Ich zog mich an, so schnell ich konnte. Ich versuchte, nicht an meinen Albtraum oder an Ungeheuer oder an den Schatten vor meinem Fenster zu denken.
Muss es schaffen. Muss sie warnen!
Was hatte Grover damit gemeint?
Ich krümmte drei Finger, hielt sie über mein Herz und schob meine Hand von mir weg – eine uralte Geste, um Übel abzuwehren, die ich von Grover gelernt hatte.
Der Traum konnte einfach nicht Wirklichkeit gewesen sein!
Der letzte Schultag. Meine Mom hatte Recht. Ich hätte vor Begeisterung außer mir sein müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein ganzes Schuljahr durchgehalten, ohne von der Schule zu fliegen. Keine seltsamen Unfälle. Keine Kämpfe im Klassenzimmer. Keine Lehrerinnen, die sich in Ungeheuer verwandelten und versuchten, mich mit vergiftetem Mensaessen oder explodierenden Hausaufgaben umzubringen. Am nächsten Morgen würde ich mich auf den Weg zu dem Ort machen, der mir der liebste auf dieser Welt war – ins Camp Half-Blood.
Nur noch einen Tag. Ganz bestimmt würde nicht einmal ich jetzt noch alles vermasseln können.
Wie immer hatte ich keine Ahnung, wie sehr ich mich da irrte.
Meine Mom servierte zum Frühstück blaue Waffeln und blaue Eier. In der Hinsicht ist sie witzig, immer feiert sie besondere Gelegenheiten mit blauem Essen. Ich glaube, auf diese Weise will sie sagen, dass alles möglich ist. Percy kann in die achte Klasse versetzt werden. Waffeln können blau sein. Kleine Wunder sind möglich.
Ich aß am Küchentisch, während meine Mom spülte. Sie trug ihre Arbeitsuniform – einen Rock mit Sternenmuster und eine rot-weiß gestreifte Bluse. Darin verkaufte sie Süßigkeiten bei Sweet on America. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Die Waffeln schmeckten großartig, aber ich haute wohl nicht so rein wie sonst. Meine Mom sah mich an und runzelte die Stirn. »Percy, ist alles in Ordnung?«
»Ja … alles bestens.«
Aber sie wusste immer, wenn mir etwas zu schaffen machte.
Sie wischte sich die Hände ab und setzte sich mir gegenüber. »Schule oder …«
Sie brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Ich wusste, wonach sie fragen wollte.
»Ich glaube, Grover steckt in Schwierigkeiten.« Ich erzählte ihr von meinem Traum.
Sie schob die Lippen vor. Wir sprachen so gut wie nie über diesen anderen Teil meines Lebens. Wir versuchten, so normal zu leben wie möglich, aber meine Mom wusste alles über Grover.
»Ich würde mir nicht zu große Sorgen machen, Schatz«, sagte sie. »Grover ist jetzt ein großer Satyr. Wenn es ein Problem gäbe, dann hätten wir das doch sicher erfahren, von … vom Camp …«
Ihre Stimme versagte. Ihre Schultern spannten sich, als sie das Wort »Camp« aussprach.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Nichts«, sagte sie. »Ich sag dir was. Heute Nachmittag werden wir das Ende des Schuljahrs feiern. Ich fahr mit dir und Tyson zum Rockefeller Center – zu diesem Skateboardladen, wo ihr so gern hingeht.«
Meine Fresse, das war ganz schön verlockend. Wir hatten immer Probleme mit dem Geld. Meine Mom besuchte Abendkurse und bestand darauf, mich auf eine Privatschule zu schicken, und deshalb konnten wir uns solche tollen Dinge wie einen Skateboardladen nie leisten. Aber etwas in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen.
»Moment mal«, sagte ich. »Ich dachte, wir packen nachher meinen Kram fürs Camp.«
Sie zog sich das Spültuch durch die Finger. »Na ja, Schatz, weißt du … ich habe gestern Abend mit Chiron gesprochen.«
Mein Herz wurde schwer. Chiron war der Unterrichtskoordinator in Camp Half-Blood. Er hätte sich niemals bei uns gemeldet, wenn es nicht wirklich böse Probleme gäbe.
»Er meint … es wäre vielleicht im Moment nicht so ganz sicher im Camp. Wir müssten das vielleicht verschieben.«
»Verschieben? Mom, wieso sollte es da nicht sicher sein? Das Camp ist doch der einzige sichere Aufenthaltsort auf der ganzen Welt für mich.«
»Normalerweise ja, Schatz. Aber bei den Problemen, die sie gerade haben …«
»Was denn für Probleme?«
»Percy … es tut mir sehr, sehr leid. Ich wollte eigentlich heute Nachmittag erst mit dir sprechen. Ich kann das jetzt nicht alles erklären. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob Chiron das kann. Es kam alles so plötzlich.«
Die Gedanken wirbelten nur so durch meinen Kopf. Wieso sollte ich nicht ins Camp fahren dürfen? Ich wollte eine Million Fragen stellen, doch gerade da schlug die Küchenuhr halb.
Meine Mutter wirkte irgendwie erleichtert. »Halb acht. Du musst los. Tyson wartet bestimmt schon.«
»Aber …«
»Percy, wir reden heute Nachmittag weiter. Jetzt gehst du zur Schule.«
Das war das Letzte, wozu ich Lust hatte, aber meine Mutter hatte diesen verletzlichen Blick – eine Art Warnung; wenn ich sie zu sehr bedrängte, würde sie in Tränen ausbrechen. Außerdem hatte sie Recht, was meinen Freund Tyson anging. Ich musste pünktlich an der U-Bahn-Station sein, sonst regte er sich schrecklich auf. Er hatte Angst, allein mit der U-Bahn zu fahren.
Ich suchte meine Sachen zusammen, blieb aber in der Tür stehen.
»Mom, dieses Problem im Camp – hat das … hat das irgendetwas mit meinem Traum von Grover zu tun?«
Sie mochte mir nicht in die Augen schauen. »Wir reden heute Nachmittag weiter, Schatz. Dann erkläre ich dir … alles, was ich weiß.«
Widerstrebend verabschiedete ich mich von ihr. Dann lief ich die Treppen hinunter, um die U-Bahn nicht zu verpassen.
Damals wusste ich es noch nicht, aber zu diesem nachmittäglichen Gespräch mit meiner Mom würde es niemals kommen.
Eine Sekunde lang sah ich im Sonnenlicht eine dunkle Gestalt – eine menschliche Silhouette vor der Klinkerwand, einen Schatten, der niemandem gehörte.
Dann flackerte der Schatten und war verschwunden.
Ich spiele Völkerball mit Kannibalen
Es schien ein ganz normaler Tag zu werden. So normal, wie das am Meriwether College Prep überhaupt nur möglich ist.
Das Meriwether ist nämlich eine »progressive« Schule mitten in Manhattan, was bedeutet, dass wir auf Sitzsäcken sitzen und nicht an Tischen und dass wir keine Noten kriegen und die Lehrer in Jeans und Rockkonzert-T-Shirts zur Arbeit kommen.
Dagegen hab ich auch gar nichts. Ich meine, ich hab ADHD, ich bin Legastheniker wie die meisten Halbblute, deshalb hatte ich es in normalen Schulen nie weit gebracht, ehe ich gefeuert wurde. Der Nachteil am Meriwether war aber, dass die Lehrer immer das Positive in allem sahen, und die Schüler waren nicht immer … na ja, positiv eben.
Nehmen wir die erste Stunde. Englisch. Die ganze Mittelstufe hatte das Buch »Der Herr der Fliegen« gelesen, wo lauter Jungs auf einer Insel stranden und durchdrehen. Und unsere Abschlussprüfung bestand darin, dass wir eine Stunde auf dem Hof verbringen sollten ohne irgendeine erwachsene Aufsicht und sehen, was dann passierte. Was passierte, war ein wildes Wettkneifen zwischen der siebten und der achten Klasse, dazu zwei Steinwerfereien und ein heftiges Basketballspiel. Der Anführer bei allem war der Obermacker der Schule, Matt Sloan.
Sloan war nicht groß oder stark, aber er verhielt sich so. Er hatte Augen wie ein Pitbull und eine wilde schwarze Mähne und trug immer teure, aber schäbige Klamotten, wie um aller Welt zu zeigen, dass die Kohle seiner Familie ihm ja so was von egal war. Einer seiner Vorderzähne war abgebrochen, seit er einmal mit dem Porsche seines Daddys losgefahren und gegen ein Schild mit der Mahnung »Langsam fahren – Kinder« gebrettert war.
Jedenfalls kniff Sloan erst mal alle, bis er den Fehler machte, das auch bei meinem Freund Tyson zu versuchen.
Ich sollte wohl etwas mehr über Tyson berichten.
Er war der einzige obdachlose Schüler am Meriwether College Prep. Soweit meine Mom und ich es uns zusammengereimt hatten, war er schon in ganz jungen Jahren von seinen Eltern verlassen worden, vermutlich, weil er so … anders war. Er war fast eins neunzig groß und hatte die Statur des Entsetzlichen Schneemenschen, aber er weinte viel und fürchtete sich so ungefähr vor allem, sogar vor seinem eigenen Spiegelbild. Sein Gesicht wirkte missgestaltet und brutal. Ich hatte keine Ahnung, welche Farbe seine Augen hatten, weil ich es niemals über mich brachte, meinen Blick höher wandern zu lassen als bis zu seinen krummen Zähnen. Seine Stimme war tief, aber er sprach merkwürdig, wie ein viel jüngeres Kind – vielleicht, weil er keine Schule besucht hatte, bevor er ans Meriwether kam. Er trug zerfetzte Jeans, verdreckte riesengroße Turnschuhe und ein kariertes Flanellhemd mit Löchern. Er stank wie eine Gasse in New York City, denn da lebte er, in einem Kühlschrankkarton in der Nähe der 72. Straße.
Das Meriwether Prep hatte ihn als gemeinnützige Tat adoptiert, damit alle Schüler dort sich wie richtig gute Menschen fühlen konnten. Leider konnten die meisten Tyson einfach nicht ausstehen. Wenn sie erst einmal entdeckt hatten, dass er trotz seiner gewaltigen Kraft und seines beängstigenden Aussehens ein riesiges Weichei war, dann fühlten sie sich richtig gut, wenn sie auf ihm herumhacken konnten. Ich war so ungefähr sein einziger Freund und das bedeutete, dass er auch mein einziger Freund war.
Meine Mom hatte sich eine Million Mal bei der Schule beschwert, weil Tyson dort nicht genug geholfen wurde. Sie hatte das Sozialamt eingeschaltet, aber es schien trotzdem nichts zu passieren. Die Sozialarbeiter behaupteten, dass Tyson nicht existierte. Sie schworen Stein und Bein, dass sie die Gasse besucht hatten, die wir ihnen beschrieben hatten, dass sie ihn aber nicht finden könnten. Wie man allerdings ein Riesenbaby in einem Kühlschrankkarton übersehen kann, übersteigt wirklich mein Vorstellungsvermögen.
Wie auch immer, Matt Sloan tauchte hinter Tyson auf und wollte ihn kneifen. Tyson geriet in Panik und schob Sloan ein wenig zu energisch weg. Sloan flog fünf Meter weiter auf den Spielplatz und knallte gegen die Schaukel für die Kleinen.
»Du Missgeburt!«, schrie Sloan. »Scher dich zurück in deinen Pappkarton!«
Tyson brach in Tränen aus. Er ließ sich auf einen Balancierbalken fallen, verbog dabei die Stange und schlug die Hände vors Gesicht.
»Nimm das zurück, Sloan!«, brüllte ich.
Sloan grinste nur hämisch. »Was mischst du dich da eigentlich ein, Jackson? Setz dich nicht immer für diese Missgeburt ein, dann kannst du irgendwann mal Freunde haben!«
Ich ballte die Fäuste. Ich hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte. »Er ist keine Missgeburt. Er ist nur …«
Ich suchte die richtigen Worte, aber Sloan hörte gar nicht zu. Er und seine großen, miesen Kumpels waren zu sehr mit Lachen beschäftigt. Ich fragte mich, ob ich mir das einbildete oder ob noch mehr Mistkerle mit Sloan herumhingen als sonst. Ich war daran gewöhnt, ihn mit zwei oder drei anderen Schülern zusammen zu sehen, aber an diesem Tag hatte er noch etwa ein halbes Dutzend mehr dabei, und ich war ziemlich sicher, dass ich die Typen allesamt zum ersten Mal sah.
»Warte nur bis zum Sport, Jackson«, rief Sloan. »Du bist ja so was von tot!«
Nach der ersten Stunde kam unser Englischlehrer Mr de Milo heraus, um sich das Gemetzel anzusehen. Er erklärte, wir hätten »Der Herr der Fliegen« super verstanden. Wir hätten seinen Kurs erfolgreich absolviert und würden nie im Leben zu gewaltbereiten Menschen heranwachsen. Matt Sloan nickte mit ernster Miene, grinste mir zu und ließ dabei seinen angeschlagenen Zahn sehen.
Ich musste Tyson versprechen, dass ich ihm in der Mittagspause ein Extra-Erdnussbutter-Sandwich kaufen würde, damit er mit Weinen aufhörte.
»Ich … ich bin eine Missgeburt?«, fragte er mich.
»Nein«, beteuerte ich zähneknirschend. »Matt Sloan ist eine.«
Tyson schniefte. »Du bist ein guter Freund. Werd dich nächstes Jahr vermissen, wenn … wenn ich nicht …«
Seine Stimme zitterte. Mir ging auf, dass er nicht wusste, ob er auch im nächsten Jahr noch als gemeinnützige Tat die Schule besuchen dürfte. Ich fragte mich, ob der Direktor sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, mit Tyson darüber zu reden.
»Mach dir keine Sorgen, Großer«, sagte ich. »Das kommt schon alles in Ordnung.«
Tyson sah mich dermaßen dankbar an, dass ich mir wie ein Superlügner vorkam. Wie konnte ich einem Jungen wie ihm versprechen, dass irgendetwas in Ordnung kommen würde?
Die nächste Prüfung hatten wir in Chemie. Mrs Tesla ließ uns Chemikalien mischen, bis uns irgendeine Explosion geglückt war. Tyson war mein Laborpartner. Seine Hände waren viel zu groß für die winzigen Phiolen, mit denen wir arbeiten sollten. Aus Versehen stieß er ein Tablett mit Chemikalien vom Tisch und ließ aus dem Mülleimer eine orangefarbene Pilzwolke aufsteigen.
Nachdem Mrs Tesla das Labor evakuiert und das Giftmüllräumkommando bestellt hatte, lobte sie Tyson und mich überschwänglich als die geborenen Chemiker.
Ich freute mich darüber, dass der Morgen schnell verging, denn so brauchte ich nicht zu sehr an meine Probleme zu denken. Ich konnte die Vorstellung, dass im Camp etwas nicht stimmen könnte, einfach nicht ertragen. Und schlimmer noch, ich konnte meinen bösen Traum nicht abschütteln. Ich hatte das entsetzliche Gefühl, dass Grover in Gefahr schwebte …
Während wir in Geografie Karten mit Längen- und Breitengraden zeichneten, öffnete ich mein Notizbuch und schaute das Foto an, das ich darin aufbewahrte – meine Freundin Annabeth im Urlaub in Washington, D.C. Sie trug Jeans und eine Jeansjacke über ihrem orangefarbenen T-Shirt mit dem Aufdruck CAMP HALF-BLOOD. Ihre blonden Haare hatte sie mit einem Tuch zurückgebunden. Sie stand mit verschränkten Armen vor dem Lincoln-Denkmal und schien mit sich überaus zufrieden zu sein, so als ob sie das Ding höchstpersönlich entworfen hätte. Annabeth möchte nämlich später Architektin werden, deshalb besucht sie immer wieder berühmte Denkmäler und so was. In der Hinsicht ist sie schon komisch. Sie hatte mir das Foto nach den Osterferien geschickt und ich sah es mir ab und zu an, um mich daran zu erinnern, dass sie existierte und ich mir Camp Half-Blood nicht einfach nur ausgedacht hatte.
Ich wünschte, Annabeth wäre bei mir. Sie hätte gewusst, was von meinem Traum zu halten war. Ich würde es ihr gegenüber nie zugeben, aber sie war intelligenter als ich, auch wenn sie mir manchmal auf die Nerven ging.
Ich wollte das Notizbuch gerade zuschlagen, als Matt Sloan die Hand ausstreckte und das Foto herausriss.
»He«, protestierte ich.
Sloan starrte das Bild an und machte große Augen. »Nie im Leben, Jackson. Wer ist das denn? Die ist doch nie im Leben deine …«
»Her damit!« Meine Ohren glühten.
Sloan reichte das Foto an seine miesen Kumpels weiter und die kicherten und fingen an, es zu zerpflücken, um daraus Papierkügelchen zu machen. Die neuen Typen mussten Besucher sein, denn alle trugen diese blödsinnigen »Hallo, ich heiße …«-Plaketten, die das Schulsekretariat austeilte. Sie hatten offenbar einen komischen Sinn für Humor, denn sie hatten sich abstruse Namen gegeben wie »Marksauger«, »Schädelfresser« und »Joe Zaster«. Und so hieß ja wohl kein Mensch.
»Die Jungs ziehen nächstes Jahr her«, protzte Sloan, als wollte er mir Angst machen. »Ich wette, die können das Schulgeld bezahlen, anders als dein zurückgebliebener Freund.«
»Er ist nicht zurückgeblieben.« Ich musste mich wirklich sehr beherrschen, um Sloan keine zu scheuern.
»Du bist so ein Versager, Jackson. Gut, dass ich dich im nächsten Jahr von deinem Elend erlösen werde.«
Seine Riesenkumpels benutzten mein Foto als Zahnstocher. Ich hätte sie zu Staub zerreiben mögen, aber Chiron hatte mir streng verboten, meinen Zorn jemals an normalen Sterblichen auszulassen, egal, wie schrecklich die auch sein mochten. Ich musste meine Kampflust für Ungeheuer aufsparen.
Aber trotzdem dachte ein Teil von mir, wenn Sloan nur wüsste, wer ich bin …
Es klingelte.
Als wir aus der Klasse liefen, flüsterte eine Mädchenstimme: »Percy!«
Ich schaute mich zwischen den Schließfächern um, aber niemand beachtete mich. Als ob irgendein Mädchen am Meriwether freiwillig in aller Öffentlichkeit meinen Namen nennen würde …
Ehe ich mir überlegen konnte, ob ich mir das eingebildet hatte oder nicht, stürzte eine ganze Bande von Jungs auf die Turnhalle zu und riss Tyson und mich mit. Jetzt stand Sport auf dem Stundenplan. Unser Lehrer hatte uns eine Runde Völkerball versprochen und Matt Sloan hatte gelobt, mich umzubringen.
Zum Turnen traten wir am Meriwether in himmelblauen Shorts und Batik-T-Shirts an. Glücklicherweise fand Sport meistens in der Halle statt, wir mussten also nicht wie eine Bande von Hippiekindern durch das Viertel laufen.
Ich zog mich so schnell wie möglich um, denn ich wollte nicht noch mal mit Sloan aneinandergeraten. Ich war gerade fertig, als Tyson rief: »Percy?«
Er hatte sich noch nicht umgezogen. Er stand neben der Tür zum Gewichteraum und presste seine Turnklamotten an sich. »Würdest du … äh …«
»Ja, klar.« Ich versuchte, nicht sauer zu klingen. »Sicher, Mann.«
Tyson verschwand im Gewichteraum. Ich stand vor der Tür Schmiere, während er sich umzog.
Ich fühlte mich gar nicht wohl, wenn ich das machte, aber ich tat es meistens. Es ist Tyson nämlich wahnsinnig peinlich, sich umziehen zu müssen. Ich nehme an, das liegt daran, dass er total behaart ist. Außerdem hat er seltsame Narben auf dem Rücken, aber ich habe mich nie getraut, ihn danach zu fragen.
Jedenfalls hatte ich schon erlebt, wie Tyson durchdrehte und die Türen von den Schließfächern riss, weil er beim Umziehen angemacht wurde.
Als wir in die Turnhalle kamen, saß Sportlehrer Nunley an seinem kleinen Tisch und las die »Sports Illustrated«. Nunley war ungefähr eine Million Jahre alt, hatte eine Gleitsichtbrille, keine Zähne und eine fettige Welle graues Haar. Er erinnerte mich an das Orakel im Camp Half-Blood, eine verschrumpelte Mumie, nur bewegte Lehrer Nunley sich seltener und rülpste auch nie grünen Rauch aus. Jedenfalls hatte ich das noch nicht erlebt.
Matt Sloan sagte: »Herr Lehrer, kann ich Kapitän sein?«
»Äh?« Nunley schaute von seiner Zeitschrift auf. »Ja«, murmelte er. »Mhm, hmmm.«
Sloan grinste und fing an, seine Mannschaft zu wählen. Er ernannte mich zum Kapitän der anderen Mannschaft, aber es war egal, wen ich mir aussuchte, denn alle guten Werfer und alle angesagten Leute scharten sich auf Sloans Seite. Zusammen mit den vielen Besuchern.
Ich hatte Tyson, Corey Bailer, den Computernerd, Raj Mandali, das Rechengenie, und ein halbes Dutzend andere, die in der Hackordnung allesamt ganz unten standen. Normalerweise hätte es gereicht, Tyson zu haben. Er allein war so gut wie eine halbe Mannschaft. Aber die Gäste in Sloans Team sahen fast so groß und stark aus wie er und sie waren immerhin zu sechst.
Matt Sloan kippte mitten in der Turnhalle einen Korb voller Bälle aus.
»Angst«, murmelte Tyson. »Riecht komisch.«
Ich sah ihn an. »Was riecht komisch?« Ich ging davon aus, dass er nicht von sich redete.
»Die da.« Tyson zeigte auf Sloans neue Freunde. »Riechen komisch.«
Die Gäste ließen ihre Fingergelenke knacken und schauten uns mordlüstern an. Ich fragte mich wirklich, woher sie wohl kamen. Irgendwoher, wo Kinder mit rohem Fleisch gefüttert und mit Stöcken geschlagen wurden.
Sloan blies in die Trillerpfeife des Lehrers und das Spiel begann.
Sloans Team rannte auf die Mittellinie zu. Raj Mandali neben mir brüllte etwas auf Urdu, vermutlich »Ich muss aufs Töpfchen«, und stürzte zum Ausgang. Corey Bailer versuchte, hinter die Matten zu kriechen und sich dort zu verstecken. Die anderen aus meinem Team gaben sich alle Mühe, sich ängstlich zusammenzukauern und nicht wie Zielscheiben auszusehen.
»Tyson«, sagte ich. »Komm, wir …«
Ein Ball knallte mir in den Bauch. Ich ging mitten in der Turnhalle zu Boden. Die gegnerische Mannschaft wollte sich ausschütten vor Lachen.
Vor meinen Augen flimmerte alles. Ich kam mir vor, als ob gerade ein Gorilla mit mir das Heimlich-Manöver probiert hätte. Ich konnte nicht glauben, dass irgendwer so hart werfen konnte.
Tyson schrie: »Percy, duck dich!«
Ich wälzte mich zur Seite, als noch ein Ball in Schallgeschwindigkeit an meinem Ohr vorüberjagte.
WUMMMM!
Der Ball knallte gegen die Wand und Corey Bailer fiepte.
»He«, brüllte ich zu Sloans Team rüber. »Wollt ihr uns umbringen?«
Der Gast namens Joe Zaster grinste mich fies an. Aus irgendeinem Grund sah er jetzt größer aus … noch größer als Tyson. Seine Armmuskeln spannten sein T-Shirt. »Das will ich doch hoffen, Perseus Jackson, das will ich doch hoffen!«
Als er meinen Namen nannte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Niemand nennt mich Perseus, außer die, denen meine wahre Identität bekannt ist. Freunde … und Feinde.
Was hatte Tyson gesagt? Die riechen komisch.
Ungeheuer.
Die Gäste, die um Matt Sloan herumstanden, wurden immer größer. Sie waren keine Jungen mehr. Sie waren Riesen von zwei Metern vierzig mit wilden Augen, spitzen Zähnen und behaarten Armen, die mit Schlangen und Hulamädels und Valentinsherzen tätowiert waren.
Matt Sloan ließ seinen Ball fallen. »He! Ihr seid nicht aus Detroit. Wer …«
Die anderen aus seiner Mannschaft fingen an zu schreien und zum Ausgang zurückzuweichen, aber der Riese namens Marksauger schleuderte mit tödlicher Genauigkeit einen Ball. Der Ball jagte vorbei an Raj Mandali, der gerade die Tür erreicht hatte, und ließ sie wie durch Zauberhand ins Schloss fallen. Raj und einige von den anderen hämmerten verzweifelt dagegen, aber die Tür bewegte sich nicht mehr.
»Lasst sie raus«, schrie ich die Riesen an.
Der, der sich Joe Zaster nannte, knurrte mich an. Auf seinen Bizeps war die Behauptung tätowiert: JZ liebt Baby Cake. »Und auf die kleinen Leckerbissen verzichten? Nein, Sohn des Meeresgottes. Wir Laistrygonen wollen nicht nur deinen Tod. Wir wollen auch Mittagessen!«
Er schüttelte die Hand und neue Bälle tauchten auf der Mittellinie auf – nur waren die nicht aus rotem Gummi. Sie waren aus Bronze, groß wie Kanonenkugeln und löchrig wie Bowlingkugeln. Feuer loderte aus den Löchern. Sie mussten glühend heiß sein, aber die Riesen hoben sie mit bloßen Händen hoch.
»Herr Lehrer!«, schrie ich.
Nunley schaute schläfrig auf, aber wenn ihm an dieser Ballpartie etwas Außergewöhnliches auffiel, dann ließ er es sich nicht anmerken. Das ist das Problem bei Sterblichen. Sie sehen die Dinge nicht, wie sie wirklich sind. Eine magische Kraft namens Nebel versteckt Ungeheuer und Gottheiten vor ihrem Blick.
»Ja. Mm, hmm«, murmelte der Lehrer. »Spielt schön weiter.«
Und er vertiefte sich wieder in seine Zeitschrift.
Der Riese namens Schädelfresser warf seine Kugel. Ich wich aus und der feurige Bronzekomet segelte an meiner Schulter vorbei.
»Corey«, schrie ich.
Tyson zog ihn hinter den Matten hervor, als die Kugel davor explodierte und die Matten in winzige Fetzen zerriss.
»Lauft!«, befahl ich meinen Teamkameraden. »Zum anderen Ausgang!«
Sie rannten in Richtung Umkleideraum, aber Joe Zaster machte eine kurze Handbewegung und damit war auch diese Tür verschlossen.
»Niemand kommt hier raus, solange du noch mitspielst!«, brüllte Joe Zaster. »Und du spielst mit, bis wir dich gefressen haben!«
Er schleuderte seinen Feuerball. Meine Teamgenossen jagten in alle Richtungen davon, als der Ball einen Krater in den Boden der Turnhalle riss.
Ich griff nach Springflut, das immer in meiner Tasche steckte, aber ich trug ja meine Turnhose. Und die hatte keine Tasche. Springflut steckte in meinen Jeans in meinem Schließfach im Umkleideraum. Und die Tür zum Umkleideraum war versiegelt. Ich war absolut wehrlos.
Ein weiterer Feuerball kam auf mich zu. Tyson stieß mich beiseite, aber die Explosion warf mich trotzdem um. Ich lag plötzlich auf dem Boden, benommen vom Rauch, und mein Batik-T-Shirt war von brutzelnden Löchern übersät. Hinter der Mittellinie glotzten mich zwei hungrige Riesen an.
»Fleisch«, brüllten sie. »Heldenfleisch zum Mittagessen!«
Dann zielten sie.
»Percy braucht Hilfe!«, schrie Tyson und sprang vor mich, als sie ihre Bälle schleuderten.
»Tyson!«, schrie ich, aber es war zu spät.
Beide Bälle bohrten sich in ihn hinein … aber nein … er hatte sie gefangen. Auf irgendeine Weise hatte der unbeholfene Tyson, der regelmäßig Laborsachen umwarf und Spielgeräte zerbrach, zwei lodernde Metallkugeln gefangen, die im Tempo von einer Zillion Kilometer pro Stunde auf ihn zugeschossen gekommen waren. Er warf sie zurück zu ihren verdutzten Besitzern und die schrien »GEMEEEEIN!«, als die Bronzekugeln vor ihren Brustkästen explodierten.
Die Riesen lösten sich in zwei Feuersäulen auf – ein Beweis dafür, dass es sich wirklich um Ungeheuer handelte. Monster sterben nicht. Sie lösen sich einfach zu Rauch und Staub auf und das erspart den Helden eine Menge Aufräumarbeiten nach einem Kampf.
»Meine Brüder«, heulte Joe Zaster, der Kannibale. Er ließ seine Muskeln spielen und seine Baby-Cake-Tätowierung bewegte sich. »Das wirst du mir büßen!«
»Tyson!«, sagte ich. »Pass auf!«
Noch ein Komet jagte auf uns zu, Tyson konnte ihn gerade noch beiseiteschubsen. Er flog dicht über dem Kopf von Lehrer Nunley vorbei und landete mit lautem KAWUMM zwischen den Zuschauerbänken.
Überall rannten Leute umher, sie schrien und versuchten den zischenden Kratern im Boden auszuweichen. Andere hämmerten auf den Boden und schrien um Hilfe. Sloan selbst stand wie erstarrt mitten auf der Spielfläche und starrte ungläubig die Todesbälle an, die um ihn herumflogen.
Lehrer Nunley bemerkte noch immer nichts. Er tippte sein Hörgerät an, als verursachten die Explosionen dort Störungen, aber er ließ seine Zeitschrift nicht aus den Augen.
Bestimmt war der Lärm in der ganzen Schule zu hören. Der Direktor, die Polizei, irgendwer würde uns zu Hilfe kommen.
»Der Sieg ist unser!«, brüllte Joe Zaster, der Kannibale. »Wir werden uns an euren Knochen gütlich tun!«
Ich wollte ihm sagen, dass er das Völkerballspiel viel zu ernst nahm, aber schon warf er eine weitere Kugel. Drei andere Riesen machten es ihm nach.
Ich wusste, dass wir verloren waren. Tyson würde nicht alle Kugeln auf einmal abwehren können. Seine Hände mussten schon von der ersten Salve übel verbrannt sein. Ohne mein Schwert …
Mir kam eine verrückte Idee.
Ich lief in Richtung Umkleideraum.
»Weg da«, sagte ich zu meinen Teamgenossen. »Weg von der Tür!«
Hinter mir dröhnten die Explosionen. Tyson hatte zwei Bälle zu ihren Besitzern zurückgeworfen und diese damit in Asche verwandelt.
Übrig waren also noch zwei Riesen.
Eine dritte Kugel kam geradewegs auf mich zu. Ich zwang mich, zu warten – eins, zwei, drei, eins, zwei, drei –, dann ließ ich mich zur Seite fallen, woraufhin die Feuerkugel die Tür zum Umkleideraum vernichtete.
Ich nehme an, dass das Gas, das sich in den meisten Jungenumkleideräumen ansammelt, ausreichen müsste, um eine Explosion zu verursachen, und deshalb war ich nicht weiter überrascht, als die lodernde Kugel einen gewaltigen Knall hervorrief.
Die Mauer barst. Schließfachtüren, Socken, Stützbinden und andere unaussprechliche persönliche Habseligkeiten regneten durch die Luft.
Ich drehte mich um und konnte gerade noch sehen, wie Tyson Schädelfresser eine reinsemmelte. Der Riese zerbröselte, aber sein letzter verbliebener Kollege, Joe Zaster, hatte klugerweise seine Kugel behalten und wartete auf eine gute Gelegenheit. Er warf, als Tyson sich gerade umdrehte.
»Nein!«, schrie ich.
Die Kugel traf Tyson mitten auf der Brust. Er rutschte einmal über das Spielfeld und knallte gegen die Rückwand, die einstürzte, ihn teilweise unter sich begrub und zur Church Street hin ein Loch freigab. Ich begriff nicht, wie Tyson immer noch am Leben sein konnte, aber er sah nur etwas benommen aus. Die Bronzekugel lag rauchend zu seinen Füßen. Tyson versuchte sie aufzuheben, aber dann stolperte er rückwärts gegen einen Haufen Hohlziegel.
»He!«, brüllte Joe Zaster. »Ich bin der Einzige, der noch steht. Ich werde genug Fleisch haben, um Baby Cake eine Tupperdose voll mitzubringen!«
Er schnappte sich eine neue Kugel und zielte auf Tyson.
»Halt«, schrie ich. »Ihr wollt doch mich!«
Der Riese grinste. »Willst du als Erster sterben, junger Held?«
Ich musste etwas unternehmen. Springflut musste doch irgendwo sein.
Da entdeckte ich meine Jeans in einem rauchenden Kleiderhaufen zu Füßen des Riesen. Wenn ich den nur erreichen könnte …
Ich wusste, dass es hoffnungslos war, aber ich lief los.
Der Riese lachte. »Mein Mittagessen nähert sich.«
Er hob seinen Arm zum Wurf. Ich machte mich zum Sterben bereit.
Aber plötzlich erstarrte der Körper des Riesen. Er feixte nicht mehr, sondern sah nur noch verdutzt aus. Wo sein Nabel hätte sitzen sollen, wurde sein T-Shirt aufgerissen und etwas wie ein Horn wuchs heraus – nein, es war kein Horn, sondern die glühende Spitze einer Klinge.
Die Kugel fiel aus seiner Hand. Das Ungeheuer starrte das Messer an, das ihn soeben von hinten durchbohrt hatte.
Er murmelte »oh« und löste sich in eine Wolke aus grünen Flammen auf, was, wie ich annahm, Baby Cake ganz schön ärgern würde.
Im Rauch stand meine Freundin Annabeth. Ihr Gesicht war verdreckt und zerkratzt. Ein zerfetzter Rucksack hing über ihre Schulter, sie hatte sich ihre Baseballmütze in die Tasche gesteckt, hielt ein Messer in der Hand und ihre sturmgrauen Augen blickten so wild, als sei sie soeben von Geistern tausend Kilometer weit gehetzt worden.
Matt Sloan, der die ganze Zeit stumm dagestanden hatte, kam endlich zu sich. Er starrte Annabeth aus zusammengekniffenen Augen an und schien sich vom Foto in meinem Notizbuch her vage an sie zu erinnern. »Das ist die … das ist die …«
Annabeth gab ihm eins auf die Nase und er kippte um. »Und du«, sagte sie zu ihm, »mach meinen Kumpel nicht an!«
Die Turnhalle brannte lichterloh. Noch immer rannten Schüler schreiend umher. Ich hörte heulende Sirenen und irgendwer teilte per Lautsprecher etwas Unverständliches mit. Durch die Glasfenster der Ausgangstüren konnte ich den Direktor sehen, Mr Bonsai, der sich mit dem Schloss abmühte, während eine ganze Schar von Lehrern sich hinter ihm zusammendrängte.
»Annabeth«, stammelte ich. »Wieso … wie lange bist du schon …«
»So ungefähr den ganzen Morgen.« Sie steckte ihr Bronzemesser in die Scheide. »Ich habe eine Möglichkeit gesucht, mit dir zu reden, aber du warst ja nie allein.«
»Der Schatten, den ich heute Morgen gesehen habe, warst du …« Mein Gesicht schien zu glühen. »O Götter, du hast durch mein Schlafzimmerfenster geschaut?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen«, fauchte sie, aber auch ihr Gesicht lief ein bisschen rot an. »Ich wollte nur nicht …«
»Da!«, schrie eine Frau. Die Türen wurden aufgerissen und die Erwachsenen strömten herein.
»Wir treffen uns draußen«, sagte Annabeth zu mir. »Und der da«, sie zeigte auf Tyson, der noch immer wie betäubt vor der Wand saß und schaute ihn mit einem Ekel an, den ich nicht so ganz verstehen konnte, »den bringst du besser mit!«
»Was?«
»Keine Zeit«, sagte sie. »Beeil dich.«
Sie setzte ihre Yankees-Baseballmütze auf, ein magisches Geschenk ihrer Mutter, und war sofort verschwunden.
Ich stand mitten in der brennenden Turnhalle, als der Direktor mit dem halben Lehrkörper und einigen Polizisten auf mich zugestürzt kam.
»Percy Jackson?«, fragte Mr Bonsai. »Was … wie?«
Hinten vor der eingestürzten Wand stöhnte Tyson und rappelte sich auf. »Kopf tut weh.«
Matt Sloan kam jetzt ebenfalls zu sich. Er starrte mich mit einem Ausdruck des Entsetzens an. »Das war Percy, Mr Bonsai! Er hat die ganze Halle angesteckt. Mr Nunley wird das bestätigen! Er hat alles gesehen!«
Lehrer Nunley hatte pflichtbewusst seine Zeitung gelesen, aber zu meinem Pech blickte er genau in dem Moment auf, als Sloan seinen Namen nannte. »Äh? Ja? Mm-hmm.«
Die anderen Erwachsenen drehten sich zu mir um. Ich wusste, dass sie mir niemals glauben würden, selbst wenn ich ihnen die Wahrheit erzählen könnte.
Ich riss Springflut aus meiner ramponierten Jeans, rief Tyson zu: »Komm mit!«, und sprang durch das klaffende Loch in der Seitenwand.
Wir winken dem Taxi der ewigen Qualen
Annabeth wartete in einer Seitenstraße der Church Street auf uns. Sie zog Tyson und mich von der Straße, als ein Löschzug in Richtung Meriwether Prep vorüberjagte.
»Wo hast du den denn aufgegabelt?«, fragte sie und zeigte auf Tyson.
Unter anderen Umständen wäre ich einfach glücklich über dieses Wiedersehen gewesen. Wir hatten im vergangenen Sommer Frieden miteinander geschlossen, trotz der Tatsache, dass ihre Mutter Athene sich mit meinem Dad nicht gut verstand. Annabeth hatte mir vermutlich mehr gefehlt, als ich zugeben mochte.
Aber ich war soeben von riesigen Kannibalen angegriffen worden, Tyson hatte mir drei- oder viermal das Leben gerettet und Annabeth starrte ihn nur wütend an, als ob er hier das Problem wäre.
»Er ist mein Freund«, sagte ich zu ihr.
»Ist er obdachlos?«
»Was spielt das denn für eine Rolle? Übrigens kann er dich hören. Warum fragst du ihn nicht selbst?«
Sie sah überrascht aus. »Er kann sprechen?«
»Ich sprech«, gab Tyson zu. »Du bist hübsch.«
»Iih, wie peinlich!« Annabeth wich einen Schritt von ihm zurück.
Ich konnte es nicht fassen, dass sie so grob war. Ich untersuchte Tysons Hände, die von den Kugeln böse verbrannt sein mussten, doch sie sahen nicht weiter schlimm aus. Verdreckt und narbig, mit schmutzigen Fingernägeln groß wie Kartoffelchips, aber so sahen sie immer aus.
»Tyson«, sagte ich fassungslos. »Deine Hände sind ja gar nicht verbrannt.«
»Natürlich nicht«, knurrte Annabeth. »Ich kann gar nicht fassen, wie die Laistrygonen den Nerv haben konnten, dich anzugreifen, während er in der Nähe war.«
Tyson schien von Annabeths blonden Haaren fasziniert zu sein. Er versuchte, sie zu berühren, aber sie schlug ihm auf die Hand.
»Annabeth«, sagte ich. »Wovon redest du da? Laistri-was?«
»Laistrygonen. Die Ungeheuer in der Turnhalle. Das ist eine Sippe von Riesenkannibalen, die im hohen Norden leben. Odysseus ist ihnen mal über den Weg gelaufen, aber so weit südlich wie in New York habe ich bisher noch nie welche gesehen.«
»Laistr… – ich kann das nicht mal aussprechen. Haben sie noch einen anderen Namen?«
Sie dachte einen Moment nach. »Kanadier«, entschied sie. »Und jetzt komm, wir müssen machen, dass wir hier wegkommen.«
»Die Polizei wird mich suchen.«
»Das ist unser geringstes Problem«, sagte sie. »Hattest du auch die Träume?«
»Die Träume … von Grover?«
Sie erbleichte. »Grover? Nein, was ist mit Grover?«
Ich erzählte ihr von meinem Traum. »Warum? Was hast du geträumt?«
Ihre Augen sahen stürmisch aus, ihr Herz schien zu klopfen, als wäre sie tausend Kilometer gerannt.
»Vom Camp«, sagte sie endlich. »Haufenweise Probleme im Camp.«
»Das hat meine Mom auch schon gesagt. Aber was für Probleme?«
»Ich weiß es nicht genau. Irgendwas stimmt da nicht. Wir müssen sofort hin. Auf dem ganzen Weg von Virginia hierher haben mich Ungeheuer angegriffen, um mich aufzuhalten. Bist du oft überfallen worden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ganze Jahr noch nicht. Erst heute.«
»Kein einziges Mal? Aber wieso …« Ihre Blicke wanderten zu Tyson. »Oh!«
»Was soll das heißen, oh?«
Tyson meldete sich, wie im Klassenzimmer. »Kanadier in der Turnhalle haben Percy irgendwas genannt … Sohn von Meeresgott?«
Annabeth und ich wechselten einen Blick.
Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte, aber ich fand, Tyson hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Schließlich war er fast ums Leben gekommen.
»Großer«, sagte ich. »Hast du je die alten Geschichten über die griechischen Götter gehört? Ich meine Zeus, Poseidon, Athene …«
»Ja«, sagte Tyson.
»Also … diese Gottheiten leben noch. Sie folgen sozusagen der abendländischen Zivilisation und dabei wohnen sie in allerlei seltsamen Ländern und jetzt sind sie in den USA. Und manchmal haben sie mit Sterblichen Kinder. Und die werden Halbblute genannt.«
»Ja«, sagte Tyson und schien noch immer darauf zu warten, dass ich endlich zur Sache kam.
»Also, Annabeth und ich sind Halbblute«, sagte ich. »Wir sind … sozusagen … Helden in der Ausbildung. Und wenn Monster unsere Witterung aufnehmen, dann greifen sie uns an. So was waren die Riesen in der Turnhalle. Monster.«
»Ja.«
Ich starrte ihn an. Er wirkte nicht überrascht oder verwirrt von dem, was ich erzählte, und das überraschte und verwirrte mich. »Also … du glaubst mir?«
Tyson nickte. »Aber du bist … Sohn von Meeresgott?«
»Ja«, gab ich zu. »Mein Dad ist Poseidon.«
Tyson runzelte die Stirn. Jetzt sah er verwirrt aus. »Aber dann …«
Eine Sirene heulte auf. Ein Streifenwagen jagte vorbei.
»Wir haben jetzt keine Zeit«, sagte Annabeth. »Wir reden im Taxi weiter.«
»Ein Taxi für die ganze Fahrt zum Camp?«, fragte ich. »Weißt du, was das kos…«
»Verlass dich auf mich.«
Ich zögerte. »Was ist mit Tyson?«
Ich stellte mir vor, wie ich meinen überdimensionalen Freund mit ins Camp Half-Blood brachte. Wenn er schon auf einem normalen Spielplatz mit normalen Machomackern ausrastete, wie würde er sich dann in einem Trainingslager für Demigottheiten machen? Andererseits war mit Sicherheit die Polizei hinter uns her.
»Wir können ihn nicht hier zurücklassen«, entschied ich. »Sonst kriegt er auch noch Ärger.«
»Ja.« Annabeth sah grimmig aus. »Wir müssen ihn auf jeden Fall mitnehmen. Aber jetzt komm.«
Die Art, wie sie das sagte, gefiel mir nicht, es klang, als wäre Tyson eine schreckliche Krankheit, die wir ins Krankenhaus schaffen mussten, aber ich lief hinter ihr her die Straße hinunter. Zusammen schlichen wir drei uns durch das Viertel, während hinter uns eine gewaltige Rauchsäule aus meiner Schulturnhalle quoll.
»Hier.« Annabeth ließ uns an der Ecke Thomas und Trimble anhalten. Sie wühlte in ihrem Rucksack. »Ich hoffe, ich habe noch eine.«
Sie sah schlimmer aus, als ich im ersten Augenblick bemerkt hatte. Ihre Wange war zerschrammt und Zweige und Grashalme steckten in ihrem Pferdeschwanz, als ob sie mehrere Nächte unter freiem Himmel verbracht hätte. Die Risse unten in ihrer Jeans sahen verdächtig nach Krallenspuren aus.
»Was suchst du denn?«, fragte ich.
Überall um uns herum heulten Sirenen. Sicher würden bald noch mehr Cops vorbeifahren, auf der Suche nach jugendlichen Turnhallenbombenlegern. Bestimmt hatte Matt Sloan inzwischen seine Aussage gemacht. Und die Geschichte so verdreht, dass Tyson und ich als die blutrünstigen Kannibalen dastanden.
»Da ist eine. Den Gottheiten sei Dank.« Annabeth zog eine Goldmünze hervor, die ich als Drachme erkannte, die Währung des Berges Olymp. Auf der einen Seite war Zeus’ Gesicht eingeprägt, auf der anderen das Empire State Building.
»Annabeth«, sagte ich. »Taxifahrer in New York nehmen die nicht an.«
»Epeche«, rief sie auf Altgriechisch. »Harma diaboles!«
Wie immer konnte ich sie irgendwie verstehen, als sie die Sprache des Olymps benutzte. Sie hatte gesagt: Halt an, Kutsche der Verdammnis!
Was mich für ihren Plan, wie immer der aussehen mochte, nicht gerade mit Begeisterung erfüllte.
Sie warf ihre Münze auf die Straße, doch statt klirrend auf dem Asphalt aufzuschlagen, versank die Drachme im Boden und war verschwunden.
Einen Moment lang passierte gar nichts.
Dann wurde der Asphalt dunkel, wo ihn die Münze berührt hatte. Er zerschmolz zu einer rechteckigen Pfütze von der Größe einer Parknische – und blubberte rot und flüssig wie Blut. Aus dem Geblubber brach ein Auto hervor.
Es war zwar ein Taxi, aber es war nicht gelb wie die üblichen New Yorker Taxis. Es war rauchgrau. Ich meine, es sah aus wie aus Rauch gewoben, als könnte man einfach hindurchgehen. Auf der Tür stand etwas – so ähnlich wie GAUER SSWECHTREN –, aber wegen meiner Legasthenie konnte ich nicht mehr entziffern.
Das Fenster auf der Beifahrerseite wurde geöffnet. Eine alte Frau schaute heraus; ein grauer Schopf fiel ihr in die Augen und sie nuschelte auf seltsame Weise vor sich hin, als ob sie gerade ein Beruhigungsmittel gespritzt bekommen hätte. »Mitfann? Mitfann?«
»Drei zum Camp Half-Blood«, sagte Annabeth. Sie öffnete die hintere Tür des Taxis und winkte mir zu, als ob das ganz normal wäre.
»Ah«, kreischte die alte Frau. »Nicht so jemand!«
Sie zeigte mit einem knochigen Finger auf Tyson.
Was war das denn hier? Der internationale Macht-die-großen-hässlichen-Kinder-fertig-Tag?
»Wir bezahlen extra«, versprach Annabeth. »Noch drei Drachmen, wenn wir am Ziel sind.«
»Rein mit euch!«, kreischte die Frau.
Widerwillig stieg ich ein. Tyson quetschte sich in die Mitte. Annabeth kroch als Letzte dazu.
Das Taxi war innen ebenfalls rauchgrau, fühlte sich aber durchaus solide an. Der Sitz war rissig und uneben – wie in den meisten Taxis. Es gab keine Plexiglasscheibe, die uns von der alten Fahrerin trennte … aber Moment. Es war nicht nur eine. Drei alte Damen hatten sich auf die Vorderbank gezwängt, alle drei mit strähnigen Haaren, die ihnen in die Augen fielen, knochigen Händen und kohlschwarzen Kleidern aus Sackleinen.
Die Fahrerin sagte: »Long Island! Sonderpreis, außerhalb des U-Bahn-Netzes. Ha!«
Sie trat das Gaspedal bis zum Boden durch und mein Kopf knallte gegen die Nackenstütze. Eine Tonbandstimme ertönte: »Hallo, hier spricht Ganymed, Mundschenk des Zeus, und wenn ich für den Herrn der Himmel Wein kaufen fahre, schnalle ich mich immer an.«
Ich schaute nach unten und entdeckte an Stelle eines Sicherheitsgurtes eine lange schwarze Kette. Ich beschloss, dass ich dafür nicht verzweifelt genug war … noch nicht.
Das Taxi jagte um die Ecke des West Broadway und die graue Dame in der Mitte schrie: »Aufpassen! Links jetzt!«
»Wenn du mir das Auge geben würdest, Sturm, dann könnte ich das selber sehen!«, pöbelte die Fahrerin.
Moment mal. Ihr das Auge geben?
Ich hatte keine Zeit, Fragen zu stellen, denn die Fahrerin riss das Steuer herum, um einem uns entgegenkommenden Lieferwagen auszuweichen, fuhr mit einem gebisserschütternden WUMM über den Bordstein und fegte zum nächsten Block weiter.
»Wespe!«, sagte die dritte Dame zur Fahrerin. »Gib die Münze vom Mädchen! Ich will reinbeißen!«
»Du hast schon letztes Mal reingebissen, Zorn!«, sagte die Fahrerin, die offenbar Wespe hieß. »Jetzt bin ich an der Reihe!«
»Bist du nicht!«, schrie die, die Zorn hieß.
Die Mittlere, Sturm, brüllte: »Rot!«
»Bremsen!«, schrie Zorn.
Aber Wespe trat aufs Gaspedal und fuhr auf den Bürgersteig, schlingerte um die nächste Ecke und stieß einen Zeitungskasten um. Mein Magen ging irgendwo in der Broome Street flöten.
»Verzeihung«, sagte ich. »Aber … können Sie sehen?«
»Nein!«, schrie Wespe hinter dem Lenkrad.
»Nein!«, schrie Sturm in der Mitte.
»Natürlich!«, schrie Zorn am Seitenfenster.
Ich schaute Annabeth an. »Sind sie blind?«
»Nicht ganz«, sagte Annabeth. »Sie haben ein Auge.«
»Ein Auge?«
»Ja.«
»Jede?«
»Nein. Gemeinsam.«
Tyson neben mir stöhnte. »Geht mir nicht gut.«
»Oh, Mann«, sagte ich, denn ich hatte schon auf Schulausflügen erlebt, dass es Tyson beim Autofahren leicht schlecht wurde, und wenn es so weit war, wollte ich lieber zwanzig Meter weg sein. »Reiß dich zusammen, Großer. Gibt’s einen Müllsack oder so was?«
Die drei grauen Damen waren zu sehr mit ihrem Streit beschäftigt, um auf mich zu achten. Ich schaute zu Annabeth hinüber, die sich festklammerte und um ihr Leben zu fürchten schien, und sah sie mit einem Was-hast-du-mir-da-angetan-Blick an.
»Hey«, sagte sie. »Das Taxi der Grauen Schwestern, genannt auch die Graien, ist die schnellste Möglichkeit, ins Camp zu gelangen.«
»Warum hast du es dann nicht schon in Virginia genommen?«
»Liegt nicht in ihrem Einsatzgebiet«, sagte sie, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Sie fahren nur in New York und den Randbezirken.«
»Hatten schon berühmte Leute hier im Wagen!«, rief Zorn. »Jason! Könnt ihr euch an den erinnern?«
»Erzähl mir bloß nichts von dem!«, heulte Wespe. »Und wir hatten damals noch gar kein Taxi, du alte Fledermaus. Das ist doch dreitausend Jahre her!«
»Gib mir den Zahn!« Zorn versuchte, Wespe in den Mund zu fassen, aber Wespe schlug ihre Hand weg.
»Nur wenn Sturm mir das Auge gibt!«
»Nein!«, kreischte Sturm. »Du hast es gestern gehabt!«
»Aber ich fahre, du alte Kuh!«
»Ausrede! Abbiegen! Hier hättest du abbiegen müssen!«
Wespe riss das Steuer herum und fegte in die Delancey Street, wobei ich zwischen Tyson und der Tür eingequetscht wurde. Sie trat aufs Gas und wir schossen mit hundertachtzig auf die Williamsburg-Brücke.
Die drei Schwestern kämpften jetzt wirklich miteinander. Sie schlugen aufeinander ein, Zorn versuchte Wespes Gesicht zu erwischen und Wespe das von Sturm. Mit wehenden Haaren und offenen Mündern schrien sie einander an. Ich sah, dass keine der Schwestern Zähne hatte, außer Wespe, die einen bemoosten gelben Eckzahn aufweisen konnte. Sie hatten auch keine Augen, nur geschlossene, eingesunkene Lider, abgesehen von Zorn und ihrem einen blutunterlaufenen grünen Auge, das hungrig um sich starrte, als ob es von allem, was es da sah, nicht genug bekommen könnte.
Schließlich gelang es Zorn, die ja etwas sah, ihrer Schwester Wespe den Zahn aus dem Mund zu reißen. Das machte Wespe so wütend, dass sie ganz an den Rand der Williamsburg-Brücke fuhr und schrie: »Hurückgebm, hurückgebm!«
Tyson stöhnte und presste sich die Hände auf den Bauch.
»Übrigens, falls das irgendwen hier interessiert«, sagte ich, »das überleben wir nicht.«
»Keine Sorge«, sagte Annabeth, die sich ziemlich besorgt anhörte. »Die Grauen Schwestern wissen, was sie tun. Sie sind wirklich sehr weise.«
Das sagte zwar immerhin die Tochter der Athene, aber ich war trotzdem nicht beruhigt. Wir schlingerten mehr als dreißig Meter hoch am Rand einer Brücke über dem East River.
»Sehr weise!« Zorn grinste in den Rückspiegel und zeigte den frisch erworbenen Zahn. »Wir kennen uns aus!«
»In jeder Straße in Manhattan!«, protzte Wespe und schlug noch immer auf ihre Schwester ein. »Und in der Hauptstadt von Nepal!«
»An jedem gewünschten Ort«, fügte Sturm hinzu. Sofort schlugen ihre Schwestern von beiden Seiten auf sie ein und kreischten: »Klappe halten! Klappe halten! Er hat doch noch nicht mal gefragt!«
»Was?«, fragte ich. »Was für ein Ort? Ich suche keinen …«
»Nichts!«, sagte Sturm. »Du hast schon Recht, Knabe! Nichts los!«
»Sag schon!«
»Nein!«, schrien sie alle.
»Als wir es zuletzt verraten haben, war das schrecklich!«, sagte Sturm.
»Auge in den See geworfen!«, sagte Zorn zustimmend.
»Jahre danach gesucht!«, stöhnte Wespe. »Und wo wir gerade davon reden – gib es her!«
»Nein!«, schrie Zorn.
»Auge!«, schrie Wespe. »Her damit!«
Sie schlug ihrer Schwester Zorn auf den Rücken. Ich hörte ein Übelkeit erregendes POPP und dann flog etwas aus Zorns Gesicht. Zorn griff danach, versuchte, es aufzufangen, schlug aber nur mit dem Handrücken dagegen. Die schleimige Kugel segelte über ihre Schulter auf die Rückbank und genau auf meinen Schoß.
Ich fuhr dermaßen hoch, dass mein Kopf gegen die Decke knallte und das Auge davonkullerte.
»Ich kann nichts sehen!«, heulten alle drei Schwestern.
»Gib mir das Auge!«, jaulte Wespe.
»Gib ihr das Auge«, schrie Annabeth.
»Ich hab es nicht!«, sagte ich.
»Da, bei deinem Fuß«, sagte Annabeth. »Nicht drauftreten. Heb es auf!«
Das Taxi knallte gegen die Leitplanke und schlitterte mit entsetzlichem Scharren weiter. Das ganze Taxi bebte und grauer Rauch stieg auf, als ob es sich vor Anstrengung schon auflöste.
»Mir wird schlecht«, warnte uns Tyson.
»Annabeth!«, schrie ich. »Gib Tyson deinen Rucksack!«
»Spinnst du? Heb das Auge auf!«
Wespe riss das Lenkrad herum und der Wagen schleuderte weg von der Leitplanke. Wir rasten von der Brücke in Richtung Brooklyn, schneller als irgendein Menschentaxi. Die Grauen Schwestern schrien und schlugen aufeinander ein und jammerten nach ihrem Auge.
Schließlich nahm ich mich zusammen. Ich riss einen Fetzen von meinem Batikhemd, das wegen der Brandlöcher ohnehin schon auseinanderfiel, und hob damit das Auge vom Boden auf.
»Braver Junge!«, rief Zorn, die irgendwie zu wissen schien, dass ich ihr verlorenes Glubschauge hatte. »Her damit!«
»Erst müsst ihr erklären«, sagte ich, »was das heißen sollte, der gewünschte Ort!«
»Keine Zeit!«, rief Sturm. »Gas geben!«
Ich schaute aus dem Fenster. Jetzt schossen Autos und Bäume und ganze Wohnblocks als graues Geflimmer vorbei. Brooklyn lag schon hinter uns und wir fuhren mitten durch Long Island.
»Percy«, mahnte Annabeth. »Ohne das Auge finden sie den Weg nicht. Und dann fahren sie einfach nur immer schneller, bis wir in eine Million Stücke zerbersten.«
»Erst müssen sie es uns sagen«, verlangte ich. »Oder ich mache das Fenster auf und werfe das Auge auf die Gegenfahrbahn.«
»Nein!«, schrien die Grauen Schwestern. »Zu gefährlich!«
»Ich öffne jetzt das Fenster!«
»Warte!«, schrien die Grauen Schwestern. »30, 31, 75, 12!« Das brüllten sie wie ein Quarterback, der ein Footballspiel kommentiert.
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»30, 31, 75, 12!«, heulte Zorn. »Mehr können wir dir nicht sagen! Und jetzt gib uns das Auge! Sind fast da!«
Wir hatten den Highway verlassen und jagten durch die ländlichen Gebiete im Norden von Long Island. Ich konnte vor uns Half-Blood Hill sehen mit der riesigen Fichte darauf – Thalias Baum, in dem die Lebenskraft einer gefallenen Heldin steckte.
»Percy!«, sagte Annabeth noch dringlicher. »Gib ihnen sofort das Auge!«
Ich beschloss, ihr nicht mehr zu widersprechen. Ich warf das Auge in Wespes Schoß.
Die alte Dame schnappte es, schob es in ihre Augenhöhle wie eine Kontaktlinse und zwinkerte. »Woa!«
Sie stieg auf die Bremse. Das Taxi drehte sich vier- oder fünfmal in einer Rauchwolke um sich selbst und kam dann kreischend mitten auf der Landstraße vor Half-Blood Hill zum Stehen.
Tyson ließ ein lautes Rülpsen hören.
»Jetzt besser.«
»Na gut«, sagte ich zu den Grauen Schwestern. »Und jetzt sagt mir, was diese Ziffern bedeuten.«
»Keine Zeit!« Annabeth öffnete ihre Tür. »Wir müssen sofort aussteigen!«
Ich wollte fragen, warum, aber dann schaute ich zum Half-Blood Hill hoch und wusste Bescheid.
Oben sah ich eine Gruppe von Campbewohnern. Und sie wurden gerade angegriffen.
Tyson spielt mit dem Feuer
Wenn ich, mythologisch gesprochen, etwas noch mehr hasse als Dreiergruppen von alten Damen, dann sind das Stiere. Vergangenen Sommer hatte ich auf dem Half-Blood Hill gegen den Minotaurus gekämpft. Was ich jetzt dort oben sah, war noch schlimmer. Zwei Stiere. Und nicht einfach normale Stiere – sondern Bronzestiere von Elefantengröße. Und das war noch nicht alles. Sie mussten natürlich auch noch Feuer speien.
Kaum hatten wir das Taxi verlassen, wendeten die Grauen Schwestern und jagten zurück nach New York City, wo es nicht so gefährlich war. Sie warteten nicht einmal auf die zusätzlichen drei Drachmen, sie ließen uns einfach am Straßenrand stehen; Annabeth mit nichts als ihrem Rucksack und ihrem Messer, Tyson und ich immer noch in unseren versengten Batikturnhemden.
»O Mann«, sagte Annabeth und schaute hoch zu der auf dem Hügel tobenden Schlacht.
Was mir am meisten Sorgen machte, waren eigentlich nicht die Stiere. Oder die zehn Helden in voller Rüstung, die gerade ihre mit Bronze verkleideten Hintern versohlt bekamen. Was mir Sorgen machte, war, dass die Stiere überall auf dem Hügel waren, sogar auf der anderen Seite der Fichte. Das hätte eigentlich nicht möglich sein dürfen. Die magischen Grenzen des Camps erlaubten es Ungeheuern nicht, an Thalias Baum vorbeizugelangen. Aber die Metallstiere schafften es doch.
Eine Rüstung schrie: »Grenzpatrouille, zu mir!« Es war eine Mädchenstimme, grob und vertraut.
Grenzpatrouille?, dachte ich. Im Lager gab es doch gar keine Grenzpatrouille.
»Das ist Clarisse«, sagte Annabeth. »Los, wir müssen ihr helfen.«
Normalerweise hätte es nicht gerade sehr weit oben auf meiner Liste gestanden, Clarisse zu helfen. Sie war eine der miesesten Zicken im Camp. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie versucht, meinen Kopf mit einer Toilette bekannt zu machen. Und sie war die Tochter des Ares und ich hatte im vergangenen Sommer mit ihrem Vater eine schwerwiegende Meinungsverschiedenheit gehabt, weshalb der Kriegsgott und alle seine Kinder mich durch und durch verabscheuten.
Aber jetzt hatte sie Ärger. Die anderen Kämpfenden rannten in Panik auseinander, als die Stiere angriffen. Das Gras um die Fichte herum brannte. Ein Kämpfer schrie und rannte im Kreis, während die Helmzier auf seinem Kopf loderte wie ein feuriger Irokesenschnitt.
Clarisse’ Rüstung war schon ziemlich ramponiert. Sie kämpfte mit einem abgebrochenen Speerschaft, das andere Ende steckte nutzlos in dem Metallgelenk in der Schulter eines Stiers.
Ich drehte die Kappe von meinem Kugelschreiber. Der schimmerte, wuchs und wurde schwerer – und dann hielt ich das Bronzeschwert Anaklysmos in der Hand. »Tyson, du bleibst hier! Du darfst dein Leben nicht noch mal aufs Spiel setzen!«
»Nein!«, sagte Annabeth. »Wir brauchen ihn!«
Ich starrte sie an. »Er ist ein Sterblicher. Mit den Kugeln hat er Glück gehabt, aber er kann doch nicht …«
»Percy, weißt du, was das da oben ist? Das sind die Stiere von Colchis, geschmiedet von Hephaistos persönlich. Wir können nicht ohne Medeas Sonnenschild mit Lichtschutzfaktor 50000 gegen sie kämpfen. Wir würden sonst zu Rußflocken verbrannt werden.«
»Medeas was?«
Annabeth wühlte in ihrem Rucksack und fluchte. »Ich hab zu Hause einen Krug mit tropischem Kokosduft. Warum hab ich den nicht mitgebracht?«
Ich hatte längst gelernt, Annabeth nicht zu viele Fragen zu stellen. Das verwirrte mich nur noch mehr. »Hör mal, ich weiß nicht, wovon du redest, aber ich lasse nicht zu, dass Tyson gegrillt wird.«
»Percy …«
»Tyson, zurück!« Ich hob mein Schwert. »Ich geh jetzt los.«
Tyson wollte protestieren, aber ich rannte schon den Hügel hoch auf Clarisse zu, die ihre Patrouille anschrie und versuchte, sie in Formation einer Phalanx aufzustellen. Das war eine gute Idee. Die Wenigen, die zuhörten, traten Schulter an Schulter an und hoben ihre Schilde zu einer Bronze- und Stierledermauer, über die ihre Speere lugten wie Stachelschweinborsten.
Leider konnte Clarisse nur sechs Leute aufbieten. Die anderen vier rannten mit brennenden Helmen durch die Gegend. Annabeth stürzte los und versuchte, ihnen zu helfen. Sie reizte einen Stier so lange, bis er sie verfolgte, dann machte sie sich unsichtbar, was das Ungeheuer in arge Verwirrung stürzte. Der andere Stier griff Clarisse’ Phalanx an.
Ich hatte den Hang erst halb hinter mich gebracht und war zu weit weg, um helfen zu können. Clarisse hatte mich noch nicht einmal entdeckt.
Dafür, dass er so riesig war, bewegte der Stier sich mit tödlicher Schnelligkeit. Seine Metallhaut glitzerte in der Sonne. Er hatte faustgroße Rubine als Augen und Hörner aus poliertem Silber. Als er sein Maul aufklappte, fuhr eine weiß glühende Flamme heraus.
»Die Phalanx halten!«, befahl Clarisse ihren Kriegern.
Was immer man sonst über sie sagen konnte, tapfer war sie. Sie war groß und hatte die grausamen Augen ihres Vaters Ares. Sie sah aus, als sei sie dazu geboren, eine griechische Schlachtenrüstung zu tragen, aber ich konnte mir nicht einmal bei ihr vorstellen, dass sie dem Angriff des Stiers trotzen würde.
Leider verlor der zweite Stier in diesem Moment das Interesse an der Suche nach Annabeth. Er fuhr herum und jagte von hinten auf Clarisse zu.
»Hinter dir!«, schrie ich. »Pass auf!«
Das hätte ich nicht tun dürfen, denn nun war sie verwirrt. Stier Nr. 1 knallte gegen ihren Schild und damit war die Phalanx gebrochen. Clarisse flog rückwärts und landete auf einer schwelenden Grassode. Stier Nr. 2 dröhnte an ihr vorbei, nicht ohne jedoch die anderen Kämpfer mit seinem Feueratem anzuhauchen. Ihre Schilde schmolzen ihnen von den Armen. Sie ließen ihre Waffen fallen und nahmen die Beine in die Hand, als Stier Nr. 2 sich auf Clarisse stürzte, um ihr den Rest zu geben.
Ich raste los und packte Clarisse an den Lederbändern ihrer Rüstung, zog sie weg und Stier Nr. 2 raste vorbei wie ein Güterzug. Ich schwenkte Springflut und hieb ihm eine große Wunde in die Flanke, aber das Ungeheuer ächzte nur und lief weiter.
Es berührte mich nicht, aber ich spürte die Hitze seiner Metallhaut. Seine Körpertemperatur hätte einen gefrorenen Burrito gar werden lassen.
»Lass mich los!« Clarisse schlug mir auf die Hand. »Percy, du Idiot!«
Ich ließ sie neben der Fichte auf den Boden fallen und drehte mich zu den Stieren um. Wir standen jetzt auf der anderen Seite des Hügels, unter uns lag das Tal von Half-Blood Hill – die Hütten, die Trainingsgelände, das Hauptgebäude – und all das wäre in Gefahr, wenn die Stiere durchkämen.
Annabeth brüllte den anderen Halbbluten Befehle zu, sie sollten sich zerstreuen und die Stiere ablenken.
Stier Nr. 1 lief einen weiten Bogen und kam dann wieder auf mich zu. Mitten auf dem Hügel, wo die unsichtbare Grenze ihn eigentlich hätte aufhalten müssen, wurde er ein wenig langsamer und schien gegen einen starken Wind zu kämpfen, dann brach er durch und rannte weiter. Stier Nr. 2 drehte sich zu mir um, Feuer sprühte aus der Wunde, die ich ihm in die Flanke geschlagen hatte. Ich wusste nicht, ob er Schmerz verspürte, aber seine Rubinaugen starrten mich an, als ob ich ihm einen Grund für eine persönliche Racheaktion geliefert hätte.
Ich konnte nicht gegen zwei Stiere auf einmal kämpfen.
Ich würde Stier Nr. 2 erledigen und ihm den Kopf abhacken müssen, ehe Stier Nr. 1 uns erreicht hätte. Meine Arme waren schon müde. Mir wurde klar, wie lange ich nicht mehr mit Springflut gekämpft hatte und wie sehr ich aus der Übung gekommen war.
Ich holte aus, aber Stier Nr. 2 blies mir Flammen entgegen. Ich wich zurück, als die Luft sich in pure Hitze verwandelte. Aller Sauerstoff wurde aus meiner Lunge herausgesaugt. Mein Fuß stieß gegen etwas – eine Baumwurzel vielleicht – und ein stechender Schmerz jagte durch meinen Knöchel. Aber ich konnte trotzdem einen Teil der Schnauze des Ungeheuers aufschlitzen. Es galoppierte davon, wütend und desorientiert, aber ich hatte keine Zeit, mich darüber zu freuen, denn als ich versuchte, mich auf das linke Bein zu stellen, gab es unter mir nach. Ich hatte mir den Knöchel verstaucht oder vielleicht sogar gebrochen.
Stier Nr. 1 kam geradewegs auf mich zu. Ich konnte ihm nicht mal aus dem Weg kriechen.
Annabeth brüllte: »Tyson, hilf ihm!«
Irgendwo in meiner Nähe, dicht am Kamm des Hügels, heulte Tyson: »Komm – nicht – durch!«
»Ich, Annabeth Chase, erlaube dir, das Camp zu betreten!«
Donner ließ den Boden beben. Und dann war Tyson plötzlich da, schoss auf mich zu und schrie: »Percy braucht Hilfe!«
Ehe ich nein sagen konnte, sprang er zwischen mich und den Stier, der gerade einen tödlichen Feuersturm losließ.
»Tyson!«, schrie ich.
Das Feuer umwirbelte ihn wie ein roter Tornado. Ich konnte nur die schwarze Silhouette seines Körpers sehen und wusste mit entsetzlicher Gewissheit, dass mein Freund soeben zum größten Brikett der Welt geworden war.
Aber als das Feuer sich legte, stand Tyson immer noch da, gänzlich unversehrt. Nicht einmal seine zerrissenen Klamotten waren versengt. Der Stier war offenbar ebenso überrascht wie ich, denn ehe er eine zweite Feuerwolke loslassen konnte, ballte Tyson die Fäuste und rammte sie dem Stier ins Gesicht. »Blöde Kuh!«
Seine Fäuste hinterließen einen Krater an der Stelle, wo vorher die Schnauze des Stiers gesessen hatte. Zwei kleine Feuersäulen schossen aus seinen Augen. Tyson schlug noch einmal zu und die Bronze zerbröselte unter seinen Händen wie Alufolie. Das Stiergesicht sah jetzt aus wie eine umgestülpte Stoffpuppe.
»Runter!«, brüllte Tyson.
Der Stier taumelte und fiel auf den Rücken. Seine Beine bewegten sich hilflos in der Luft, Dampf quoll an den seltsamsten Stellen aus seinem zerbrochenen Kopf.
Annabeth kam angerannt, um nach mir zu sehen.
Mein Knöchel fühlte sich an wie mit Säure gefüllt, aber sie gab mir einen Schluck Olympischen Nektar aus ihrer Feldflasche und sofort ging es mir besser. Ich nahm Brandgeruch wahr und erfuhr später, dass der von mir stammte. Meine Augenbrauen und die Haare auf meinen Armen waren restlos abgesengt worden.
»Der andere Stier?«, fragte ich.
Annabeth zeigte den Hügel hinunter.
Clarisse kümmerte sich um die blöde Kuh Nr. 2. Sie durchbohrte ein Hinterbein mit einem himmlischen Bronzespeer. Der Stier, dem die halbe Schnauze fehlte und der eine riesige Wunde in der Flanke hatte, versuchte wie in Zeitlupe zu rennen und drehte Kreise wie ein Karussellpferd.
Clarisse zog sich den Helm vom Kopf und kam auf uns zumarschiert. Einige Strähnen ihres braunen Haares schwelten, aber sie schien das nicht zu bemerken.
»Du – machst – alles – kaputt!«, schrie sie mich an. »Ich hatte die Lage unter Kontrolle!«
Ich war zu verblüfft, um zu antworten.
Annabeth grummelte: »Ja, ich find’s auch nett, dich zu sehen, Clarisse.«
»Argh!«, schrie Clarisse. »Versucht nie, nie wieder, mich zu retten!«
»Clarisse«, sagte Annabeth, »hier liegen lauter Verwundete.«
Das brachte sie zur Besinnung. Selbst Clarisse fühlte sich für die Soldaten unter ihrem Kommando verantwortlich. »Ich komm gleich wieder«, knurrte sie, dann wanderte sie los, um sich ein Bild von der Verwüstung zu machen.
Ich starrte Tyson an. »Du bist nicht tot.«
Tyson starrte zu Boden und schien verlegen zu sein. »Tut mir leid. Wollte helfen. Hab dir nicht gehorcht.«
»Meine Schuld«, sagte Annabeth. »Ich hatte keine Wahl. Ich musste ihn die Grenze überqueren lassen, damit er dich retten konnte. Sonst wärst du verloren gewesen.«
»Ihn die Grenze überqueren lassen?«, fragte ich. »Aber …«
»Percy«, sagte sie. »Hast du dir Tyson jemals aus der Nähe angesehen? Ich meine … sein Gesicht. Achte nicht auf den Nebel und sieh ihn dir richtig an.«
Der Nebel … der die Sterblichen nur das sehen ließ, was ihr Gehirn verarbeiten konnte. Ich wusste, dass er auch Demigottheiten in die Irre führen konnte, aber …
Ich schaute Tyson ins Gesicht. Das war nicht leicht. Es war mir immer schon schwergefallen, nur hatte ich nie ganz verstanden, warum. Ich dachte, es läge daran, dass seine krummen Zähne immer mit Erdnussbutter verschmiert waren.
Ich zwang mich dazu, mich auf seine große klumpige Nase zu konzentrieren, dann ein wenig höher auf seine Augen …
Nein, nicht seine Augen.
Ein Auge. Ein großes kalbbraunes Auge mitten auf seiner Stirn, mit langen Wimpern und voller dicker Tränen, die auf beiden Seiten über seine Wangen kullerten.
»Tyson«, murmelte ich. »Du bist ein …«
»Zyklop«, fügte Annabeth hilfsbereit hinzu. »Ein Baby, so wie er aussieht. Vermutlich konnte er deshalb nicht so leicht die Grenze übertreten wie die Stiere. Tyson gehört zu den heimatlosen Waisen.«
»Zu den was?«
»Es gibt sie in fast allen großen Städten«, sagte Annabeth angewidert. »Sie sind … Fehltritte, Percy. Kinder von Naturgeistern und Gottheiten … na ja, meistens von einem Gott … und sie sind nicht immer so, wie sie sein sollten. Niemand will sie haben. Sie werden hin und her gestoßen. Sie wachsen auf der Straße auf. Ich weiß ja nicht, wie dieser dich gefunden hat, aber offenbar mag er dich. Wir sollten ihn zu Chiron bringen, der kann entscheiden, was aus ihm werden soll.«
»Aber das Feuer. Wie …«
»Er ist ein Zyklop.« Annabeth legte eine Pause ein und schien sich an eine unangenehme Tatsache zu erinnern. »Sie arbeiten in den Schmieden der Götter. Sie müssen gegen Feuer immun sein. Das habe ich dir zu erklären versucht.«
Ich war völlig geschockt. Wieso hatte ich nicht bemerkt, was Tyson war?
Aber ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Der ganze Hang brannte. Die Verletzten mussten versorgt werden. Und dann waren da noch zwei ramponierte Bronzestiere und ich hatte keine Vorstellung davon, wie wir sie in unsere Wertstofftonnen quetschen sollten.
Clarisse kam zu uns herüber und wischte sich Ruß von der Stirn. »Jackson, wenn das geht, dann steh auf. Wir müssen die Verwundeten ins Hauptgebäude tragen und Tantalus erzählen, was passiert ist.«
»Tantalus?«, fragte ich.
»Der Unterrichtskoordinator«, erklärte Clarisse ungeduldig.
»Das ist doch Chiron. Und wo ist Argus? Der ist doch für die Sicherheit verantwortlich. Warum ist er nicht hier?«
Clarisse schnitt eine Grimasse. »Argus ist gefeuert worden. Ihr beide wart zu lange weg. Hier hat sich einiges geändert.«
»Aber Chiron … er hat doch seit über dreitausend Jahren Leute für den Kampf gegen Ungeheuer trainiert. Er kann einfach nicht weg sein. Was ist passiert?«
»Das ist passiert«, fauchte Clarisse.
Sie zeigte auf Thalias Baum.
Alle im Camp kannten die Geschichte des Baums. Vor sechs Jahren waren Grover, Annabeth und zwei weitere Demigottheiten namens Thalia und Luke vor einer Monsterarmee zum Camp Half-Blood geflohen. Als sie oben auf dem Hügel in die Enge getrieben wurden, hielt Thalia, eine Tochter des Zeus, sie lange genug auf, damit ihre Freunde sich in Sicherheit bringen konnten. Als sie im Sterben lag, erbarmte ihr Vater Zeus sich ihrer und verwandelte sie in eine Fichte. Ihr Geist hatte die magischen Grenzen des Camps gestärkt und es vor Ungeheuern beschützt. Seither stand die Fichte hier und war stark und gesund.
Aber jetzt waren ihre Nadeln gelb und bedeckten rings um den Baum den Boden. Mitten im Stamm, etwas weniger als einen Meter vom Boden entfernt, klaffte eine Wunde von der Größe eines Einschusslochs, aus der eine grünliche Flüssigkeit quoll.
Ein eisiger Schauer lief durch meine Brust. Jetzt wusste ich, warum das Camp in Gefahr war. Die magischen Grenzen wurden schwächer, weil Thalias Baum starb.
Irgendwer hatte ihn vergiftet.
Ich bekomme einen neuen Mitbewohner
Seid ihr jemals nach Hause gekommen und euer Zimmer war das pure Chaos? Als ob irgendeine hilfsbereite Person (huhu, Mom) versucht hätte »aufzuräumen«, und plötzlich könnt ihr nichts mehr finden? Und selbst, wenn nichts fehlt, habt ihr das unheimliche Gefühl, dass irgendwer in eurem privaten Kram geschnüffelt und alles mit Möbelpolitur mit Zitronenduft übersprüht hat?
So ungefähr kam ich mir beim Wiedersehen mit Camp Half-Blood vor.
Auf den ersten Blick waren die Veränderungen nicht so groß. Das Hauptgebäude stand noch immer da, mit dem blauen Giebel und der Veranda, die sich um das ganze Haus zog. Die Erdbeerfelder brutzelten noch immer in der Sonne. Noch immer waren die griechischen Häuser mit ihren weißen Säulen überall im Tal verteilt – das Amphitheater, das Kampffeld, der Speisepavillon, der auf den Long Island Sound hinausging. Und zwischen Wald und Bach standen dieselben Hütten wie immer – eine bunte Ansammlung von zwölf Häusern, von denen jedes einer griechischen Gottheit gewidmet war.
Aber ich spürte die Gefahr. Ich merkte, dass etwas nicht stimmte. Statt in der Sandgrube Volleyball zu spielen, türmten Tutoren und Satyrn im Werkzeugschuppen Waffen aufeinander. Mit Pfeil und Bogen bewaffnete Dryaden redeten nervös am Waldrand aufeinander ein. Der Wald sah kränklich aus, das Gras auf der Wiese war blassgelb und die Feuerspuren auf dem Half-Blood Hill sahen aus wie hässliche Narben.
Irgendwer hatte meinen liebsten Ort auf der ganzen Welt zerstört und ich war … also, ich war nicht gerade ein glücklicher Campbewohner.
Als wir auf das Hauptgebäude zugingen, erkannte ich viele vom letzten Sommer. Niemand blieb stehen, um mit uns zu reden. Niemand sagte: »Schön, dass ihr wieder hier seid.« Einige fuhren zurück, wenn sie Tyson sahen, aber die meisten gingen einfach mit düsterer Miene weiter und widmeten sich ihrer Arbeit – Mitteilungen überbringen, Schwerter an Schleifsteinen wetzen. Das Camp kam mir vor wie eine Militärschule. Und glaubt mir, ich kannte mich aus. Ich war schon von einigen Schulen gefeuert worden.
Tyson war das alles egal. Er war total fasziniert von allem, was er sah.
»’ssndas?«, keuchte er.
»Die Ställe für die Pegasi«, sagte ich. »Die geflügelten Pferde.«
»’ssndas?!«
»Äh … das sind die Toiletten.«
»’ssndas?«
»Die Hütten für die Campbewohner. Wenn niemand weiß, von welcher Gottheit du abstammst, dann wirst du in die Hermes-Hütte gesteckt – die braune dahinten –, bis über dich entschieden worden ist. Wenn sie es dann wissen, kommst du in die Hütte deiner Mom oder deines Dads.«
Er schaute mich ehrfurchtsvoll an. »Du … hast eine Hütte?«
»Nummer 3.« Ich zeigte auf ein längliches Haus aus Strandsteinen.
»Und wohnst mit Freunden in der Hütte?«
»Nein. Nein, ich bin da allein.«
Ich hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären.
Die peinliche Wahrheit: Ich war allein in dieser Hütte, weil ich eigentlich gar nicht am Leben sein dürfte. Die »Großen Drei«, die Götter Zeus, Poseidon und Hades, hatten nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen, keine Kinder mit sterblichen Frauen mehr zu zeugen. Kinder wie wir waren mächtiger als normale Halbblute; wir waren zu unvorhersagbar. Wenn wir in Wut gerieten, gab es immer wieder Probleme … den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Das Abkommen der »Großen Drei« war nur zweimal gebrochen worden – als Zeus Thalia und als Poseidon mich gezeugt hatte. Wir hätten beide nicht geboren werden dürfen.
Thalia hatte sich mit zwölf Jahren in eine Fichte verwandeln lassen. Und ich … na ja, ich gab mir alle Mühe, ihrem Beispiel nicht zu folgen. In meinen Albträumen sah ich, in was Poseidon mich verwandeln könnte, wenn ich jemals in Lebensgefahr geriete – in Plankton vielleicht. Oder ein schwimmendes Seetangknäuel.
Als wir das Hauptgebäude erreichten, trafen wir Chiron in seinem Zimmer an. Er hörte seine Lieblingsbarmusik aus den sechziger Jahren und packte seine Satteltaschen.
Vielleicht sollte ich erwähnen … Chiron ist ein Zentaur. Von der Hüfte aufwärts sieht er aus wie ein ganz normaler Mann mittleren Alters mit braunen Locken und einem schütteren Bart. Aber unterhalb der Taille ist er ein weißer Hengst. Er kann glatt als Mensch durchgehen, wenn er seine untere Hälfte in einen magischen Rollstuhl zwängt. Als ich in der siebten Klasse war, hatte er sich sogar als mein Lateinlehrer ausgegeben. Aber meistens, wenn die Zimmerdecken hoch genug sind, tritt er lieber in voller Zentaurengestalt auf.
Tyson sah Chiron an und erstarrte.
»Pony!«, rief er hingerissen.
Chiron fuhr herum und machte ein beleidigtes Gesicht. »Wie bitte?«
Annabeth fiel ihm um den Hals. »Chiron, was ist los? Sie wollen doch nicht … gehen?«
Ihre Stimme zitterte. Chiron war für sie wie ein zweiter Vater.
Chiron fuhr ihr durch die Haare und lächelte sie freundlich an. »Hallo, Kind. Und Percy, meine Güte. Du bist in diesem Jahr aber gewachsen!«
Ich schluckte. »Clarisse sagt, Sie … Sie seien …«
»Gefeuert worden.« Chirons Augen funkelten sarkastisch. »Ach, egal. Irgendwem mussten sie die Schuld doch zuschieben. Der Herr Zeus war wirklich außer sich. Der Baum, den er aus dem Geist seiner Tochter erschaffen hat – vergiftet! Da musste Mr D doch irgendwen bestrafen.«
»Nur sich selbst nicht, meinen Sie«, knurrte ich. Beim bloßen Gedanken an Campdirektor D wurde ich schon sauer.
»Aber das ist doch Wahnsinn!«, rief Annabeth. »Chiron, Sie können doch Thalias Baum nicht vergiftet haben!«
»Trotzdem«, seufzte Chiron, »irgendwer im Olymp misstraut mir unter den derzeitigen Umständen.«
»Was denn für Umstände?«, fragte ich.
Chirons Gesicht verdüsterte sich. Er stopfte ein lateinisch-englisches Wörterbuch in seine Satteltaschen, während weiter Frank-Sinatra-Musik aus seinem Ghettoblaster quoll.
Tyson starrte Chiron noch immer verdutzt an. Er fiepte und hätte offenbar gern Chirons Flanke gestreichelt, wagte sich aber nicht an ihn heran. »Pony?«
Chiron schnaubte beleidigt. »Mein lieber junger Zyklop! Ich bin ein Zentaur!«
»Chiron«, sagte ich. »Was ist mit dem Baum? Was ist passiert?«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Das Gift, an dem Thalias Fichte krankt, kommt aus der Unterwelt, Percy. Ich habe dieses Gift noch nie gesehen. Es muss von einem Ungeheuer in den Tiefen des Tartarus stammen.«
»Dann wissen wir, wer dahintersteckt. Kro…«
»Erwähne den Namen des Titanenherrn nicht, Percy. Schon gar nicht hier und jetzt.«
»Aber im vergangenen Sommer hat er versucht, im Olymp einen Bürgerkrieg auszulösen. Er muss einfach dahinterstecken. Bestimmt hat er Luke angestiftet, diesen Verräter.«
»Mag sein«, sagte Chiron. »Aber ich fürchte, ich werde verantwortlich gemacht, weil ich es nicht verhindert habe und weil ich den Baum nicht retten kann. Es bleiben ihm nur noch wenige Wochen, es sei denn …«
»Es sei denn?«, fragte Annabeth.
»Nein«, sagte Chiron. »Ein törichter Gedanke. Das ganze Tal ist von der Wirkung des Gifts betroffen. Die magischen Grenzen lösen sich auf. Das Camp stirbt. Nur eine einzige Quelle der Magie könnte die Wirkung des Gifts rückgängig machen, aber die haben wir schon vor Jahrhunderten verloren.«
»Welche denn?«, fragte ich. »Wir müssen sie wiederfinden!«
Chiron schloss seine Satteltasche. Er schaltete den Ghettoblaster aus. Dann drehte er sich um, legte mir die Hand auf die Schulter und schaute mir in die Augen.
»Percy, du musst mir versprechen, dass du nicht vorschnell handeln wirst. Ich habe deiner Mutter gesagt, dass ich dich in diesem Sommer hier nicht sehen will. Es ist viel zu gefährlich. Aber da du nun einmal hier bist – bleib hier. Widme dich dem Training. Lerne kämpfen. Aber verlass das Camp nicht.«
»Warum?«, fragte ich. »Ich möchte etwas tun! Ich kann doch die Grenzen nicht einfach zerfallen lassen. Dann wird doch das ganze Camp …«
»Von Ungeheuern überrannt«, sagte Chiron. »Ja, das fürchte ich auch. Aber du darfst dich nicht zu vorschnellen Entscheidungen verleiten lassen. Das hier könnte eine Falle des Herrn der Titanen sein. Denk an den vorigen Sommer! Er hat dich fast ums Leben gebracht.«
Das stimmte zwar, aber ich wollte unbedingt helfen. Und ich wollte mich an Kronos rächen.
Ich meine, man könnte doch annehmen, der Titanenherr hätte schon vor Äonen seine Lektion gelernt, damals, als die Götter ihn vom Thron gestürzt hatten. Man sollte meinen, in eine Million Stücke zerhackt und in den finstersten Teil der Unterwelt geworfen zu werden, wäre eine klare Andeutung, dass er anderswo nicht willkommen war. Aber nichts da. Weil er unsterblich war, lebte er noch immer da unten im Tartarus – litt ewige Qualen, sehnte sich danach, zurückzukehren und dem Olymp alles heimzuzahlen. Er konnte nicht selbstständig handeln, aber er war geschickt darin, den Sterblichen den Kopf zu verdrehen und sogar Götter die Drecksarbeit für sich machen zu lassen.
Bestimmt steckte er hinter dieser Giftaktion. Wer könnte sonst so tief sinken und Thalias Baum angreifen, den einzigen Überrest einer Heldin, die ihr Leben für ihre Freunde gegeben hatte?
Annabeth gab sich alle Mühe, nicht zu weinen. Chiron wischte ihr eine Träne von der Wange.
»Bleib bei Percy, Kind«, sagte er zu ihr. »Sorg dafür, dass er in Sicherheit ist. Und denk an die Weissagung!«
»Ja – das werde ich.«
»Äh«, sagte ich. »Ist hier zufällig von dieser supergefährlichen Weissagung die Rede, die von mir handelt, aber die Sie mir aufgrund der göttlichen Befehle nicht verraten dürfen?«
Alle schwiegen.
»Na gut«, murmelte ich. »Hat mich nur mal interessiert.«
»Chiron …«, sagte Annabeth, »… Sie haben mir erzählt, dass die Götter Sie nur so lange unsterblich gemacht haben, wie Sie gebraucht werden, um Heroen zu trainieren. Wenn Sie aus dem Camp entlassen werden …«
»Schwör mir, dass du alles tun wirst, um Percy vor Gefahr zu bewahren«, mahnte Chiron. »Schwör beim Fluss Styx.«
»Ich … ich schwöre beim Fluss Styx«, sagte Annabeth.
Draußen grollte der Donner.
»Sehr gut«, sagte Chiron. Er wirkte jetzt ein klein wenig lockerer. »Vielleicht wird meine Unschuld bewiesen und ich kann zurückkehren. Bis dahin werde ich meine wilden Verwandten in den Everglades besuchen. Vielleicht kennen sie ein vergessenes Gegengift. Auf jeden Fall werde ich im Exil bleiben, bis dieser Fall geklärt ist … so oder so.«
Annabeth unterdrückte ein Schluchzen.
Chiron streichelte unbeholfen ihre Schulter. »Aber, aber, Kind. Ich muss deine Sicherheit Mr D und dem neuen Unterrichtskoordinator anvertrauen. Wir müssen hoffen … na ja, vielleicht werden sie das Camp nicht so schnell zerstören, wie ich fürchte.«
»Wer ist eigentlich dieser Tantalus?«, fragte ich. »Wie kommt der dazu, sich Ihren Posten unter den Nagel zu reißen?«
Ein Muschelhorn erscholl im Tal. Mir wurde erst jetzt klar, wie spät es schon war. Es wurde Zeit, sich zum Abendessen einzufinden.
»Geht jetzt«, sagte Chiron. »Ihr werdet ihn im Pavillon kennenlernen. Ich werde deiner Mutter mitteilen, dass du in Sicherheit bist, Percy. Bestimmt macht sie sich schon Sorgen. Und denk an meine Warnung! Du schwebst in großer Gefahr. Bilde dir auch nicht für eine Sekunde ein, der Titanenherr könnte dich vergessen haben!«
Mit diesen Worten trabte er aus dem Zimmer und über den Gang. Tyson rief hinter ihm her: »Pony! Bleib hier!«
Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, Chiron meinen Traum von Grover zu erzählen. Jetzt war es zu spät. Der beste Lehrer, den ich je gehabt hatte, war verschwunden … vielleicht für immer.
Tyson heulte fast so jämmerlich los wie Annabeth.
Ich versuchte ihnen einzureden, dass alles in Ordnung kommen würde, aber ich glaubte es selber nicht.
Die Sonne ging hinter dem Speisepavillon unter, als alle aus ihren Hütten kamen. Wir standen im Schatten einer Marmorsäule und sahen zu.
Annabeth war noch immer ziemlich fertig, aber sie versprach, später mit uns zu reden. Dann ging sie los, um sich ihren Halbgeschwistern aus der Athene-Hütte anzuschließen – einem Dutzend Jungen und Mädchen mit blonden Haaren und grauen Augen wie sie. Annabeth war nicht die Älteste, aber sie hatte wahrscheinlich mehr Sommer als alle anderen hier im Lager verbracht. Das verriet ein Blick auf ihr Halsband – es gab eine Perle für jeden Sommer und Annabeth hatte sechs. Niemand stellte ihr Recht in Frage, ganz vorn in der Schlange zu stehen.
Als Nächste kam Clarisse, die die Ares-Sprösslinge anführte. Sie trug einen Arm in einer Schlinge und hatte eine scheußliche Wunde in der Wange, ansonsten schien ihr Zusammenstoß mit dem Bronzestier keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben. Irgendwer hatte ihr ein Blatt Papier mit der Aufschrift »DU MUHST, ALTE!« auf den Rücken geklebt. Aber niemand aus ihrer Hütte machte sich die Mühe, sie darauf aufmerksam zu machen.
Ihnen folgte die Hephaistos-Hütte – sechs Typen, geführt von Charles Beckendorf, einem fünfzehnjährigen Afroamerikaner. Er hatte Hände groß wie Baseballhandschuhe und ein Gesicht, das hart und schlitzäugig aussah, weil er den ganzen Tag in die Esse der Grobschmiede starrte. Er war eigentlich ziemlich nett, wenn man ihn besser kennenlernte, aber niemand nannte ihn jemals Charlie oder Chuck oder auch nur Charles. Die meisten sagten einfach Beckendorf. Angeblich konnte er alles herstellen. Wenn man ihm ein Stück Metall gab, konnte er ein rasierklingenscharfes Schwert oder einen Kriegsroboter oder eine singende Vogelbadewanne für den Garten deiner Großmutter daraus schmieden. Was man sich eben gerade wünschte.
Dann erschienen im Gänsemarsch die übrigen Hütten: Demeter, Apollo, Aphrodite, Dionysos. Najaden kamen vom Kanusee. Dryaden lösten sich aus den Bäumen. Von der Wiese her zog ein Dutzend Satyrn herbei, die mich schmerzlich an Grover erinnerten.
Ich hatte immer schon eine Schwäche für Satyrn gehabt. Wenn sie im Camp waren, mussten sie alle möglichen Arbeiten für den Direktor Mr D ausführen, aber ihre wichtigste Arbeit verrichteten sie draußen in der wirklichen Welt. Sie waren die Sucher des Camps. Sie besuchten in Verkleidung alle Schulen auf der Welt, hielten Ausschau nach möglichen Halbbluten und brachten sie her. Auf diese Weise hatte ich Grover kennengelernt. Er hatte mich entdeckt.
Als die Satyrn sich zum Abendessen in den Pavillon eingefunden hatten, kam die Hermes-Hütte als Nachhut. Sie war immer die größte Hütte. Im vergangenen Sommer war sie von Luke angeführt worden, dem Typen, der oben auf Half-Blood Hill an der Seite von Thalia und Annabeth gekämpft hatte. Ich hatte eine Zeit lang, ehe Poseidon sich zu mir bekannt hatte, in der Hermes-Hütte gehaust. Luke hatte meine Freundschaft gesucht … und dann versucht, mich umzubringen.
Jetzt wurde die Hermes-Hütte von Travis und Connor Steel angeführt. Sie waren keine Zwillinge, sahen aber so aus. Ich konnte mir nie merken, welcher der Ältere war. Sie waren beide groß und dünn und hatten wilde braune Mähnen, die ihnen in die Augen hingen. Sie trugen orangefarbene T-Shirts mit der Aufschrift CAMP HALF-BLOOD über ihren ausgebeulten Shorts, und sie hatten die elfenhaften Züge aller Hermes-Kinder: nach oben geschwungene Augenbrauen, sarkastisches Lächeln und ein Funkeln in den Augen, wenn sie dich ansahen – als ob sie dir gerade einen Knallfrosch ins Hemd werfen wollten. Ich fand es immer seltsam, dass der Gott der Diebe Kinder mit dem Nachnamen Steel hatte, aber als ich das Travis und Connor gegenüber einmal erwähnte, haben sie mich fragend angestarrt, als ob sie den Witz nicht kapiert hätten.
Als die letzten Campbewohner im Pavillon verschwunden waren, führte ich Tyson in die Mitte. Es wurde still. Alle schauten uns an.
»Wer hat das denn eingeladen?«, murmelte irgendwer am Apollo-Tisch.
Ich starrte wütend hinüber, konnte aber nicht feststellen, wer es war.
Vom Lehrertisch hörte ich eine vertraute Stimme: »Na, wenn das nicht Peter Johnson ist. Tausend Jahre Freude.«
Ich knirschte mit den Zähnen. »Percy Jackson … Sir.«
Mr D nippte an seiner Cola light. »Jaja, – wie ihr jungen Leute heutzutage immer sagt: egal.«
Er trug sein übliches Hawaiihemd mit Leopardenmuster, Laufshorts und Tennisschuhe mit schwarzen Socken. Mit seinem Schmerbauch und seinem aufgedunsenen roten Gesicht sah er aus wie ein Tourist in Las Vegas, der abends im Kasino versackt ist. Hinter ihm pellte ein nervös aussehender Satyr Trauben und reichte Mr D eine nach der anderen.
Mr D heißt in Wirklichkeit Dionysos. Der Gott des Weines. Zeus hatte ihn zum Leiter von Camp Half-Blood ernannt, weil er dreihundert Jahre lang ausnüchtern sollte – als Strafe dafür, dass er eine Waldnymphe belästigt hatte, die nicht für ihn bestimmt gewesen war.
Neben ihm, wo sonst Chiron saß (oder stand, in Zentaurengestalt), befand sich jemand, den ich noch nie gesehen hatte – ein bleicher, entsetzlich dünner Mann in einem fadenscheinigen orangefarbenen Häftlingsoverall. Die Nummer über seiner Brusttasche war 0001. Er hatte blaue Schatten unter den Augen, schmutzige Fingernägel und schlecht geschnittene graue Haare, als sei er zuletzt mit einer Sense geschoren worden. Er starrte mich an und sein Blick machte mich nervös. Er sah … fertig aus. Wütend und frustriert und hungrig, alles auf einmal.
»Dieser Knabe«, sagte Dionysos zu ihm, »den solltest du im Auge behalten. Poseidons Kleiner, du weißt schon.«
»Ah«, sagte der Häftling. »Der.«
Sein Tonfall verriet mir, dass er und Dionysos schon ausgiebig über mich gesprochen hatten.
»Ich bin Tantalus«, sagte der Mann mit kaltem Lächeln. »Im Sondereinsatz hier, bis … also, bis mein Herr Dionysos andere Verfügungen trifft. Und was dich betrifft, Perseus Jackson: Ich erwarte von dir, dass du keinen Ärger mehr machst.«
»Ärger?«, fragte ich.
Dionysos schnippte mit den Fingern. Auf dem Tisch erschien eine Zeitung – die erste Seite der heutigen »New York Post«. Und sie zeigte ein Foto von mir an der Meriwether Prep. Ich war zu verstört, um mit meiner Legasthenie auch nur die grellorange Schlagzeile zu lesen, aber ich konnte mir vorstellen, was da stand. So in etwa: Junger Irrer (13) steckt Turnhalle an.
»Ja, Ärger«, sagte Tantalus zufrieden. »Im vergangenen Sommer hast du jede Menge davon gemacht, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Ich war zu wütend, um etwas sagen zu können. War jetzt ich daran schuld, dass die Götter sich fast in einen Bürgerkrieg gestürzt hätten?
Ein Satyr schlich mit nervöser Miene herbei und stellte einen Grillteller vor Tantalus hin. Der neue Unterrichtskoordinator leckte sich die Lippen. Er schaute seinen leeren Becher an und sagte: »Malzbier. Bargs Sonderabfüllung, 1967.«
Der Becher füllte sich mit einer schäumenden Flüssigkeit. Tantalus streckte zögernd die Hand aus und schien zu fürchten, der Becher könne heiß sein.
»Na los, Alter«, sagte Dionysos mit seltsamem Funkeln in den Augen. »Vielleicht klappt es jetzt.«
Tantalus griff nach dem Becher, aber der rutschte weg, ehe er ihn zu fassen bekam. Ein paar Tropfen Malzbier schwappten heraus und Tantalus versuchte, sie mit den Fingern aufzufangen, aber die Tropfen kullerten wie Quecksilber davon. Er knurrte und wandte sich seinem Grillteller zu. Er nahm seine Gabel und wollte ein Stück Fleisch aufspießen, aber der Teller rutschte über den Tisch, flog am Ende herunter und landete im Kohlenbecken.
»Verflixt!«, murmelte Tantalus.
»Keine Sorge«, sagte Dionysos und seine Stimme troff vor falschem Mitgefühl. »Vielleicht noch ein paar Tage. Glaub mir, alter Knabe, die Arbeit hier im Camp wird Qual genug sein. Ich bin sicher, dein Fluch wird nach und nach verfliegen.«
»Nach und nach«, murmelte Tantalus und starrte Dionysos’ Cola light an. »Hast du überhaupt eine Vorstellung, was für eine trockene Kehle man nach dreitausend Jahren hat?«
»Sie sind dieser Geist auf den Feldern der Bestrafung«, sagte ich. »Der, der im See steht, und über Ihnen hängen Zweige voller Obst, aber Sie können weder essen noch trinken.«
Tantalus fauchte mich an: »Bist wohl ein richtiger Gelehrter, was?«
»Sie müssen zu Ihren Lebzeiten etwas ganz Entsetzliches verbrochen haben«, sagte ich ziemlich beeindruckt. »Aber was?«
Tantalus kniff die Augen zusammen. Die Satyrn hinter ihm schüttelten heftig die Köpfe, um mich zu warnen.
»Ich werde dich im Auge behalten, Percy Jackson«, sagte Tantalus. »Ich will in meinem Camp keinen Ärger.«
»Ihr Camp hat schon Ärger … Sir.«
»Ach, setz dich, Johnson«, seufzte Dionysos. »Ich glaube, der Tisch dahinten ist deiner – der, an dem sonst niemand sitzen will.«
Mein Gesicht brannte, aber ich war nicht so dumm zu widersprechen. Dionysos war ein zu groß geratener Rotzbengel, aber er war leider auch ein unsterblicher, supermächtiger Rotzbengel. Ich sagte: »Komm mit, Tyson.«
»Nichts da«, sagte Tantalus. »Die Missgeburt bleibt hier. Wir müssen überlegen, was wir damit machen.«
»Mit ihm«, fauchte ich. »Er heißt Tyson.«
Der neue Unterrichtskoordinator hob eine Augenbraue.
»Tyson hat das Camp gerettet«, erklärte ich. »Er hat die Bronzestiere zu Klump geschlagen. Ansonsten hätten die hier alles abgefackelt.«
»Ja«, seufzte Tantalus. »Und das wäre ja nun wirklich traurig gewesen.«
Dionysos kicherte.
»Geh jetzt«, befahl Tantalus. »Wir werden über das Schicksal dieser Kreatur entscheiden.«
Tyson sah mich mit tiefer Angst in seinem einen Auge an, aber ich wusste, dass ich einem direkten Befehl der Campleiter gehorchen musste – zumindest in der Öffentlichkeit.
»Ich bin dahinten, Großer«, versprach ich. »Mach dir keine Sorgen. Wir finden schon ein schönes Bett für dich.«
Tyson nickte. »Ich glaube dir. Du bist mein Freund.«
Und schon fühlte ich mich verdammt schuldig.
Ich trottete zum Poseidon-Tisch hinüber und ließ mich auf die Bank fallen. Eine Waldnymphe brachte mir einen Teller mit olympischer Oliven-und-Peperoni-Pizza, aber ich hatte keinen Hunger. An diesem Tag war ich zweimal nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ich hatte mein Schuljahr mit einer kompletten Katastrophe beendet. Camp Half-Blood schwebte in großer Gefahr und Chiron hatte mir gesagt, ich dürfe nichts dagegen unternehmen.
Ich fühlte mich nicht gerade dankbar, aber ich ging wie üblich mit meinem Teller zum bronzenen Kohlenbecken und kratzte einen Teil von meinem Essen in die Flammen.
»Poseidon«, murmelte ich. »Nimm mein Opfer an.«
Und schick mir ein bisschen Hilfe, wenn du schon dabei bist, betete ich in Gedanken. Bitte.
Der Rauch der brennenden Pizza verwandelte sich in einen würzigen Duft – den Duft eines reinen Seewindes, der den Geruch von Wiesenblumen mit sich trägt –, aber ich hatte keine Ahnung, ob das bedeutete, dass mein Vater mich gehört hatte.
Ich ging zurück zu meinem Platz. Ich glaubte nicht, dass alles noch schlimmer werden könnte, aber da ließ Tantalus einen Satyr das Muschelhorn blasen, um eine Mitteilung zu machen.
»Ja, also«, sagte Tantalus, als alle verstummt waren. »Das war mal wieder eine leckere Mahlzeit. Wie ich gehört habe.«
Während er das sagte, stahl seine Hand sich zu seinem frisch gefüllten Teller hin, als hoffte er, dass das Essen es vielleicht nicht bemerken würde. Aber es bemerkte es doch und jagte über den Tisch, sowie er sich bis auf zehn Zentimeter genähert hatte.
»Und an meinem ersten Tag in diesem Amt«, fügte er hinzu, »möchte ich sagen, was für eine angenehme Form der Bestrafung es ist, hier zu sein. Im Laufe des Sommers hoffe ich, jedes einzelne von euch Kindern hier zu quälen – äh, ich meine, richtig gut kennenzulernen. Ihr alle seht ziemlich appetitlich aus.«
Dionysos applaudierte höflich und einige Satyrn schlossen sich halbherzig an.
Tyson stand noch immer da und schien sich gar nicht wohl in seiner Haut zu fühlen, aber immer, wenn er versuchte, sich aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zu schleichen, hielt Tantalus ihn fest.
»Und jetzt zu den Neuerungen.« Tantalus grinste in die Runde. »Wir werden die Wagenrennen wieder einführen.«
An allen Tischen wurde Gemurmel laut – vor Aufregung, Angst, Staunen.
»Ja, ich weiß«, fuhr Tantalus jetzt lauter fort, »dass diese Rennen vor einigen Jahren abgeschafft wurden, aufgrund von … äh, technischen Problemen.«
»Drei Tote und sechsundzwanzig Verstümmelte«, rief jemand am Apollo-Tisch.
»Jaja«, sagte Tantalus. »Aber ich weiß, ihr alle werdet wie ich die Wiedereinführung dieser Camptradition willkommen heißen. Jeden Monat wird ein siegreiches Team mit goldenen Lorbeeren geehrt. Die Teams können sich morgen früh anmelden. Das erste Rennen wird in drei Tagen stattfinden. Wir werden euch von den meisten regulären Pflichten entbinden, damit ihr eure Wagen vorbereiten und eure Pferde aussuchen könnt. Und hab ich schon erwähnt, dass das siegreiche Team in dem Monat, in dem es gewinnt, zu keinerlei Aufräum- und anderen Arbeiten herangezogen wird?«
Alle redeten wild durcheinander – einen Monat lang keinerlei Haushaltspflichten? Kein Ausmisten der Ställe? Konnte das sein Ernst sein?
Dann meldete sich die zu Wort, von der ich als Letzte Widerspruch erwartet hätte.
»Aber Sir«, sagte Clarisse. Sie sah nervös aus, wie sie da vor dem Ares-Tisch stand. Einige kicherten, als sie den »DU MUHST, ALTE!«-Zettel auf ihrem Rücken sahen. »Was ist mit den Patrouillen? Ich meine, wenn wir alles stehen und liegen lassen, um unsere Wagen fit zu machen …«
»Ah, die Heldin des Tages«, rief Tantalus. »Die tapfere Clarisse, die ganz allein die Bronzestiere bezwungen hat!«
Clarisse blinzelte, dann wurde sie rot. »Äh, ich hab nicht …«
»Und bescheiden ist sie auch noch«, sagte Tantalus grinsend. »Aber mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Das hier ist ein Sommercamp. Und wir sind hier, um Spaß zu haben, stimmt’s?«
»Aber der Baum …«
»Und jetzt«, sagte Tantalus, während Clarisse von ihren Mitbewohnern auf ihren Stuhl gezogen wurde, »ehe wir uns zum Rundgesang ans Lagerfeuer setzen, noch eine Kleinigkeit. Percy Jackson und Annabeth Chase haben es aus unerfindlichen Gründen für angebracht gehalten, das hier mitzubringen.«
Tantalus zeigte auf Tyson.
Besorgtes Murmeln in der Runde. Allerlei verstohlene Blicke in meine Richtung. Ich hätte Tantalus umbringen mögen.
»Es ist bekanntlich so«, sagte er, »dass Zyklopen als blutrünstige Monster mit überaus geringer Gehirnkapazität gelten. Unter normalen Umständen würde ich dieses Vieh in den Wald laufen und dort mit Fackeln und Speeren jagen lassen. Aber wer weiß? Vielleicht ist dieser Zyklop nicht so entsetzlich wie die meisten seiner Brüder. Bis dieses Wesen zeigt, dass es die Vernichtung verdient hat, brauchen wir einen Ort, wo wir es aufbewahren können. Ich habe schon an die Ställe gedacht, aber das würde den Pferden Angst machen. Wie wäre es mit der Hermes-Hütte?«
Schweigen am Hermes-Tisch. Travis und Connor Steel entwickelten ein plötzliches Interesse an der Tischdecke. Ich konnte ihnen da keine Vorwürfe machen, die Hermes-Hütte war immer zum Bersten gefüllt. Nie im Leben würden die da einen Zyklopen von eins neunzig unterbringen können.
»Na los«, stichelte Tantalus. »Vielleicht kann die Missgeburt ein paar niedere Arbeiten übernehmen. Weiß denn niemand einen passenden Zwinger für das Vieh?«
Plötzlich schnappten alle nach Luft.
Tantalus fuhr überrascht von Tyson zurück. Und ich konnte nur ungläubig das leuchtend grüne Licht anstarren, das mein Leben verändern sollte – eine schwindelerregende Holografie, die über Tysons Kopf erschien.
Mein Magen drehte sich um, als mir einfiel, was Annabeth über Zyklopen gesagt hatte: Sie sind die Kinder von Naturgeistern und Gottheiten … na ja, meistens von einem Gott …
Über Tyson flimmerte ein leuchtend grüner Dreizack – das Symbol, das auch über meinem Kopf aufgetaucht war, als Poseidon mich als seinen Sohn anerkannt hatte.
Alles schwieg ehrfurchtsvoll.
Es kam selten vor, dass eine Gottheit sich zu einem Sprössling bekannte. Einige hier warteten schon ihr Leben lang vergeblich. Als Poseidon mich im vergangenen Sommer anerkannt hatte, waren alle auf die Knie gefallen. Aber jetzt hielten sie sich an Tantalus’ Beispiel und Tantalus brüllte vor Lachen. »Sieh an. Na, dann wissen wir doch, wo das Vieh hingehört. Bei allen Göttern, jetzt sehe ich die Familienähnlichkeit auch!«
Alle lachten, nur Annabeth und einige meiner anderen Freunde nicht.
Tyson schien das alles nicht zu bemerken. Er war zu verwirrt und versuchte, dem glühenden Dreizack auszuweichen, der jetzt über seinem Kopf verblasste. Er war zu unschuldig, um zu begreifen, dass alle sich auf seine Kosten lustig machten. Wie grausam die Menschen waren.
Aber ich hatte kapiert.
Ich hatte einen neuen Mitbewohner. Ich hatte ein Ungeheuer zum Halbbruder.
Dämonische Tauben greifen an
Die nächsten Tage waren die pure Qual, genau wie Tantalus sich das gewünscht hatte.
Zuerst zog Tyson in die Poseidon-Hütte; er kicherte alle fünfzehn Sekunden und sagte: »Percy ist mein Bruder«, so als verkünde er einen Lottogewinn.
»Ach, Tyson«, sagte ich. »So einfach ist das nun auch wieder nicht.«
Er war im Himmel. Und ich … sosehr ich den Großen mochte, mir war das alles doch ganz schön peinlich. Ich schämte mich. So, jetzt ist es raus.
Mein Vater, der allmächtige Poseidon, war auf irgendeinen Naturgeist abgefahren und das Ergebnis war Tyson. Ich hatte ja über Zyklopen gelesen und wusste sogar noch, dass sie Kinder des Poseidon waren. Aber ich hatte mir nie klar vor Augen gehalten, dass sie dadurch … mit mir verwandt waren. Bis Tyson ins Nachbarbett zog.
Und dann die Sprüche der anderen Campbewohner. Plötzlich war ich nicht mehr Percy Jackson, der coole Typ, der im letzten Sommer den Blitzstrahl des Zeus gerettet hatte. Jetzt war ich Percy Jackson, das arme Würstchen, das ein Ungeheuer zum Bruder hatte.
»Er ist nicht mein richtiger Bruder«, widersprach ich, wenn Tyson nicht in der Nähe war. »Er ist eher eine Art Halbbruder auf der Monsterseite der Familie. Wie … wie ein Halbbruder über zwei Ecken oder so.«
Aber das nahmen sie mir nicht ab.
Ich muss zugeben – ich war sauer auf meinen Dad. Ich hatte das Gefühl, dass es jetzt ein Witz war, sein Sohn zu sein.
Annabeth versuchte mich zu trösten. Sie schlug vor, dass wir uns für das Wagenrennen zusammentun sollten, um auf andere Gedanken zu kommen.
Versteht das jetzt nicht falsch. Wir hassten Tantalus beide und machten uns schreckliche Sorgen um das Camp. Aber wir wussten nicht, was wir tun sollten. Solange uns kein genialer Rettungsplan für Thalias Baum einfiel, fanden wir, wir könnten uns auch am Rennen beteiligen. Schließlich hatte Annabeths Mom Athene die Wagen erfunden. Und mein Vater hatte die Pferde erschaffen. Da mussten wir die Sache zusammen doch hinkriegen können.
Als wir eines Morgens am See saßen und uns Baupläne für Wagen ansahen, kamen ein paar Scherzkekse aus der Aphrodite-Hütte vorbei und fragten, ob ich Wimperntusche leihen wollte für mein Auge … ach, ’tschuldigung, meine Augen.
Sie gingen lachend weiter und Annabeth murmelte: »Beachte sie einfach nicht, Percy. Es ist doch nicht deine Schuld, dass du ein Ungeheuer als Bruder hast.«
»Er ist nicht mein Bruder«, fauchte ich. »Und ein Ungeheuer ist er auch nicht.«
Annabeth hob die Augenbrauen. »He, sei doch nicht so sauer! Und rein technisch gesehen ist er wohl ein Ungeheuer.«
»Na, du hast ihm doch den Zutritt zum Camp erlaubt.«
»Weil es die einzige Möglichkeit war, dein Leben zu retten. Es tut mir leid, Percy. Ich hätte doch nie erwartet, dass Poseidon ihn anerkennen würde. Zyklopen sind die tückischsten, verräterischsten …«
»Er nicht! Was hast du eigentlich gegen Zyklopen?«
Annabeths Ohren liefen rosa an. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg – etwas Schlimmes.
»Vergiss es«, sagte sie. »Aber was die Achse für unseren Wagen angeht …«
»Du behandelst ihn wie etwas Grauenhaftes«, sagte ich. »Er hat mir das Leben gerettet.«
Annabeth ließ ihren Bleistift fallen und sprang auf. »Dann solltest du den Wagen vielleicht mit ihm entwerfen.«
»Ja, vielleicht.«
»Schön!«
»Schön!«
Sie stürzte davon und ich fühlte mich noch elender als zuvor.
Während des nächsten Tages versuchte ich, nicht an meine Sorgen zu denken.
Silena Beauregard, eins von den netteren Mädchen aus der Aphrodite-Hütte, gab mir den ersten Reitunterricht auf einem Pegasus. Sie erklärte, dass es nur ein einziges unsterbliches geflügeltes Pferd namens Pegasus gebe, das noch immer frei durch die Himmel stromere, aber im Laufe der Äonen habe der echte Pegasus viele Kinder gezeugt, die nicht so schnell oder heldenhaft waren wie er, die aber allesamt den Namen des ersten und größten trugen.
Als Sohn des Meeresgottes fühlte ich mich in der Luft nie besonders wohl. Mein Dad war der Rivale des Zeus. Und deshalb hielt ich mich dem Herrschaftsbereich des Herrn der Lüfte möglichst fern.
Aber auf einem geflügelten Pferd zu reiten war etwas anderes. Es machte mich längst nicht so nervös wie der Aufenthalt in einem Flugzeug. Vielleicht kam es daher, dass mein Dad die Pferde aus Meeresschaum erschaffen hatte, weshalb die Pegasi eine Art von … neutralem Territorium waren. Ich konnte ihre Gedanken begreifen. Ich war nicht überrascht, wenn mein Pegasus über die Baumwipfel galoppierte oder eine Möwenschar in die Wolken aufjagte.
Das Problem war, dass auch Tyson auf den »Ponyküken« reiten wollte, aber die Pegasi scheuten, wenn er in ihre Nähe kam. Ich versuchte telepathisch, ihnen klarzumachen, dass Tyson ihnen nichts tun würde, aber das schienen sie mir nicht zu glauben. Und das brachte Tyson zum Weinen.
Der Einzige im Camp, der keine Probleme mit Tyson hatte, war Beckendorf aus der Hephaistos-Hütte. Der Schmiedegott hatte schon immer Zyklopen als Gehilfen eingestellt, und deshalb nahm Beckendorf Tyson mit, um ihm Unterricht in Metallverarbeitung zu erteilen. Er sagte, Tyson werde im Handumdrehen wie ein Meister magische Gegenstände herstellen.
Nach dem Mittagessen ging ich zusammen mit den anderen aus der Apollo-Hütte zum Training. Schwertkampf war immer schon meine Stärke gewesen. Die anderen meinten, ich sei der beste Schwertkämpfer der letzten hundert Jahre, nur Luke habe mich möglicherweise noch übertroffen. Ich wurde immer mit Luke verglichen.
Ich faltete die Apollo-Jungs mit Leichtigkeit zusammen. Ich hätte eigentlich gegen die Hütten von Ares und Athene antreten sollen, da sie die besten Schwertkämpfer hatten. Aber ich kam mit Clarisse und ihren Geschwistern nicht klar und nach meinem Streit mit Annabeth wollte ich sie einfach nicht sehen.
Dann ging ich zum Bogenschießen, obwohl ich darin eine Katastrophe war, und ohne Chiron war der Unterricht ohnehin nicht derselbe. Im Werkunterricht begann ich mit einer marmornen Poseidon-Büste, aber sie sah aus wie Sylvester Stallone und deshalb warf ich sie weg. Ich schaffte die Kletterwand auf Lava-und-Erdbeben-Stufe. Und abends ging ich an der Grenze Streife. Obwohl Tantalus behauptete, es sei nicht nötig, das Camp zu bewachen, machten einige von uns in aller Stille weiter und stellten in ihrer Freizeit einen Dienstplan auf.
Ich saß oben auf dem Half-Blood Hill und sah zu, wie die Dryaden kamen und gingen und für die sterbende Fichte sangen. Satyrn brachten ihre Rohrflöten und spielten magische Naturweisen, und die Fichtennadeln sahen für ein Weilchen gesünder aus, die Blumen am Hang dufteten ein wenig süßer und das Gras wirkte grüner – aber sowie die Musik verstummte, lag die Krankheit wieder in der Luft. Der ganze Hügel schien sich angesteckt zu haben und an dem Gift zu sterben, das in die Baumwurzeln eingedrungen war.
Je länger ich dort saß, desto wütender wurde ich.
Luke war an allem schuld. Ich dachte an sein listiges Lächeln, an die Drachenklauennarbe in seinem Gesicht. Er hatte sich als mein Freund ausgegeben und war doch die ganze Zeit Kronos’ ergebenster Diener gewesen.
Ich öffnete meine Hand. Die Narbe, die Luke mir im vergangenen Sommer verpasst hatte, verblich langsam, aber ich konnte sie noch immer sehen – ein weißer Stern an der Stelle, wo sein Skorpion mich gestochen hatte.
Ich dachte an das, was Luke mir gesagt hatte, ehe er versuchte, mich umzubringen: Leb wohl, Percy. Ein neues goldenes Zeitalter bricht an. Aber du wirst darin nicht vorkommen.
Nachts träumte ich wieder von Grover.
Manchmal hörte ich nur für einen Moment seine Stimme. Einmal sagte er: Hier ist es.
Und ein andermal: Er mag Schafe.
Ich spielte mit dem Gedanken, Annabeth von meinen Träumen zu erzählen, aber ich wäre mir blöd dabei vorgekommen. Ich meine – er mag Schafe? Sie hätte doch gedacht, ich wäre bescheuert.
Am Abend vor dem Rennen bauten Tyson und ich unseren Wagen fertig. Er war ganz schön klasse. Tyson hatte die Metallteile in der Waffenschmiede hergestellt. Ich hatte das Holz mit Sand abgerieben und den Wagen zusammengebaut. Er war blau-weiß und hatte Wellenlinien auf den Seiten und einen Dreizack vorn. Nach der ganzen Arbeit kam es mir nur fair vor, Tyson als Beifahrer zu nehmen, auch wenn das den Pferden nicht gefallen würde. Außerdem würde Tysons Gewicht uns langsamer machen.
Als wir schlafen gehen wollten, fragte Tyson: »Bist du sauer?«
Ich merkte, dass ich die Stirn gerunzelt hatte. »Nö. Bin ich nicht.«
Er legte sich hin und schwieg in der Dunkelheit. Er war viel zu lang für sein Bett. Wenn er die Decke hochzog, ragten unten seine Füße hervor. »Ich bin ein Ungeheuer.«
»Sag das nicht.«
»Schon gut. Ich will ein gutes Ungeheuer sein. Dann brauchst du nicht sauer zu sein.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte die Decke an und glaubte, langsam sterben zu müssen, zusammen mit Thalias Baum.
»Es ist nur … ich hab doch noch nie einen Halbbruder gehabt.« Ich gab mir Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Das ist für mich eine ganz neue Erfahrung. Und ich mache mir Sorgen um das Camp. Und ein Freund von mir, Grover … der ist vielleicht in Gefahr. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich ihm helfen müsste, aber ich weiß nicht, wie.«
Tyson schwieg.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Du kannst ja nichts dafür. Ich bin sauer auf Poseidon. Ich hab das Gefühl … dass er mich in Verlegenheit bringen will, dass er versucht, uns zu vergleichen oder so, und ich begreife nicht, warum.«
Ich hörte ein tiefes Dröhnen. Tyson schnarchte.
Ich seufzte. »Gute Nacht, Großer.«
Und dann machte ich ebenfalls die Augen zu.
In meinem Traum trug Grover ein Brautkleid.
Es passte ihm nicht sehr gut. Es war zu lang und der Saum war mit verkrustetem Lehm verklebt. Das tief ausgeschnittene Kleid rutschte ihm immer wieder von den Schultern. Ein zerfetzter Schleier verdeckte sein Gesicht.
Er hockte in einer düsteren Höhle, in der nur Fackeln brannten. In der einen Ecke stand ein Feldbett, in der anderen ein altmodischer Webstuhl, an dem gerade ein Stück weißes Tuch gewebt wurde.
Grover starrte mich an wie ein Fernsehprogramm, auf das er schon sehnsüchtig wartete. »Den Gottheiten sei Dank«, quiekte er. »Kannst du mich hören?«
Mein Traum-Ich reagierte nur langsam. Ich schaute mich noch immer um, registrierte die Decke, von der Stalaktiten herabhingen, den Gestank von Schafen und Ziegen, das Knurren, Grummeln und Blöken, das hinter einem kühlschrankgroßen Steinquader hervorzukommen schien, der den einzigen Ausgang verdeckte. Dahinter lag offenbar eine um einiges größere Höhle.
»Percy?«, fragte Grover. »Bitte, ich habe nicht die Kraft, die Verbindung noch stärker zu machen. Du musst mich hören!«
»Ich höre dich«, sagte ich. »Grover, was ist los?«
Hinter dem Quader brüllte eine schreckliche Stimme: »Schnuckelchen! Bist du schon fertig?«
Grover fuhr zusammen. Er rief mit Fistelstimme: »Noch nicht ganz, Liebster. Noch ein paar Tage.«
»Ba! Sind denn noch keine zwei Wochen um?«
»N-nein, Liebster. Erst fünf Tage. Macht noch zwölf.«
Das Ungeheuer verstummte. Vielleicht versuchte es nachzurechnen. Es war offenbar noch mieser im Rechnen als ich, denn es sagte: »Na gut, aber beeil dich. Ich will endlich unter den Schleier gucken, hähähä!«
Grover wandte sich wieder mir zu. »Du musst mir helfen. Und zwar ganz schnell. Ich stecke in dieser Höhle fest. Auf einer Insel im Meer.«
»Wo denn?«
»Ich weiß nicht genau. Ich war in Florida und bin dann links abgebogen.«
»Was? Wie bist du …«
»Es ist eine Falle«, sagte Grover. »Und deshalb ist noch kein Satyr von seiner Suche zurückgekehrt. Er ist ein Hirte, Percy. Und er hat es! Seine Naturmagie ist so mächtig, es riecht genauso wie der große Gott Pan. Deshalb kommen die Satyrn her und dann nimmt Polyphem sie gefangen und frisst sie auf.«
»Poly-wer?«
»Der Zyklop«, sagte Grover genervt. »Ich wäre fast entkommen. Ich war schon in St. Augustine.«
»Aber er ist dir gefolgt«, sagte ich und dachte an meinen ersten Traum. »Und hat dich in einem Laden für Brautausstattung gefangen.«
»Stimmt«, sagte Grover. »Also hat mein erster Empathielink offenbar geklappt. Verstehst du, die Sache mit dem Brautkleid hat mir das Leben gerettet. Er findet, dass ich gut rieche, und da habe ich ihm gesagt, dass das Ziegenparfüm ist. Glücklicherweise sieht er nicht sehr gut. Sein Auge ist noch immer halb blind, seit jemand versucht hat, es ihm auszustechen. Aber bestimmt wird er bald die Wahrheit herausfinden. Er hat mir zwei Wochen gegeben, um meine Brautschleppe fertig zu weben, und jetzt wird er ungeduldig.«
»Moment mal. Glaubt der Zyklop …«
»Ja«, heulte Grover. »Er hält mich für eine Zyklopin und will mich heiraten.«
Unter anderen Umständen hätte ich jetzt losgeprustet, aber Grovers Stimme klang todernst. Er zitterte vor Angst.
»Ich komme und rette dich«, versprach ich. »Wo bist du?«
»Im Meer der Ungeheuer natürlich.«
»Im Meer der was?«
»Ich hab es dir doch gesagt! Ich weiß nicht genau, wo. Und hör mal, Percy, also, es tut mir wirklich leid, aber dieser Empathielink … na ja, ich hatte keine Wahl. Unsere Gefühle sind jetzt miteinander verbunden. Wenn ich sterbe …«
»Sag bloß nicht, dass ich dann auch sterben muss.«
»Also … na ja, vielleicht nicht. Du kannst noch Jahre lang dahinvegetieren. Aber ehrlich gesagt, es wäre viel besser, wenn du mich hier rausholen könntest.«
»Schnuckelchen«, brüllte das Ungeheuer. »Essen! Lecker, lecker Schäfchen!«
Grover jammerte. »Ich muss aufhören. Beeil dich!«
»Warte! Du hast gesagt, ›es‹ sei dort. Was denn?«
»Keine Zeit. Träum süß. Lass mich nicht sterben!«
Das Bild löste sich auf und ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Es war früher Morgen. Tyson starrte mich an und in seinem großen braunen Auge stand Besorgnis.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Seine Stimme ließ mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen, denn er klang fast genauso wie das Monster, das ich im Traum gehört hatte.
Der Morgen des Tages, an dem das Rennen stattfinden sollte, war heiß und schwül. Dichter Nebel wälzte sich wie Saunadampf über den Boden. Millionen von Vögeln hockten in den Bäumen – fette graue und weiße Tauben, nur gurrten sie nicht wie normale Tauben. Sie gaben ein nervtötendes, metallisches Schreien von sich und erinnerten mich an U-Boot-Radar.
Die Rennstrecke war auf einer Wiese zwischen dem Schießgelände und dem Wald angelegt worden. Hephaistos’ Hütte hatte mit den Bronzestieren, die lammfromm waren, seit Tyson ihnen die Schädel eingeschlagen hatte, innerhalb weniger Minuten eine ovale Fläche freigepflügt.
Es gab Reihen von Steinsitzen für die Zuschauer – Tantalus, die Satyrn, einige Dryaden und alle Campbewohner, die nicht am Rennen teilnahmen. Mr D ließ sich nicht sehen. Er stand nie vor zehn Uhr auf.
»So«, erklärte Tantalus, als die Teams sich eingefunden hatten. Eine Najade brachte einen großen Teller voll Gebäck, und während Tantalus sprach, jagte seine rechte Hand ein Schokoladeneclair über den Schiedsrichtertisch. »Ihr kennt die Regeln. Das Rennen geht über eine Viertelmeile. Zwei Runden bis zum Ziel. Zwei Pferde pro Wagen. Jedes Team besteht aus einem Lenker und einem Kämpfer. Waffen sind erlaubt. Miese Tricks werden erwartet. Aber versucht niemanden umzubringen!« Tantalus lächelte uns an wie ungezogene Kinder. »Jeder Tod wird streng bestraft – eine Woche keine Schokomarshmallows am Lagerfeuer. Und jetzt auf die Wagen!«
Beckendorf führte das Hephaistos-Team an den Start. Sie hatten ein hübsches Gefährt aus Bronze und Eisen hergestellt und sogar die Pferde waren Maschinen wie die Stiere von Colchis. Ich war ganz sicher, dass ihr Wagen mehr magische Gerätschaften und ausgefeilte technische Sonderfunktionen eingebaut hatte als ein voll ausgestatteter Maserati.
Der Ares-Wagen war blutrot und wurde von zwei unheimlichen Pferdeskeletten gezogen. Clarisse bestieg ihn mit etlichen Wurfspeeren, Morgensternen, Fußangeln und noch allerlei ekligem Spielzeug.
Der Apollo-Wagen war schmal und elegant und ganz aus Gold, er wurde von zwei wunderschönen Palominos gezogen. Der Kämpfer war mit einem Bogen bewaffnet, hatte aber versprochen, die gegnerischen Lenker nicht mit spitzen Pfeilen zu beschießen.
Der Hermes-Wagen war grün und machte irgendwie einen seltsamen Eindruck, so als sei er seit Jahren nicht mehr aus der Garage gekommen. Er sah nach nichts aus, aber er war bemannt mit den Steel-Brüdern, und mir wurde schlecht beim Gedanken an die miesen Tricks, die sie sich vielleicht ausgedacht hatten.
Und dann waren da noch der Athene-Wagen, gelenkt von Annabeth, und meiner.
Ehe das Rennen losging, versuchte ich, mit Annabeth zu sprechen und ihr von meinem Traum zu erzählen. Sie schaute auf, als ich Grover erwähnte, aber als sie hörte, was er gesagt hatte, wurde sie wieder distanziert und misstrauisch.
»Du versuchst mich nur abzulenken«, erklärte sie.
»Was? Nein, wirklich nicht.«
»Jaja. Als ob Grover zufällig über das eine gestolpert wäre, was das Lager retten kann.«
»Wie meinst du das?«
Sie verdrehte die Augen. »Geh zu deinem Wagen zurück, Percy.«
»Ich hab mir das nicht ausgedacht. Er steckt in der Klemme, Annabeth.«
Sie zögerte. Ich konnte sehen, dass sie überlegte, ob sie mir vertrauen könnte. Obwohl wir ab und zu aneinandergerieten, hatten wir zusammen allerlei durchgemacht. Und ich wusste, sie würde niemals zulassen, dass Grover etwas zustieß.
»Percy, es ist so schwer, einen Empathielink herzustellen. Ich meine, es ist wahrscheinlicher, dass du geträumt hast.«
»Das Orakel«, sagte ich. »Wir können das Orakel befragen.«
Annabeth runzelte die Stirn.
Im vergangenen Sommer, ehe ich zu meinem Auftrag aufgebrochen war, hatte ich den seltsamen Geist auf dem Dachboden des Hauptgebäudes besucht, und dessen Weissagung hatte sich auf eine Weise erfüllt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Diese Erfahrung hatte mich monatelang fertiggemacht. Annabeth wusste, dass ich niemals wieder dorthin gehen würde, wenn die Lage nicht wirklich ernst wäre.
Ehe sie antworten konnte, hörten wir das Muschelhorn.
»Wagen!«, rief Tantalus. »An den Start!«
»Wir reden nachher weiter«, sagte Annabeth. »Wenn ich gewonnen habe.«
Als ich zu meinem Wagen zurückging, sah ich, dass jetzt noch mehr Tauben auf den Bäumen saßen. Sie schrien wie verrückt und ließen den ganzen Wald rauschen. Niemand außer mir schien auf sie zu achten, aber mich machten sie nervös. Ihre Schnäbel glitzerten seltsam und ihre Augen schienen stärker zu leuchten als die von normalen Vögeln.
Tyson hatte Mühe, unsere Pferde unter Kontrolle zu bringen. Ich musste lange auf sie einreden, ehe sie sich beruhigten.
Er ist ein Ungeheuer, Herr, klagten sie.
Er ist ein Sohn des Poseidon, sagte ich darauf. Genau wie … na ja, genau wie ich.
Nein!, widersprachen sie. Ungeheuer. Pferdefresser. Kein Vertrauen.
Ich gebe euch nach dem Rennen Zuckerwürfel, sagte ich.
Zuckerwürfel?
Sehr große Zuckerwürfel. Und Äpfel. Hab ich die Äpfel schon erwähnt?
Endlich waren sie bereit, sich anschirren zu lassen.
Falls ihr noch keinen griechischen Rennwagen gesehen habt – er ist auf Geschwindigkeit konstruiert, nicht auf Sicherheit oder Bequemlichkeit. Es ist im Grunde ein hölzerner Korb, der auf der Achse zwischen zwei Rädern befestigt ist. Der Wagenlenker steht die ganze Zeit und spürt jede Unebenheit im Boden. Der Wagen ist aus sehr leichtem Holz, und wenn man bei den scharfen Kurven am Ende der Rennstrecke aus dem Gleichgewicht gerät, kippt man um und der Wagen und man selber werden zerquetscht. Es ist ein noch größerer Kick als Skateboardfahren.
Ich nahm die Zügel und manövrierte den Wagen an den Start. Tyson reichte ich die drei Meter lange Stange und sagte ihm, er solle die anderen Wagen wegschieben, wenn sie zu dicht an uns heranrückten, und alles abwehren, womit sie uns vielleicht bewarfen.
»Aber nicht die Ponys hauen«, sagte er.
»Nein«, stimmte ich zu. »Und die Leute auch nicht, wenn du das vermeiden kannst. Wir wollen ein sauberes Rennen fahren. Wehr einfach alles ab und ich konzentriere mich aufs Fahren.«
»Wir gewinnen!« Er strahlte.
Wir werden dermaßen verlieren, dachte ich, aber ich musste es einfach versuchen. Ich wollte den anderen zeigen … Ich wusste nicht recht, was ich ihnen zeigen wollte. Dass Tyson gar nicht so schlimm war? Dass ich mich nicht schämte, mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen zu werden? Dass ihr Spott und ihre Witze mich nicht verletzt hatten?
Als die Wagen Aufstellung nahmen, versammelten sich im Wald noch mehr Tauben mit leuchtenden Augen. Sie schrien so laut, dass die Zuschauer nun doch auf sie aufmerksam wurden, sie schauten nervös zu den Bäumen hoch, die unter dem Gewicht der Vögel zu zittern schienen. Tantalus wirkte unbesorgt, musste sich aber große Mühe geben, sich über den Lärm Gehör zu verschaffen.
»Wagen!«, brüllte er. »Achtung, fertig –«
Er winkte und gab das Startsignal. Die Wagen jagten los. Hufe donnerten über den Lehmboden. Die Menge jubelte.
Fast im selben Moment hörte ich ein lautes, fieses KRACK. Ich schaute mich um und konnte gerade noch sehen, wie der Apollo-Wagen umkippte. Der Hermes-Wagen hatte ihn gerammt – vielleicht aus Versehen, vielleicht nicht. Das Team wurde über Bord geworfen, die Pferde gerieten in Panik und zogen den goldenen Wagen seitwärts über die Rennstrecke. Das Hermes-Team, Connor und Travis Steel, lachte glücklich, aber das Lachen sollte ihnen bald vergehen. Die Apollo-Pferde stießen mit ihren Pferden zusammen und der Hermes-Wagen fiel ebenfalls um. Zurück blieben ein Haufen Holzsplitter und vier wiehernde Pferde.
Zwei Wagen auf den ersten sieben Metern. Toller Sport.
Ich schaute wieder nach vorn. Wir lagen sehr gut, vor Ares immerhin, Annabeth aber war weit vor uns. Sie hatte schon die erste Wendestelle erreicht; ihr Kämpfer grinste, winkte uns zu und rief: »Bis später!«
Auch der Hephaistos-Wagen holte jetzt auf.
Beckendorf drückte auf einen Knopf und an der Seite des Wagens ging eine Klappe auf.
»Tut mir leid, Percy«, schrie er. Drei Kugeln an Ketten jagten auf unsere Räder zu. Sie hätten uns zu Kleinholz gemacht, wenn Tyson sie nicht blitzschnell mit seiner Stange abgewehrt hätte. Er versetzte dem Hephaistos-Wagen einen heftigen Stoß und er schlitterte zur Seite, während wir weiterrasten.
»Gut gemacht, Tyson«, schrie ich.
»Vögel«, rief er.
»Was?«
Wir schossen so schnell dahin, dass man kaum etwas sehen oder hören konnte, aber Tyson zeigte auf den Wald und ich sah, was ihm Sorgen machte. Die Tauben waren von den Bäumen aufgeflogen. Sie wirbelten wie ein gewaltiger Tornado durch die Luft und steuerten die Rennstrecke an.
Kein Problem, sagte ich mir. Das sind doch bloß Tauben.
Ich versuchte, mich auf das Rennen zu konzentrieren.
Wir hatten die erste Wende hinter uns, unter uns knackten die Räder, der Wagen drohte umzukippen, aber wir waren dichter an Annabeth herangekommen. Wenn ich noch ein wenig aufholte, dann könnte Tyson mit seiner Stange …
Annabeths Kämpfer lächelte nicht mehr. Er zog einen Wurfspeer und richtete ihn auf mich.
Er wollte ihn gerade schleudern, als wir die Schreie hörten.
Die Tauben schwärmten aus. Tausende von ihnen machten sich im Sturzflug über die Zuschauer her und griffen die anderen Wagen an. Beckendorf wurde überfallen. Sein Kämpfer schlug um sich, konnte aber nichts sehen. Der Wagen geriet vom Kurs ab und pflügte durch die Erdbeerfelder. Die mechanischen Pferde dampften.
Im Ares-Wagen bellte Clarisse ihrem Kämpfer einen Befehl zu und der warf sofort ein Tarnnetz über sie. Die Vögel drängten sich darüber zusammen, sie pickten und hackten nach den Händen des Kämpfers, der versuchte, es hochzuhalten, aber Clarisse biss einfach die Zähne zusammen und fuhr weiter. Ihre Pferdeskelette schienen gegen jede Ablenkung immun zu sein. Die Tauben hackten hilflos auf ihre leeren Augenhöhlen ein und flogen durch ihre Rippen, aber die Pferde rannten immer weiter.
Das Publikum kam nicht so glimpflich davon. Die Vögel hackten nach jedem Stück Haut, das sie erwischen konnten, und versetzten alle in Panik. Jetzt, wo ich die Vögel dicht vor mir hatte, war klar, dass es keine normalen Tauben waren. Ihre Augen waren böse und gemein. Ihre Schnäbel waren aus Bronze und offenbar scharf wie Rasierklingen, das verriet das Geschrei des Publikums.
»Stymphalische Vögel«, schrie Annabeth. Sie wurde langsamer und fuhr jetzt neben mir her. »Die werden alle bis auf die Knochen abnagen, wenn wir sie nicht verjagen.«
»Tyson«, sagte ich. »Wir machen kehrt.«
»Falsche Richtung?«, fragte er.
»Immer«, knurrte ich, lenkte den Wagen aber auf die Tribünen zu.
Annabeth blieb dicht neben mir. Sie rief: »Heroen, zu den Waffen!« Aber ich glaubte nicht, dass irgendwer sie im Chaos und durch das Geschrei der Vögel hören konnte.
Ich nahm die Zügel in eine Hand und konnte Springflut ziehen.
Eine Welle aus Vögeln kam mit schnappenden Metallschnäbeln auf mein Gesicht zu. Ich traf sie in der Luft und sie lösten sich zu Staub und Federn auf, aber es waren noch immer Millionen von ihnen übrig. Einer bohrte mir die Krallen in den Rücken und ich wäre fast vom Wagen gefallen.
Annabeth ging es nicht besser. Je näher wir den Tribünen kamen, umso dichter wurde die Wolke aus Vögeln.
Einige Zuschauer versuchten sich zu wehren. Die Athene-Leute schrien nach Schilden. Die Bogenschützen aus der Apollo-Hütte griffen zu Pfeil und Bogen, um die angreifenden Vögel zu töten, aber da so viele Campbewohner zwischen den Vögeln waren, wäre das zu gefährlich gewesen.
»Übermacht«, schrie ich zu Annabeth hinüber. »Was können wir tun?«
Sie stieß mit ihrem Messer nach einer Taube. »Herkules hat es mit Krach geschafft. Messingglocken. Er hat sie mit dem entsetzlichsten Klang verjagt, den er …«
Ihre Augen wurden groß. »Percy … Chirons Sammlung!«
Ich hatte sofort verstanden. »Meinst du, das klappt?«
Sie reichte ihrem Kämpfer die Zügel und sprang von ihrem Wagen auf meinen über, als sei das die leichteste Übung der Welt. »Zum Hauptgebäude. Das ist unsere einzige Chance!«
Clarisse hatte soeben ohne jegliche Konkurrenz die Ziellinie überquert und schien erst jetzt zu bemerken, wie ernst das Vogelproblem war.
Als sie uns wegfahren sah, schrie sie: »Haut ihr ab? Gekämpft wird hier, ihr Feiglinge!«
Sie zog ihr Schwert und stürmte auf die Tribünen zu.
Ich trieb unsere Pferde zum Galopp an. Der Wagen polterte durch die Erdbeerfelder und über das Volleyballgelände, um dann rumpelnd und schlingernd vor dem Hauptgebäude zum Stehen zu kommen. Annabeth und ich stürzten hinein und rannten durch das Foyer zu Chirons Zimmer.
Sein Ghettoblaster stand auf seinem Nachttisch. Zusammen mit seinen Lieblings-CDs.
Ich packte die scheußlichste, die ich finden konnte, Annabeth riss den Ghettoblaster an sich und wir stürzten wieder hinaus.
Auf der Rennstrecke brannten die Wagen. Verwundete Campbewohner rannten in alle Richtungen davon, Vögel zerfetzten ihre Kleider und rissen an ihren Haaren, während Tantalus Frühstücksgebäck über die Tribüne jagte und ab und zu schrie: »Alles ist unter Kontrolle. Keine Sorge!«
Wir hielten vor der Ziellinie. Annabeth brachte den Ghettoblaster in Position. Ich betete, dass die Batterien noch ausreichten, drückte auf »Play« und ließ Chirons Lieblings-CD laufen: All-Time Greatest Hits of Dean Martin. Plötzlich ertönten Geigenklänge und Typen, die auf Italienisch stöhnten.
Die dämonischen Tauben flippten aus. Sie flogen Kreise und griffen sich gegenseitig an, als ob sie sich die Gehirne aus dem Kopf reißen wollten. Dann überließen sie die Rennstrecke ihrem Schicksal und schwirrten als riesige dunkle Welle gen Himmel.
»Jetzt!«, brüllte Annabeth. »Bogenschützen!«
Wenn sie klare Ziele hatten, war an Apollos Bogenschützen nichts auszusetzen. Die meisten von ihnen konnten fünf oder sechs Pfeile auf einmal abschießen. In Minutenschnelle war der Boden bedeckt von Tauben mit Bronzeschnäbeln und die Überlebenden waren nur noch eine ferne Rauchspur am Horizont.
Das Camp war gerettet, aber es bot keinen schönen Anblick. Die meisten Wagen waren total zerstört. Fast alle waren verletzt und bluteten aus Pickwunden. Die Leute aus der Aphrodite-Hütte kreischten, weil ihre Frisuren ruiniert und ihre Kleider bekackt worden waren.
»Bravo!«, sagte Tantalus, aber er sah dabei weder mich noch Annabeth an. »Wir haben unsere erste Siegerin!«
Er marschierte zur Ziellinie und überreichte den goldenen Lorbeerkranz einer verdutzt dreinschauenden Clarisse.
Dann drehte er sich um und lächelte mich an. »Und jetzt werden die beiden Störenfriede bestraft, die dieses Rennen sabotiert haben.«
Ich nehme Geschenke von einem Fremden an
Tantalus war der Ansicht, die Stymphalischen Vögel wären friedlich im Wald geblieben und hätten uns nie im Leben angegriffen, wenn Annabeth, Tyson und ich sie nicht mit unserer miesen Fahrerei genervt hätten. Das war dermaßen unfair, dass ich zu Tantalus sagte, er sollte doch lieber Pfannkuchen jagen, was seine Laune nicht verbesserte. Er bestrafte uns mit Küchendienst – wir mussten den ganzen Nachmittag in der unterirdischen Küche bei den Putz-harpyien Töpfe und Schüsseln scheuern. Die Harpyien spülten mit Lava statt Wasser, um dieses besonders saubere Funkeln hinzukriegen und neunundneunzig Komma neun Prozent aller Bakterien zu killen, deshalb mussten Annabeth und ich Asbestschürzen und -handschuhe tragen.
Tyson machte das alles nichts aus. Er tauchte seine bloßen Hände in die Lava und fing an zu schrubben. Annabeth und ich aber mussten Stunden heißer, gefährlicher Arbeit durchstehen, vor allem, weil es tonnenweise Extrateller gab. Tantalus hatte ein großartiges Bankett bestellt, um Clarisse’ Sieg zu feiern – ein mehrgängiges Festmahl aus gegrillten Stymphalischen Todesvögeln.
Das einzig Gute an dieser Bestrafung war, dass sie Annabeth und mir einen gemeinsamen Feind und jede Menge Zeit zum Reden bescherte. Nachdem ich ihr noch einmal meinen Grover-Traum erzählt hatte, sah sie aus, als wäre sie unter Umständen bereit, mir zu glauben.
»Wenn er es wirklich gefunden hätte«, murmelte sie, »und wenn wir es an uns bringen könnten …«
»Moment mal«, sagte ich. »So wie du dich anhörst, ist das … was immer Grover da gefunden hat, das Einzige auf der ganzen Welt, was das Camp retten könnte. Aber was ist es denn eigentlich?«
»Ich geb dir einen Tipp. Was kriegst du, wenn du einen Widder häutest?«
»Klebrige Hände?«
Sie seufzte. »Ein Vlies. Ein Widderfell wird Vlies genannt. Und wenn dieser Widder zufällig goldene Wolle hat …«
»Das Goldene Vlies. Ist das dein Ernst?«
Annabeth kratzte die Knochen der Totenvögel von einem Teller in die Lava. »Percy, denk an die Grauen Schwestern. Sie haben gesagt, dass sie den Ort kennen, an dem das Ding liegt, das du suchst. Und sie haben Jason erwähnt. Vor dreitausend Jahren haben sie ihm erklärt, wie er das Goldene Vlies finden kann. Du kennst doch die Geschichte von Jason und den Argonauten?«
»Ja«, sagte ich. »Das ist dieser alte Film mit den Tonskeletten.«
Annabeth verdrehte die Augen. »Bei allen Gottheiten, Percy. Du bist ja total hoffnungslos.«
»Wieso denn?«, fragte ich.
»Hör einfach zu. Dies ist die wahre Vlies-Geschichte: Zeus hatte zwei Kinder, Kadmos und Europa, klar? Sie sollten geopfert werden und beteten zu Zeus um Rettung. Also schickte Zeus ihnen seinen fliegenden Widder mit der goldenen Wolle und der las sie in Griechenland auf und trug sie bis nach Colchis in Kleinasien. Genauer gesagt, er trug Kadmos. Europa fiel unterwegs runter und starb, aber das spielt jetzt keine Rolle.«
»Für sie hat es vermutlich eine Rolle gespielt.«
»Es geht um Folgendes: Als Kadmos nach Colchis kam, hat er den goldenen Widder den Göttern geopfert und das Vlies in der Mitte des Königreichs an einen Baum gehängt. Das Vlies brachte dem Land Wohlstand. Die Pflanzen wuchsen besser. Die Bauern hatten Superernten. Nie brachen Seuchen aus. Deshalb wollte Jason das Vlies an sich bringen. Es kann dem Land, in dem es aufbewahrt wird, neues Leben schenken. Es heilt Krankheiten, stärkt die Natur, beseitigt Umweltverschmutzung …«
»Es könnte Thalias Baum heilen.«
Annabeth nickte. »Und es würde die Grenzen von Camp Half-Blood wieder undurchlässig machen. Aber, Percy, das Vlies ist seit Jahrhunderten verschollen. Es ist schon von ganzen Heerscharen von Heroen vergebens gesucht worden.«
»Aber Grover hat es gefunden«, sagte ich. »Er hat sich auf die Suche nach Pan gemacht und stattdessen das Vlies gefunden, weil beide Naturmagie ausstrahlen. Das klingt einleuchtend, Annabeth. Wir können ihn und gleichzeitig das Camp retten. Das ist doch perfekt.«
Annabeth zögerte. »Ein bisschen zu perfekt, findest du nicht? Was, wenn das eine Falle ist?«
Ich dachte an den vergangenen Sommer, daran, wie Kronos unseren Einsatz manipuliert hatte. Er hätte uns fast dazu gebracht, einen Krieg auszulösen.
»Haben wir denn eine Wahl?«, fragte ich. »Hilfst du mir, Grover zu retten, oder nicht?«
Sie schaute zu Tyson hinüber, der das Interesse an unserem Gespräch verloren hatte und glücklich aus Tassen und Löffeln in der Lava Schiffchen baute.
»Percy«, flüsterte sie. »Wir werden gegen einen Zyklopen kämpfen müssen. Gegen Polyphem, den schrecklichsten aller Zyklopen. Es gibt nur eine Gegend, wo seine Insel liegen kann. Das Meer der Ungeheuer.«
»Und wo ist das?«
Sie starrte mich an, als ob ich mich dumm stellte. »Das Meer der Ungeheuer! Das Meer, über das Odysseus gesegelt ist und Jason und Äneas und alle anderen.«
»Du meinst das Mittelmeer?«
»Nein. Oder besser: ja und nein.«
»Noch so eine klare Antwort. Danke.«
»Hör mal, Percy, das Meer der Ungeheuer ist das Meer, über das alle Helden auf ihren Abenteuern segeln. Früher war es das Mittelmeer, ja. Aber wie alles andere verändert es seine Lage, wenn das abendländische Machtzentrum weiterwandert.«
»Wie der Olymp, der jetzt über dem Empire State Building thront«, sagte ich. »Und der Hades, der genau unter Los Angeles liegt.«
»Richtig.«
»Aber ein ganzes Meer voller Ungeheuer – wie kann man so etwas verstecken? Merken die Sterblichen nicht, dass da seltsame Dinge vor sich gehen … dass Schiffe verschlungen werden und so?«
»Natürlich bemerken sie das. Sie begreifen es nicht, aber sie wissen, dass mit diesem Teil des Ozeans etwas nicht stimmt. Das Meer der Ungeheuer liegt vor der Ostküste der USA, direkt im Nordosten von Florida. Die Sterblichen haben ihm einen eigenen Namen gegeben.«
»Das Bermudadreieck?«
»Genau.«
Das musste ich erst einmal verdauen. Aber vermutlich war es auch nicht seltsamer als alles andere, was ich hier im Camp schon erfahren hatte. »Na gut … dann wissen wir immerhin, wo wir suchen müssen.«
»Es ist ein riesiges Gebiet, Percy. In Gewässern, in denen es von Ungeheuern wimmelt, eine winzige Insel zu suchen …«
»He, ich bin der Sohn des Meeresgottes. Für mich ist das ein Heimspiel. Das kann doch nicht so schwer sein!«
Annabeth runzelte die Stirn. »Wir müssen mit Tantalus sprechen. Er muss uns erlauben, zu diesem Abenteuer aufzubrechen. Und er wird nein sagen.«
»Nicht, wenn wir ihn heute am Lagerfeuer fragen. Das ganze Camp wird es hören. Das wird ihn unter Druck setzen. Dann kann er nicht ablehnen.«
»Vielleicht.« Eine leise Hoffnung war in Annabeths Stimme zu hören. »Wir müssen jetzt mit diesen Tellern fertig werden. Gib mir doch mal die Lavasprühpistole, ja?«
An diesem Abend leitete die Apollo-Hütte den Rundgesang am Lagerfeuer. Sie versuchten, die Stimmung zu heben, aber nach dem nachmittäglichen Vogelangriff war das nicht leicht. Wir saßen im Halbkreis auf Steinstufen, sangen halbherzig und sahen in die Flammen, während die Apollo-Leute auf ihren Gitarren klampften und an ihren Leiern zupften.
Wir sangen die üblichen Lagerlieder: »Unten an der Ägäis«, »Ich bin mein eigener Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater«, »Dieses Land ist Minos’ Land«. Das Lagerfeuer war verzaubert; je lauter man sang, umso höher loderte es, und es passte Farbe und Temperatur der Stimmung der Umsitzenden an. An einem guten Abend hatte ich es schon sechzig Meter hoch brennen sehen, knalllila und so heiß, dass die Marshmallows der gesamten ersten Reihe Feuer gefangen hatten. An diesem Abend war es nur eins fünfzig hoch, lauwarm und die Flammen waren schiefergrau.
Dionysos ging schon früh. Nachdem er einige wenige Lieder ertragen hatte, murmelte er, dass sogar seine Binokelpartien mit Chiron aufregender gewesen seien als das hier. Dann schaute er Tantalus angeekelt an und begab sich zum Hauptgebäude.
Nach dem letzten Lied sagte Tantalus: »Ach, war das schön.«
Er trat mit einem gerösteten Marshmallow am Spieß vor und wollte es wie nebenbei herunterzupfen. Aber ehe er es berühren konnte, war das Marshmallow schon vom Spieß gerutscht. Tantalus griff sofort danach, aber das Marshmallow zog den Selbstmord vor und stürzte sich in die Flammen.
Tantalus drehte sich zu uns um und sagte mit kaltem Lächeln: »Na gut. Und jetzt ein paar Mitteilungen zum Unterricht morgen.«
»Sir«, sagte ich.
Tantalus’ Auge zuckte. »Unser Küchenjunge hat etwas auf dem Herzen?«
Einige Leute aus der Ares-Hütte kicherten, aber ich hatte nicht vor, mich zum Schweigen bringen zu lassen. Ich stand auf und schaute zu Annabeth hinüber. Den Göttern sei Dank, sie stellte sich neben mich.
Ich sagte: »Wir haben eine Idee, wie wir das Camp retten können.«
Totenstille, aber ich wusste, dass ich das Interesse aller geweckt hatte, denn das Lagerfeuer loderte jetzt hellgelb.
»Ach, wirklich«, sagte Tantalus ausdruckslos. »Na, falls dazu Wagen nötig sind …«
»Das Goldene Vlies«, sagte ich. »Wir wissen, wo es sich befindet.«
Die Flammen wurden orange. Ehe Tantalus mich daran hindern konnte, hatte ich meinen Traum von Grover und der Insel des Polyphem erzählt. Dann schaltete Annabeth sich ein und erinnerte alle daran, was das Vlies bewirken konnte. Wenn sie es sagte, klang es überzeugender.
»Das Vlies kann das Lager retten«, schloss sie. »Da bin ich mir sicher.«
»Unsinn«, sagte Tantalus. »Wir brauchen nicht gerettet zu werden.«
Alle starrten ihn so lange an, bis er sich nicht mehr ganz wohl in seiner Haut zu fühlen schien.
»Außerdem«, fügte er eilig hinzu, »das Meer der Ungeheuer? Das ist ja wohl nicht gerade eine exakte Positionsangabe. Ihr wisst doch nicht mal, wo ihr mit der Suche anfangen sollt.«
»Doch, ich weiß es«, sagte ich.
Annabeth beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Wirklich?«
Ich nickte, denn Annabeth hatte mich auf einen Gedanken gebracht, als sie mich an unsere Taxitour mit den Grauen Schwestern erinnerte. Zunächst einmal hatte das, was die Grauen Schwestern preisgaben, ja keinen Sinn ergeben. Aber jetzt …
»30, 31, 75, 12«, sagte ich.
»Ooo-kay«, sagte Tantalus. »Nett von dir, uns diese sinnlosen Zahlen mitzuteilen.«
»Das sind Koordinaten«, sagte ich. »Länge und Breite. Ich, äh, ich hab mal was darüber in Geografie gelernt.«
Sogar Annabeth sah beeindruckt aus. »30° 31’ Nord, 75° 12’ West. Er hat Recht! Die Grauen Schwestern haben uns die Koordinaten verraten. Das muss irgendwo im Pazifik sein, vor der Küste von Florida. Das Meer der Ungeheuer! Wir brauchen einen Auftrag!«
»Moment mal«, sagte Tantalus.
Aber die Campbewohner stimmten ein: »Wir brauchen einen Auftrag! Wir brauchen einen Auftrag!«
Die Flammen loderten höher.
»Das ist nicht nötig«, beharrte Tantalus.
»WIR BRAUCHEN EINEN AUFTRAG! WIR BRAUCHEN EINEN AUFTRAG!«
»Schön«, brüllte Tantalus und seine Augen blitzten vor Wut. »Ihr Rotzgören wollt, dass ich einen Auftrag erteile?«
»JA!«
»Wie ihr wollt«, stimmte er zu. »Ich werde eine würdige Person beauftragen, diese gefährliche Reise zu unternehmen, und diese Person soll das Goldene Vlies holen und ins Camp bringen … oder bei diesem Versuch ihr Leben lassen.«
Mein Herz hämmerte vor Aufregung. Ich wollte mir von Tantalus keine Angst machen lassen. Das hier musste ich einfach tun. Ich würde Grover und das Camp retten. Nichts würde mich davon abhalten.
»Ich werde dieser Person erlauben, das Orakel zu konsultieren«, verkündete Tantalus. »Und sich zwei Begleiter für die Reise auszusuchen. Und ich glaube, es liegt auf der Hand, wer diese Person sein wird.«
Tantalus sah Annabeth und mich an, als ob er uns am liebsten bei lebendigem Leib die Haut abgezogen hätte. »Es muss sich um eine Person handeln, die sich die Achtung des Camps verdient hat, die sich beim Wagenrennen als fähig und bei der Verteidigung der Grenzen als mutig erwiesen hat. Du wirst den Auftrag übernehmen … Clarisse!«
Das Feuer flackerte in allen Regenbogenfarben.
Die Bewohner der Ares-Hütte fingen an, mit den Füßen zu trampeln und zu jubeln: »CLARISSE! CLARISSE!«
Clarisse erhob sich mit verblüfftem Gesicht und ihre Brust schwoll vor Stolz. »Ich nehme den Auftrag an.«
»Moment mal«, brüllte ich. »Grover ist mein Freund. Und ich hatte den Traum!«
»Setzen«, schrie einer aus der Ares-Hütte. »Du hast vorigen Sommer deine Chance gehabt!«
»Ja, er will nur wieder im Rampenlicht stehen«, sagte ein anderer.
Clarisse sah mich wütend an. »Ich nehme den Auftrag an«, sagte sie noch einmal. »Ich, Clarisse, Tochter des Ares, werde das Lager retten.«
Die Ares-Leute jubelten. Annabeth protestierte und die anderen Athene-Kinder sprangen ihr bei. Auch die übrigen ergriffen jetzt Partei – alle brüllten und stritten sich und warfen mit Marshmallows. Ich rechnete schon mit einem ausgewachsenen Marshmallow-Krieg, als Tantalus brüllte: »Still, ihr Rotzgören!«
Sein Tonfall haute sogar mich um.
»Setzen«, befahl er. »Und dann erzähle ich euch eine Gespenstergeschichte.«
Ich hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, aber alle kehrten widerwillig zu ihren Plätzen zurück. Die böse Aura, die Tantalus ausstrahlte, war stärker als die jedes Ungeheuers, das mir jemals über den Weg gelaufen war.
»Es war einmal ein sterblicher König, der von den Göttern geliebt wurde.« Tantalus legte die Hand auf seine Brust und ich hatte das Gefühl, dass er von sich selbst redete.
»Dieser König«, sagte er, »durfte sogar zu den Festen den Olymp besteigen, aber als er versuchte, Ambrosia und Nektar mit zurück auf die Erde zu nehmen, um das Rezept herauszufinden – nur eine einzige kleine Tupperdose –, da wurde er von den Göttern bestraft. Sie verbannten ihn für alle Ewigkeit aus ihren Hallen. Sein eigenes Volk machte sich über ihn lustig. Seine Kinder pöbelten ihn an. Und ja, ihr könnt mir glauben, er hatte schreckliche Kinder. Kinder wie – euch!«
Er zeigte mit einem krummen Finger auf mehrere Leute im Publikum, auch auf mich.
»Wisst ihr, was er mit seinen undankbaren Kindern gemacht hat?«, fragte Tantalus dann mit sanfter Stimme. »Wisst ihr, wie er den Göttern diese grausame Strafe heimgezahlt hat? Er hat die Olympier zu einem Fest in seinen Palast eingeladen, einfach um zu beweisen, dass er nicht sauer auf sie war. Niemand bemerkte, dass seine Kinder nicht da waren. Und als er den Göttern dann das Essen servierte, meine Lieben, könnt ihr euch denken, was der Eintopf enthielt?«
Niemand wagte zu antworten. Das Feuer glühte dunkelblau und spiegelte sich unheilvoll in Tantalus’ finsterem Gesicht.
»Natürlich haben die Götter ihn nach seinem Tod bestraft«, rief Tantalus mit heiserer Stimme. »Das haben sie getan. Aber er hat seinen Moment der Befriedigung gehabt, versteht ihr? Seine Kinder haben ihm nie wieder widersprochen oder seine Autorität angezweifelt. Und wisst ihr was? Angeblich geht der Geist dieses Königs gerade hier in diesem Camp um und wartet auf eine Möglichkeit, sich an undankbaren, widerspenstigen Kindern zu rächen. Und deshalb … noch irgendwelche Beschwerden, ehe wir Clarisse zu ihrem Auftrag aufbrechen lassen?«
Schweigen.
Tantalus nickte Clarisse zu. »Das Orakel, meine Liebe. Also los.«
Sie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, offenbar wollte nicht einmal sie die ehrenvolle Stellung von Tantalus’ Liebling bekleiden. »Sir …«
»Los!«, fauchte er.
Sie machte eine unbeholfene Verbeugung und lief hinüber zum Hauptgebäude.
»Und was ist mit dir, Percy Jackson?«, fragte Tantalus. »Kein Kommentar von unserem Tellerwäscher?«
Ich sagte nichts. Ich wollte ihm nicht den Triumph gönnen, mich ein weiteres Mal bestrafen zu können.
»Gut«, sagte Tantalus. »Und ich möchte alle daran erinnern: Niemand verlässt dieses Camp ohne meine Erlaubnis. Und wer es versucht … besser gesagt, wer den Versuch überlebt, wird für immer verbannt, aber so weit wird es nicht kommen. Die Harpyien werden von nun an dafür sorgen, dass die Sperrstunde eingehalten wird, und die haben immer Hunger. Gute Nacht, meine Lieben. Schlaft schön!«
Tantalus löschte mit einer Handbewegung das Feuer und die Campbewohner trotteten durch die Dunkelheit zu ihren Hütten.
Ich konnte Tyson das alles nicht erklären. Er wusste, dass ich traurig war. Er wusste, dass ich eine Reise machen wollte und dass Tantalus mich daran hinderte.
»Gehst du trotzdem?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, gab ich zu. »Das wäre schwierig. Sehr schwierig.«
»Ich helf dir.«
»Nein. Ich … äh, das könnte ich niemals von dir verlangen, Großer. Zu gefährlich.«
Tyson schaute auf die Metallstücke, die er auf seinen Knien zusammenfügte – Federn und Schrauben und kleine Drähte. Beckendorf hatte ihm Werkzeug und Einzelteile gegeben und jetzt war Tyson jede Nacht mit Basteln beschäftigt, auch wenn ich nicht begriff, wie seine Pranken mit diesen winzigen zerbrechlichen Teilen klarkamen.
»Was baust du da?«, fragte ich.
Tyson gab keine Antwort. Tief in seiner Kehle war ein Wimmern zu hören. »Annabeth kann Zyklopen nicht leiden. Du … willst nicht, dass ich mitkomme?«
»Ach, das ist nicht der Grund«, sagte ich halbherzig. »Annabeth mag dich. Wirklich.«
Er hatte Tränen in den Augenwinkeln.
Ich dachte daran, dass Grover, wie alle Satyrn, die Gefühle der Menschen lesen konnte. Ich fragte mich, ob Zyklopen über dieselbe Fähigkeit verfügten.
Tyson wickelte sein Bastelprojekt in eine Ölplane. Er legte sich auf sein Bett und presste das Bündel an sich wie einen Teddybären. Als er sich zur Wand drehte, konnte ich die seltsamen Narben auf seinem Rücken sehen. Jemand schien ihn mit einem Traktor überfahren zu haben. Ich fragte mich zum millionsten Mal, wie er sich so verletzt haben konnte.
»Daddy war immer lieb zu m-mir«, schluchzte er. »Aber … jetzt finde ich es gemein von ihm, dass er einen Zyklopensohn hat. Ich hätte nicht geboren werden dürfen.«
»Sag doch so was nicht. Poseidon hat dich anerkannt, oder etwa nicht? Also musst du ihm … wichtig sein … sehr wichtig …«
Meine Stimme versagte, als ich an die vielen Jahre dachte, in denen Tyson obdachlos in New Yorks Straßen in einem Kühlschrankkarton gehaust hatte. Wie konnte Tyson sich einbilden, Poseidon sei jemals lieb zu ihm gewesen? Welcher Vater hätte seinem Kind das zugemutet, auch wenn dieses Kind ein Ungeheuer war?
»Tyson … das Camp wird ein gutes Zuhause für dich sein. Die anderen werden sich an dich gewöhnen. Das versprech ich dir.«
Tyson seufzte. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Dann ging mir auf, dass er bereits eingeschlafen war.
Ich ließ mich auf mein Bett zurücksinken und versuchte, die Augen zu schließen, aber das wollte mir nicht gelingen. Ich hatte Angst, wieder von Grover zu träumen. Wenn es den Empathielink wirklich gab … und wenn Grover etwas passierte … würde ich dann jemals wieder aufwachen?
Der Vollmond schien in mein Fenster. In der Ferne dröhnte die Brandung. Ich konnte den warmen Duft der Erdbeerfelder wahrnehmen und das Lachen der Dryaden hören, die Eulen durch den Wald jagten. Aber irgendetwas an dieser Nacht fühlte sich nicht richtig an – die Krankheit von Thalias Baum, die sich im Tal ausbreitete.
Würde Clarisse Half-Blood Hill retten können? Vermutlich würde ich eher den Preis als »Bester Campbewohner« von Tantalus bekommen.
Ich stand auf, zog mir etwas über und schnappte mir eine Decke und die Sechserpackung Cola unter meinem Bett. Die Cola war gegen die Regeln. Essen oder Trinken von draußen war nicht gestattet, aber wenn man mit dem richtigen Typen aus der Hermes-Hütte redete und ihm ein paar goldene Drachmen zusteckte, dann konnte er aus dem nächstgelegenen Supermarkt fast alles hereinschmuggeln.
Auch nach der Sperrstunde die Hütte zu verlassen verstieß gegen die Regeln. Wenn ich bei einem von diesen Vergehen erwischt würde, dann würde ich entweder einen Haufen Ärger kriegen oder von den Harpyien gefressen werden. Aber ich wollte den Ozean sehen. Da fühlte ich mich immer besser. Meine Gedanken waren dort klarer.
Ich verließ die Hütte und steuerte den Strand an.
Ich breitete meine Decke nahe am Wasser aus und öffnete eine Cola. Aus irgendeinem Grund konnten Zucker und Koffein mein hyperaktives ADHD-Gehirn immer tiefkühlen. Ich überlegte, wie ich das Camp retten könnte, aber mir kam keine Idee. Ich wünschte, Poseidon würde mit mir reden, mir vielleicht einen Rat geben …
Der Himmel war klar und voller Sterne. Ich suchte gerade die Sternbilder, die Annabeth mir gezeigt hatte – Schütze, Herkules, Corona Borealis –, als jemand sagte: »Schön, was?«
Ich hätte fast Cola gespuckt.
Neben mir stand ein Typ in einer kurzen Jogginghose aus Nylon und einem T-Shirt vom New-York-Marathon. Er war schlank und fit, hatte graumelierte Haare und ein listiges Lächeln. Er kam mir irgendwie bekannt vor … aber mir wollte nicht einfallen, woher.
Mein erster Gedanke war, dass er einen nächtlichen Strandlauf machte und aus Versehen auf das Campgelände geraten war. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Gewöhnliche Sterbliche konnten das Tal nicht betreten. Vielleicht hatte er es geschafft, weil die Magie des Baumes schwächer wurde. Aber mitten in der Nacht? Außerdem gab es in der Umgebung nur Felder und Naturschutzgebiete. Woher hätte dieser Typ also kommen können?
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er. »Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr gesessen.«
Also, ich weiß ja – fremder Typ mitten in der Nacht. Gesunder Menschenverstand: Ich hätte weglaufen müssen, um Hilfe schreien und so weiter und so fort. Aber der Typ wirkte so ruhig und gelassen, dass es mir schwerfiel, mich zu fürchten.
Ich sagte: »Äh, klar.«
Er lächelte. »Deine Gastfreundschaft spricht für dich. Ach, und Coca-Cola. Darf ich?«
Er setzte sich auf die Decke, öffnete eine Cola und trank einen Schluck. »Ah … das tut gut. Ruhe und Frieden …«
In seiner Tasche klingelte ein Handy.
Der Jogger seufzte. Er zog das Handy hervor und ich machte große Augen, weil es bläulich glühte. Als er an der Antenne zog, wickelte sich etwas darum – zwei grüne Schlangen, nicht größer als Regenwürmer.
Der Jogger achtete nicht auf sie. Er warf einen Blick auf das Display und fluchte. »Ich muss dieses Gespräch annehmen. Momentchen …« Dann sagte er ins Handy: »Hallo?«
Er horchte. Die kleinen Schlangen zuckten an der Antenne vor seinem Ohr auf und ab.
»Ja«, sagte der Jogger. »Hör mal – ich weiß … Ist mir egal, ob er an einen Felsen gekettet ist und ein Adler nach seiner Leber hackt; wenn er keine Belegnummer hat, können wir seine Sendung nicht ausfindig machen … Ein Geschenk an die Menschheit, klasse … Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele wir davon ausliefern? Ach, egal. Hör mal, verweis ihn an den Kundendienst.«
Er drückte auf die Aus-Taste. »Tut mir leid. Das Über-Nacht-Express-Geschäft boomt. Also, wie gesagt …«
»Sie haben Schlangen an Ihrem Handy.«
»Was? Ach, die beißen nicht. Sagt doch mal guten Tag, George und Martha.«
Guten Tag, George und Martha, sagte eine kratzige Männerstimme in meinem Kopf.
Spiel hier nicht den Clown, tadelte eine Frauenstimme.
Warum nicht?, fragte George. Ich mach hier doch all die Arbeit.
»Himmel, nicht schon wieder!« Der Jogger schob das Handy zurück in die Tasche. »Also, wo waren wir … ach ja, Ruhe und Frieden.«
Er streckte die Beine aus, legte die Knöchel übereinander und schaute zu den Sternen hoch. »Hab schon lange nicht mehr relaxen können. Seit das Telegrafieren erfunden worden ist – Hetze, Hetze, Hetze. Hast du ein Lieblingssternbild, Percy?«
Ich staunte noch immer über die kleinen grünen Schlangen, die er sich in die Jogginghose gestopft hatte, aber ich sagte: »Äh … mir gefällt Herkules.«
»Warum?«
»Na ja … weil er so viel Pech hatte. Noch mehr als ich. Und das hebt meine Laune.«
Der Jogger schmunzelte. »Nicht weil er vielleicht stark und berühmt war?«
»Nein.«
»Du bist ein interessanter junger Mann. Ja, und … was jetzt?«
Ich wusste sofort, was er meinte. Was ich wegen des Vlieses unternehmen wollte.
Ehe ich antworten konnte, kam die erstickte Stimme der Schlange Martha aus seiner Tasche: Hier ist Demeter auf Leitung 2.
»Jetzt nicht«, sagte der Jogger. »Sag ihr, sie soll eine Nachricht hinterlassen.«
Das wird ihr nicht gefallen. Als du sie zuletzt abgewimmelt hast, sind alle Blumen beim Botendienst verwelkt.
»Sag ihr einfach, ich sei in einer Besprechung.« Der Mann verdrehte die Augen. »Noch mal, tut mir leid, Percy. Du hast eben gesagt …«
»Äh … wer sind Sie eigentlich?«
»Hast du das noch immer nicht erraten, so ein cleverer Junge wie du?«
Zeig es ihm!, bettelte Martha. Ich war schon seit Monaten nicht mehr normal groß.
Hör nicht auf sie!, sagte George. Sie will nur angeben.
Der Mann zog das Handy wieder hervor. »Ursprüngliches Aussehen, bitte.«
Das Handy glühte leuchtend blau. Es zog sich zu einem neunzig Zentimeter langen Holzstab auseinander, aus dem oben Flügel herauswuchsen. George und Martha, jetzt ausgewachsene grüne Schlangen, wickelten sich in der Mitte umeinander. Es war ein Caduceus, das Symbol von Hütte 11.
Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich wusste jetzt, an wen der Jogger mich erinnerte, seine elfenhaften Züge, das boshafte Funkeln in den Augen …
»Sie sind Lukes Vater«, sagte ich. »Hermes.«
Der Gott machte einen Schmollmund. Er bohrte den Caduceus wie einen Regenschirm in den Sand. »Lukes Vater … so werde ich normalerweise nicht vorgestellt. Gott der Diebe, das schon. Gott der Boten und Reisenden, wenn die Leute nett sein wollen.«
Gott der Diebe passt doch gut, sagte George.
Ach, hör nicht auf George. Martha zeigte mir ihre Zunge. Er ist bloß sauer, weil Hermes mich lieber mag.
Tut er nicht!
Tut er wohl!
»Benehmt euch, ihr zwei«, warnte Hermes. »Sonst verwandele ich euch wieder in ein Handy und stell auf Vibrieren. Also, Percy, du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet. Was wirst du nun unternehmen?«
»Ich … ich darf ja nicht weg hier.«
»Nein, darfst du nicht. Und das hält dich auf?«
»Ich will ja los. Ich muss Grover retten.«
Hermes lächelte. »Ich habe einmal einen Jungen gekannt … ach, der war viel jünger als du. Noch ein Baby.«
Jetzt geht das wieder los, sagte George. Der redet auch immer nur über sich.
Klappe!, fauchte Martha. Oder willst du auf Vibrieren gestellt werden?
Hermes beachtete sie nicht. »Eines Nachts, als die Mutter dieses Jungen gerade nicht hinsah, schlich er sich aus seiner Höhle und stahl Vieh, das Apollo gehörte.«
»Ist er dann in Fetzen gesprengt worden?«, fragte ich.
»Hmmmm … nein. Ehrlich gesagt ist alles gut ausgegangen. Um den Diebstahl wiedergutzumachen, hat der Junge Apollo ein Instrument geschenkt, das er erfunden hatte – eine Leier. Apollo war von der Musik dermaßen entzückt, dass er ganz vergaß, wütend zu sein.«
»Und die Moral von der Geschicht’?«
»Die Moral?«, wiederholte Hermes. »Meine Güte, glaubst du, das war eine Fabel? Das ist eine wahre Geschichte. Hat die eine Moral?«
»Hm …«
»Wie wäre es damit: Stehlen ist nicht immer schlecht?«
»Ich glaube, diese Moral würde meiner Mom nicht gefallen.«
Ratten sind köstlich, schlug George vor.
Was hat das mit der Geschichte zu tun?, wollte Martha wissen.
Nichts, sagte George. Aber ich habe Hunger.
»Jetzt weiß ich’s«, sagte Hermes. »Junge Leute tun nicht immer das, was ihnen aufgetragen wird, aber wenn sie dann etwas Wunderbares vollbringen, können sie sich der Bestrafung manchmal entziehen. Wie gefällt dir das?«
»Sie wollen sagen, ich sollte losziehen«, sagte ich. »Auch ohne Erlaubnis.«
Hermes’ Augen funkelten. »Martha, kann ich bitte das erste Paket haben?«
Martha riss das Maul auf … und riss es immer weiter auf, bis die Öffnung so groß war wie mein Arm lang. Sie würgte einen Behälter aus rostfreiem Stahl hervor – eine altmodische Thermoskanne mit einem schwarzen Kunststoffdeckel, die zu einem Proviantset gehört haben musste. Die Seiten waren mit roten und gelben Szenen aus dem alten Griechenland verziert – ein Held erschlug einen Löwen, ein anderer hob den dreiköpfigen Hund Zerberus hoch.
»Das ist Herkules«, sagte ich. »Aber wie …«
»Bei Geschenken niemals Fragen stellen«, tadelte Hermes. »Das ist ein Sammlerstück aus ›Herkules schlägt Schädel ein‹. Erste Staffel.«
»›Herkules schlägt Schädel ein‹?«
»Tolle Show.« Hermes seufzte. »Als Hephaistos-TV noch was anderes als Reality-Shows gebracht hat. Natürlich wäre das Thermosding mehr wert, wenn ich das ganze Proviantset hätte …«
Oder wenn es nicht in Marthas Maul gewesen wäre, fügte George hinzu.
Das wirst du büßen. Martha fing an, ihn um den Caduceus zu jagen.
»Moment mal«, sagte ich. »Ist das ein Geschenk?«
»Das erste von zweien«, sagte Hermes. »Na los, nimm es.«
Ich hätte es fast sofort wieder fallen lassen, weil es auf der einen Seite eisig kalt war und auf der anderen glühend heiß. Das Seltsame war, wenn ich die Thermoskanne drehte, war die Seite, die zum Ozean zeigte – nach Norden –, immer die kalte.
»Das ist ein Kompass!«, sagte ich.
Hermes machte ein überraschtes Gesicht. »Überaus scharfsinnig. Auf diese Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber die Verwendung, für die es gedacht ist, ist etwas dramatischer. Dreh den Deckel ab und du lässt die vier Winde los und wirst schneller. Jetzt nicht! Und bitte, wenn es so weit ist, dann dreh nur leicht am Deckel. Die Winde sind ein bisschen wie ich – immer ruhelos. Wenn alle vier auf einmal entkommen … na, ich bin sicher, du wirst vorsichtig sein. Und jetzt mein zweites Geschenk. George?«
Sie berührt mich, beschwerte sich George, während er und Martha um die Stange glitten.
»Sie berührt dich immer«, sagte Hermes. »Ihr seid ineinander verschlungen. Und wenn ihr nicht sofort aufhört, dann verknotet ihr euch auch noch.«
Die Schlangen hörten auf zu ringen.
George öffnete das Maul und hustete eine kleine Plastikflasche mit Vitaminkaubonbons aus.
»Sie machen Witze«, sagte ich. »Sind die in Minotaurus-Form?«
Hermes hob die Flasche auf und schüttelte sie. »Nur die mit Zitronengeschmack. Die Traubenbonbons sind die Furien, glaube ich. Oder vielleicht die Hydren? Jedenfalls sind sie überaus wirkungsvoll. Nimm nur dann eine, wenn es wirklich, wirklich nötig wird.«
»Woher soll ich wissen, ob es wirklich, wirklich nötig ist?«
»Das wirst du wissen, glaub mir. Neun grundlegende Vitamine, Mineralien, Aminosäuren … einfach alles, was du brauchst, um dich wieder wie du selbst zu fühlen.«
Er warf mir die Flasche zu.
»Äh, danke«, sagte ich. »Aber, Herr Hermes, warum helfen Sie mir?«
Er lächelte melancholisch. »Vielleicht, weil ich glaube, dass du bei diesem Einsatz viele Leben retten kannst. Nicht nur das deines Freundes Grover.«
Ich starrte ihn an. »Sie meinen doch nicht … Luke?«
Hermes gab keine Antwort.
»Hören Sie«, sagte ich. »Herr Hermes, also … vielen Dank und überhaupt, aber nehmen Sie Ihre Geschenke lieber wieder mit. Luke ist nicht zu retten. Selbst, wenn ich ihn finden könnte … Er hat mir gesagt, dass er den Olymp Stein für Stein einreißen will. Er hat alle verraten, die er kannte. Und er … er hasst vor allem Sie!«
Hermes starrte zu den Sternen hoch. »Mein lieber junger Vetter, wenn ich im Laufe der Äonen eines gelernt habe, dann, dass wir unsere Familie nicht aufgeben können, so verlockend das auch wirken mag. Es spielt keine Rolle, ob unsere Verwandten uns hassen oder blamieren oder einfach nicht kapieren, dass man ein Genie ist, nur weil man das Internet erfunden hat …«
»Sie haben das Internet erfunden?«
Das war meine Idee, sagte Martha.
Ratten sind köstlich, sagte George.
»Es war meine Idee«, sagte Hermes. »Ich meine das Internet, nicht die Ratten. Aber darum geht es hier nicht. Percy, hast du verstanden, was ich über Familien gesagt habe?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
»Eines Tages wirst du es verstehen.« Hermes stand auf und wischte sich den Sand von den Beinen. »Aber jetzt muss ich weiter.«
Du musst sechzig Anrufe beantworten, sagte Martha.
Und eintausendachtunddreißig E-Mails, fügte George hinzu. Die Angebote für billige Online-Ambrosia nicht mitgezählt.
»Und dir, Percy«, sagte Hermes, »bleibt weniger Zeit, als dir klar ist, um deinen Auftrag auszuführen. Deine Freunde sollten so ungefähr … jetzt auftauchen.«
Ich hörte Annabeths Stimme, sie rief in den Dünen meinen Namen. Dann hörte ich, etwas weiter entfernt, auch Tyson.
»Ich hoffe, ich habe richtig für euch gepackt«, sagte Hermes. »Immerhin habe ich einige Erfahrung im Reisen.«
Er schnippte mit den Fingern und drei gelbe Seesäcke tauchten vor meinen Füßen auf. »Wasserdicht natürlich. Wenn du ihn freundlich bittest, müsste dein Vater dir helfen können, auf das Schiff zu gelangen.«
»Schiff?«
Hermes streckte die Hand aus. Und tatsächlich fuhr ein großes Kreuzfahrtschiff durch den Long Island Sound, seine weißen und goldenen Lichter leuchteten über dem schwarzen Wasser.
»Warten Sie«, sagte ich. »Ich kapier das alles nicht. Und ich habe noch nicht gesagt, dass ich gehe.«
»Ich an deiner Stelle würde mich in den nächsten fünf Minuten entscheiden«, riet Hermes. »Denn dann werden die Harpyien auftauchen, um euch zu fressen. Und jetzt gute Nacht, lieber Vetter, und – darf ich das sagen? Mögen die Götter mit euch sein.«
Er öffnete die Hand und der Caduceus flog hinein.
Viel Glück, wünschte Martha mir.
Bringt mir eine Ratte mit, sagte George.
Der Caduceus verwandelte sich in ein Handy und Hermes steckte es in die Tasche.
Er lief über den Strand davon. Als er zwanzig Schritte weit gekommen war, leuchtete er kurz auf und war verschwunden, und ich saß da mit einer Thermoskanne und einer Flasche mit Vitaminbonbons und hatte fünf Minuten, in denen ich eine unmögliche Entscheidung treffen sollte.
Wir schiffen uns auf der Prinzessin Andromeda ein
Ich starrte die Wellen an, als Annabeth und Tyson mich fanden.
»Was ist los?«, fragte Annabeth. »Ich habe dich um Hilfe rufen hören.«
»Ich auch«, sagte Tyson. »Hast gerufen: Schlimme Dinge greifen an.«
»Ich hab euch nicht gerufen«, sagte ich. »Mir geht’s gut.«
»Aber wer hat dann …« Annabeth sah die drei gelben Seesäcke und dann die Thermoskanne und die Bonbonflasche in meiner Hand. »Was …?«
»Hört einfach zu«, sagte ich. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Ich erzählte ihnen von meiner Unterhaltung mit Hermes. Als ich fertig war, konnte ich in der Ferne Kreischen hören – die Harpyien hatten unsere Witterung aufgenommen.
»Percy«, sagte Annabeth. »Wir müssen es tun.«
»Wir werden hier rausfliegen. Glaub mir. Ich kenn mich mit Rausfliegen aus.«
»Na und? Wenn wir versagen, dann gibt es sowieso kein Camp mehr, in das wir zurückkehren könnten.«
»Ja, aber du hast Chiron versprochen …«
»Ich habe versprochen, dich von Gefahren fernzuhalten. Und das kann ich nur, wenn ich mit dir komme. Tyson kann hierbleiben und ihnen erzählen …«
»Ich will mit«, sagte Tyson.
»Nein!« Annabeth hatte jetzt Panik in der Stimme. »Ich meine … Percy, bitte. Du weißt, dass das unmöglich ist.«
Wieder fragte ich mich, was sie eigentlich gegen Zyklopen hatte. Sie verschwieg mir irgendetwas.
Sie und Tyson sahen mich an und warteten auf eine Antwort. Das Kreuzfahrtschiff entfernte sich inzwischen immer weiter.
Die Sache war die … Einerseits wollte ich Tyson nicht mitnehmen. Ich hatte die letzten drei Tage ganz eng mit diesem Typen verbracht und ich war von den anderen Leuten im Camp deshalb jeden Tag eine Million Mal angemacht und ausgelacht und immer daran erinnert worden, dass ich mit ihm verwandt war. Ich brauchte eine Atempause.
Und ich wusste auch nicht, wie er mir helfen könnte oder wie ich ihn beschützen sollte. Sicher, er war stark, aber nach Zyklopenmaßstab war Tyson ein kleiner Junge, und im Kopf war er vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er durchdrehen oder losheulen würde, wenn wir versuchten, uns an einem Monster vorbeizuschleichen oder so etwas. Er könnte uns allen den Tod bringen.
Andererseits kamen die Harpyien immer näher …
»Wir können ihn nicht hierlassen«, entschied ich. »Sonst wird Tantalus ihn dafür bestrafen, dass wir weg sind.«
»Percy«, sagte Annabeth und rang sichtlich um Ruhe. »Wir wollen zur Insel des Polyphem! Polyphem ist ein T-s- … ein Z-ü-k …« Sie stampfte frustriert mit dem Fuß auf. Sie war zwar intelligent, aber sie war eben auch Legasthenikerin. Wir hätten die ganze Nacht mit dem Versuch zubringen können, Zyklop zu buchstabieren. »Du weißt, was ich meine.«
»Tyson kann mitkommen«, beharrte ich. »Wenn er will.«
Tyson klatschte in die Hände. »Will.«
Annabeth starrte mich wütend an, aber sie hatte wohl begriffen, dass ich mir die Sache nicht mehr anders überlegen würde. Vielleicht wusste sie einfach, dass uns keine Zeit für weitere Diskussionen blieb.
»Na gut«, sagte sie. »Wie kommen wir aufs Schiff?«
»Hermes hat gesagt, dass mein Vater uns helfen wird.«
»Na dann, Algenhirn! Worauf wartest du noch?«
Es war mir immer schwergefallen, meinen Vater anzurufen oder zu ihm zu beten oder wie immer man das nennen kann, aber jetzt watete ich hinaus in die Brandung.
»Äh, Dad«, rief ich. »Wie geht’s denn so?«
»Percy«, flüsterte Annabeth. »Es eilt.«
»Wir brauchen deine Hilfe«, rief ich ein wenig lauter. »Wir müssen auf das Schiff da draußen, ich meine … ehe wir gefressen werden und so, also …«
Zuerst geschah nichts. Wellen brachen sich wie immer am Ufer. Die Harpyien mussten jeden Moment hinter uns in den Dünen stehen.
Dann tauchten etwa hundert Meter weiter draußen drei weiße Striche an der Meeresoberfläche auf. Sie jagten auf uns zu wie Krallen, die den Ozean zerfetzten.
Als sie sich dem Strand näherten, tat sich die Brandung auf und die Köpfe von drei weißen Rössern erhoben sich aus den Wellen.
Tyson schnappte nach Luft. »Fischponys!«
Er hatte Recht. Als die Wesen sich auf den Sand zogen, sah ich, dass sie nur von vorn aussahen wie Pferde. Ihre hinteren Hälften waren silberne Fischleiber mit funkelnden Schuppen und Schwanzflossen in allen Regenbogenfarben.
»Hippocampi«, sagte Annabeth. »Wie schön sie sind!«
Der ihr am nächsten stehende wieherte zustimmend und stieß Annabeth mit der Schnauze an.
»Bewundern können wir sie später«, sagte ich. »Los.«
»Da!«, kreischte hinter uns eine Stimme. »Böse Kinder, die die Hütten verlassen haben. Kleiner Imbiss für glückliche Harpyien.«
Fünf Harpyien flatterten oben auf den Dünen – rundliche kleine Vetteln mit verkniffenen Gesichtern und Krallen und Flügeln, die zu klein für ihre Körper waren. Sie sahen aus wie eine Mischung aus winzigen Imbisswirtinnen und Dodos. Sie waren nicht sehr schnell, den Göttern sei Dank, aber sie waren verdammt gemein, wenn sie ihr Opfer erst gefangen hatten.
»Tyson«, sagte ich. »Schnapp dir einen Seesack.«
Er starrte noch immer mit offenem Mund die Hippocampi an.
»Tyson?«
»Hä?«
»Na los!«
Mit Annabeths Hilfe konnte ich ihn in Bewegung setzen. Wir griffen nach den Säcken und stiegen auf unsere Reittiere. Poseidon musste gewusst haben, dass Tyson mit uns kommen würde, denn ein Hippocampus war viel größer als die beiden anderen – wie geschaffen für einen Zyklopen.
»Na, denn hü«, sagte ich. Mein Hippocampus wendete und glitt ins Wasser. Annabeths und Tysons folgten auf dem Fuße.
Die Harpyien verfluchten uns und heulten, ihr Imbiss solle zurückkommen, aber die Hippocampi jagten wie mit Wasserskiern über das Meer. Die Harpyien fielen zurück und bald war das Ufer von Camp Half-Blood nur noch ein dunkler Fleck.
Ich fragte mich, ob ich das Camp jemals wiedersehen würde. Aber in dem Moment hatte ich wirklich andere Probleme.
Das Kreuzfahrtschiff ragte vor uns auf – um uns nach Florida und zum Meer der Ungeheuer zu bringen.
Auf einem Hippocampus zu reiten war leichter als auf einem Pegasus. Wir jagten dahin, den Wind im Gesicht, wir durchpflügten die Wellen so ruhig und sicher, dass ich mich kaum festzuhalten brauchte.
Als wir uns dem Kreuzfahrtschiff näherten, wurde mir erst richtig klar, wie riesig es war. Ich hatte das Gefühl, an einem Gebäude in Manhattan hinaufzuschauen. Der weiße Rumpf war mindestens zehn Stockwerke hoch und darüber gab es noch ein Dutzend Decks mit hell erleuchteten Balkons und Laufgängen. Der Name des Schiffes stand in schwarzen Buchstaben weit oben seitlich am Bug und wurde mit Scheinwerfern angestrahlt. Ich brauchte einige Sekunden, um ihn zu entziffern:
PRINZESSIN ANDROMEDA.
Am Bug war eine gewaltige Galionsfigur angebracht … eine drei Stockwerke hohe Frau, die einen griechischen Chiton trug und vorn am Schiff angekettet zu sein schien. Sie war jung und schön und hatte wogende schwarze Haare, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte pures Entsetzen. Warum jemand eine schreiende Prinzessin vorn an einem Traumschiff haben wollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären.
Mir fiel die Sage ein: Andromeda war von ihren eigenen Eltern an einen Felsen gekettet worden, um einem Meeresungeheuer geopfert zu werden. Ich stellte mir vor, dass sie vielleicht ein zu mieses Zeugnis mit nach Hause gebracht hatte. Jedenfalls hatte mein Namensvetter Perseus sie noch gerade rechtzeitig retten können und mit dem Kopf der Medusa das Meeresungeheuer zu Stein erstarren lassen.
Dieser Perseus hatte immer gewonnen. Deshalb hatte meine Mom mich nach ihm benannt, auch wenn er ein Sohn des Zeus war und ich einer des Poseidon. Der erste Perseus war einer der ganz wenigen griechischen Helden gewesen, die ein Happy End erlebt hatten. Die anderen starben – verraten, verletzt, verstümmelt, vergiftet oder von den Göttern verflucht. Meine Mom hatte gehofft, ich würde das Glück des Perseus erben. Aber so, wie mein Leben bisher verlaufen war, war ich nicht gerade optimistisch.
»Wie kommen wir an Bord?«, schrie Annabeth durch das Rauschen der Wellen, aber die Hippocampi schienen Bescheid zu wissen. Sie glitten steuerbords am Schiff vorbei, pflügten problemlos durch das schäumende Kielwasser und hielten dann an einer Leiter, die am Schiffsrumpf festgenietet war.
»Du zuerst«, sagte ich zu Annabeth.
Sie warf sich den Seesack über die Schulter und griff nach der untersten Sprosse. Als sie sich auf die Leiter gezogen hatte, wieherte ihr Hippocampus zum Abschied und tauchte unter. Annabeth fing an zu klettern. Ich ließ sie einige Sprossen hochsteigen, dann folgte ich ihr.
Jetzt war nur noch Tyson im Wasser. Sein Hippocampus drehte sich um sich selbst und machte wilde Sprünge und Tyson lachte so hysterisch, dass es vom Schiffsrumpf widerhallte.
»Tyson, sei still«, sagte ich. »Komm schon, Großer!«
»Können wir Regenbogen nicht mitnehmen?«, fragte er und sein Lächeln verschwand.
Ich starrte ihn an. »Regenbogen?«
Der Hippocampus wieherte, als ob er seinen Namen erkannt hätte.
»Äh, wir müssen weiter«, sagte ich. »Regenbogen … der kommt doch keine Leitern hoch.«
Tyson schniefte. Er vergrub sein Gesicht in der Mähne des Hippocampus. »Du wirst mir fehlen, Regenbogen.«
Der Hippocampus ließ ein Geräusch hören, das bestimmt ein Weinen bedeutete, da war ich mir sicher.
»Vielleicht sehen wir ihn irgendwann einmal wieder«, sagte ich.
»Ach, bitte!«, sagte Tyson und seine Miene hellte sich sofort auf. »Morgen!«
Ich versprach nichts, aber ich konnte Tyson schließlich dazu überreden, sich zu verabschieden und die Leiter zu packen. Mit einem letzten traurigen Wiehern machte der Hippocampus Regenbogen eine Rolle rückwärts und verschwand im Wasser.
Die Leiter führte auf ein Wartungsdeck, auf dem überall gelbe Rettungsboote standen. Es gab eine verschlossene Doppeltür, die Annabeth mit ihrem Messer und allerlei altgriechischen Flüchen öffnen konnte.
Ich überlegte mir, dass wir wohl schleichen müssten, wo wir doch blinde Passagiere waren, aber nachdem wir uns ein paar Gänge angesehen und über einen Balkon in einen Mittelgang mit geschlossenen Geschäften geschaut hatten, ging mir auf, dass es hier niemanden gab, vor dem wir uns verstecken mussten. Sicher, es war mitten in der Nacht, aber wir waren über das halbe Schiff spaziert und niemand war uns begegnet. Wir kamen an vierzig oder fünfzig Kabinentüren vorbei und hörten hinter keiner auch nur einen Mucks.
»Das ist ein Gespensterschiff«, murmelte ich.
»Nein«, sagte Tyson, der am Riemen seines Seesacks herumspielte. »Riecht nicht gut.«
Annabeth runzelte die Stirn.
»Ich rieche gar nichts.«
»Zyklopen sind wie Satyrn«, sagte ich. »Sie können Ungeheuer riechen. Stimmt’s, Tyson?«
Er nickte nervös. Jetzt, wo wir uns nicht mehr im Camp Half-Blood aufhielten, hatte der Nebel sein Gesicht wieder verzerrt. Wenn ich mich nicht ganz gewaltig konzentrierte, dann glaubte ich, dort zwei Augen zu sehen und nicht nur eines.
»Na gut«, sagte Annabeth. »Aber was genau riechst du denn hier?«
»Etwas Böses.«
»Klasse«, knurrte Annabeth. »Dann wissen wir ja genau Bescheid.«
Wir erreichten das Deck mit den Swimming-Pools. Es gab zwei Reihen von leeren Liegestühlen und eine Bar, die mit einem Kettenvorhang verschlossen war. Die Schwimmbecken leuchteten drohend und das Wasser schwappte mit den Bewegungen des Schiffes hin und her.
Über uns befanden sich vorn und achtern weitere Ebenen – eine Kletterwand, eine Minigolffläche, ein sich drehendes Restaurant. Aber nirgendwo ein Lebenszeichen.
Und doch … ich spürte etwas, das mir vertraut vorkam. Etwas Gefährliches. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nach dieser langen Nacht nicht so müde und ausgebrannt gewesen wäre, dann hätte ich gewusst, was hier nicht stimmte.
»Wir brauchen ein Versteck«, sagte ich. »Ein Plätzchen, wo wir schlafen können.«
»Schlafen«, stimmte Annabeth erschöpft zu.
Wir erforschten noch ein paar Gänge, bis wir auf Ebene 9 eine leere Suite fanden. Die Tür war offen, was mir seltsam erschien. Auf dem Tisch stand ein Korb mit Pralinen, auf dem Nachttisch eine eisgekühlte Flasche mit sprudelndem Cider und auf dem Kissen lag ein Pfefferminzbonbon mit einem handschriftlichen Zettel, der »eine schöne Kreuzfahrt« wünschte.
Wir öffneten zum ersten Mal die Seesäcke und stellten fest, dass Hermes wirklich an alles gedacht hatte – Ersatzkleidung, Toilettenartikel, Proviant, eine kleine Tasche mit Reißverschluss, die mit Geld gefüllt war, einen Lederbeutel voller goldener Drachmen. Hermes hatte sogar Tysons Ölplane mit Werkzeug und Metallstücken und Annabeths Tarnkappe eingepackt, was beide gleich in viel bessere Stimmung versetzte.
»Ich bin nebenan«, sagte Annabeth. »Und, Jungs, nichts trinken oder essen, ja?«
»Glaubst du, die Suite ist verzaubert?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Seid einfach … vorsichtig.«
Wir schlossen unsere Türen ab.
Tyson ließ sich auf das Sofa fallen. Er beschäftigte sich ein paar Minuten lang mit seinem Metallprojekt – das er mir noch immer nicht zeigen wollte –, aber sehr bald gähnte er. Er rollte seine Ölplane zusammen und schlief ein.
Ich legte mich aufs Bett und starrte aus dem Bullauge. Ich glaubte, auf dem Gang Stimmen zu hören … Geflüster. Ich wusste, dass das nicht sein konnte. Wir waren auf dem ganzen Schiff herumgelaufen und hatten niemanden gesehen. Aber die Stimmen hielten mich wach. Sie erinnerten mich an meinen Ausflug in die Unterwelt – so hatten die Stimmen der Toten sich angehört, als sie vorübergeschwebt waren.
Endlich siegte meine Erschöpfung. Ich schlief ein … und hatte den schlimmsten Traum, den man sich denken kann.
Ich stand in einer Höhle am Rand einer riesigen Grube. Ich wusste nur zu genau, wo ich war: am Eingang zum Tartarus. Und ich kannte das kalte Lachen, das aus der Tiefe heraufhallte.
Na, wenn das nicht der junge Held ist! Die Stimme war wie eine Messerspitze, die über Stein kratzt. Auf dem Weg zu einem weiteren großen Sieg.
Ich wollte Kronos anschreien, er solle mich in Ruhe lassen. Ich wollte Springflut ziehen und ihn niedermachen. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Und selbst wenn, wie sollte ich etwas umbringen, das bereits zerstört worden war – in Stücke gehackt und in die ewige Finsternis geworfen?
Lass dich davon nicht abhalten, sagte der Titan. Vielleicht wirst du diesmal, nachdem du versagt hast, überlegen, ob es sich wirklich lohnt, für die Götter Sklavenarbeit zu verrichten. Und wie hat dir eigentlich dein Vater in letzter Zeit seine Zuneigung bewiesen?
Sein Gelächter erfüllte die Höhle und plötzlich änderte sich der Schauplatz.
Es war eine andere Höhle – die Schlafkammer in der Zyklopenhöhle, in der Grover eingesperrt war.
Grover saß in seinem verdreckten Hochzeitskleid am Webstuhl und zog wütend die Fäden der unvollendeten Schleppe wieder auf.
»Schnuckelchen!«, brüllte das Monster hinter dem Steinquader.
Grover wimmerte und fing wieder an zu weben.
Die Kammer bebte, als der Quader beiseitegestoßen wurde. Dahinter tauchte ein so riesenhafter Zyklop auf, dass er Tyson wie einen Zwerg wirken ließ. Er hatte gezackte gelbe Zähne und knotige Hände, die so groß waren wie mein ganzer Körper. Er trug ein verwaschenes lila T-Shirt mit der Aufschrift SCHAF-EXPO 2001. Er war mindestens viereinhalb Meter groß, aber das Grässlichste an ihm war sein riesiges milchiges Auge – es war vernarbt und von Star überzogen. Er war vielleicht nicht ganz blind, aber sehr viel konnte da nicht fehlen.
»Was machst du denn da?«, wollte das Monster wissen.
»Nichts«, sagte Grover mit seiner Fistelstimme. »Ich webe meine Brautschleppe, das siehst du doch.«
Der Zyklop schob eine Hand ins Zimmer und tastete herum, bis er den Webstuhl gefunden hatte. Er befühlte das Gewebe. »Das ist ja gar nicht länger geworden.«
»Äh, öh, doch, ist es wohl, Liebster. Siehst du? Es ist mindestens drei Zentimeter länger.«
»Das dauert viel zu lange!«, brüllte das Monster. Dann schnüffelte es. »Du riechst gut. Wie Ziegen!«
»Ach.« Grover zwang sich ein schwaches Kichern ab. »Gefällt dir das? Das ist Eau de chèvre. Ich nehm es nur für dich.«
»Mmmm!« Der Zyklop zeigte seine spitzen Zähne. »Zum Fressen gut!«
»Ach, was bist du für ein Charmeur!«
»Aber jetzt will ich nicht mehr warten!«
»Aber Lieber, ich bin noch nicht fertig.«
»Morgen!«
»Nein, nein. Noch zehn Tage.«
»Fünf!«
»Na gut, dann sieben. Wenn du darauf bestehst!«
»Sieben. Das ist weniger als fünf, oder?«
»Aber natürlich. O ja.«
Das Monster knurrte und war durchaus nicht zufrieden mit diesem Handel, aber es überließ Grover seiner Weberei und rollte den Quader wieder an seinen Platz.
Grover schloss die Augen und rang zitternd nach Atem, um sich zu beruhigen.
»Beeil dich, Percy«, murmelte er. »Bitte, bitte, bitte!«
Ich wurde von einer Schiffssirene und einer Lautsprecherstimme geweckt – irgendein Typ mit australischem Akzent, der sich irgendwie zu glücklich anhörte.
»Guten Morgen, liebe Mitreisende! Wir werden den ganzen Tag auf See verbringen. Hervorragendes Wetter für eine Mambo-Party am Pool. Und vergessen Sie nicht das Eine-Million-Dollar-Bingo in der Kraken-Lounge um ein Uhr. Und für unsere besonderen Gäste gibt es Mordgolf auf der Promenade.«
Ich fuhr im Bett hoch. »Was hat er gesagt?«
Tyson stöhnte, er schlief noch halb. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa, seine Füße ragten so weit über die Kante vor, dass sie sich im Badezimmer befanden. »Der glückliche Mann hat gesagt … Bordgolf?«
Ich hoffte, dass er Recht hatte, aber da wurde wütend an die Tür geklopft. Annabeth schaute herein, ihre blonden Haare standen wild durcheinander. »Mordgolf?«
Als wir alle angezogen waren, wagten wir uns nach draußen und entdeckten zu unserer Überraschung andere Reisende. Ein Dutzend älterer Leute steuerte den Frühstückssalon an. Ein Vater führte seine Kinder zum Morgenschwimmen im Pool. Mannschaftsmitglieder in frischen weißen Uniformen schlenderten über Deck und tippten an ihre Mützen, wenn ihnen Reisende begegneten.
Niemand fragte, wer wir seien. Niemand achtete so richtig auf uns. Aber irgendetwas stimmte hier nicht.
Als die Schwimmfamilie an uns vorüberging, sagte der Vater zu seinen Kindern: »Wir machen eine Kreuzfahrt. Das macht Spaß.«
»Ja«, sagten die drei Kinder wie aus einem Munde und mit ausdruckslosen Gesichtern. »Wir amüsieren uns köstlich. Wir werden im Pool schwimmen.«
Dann gingen sie weiter.
»Guten Morgen«, sagte ein Mannschaftsmitglied mit glasigen Augen zu uns. »Hier an Bord der Prinzessin Andromeda amüsieren sich alle. Ich wünsche euch einen schönen Tag.«
Er ging weiter.
»Percy, das ist nicht normal«, flüsterte Annabeth. »Die scheinen alle in einer Art Trance zu sein.«
Wir gingen an einer Cafeteria vorbei und sahen das erste Ungeheuer.
Es war ein Höllenhund – ein schwarzer Mastiff, der seine Vorderpfoten auf das Büfett gelegt und seine Schnauze in den Rühreiern vergraben hatte. Er war sicher noch jung, denn er war klein im Vergleich zu den meisten anderen seiner Art, nicht größer als ein Grizzlybär. Trotzdem erstarrte mein Magen zu Eis. Ich wäre von so einem fast mal umgebracht worden.
Das Seltsame war: Ein Paar mittleren Alters stand gleich hinter dem Höllenhund vor dem Büfett an und wartete geduldig darauf, bei den Eiern zulangen zu können. Den beiden schien gar nichts aufzufallen.
»Kein’ Hunger mehr«, murmelte Tyson.
Noch ehe Annabeth oder ich etwas sagen konnte, erklang hinten auf dem Gang eine Reptilienstimme: »Noch ssssechssss sssseit gessstern.«
Annabeth zeigte hektisch auf das nächstgelegene Versteck – die Damentoilette – und wir stürzten alle drei hinein. Ich war so fertig, dass ich nicht einmal auf die Idee kam, verlegen zu sein.
Etwas – oder eher zwei Etwasse – glitten vor der Tür vorüber, was sich anhörte wie Sandpapier auf Teppich.
»Yessss«, sagte eine zweite Stimme. »Er ssssieht sssie an. Bald ssssind wir ssssstark.«
Die Etwasse glitten in die Cafeteria, mit einem kalten Zischen, das vielleicht ein Schlangenlachen sein konnte.
Annabeth sah mich an. »Wir müssen weg hier!«
»Meinst du vielleicht, ich will in der Damentoilette bleiben?«
»Ich meine das Schiff, Percy. Wir müssen runter vom Schiff!«
»Riecht schlecht«, sagte Tyson zustimmend. »Und Hunde essen alle Eier. Annabeth hat Recht. Wir müssen weg von Klo und Schiff.«
Ich bekam eine Gänsehaut. Wenn Annabeth und Tyson wirklich einmal einer Meinung waren, war es wohl besser, auf sie zu hören.
Dann vernahm ich draußen eine andere Stimme – und die machte mir noch mehr Gänsehaut als jegliches Ungeheuer.
»… nur eine Frage der Zeit. Also drängel hier nicht rum, Agrius.«
Das war Luke, ohne jeden Zweifel. Seine Stimme würde ich niemals vergessen können.
»Ich drängel hier nicht herum«, knurrte ein anderer Typ. Seine Stimme war tiefer und noch wütender als Lukes. »Ich sag ja nur, wenn dieses Spiel nicht aufgeht …«
»Es wird aufgehen«, fauchte Luke. »Sie werden den Köder schlucken. Und jetzt los, wir müssen zur Admiralssuite und im Versteck nachsehen.«
Ihre Stimmen entfernten sich den Gang hinunter.
Tyson wimmerte: »Jetzt los?«
Annabeth und ich tauschten einen Blick und waren uns einig, ohne auch nur ein Wort zu wechseln.
»Geht nicht«, sagte ich zu Tyson.
»Wir müssen rausfinden, was Luke vorhat«, fügte Annabeth hinzu. »Und wenn möglich, werden wir ihn zusammenschlagen, in Ketten legen und auf den Olymp schleifen.«
Ich erlebe das schlimmste Familientreffen aller Zeiten
Annabeth bot an, allein zu gehen, da sie die Tarnkappe hatte, aber ich konnte ihr klarmachen, dass das zu gefährlich sein würde. Entweder gingen wir alle oder keiner.
»Keiner!«, schlug Tyson vor. »Bitte?«
Aber am Ende kam er doch mit und knabberte nervös an seinen riesigen Fingernägeln. Wir gingen bei unserer Suite vorbei und holten unsere Sachen. Uns war klar, dass wir keine weitere Nacht auf diesem Zombieschiff verbringen würden, egal was passierte, auch wenn es ein Eine-Million-Dollar-Bingo gab. Ich überzeugte mich davon, dass Springflut in meiner Tasche steckte und dass Vitamine und Thermoskanne oben in meinem Seesack lagen. Ich wollte nicht, dass Tyson alles trug, aber er bestand darauf, und Annabeth meinte, ich sollte mir deswegen keine Sorgen machen, Tyson könne drei vollgestopfte Seesäcke so leicht tragen wie ich einen Rucksack.
Wir schlichen durch die Gänge und folgten den Wegweisern zur Admiralssuite. Annabeth lief als unsichtbare Späherin vor uns her. Wir versteckten uns, wenn jemand vorbeikam, aber die meisten Leute, die wir sahen, waren einfach Zombies mit glasigen Augen.
Als wir die Treppe zum Deck 13 hochgingen, wo die Admiralssuite lag, zischte Annabeth: »Weg hier!«, und stieß uns in eine Vorratskammer.
Ich hörte mehrere Leute durch das Foyer laufen.
»Hast du diesen äthiopischen Drachen im Laderaum gesehen?«, fragte der eine.
Der andere lachte. »Ja, beeindruckend.«
Annabeth war noch unsichtbar, aber sie packte meinen Arm. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Stimme des zweiten Typen kennen müsste.
»Ich habe gehört, dass noch zwei kommen sollen«, sagte die bekannte Stimme. »Wenn das in diesem Tempo weitergeht – oh Mann, keine Chance!«
Die Stimmen entfernten sich auf dem Gang.