»Das war Chris Rodriguez.« Annabeth nahm die Tarnkappe ab und war wieder zu sehen. »Erinnerst du dich – aus Hütte 11?«
Ich konnte mich vom vorigen Sommer her vage an Chris erinnern. Er gehörte zu den Leuten, über die noch nicht entschieden war und die in der Hermes-Hütte festsaßen, weil ihr olympisches Elternteil sich nicht zu ihnen bekannte. Jetzt ging mir auf, dass ich Chris in diesem Sommer nicht im Camp gesehen hatte. »Was macht denn noch ein Halbblut hier?«
Annabeth schüttelte den Kopf und war sichtlich besorgt.
Wir gingen weiter den Gang entlang. Ich brauchte jetzt keine Wegweiser mehr, um zu wissen, dass ich mich Luke näherte. Ich nahm etwas Kaltes und Scheußliches wahr – die Anwesenheit des Bösen.
»Percy.« Annabeth blieb plötzlich stehen. »Schau mal!«
Sie stand vor einer Glaswand und schaute hinab in den vielstöckigen Canyon, der sich durch das ganze Schiff zog. Ganz unten befand sich die Promenade – eine Ladenpassage –, aber nicht sie hatte Annabeths Aufmerksamkeit erregt.
Eine Gruppe von Ungeheuern hatte sich vor dem Süßigkeitenladen versammelt: ein Dutzend laistrygonischer Riesen, wie die, die mich mit den Feuerkugeln angegriffen hatten, dazu zwei Höllenhunde und einige noch seltsamere Wesen – Frauen, die Schlangenschwänze hatten statt Beine.
»Skythische Dracaenae«, flüsterte Annabeth. »Drachenfrauen.«
Die Ungeheuer bildeten einen Halbkreis um einen jungen Typen in griechischer Rüstung, der auf eine Strohpuppe eindrosch. Ich spürte einen Kloß im Hals, als mir aufging, dass die Strohfigur ein orangefarbenes Camp-Half-Blood-T-Shirt trug. Während wir noch zusahen, durchbohrte der Typ in der Rüstung den Bauch der Figur und zog das Schwert nach oben. Überall stob Stroh durch die Gegend. Die Ungeheuer johlten und heulten.
Annabeth zog sich vom Fenster zurück. Ihr Gesicht war aschgrau.
»Na los«, sagte ich zu ihr und versuchte, mutiger zu klingen, als ich mich fühlte. »Je eher wir Luke finden, desto besser.«
Am Ende des Ganges stießen wir auf eine Doppeltür aus Eichenholz, die, so wie sie aussah, bestimmt an einen wichtigen Ort führte. Als wir noch zehn Meter davon entfernt waren, blieb Tyson stehen. »Stimmen dahinter.«
»So weit kannst du hören?«, fragte ich.
Tyson schloss sein Auge und schien sich gewaltig zu konzentrieren. Dann änderte sich seine Stimme und klang wie eine heisere Nachahmung von Lukes. »… die Weissagung selber. Diese Trottel werden nicht mal wissen, in welche Richtung sie davonstürzen sollen.«
Ehe ich irgendwie reagieren konnte, hatte Tysons Stimme sich schon wieder verändert, jetzt klang sie tiefer und rauer, wie der Typ, mit dem Luke vor dem Klo gesprochen hatte. »Glaubst du wirklich, der alte Klepper ist auf Dauer erledigt?«
Tyson lachte Lukes Lachen. »Dem können sie nicht vertrauen. Nicht bei den Leichen, die der im Keller hat. Und dass der Baum vergiftet worden ist, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«
Annabeth zitterte. »Hör auf, Tyson! Wie machst du das überhaupt? Das ist ja unheimlich!«
Tyson öffnete sein Auge und sah sie ratlos an. »Ich hör nur zu.«
»Mach weiter«, drängte ich. »Was sagen sie noch?«
Tyson schloss sein Auge wieder.
Er zischte mit der rauen Männerstimme: »Ruhig!« Und dann flüsterte Lukes Stimme: »Bist du sicher?«
»Ja«, sagte Tyson mit der groben Stimme. »Direkt vor der Tür.«
Zu spät ging mir auf, was hier Sache war.
Ich konnte gerade noch sagen: »Weg hier!«, als die Türen der Suite aufgerissen wurden, und vor uns stand Luke zwischen zwei behaarten Riesen mit Wurfspeeren, deren Bronzespitzen direkt auf unsere Brust zielten.
»Na«, sagte Luke mit fiesem Lächeln. »Wenn das nicht meine beiden Lieblingsverwandten sind. Kommt doch rein!«
Die Suite war prachtvoll und sie war entsetzlich.
Der prachtvolle Teil: riesige Bogenfenster in der Rückwand, die auf das Heck des Schiffes hinausgingen. Grünes Meer und blauer Himmel zogen sich bis zum Horizont. Ein Perserteppich bedeckte den Boden. Zwei flauschige Sofas standen mitten im Raum, in der einen Ecke sah ich ein Himmelbett und in der anderen einen Esstisch aus Mahagoni. Der Tisch war überladen mit Essen – Pizzaschachteln, Flaschen und ein Turm aus Roastbeefbroten auf einer Silberplatte.
Der entsetzliche Teil: Auf einem Samtpodium hinten im Raum stand ein drei Meter langer goldener Sarg. Genauer gesagt, es war ein Sarkophag, in den altgriechische Szenen von brennenden Städten und grauenhaften Todesszenarien eingraviert waren. Obwohl Sonnenlicht durch das Fenster hereinströmte, ließ der Sarg den ganzen Raum kalt wirken.
»Na«, sagte Luke und breitete stolz die Arme aus. »Ein bisschen netter als Hütte 11, was?«
Er hatte sich verändert seit dem vergangenen Sommer. Statt Bermudashorts und T-Shirt trug er jetzt ein Oberhemd, Khakihosen und Lederturnschuhe. Er sah aus wie ein fieses männliches Model, das vorführt, was der modebewusste Schurke im Collegealter dieses Semester auf dem Campus trägt.
Er hatte noch immer die Narbe unter seinem Auge – eine gezackte weiße Linie, die aus seinem Kampf gegen den Drachen stammte. Und am Sofa lehnte sein Zauberschwert Rückenbeißer und ließ auf seltsame Weise seine Klinge glitzern, die halb aus Stahl und halb aus himmlischer Bronze geschmiedet war und deshalb Sterbliche und Ungeheuer gleichermaßen töten konnte.
»Setzen«, befahl er uns. Er bewegte die Hand und drei Stühle schossen in die Mitte des Raums.
Wie blieben allesamt stehen.
Lukes riesige Freunde hatten noch immer ihre Wurfspeere auf uns gerichtet. Sie sahen aus wie Zwillinge, waren aber keine Menschen. Sie waren fast zwei Meter fünfzig groß und trugen nur Jeans, vermutlich, weil ihre riesigen Brustkästen dicht mit dickem braunem Fell bewachsen waren. Sie hatten Krallen statt Fingernägel und Füße wie Pfoten. Ihre Nasen waren fast schon Schnauzen und ihre Zähne allesamt spitze Hauer.
»Ja, hab ich denn meine Manieren total vergessen?«, sagte Luke freundlich. »Das sind meine Assistenten, Agrios und Oreios. Vielleicht habt ihr von ihnen gehört.«
Ich sagte nichts. Obwohl sie ihre Speere auf mich richteten, waren es nicht die Bärenzwillinge, die mir hier Angst machten.
Seit Luke im vergangenen Sommer versucht hatte, mich umzubringen, hatte ich mir unser Wiedersehen oft vorgestellt. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich ihm kühn standhielt, wie ich ihn zum Duell herausforderte. Aber jetzt, wo wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, konnte ich meine Hände nur mit Mühe am Zittern hindern.
»Ihr kennt die Geschichte von Agrios und Oreios nicht?«, fragte Luke. »Ihre Mutter … na ja, das ist wirklich eine traurige Geschichte. Aphrodite hatte der jungen Frau befohlen, sich zu verlieben. Die wollte aber nicht und bat Artemis um Hilfe. Artemis machte sie zu einer ihrer jungfräulichen Jägerinnen, aber Aphrodite rächte sich. Sie verwünschte die junge Frau und die verliebte sich daraufhin in einen Bären. Als Artemis das erfuhr, ließ sie die Ärmste angeekelt fallen. Typisch für die Götter, findet ihr nicht? Sie fetzen sich untereinander und die armen Menschen werden zwischen ihnen zerrieben. Die beiden Söhne der jungen Frau, eben Agrios und Oreios, lieben die Olympier also gar nicht. Halbblute aber mögen sie recht gern …«
»Zu Mittag«, knurrte Agrios. Seine raue Stimme war die, die ich vorhin mit Luke sprechen gehört hatte.
»Haha! Haha!« Sein Bruder Oreios lachte und leckte sich seine bepelzten Lippen. Sein Lachen klang wie ein Asthma-Anfall und er lachte weiter, bis Agrios und Luke ihn beide anstarrten.
»Hör auf, du Idiot!«, knurrte Agrios. »Geh dich bestrafen!«
Oreios wimmerte. Er trottete in die Zimmerecke, ließ sich auf einen Hocker fallen, schlug mit der Stirn auf den Esstisch und brachte dabei die Silberplatte zum Klappern.
Luke schien das ganz normal zu finden. Er machte es sich auf dem Sofa gemütlich und legte die Füße auf den Couchtisch. »Na, Percy, wir haben dich noch ein Jahr überleben lassen. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Wie geht’s deiner Mom? Und was macht die Schule?«
»Du hast Thalias Baum vergiftet!«
Luke seufzte. »Immer gleich zur Sache, was? Ja, gut, ich hab den Baum vergiftet. Na und?«
»Wie konntest du?« Annabeth hörte sich so wütend an, dass ich schon mit einer Explosion rechnete. »Thalia hat dir das Leben gerettet. Sie hat uns das Leben gerettet! Wie konntest du sie so entehren …«
»Ich hab sie nicht entehrt«, fauchte Luke. »Die Götter haben sie entehrt, Annabeth. Wenn Thalia noch am Leben wäre, dann würde sie auf meiner Seite stehen!«
»Lügner!«
»Wenn du wüsstest, was uns bevorsteht, dann würdest du verstehen …«
»Ich weiß, dass du das Camp zerstören willst«, schrie sie. »Du bist ein Ungeheuer!«
Luke schüttelte den Kopf. »Die Götter haben dich mit Blindheit geschlagen. Kannst du dir eine Welt ohne sie nicht vorstellen, Annabeth? Was nützt denn diese alte Geschichte, die du studierst? Dreitausend Jahre Schurkerei! Das Abendland ist bis ins Mark verrottet. Es muss vernichtet werden. Komm zu uns! Wir können die Welt neu erschaffen. Und wir könnten deine Intelligenz brauchen, Annabeth.«
»Weil ihr selber keine habt!«
Er kniff die Augen zusammen. »Ich kenne dich, Annabeth. Du hast etwas Besseres verdient, als den hoffnungslosen Versuch zu unternehmen, das Camp zu retten. Half-Blood Hill wird noch in diesem Monat von Ungeheuern überrannt werden. Die Halbblute, die das überleben, werden keine andere Wahl haben, als sich uns anzuschließen oder unterzugehen. Willst du wirklich zum Verliererteam gehören … in solcher Gesellschaft?«
Luke zeigte auf Tyson.
»He!«, sagte ich.
»Mit einem Zyklopen auf Reisen«, spottete Luke. »Aber ich soll die Erinnerung an Thalia entehrt haben. Ich staune über dich, Annabeth. Ausgerechnet du …«
»Hör auf!«, schrie sie.
Ich wusste nicht, worüber er da redete, aber Annabeth schlug die Hände vors Gesicht und schien mit den Tränen zu kämpfen.
»Lass sie in Ruhe«, sagte ich. »Und zieh Tyson hier nicht rein!«
Luke lachte. »Ja, klar, hab schon gehört, dein Vater hat sich zu ihm bekannt.«
Offenbar war mir meine Überraschung anzusehen, denn Luke lächelte. »Ja, Percy, das weiß ich alles. Und ich kenne auch deinen Plan, das Vlies zu finden. Wie waren die Koordinaten noch … 30, 31, 75, 12? Weißt du, ich hab immer noch Freunde im Camp, die mich auf dem Laufenden halten.«
»Spione, meinst du.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wie viele Beleidigungen von deinem Vater kannst du eigentlich einstecken, Percy? Glaubst du, er ist dir dankbar? Glaubst du, Poseidon interessiert sich für dich mehr als für diese Missgeburt da?«
Tyson ballte die Fäuste und ein Knurren kam ganz tief aus seiner Kehle.
Luke schmunzelte nur. »Die Götter nutzen dich dermaßen aus, Percy. Hast du überhaupt irgendeine Vorstellung davon, was dir bevorsteht, falls du deinen sechzehnten Geburtstag erreichst? Hat Chiron dir auch nur ein Wort über die Weissagung erzählt?«
Ich hätte Luke gern eine gescheuert und ihm geraten, die Klappe zu halten, aber wie immer war es ihm gelungen, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Sechzehnter Geburtstag?
Klar, ich wusste, dass das Orakel Chiron viele Jahre zuvor eine Weissagung gemacht hatte. Ich wusste, dass es dabei teilweise um mich ging. Aber … falls ich meinen sechzehnten Geburtstag erreichte? Das klang gar nicht gut.
»Ich weiß, was ich wissen muss«, brachte ich heraus. »Wer meine Feinde sind, zum Beispiel.«
»Dann bist du ein Idiot.«
Tyson zerschlug den nächstbesten Stuhl zu Splittern. »Percy ist kein Idiot!«
Ehe ich ihn daran hindern konnte, griff er Luke an. Seine Fäuste landeten auf Lukes Kopf – ein doppelter Superschlag, der sogar in Titan ein Loch hätte hauen können –, aber nun schalteten sich die Bärenzwillinge ein. Jeder schnappte sich einen von Tysons Armen und so hielten sie ihn fest. Sie stießen ihn zurück und Tyson stolperte. Er knallte so hart auf den Boden, dass das Deck bebte.
»Pech gehabt, Zyklop«, sagte Luke. »Offenbar sind meine Grizzlyfreunde gemeinsam deiner Kraft mehr als gewachsen. Vielleicht sollte ich sie …«
»Luke«, schaltete ich mich ein. »Hör zu. Dein Vater hat uns geschickt.«
Sein Gesicht lief tiefrot an. »Erwähn – den – bloß – nicht!«
»Er hat uns auf dieses Schiff geschickt. Ich dachte, das täte er nur, damit wir weiterkommen, aber jetzt weiß ich, dass wir dich suchen sollten. Er hat gesagt, dass er dich nicht aufgeben wird, egal, wie wütend du bist.«
»Wütend?«, brüllte Luke. »Mich aufgeben? Er hat mich im Stich gelassen, Percy. Ich will den Olymp in Schutt und Asche sehen. Und jeden Thron zu Staub zerfallen! Du kannst Hermes sagen, dass genau das passieren wird. Mit jedem Halbblut, das sich uns anschließt, werden die Olympier schwächer und wir stärker. Er wird stärker.«
Luke zeigte auf den goldenen Sarkophag.
Dessen Anblick machte mich fertig, aber ich war entschlossen, das nicht zu zeigen.
»Ach?«, fragte ich. »Was ist denn so besonders …«
Dann wurde mir klar, was sich in dem Sarkophag befand. Sofort schien es im Raum zwanzig Grad kälter zu werden. »Meine Güte, du willst doch wohl nicht sagen …«
»Er entsteht von neuem«, sagte Luke. »Schritt für Schritt rufen wir seine Lebenskraft aus der Tiefe herauf. Und immer, wenn sich uns jemand anschließt, erscheint noch ein kleines Stück …«
»Das ist widerlich!«, sagte Annabeth.
Luke grinste höhnisch. »Deine Mutter ist Zeus’ gespaltenem Schädel entsprungen, Annabeth. Ich an deiner Stelle würde also den Mund halten. Bald wird genug vom Titanenherrn vorhanden sein, dass wir ihn wieder herstellen können. Wir werden einen neuen Körper für ihn zusammensetzen, ein Werk, das der Esse des Hephaistos würdig ist.«
»Du bist verrückt«, sagte Annabeth.
»Schließ dich uns an und du wirst belohnt werden. Wir haben mächtige Freunde – Förderer, die reich genug sind, um dieses Kreuzfahrtschiff und noch sehr viel mehr zu kaufen. Percy, deine Mutter wird nie mehr arbeiten müssen. Du kannst ihr eine Villa kaufen. Du kannst Macht, Ruhm haben – was immer du willst. Annabeth, du kannst deinen Traum wahr machen und Architektin werden. Du kannst ein Denkmal bauen, das tausend Jahre überlebt. Einen Tempel für die Herren des nächsten Zeitalters!«
»Scher dich in den Tartarus«, sagte sie.
Luke seufzte. »Eine Schande.«
Er griff nach etwas, das aussah wie eine Fernbedienung für einen Fernseher, und drückte auf einen roten Knopf. In Sekundenschnelle wurde die Tür zur Suite aufgerissen. Zwei uniformierte Mitglieder der Besatzung kamen herein; sie waren mit Schlagstöcken bewaffnet. Sie hatten den gleichen glasigen Blick wie die anderen Sterblichen, die ich gesehen hatte, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie deshalb im Kampf weniger gefährlich sein würden.
»Ach, sehr gut, die Sicherheitsleute«, sagte Luke. »Ich fürchte, wir haben blinde Passagiere gefunden.«
»Ja, Sir«, sagten die Uniformierten verträumt.
Luke wandte sich an Oreios. »Wird Zeit, den äthiopischen Drachen zu füttern. Bring diese Trottel nach unten und zeig ihnen, wie das geht.«
Oreios grinste albern. »Haha! Haha!«
»Lass mich mitgehen«, grummelte Agrios. »Mein Bruder taugt doch nichts. Dieser Zyklop …«
»… ist ganz harmlos«, sagte Luke. Er schaute sich nach dem goldenen Sarg um, als mache ihm etwas zu schaffen. »Agrios, bleib hier. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.«
»Aber …«
»Oreios, lass mich jetzt nicht im Stich. Bleib unten, bis der Drache wirklich genug zu essen bekommen hat.«
Oreios stieß uns mit seinem Wurfspeer an und jagte uns aus der Suite, gefolgt von den beiden menschlichen Sicherheitsmännern.
Als wir durch den Gang gingen, wobei Oreios’ Speer sich in meinen Rücken bohrte, dachte ich darüber nach, was Luke gesagt hatte – dass es die Bärenzwillinge gemeinsam mit Tysons Kraft aufnehmen könnten. Aber getrennt …
Wir verließen mittschiffs den Gang und überquerten ein offenes Deck mit Rettungsbooten. Ich kannte das Schiff inzwischen gut genug, um zu wissen, dass wir nun zum letzten Mal das Sonnenlicht sahen. Auf der anderen Seite würden wir mit dem Fahrstuhl nach unten in den Schiffsrumpf fahren und damit wäre die Sache gelaufen.
Ich sah Tyson an und sagte: »Jetzt.«
Und den Göttern sei Dank, er hatte kapiert. Er drehte sich um und ließ Oreios zehn Meter weiter hinten in den Swimming-Pool klatschen, mitten zwischen die schwimmende Zombiefamilie.
»He!«, riefen die Kinder wie aus einem Munde. »Wir wollen aber keine künstlichen Wellen!«
Einer der Sicherheitsleute zog seinen Schlagstock, aber Annabeth erledigte ihn mit einem wohl platzierten Tritt. Der andere rannte zum nächsten Alarmmelder.
»Haltet ihn auf«, schrie Annabeth, aber es war zu spät.
Ehe ich ihm einen Liegestuhl an den Kopf knallen konnte, hatte er schon den Alarm ausgelöst.
Rote Lichter flackerten auf. Sirenen heulten.
»Rettungsboot«, schrie ich.
Wir rannten auf das nächste zu.
Als wir es von seiner Plane befreit hatten, wimmelte es auf dem Deck nur so von Monstern und Sicherheitsleuten, die Reisende und Kellner mit Tabletts voller tropischer Drinks beiseitefegten. Ein Typ in griechischer Rüstung zog sein Schwert und wollte uns angreifen, rutschte aber in einer Lache aus Piña colada aus. Laistrygonische Bogenschützen versammelten sich ein Deck höher und legten Pfeile an ihre riesigen Bogen.
»Wie lässt man dieses Ding zu Wasser?«, schrie Annabeth.
Ein Höllenhund sprang mich an, aber Tyson schlug ihn mit einem Feuerlöscher aus dem Weg.
»Rein da!«, brüllte ich. Ich drehte die Kappe von Springflut und hieb die erste Pfeilsalve aus der Luft.
Wir konnten jede Sekunde überwältigt werden. Das Rettungsboot hing jetzt neben dem Schiff, aber noch immer hoch über dem Wasser. Annabeth und Tyson konnten den Mechanismus einfach nicht bedienen.
Ich sprang zu ihnen ins Boot.
»Festhalten«, rief ich und kappte die Taue.
Ein Hagel aus Pfeilen pfiff über unsere Köpfe, als wir uns im freien Fall dem Ozean näherten.
An Bord genommen von toten Südstaatensoldaten
»Thermos«, schrie ich, als wir auf das Wasser zustürzten.
»Was?« Annabeth hielt mich sicher für verrückt. Sie klammerte sich verzweifelt an einen Riemen und ihre blonden Haare flogen senkrecht nach oben.
Aber Tyson hatte begriffen. Er konnte meinen Seesack öffnen und Hermes’ magische Thermoskanne herausnehmen, ohne das Boot aus dem Griff zu verlieren.
Pfeile und Wurfspeere pfiffen um unsere Ohren.
Ich packte die Thermoskanne und hoffte, das Richtige zu tun. »Festhalten!«
»Ich halte mich fest!«, schrie Annabeth.
»Fester!«
Ich verhakte meine Füße unter der aufblasbaren Sitzbank des Bootes, Tyson packte Annabeth und mich hinten an unseren T-Shirts und ich ließ den Deckel der Thermoskanne eine Vierteldrehung machen.
Sofort jagte ein weißer Windstoß aus der Flasche, riss uns zur Seite und machte aus unserem steilen Absturz eine Bruchlandung im Winkel von fünfundvierzig Grad.
Der Wind schien zu lachen, als er aus der Flasche schoss, offenbar genoss er seine Freiheit. Als wir auf den Ozean schlugen, titschten wir einmal, zweimal wie ein flacher Stein auf, dann jagten wir dahin, mit salziger Gischt in den Gesichtern und vor uns nur noch das offene Meer.
Ich hörte Wutgeheul vom Schiff hinter uns, aber wir waren schon außer Schussweite. Die Prinzessin Andromeda schrumpfte in der Ferne zu einem weißen Spielzeugboot zusammen und war verschwunden.
Während wir über das Meer schossen, versuchten Annabeth und ich, Chiron eine Iris-Message zu schicken. Wir fanden es wichtig, dass irgendwer informiert war, was Luke vorhatte, und wir wussten nicht, wem wir sonst vertrauen konnten.
Der Wind aus der Thermoskanne ließ jede Menge Gischt aufstieben, die im Sonnenschein einen Regenbogen bildete – perfekt für eine Iris-Message –, aber die Verbindung war schlecht. Als Annabeth eine goldene Drachme in den Nebel warf und die Regenbogengöttin bat, uns Chiron zu zeigen, konnten wir sein Gesicht recht gut sehen, aber im Hintergrund flackerte ein komisches Stroboskop und laute Rockmusik dröhnte, wie in einer Disko.
Wir erzählten ihm, wie wir uns aus dem Camp geschlichen hatten, und wir berichteten von Luke und der Prinzessin Andromeda und dem goldenen Sarg mit Kronos’ Überresten, aber bei dem Lärm auf seiner Seite und dem Rauschen von Wind und Wasser auf unserer fragte ich mich, wie viel er überhaupt gehört hatte.
»Percy«, schrie Chiron. »Du musst dich hüten vor …«
Seine Stimme ging im lauten Geschrei hinter ihm unter – lauter Stimmen, die losgrölten wie Komantschenkrieger.
»Was?«, schrie ich.
»Ach, meine verdammten Verwandten!« Chiron duckte sich, als ein Teller über seinen Kopf flog und irgendwo außerhalb unseres Sichtfeldes zerschellte. »Annabeth, du hättest Percy nicht aus dem Camp lassen dürfen. Aber wenn ihr das Vlies findet …«
»Yeah, Baby«, brüllte irgendwer hinter Chiron. »Woohooooo!«
Die Musik wurde noch lauter gedreht, die Bässe dröhnten so, dass unser Boot vibrierte.
»Miami«, schrie Chiron. »Ich versuche … Auge behalten …«
Unser nebliger Bildschirm zersprang, als ob jemand auf der anderen Seite eine Flasche danach geworfen hätte, und Chiron war verschwunden.
Eine Stunde später kam Land in Sicht – ein langer Strand voller Hoteltürme. Auf dem Wasser wimmelte es jetzt von Fischkuttern und Tankern. Ein Boot der Küstenwache passierte uns steuerbords, dann drehte es bei und schien noch einen Blick auf uns werfen zu wollen. Ich nehme an, es sah nicht jeden Tag ein gelbes Rettungsboot ohne Motor, besetzt mit drei Jugendlichen, das hundert Knoten in der Stunde hinlegte.
»Das ist Virginia Beach«, sagte Annabeth, als wir uns dem Ufer näherten. »Meine Güte, ist die Prinzessin Andromeda in einer Nacht so weit gekommen? Das macht doch …«
»Fünfhundertdreißig Seemeilen«, sagte ich.
Sie starrte mich an. »Woher weißt du das?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
Annabeth überlegte kurz. »Percy … wie ist unsere Position?«
»36° Nord, 44° 02’ West«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. Dann schüttelte ich den Kopf. »Himmel. Woher weiß ich das denn bloß?«
»Das hat mit deinem Dad zu tun«, tippte Annabeth. »Wenn du auf See bist, kennst du dich einfach aus. Das ist echt klasse.«
Ich war mir da nicht so sicher. Ich wollte keine menschliche GPS-Vorrichtung sein, aber ehe ich noch etwas sagen konnte, tippte Tyson mir auf die Schulter. »Anderes Boot kommt.«
Ich schaute mich um. Die Küstenwache hatte sich jetzt eindeutig an unsere Fersen geheftet. Sie ließen ihre Scheinwerfer aufleuchten und wurden immer schneller.
»Die dürfen uns nicht einholen«, sagte ich. »Sie würden viel zu viele Fragen stellen.«
»Da hast du Recht«, sagte Annabeth. »Steuer die Chesapeake Bay an. Ich weiß, wo wir uns da verstecken können.«
Ich fragte nicht, was sie meinte oder wieso sie sich in der Gegend so gut auskannte. Ich wagte es, den Deckel der Thermoskanne noch ein wenig weiter zu öffnen, und ein frischer Windstoß jagte uns um die Nordspitze von Virginia Beach herum in die Chesapeake Bay. Das Boot der Küstenwache fiel immer weiter zurück. Wir drosselten unser Tempo erst, als die Bucht auf beiden Seiten schmaler wurde und mir klar wurde, dass wir eine Flussmündung erreicht hatten.
Ich konnte den Wechsel von Salzwasser zu Süßwasser spüren. Plötzlich war ich müde und kaputt, wie nach einem abrupten Blutzuckersturz. Ich hatte keine Ahnung mehr, wo ich war oder in welche Richtung ich das Boot lenken sollte. Gut, dass Annabeth mir Anweisungen erteilte.
»Da«, sagte sie. »An dieser Sandbank vorbei.«
Wir schaukelten in ein sumpfiges Gebiet, das vor Schilf zu ersticken schien. Ich ließ das Rettungsboot vor einer riesigen Zypresse halten.
Mit Schlingpflanzen umwucherte Bäume ragten über uns auf. Insekten sirrten in den Wäldern. Die Luft war stickig und heiß und vom Fluss stieg Dampf auf. Und irgendwie … es war eben nicht Manhattan und das gefiel mir nicht.
»Na los«, sagte Annabeth. »Es ist gleich hinter der Sandbank.«
»Was denn?«, fragte ich.
»Kommt einfach mit.« Sie griff einen Seesack. »Und wir sollten das Boot abdecken. Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen.«
Nachdem wir das Rettungsboot unter Zweigen begraben hatten, folgten wir Annabeth über das Ufer, wo unsere Füße in rotem Schlamm versanken. Eine Schlange glitschte an meinem Schuh vorbei und verschwand im Gras.
»Nicht gut hier«, sagte Tyson. Er versuchte, die Moskitos zu verjagen, die schon auf seinem Arm Schlange standen.
Nach einigen weiteren Minuten sagte Annabeth: »Hier.«
Ich sah nur eine Menge Dornengestrüpp. Aber Annabeth schlug eine Art runden, geflochtenen Deckel aus Zweigen beiseite wie eine Tür, und mir ging auf, dass ich in einen getarnten Unterstand blickte.
Innen war genug Platz für drei, selbst wenn Tyson der Dritte war. Die Wände waren aus Pflanzen geflochten, wie bei einer Indianerhütte, aber sie sahen ziemlich wasserdicht aus. In der Ecke war alles aufgestapelt, was man sich beim Camping nur wünschen kann – Schlafsäcke, Decken, ein kleiner Kühlschrank und eine Petroleumlampe. Es gab auch Ausrüstungsgegenstände für Demigottheiten – Speerspitzen aus Bronze, einen Köcher voller Pfeile, ein Schwert und eine Dose Ambrosia. Es roch muffig, als sei lange schon niemand mehr hier gewesen.
»Ein Halbblut-Versteck.« Ich sah Annabeth voller Bewunderung an. »Hast du das hier eingerichtet?«
»Zusammen mit Thalia«, sagte sie leise. »Und Luke.«
Das hätte mir nichts ausmachen dürfen. Ich meine, ich wusste, dass Thalia und Luke sich um Annabeth gekümmert hatten, als sie noch klein gewesen war. Ich wusste, dass die drei zusammen weggelaufen waren, sie hatten sich vor Ungeheuern versteckt und irgendwie zu überleben versucht, bis Grover sie dann gefunden und versucht hatte, sie nach Half-Blood Hill zu bringen. Aber immer, wenn Annabeth die Zeit erwähnte, die sie mit den beiden verbracht hatte, dann fühlte ich mich … ich weiß auch nicht. Unbehaglich?
Nein. Das war nicht das richtige Wort.
Das richtige Wort war eifersüchtig.
»Aha«, sagte ich. »Und du meinst nicht, dass Luke uns hier suchen wird?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben ein Dutzend solcher Verstecke angelegt. Ich glaube nicht, dass Luke sich auch nur erinnern kann, wo die sind … oder dass es ihn interessiert.«
Sie ließ sich auf die Decken fallen und fing an, in ihrem Seesack zu wühlen. Ihre Körpersprache sagte ziemlich deutlich, dass sie jetzt nicht reden wollte.
»Äh … Tyson?«, sagte ich. »Könntest du dich draußen wohl ein wenig umsehen? Ich meine … einen Urwaldkiosk suchen oder so?«
»Kiosk?«
»Ja, wo es Süßigkeiten gibt. Donuts mit Puderzucker, so was in der Art. Aber geh nicht zu weit weg.«
»Donuts mit Puderzucker«, sagte Tyson ernsthaft. »Ich suche im Urwald nach Donuts mit Puderzucker.« Er lief hinaus und rief: »Hierher, Donuts!«
Als er weg war, setzte ich mich Annabeth gegenüber. »He, es tut mir leid … ich meine, dass wir Luke getroffen haben.«
»Das war ja nicht deine Schuld.« Sie zog ihr Messer aus der Scheide und fing an, mit einem Lappen die Klinge zu säubern.
»Er hat uns zu leicht davonkommen lassen«, sagte ich.
Ich hatte gehofft, mir das eingebildet zu haben, aber Annabeth nickte. »Das hab ich mir auch schon gedacht. Wir haben doch aufgeschnappt, dass er etwas von einem Spiel gesagt hat und ›Sie werden den Köder schlucken‹. Ich nehme an, dass er uns gemeint hat.«
»Ist dann das Vlies der Köder? Oder Grover?«
Sie musterte die Messerkante. »Ich weiß es nicht, Percy. Vielleicht will er das Vlies selber haben. Vielleicht hofft er, dass wir für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen, damit er uns dann das Vlies stehlen kann. Ich kann nur einfach nicht glauben, dass er wirklich den Baum vergiftet hat …«
»Wie hat er das gemeint«, fragte ich, »dass Thalia auf seiner Seite sein würde?«
»Er irrt sich.«
»Du klingst aber nicht überzeugt.«
Annabeth starrte mich wütend an und ich wünschte, ich hätte ihr diese Frage nicht gestellt, solange sie noch ein Messer in der Hand hielt.
»Percy, weißt du, an wen du mich vor allem erinnerst? An Thalia. Ihr habt solche Ähnlichkeit miteinander, das ist wirklich unheimlich. Ich meine … ihr wärt entweder die besten Freunde geworden oder hättet euch gegenseitig erwürgt.«
»Dann bin ich für die besten Freunde.«
»Sie war manchmal stocksauer auf ihren Dad. Genau wie du. Aber würdest du dich deswegen den Feinden des Olymps anschließen?«
Ich starrte den Köcher in der Ecke an. »Nein.«
»Da hast du’s. Sie auch nicht.«
Annabeth bohrte ihr Messer in den Boden.
Ich hätte sie gern nach der Weissagung gefragt, die Luke erwähnt hatte … und was die mit meinem sechzehnten Geburtstag zu tun hatte. Aber ich ging davon aus, dass sie es mir nicht sagen würde. Chiron hatte klargestellt, dass ich nichts erfahren dürfte, solange die Gottheiten das nicht anders entschieden.
»Aber wie hat Luke das mit den Zyklopen gemeint?«, fragte ich stattdessen. »Er hat gesagt, ausgerechnet du …«
»Ich weiß, was er gesagt hat. Es … es ging um den eigentlichen Grund, aus dem Thalia gestorben ist.«
Ich wartete, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Annabeth holte zitternd Atem. »Du kannst einfach keinem Zyklopen vertrauen, Percy. Vor sechs Jahren, in der Nacht, in der Grover uns nach Half-Blood Hill geführt hat …«
Das Quietschen der Tür ließ sie verstummen. Tyson kam herein.
»Donuts mit Puderzucker«, sagte er stolz und hielt uns eine Tüte hin.
Annabeth starrte ihn an. »Woher hast du die? Wir sind hier doch mitten im Dschungel. Es gibt nichts im Umkreis von …«
»Zwanzig Meter«, sagte Tyson. »Monster-Donut-Laden – gleich hinter dem Hügel.«
»Das ist übel«, murmelte Annabeth.
Wir kauerten hinter einem Baum und starrten den Donutkiosk mitten im Wald an. Er sah nagelneu aus, hinter den Fenstern brannte helles Licht, es gab einen Parkplatz und eine kleine Straße, die in den Wald führte, aber ansonsten gab es nichts und es waren auch keine Autos zu sehen. Wir entdeckten nur eine Verkäuferin, die hinter der Kasse eine Zeitschrift las. Das war alles. Auf der Markise über den Fenstern stand in so großen Buchstaben, dass sogar ich sie lesen konnte:
MONSTER DONUT.
Eine Karikatur von einer Echse biss in das O von MONSTER. Es roch gut hier, nach frisch gebackenen Schokodonuts.
»So was dürfte es hier nicht geben«, flüsterte Annabeth. »Das kann nicht gut sein.«
»Was?«, fragte ich. »Das ist doch nur ein Kiosk.«
»Psst!«
»Warum flüstern wir? Tyson ist reingegangen und hat ein Dutzend gekauft. Ihm ist nichts passiert.«
»Er ist ja auch ein Monster.«
»Ach, hör auf, Annabeth. Monster Donut bedeutet nicht, dass es etwas mit Monstern zu tun hat. Das ist eine Kette. In New York gibt’s die auch.«
»Eine Kette«, sagte sie zustimmend. »Und findest du es nicht seltsam, dass hier eine Filiale auftaucht, sowie du Tyson zum Donutkaufen schickst? Einfach so, mitten im Wald?«
Ich überlegte. Es war wirklich ein bisschen seltsam, aber eigentlich … Donutkioske standen nun wirklich nicht auf meiner Liste der finsteren Mächte.
»Das könnte ein Nest sein«, erklärte Annabeth.
Tyson wimmerte. Ich glaube nicht, dass er Annabeth besser verstand als ich, aber ihr Tonfall machte ihn nervös. Er hatte schon ein halbes Dutzend Donuts gemampft und verschmierte den Puderzucker im ganzen Gesicht.
»Ein Nest … wovon denn?«, fragte ich.
»Hast du noch nie darüber nachgedacht, warum solche Filialen wie Pilze aus dem Boden schießen?«, fragte sie. »Heute ist hier nichts, und morgen, bumm!, steht da ein neuer Burgerladen oder ein Café oder was auch immer. Zuerst nur eins, dann zwei, dann vier … perfekte Kopien verteilen sich über das ganze Land!«
»Äh … nein. Darüber hab ich noch nie nachgedacht.«
»Percy, einige von diesen Ketten breiten sich deshalb so schnell aus, weil ihre Standorte magisch mit der Lebenskraft eines Monsters verbunden sind. Einige Kinder von Hermes sind in den fünfziger Jahren auf diesen Trichter gekommen. Sie züchten …«
Sie erstarrte.
»Was?«, fragte ich. »Was züchten sie?«
»Keine – plötzlichen – Bewegungen«, sagte Annabeth, als ob ihr Leben davon abhinge. »Ganz langsam … umdrehen.«
Und dann hörte ich es: ein Kratzen, wie etwas Riesiges, das seinen Bauch durch die Blätter zog.
Ich drehte mich um und sah ein Ding von Nashorngröße, das sich im Schatten der Bäume bewegte. Es zischte – und seine Vorderhälfte wand sich in alle Richtungen. Zuerst begriff ich nicht, was ich da sah. Dann ging mir auf, dass das Ding jede Menge Hälse hatte – mindestens sieben, und auf jedem saß ein zischender Reptilienkopf. Seine Haut sah aus wie Leder und unter jedem Kopf hing ein Plastiklätzchen mit der Aufschrift »ICH BIN EIN MONSTER DONUT-FAN«.
Ich zog meinen Kugelschreiber hervor, aber Annabeth schaute mich stumm an. Eine Warnung – noch nicht.
Ich begriff. Viele Monster sind so gut wie blind. Es war sehr gut möglich, dass die Hydra an uns vorbeiwandern würde. Aber wenn ich jetzt mein Schwert ausfuhr, dann würde das Bronzeglühen ihre Aufmerksamkeit erregen.
Wir warteten.
Die Hydra war nur noch wenige Meter von uns entfernt. Sie schien am Boden und an den Bäumen zu schnüffeln und etwas zu suchen. Dann bemerkte ich, dass zwei Köpfe ein Stück gelbes Leinen zerfetzten – einen von unseren Seesäcken. Das Ding hatte unser Lager also schon entdeckt. Und jetzt folgte es unserer Witterung.
Mein Herz hämmerte. Ich hatte im Camp schon einmal einen ausgestopften Hydrakopf als Jagdtrophäe gesehen, aber auf die lebende Ausgabe war ich dann doch nicht vorbereitet. Die Köpfe waren wie Karos geformt, wie die Köpfe von Klapperschlangen, aber in den Mündern saßen gezackte Reihen von Haifischzähnen.
Tyson zitterte. Er trat einen Schritt zurück und zerbrach dabei aus Versehen einen Zweig. Sofort wandten alle sieben Köpfe sich uns zu und zischten.
»Auseinander«, schrie Annabeth. Sie ließ sich nach rechts fallen.
Ich wälzte mich nach links. Ein Hydrakopf spuckte in hohem Bogen eine grüne Flüssigkeit aus, die eine Ulme traf. Der Stamm fing an zu dampfen und kippte auf Tyson zu, der sich noch immer nicht bewegt hatte, er war erstarrt, weil das Ungeheuer jetzt genau vor ihm stand.
»Tyson!« Ich schlug mit aller Kraft nach ihm und konnte ihn gerade noch zur Seite stoßen, ehe die Hydra zustieß und der Baum auf zwei von ihren Köpfen landete.
Die Hydra taumelte rückwärts, befreite ihre Köpfe und zischte dann wütend den umgestürzten Baum an. Alle sieben Köpfe stießen Säure aus und die Ulme schmolz zu einer dampfenden und stinkenden Lache.
»Weg hier«, rief ich Tyson zu. Ich rannte los und drehte die Kappe von Springflut, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Monsters zu erregen.
Das klappte.
Monster hassen den Anblick von himmlischer Bronze. Kaum hatte sie meine leuchtende Klinge entdeckt, da wandte die Hydra ihr auch schon alle Köpfe zu und die zischten und bleckten die Zähne.
Die gute Nachricht: Für den Moment war Tyson außer Gefahr. Die schlechte Nachricht: Ich würde gleich zu einer stinkenden Pfütze zerlaufen.
Einer der Köpfe versuchte nach mir zu schnappen. Ohne nachzudenken, schwang ich mein Schwert.
»Nein!«, schrie Annabeth.
Zu spät. Ich hatte der Hydra säuberlich den Kopf abgetrennt. Er rollte durch das Gras und ließ einen zuckenden Stumpf zurück, der sofort aufhörte zu bluten und wie ein Ballon anschwoll.
In Sekundenschnelle spaltete der Rumpf sich in zwei neue Hälse und auf jedem erschien ein ausgewachsener Kopf. Jetzt sah ich vor mir eine achtköpfige Hydra.
»Percy!«, sagte Annabeth. »Du hast soeben irgendwo einen neuen MONSTER DONUT-Kiosk eröffnet.«
Ich wich einer Säuredusche aus. »Ich muss sterben und du machst dir wegen so was Sorgen? Wie können wir das hier umbringen?«
»Mit Feuer«, sagte Annabeth. »Wir brauchen Feuer.«
Kaum hatte sie das gesagt, da fiel mir die Geschichte ein. Die Köpfe der Hydra konnten sich nicht mehr vermehren, wenn die Stümpfe rechtzeitig ausgeglüht wurden. So hatte Herkules es jedenfalls gemacht. Aber wir hatten kein Feuer.
Ich wich zum Fluss zurück. Gefolgt von der Hydra.
Annabeth trat neben mich und versuchte, einen Kopf abzulenken, sie wehrte die Zähne mit dem Messer ab, aber ein weiterer Kopf schwenkte wie eine Keule zur Seite und schlug sie in den Schlamm.
»Nicht meine Freunde hauen!« Tyson kam angerannt und schob sich zwischen Annabeth und die Hydra. Als Annabeth auf die Füße kam, schlug Tyson dermaßen schnell mit den Fäusten auf die Monsterköpfe ein, dass ich an ein superschnelles Haut-den-Lukas denken musste. Aber nicht einmal Tyson konnte bis in alle Ewigkeit eine Hydra in Schach halten.
Wir gingen weiter rückwärts, wichen Säurespritzern aus und wehrten nach uns schnappende Köpfe ab, ohne sie abzuschneiden, aber ich wusste, dass wir unseren Tod nur hinauszögerten. Irgendwann würden wir einen Fehler machen und dann würde das Ding uns umbringen.
Da hörte ich ein seltsames Geräusch – ein Tuckern, das ich zuerst für meinen Herzschlag hielt. Es war so mächtig, dass es das Ufer erzittern ließ.
»Was ist das denn für ein Krach?«, brüllte Annabeth, ließ aber die Hydra nicht aus den Augen.
»Dampfmaschine«, sagte Tyson.
»Was?« Ich duckte mich, als die Hydra Säure über meinen Kopf spie.
Und dann hörten wir vom Fluss her eine vertraute weibliche Stimme rufen: »Da! Macht die Zweiunddreißigpfünder fertig!«
Ich wagte nicht, meinen Blick von der Hydra zu lösen, aber wenn ich richtig geraten hatte, wer da hinter mir war, dann befanden wir uns jetzt zwischen zwei Feindinnen.
Eine raue Männerstimme sagte: »Die sind zu nah, M’lady.«
»Scheiß auf die Helden«, sagte das Mädchen. »Volle Kraft voraus.«
»Aye, M’lady.«
»Feuer frei, Käpt’n.«
Annabeth begriff den Bruchteil einer Sekunde früher als ich, was da passierte. Sie schrie: »Runter!«, und wir ließen uns fallen, als ein ohrenbetäubendes Dröhnen über den Fluss hallte. Wir sahen eine Art Blitz, dann eine Rauchsäule und dann explodierte die Hydra vor unseren Augen und übergoss uns mit ekelhaftem grünem Schleim, der sich gleich darauf auflöste, wie das bei Monsterinnereien eben ist.
»Wahnsinn«, schrie Annabeth.
»Dampfschiff«, brüllte Tyson.
Ich stand hustend in der Wolke aus Pulverdampf, die sich jetzt über das Ufer wälzte.
Auf dem Fluss tuckerte das seltsamste Schiff auf uns zu, das ich jemals gesehen hatte. Es lag tief im Wasser, wie ein U-Boot, und das Deck war mit Eisenplatten beschlagen. In der Mitte gab es einen trapezförmigen Aufbau, der auf allen Seiten Schießscharten für Kanonen hatte. Eine Flagge wehte am Mast – ein wilder Eber und ein Speer auf blutrotem Grund. An Deck aufgereiht standen Zombies in grauen Uniformen – tote Soldaten mit leuchtenden Gesichtern, die ihre Schädel nur teilweise bedeckten, wie bei den Gespenstern, die ich in der Unterwelt Hades’ Palast hatte bewachen sehen.
Das Schiff war mit Eisen verkleidet. Ein Schlachtschiff aus dem Bürgerkrieg. Ich konnte mit Mühe den Namen am mit Moos bedeckten Bug lesen: C.S.S. Birmingham.
Und neben der rauchenden Kanone, die uns fast umgebracht hätte, stand in voller griechischer Schlachtrüstung Clarisse.
»Versager«, höhnte sie. »Aber jetzt muss ich euch wohl retten. Also, an Bord mit euch!«
Clarisse lässt die ganze Kiste hochgehen
»Jetzt habt ihr einen Haufen Ärger«, sagte Clarisse.
Wir hatten gerade unfreiwillig eine Besichtigungsrunde über das Schiff gemacht, durch düstere, mit toten Soldaten vollgestopfte Kajüten. Wir hatten den Kohlenbunker, die Kessel und die Maschinen gesehen, die keuchten und ächzten und vermutlich jeden Moment in die Luft fliegen konnten. Wir hatten das Steuerhaus gesehen, das Pulvermagazin und das Kanonendeck (Clarisse’ Lieblingsaufenthaltsort), mit zwei Dahlgren-Kanonen mit glattem Lauf backbord und steuerbord sowie einer neunzölligen Brooke-Kanone vorn und achtern – allesamt für himmlische Bronzekugeln umgearbeitet.
Überall starrten uns tote Südstaatensoldaten an und ihre gespenstischen bärtigen Gesichter schimmerten über ihren Schädelknochen. Sie schätzten Annabeth, weil sie ihnen erzählt hatte, dass sie aus Virginia stammte. Sie fanden auch mich interessant, weil ich Jackson hieß, wie der Südstaatengeneral, aber dann machte ich diesen guten Eindruck durch die Erwähnung zunichte, dass ich aus New York kam. Alle fluchten und murmelten Verwünschungen über Yankees.
Tyson hatte schreckliche Angst vor ihnen. Während der ganzen Runde über das Schiff musste Annabeth seine Hand halten, worüber sie nicht gerade begeistert war.
Endlich gab es Essen. Die Kapitänsmesse der C.S.S. Birmingham war ungefähr so groß wie eine Toilette mit Vorraum, aber sie war doch immer noch viel größer als jeder andere Raum an Bord. Der Tisch war mit weißen Leinendecken und Porzellan gedeckt. Erdnussbutter- und Marmeladenbrote, Pommes und Dr.-Pepper-Limo wurden von Skelett-Matrosen serviert. Ich wollte nichts essen, was von Gespenstern aufgetischt wurde, aber mein Hunger besiegte meine Ängste.
»Tantalus hat euch für alle Ewigkeit aus dem Camp gefeuert«, erzählte Clarisse uns selbstgefällig. »Mr D hat gesagt, wenn ihr euch noch mal blicken lasst, verwandelt er euch in Eichhörnchen und macht euch mit der Kettensäge platt.«
»Haben sie dir das Schiff gegeben?«, fragte ich.
»Natürlich nicht. Das war mein Vater.«
»Ares?«
Clarisse feixte. »Du bildest dir wohl ein, dein Daddy ist der Einzige, der Macht auf See hat? Die Geister der Besiegten aus jedem Krieg sind Ares Tribut schuldig. Sie sind eben verflucht, weil sie besiegt worden sind. Ich habe zu meinem Vater um ein Wasserfahrzeug gebetet und jetzt habe ich eins. Diese Jungs tun alles, was ich ihnen sage. Oder nicht, Käpt’n?«
Der Kapitän stand hinter ihr und sah steif und zornig aus. Seine grünen Augen glühten mich hungrig an. »Wenn das diesem höllischen Krieg ein Ende setzen kann, Ma’am … endlich Frieden … dann tun wir alles … bringen alle um …«
Clarisse lächelte. »Bringen alle um. Das gefällt mir.«
Tyson würgte.
»Clarisse«, sagte Annabeth. »Es kann sein, dass auch Luke hinter dem Vlies her ist. Wir haben ihn gesehen. Er hat die Koordinaten und er ist nach Süden unterwegs. Er hat ein Kreuzfahrtschiff voller Ungeheuer …«
»Schön. Ich schieß ihn aus dem Wasser.«
»Du hast das nicht verstanden«, sagte Annabeth. »Wir müssen uns zusammentun. Wenn wir dir helfen dürfen …«
»Nein!« Clarisse schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das hier ist mein Auftrag, Neunmalklug. Diesmal werde ich die Heldin sein und ihr beide werdet mir die Chance nicht stehlen.«
»Wo sind denn deine Reisegefährten?«, fragte ich. »Du hast doch zwei Freunde mitnehmen dürfen, oder nicht?«
»Sie wollten nicht … Ich hab sie zurückgelassen. Damit sie das Camp bewachen.«
»Du meinst, nicht mal die Leute aus deiner eigenen Hütte wollten dir helfen?«
»Halt die Klappe, Streber! Die brauch ich nicht. Und euch auch nicht.«
»Clarisse«, sagte ich. »Tantalus nutzt dich aus. Dem ist das Camp egal. Er würde sich nur freuen, wenn es zerstört würde. Er hat dir einen Auftrag gegeben, der einfach nicht gut gehen kann.«
»Nein! Ist mir doch egal, was das Orakel …«
Sie verstummte.
»Was?«, fragte ich. »Was hat das Orakel dir gesagt?«
»Nichts.« Clarisse’ Ohren liefen rot an. »Es reicht, wenn ihr wisst, dass ich meinen Auftrag ausführen werde, und zwar ohne eure Hilfe. Aber andererseits kann ich euch auch nicht laufen lassen …«
»Also sind wir Gefangene?«, fragte Annabeth.
»Gäste … bis auf weiteres.« Clarisse legte die Füße auf die weiße Leinentischdecke und öffnete noch eine Dose Dr. Pepper. »Käpt’n, bring sie nach unten. Gib ihnen Hängematten auf dem Schlafdeck. Und wenn sie sich nicht benehmen, dann zeig ihnen, was wir mit feindlichen Spionen machen.«
Der Traum kam, sowie ich eingeschlafen war.
Grover saß an seinem Webstuhl und ribbelte verzweifelt seine Brautschleppe auf, als der Quader beiseitegerollt wurde und der Zyklop brüllte: »A-ha!«
Grover wimmerte: »Lieber! Ich hab dich nicht … Du warst so leise!«
»Aufgeribbelt!«, tobte Polyphem. »Deshalb also!«
»Nein, nein, ich wollte nicht …«
»Komm!« Polyphem packte Grover um die Taille und zog ihn durch die Gänge der Höhle. Grover gab sich alle Mühe, seine Stöckelschuhe nicht von den Hufen zu verlieren. Sein Schleier rutschte auf seinem Kopf hin und her und drohte jeden Moment herunterzufallen.
Der Zyklop zerrte ihn in eine Höhle von der Größe eines Hafenspeichers, die mit allerlei Schafskitsch eingerichtet war. Es gab eine mit Wolle bezogene Liege und einen mit Wolle bezogenen Fernseher, grob zurechtgehauene Bücherregale voller Schafsandenken – Kaffeetassen, geformt wie Schafsgesichter, Gipsschafe, Schachfiguren in Form von Schafen, Bilderbücher und Actionfiguren. Der Boden war übersät mit Schafsknochen und Knochen, die nicht so ganz nach Schaf aussahen – das waren die Knochen der Satyrn, die auf der Suche nach Pan auf der Insel gelandet waren.
Polyphem stellte Grover gerade lange genug auf den Boden, um einen weiteren riesigen Quader zu entfernen. Tageslicht strömte in die Höhle und Grover wimmerte vor Verlangen. Frische Luft!
Der Zyklop zog ihn nach draußen, auf einen Hügel, von dem man über die allerschönste Insel blickte, die ich je gesehen habe.
Sie hatte ungefähr die Form eines Sattels, der mit einer Axt in zwei Stücke gehauen worden ist. Auf beiden Seiten gab es üppig grüne Hügel und in der Mitte ein weites Tal. Das Tal wurde geteilt durch eine tiefe Schlucht, über die eine an Seilen befestigte Brücke führte. Liebliche Bäche plätscherten am Rand des Canyons und stürzten in allen Regenbogenfarben als Wasserfälle hinab. In den Bäumen flatterten Papageien. Rosa und lila Blumen leuchteten in den Büschen. Hunderte von Schafen grasten auf den Wiesen, ihre Wolle funkelte auf seltsame Weise wie Kupfer- und Silbermünzen.
Und mitten auf der Insel, gleich neben der Seilbrücke, stand eine gewaltige knorrige Eiche, auf deren unterstem Ast etwas funkelte.
Das Goldene Vlies.
Sogar im Traum konnte ich spüren, wie seine Kraft über die Insel strahlte und das Gras grüner und die Blumen schöner werden ließ. Ich konnte die Naturmagie fast riechen. Ich konnte nur ahnen, wie machtvoll dieser Duft einem Satyr erscheinen musste.
Grover wimmerte.
»Ja«, sagte Polyphem stolz. »Siehst du dahinten? Vlies ist Schmuckstück meiner Sammlung. Hab’s vor ewigen Zeiten von Helden gestohlen und seither – Essen umsonst. Satyrn kommen aus aller Welt her, wie Motten zum Licht. Satyrn schmecken lecker. Und jetzt …«
Polyphem hob ziemlich übel aussehende Bronzespeere auf.
Grover fiepte, aber Polyphem schnappte sich einfach das nächstbeste Schaf wie ein Spielzeugtier und schor ihm die Wolle ab. Er reichte Grover eine flauschige Hand voll.
»Nimm das zum Spinnen«, sagte er stolz. »Magisch. Kann nicht aufgeribbelt werden.«
»Oh … gut …«
»Armes Schnuckelchen!« Polyphem grinste. »Miese Weberin. Ha, ha. Keine Sorge. Dieser Faden wird Problem lösen. Schleppe morgen fertig.«
»Das ist aber … umsichtig von dir.«
»Hö, hö.«
»Aber – aber Lieber«, würgte Grover hervor. »Wenn jetzt irgendwer die Insel retten – ich meine, angreifen will?« Grover sah mir ins Gesicht und ich wusste, dass er diese Frage meinetwegen stellte. »Was könnte sie daran hindern, einfach zu deiner Höhle hochzumarschieren?«
»Frauchen hat Angst! Ach, wie niedlich. Keine Sorge. Polyphem hat perfektes Sicherheitssystem. Müssen durch meine Tierchen durch.«
»Tierchen?«
Grover schaute sich auf der Insel um, aber dort waren nur Schafe zu sehen, die friedlich auf den Wiesen grasten.
»Und dann«, knurrte Polyphem, »auch noch durch mich!«
Er donnerte mit der Faust gegen den nächstbesten Felsen, der Risse bekam und in zwei Hälften auseinanderbrach. »Und jetzt los!«, brüllte er. »Zurück in die Höhle.«
Grover schien mit den Tränen zu kämpfen – die Freiheit war so nah und doch so hoffnungslos weit entfernt. Die Tränen traten ihm in die Augen, als die Quadertür zuschlug und ihn abermals in der stinkenden, düsteren Höhle des Zyklopen einsperrte, wo nur einige Fackeln brannten.
Ich wurde davon geweckt, dass auf dem ganzen Schiff die Alarmglocken schrillten.
Die raue Stimme des Käpt’ns brüllte: »Alle Mann an Deck! Holt Lady Clarisse! Wo steckt das Mädel?«
Sein geisterhaftes Gesicht tauchte über mir auf. »Aufstehen, Yankee. Deine Freunde sind schon oben. Wir nähern uns dem Eingang.«
»Dem Eingang wozu?«
Er lächelte ein Totenschädellächeln. »Zum Meer der Ungeheuer natürlich.«
Ich stopfte meine wenigen Habseligkeiten, die die Hydra überlebt hatten, in einen Seesack und warf ihn mir über die Schulter. Ich hatte den heimlichen Verdacht, dass ich nicht noch eine Nacht auf der C.S.S. Birmingham verbringen würde, was immer nun passieren mochte.
Ich war gerade auf dem Weg nach oben, da erstarrte ich. Ich spürte etwas in der Nähe – es war vertraut und unangenehm. Irgendwie, ohne einen besonderen Grund, hatte ich Lust, Streit vom Zaun zu brechen. Ich hätte gern irgendeinem toten Südstaatler eine gescheuert. Als ich zuletzt diese Art von Zorn verspürt hatte …
Statt weiter nach oben zu steigen, kroch ich an den Rand des Ventilationsgitters und schaute in den Maschinenraum hinunter.
Direkt unter mir stand Clarisse und sprach mit einem Bild, das im Dampf der Kessel schimmerte – einem muskulösen Mann in schwarzer Motorradkluft mit militärisch kurzen Haaren, rot getönter Sonnenbrille und einem an seinen Gürtel geschnallten Messer.
Ich ballte unwillkürlich die Fäuste. Das war der Olympier, den ich am wenigsten leiden konnte: Ares, der Gott des Krieges.
»Ich will hier keine Entschuldigungen hören, Kleine«, knurrte er.
»J-ja, Vater«, murmelte Clarisse.
»Du willst mich doch nicht böse erleben, oder?«
»Nein, Vater.«
»Nein, Vater«, äffte Ares sie nach. »Was bist du für ein Jammerlappen. Ich hätte diesen Auftrag einem meiner Söhne übertragen sollen.«
»Ich werde es schaffen!«, versprach Clarisse mit zitternder Stimme. »Du wirst stolz auf mich sein!«
»Das möchte ich dir auch geraten haben«, sagte er. »Du hast mich um diesen Auftrag gebeten, Mädchen. Wenn du ihn dir von diesem kleinen Schleimer Jackson klauen lässt …«
»Aber das Orakel hat gesagt …«
»MIR EGAL, WAS ES GESAGT HAT!« Das brüllte Ares dermaßen wütend, dass sein Bild Funken sprühte. »Du wirst es schaffen. Und wenn nicht …«
Er hob die Faust. Obwohl er nur ein Bild im Dampf war, zuckte Clarisse zusammen.
»Haben wir uns verstanden?«, knurrte Ares.
Wieder schrillten die Alarmglocken. Ich hörte Stimmen näher kommen, die Offiziere riefen die Schützen an die Kanonen.
Ich kroch vom Ventilationsgitter zurück und lief nach oben zu Annabeth und Tyson auf das Spardeck.
»Was ist los?«, fragte Annabeth. »Noch ein Traum?«
Ich nickte, sagte aber nichts. Ich wusste nicht, was ich von dem halten sollte, was ich da unten gesehen hatte. Es machte mir fast so zu schaffen wie mein Traum von Grover.
Clarisse kam gleich hinter mir die Treppe hoch. Ich versuchte, sie nicht anzusehen.
Sie entriss einem Zombie-Offizier ein Fernglas und schaute zum Horizont. »Endlich. Käpt’n, volle Kraft voraus.«
Ich sah in dieselbe Richtung, konnte aber nicht viel erkennen. Der Himmel war bedeckt. Die Luft war dunstig und feucht, wie Bügeleisendampf. Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkniff, dann konnte ich mit Mühe in der Ferne ein paar dunkle Kleckse ahnen.
Mein Seefahrtsinstinkt sagte mir, dass wir uns irgendwo vor der Nordküste von Florida befanden, also hatten wir über Nacht eine weite Strecke zurückgelegt – weiter, als irgendein sterbliches Schiff es geschafft hätte.
Die Maschinen stöhnten, als wir unser Tempo steigerten.
Tyson murmelte nervös: »Zu viel Druck auf den Kolben. Sind nicht für tiefes Wasser gedacht.«
Ich hatte keine Ahnung, woher er das wusste, aber jetzt wurde auch ich nervös.
Nach einigen weiteren Minuten sah ich die dunklen Kleckse vor uns deutlicher. Im Norden erhob sich eine gewaltige Masse aus dem Meer – eine Insel mit mindestens dreißig Meter hohen Felsen. Ungefähr eine halbe Meile weiter südlich erwies der nächste Klecks sich als heraufziehender Sturm. Himmel und Meer brauten sich zu einem brüllenden Chaos zusammen.
»Hurrikan?«, fragte Annabeth.
»Nein«, sagte Clarisse. »Charybdis.«
Annabeth erbleichte. »Spinnst du?«
»Das ist der einzige Weg ins Meer der Ungeheuer. Genau zwischen Charybdis und ihrer Schwester, der Skylla.« Clarisse zeigte auf die Felsen und ich hatte das Gefühl, dass dort oben etwas hauste, dem ich lieber nicht begegnen wollte. Ich zerbrach mir den Kopf und versuchte mich an die Sage zu erinnern.
»Wie meinst du das, der einzige Weg?«, fragte ich. »Es ist doch überall offenes Meer. Fahr einfach außen rum!«
Clarisse verdrehte die Augen. »Hast du denn überhaupt keine Ahnung? Wenn ich sie zu umgehen versuche, werden sie einfach wieder vor mir auftauchen. Wenn du ins Meer der Ungeheuer willst, musst du zwischen ihnen durch.«
»Was ist mit den Blauen Felsen?«, fragte Annabeth. »Das ist noch ein Eingang. Den hat Jason genommen.«
»Ich kann mit meinen Kanonen keine Felsen zerschießen«, sagte Clarisse. »Ungeheuer dagegen …«
»Du bist wirklich verrückt«, entschied Annabeth.
»Du wirst ja sehen, Neunmalklug.« Clarisse wandte sich wieder an den Käpt’n. »Halt auf Charybdis zu.«
»Aye, M’lady.«
Die Maschinen ächzten, die Eisenplatten klapperten und das Schiff wurde schneller.
»Clarisse«, sagte ich. »Charybdis saugt das Meer auf, stimmt das nicht?«
»Und spuckt es wieder aus, ja.«
»Was ist mit Skylla?«
»Die lebt in einer Höhle, oben in den Felsen. Wenn wir ihr zu nahe kommen, dann fängt sie an, Seeleute vom Schiff zu pflücken.«
»Dann nimm Skylla«, sagte ich. »Alles geht unter Deck und wir tuckern einfach an ihr vorbei.«
»Nein!«, erklärte Clarisse. »Wenn Skylla nicht sofort Fleisch findet, dann schnappt sie sich das ganze Schiff. Und sie sitzt zu hoch oben, um eine gute Schießscheibe abzugeben. Meine Kanonen können nicht steil nach oben feuern. Charybdis sitzt einfach mitten in ihrem Wirbelwind. Wir werden auf sie zudampfen, unsere Kanonen auf sie richten und sie in den Tartarus schießen.«
Das sagte sie mit solcher Begeisterung, dass ich es fast geglaubt hätte.
Die Maschinen summten. Die Kessel entwickelten eine derartige Hitze, dass auch das Deck unter meinen Füßen heiß wurde. Die Schornsteine blähten sich. Ares’ rote Fahne peitschte im Wind hin und her.
Als wir uns den Ungeheuern näherten, wurde Charybdis immer lauter – es war ein entsetzliches, nasses Dröhnen, als werde die größte Toilette der ganzen Milchstraße abgezogen. Immer, wenn Charybdis Atem holte, zitterte das Schiff und schoss dann vorwärts. Wenn sie ausatmete, wurden wir im Wasser hochgehoben und von drei Meter hohen Wellen weitergetragen.
Ich versuchte, die Sogkraft dieses Whirlpools zu bemessen. Wenn ich einigermaßen richtig lag, dann brauchte Charybdis ungefähr drei Minuten, um in einem Umkreis von einer halben Meile alles im Ozean aufzusaugen und zu vernichten. Um ihr auszuweichen, mussten wir uns ziemlich dicht den Klippen der Skylla nähern. Und so schrecklich Skylla auch sein mochte, die Felsen dort oben sahen in meinen Augen einfach wunderbar aus.
Untote Seeleute erledigten auf dem Spardeck gelassen ihre Arbeit. Ich nehme an, ihnen machte das alles nichts aus, sie hatten ja schon einmal auf der Verliererseite gekämpft. Oder vielleicht war es ihnen auch egal, ob sie getötet wurden, da sie ja ohnehin schon gefallen waren. Keine dieser Überlegungen konnte meine Stimmung heben.
Annabeth stand neben mir und hielt sich an der Reling fest. »Hast du noch die Thermosflasche mit dem Wind?«
Ich nickte. »Aber es ist zu gefährlich, sie in so einem Whirlpool zu benutzen. Noch mehr Wind könnte alles noch schlimmer machen.«
»Aber kannst du nicht das Wasser beruhigen?«, fragte sie. »Du bist doch der Sohn des Poseidon. Und es wäre nicht das erste Mal.«
Sie hatte Recht. Ich schloss die Augen und versuchte, auf das Meer einzuwirken, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Charybdis war zu laut und zu mächtig. Die Wellen reagierten nicht auf meine Versuche.
»Ich … ich kann es nicht«, sagte ich kleinlaut.
»Wir brauchen einen Plan B«, sagte Annabeth. »Das hier kann doch nicht gut gehen.«
»Annabeth hat Recht«, sagte Tyson. »Maschinen taugen nichts.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Druck. Kolben müssen repariert werden.«
Ehe er das erklären konnte, wurde die kosmische Toilette mit lautem Gurrrgel abgezogen. Das Schiff schoss vorwärts und ich wurde auf das Deck geschleudert. Jetzt hatten wir den Whirlpool erreicht.
»Volle Kraft zurück!«, schrie Clarisse durch den Lärm. Um uns herum kochte das Meer und Wellen brachen sich an Deck. Die Eisenplatten waren jetzt so heiß, dass sie dampften. »Bringt uns in Schussweite! Macht die Steuerbordkanonen fertig!«
Tote Südstaatler rannten hin und her. Die Schiffsschraube drehte sich kreischend in den Rückwärtsgang und versuchte, das Schiff zu verlangsamen, aber wir wurden weiter auf die Mitte des Wirbels zu gezogen.
Ein Zombieseemann kam aus dem Schiffsinneren und stürzte zu Clarisse hinüber. Seine graue Uniform rauchte. Sein Bart brannte. »Kesselraum überhitzt, Ma’am. Geht gleich hoch.«
»Dann lauf runter und bring das in Ordnung!«
»Geht nicht!«, schrie der Seemann. »Wir verdampfen in der Hitze.«
Clarisse schlug gegen den Deckaufbau. »Ich brauche nur noch ein paar Minuten! Dann sind wir in Schussweite.«
»Wir sind zu schnell«, sagte der Käpt’n düster. »Bereiten Sie sich auf den Tod vor.«
»Nein!«, brüllte Tyson. »Ich kann das reparieren!«
Clarisse schaute ihn ungläubig an. »Du?«
»Der ist ein Zyklop«, sagte Annabeth. »Er ist immun gegen Feuer. Und er ist ein guter Mechaniker.«
»Los«, schrie Clarisse.
»Tyson, nein!« Ich packte seinen Arm. »Das ist zu gefährlich.«
Er streichelte meine Hand. »Geht nicht anders, Bruder.« Er sah entschlossen aus – und sogar zuversichtlich. Ich hatte ihn noch nie so gesehen. »Ich bring das in Ordnung. Bin gleich wieder hier.«
Ich sah zu, wie er dem schwelenden Matrosen unter Deck folgte, und ich hatte ein entsetzliches Gefühl dabei. Ich wäre gern hinter ihm hergerannt, aber das Schiff geriet wieder ins Schlingern – und dann sah ich Charybdis.
Sie war jetzt nur noch wenige hundert Meter von uns entfernt und ich sah sie durch einen Wirbel aus Dunst und Rauch und Wasser. Als Erstes fiel mir das Riff auf – ein schwarzes, gezacktes Korallenriff, auf dessen Spitze sich ein Feigenbaum festklammerte, ein seltsam friedliches Gewächs in der Mitte eines Mahlstroms. Überall um ihn herum stürzte das Wasser in den Sog wie in ein schwarzes Loch. Dann sah ich das Entsetzliche, gleich unterhalb des Wasserspiegels neben dem Riff – einen riesigen Mund mit schleimigen Lippen und mit Algen bewachsenen Zähnen, die so groß waren wie Ruderboote. Und schlimmer noch, an den Zähnen saßen Klammern, Spangen aus zerfressenem Altmetall, an denen Stücke von Fischen und Treibholz und schwimmender Abfall hingen.
Die Charybdis war ein zahnärztlicher Albtraum. Sie war ein riesiger schwarzer Schlund mit miesen Zähnen und einem heftigen Überbiss, und seit Jahrhunderten hatte sie nur gefressen, ohne sich nach dem Essen die Zähne zu putzen. Vor meinen Augen wurde das gesamte Wasser in ihrer Nähe in den Abgrund gesaugt – Haie, Fischschwärme, ein riesiger Tintenfisch. Und mir ging auf, dass in wenigen Sekunden die C.S.S. Birmingham an die Reihe kommen würde.
»Lady Clarisse«, brüllte der Käpt’n. »Kanonen an Steuerbord und vorn bereit!«
»Feuer!«, befahl Clarisse.
Drei Kugeln trafen den Schlund des Ungeheuers. Eine prallte von einem Eckzahn ab. Die andere verschwand in ihrem Rachen. Die dritte traf eine Zahnklammer, wurde zu uns zurückgeschleudert und riss die Ares-Flagge vom Mast.
»Noch mal!«, befahl Clarisse. Die Schützen luden die Kanonen, aber ich wusste, dass die Lage hoffnungslos war. Wir hätten das Ungeheuer noch hundertmal beschießen müssen, um es wirklich zu verletzen, und so viel Zeit blieb uns nicht. Wir wurden viel zu rasch weitergesaugt.
Dann änderte sich das Vibrieren des Decks. Das Brummen der Maschinen wurde lauter und gleichmäßiger. Das Schiff bebte einmal und dann zogen wir uns von dem Schlund zurück.
»Tyson hat es geschafft«, sagte Annabeth.
»Wartet«, sagte Clarisse. »Wir müssen dicht dranbleiben.«
»Dann werden wir sterben«, sagte ich. »Wir müssen weg hier!«
Ich klammerte mich an der Reling fest, während das Schiff gegen den Sog ankämpfte. Die abgerissene Ares-Flagge schoss an uns vorbei und blieb in den Zahnklammern der Charybdis hängen. Wir kamen nicht sehr schnell voran, aber immerhin hielten wir stand. Auf irgendeine Weise konnte Tyson gerade genug Saft geben, um zu verhindern, dass wir vom Sog erfasst wurden.
Plötzlich klappte der Mund zu. Das Meer war spiegelglatt. Wasser spülte über die Charybdis hinweg.
Doch dann wurde der Mund ebenso plötzlich wieder aufgerissen, spie eine Wasserwand aus und gab alles Ungenießbare wieder von sich, auch unsere Kanonenkugeln, von denen eine die Seite der C.S.S. Birmingham mit einem Pling rammte, wie ein Spielautomat es von sich gibt.
Wir wurden auf einer Welle von über zehn Metern rückwärtsgeschleudert. Ich musste all meine Willenskraft aufbieten, um das Schiff vor dem Kentern zu bewahren, aber noch immer wirbelten wir hilflos herum und jagten auf die Felsen auf der anderen Seite der Meerenge zu.
Ein weiterer schwelender Soldat kam an Deck gestürzt. Er stieß mit Clarisse zusammen und fast wären beide über Bord gefallen. »Der Dampfkessel geht gleich hoch!«
»Wo ist Tyson?«, wollte ich wissen.
»Noch unten«, sagte der Soldat. »Hält die Kiste irgendwie zusammen, aber ich hab keine Ahnung, wie lang er das noch schaffen kann.«
Der Kapitän sagte: »Wir müssen das Schiff aufgeben.«
»Nein!«, schrie Clarisse.
»Wir haben keine Wahl, M’lady. Der Rumpf birst bereits. Er kann nicht …«
Er sollte diesen Satz niemals beenden. Blitzschnell schoss etwas Braunes und Grünes aus dem Himmel, packte sich den Käpt’n und hob ihn hoch. Nur seine Lederstiefel blieben zurück.
»Die Skylla«, schrie ein Soldat, als eine weitere Säule Reptilienfleisch von den Felsen herunterschoss und ihn schnappte. Es ging wahnsinnig schnell, ich hatte das Gefühl, einen Laserstrahl zu beobachten und kein Ungeheuer. Ich konnte nicht einmal das Gesicht dieses Wesens erkennen – ich sah nur das Aufleuchten von Zähnen und Schuppen.
Ich drehte die Kappe von Springflut und versuchte, das Ungeheuer zu treffen, als es sich einen weiteren Matrosen holte, aber ich war viel zu langsam.
»Alles unter Deck«, schrie ich.
»Geht nicht!« Clarisse zog ihr Schwert. »Unten brennt alles.«
»Die Rettungsboote«, sagte Annabeth. »Schnell!«
»Die kommen nie im Leben von den Felsen weg«, sagte Clarisse. »Wir werden alle aufgefressen.«
»Wir müssen es versuchen. Percy, die Thermosflasche.«
»Ich kann Tyson nicht im Stich lassen.«
»Wir müssen die Boote fertig machen!«
Clarisse hörte auf Annabeths Rat. Sie und einige ihrer untoten Soldaten entfernten die Planen von zwei Rettungsruderbooten, während die Köpfe der Skylla vom Himmel stießen und einen Südstaatensoldaten nach dem anderen aufpickten.
»Nehmt das andere Boot!« Ich warf Annabeth die Thermosflasche zu. »Ich hole Tyson.«
»Das geht nicht!«, rief sie. »Die Hitze bringt dich um!«
Ich hörte nicht auf sie. Ich rannte zum Kesselraum, aber plötzlich berührten meine Füße nicht mehr das Deck.
Ich flog nach oben, der Wind pfiff in meinen Ohren und der Felsen war nur noch ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
Ein Kopf der Skylla hatte meinen Seesack erwischt. Und zog mich daran nach oben zu ihrem Lager. Ohne nachzudenken, schwang ich mein Schwert rückwärts und konnte dem Wesen in sein gelbes Knopfauge stechen. Es grunzte und ließ mich los.
Das wäre schon schlimm genug gewesen, ich war schließlich mehr als dreißig Meter hoch in der Luft. Aber als ich nun stürzte, ging unter mir die C.S.S. Birmingham in die Luft.
KAWUMMMM!
Der Maschinenraum explodierte und schoss Eisenstücke wie brennende Flügel in alle Richtungen.
»Tyson!«, schrie ich.
Die Rettungsboote waren im Wasser, aber sie waren noch nicht weit gekommen. Es hagelte glühende Wrackteile. Clarisse und Annabeth würden entweder zerschmettert oder verbrannt oder vom sinkenden Schiffsrumpf nach unten gezogen werden, und das auch nur, wenn sie das Glück hatten, der Skylla zu entkommen.
Dann hörte ich noch eine Explosion – das Geräusch von Hermes’ magischer Thermosflasche, die ein bisschen zu weit aufgedreht wurde. Weiße Windböen jagten in alle Richtungen davon, trieben die Rettungsboote auseinander, rissen mich aus meinem freien Fall und schleuderten mich quer über den Ozean.
Ich konnte nichts sehen. Ich wirbelte durch die Luft, knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes und prallte mit einer Wucht auf das Wasser, die jeden einzelnen Knochen in meinem Körper gebrochen hätte, wenn ich nicht der Sohn des Meeresgottes gewesen wäre.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass ich im brennenden Meer versank. Ich wusste, dass Tyson für immer verloren war, und wünschte mir nur noch, ertrinken zu können.
Wir mieten uns in C.C.s Wellness-Hotel ein
Ich kam in einem Ruderboot mit einem improvisierten Segel aus grauem Uniformstoff wieder zu mir. Neben mir saß Annabeth und legte eine Wende hin.
Ich versuchte mich aufzusetzen und sofort wurde mir schwindlig.
»Ruh dich aus«, sagte sie. »Das wird dir guttun.«
»Tyson …?«
Sie schüttelte den Kopf. »Percy, es tut mir wirklich leid.«
Wir schwiegen. Die Wellen warfen uns auf und ab.
»Vielleicht hat er überlebt«, sagte sie halbherzig. »Ich meine, Feuer kann ihn doch nicht umbringen.«
Ich nickte, aber ich sah keinen Grund zum Optimismus. Ich hatte gesehen, wie diese Explosion solides Eisen zerfetzt hatte. Wenn Tyson unten im Kesselraum gewesen war, dann konnte er einfach nicht mehr am Leben sein.
Er hatte sein Leben für uns gegeben und ich musste daran denken, wie oft ich mich seiner geschämt und verleugnet hatte, dass wir verwandt waren.
Wellen leckten am Boot. Annabeth zeigte mir, was sie bei dem Schiffbruch gerettet hatte – Hermes’ Thermoskanne (die jetzt leer war), einen Beutel voll Ambrosia, ein paar Matrosenblusen und eine Flasche Dr. Pepper. Sie hatte mich aus dem Wasser gefischt und meinen von der Skylla in Stücke gebissenen Seesack gefunden. Die meisten meiner Habseligkeiten waren weggeschwemmt worden, aber ich hatte noch immer Hermes’ Vitaminbonbons und natürlich Springflut. Der Kugelschreiber tauchte immer wieder in meiner Tasche auf, egal, wo ich ihn verlor.
Wir segelten stundenlang weiter. Jetzt, wo wir das Meer der Ungeheuer erreicht hatten, glitzerte das Wasser in einem leuchtenden Grün, grün wie das Gift der Hydra. Der Wind roch frisch und salzig, brachte aber auch einen starken metallischen Geruch mit sich – als ziehe ein Gewitter herauf. Oder etwas noch Gefährlicheres. Ich wusste, in welche Richtung wir uns halten mussten. Ich wusste, dass wir uns genau einhundertdreizehn Seemeilen Westnordwest von unserem Ziel befanden. Aber trotzdem kam ich mir total verloren vor.
Wohin wir uns auch drehten, immer schien mir die Sonne in die Augen. Wir tranken abwechselnd aus der Dr.-Pepper-Flasche und suchten nach Kräften im Schatten des Segels Zuflucht. Und wir sprachen über meinen letzten Traum von Grover.
Annabeth nahm an, dass uns weniger als vierundzwanzig Stunden blieben, um Grover zu finden, wenn mein Traum der Wahrheit entsprach und falls der Zyklop Polyphem sich die Sache nicht anders überlegte und sich früher mit Grover vermählte.
»Ja«, sagte ich bitter. »Auf einen Zyklopen ist ja nie Verlass.«
Annabeth starrte aufs Wasser. »Tut mir leid, Percy. Bei Tyson hab ich mich geirrt, okay? Ich wünschte, ich könnte ihm das sagen.«
Ich versuchte, weiterhin wütend auf sie zu sein, aber das war nicht leicht. Wir hatten so viel gemeinsam durchgemacht. Sie hatte mir immer wieder das Leben gerettet. Es wäre blöd von mir gewesen, länger zu schmollen.
Ich betrachtete unsere wenigen Habseligkeiten – die leere Thermosflasche, die Vitaminbonbons. Ich dachte an Lukes wütendes Gesicht, als ich versucht hatte, mit ihm über seinen Vater zu sprechen …
»Annabeth, wie lautet Chirons Weissagung?«
Sie schürzte die Lippen. »Percy, ich darf nicht …«
»Ich weiß, dass Chiron den Göttern gelobt hat, mir nichts zu sagen. Aber du hast kein Gelübde abgelegt, oder?«
»Wissen ist nicht immer gut für dich.«
»Deine Mutter ist die Göttin der Weisheit!«
»Weiß ich. Aber wenn Heroen von der Zukunft erfahren, versuchen sie immer, sie zu ändern, und das klappt nie.«
»Die Götter machen sich Sorgen über etwas, das ich tun werde, wenn ich älter bin«, tippte ich. »Und zwar, wenn ich sechzehn werde.«
Annabeth drehte die Yankees-Mütze in ihren Händen. »Percy, ich kenne nicht die ganze Weissagung, aber es geht um ein Halbblutkind der Großen Drei – das nächste, das dieses Alter erreicht. Das ist der wahre Grund, aus dem Zeus, Poseidon und Hades nach dem Zweiten Weltkrieg geschworen haben, keine Kinder mehr zu zeugen. Das nächste Kind der Großen Drei, das sechzehn Jahre alt wird, wird eine gefährliche Waffe sein.«
»Wie das?«
»Weil es das Schicksal des Olymps entscheiden wird. Er – oder sie, wenn es eine Heldin ist – wird eine Entscheidung treffen, die entweder das Zeitalter der Götter rettet … oder es zerstört.«
Ich ließ diese Mitteilung erst einmal sacken. Ich werde sonst nicht seekrank, aber plötzlich war mir doch schlecht. »Deshalb hat Kronos mich vorigen Sommer nicht umgebracht.«
Sie nickte. »Du könntest noch sehr nützlich für ihn werden. Wenn er dich auf seine Seite bringen kann, dann kriegen die Gottheiten ernsthaft Ärger.«
»Aber wenn sich die Weissagung auf mich bezieht …«
»Das können wir nur erfahren, wenn du noch drei Jahre überlebst. Das kann für ein Halbblut eine sehr lange Zeit sein. Als Chiron damals von Thalia gehört hat, hat er angenommen, dass sie mit der Weissagung gemeint war. Deshalb wollte er sie unbedingt im Camp in Sicherheit bringen. Dann ist sie im Kampf gefallen und wurde in eine Fichte verwandelt und wir wussten alle nicht, was wir davon halten sollten … bis du gekommen bist.«
Auf unserer Backbordseite tauchte eine dornige grüne Rückenflosse von etwa drei Metern Länge aus dem Wasser auf und verschwand wieder. Ich registrierte das nur am Rande. Ich hatte dringlichere Probleme.
»Dieses Halbblut in der Weissagung … das kann nicht vielleicht ein Zyklop sein?«, fragte ich. »Die drei Großen haben doch jede Menge Monsterkinder.«
Annabeth schüttelte den Kopf. »Das Orakel hat Halbblut gesagt. Das bedeutet immer halb Mensch, halb Gott. Und es ist einfach niemand am Leben, der es sein könnte … außer dir.«
»Aber warum lassen die Götter mich dann überhaupt am Leben? Es wäre doch sicherer, mich umzubringen.«
»Da hast du Recht.«
»Danke sehr.«
»Percy, ich weiß es nicht. Ich nehme an, einige Gottheiten würden dich gern töten, aber sie haben vermutlich Angst vor Poseidon. Andere Götter … vielleicht beobachten sie dich noch und versuchen herauszufinden, was für eine Art Held du sein wirst. Du könntest ja auch eine Waffe für ihr Überleben sein. Die wirkliche Frage ist … was wirst du in drei Jahren tun? Welche Entscheidung wirst du treffen?«
»Hat die Weissagung irgendwelche Andeutungen gemacht?«
Annabeth zögerte.
Vielleicht hätte sie mir mehr erzählt, aber gerade in diesem Moment ließ eine Möwe sich aus dem Nirgendwo fallen und landete auf unserem improvisierten Mast. Annabeth machte ein verdutztes Gesicht, als die Möwe ihr ein kleines Blätterbündel in den Schoß fallen ließ.
»Land«, sagte sie. »In der Nähe ist Land.«
Ich setzte mich auf. Und wirklich, in der Ferne sah ich eine blaue und braune Linie. Eine Minute später konnte ich eine Insel mit einem kleinen Berg in der Mitte erkennen, dazu blendend weiße Häuser, einen Strand voller Palmen und einen Hafen, in dem eine seltsame Ansammlung von Booten vor Anker lag.
Die Strömung zog unser Ruderboot zu dieser Insel, die mir wie ein tropisches Paradies vorkam.
»Willkommen«, sagte die Frau mit dem Klemmbrett.
Sie sah aus wie eine Stewardess – blaues Kostüm, perfektes Make-up, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare. Sie schüttelte uns die Hände, als wir auf die Hafenmauer stiegen, und lächelte uns dermaßen strahlend an, als hätten wir soeben die Prinzessin Andromeda verlassen und kein ramponiertes Ruderboot.
Allerdings war unser Ruderboot wirklich nicht das sonderbarste Fahrzeug hier im Hafen. Neben etlichen Vergnügungsyachten lag dort ein U-Boot der U.S. Navy, dazu einige Einbäume und ein altmodischer Dreimastsegler. Es gab einen kleinen Flugzeugträger, auf dem ein Channel-Five-Fort-Lauderdale-Hubschrauber stand, und dazu eine kurze Startbahn mit einem Kampfjet und einer Propellermaschine, die aussah wie ein Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht waren das Nachbildungen, die Touristen besichtigen konnten, oder so etwas.
»Seid ihr zum ersten Mal bei uns?«, fragte die Frau mit dem Klemmbrett.
Annabeth und ich wechselten einen Blick. Annabeth sagte: »Äh …«
»Erstes-Mal-Wellness«, notierte die Frau. »Mal sehen …«
Sie musterte uns kritisch von Kopf bis Fuß. »Hm. Als Erstes eine Kräuterpackung für die junge Dame. Und natürlich eine Generalüberholung für den jungen Herrn.«
»Eine was?«, fragte ich.
Sie war zu sehr mit ihren Notizen beschäftigt, um zu antworten.
»So«, sagte sie mit strahlendem Lächeln. »Na, ich bin sicher, C.C. wird noch vor dem hawaiischen Grillfest persönlich mit euch sprechen wollen. Also kommt bitte mit.«
Das muss ich jetzt erklären. Annabeth und ich waren an Fallen gewöhnt und meistens sahen diese Fallen auf den ersten Blick verlockend aus. Also erwartete ich, dass die Klemmbrettfrau sich jeden Moment in eine Schlange oder einen Dämon oder so etwas verwandeln würde. Aber andererseits waren wir fast den ganzen Tag mit einem Ruderboot unterwegs gewesen. Ich war müde, verschwitzt und hungrig, und als diese Frau das Grillfest erwähnte, machte mein Magen Männchen und bettelte wie ein Hund.
»Schaden kann es ja nicht«, murmelte Annabeth.
Natürlich konnte es schaden, aber wir gingen trotzdem hinter der Frau her. Ich behielt die Hände in den Taschen, wo ich meine einzigen magischen Waffen untergebracht hatte – Hermes’ Vitaminbonbons und Springflut –, aber je tiefer wir in den Kurort hineingingen, umso schneller vergaß ich sie.
Es war wirklich überwältigend. Weißer Marmor und blaues Wasser, wohin ich auch sah. Terrassen zogen sich am Hang hoch, mit Swimming-Pools auf jeder Ebene, verbunden durch Wasserrutschen und Wasserfälle und Unterwasserröhren, durch die man schwimmen konnte. Springbrunnen ließen Wasser in die Luft aufstieben und das Wasser bildete unglaubliche Figuren, zum Beispiel fliegende Adler und galoppierende Pferde.
Tyson liebte Pferde. Ich wusste, dass er von diesen Springbrunnen begeistert sein würde. Ich hätte mich fast umgedreht, um sein Gesicht zu sehen, aber dann fiel mir ein: Tyson war nicht mehr da.
»Alles in Ordnung mit dir?« Annabeth blickte mich an. »Du siehst blass aus.«
»Schon gut«, log ich. »Nur … ach, gehen wir weiter.«
Wir kamen an allen möglichen zahmen Tieren vorbei. Eine Wasserschildkröte zupfte an einem Stapel von Badetüchern. Ein Leopard streckte sich im Schlaf auf einem Sprungbrett. Die Badegäste – offenbar nur junge Frauen – räkelten sich in Liegestühlen, tranken Frucht-Smoothies oder lasen Zeitschriften, während Kräutermatsche auf ihren Gesichtern trocknete und Handpflegerinnen in weißen Uniformen sich ihren Nägeln widmeten.
Als wir eine Treppe zu einem Haus hochstiegen, das ich für das Hauptgebäude hielt, hörte ich eine Frau singen. Ihr Gesang schwebte wie ein Schlaflied durch die Luft. Sie sang nicht auf Altgriechisch, aber es war eine ebenso alte Sprache, Minoisch vielleicht oder etwas Ähnliches. Ich konnte verstehen, wovon das Lied handelte – von Mondschein in Olivenhainen, von den Farben des Sonnenaufgangs. Und von Magie. Es hatte mit Magie zu tun. Ihre Stimme schien mich von der Treppe abheben zu lassen und zu ihr zu tragen.
Wir betraten einen großen Raum, dessen eine Wand nur aus Fenstern bestand. Spiegel bildeten die Rückwand, deshalb schien der Raum einfach kein Ende zu nehmen. Es gab jede Menge teuer aussehender weißer Möbel und auf einem Tisch in der Ecke stand ein großer Drahtkäfig. Der Käfig wirkte hier fehl am Platze, aber ich dachte nicht weiter darüber nach, denn nun sah ich die Frau, die gesungen hatte, und … oha!
Sie saß an einem Webstuhl von der Größe eines Großbildfernsehers und ihre Hände führten mit erstaunlicher Geschicklichkeit bunte Fäden hin und her. Das Gewebe schimmerte und wirkte dreidimensional – eine Wasserfallszene, die so wirklich aussah, dass sich das Wasser bewegte und die Wolken über den Stoffhimmel zogen.
Annabeth hielt den Atem an. »Das ist wunderschön.«
Die Frau drehte sich um. Sie war noch schöner als ihr Gewebe. In ihre langen dunklen Haare waren Goldfäden geflochten. Sie hatte durchdringende grüne Augen und trug ein schwarzes Seidenkleid mit Mustern, die sich im Stoff zu bewegen schienen, Tierschatten, schwarz auf schwarz, wie Wild, das durch einen nächtlichen Wald huscht.
»Meine Weberei gefällt dir, meine Liebe?«, fragte die Frau.
»O ja, Ma’am«, sagte Annabeth. »Meine Mutter ist …«
Sie unterbrach sich. Sie durfte nicht einfach hinausposaunen, dass ihre Mom Athene war, die Göttin, die den Webstuhl erfunden hatte. Die meisten Leute hätten da nach der Zwangsjacke geschrien.
Unsere Gastgeberin lächelte. »Du hast einen guten Geschmack, meine Liebe. Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Ich heiße C.C.«
Die Tiere im Käfig fingen an zu quieken. So wie sie sich anhörten, handelte es sich offenbar um Meerschweinchen.
Wir stellten uns C.C. vor. Sie musterte mich mit leichtem Missfallen, als ob ich bei irgendeinem Test versagt hätte. Sofort fühlte ich mich sehr unwohl in meiner Haut. Aus irgendeinem Grund wollte ich dieser Frau gefallen.
»Ach du meine Güte«, seufzte sie. »Du brauchst wirklich meine Hilfe.«
»Ma’am?«, fragte ich.
C.C. rief der Frau mit dem Klemmbrett zu: »Hylla, bitte, führst du Annabeth herum? Zeig ihr, was wir anzubieten haben. Sie braucht andere Kleidung. Und die Haare, o Götter! Wir werden das alles in Ruhe durchsprechen, wenn ich mich mit diesem jungen Herrn unterhalten habe.«
»Aber …« Annabeth klang verletzt. »Was ist an meinen Haaren auszusetzen?«
C.C. lächelte wohlwollend. »Meine Liebe, du bist reizend. Wirklich. Aber du bringst dich oder deine Talente einfach nicht richtig zur Geltung. So viele vergeudete Möglichkeiten!«
»Vergeudet?«
»Na ja, so wie du bist, bist du bestimmt nicht glücklich. Bei den Göttern, kein Mensch ist das. Aber mach dir keine Sorgen. Wir können hier in unserem Wellness-Center wirklich jede verbessern. Hylla wird dir zeigen, was ich meine. Du, meine Liebe, musst dein wahres Ich freisetzen.«
Annabeths Augen leuchteten jetzt sehnsüchtig. Ich hatte sie noch nie so sprachlos erlebt. »Aber … was ist mit Percy?«
»Ach, der«, sagte C.C. und musterte mich mit trauriger Miene. »Percy braucht eindeutig meine persönliche Betreuung. Bei ihm muss sehr viel mehr gemacht werden als bei dir.«
Wenn mir das unter normalen Umständen jemand erzählt hätte, wäre ich sauer geworden, aber jetzt, bei C.C., machte es mich traurig. Ich hatte das Gefühl, sie enttäuscht zu haben, und musste herausfinden, wie ich mich bessern könnte.
Die Meerschweinchen quiekten, als ob sie schrecklichen Hunger hätten.
»Na ja«, sagte Annabeth. »Ich glaube …«
»Hier lang, Liebes«, sagte Hylla. Und Annabeth ließ sich in die von Wasserfällen umkränzten Gärten des Kurortes führen.
C.C. nahm meinen Arm und führte mich zu der Spiegelwand. »Verstehst du, Percy … um deine Möglichkeiten freizusetzen, brauchst du effektive Hilfe. Der erste Schritt besteht darin zuzugeben, dass du so, wie du bist, nicht glücklich bist.«
Ich zappelte vor dem Spiegel hin und her. Ich fand es schrecklich, über mein Aussehen nachdenken zu müssen – wie über den ersten Pickel, der zu Anfang des Schuljahrs auf meiner Nase aufgetaucht war, oder die Tatsache, dass meine beiden Vorderzähne nicht ganz gleichmäßig waren oder dass meine Haare einfach nie glatt liegen wollten.
C.C.s Stimme machte mir das alles klar, als ob sie mich unter ein Mikroskop gelegt hätte. Und meine Klamotten waren auch nicht gerade cool. Das wusste ich.
Na und?, dachte ein Teil von mir. Aber hier vor C.C.s Spiegel konnte ich an mir nur mit Mühe etwas Gutes sehen.
»Aber, aber«, sagte C.C. tröstend. »Wie wäre es mit … dem hier?«
Sie schnippte mit den Fingern und ein himmelblauer Vorhang senkte sich über den Spiegel. Er sah aus wie der Stoff auf ihrem Webstuhl.
»Was siehst du?«, fragte C.C.
Ich betrachtete den blauen Stoff, wusste aber nicht, was sie meinte. »Ich weiß nicht …«
Dann änderte der Stoff seine Farbe. Ich sah mich … ein Spiegelbild und doch kein Spiegelbild. Auf dem Stoff schimmerte eine coolere Version von Percy Jackson – mit genau der richtigen Kleidung und einem selbstsicheren Lächeln. Meine Zähne waren gerade. Keine Pickel. Eine perfekte Sonnenbräune. Sportlicher als sonst. Vielleicht ein paar Zentimeter größer. Ich sah mich ohne meine Schwächen.
»Boa«, brachte ich heraus.
»Willst du das?«, fragte C.C. »Oder soll ich ein anderes …«
»Nein«, sagte ich. »Das ist … das ist umwerfend. Können Sie wirklich …«
»Ich kann dir eine komplette Generalüberholung anbieten«, sagte C.C.
»Aber was ist der Haken an der Sache?«, fragte ich. »Muss ich zum Beispiel … eine besondere Diät halten?«
»Ach, das ist ganz einfach«, versprach C.C. »Jede Menge frisches Obst, Sport und natürlich … das hier.«
Sie ging an ihre Zimmerbar und füllte ein Glas mit Wasser. Dann riss sie eine Packung auf und gab rotes Pulver hinein. Die Mischung fing an zu glühen. Als das Glühen sich gelegt hatte, sah es aus wie ein Erdbeershake.
»Dies hier als Ersatz für eine normale Mahlzeit«, sagte C.C. »Ich verspreche dir, du wirst sofort ein Ergebnis sehen.«
»Wie kann das sein?«
Sie lachte. »Warum Fragen stellen? Ich meine, willst du nicht gleich dein perfektes Ich sehen?«
Irgendetwas nagte in meinem Hinterkopf. »Warum … warum sind hier keine Männer?«
»Natürlich sind hier Männer«, versicherte C.C. »Du wirst sie sehr bald kennenlernen. Aber jetzt trink einfach. Du wirst schon sehen.«
Ich schaute den blauen Vorhang an – mein Spiegelbild, das nicht mich zeigte.
»Also, Percy«, sagte C.C. auffordernd. »Der schwierigste Teil bei der Generalüberholung ist es, die Kontrolle abzugeben. Du musst dich entscheiden: Willst du deinem Urteil folgen, wie du sein solltest, oder meinem?«
Meine Kehle war wie ausgedörrt. Ich hörte mich sagen: »Ihrem.«
C.C. lächelte und reichte mir das Glas. Ich hob es an die Lippen.
Es schmeckte so, wie es aussah – wie ein Erdbeershake. Fast sofort wurde mir innerlich ganz warm: zuerst angenehm, dann wurde es heiß und tat weh, als ob die Mixtur in meinem Magen zu kochen anfing.
Ich krümmte mich und ließ das Glas fallen. »Was haben Sie … was ist hier los?«
»Keine Sorge, Percy«, sagte C.C. »Die Schmerzen hören bald auf. Sieh nur! Wie ich versprochen habe: augenblickliche Ergebnisse!«
Irgendetwas war hier ganz entsetzlich falsch.
Der Vorhang verschwand und im Spiegel sah ich, wie meine Hände schrumplig wurden, sich krümmten, lange schmale Krallen entwickelten. Fell wuchs in meinem Gesicht, unter meinem Hemd, an jeder Stelle, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Meine Zähne kamen mir in meinem Mund zu schwer vor. Meine Kleider wurden zu weit oder C.C. wurde zu groß – nein, ich schrumpfte.
Einen entsetzlichen Moment lang versank ich in einer Höhle aus dunklem Stoff. Ich war in meinem eigenen Hemd begraben. Ich versuchte wegzulaufen, aber Hände packten mich – Hände, die so groß waren wie ich. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber aus meinem Mund kam nur ein Uiiiie, uiiiie, uiiiie!
Die riesigen Hände packten mich um die Mitte und hoben mich in die Luft. Ich zappelte und strampelte mit Beinen und Armen, die mir viel zu kurz vorkamen, und dann starrte ich voller Entsetzen in das riesengroße Gesicht von C.C.
»Perfekt«, dröhnte ihre Stimme. Ich zappelte ängstlich, aber sie schloss nur ihren Griff fester um meinen pelzigen Bauch. »Siehst du, Percy? Du hast dein wahres Ich freigesetzt!«
Sie hielt mich vor den Spiegel und der Anblick, der sich mir bot, ließ mich in wilder Panik »uiiiie, uiiiie, uiiie« schreien.
Ich sah die schöne, lächelnde C.C., die ein flauschiges Wesen mit Überbiss, winzigen Krallen und orange-weißem Fell hochhielt. Wenn ich zappelte, dann zappelte auch das bepelzte Etwas im Spiegel.
Ich war … ich war …
»Ein Meerschweinchen«, sagte C.C. »Niedlich, was? Männer sind Schweine, Percy Jackson. Früher habe ich sie in echte Schweine verwandelt, aber die haben gestunken und waren so groß und schwierig zu halten. Eigentlich nicht viel anders als vor der Verwandlung. Meerschweinchen sind da doch viel angenehmer. Und jetzt komm, ich stelle dir die anderen Männer vor.«
»Uiiiie!«, protestierte ich und versuchte sie zu kratzen, aber C.C. drückte mich so fest, dass ich fast das Bewusstsein verloren hätte.
»Komm mir ja nicht so, Kleiner«, schimpfte sie. »Sonst verfüttere ich dich an die Eulen. Geh jetzt in den Käfig wie ein braves kleines Tier. Wenn du dich gut benimmst, passiert dir nichts. Es gibt immer genug Kinder, die sich ein neues Meerschweinchen wünschen.«
Meine Gedanken rasten so schnell wie mein winziges Herz. Ich musste zurück zu meinen Kleidern, die auf einem Haufen auf dem Boden lagen. Wenn mir das gelänge, dann könnte ich Springflut aus meiner Tasche ziehen und … und was? Ich würde ja nicht einmal den Verschluss vom Kugelschreiber drehen können. Und selbst wenn, würde ich das Schwert nicht halten können.
Ich zappelte hilflos, als C.C. mich zum Käfig trug und die Drahttür öffnete.
»Willkommen bei meinen Problemfällen, Percy«, sagte sie warnend. »Die werden niemals gute Schmusetiere, aber vielleicht können sie dir ein bisschen Manieren beibringen. Die meisten sitzen seit dreihundert Jahren in diesem Käfig. Wenn du nicht auf Dauer bei ihnen bleiben willst, dann schlage ich vor …«
Annabeths Stimme erklang: »Entschuldigung, C.C. …?«
C.C. fluchte auf Altgriechisch. Sie ließ mich in den Käfig fallen und schloss die Tür. Ich quiekte und kratzte an den Gitterstäben, aber das half nichts. Ich sah, wie C.C. in aller Eile meine Kleidung mit einem Fußtritt unter den Webstuhl beförderte, als Annabeth hereinkam.
Ich hätte sie fast nicht erkannt. Sie trug ein ärmelloses Seidenkleid, wie C.C., nur in Weiß. Ihre blonden Haare waren frisch gewaschen und gekämmt und mit Goldfäden durchflochten. Und das Schlimmste war, sie war geschminkt, und ich hatte gedacht, dass Annabeth lieber sterben würde, als sich anzumalen. Aber sie sah gut aus. Wirklich gut. Vermutlich hätte ich kein Wort herausgebracht, wenn ich mehr hätte sagen können als »uiiie, uiiie, uiiiie«. Aber etwas stimmte an der Sache einfach nicht. Es war nicht Annabeth.
Sie schaute sich im Raum um und runzelte die Stirn. »Wo ist Percy?«
Ich quiekte wie besessen los, aber sie schien mich nicht zu hören.
C.C. lächelte. »Der ist gerade in Behandlung, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen. Du siehst wunderbar aus. Und wie hat dir die Besichtigungsrunde gefallen?«
Annabeths Augen leuchteten auf. »Ihre Bibliothek ist umwerfend.«
»Ja, das ist sie«, sagte C.C. »Das Wissen der vergangenen drei Jahrtausende. Was immer du studieren möchtest, was immer du werden möchtest, meine Liebe.«
»Architektin?«
»Pah«, sagte C.C. »Du, meine Liebe, hast das Zeug zur Zauberin.«
Annabeth trat einen Schritt zurück. »Zur … Zauberin?«
»Ja, meine Liebe.« C.C. hob die Hand. Eine Flamme erschien in ihrer Handfläche und tanzte über ihre Fingerspitzen. »Meine Mutter ist Hekate, die Göttin der Magie. Ich erkenne eine Tochter der Athene auf den ersten Blick. Wir sind nicht so verschieden, du und ich. Wir beide suchen Wissen. Wir beide bewundern Größe. Keine von uns braucht im Schatten von Männern zu stehen.«
»Ich … das verstehe ich nicht.«
Ich quiekte aus Leibeskräften, um Annabeths Aufmerksamkeit zu erregen, aber entweder konnte sie mich nicht hören oder hielt das Geräusch nicht für wichtig. Die anderen Meerschweinchen kamen inzwischen aus ihrem Häuschen, um mich in Augenschein zu nehmen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Meerschweinchen brutal aussehen können, aber diese hier taten es. Es war ein halbes Dutzend, mit verdrecktem Fell und abgebrochenen Zähnen und roten Knopfaugen. Sie waren mit Abfällen bedeckt und stanken, als ob sie tatsächlich seit dreihundert Jahren hier wären und als ob der Käfig in dieser ganzen Zeit nie gereinigt worden wäre.
»Bleib bei mir«, sagte C.C. gerade zu Annabeth. »Studiere bei mir. Du kannst hier arbeiten, du kannst Zauberin werden und lernen, anderen deinen Willen aufzuzwingen. Du kannst unsterblich werden!«
»Aber …«
»Du bist intelligent, meine Liebe«, sagte C.C. »Du bist doch nicht so dumm, von diesem blödsinnigen Camp für Heroen etwas zu erwarten. Wie viele große Halbblutheldinnen kannst du aufzählen?«
»Äh, Atalanta, Amelia Earhart …«
»Bah! Männer reißen die ganze Ehre an sich.« C.C. ballte die Faust und löschte damit die magische Flamme. »Der einzige Weg zur Macht führt für Frauen über Zauberei. Medea, Calypso – da hast du mächtige Frauen! Und mich natürlich. Die Größte von allen!«
»Sie … C.C. … Circe!«
»Ja, meine Liebe.«
Annabeth wich zurück und Circe lachte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich tu dir nichts.«
»Was haben Sie mit Percy gemacht?«
»Ich habe ihm nur geholfen, seine wahre Gestalt anzunehmen.«
Annabeth ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Endlich sah sie den Käfig, wo ich an den Gitterstäben kratzte und alle anderen Meerschweinchen sich um mich zusammendrängten. Sie machte große Augen.
»Vergiss ihn«, sagte Circe. »Komm zu mir und erlerne meine Zauberkünste.«
»Aber …«
»Für deinen Freund wird gut gesorgt. Wir bringen ihn zu einem wunderschönen neuen Zuhause auf dem Festland. Die Kleinen im Kindergarten werden ihn lieben. Während du weise und mächtig wirst. Du wirst alles bekommen, was du dir je gewünscht hast.«
Annabeth starrte mich immer noch an, aber ihr Gesicht wirkte jetzt verträumt. Sie sah aus wie ich, als Circe mich dazu gebracht hatte, den Meerschweinchenshake zu trinken. Ich quiekte und zappelte, um sie zu warnen und aus dieser Trance zu reißen, aber ich war einfach hilflos.
»Ich muss mir das überlegen«, murmelte Annabeth. »Geben Sie mir … nur eine Minute. Zum Abschiednehmen.«
»Natürlich, meine Liebe«, säuselte Circe. »Eine Minute. Oh … und natürlich ganz ungestört.«
Sie machte eine knappe Handbewegung und Eisenstangen schoben sich klirrend vor die Fenster. Sie fegte aus dem Zimmer und ich hörte, wie hinter ihr die Türschlösser verriegelt wurden.
Annabeths Gesicht verlor den verträumten Ausdruck.
Sie stürzte zum Käfig herüber. »Also, welcher bist du?«
Ich quiekte, aber das taten auch alle anderen Meerschweinchen. Annabeth sah verzweifelt aus. Sie schaute sich im Zimmer um und entdeckte unter dem Webstuhl das Ende eines Hosenbeins.
Ja!
Sie rannte hinüber und wühlte in meinen Taschen.
Aber statt Springflut zu ziehen, suchte sie die Flasche mit Hermes’ Vitaminbonbons hervor und mühte sich mit dem Verschluss ab.
Ich hätte sie anschreien mögen. Jetzt war nicht der richtige Moment für Vitaminpräparate! Sie sollte das Schwert ziehen!
Sie schob sich gerade ein Zitronenbonbon in den Mund, als die Tür aufgerissen wurde und Circe mit zwei ihrer stewardessähnlichen Assistentinnen hereinkam.
»Tja«, sagte Circe. »Eine Minute geht ja so schnell vorbei. Und was ist deine Antwort, meine Liebe?«
»Das hier«, sagte Annabeth und zog ihr Bronzemesser.
Die Zauberin wich zurück, aber ihre Überraschung war sofort verflogen.
Sie fauchte: »Wirklich, Kleine, ein Messer gegen meine Magie? Hältst du das für weise?«
Circe schaute sich zu ihren Assistentinnen um und die lächelten. Dann hoben sie die Hände, wie um einen Zauber vorzubereiten.
Lauf, wollte ich Annabeth zurufen, aber ich konnte nur Nagetiergeräusche ausstoßen. Die anderen Meerschweinchen quiekten vor Angst und rannten im Käfig hin und her. Ich wäre auch am liebsten in Panik geraten und hätte mich versteckt, aber ich musste mir etwas ausdenken! Ich durfte nicht auch noch Annabeth verlieren, so wie ich Tyson verloren hatte.
»Wie wird Annabeths neue Gestalt wohl aussehen?«, überlegte Circe. »Klein und übellaunig. Jetzt weiß ich … eine Spitzmaus.«
Blaues Feuer loderte von ihren Fingern und den Fingern ihrer Assistentinnen auf und wickelte sich wie Luftschlangen um Annabeth.
Ich sah voller Entsetzen zu, aber nichts passierte. Annabeth war noch immer Annabeth, nur zorniger.
Sie sprang vor und hielt Circe die Messerspitze an den Hals. »Wie wäre es, mich stattdessen in ein Pantherweibchen zu verwandeln? In eins, das dir seine Krallen in die Kehle schlägt?«
»Wie?«, würgte Circe mit Mühe hervor.
Annabeth hielt die Vitaminflasche so hoch, dass die Zauberin sie sehen konnte.
Circe heulte vor Wut. »Fluch über Hermes und seine Vitamine! Die sind der pure Betrug! Sie helfen überhaupt nicht!«
»Mach aus Percy wieder einen Menschen, oder –«, sagte Annabeth.
»Ich kann nicht.«
»Dann beklag dich hinterher nicht.«
Circes Assistentinnen sprangen vor, aber ihre Herrin sagte: »Zurück! Sie ist immun gegen Magie, bis dieses verdammte Vitamin seine Wirkung verliert.«
Annabeth zerrte Circe zum Meerschweinchenkäfig, riss den Deckel herunter und kippte die restlichen Vitaminbonbons hinein.
»Nein!«, kreischte Circe.
Ich bekam als Erster ein Vitamin, aber alle anderen Meerschweinchen drängten sich sofort zusammen, um ebenfalls dieses neue Nahrungsmittel zu testen.
Schon nach dem ersten Knabbern fühlte ich in mir ein Feuer. Ich nagte an dem Bonbon, bis es nicht mehr so groß aussah und der Käfig kleiner wurde, und dann, plötzlich, peng, barst der Käfig. Ich saß auf dem Boden und war wieder ein Mensch – und aus irgendwelchen Gründen trug ich auch wieder meine Kleider, den Göttern sei Dank –, zusammen mit sechs anderen Typen, die allesamt verwirrt aussahen, blinzelten und sich Holzwolle aus den Haaren klaubten.
»Nein!«, schrie Circe. »Du hast doch keine Ahnung. Das sind die Schlimmsten!«
Einer der Männer stand auf – ein riesiger Typ mit langem, verfilztem pechschwarzem Bart und Zähnen von derselben Farbe. Er trug Kleider aus Wolle und Leder, dazu kniehohe Stiefel und einen weichen Filzhut. Die anderen Männer waren schlichter gekleidet, in Kniehosen und verdreckten weißen Hemden. Alle waren barfuß.
»Arrrgh!«, brüllte der große Typ. »Was hat die Hex’ mir angetan!«
»Nein!«, stöhnte Circe.
Annabeth keuchte. »Jetzt erkenne ich Sie! Edward Teach, Sohn des Ares?«
»Sehr wohl, Jungfer«, knurrte der Mann. »Auch wenn ich gemeinhin Schwarzbart geheißen werde. Und da ist die Hex’, die uns gefangen hat, Männer. Stecht sie nieder, und dann werde ich mir eine große Schüssel Sellerie suchen. Arrgggh!«
Circe schrie auf. Sie und ihre Assistentinnen rannten hinaus, die Piraten hinterher.
Annabeth steckte ihr Messer in die Scheide und sah mich wütend an.
»Danke«, stammelte ich. »Tut mir wirklich leid …«
Ehe ich mir überlegt hatte, wie man sich für eine derartige Eselei entschuldigt, umarmte sie mich kurz und schob mich dann ebenso plötzlich wieder von sich. »Ich bin froh, dass du kein Meerschweinchen mehr bist.«
»Ich auch.« Ich hoffte, dass mein Gesicht nicht so rot war, wie es sich anfühlte.
Sie löste ihre goldenen Zöpfe.
»Na los, Algenhirn«, sagte sie. »Wir müssen weg hier, solange Circe noch abgelenkt ist.«
Wir rannten über die Terrassen den Hang hinunter, vorbei an kreischenden Angestellten und den Piraten, die den Ort plünderten. Schwarzbarts Männer rissen die Fackeln am Grillplatz herunter, warfen Kräuterpackungen in den Pool und stießen Tische mit Saunahandtüchern um.
Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil wir diese brutalen Piraten freigelassen hatten, aber ich fand doch, dass sie sich nach dreihundert Jahren im Käfig eine andere Unterhaltung verdient hatten als das Laufrad.
»Welches Schiff?«, fragte Annabeth, als wir uns dem Hafen näherten.
Ich schaute mich verzweifelt um. Wir konnten ja kaum unser Ruderboot nehmen. Wir mussten die Insel ganz schnell verlassen, aber womit? Mit einem U-Boot? Einem Kampfjet? Ich hätte beides nicht lenken können. Und dann sah ich es.
»Das«, sagte ich.
Annabeth kniff die Augen zusammen. »Aber …«
»Damit kann ich umgehen.«
»Wie denn?«
Das konnte ich nicht erklären. Ich wusste einfach, dass ich auf ein altes Segelboot setzen musste. Ich nahm Annabeths Hand und zog sie zu dem Dreimaster. Am Bug war ein Name aufgemalt, den ich erst später entziffern sollte: Königin Annes Rache.
»Arrgh!«, schrie irgendwo hinter uns Schwarzbart. »Diese Lumpen entern meinen Kahn. Auf sie, Jungs!«
»Das schaffen wir doch nie im Leben«, schrie Annabeth, als wir an Bord kletterten.
Ich schaute mich in dem hoffnungslosen Labyrinth aus Segeln und Trossen um. Das Schiff war für seine dreihundert Jahre in sehr gutem Zustand, aber trotzdem würde eine fünfzigköpfige Mannschaft viele Stunden brauchen, um es abfahrbereit zu machen. Und uns blieben keine Stunden. Ich konnte hören, wie die Piraten die Treppen herunterstürzten. Dabei schwenkten sie Fackeln und Selleriestangen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen, auf die Meeresströmungen, auf die Winde, die mich umwehten. Und plötzlich tauchte in meinem Kopf das richtige Wort auf.
»Kreuzmast«, rief ich.
Annabeth schien mich für verrückt zu halten, aber gleich darauf war die Luft erfüllt mit dem Pfeifen von Trossen, die angespannt wurden, von sich öffnenden Segeltuchflächen, vom Ächzen der Mastbäume.
Annabeth zog den Kopf ein, als ein Seil über ihren Kopf flog und sich um das Bugspriet wickelte. »Percy, wie …«
Ich wusste die Antwort nicht, aber ich spürte, wie das Schiff auf meine Befehle reagierte, als wäre es ein Teil meines Körpers. Ich befahl den Segeln, sich selbst zu hissen, und das war so leicht, wie einen Arm zu bewegen. Ich befahl dem Steuerruder, sich zu drehen.
Königin Annes Rache legte ab, und als die Piraten das Hafenbecken erreicht hatten, waren wir schon unterwegs zu unserem Segeltörn auf dem Meer der Ungeheuer.
Annabeth will nach Hause schwimmen
Endlich hatte ich etwas gefunden, das ich gut konnte.
Die Königin Annes Rache reagierte auf jeden meiner Befehle. Ich wusste, welche Seile ich straffen musste, welche Segel zu hissen waren, in welche Richtung ich zu steuern hatte. Wir durchpflügten die Wellen mit einer Geschwindigkeit, die ich auf zehn Knoten schätzte. Ich wusste sogar, wie schnell das war. Für einen Segler war es ganz schön schnell.
Alles kam mir perfekt vor – der Wind in meinem Gesicht, die Wellen, die sich über dem Bug brachen.
Aber jetzt, wo wir der Gefahr entronnen waren, konnte ich nur daran denken, wie sehr mir Tyson fehlte und welche Angst ich um Grover hatte.
Ich kam nicht darüber hinweg, wie blödsinnig ich mich auf Circes Insel aufgeführt hatte. Ohne Annabeth wäre ich noch immer ein Nagetier, das sich mit einem Haufen niedlicher bepelzter Piraten in einem Häuschen versteckt. Ich dachte daran, was Circe gesagt hatte: Siehst du, Percy? Du hast dein wahres Ich freigesetzt!
Ich kam mir verändert vor. Nicht nur, weil ich plötzlich großen Appetit auf grünen Salat hatte. Ich war nervös … als sei mir der Instinkt eines ängstlichen kleinen Tieres in Fleisch und Blut übergegangen. Oder hatte ich den vielleicht schon immer gehabt? Das machte mir nun wirklich Sorgen.
Wir segelten durch die Nacht.
Annabeth versuchte, mir beim Ausschauhalten zu helfen, aber ihr bekam das Segeln nicht. Nach einigen Stunden Geschaukel nahm ihr Gesicht die Farbe von Avocadocreme an und sie ging unter Deck, um sich in eine Hängematte zu legen.
Ich behielt den Horizont im Auge. Mehr als einmal entdeckte ich Monster. Eine wolkenkratzerhohe Wassersäule wurde ins Mondlicht gespien. Eine Reihe von grünen Rückenflossen huschte durch die Wellen – ein Reptil von an die dreißig Meter Länge. Ich wollte eigentlich gar nicht wissen, was das war.
Einmal sah ich Nereiden, die leuchtenden Geisterdamen des Meeres. Ich versuchte ihnen zuzuwinken, aber sie verschwanden in der Tiefe und ich wusste nicht, ob sie mich gesehen hatten oder nicht.
Irgendwann gegen Mitternacht kam Annabeth wieder an Deck. Wir passierten gerade eine Insel mit einem rauchenden Vulkan. Am Ufer siedete und dampfte das Wasser.
»Eine der Schmieden des Hephaistos«, sagte Annabeth. »Da stellt er seine Metallungeheuer her.«
»Wie die Bronzestiere?«
Sie nickte. »Mach einen Bogen um die Insel. Einen großen Bogen.«
Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen. Wir umsegelten die Insel und bald war sie nur noch eine rote Nebelfläche hinter uns.
Ich sah Annabeth an. »Der Grund, aus dem du Zyklopen so sehr hasst … und die Geschichte, wie Thalia wirklich gestorben ist. Was ist passiert?«
Es war schwer, in der Dunkelheit ihren Gesichtsausdruck zu erkennen.
»Ich nehme an, du hast das Recht, es zu erfahren …«, sagte sie endlich. »In der Nacht, in der Grover uns zum Camp bringen sollte, kam er durcheinander, er schlug den falschen Weg ein. Du weißt doch noch, dass er das einmal erzählt hat?«
Ich nickte.
»Also, sein schlimmster Irrtum war, dass er uns in einen Zyklopenbau in Brooklyn geführt hat.«
»In Brooklyn gibt es Zyklopen?«
»Du hast ja keine Ahnung, wie viele, aber darum geht es nicht. Dieser Zyklop … er hat uns ausgetrickst. Er hat es geschafft, uns in einem Labyrinth von Gängen in einem alten Haus in Flatbush voneinander zu trennen. Er konnte jede Stimme nachmachen, Percy … genau wie Tyson auf der Prinzessin Andromeda. Er hat uns an der Nase herumgeführt, alle nacheinander. Thalia glaubte, Luke zu retten. Luke glaubte, mich um Hilfe schreien gehört zu haben. Und ich … ich war allein in der Dunkelheit. Ich war sieben Jahre alt. Ich konnte einfach keinen Ausgang finden.«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß noch, wie ich in sein Wohnzimmer kam. Es lagen überall Knochen auf dem Boden. Und da waren Thalia und Luke und Grover … gefesselt und geknebelt, sie hingen unter der Decke wie Räucherschinken. Der Zyklop machte gerade mitten im Zimmer Feuer. Ich zog mein Messer, aber er hatte mich gehört. Er drehte sich um und lächelte. Er sprach … und aus irgendeinem Grund kannte er die Stimme meines Vaters. Ich nehme an, er hatte sie aus meinen Gedanken gefischt. Er sagte: Ach, Annabeth, mach dir keine Sorgen. Ich liebe dich. Du kannst hier bei mir bleiben. Du kannst immer bei mir bleiben.«
Ich zitterte. So, wie sie das erzählte – noch jetzt, sechs Jahre später – machte es mich mehr fertig als die gruseligste Gespenstergeschichte, die ich je gehört hatte. »Was hast du getan?«
»Ich hab ihm in den Fuß gestochen.«
Ich starrte sie an. »Machst du Witze? Du warst sieben Jahre alt und hast einem ausgewachsenen Zyklopen in den Fuß gestochen?«
»Klar, er hätte mich normalerweise umgebracht. Aber ich habe ihn überrascht. Und das hat mir gerade genug Zeit gegeben, um zu Thalia zu rennen und ihre Hände von den Fesseln zu befreien. Und den Rest hat sie dann gemacht.«
»Ja, aber trotzdem … das war ganz schön mutig von dir, Annabeth.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir wären fast nicht lebend davongekommen. Und ich hab noch immer Albträume, Percy … davon, wie der Zyklop mit der Stimme meines Vaters gesprochen hat. Es war seine Schuld, dass wir so lange gebraucht haben, um uns ins Camp durchzuschlagen. Alle Monster, die hinter uns her waren, hatten inzwischen genügend Zeit gehabt, uns einzuholen. Und das ist der wahre Grund, warum Thalia gestorben ist. Ohne diesen Zyklopen wäre sie heute noch am Leben.«
Wir saßen an Deck und sahen zu, wie das Sternbild Herkules am Himmel höher stieg.
»Geh nach unten«, sagte Annabeth endlich zu mir. »Du brauchst Ruhe.«
Ich nickte. Meine Augen waren schwer. Aber als ich mir unten eine Hängematte gesucht hatte, brauchte ich doch lange, bis ich einschlafen konnte. Ich musste immer wieder an Annabeths Geschichte denken. Ich fragte mich, ob ich an ihrer Stelle, nach allem, was sie durchgemacht hatte, den Mut aufgebracht hätte, mich auf diese Fahrt zu begleiten … und geradewegs in die Höhle eines anderen Zyklopen zu segeln.
Ich träumte nicht von Grover.
Stattdessen stand ich wieder in Lukes Suite auf der Prinzessin Andromeda. Die Vorhänge waren offen. Es war Nacht. In der Luft wirbelten Schatten umher. Überall in meiner Nähe flüsterten Stimmen – die Geister der Toten.
Hüte dich, flüsterten sie. Fallen. Tricks.
Kronos’ goldener Sarkophag glühte schwach – als einzige Lichtquelle im ganzen Raum.
Ein kaltes Lachen stürzte mich in Verwirrung. Es schien meilenweit unter dem Schiff hervorzukommen. Du hast nicht genug Mut, junger Mann. Du kannst mich nicht aufhalten.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich musste diesen Sarg öffnen.
Ich drehte die Kappe von Springflut. Geister umwirbelten mich wie ein Tornado. Hüte dich!
Mein Herz hämmerte. Ich konnte meine Füße nicht bewegen, aber ich musste Kronos aufhalten. Ich musste zerstören, was immer sich in diesem Sarg befand.
Da sagte dicht neben mir eine Mädchenstimme: »Also, Algenhirn?«
Ich drehte mich um und rechnete damit, Annabeth zu erblicken, aber es war nicht Annabeth. Dieses Mädchen war etwas älter als ich, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sie war gekleidet wie ein Punk und trug Silberketten um das Handgelenk. Sie hatte schwarze Stachelhaare, schwarze Tusche um ihre stürmischen grünen Augen und jede Menge Sommersprossen auf der Nase. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht recht, warum.
»Also?«, fragte sie. »Werden wir ihn aufhalten oder nicht?«
Ich konnte keine Antwort geben. Ich konnte mich nicht bewegen.
Das Mädchen verdrehte die Augen. »Schön. Dann überlass die Sache mir und Aigis.«
Sie tippte auf ihr Handgelenk und ihre Silberketten verwandelten sich – sie wurden flach und dehnten sich zu einem riesigen Schild aus. Er war aus Silber und Bronze und aus der Mitte ragte das entsetzliche Gesicht der Medusa hervor. Es sah aus wie eine Totenmaske, als sei der wahre Kopf der Gorgo in das Metall gepresst worden. Ich wusste nicht, ob das möglich war und ob der Schild mich wirklich zu Stein erstarren lassen würde, aber ich wandte mich ab. Allein durch seine Nähe wurde mir vor Angst eiskalt. Ich hatte das Gefühl, dass die Trägerin dieses Schildes in einem echten Kampf fast unbesiegbar sein würde. Jeder Feind, der noch bei Verstand war, würde auf dem Absatz kehrtmachen und fliehen.
Das Mädchen zog das Schwert und ging auf den Sarkophag zu. Die schattenhaften Geister wichen vor ihr auseinander, um der schrecklichen Aura ihres Schildes zu entkommen.
»Nein«, versuchte ich sie zu warnen.
Aber sie hörte nicht auf mich. Sie marschierte auf den Sarkophag zu und stieß den goldenen Deckel beiseite.
Einen Moment lang blieb sie dort stehen und starrte an, was immer sich darin befinden mochte.
Der Sarg fing an zu glühen.
»Nein.« Die Stimme des Mädchens zitterte. »Das kann nicht sein.«
Von den Tiefen des Ozeans herauf lachte Kronos, so laut, dass das ganze Schiff bebte.
»Nein!« Das Mädchen schrie, als der Sarkophag sie in eine Woge aus goldenem Licht hüllte.
»Ah!« Ich fuhr kerzengerade in meiner Hängematte hoch.
Annabeth schüttelte mich. »Percy, du hattest einen Albtraum. Du musst aufstehen.«
»W…was ist los?« Ich rieb mir die Augen. »Was ist passiert?«
»Land«, sagte sie düster. »Wir nähern uns der Insel der Sirenen.«
Ich konnte die Insel vor uns kaum erkennen, nur einen dunklen Fleck im Nebel.
»Bitte, tu mir einen Gefallen«, sagte Annabeth. »Die Sirenen … bald können wir ihren Gesang hören.«
Ich konnte mich an Geschichten über die Sirenen erinnern. Sie sangen so lieblich, dass ihre Stimmen Seeleute einlullten und in den Tod lockten.
»Kein Problem«, versicherte ich ihr. »Wir können uns doch einfach die Ohren verstopfen. Unter Deck liegt eine große Tube Kerzenwachs …«
»Ich möchte sie hören.«
Ich blinzelte. »Wieso?«
»Angeblich … angeblich singen die Sirenen die Wahrheit über das, was man sich wünscht. Sie sagen dir Dinge über dich, die nicht einmal dir selber klar waren. Das ist so zauberhaft an ihrem Gesang. Wenn du überlebst … wirst du klüger sein. Ich möchte sie hören. Wie oft werde ich wohl so eine Gelegenheit haben?«
Bei den meisten anderen Leuten hätte das keinen Sinn ergeben. Aber da Annabeth nun einmal so war, wie sie war – na ja, wenn sie sich durch altgriechische Bücher über Architektur kämpfen und Dokumentarfilme im History Channel genießen konnte, dann würden die Sirenen ihr wohl auch gefallen.
Sie teilte mir ihren Plan mit. Widerstrebend half ich ihr bei den Vorbereitungen.
Kaum waren die felsigen Umrisse der Insel zu sehen, befahl ich einem Seil, sich um Annabeths Taille zu legen und sie an den Fockmast zu fesseln.
»Bind mich nicht los«, sagte sie. »Egal, was passiert und wie sehr ich dich auch anflehe. Ich würde dann bestimmt über Bord springen und mich ertränken.«
»Willst du mich in Versuchung führen?«
»Ha, ha.«
Ich versprach, für ihre Sicherheit zu sorgen. Dann nahm ich mir zwei dicke Stücke Kerzenwachs, knetete daraus Ohrenstöpsel und verstopfte meine Ohren.
Annabeth nickte sarkastisch, als wollte sie mir mitteilen, die Stöpsel entsprächen der letzten Mode. Ich schnitt ihr eine Grimasse und wandte mich dem Steuerrad zu.
Die Stille war unheimlich. Ich konnte außer dem Rauschen des Blutes in meinem Kopf nichts hören. Als wir uns der Insel näherten, hoben sich gezackte Felsen aus dem Nebel. Ich befahl der Königin Annes Rache, im Bogen um sie herumzusegeln. Wenn wir noch näher kämen, würden die Felsen Kleinholz aus dem Schiffsrumpf machen.
Ich schaute mich um. Zuerst kam Annabeth mir ganz normal vor. Dann machte sie ein verwirrtes Gesicht. Ihre Augen weiteten sich.
Sie riss an ihren Fesseln. Sie rief meinen Namen … das konnte ich von ihren Lippen ablesen. Ihr Gesichtsausdruck sprach eine deutliche Sprache: Sie musste weg hier. Es war eine Frage von Leben und Tod. Ich musste sie sofort losbinden.
Sie sah so verzweifelt aus, dass es mir schwerfiel, ihr nicht zu gehorchen.
Ich zwang mich, in eine andere Richtung zu blicken. Ich befahl der Königin Annes Rache, schneller zu werden.
Ich konnte noch immer nicht viel von der Insel sehen – nur Nebel und Felsen –, aber im Wasser trieben Holz- und Glasfaserstücke, Reste von alten Schiffen und sogar Rettungskissen aus Flugzeugen.
Wie konnte Musik so viele Menschen aus der Bahn werfen? Ich meine, gut, es gab ein paar Hits, bei denen ich auch ausflippte, aber trotzdem … wovon mochten diese Sirenen denn bloß singen?
Einen gefährlichen Augenblick lang konnte ich Annabeths Neugier verstehen. Ich hatte Lust, mir die Wachspfropfen aus den Ohren zu ziehen, nur um einen Moment dem Gesang zuzuhören. Ich spürte, wie die Stimmen der Sirenen das Holz des Schiffes vibrieren ließen, wie sie mit dem Dröhnen des Blutes zusammen in meinen Ohren pulsierten.
Annabeth flehte mich an. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie zerrte an den Seilen, als ob die sie an allem hinderten, was ihr etwas bedeutete.
Wie kannst du so grausam sein, schien sie mich zu fragen. Und dabei habe ich dich für meinen Freund gehalten!
Ich starrte die dunstige Insel an. Ich hätte gern die Kappe von meinem Schwert gedreht, aber es gab ja nichts, wogegen ich kämpfen könnte. Wie kämpft man gegen ein Lied?
Ich gab mir alle Mühe, Annabeth nicht anzusehen. Ich schaffte es ungefähr fünf Minuten lang.
Das war mein großer Fehler.
Als ich es nicht mehr ertragen konnte, drehte ich mich um und sah … einen Haufen zerschnittener Seile. Einen leeren Mast. Annabeths Bronzemesser lag auf dem Deck. Irgendwie hatte sie es zu fassen bekommen. Ich hatte völlig vergessen, sie zu entwaffnen.
Ich stürzte an die Reling und sah sie wie besessen auf die Insel zuschwimmen. Die Wellen würden sie gleich auf die gezackten Felsen werfen.
Ich schrie ihren Namen, aber wenn sie mich gehört hatte, dann reagierte sie nicht. Sie war in Trance und schwamm dem sicheren Tod entgegen.
Ich drehte mich zum Steuerrad um und schrie: »Hiergeblieben!«
Dann sprang ich über Bord.
Ich tauchte unter und befahl den Strömungen, sich um mich zu legen und einen Strahl zu bilden, der mich vorwärtsschießen ließ.
Ich kam wieder an die Oberfläche und entdeckte Annabeth, doch eine Welle erfasste sie und warf sie zwischen zwei rasiermesserscharfe Felsnadeln.
Ich hatte keine andere Wahl. Ich schwamm hinterher.
Ich tauchte unter dem Wrack einer Yacht hindurch und bahnte mir einen Weg durch eine Sammlung von schwimmenden Metallkugeln an Ketten, von denen mir erst später aufging, dass es sich um Minen gehandelt hatte. Über Wasser musste ich alle meine Kraft aufwenden, um nicht gegen die Felsen geschleudert zu werden oder mich in den Netzen aus Stacheldraht zu verfangen, die dicht unter der Wasseroberfläche ausgelegt waren.
Ich schoss zwischen den zwei Felsnadeln hindurch und gelangte in eine halbmondförmige Bucht. Im Wasser wimmelte es nur so von Felsen und Wracks und Treibminen. Der Strand bestand aus schwarzem vulkanischem Sand.
Ich hielt verzweifelt Ausschau nach Annabeth.
Und da war sie.
Glücklicherweise oder unglücklicherweise war sie eine gute Schwimmerin. Sie war an Minen und Felsen vorbeigelangt und hatte den schwarzen Strand fast erreicht.
Dann verschwand der Nebel und ich sah sie – die Sirenen.
Stellt euch eine Schar von menschengroßen Geiern vor, mit schmutzigem grauem Gefieder, grauen Krallen und runzligen rosa Hälsen. Und dann stellt euch auf diesen Hälsen Menschenköpfe vor, aber Menschenköpfe, die sich dauernd verändern.
Ich konnte sie nicht hören, aber ich konnte sehen, dass sie sangen. Und während sich ihre Münder bewegten, sahen ihre Gesichter aus wie die von Leuten, die ich kannte – wie meine Mom, Poseidon, Grover, Tyson, Chiron. Alle die, nach denen ich mich besonders sehnte. Sie lächelten ermutigend, winkten mich zu sich, aber welche Form sie auch annahmen, immer waren ihre Münder fettig und verklebt mit den Überresten früherer Mahlzeiten. Wie Geier hatten sie ihr ganzes Gesicht in die Nahrung versenkt und sie sahen nicht so aus, als ob sie sich mit Monster-Donuts zufriedengegeben hätten.
Annabeth schwamm auf sie zu.
Ich wusste, dass ich sie nicht aus dem Wasser lassen durfte. Das Meer war mein einziger Vorteil. Es hatte mich immer auf irgendeine Weise beschützt. Ich warf mich vorwärts und packte ihren Knöchel.
Als ich sie berührte, jagte eine Schockwelle durch meinen Körper … und ich sah die Sirenen so, wie Annabeth sie offenbar sah.
Drei Personen saßen auf einer Picknickdecke im Central Park. Vor ihnen waren lauter Leckerbissen ausgebreitet. Ich erkannte Annabeths Dad von Fotos her, die sie mir gezeigt hatte – einen sportlich aussehenden Typen von Mitte vierzig mit sandfarbenen Haaren. Er hielt die Hand einer schönen Frau, die große Ähnlichkeit mit Annabeth hatte. Sie war lässig gekleidet, in Jeans, Jeanshemd und Wanderstiefeln, aber irgendwie strahlte diese Frau Macht aus. Ich wusste, dass ich die Göttin Athene sah. Neben den beiden saß ein junger Mann … Luke.
Die ganze Szene leuchtete in einem warmen, sonnengelben Licht. Die drei plauderten und lachten, und als sie Annabeth erblickten, strahlten sie vor Freude. Annabeths Eltern öffneten einladend ihre Arme. Luke grinste und winkte Annabeth zu sich – als ob er sie niemals verraten hätte, als ob er noch immer ihr Freund wäre.
Hinter den Bäumen des Central Parks zeichnete sich die Skyline der City ab. Ich hielt den Atem an, denn es war Manhattan, aber nicht mein Manhattan. Es war ganz und gar neu errichtet worden, aus blendend weißem Marmor, größer und großartiger denn je, mit goldenen Fenstern und Dachgärten. Es war schöner als New York. Schöner als der Olymp.
Ich wusste sofort, dass Annabeth das alles entworfen hatte. Sie war die Architektin einer ganzen neuen Welt. Sie hatte ihre Eltern wieder zusammengeführt. Sie hatte Luke gerettet. Sie hatte alles geschafft, was sie sich jemals gewünscht hatte.
Ich kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich nur noch die Sirenen – räudige Geier mit Menschengesichtern, bereit, ein weiteres Opfer zu zerhacken.
Ich zog Annabeth zurück in die Brandung. Ich konnte sie nicht hören, aber ich wusste, dass sie schrie. Sie trat mir ins Gesicht, aber ich hielt sie fest.
Ich befahl den Strömungen, uns in die Bucht hinauszutragen. Annabeth schlug und trat auf mich ein, was mir die Konzentration erschwerte. Sie haute dermaßen wütend zu, dass wir fast mit einer Treibmine kollidiert wären. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wenn sie so weiterzappelte, würden wir nie zurück aufs Schiff gelangen.
Wir gingen unter und Annabeth hörte auf, sich zu wehren. Wenn ich sie lange genug unter Wasser hielt, würde ich den Zauber der Musik brechen können. Annabeth könnte dann natürlich nicht atmen, aber für den Moment schien mir das nicht das Hauptproblem zu sein.
Ich packte ihre Handgelenke und befahl den Wellen, uns nach unten zu pressen.
Wir schossen hinunter – drei Meter, sechs Meter. Ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste, denn ich konnte größerem Druck standhalten als Annabeth. Sie kämpfte und rang um Atem, als um uns herum Blasen aufstiegen.
Blasen.
Ich war verzweifelt. Ich musste Annabeth am Leben erhalten. Ich stellte mir alle Blasen im Meer vor … die immer brodelten, immer aufstiegen. Ich stellte mir vor, dass sie sich zusammenschlossen und zu mir gezogen wurden.
Das Meer gehorchte. Ich sah einen weißen Wirbel, es war, als würde ich überall gekitzelt, und als ich wieder sehen konnte, waren Annabeth und ich von einer riesigen Luftblase umgeben. Nur unsere Beine hingen noch ins Wasser.
Sie keuchte und hustete. Sie zitterte am ganzen Leib, aber als sie mich ansah, wusste ich, dass der Bann gebrochen war.
Sie fing an zu schluchzen – ein schreckliches, herzzerreißendes Schluchzen. Sie legte den Kopf auf meine Schulter und ich zog sie an mich.
Fische strömten zusammen, um uns anzusehen, ein Schwarm von Barrakudas, ein paar neugierige Speerfische.
Verpisst euch, befahl ich ihnen.
Sie schwammen davon, aber ich wusste, dass sie es nicht gern taten. Ich schwöre, ich wusste, was sie im Schilde führten. Sie wollten sofort überall im Meer den Klatsch verbreiten, dass der Sohn des Poseidon auf dem Grund der Sirenenbucht mit einem Mädchen herumhing.
»Ich sorg dafür, dass wir aufs Schiff zurückkommen«, sagte ich zu ihr. »Ist schon gut. Lass mich einfach machen.«
Annabeth nickte, um mir zu verstehen zu geben, dass es ihr jetzt besser ging.
Sie murmelte etwas, das ich nicht hören konnte, weil ich ja Wachs in den Ohren hatte.
Ich befahl der Strömung, unser komisches kleines Unterseeboot durch Felsen und Stacheldraht zurück zum Rumpf der Königin Annes Rache zu bugsieren, die jetzt einen langsamen, stetigen Kurs von der Insel weg hielt.
Wir blieben unter Wasser und folgten dem Schiff, bis ich annahm, dass wir uns nicht mehr in Hörweite der Sirenen befanden. Dann ließ ich uns an die Oberfläche steigen und unsere Luftblase platzte.
Ich befahl einer Strickleiter, über die Reling zu fallen, und wir kletterten an Bord.
Ich behielt die Wachsstöpsel in den Ohren, sicherheitshalber. Wir segelten weiter, bis die Insel nicht mehr zu sehen war. Annabeth saß in eine Decke gewickelt auf dem Vorderdeck. Endlich blickte sie auf, verwirrt und traurig, und ihre Lippen formten das Wort: gerettet.
Ich zog die Stöpsel heraus. Kein Gesang. Es war ein stiller Nachmittag, ich konnte nur hören, wie das Wasser gegen den Schiffsrumpf schlug. Der Nebel war einem blauen Himmel gewichen, so als habe die Insel der Sirenen niemals existiert.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich. Und sofort merkte ich, wie lahm sich das anhörte. Natürlich war bei ihr nicht alles in Ordnung.
»Mir war das nicht klar«, murmelte sie.
»Was?«
Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie der Nebel über der Insel der Sirenen. »Wie mächtig die Versuchung sein würde …«
Ich wollte nicht zugeben, dass ich gesehen hatte, was die Sirenen ihr versprochen hatten. Ich kam mir vor wie ein Spanner. Aber ich hatte das Gefühl, es Annabeth schuldig zu sein.
»Ich habe gesehen, wie du Manhattan neu gebaut hattest«, sagte ich. »Und … Luke und deine Eltern.«
Sie wurde rot. »Das hast du gesehen?«
»Was Luke dir auf der Prinzessin Andromeda erzählt hat … dass die Welt neu erschaffen werden kann … das kannst du nicht vergessen, was?«
Sie zog ihre Decke fester um sich. »Mein großer Fehler. Das haben die Sirenen mir gezeigt. Mein größter Fehler ist Hybris.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Dieses braune Zeug, das man auf vegetarische Sandwiches schmiert?«
Sie verdrehte die Augen. »Nein, Algenhirn. Das ist Hummus. Hybris ist schlimmer.«
»Was könnte denn schlimmer sein als Hummus?«
»Hybris bedeutet tödlicher Hochmut, Percy. Sich einzubilden, dass man etwas besser kann als alle anderen … sogar als die Götter.«
»Das tust du?«
Sie schlug die Augen nieder. »Hast du nie das Gefühl … Was ist, wenn die Welt wirklich total kaputt ist? Was, wenn wir wirklich noch einmal ganz von vorne anfangen könnten? Kein Krieg mehr. Keine Obdachlosen mehr. Keine Hausarbeiten über die Sommerferien.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich meine, das Abendland steht für viele der besten Dinge, die der Menschheit je gelungen sind – deshalb brennt das Feuer ja noch immer. Deshalb gibt es den Olymp noch. Aber wir sehen manchmal nur das Schlechte, verstehst du? Und dann denken wir wie Luke: Wenn ich das alles einreißen könnte, würde ich alles besser machen. Hast du nie so ein Gefühl? Ich meine … dass du es besser machen könntest, wenn du über die Welt zu bestimmen hättest?«
»Äh … nein. Wenn ich über die Welt zu bestimmen hätte, das wäre ein Albtraum.«
»Dann hast du Glück. Dann ist Hybris nicht dein größter Fehler.«
»Aber was denn dann?«
»Das weiß ich nicht, Percy, aber jeder Heros hat einen. Wenn du den nicht findest und lernst, ihn zu beherrschen … na ja, solche Fehler werden ja nicht umsonst auch fatale Fehler genannt.«
Ich dachte darüber nach. Es versetzte mich nicht gerade in bessere Stimmung.
Mir fiel auch auf, dass Annabeth nichts über die persönlichen Dinge gesagt hatte, die sie gern ändern würde – ihre Eltern wieder zusammenzubringen oder Luke zu retten. Ich konnte das verstehen. Ich würde auch nicht zugeben wollen, wie oft ich davon geträumt hatte, meine Eltern wieder zusammenzuführen.
Ich stellte mir meine Mom vor, allein in unserer kleinen Wohnung auf der Upper East Side. Ich versuchte mich an den Duft ihrer blauen Waffeln in der Küche zu erinnern. Alles schien so weit weg zu sein.
»War es die Sache denn wert?«, fragte ich Annabeth. »Bist du jetzt … klüger?«
Sie starrte in die Ferne. »Ich bin nicht sicher. Aber wir müssen das Camp retten. Wenn wir Luke nicht stoppen …«
Sie brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Wenn Lukes Ideen sogar Annabeth in Versuchung führen konnten, dann konnte niemand sagen, wie viele andere Halbblute sich ihm anschließen würden.
Ich dachte über meinen Traum von dem Mädchen und dem goldenen Sarkophag nach. Ich wusste nicht recht, was er bedeuten sollte, aber ich hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben … einen entsetzlichen Plan, den Kronos ausheckte. Was hatte das Mädchen erblickt, als es den Sargdeckel geöffnet hatte?
Plötzlich riss Annabeth die Augen auf. »Percy!«
Ich fuhr herum.
Vor uns tauchte ein neuer Flecken Land auf – eine sattelförmige Insel mit bewaldeten Hügeln und weißen Stränden und grünen Wiesen … wie ich sie in meinen Träumen gesehen hatte.
Meine Meeresinstinkte bestätigten es: 30° 31’ Nord, 75° 12’ West.
Wir hatten die Heimat des Zyklopen erreicht.
Wir treffen die Schafe der Verdammnis
Bei dem Wort »Monsterinsel« denkt man eigentlich an gezackte Felsen und am Strand herumliegende Knochen, wie auf der Insel der Sirenen.
Die Zyklopeninsel aber war ganz anders. Na ja, gut, es führte eine Seilbrücke über einen Abgrund, was kein gutes Zeichen war. Da hätte man auch gleich ein Schild mit der Aufschrift HIER WOHNT ETWAS ÜBLES aufstellen können. Aber davon abgesehen sah die Insel aus wie eine Postkarte aus der Karibik. Sie hatte grüne Wiesen und tropische Obstbäume und weiße Strände. Als wir uns näherten, sog Annabeth die süße Luft ein. »Das Vlies«, sagte sie.
Ich nickte. Ich konnte das Vlies noch nicht sehen, aber ich konnte seine Macht spüren. Ich war sicher, dass es alles heilen könnte – sogar Thalias vergifteten Baum. »Wenn wir es mitnehmen, muss die Insel dann sterben?«
Annabeth schüttelte den Kopf. »Sie wird sich verändern. Wieder so werden, wie sie normalerweise wäre … wie auch immer das sein mag.«
Ein bisschen hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich dieses Paradies zerstören wollte, sagte mir dann aber, dass wir keine andere Wahl hatten. Camp Half-Blood war in Gefahr. Und Tyson … Tyson wäre noch bei uns, wenn wir diesen Auftrag nicht übernommen hätten.
Auf der Wiese am Ende der Schlucht standen mehrere Dutzend Schafe. Sie sahen absolut friedlich aus, aber sie waren riesig – so groß wie Nilpferde. Hinter ihnen sah ich einen Pfad, der in die Hügel hochführte. Weiter oben, in der Nähe des Abhangs zur Schlucht, stand die riesige Eiche, die ich im Traum gesehen hatte. Etwas Goldenes funkelte zwischen ihren Ästen.
»Das ist zu leicht«, sagte ich. »Wir können einfach hochlaufen und es holen?«
Annabeth kniff die Augen zusammen. »Es gibt sicher einen Wächter. Einen Drachen oder …«
In diesem Augenblick kam ein Reh aus dem Gebüsch. Es trottete auf die Wiese und wollte vermutlich grasen, aber da blökten alle Schafe auf einmal los und stürzten auf das Reh zu. Alles ging so schnell, dass das Reh stolperte und in einem Meer aus Wolle und trampelnden Hufen verschwand.
Gras und Wollbüschel stoben in die Luft.
Gleich darauf gingen die Schafe wieder auseinander und begannen friedlich zu grasen. Wo das Reh gestanden hatte, lagen nur noch sauber abgenagte weiße Knochen.
Annabeth und ich wechselten einen Blick.
»Die sind ja wie Piranhas«, sagte ich.
»Piranhas mit Wolle. Wie sollen wir …«
»Percy«, Annabeth keuchte und packte meinen Arm. »Da!«
Sie zeigte auf den Strand. Unterhalb der Schafweide war ein kleines Boot angelandet – das zweite Rettungsboot der C.S.S. Birmingham.
Wir entschieden, dass wir nicht an den menschenfressenden Schafen vorbeikämen. Annabeth wollte sich unsichtbar den Pfad hochschleichen und das Vlies holen, aber ich konnte ihr schließlich klarmachen, dass etwas schiefgehen würde. Die Schafe würden sie riechen. Ein Wächter würde auftauchen. Irgendetwas. Und wenn das passierte, würde ich zu weit weg sein, um ihr zu helfen.
Außerdem mussten wir zuerst Grover finden und diejenigen, die mit dem Rettungsboot gekommen waren – falls sie die Schafe überlebt hatten. Ich war zu nervös, um meine stille Hoffnung auszusprechen … dass Tyson vielleicht noch am Leben war.
Wir vertäuten die Königin Annes Rache auf der Rückseite der Insel, wo die Klippen fast siebzig Meter steil nach oben ragten. Ich vermutete, dass das Schiff dort nicht so leicht entdeckt werden würde.
Die Felsen sahen gerade noch erkletterbar aus – ungefähr so schwierig wie die Lavawand im Camp. Immerhin gab es dort keine Schafe. Ich hoffte, dass Polyphem nicht auch noch menschenfressende Bergziegen hielt.
Wir ruderten mit einem Rettungsboot bis zu den Felsen und stiegen dann sehr langsam nach oben, Annabeth voran, da sie die bessere Bergsteigerin war.
Wir wären nur sechs- oder siebenmal fast gestorben, was ich für eine ziemlich gute Leistung hielt. Einmal verpasste ich einen Felsvorsprung und hing an einer Hand an die siebzehn Meter über der Brandung. Die Vorstellung, ins Wasser zu fallen, war nicht so schlimm. Ich hatte solche Stürze schon überlebt. Was mir Angst machte, waren die gezackten Felsen, auf denen ich wohl eher enden würde.
Es gelang mir, mich festzuklammern, und ich kletterte weiter, aber gleich darauf rutschte Annabeth auf einem glitschigen Moosbüschel aus. Glücklicherweise fand auch ihr Fuß wieder Halt. Unglücklicherweise fand er Halt in meinem Gesicht.
»’tschuldigung«, murmelte sie.
»Schon gut«, grunzte ich, aber ich hatte nie wissen wollen, wonach Annabeths Turnschuh schmeckte.
Endlich, als meine Finger sich anfühlten wie geschmolzenes Blei und meine Armmuskeln vor Erschöpfung zitterten, zogen wir uns über den Felsrand und brachen zusammen.
»Hu«, sagte ich.
»Au«, stöhnte Annabeth.
»Uaarrr«, brüllte eine dritte Stimme.
Wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, wäre ich glatt noch mal siebzig Meter hochgehüpft. Ich fuhr herum, konnte aber nicht sehen, wem diese Stimme gehörte.
Annabeth hielt mir den Mund zu. Und zeigte hinunter.
Die Felskuppe, auf der wir saßen, war schmaler, als mir klar gewesen war. Auf der anderen Seite fiel sie wieder steil ab und von dort kam die Stimme – von direkt unter uns.
»Du bist mir ja eine Mutige«, brüllte die tiefe Stimme.
»Kannst mich ja auf die Probe stellen!« Das war Clarisse’ Stimme, eindeutig. »Gib mir mein Schwert zurück, dann kämpfen wir.«
Das Monster brüllte vor Lachen.
Annabeth und ich krochen an die Felskante. Wir befanden uns genau über dem Eingang zur Höhle des Zyklopen. Unter uns standen Polyphem und Grover, der immer noch sein Brautkleid trug. Clarisse hing gefesselt und mit dem Kopf nach unten über einem Kessel voll kochendem Wasser. Ich hoffte fast, auch Tyson dort unten zu sehen. Selbst wenn er in Gefahr gewesen wäre, hätte ich doch immerhin gewusst, dass er noch lebte. Aber von ihm war keine Spur zu entdecken.
»Hm«, überlegte Polyphem. »Göre jetzt essen oder auf Hochzeitsmahl warten … Was meint meine Braut?«
Er wandte sich an Grover und der wich zurück und wäre fast über seine vollendete Schleppe gefallen. »Öh, ömm, ich habe gerade keinen Hunger, Lieber. Vielleicht …«
»Hast du Braut gesagt?«, fragte Clarisse. »Wer denn? Grover?«
Neben mir murmelte Annabeth: »Mund halten. Sie muss den Mund halten.«
Polyphem starrte Clarisse wütend an. »Wieso ›Grover‹?«
»Der Satyr«, schrie Clarisse.
»Oh«, fiepte Grover. »Das Gehirn des armen Dings kocht schon im heißen Dampf. Lass sie runter, Lieber.«
Polyphem kniff sein schreckliches milchiges Auge zusammen, als wollte er Clarisse genauer betrachten.
Der Zyklop war in Wirklichkeit noch schrecklicher als in meinen Träumen. Einerseits, weil sein ranziger Gestank jetzt so nah und geradezu greifbar war. Und andererseits wegen seines Hochzeitsstaats, eines groben Kilts und eines Umhangs über den Schultern, den er aus babyblauen Smokings zusammengestoppelt hatte. Wahrscheinlich hatte er eine ganze Hochzeitsgesellschaft dafür ausgezogen.
»Was denn für ein Satyr?«, fragte Polyphem. »Satyrn sind lecker. Hast du mir einen Satyr mitgebracht?«
»Nein, du Riesentrottel«, schrie Clarisse. »Der Satyr da! Grover! Der im Brautkleid!«
Ich hätte Clarisse gern den Hals umgedreht, aber es war zu spät. Ich konnte nur noch zusehen, wie Polyphem herumfuhr und Grover den Schleier vom Kopf riss – und damit Grovers lockige Haare, seinen Bartflaum und seine winzigen Hörner freilegte.
Polyphem atmete schwer und versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. »Kann nicht gut sehen«, knurrte er. »Lange nicht mehr, seit anderer Heros ins Auge gestochen hat. Aber DU BIST KEINE ZYKLOPIN!«
Er packte Grovers Kleid und riss es ihm vom Leib. Darunter tauchte der alte Grover in seiner Jeans und seinem T-Shirt auf. Er meckerte und duckte sich, als das Monster nach seinem Kopf griff.
»Nicht«, flehte Grover. »Iss mich nicht roh! Ich … ich weiß ein gutes Rezept.«
Ich griff nach meinem Schwert, aber Annabeth zischte: »Warte!«
Polyphem zögerte, er hielt einen Quader in der Hand und wollte seine verflossene Braut damit erschlagen.
»Rezept?«, fragte er Grover.
»Aber ja. Du willst mich doch nicht roh verzehren. Davon kannst du E. coli und Botulismus und alle möglichen anderen schrecklichen Krankheiten kriegen. Und ich schmecke viel besser, wenn ich über kleiner Flamme gegrillt wurde. Mit Mango-Chutney! Du könntest jetzt gleich aus dem Wald ein paar Mangos holen. Ich warte solange hier.«
Das Ungeheuer dachte über diesen Vorschlag nach. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Ich fürchtete, dass ein Angriff mein Tod sein würde. Aber ich konnte nicht zulassen, dass dieses Monstrum Grover umbrachte.
»Gegrillter Satyr mit Mango-Chutney«, überlegte Polyphem. Er schaute sich zu Clarisse um, die über dem Kessel mit dem kochenden Wasser baumelte. »Bist du auch ein Satyr?«
»Nein, du Riesenmisthaufen«, schrie sie. »Ich bin ein Mädchen! Die Tochter des Ares! Und jetzt bind mich los, damit ich dir die Arme abhacken kann!«
»Arme abhacken«, wiederholte Polyphem.
»Und sie dir in die Kehle stopfen!«
»Mädchen hat Mumm.«
»Lass mich runter!«
Polyphem schnappte sich Grover wie ein entlaufenes Hundebaby. »Muss jetzt Schafe weiden lassen. Hochzeit auf heute Abend verschoben. Und dann ist Hauptgericht Satyr.«
»Aber … du willst noch immer heiraten?« Grover klang verletzt. »Wer ist die Braut?«
Polyphem schaute zu dem kochenden Kessel hinüber.
Clarisse stieß einen erstickten Schrei aus. »O nein! Das kann nicht dein Ernst sein. Ich bin nicht …«
Ehe Annabeth oder ich eingreifen konnten, packte Polyphem auch Clarisse und warf sie und Grover in die Höhle. »Macht gemütlich. Bei Sonnenuntergang zurück. Zum Fest.«
Dann pfiff der Zyklop und allerlei Ziegen und Schafe – kleiner als die Menschenfresser – kamen aus der Höhle und liefen an ihrem Herrn vorbei. Polyphem streichelte einigen von ihnen den Rücken und nannte ihre Namen: Leckerbissen, Lockenschätzchen und so weiter.
Als das letzte Schaf davongetrottet war, rollte Polyphem einen Quader vor die Höhle, so leicht, wie ich einen Kühlschrank öffnen würde, und damit war das Geschrei von Clarisse und Grover nicht mehr zu hören.
»Mangos«, murmelte Polyphem vor sich hin. »Was sind Mangos?«
Er wanderte in seinem babyblauen Hochzeitsgewand den Hang hinab und ließ uns allein mit einem Kessel voll kochendem Wasser und einem Steinquader, der sechs Tonnen wog.
Wir mühten uns stundenlang ab, so kam es uns zumindest vor, aber es half alles nichts. Der Quader wollte sich nicht bewegen lassen.
Wir brüllten in die Spalten, hämmerten gegen den Felsen, taten alles, was uns nur einfiel, um Grover ein Signal zu geben, aber wir hatten keine Ahnung, ob er uns hören konnte.
Selbst wenn wir auf wundersame Weise Polyphem hätten töten können, hätte uns das nicht geholfen. Grover und Clarisse wären in der verschlossenen Höhle umgekommen. Die einzige Möglichkeit, den Quader zu bewegen, war, es den Zyklopen machen zu lassen.
In totaler Frustration schlug ich mit Springflut gegen den Fels. Funken stoben auf, aber das war auch alles. Ein Felsblock ist nicht die Art von Feind, gegen die ein magisches Schwert etwas ausrichten kann.
Annabeth und ich saßen verzweifelt wieder auf der Felskante und sahen zu, wie die babyblaue Zyklopengestalt sich in der Ferne zwischen den Schafen bewegte. Er hatte seine normalen Tiere klugerweise von seinen menschenfressenden Schafen getrennt; die Gruppen weideten auf verschiedenen Seiten des tiefen Abgrunds, der die Insel teilte. Die einzige Verbindung war die Seilbrücke und ihre Bretter lagen für Schafshufe viel zu weit auseinander.
Wir sahen zu, wie Polyphem seine fleischfressende Herde auf der anderen Seite des Abgrunds besuchte. Leider fraßen sie ihn nicht. Sie schienen ihm überhaupt nichts tun zu wollen. Er fütterte sie mit Fleischstücken aus einem großen Weidenkorb, was die Gefühle, die ich hegte, seit Circe mich in ein Meerschweinchen verwandelt hatte, weiter verstärkte: Ich sollte vielleicht Grovers Beispiel folgen und Vegetarier werden.
»List«, entschied Annabeth. »Mit Gewalt können wir ihn nicht schlagen, also müssen wir zu einer List greifen.«
»Na gut«, sagte ich. »Und zu welcher List?«
»So weit bin ich noch nicht.«
»Klasse.«
»Polyphem muss den Quader bewegen, um die Schafe in die Höhle zu lassen.«
»Bei Sonnenuntergang«, sagte ich. »Aber dann will er Clarisse heiraten und Grover zum Abendessen verzehren. Ich weiß ja nicht, was übler ist.«
»Ich könnte hineingehen«, sagte sie. »Unsichtbar.«
»Und was ist mit mir?«
»Die Schafe«, überlegte Annabeth. Sie bedachte mich mit diesem listigen Blick, bei dem ich immer ganz misstrauisch wurde. »Magst du eigentlich Schafe?«
»Einfach nicht loslassen!«, sagte Annabeth, die irgendwo rechts von mir stand. Sie hatte gut reden. Sie hing nicht kopfüber unter einem Schafsbauch.
Ich muss aber zugeben, dass es nicht so schwer war, wie ich erwartet hatte. Ich war schon mal unter das Auto meiner Mom gekrochen, um einen Ölwechsel vorzunehmen, und so viel anders war es nicht. Dem Schaf schien es egal zu sein. Noch das kleinste Schaf des Zyklopen konnte mein Gewicht tragen und alle hatten dicke Wolle. Ich drehte mir daraus einfach Handgriffe, presste meine Füße gegen die Hüftknochen des Schafs, und schwupp – ich kam mir vor wie ein kleines Känguru, während ich mich an den Schafsbauch schmiegte und versuchte, keine Wolle in meinen Mund und meine Nase zu bekommen.
Falls es euch interessiert, so ein Schafsbauch riecht nicht gerade gut. Stellt euch einen dicken Pullover vor, der durch den Schlamm gezogen worden ist und dann eine Woche lang in einem Korb für schmutzige Wäsche gelegen hat. So ungefähr.
Die Sonne ging unter.
Ich hatte gerade meinen Platz eingenommen, da brüllte der Zyklop auch schon: »Oi! Zicklein! Schäfchen!«
Gehorsam trottete die Herde den Hang hinauf auf die Höhle zu.
»Jetzt«, flüsterte Annabeth. »Ich bin ganz in der Nähe. Mach dir keine Sorgen.«
Ich legte den Göttern das stumme Gelübde ab, dass ich Annabeth sagen würde, dass sie ein Genie war, wenn wir das hier überlebten. Das Beängstigende war, dass ich wusste, dass die Götter dann auch darauf bestehen würden.
Mein Schafstaxi stieg bergauf. Schon nach hundert Metern taten meine Hände und Füße weh. Ich griff fester in die Wolle und das Tier knurrte. Ich konnte ihm da keine Vorwürfe machen. Ich hätte auch nicht gewollt, dass irgendwer sich zum Bergsteigen an meinen Haaren festhielt, aber wenn ich mich nicht festhielt, würde ich dem Ungeheuer vor die Füße plumpsen.
»Hasenpfeffer«, sagte der Zyklop und streichelte eins der Schafe vor meinem. »Einstein! Widget – heda, Widget!«
Polyphem streichelte mein Schaf und hätte mich fast zu Boden geworfen. »Hast noch eine Extraportion zugelegt, was?«
Oha, dachte ich. Jetzt kommt’s.
Aber Polyphem lachte nur, tätschelte dem Schaf das Hinterteil und trieb uns zur Eile an. »Los, Fettsack. Bald wird Polyphem dich zum Frühstück essen.«
Und dann war ich plötzlich in der Höhle.
Ich konnte sehen, wie die letzten Schafe hereinkamen. Wenn Annabeth jetzt nicht bald loslegte …
Der Zyklop wollte schon den Quader wieder zurückrollen, als Annabeth irgendwo vor der Höhle rief: »Na, du Hässlicher?«
Polyphem erstarrte. »Wer hat das gesagt?«
»Niemand«, rief Annabeth.
Das brachte genau die erhoffte Reaktion. Das Ungeheuer lief zornrot an.
»Niemand«, brüllte Polyphem zurück. »An dich erinnere ich mich!«
»Du bist zu blöd, um dich an irgendwen zu erinnern«, spottete Annabeth. »Und an Niemand schon gar nicht.«
Ich flehte zu den Göttern, dass sie machte, dass sie wegkam, als sie das sagte, denn Polyphem brüllte wütend, schnappte sich den nächstbesten Quader, bei dem es sich zufälligerweise um seine Haustür handelte, und schleuderte ihn in die Richtung von Annabeths Stimme. Ich hörte, wie der Quader in tausend Stücke zersprang.
Einen entsetzlichen Moment lang blieb alles still. Dann rief Annabeth: »Besser werfen hast du auch noch nicht gelernt!«
Polyphem heulte: »Komm her. Ich will dich umbringen, Niemand!«
»Du kannst Niemand nicht umbringen, du blöder Trottel«, höhnte sie. »Na, wo bin ich wohl?«
Polyphem rannte den Hang hinab hinter ihrer Stimme her.
Das mit dem Niemand klingt nicht gerade schlau, aber ich wusste von Annabeth, dass Odysseus sich so genannt hatte, als er vor Jahrhunderten Polyphem ausgetrickst und ihm mit einem langen glühenden Stock ins Auge gestochen hatte. Annabeth hatte vermutet, dass Polyphem auf diesen Namen noch immer allergisch reagieren würde, und sie hatte Recht. Weil er seinen alten Feind unbedingt finden wollte, vergaß er den Höhleneingang. Offenbar fiel ihm gar nicht auf, dass Annabeth eine weibliche Stimme hatte, während der erste Niemand ein Mann gewesen war. Schließlich hatte er ja auch Grover heiraten wollen, da konnte er die Sache mit männlich und weiblich nicht so ganz gerafft haben.
Ich hoffte nur, dass Annabeth am Leben bleiben und ihn so lange ablenken würde, dass ich Grover und Clarisse finden könnte.
Ich ließ mich von meinem Schaf fallen, streichelte Widgets Kopf und bat um Entschuldigung, dann suchte ich im Wohnzimmer, aber da fand ich keine Spur von Grover oder Clarisse. Ich zwängte mich durch die vielen Schafe und Ziegen nach hinten in die Höhle.
Obwohl ich von diesem Ort geträumt hatte, kam er mir vor wie ein Labyrinth. Ich lief durch Gänge voller Knochen, vorbei an Zimmern mit Schaffelldecken und lebensgroßen Zementschafen, in denen ich das Werk der Medusa erkannte. Es gab Sammlungen von Schafs-T-Shirts, riesige Tuben mit Lanolincreme, Wolljacken, Socken und Hüte mit Widderhörnern. Endlich fand ich die Spinnkammer, wo Grover in einer Ecke hockte und versuchte, mit einer stumpfen Schere Clarisse’ Fesseln zu zerschneiden.
»Das geht nicht«, sagte Clarisse. »Diese Schnur ist wie aus Eisen.«
»Nur noch ein paar Minuten!«
»Grover«, rief sie verzweifelt. »Du versuchst das schon seit Stunden!«
Und dann sahen sie mich.
»Percy?«, fragte Clarisse. »Du bist doch in die Luft geflogen!«
»Ja, und du mich auch. Und jetzt halt still, damit …«
»Perrrcy«, meckerte Grover und verpasste mir eine Ziegenumarmung. »Du hast mich gehört. Du bist gekommen.«
»Klar doch, Kumpel«, sagte ich. »Natürlich bin ich gekommen.«
»Wo ist Annabeth?«
»Draußen«, sagte ich. »Aber wir haben jetzt keine Zeit zum Reden. Clarisse, stillhalten!«
Ich drehte die Kappe von Springflut und zerschnitt ihre Fesseln. Sie stand mit steifen Bewegungen auf und rieb sich die Handgelenke. Einen Moment lang starrte sie mich wütend an, dann schaute sie zu Boden und murmelte: »Danke.«
»Gern geschehen«, sagte ich. »War sonst noch irgendwer mit in deinem Rettungsboot?«
Clarisse sah mich überrascht an. »Nein. Nur ich. Alle anderen auf der Birmingham … na ja, ich wusste ja nicht mal, dass ihr es geschafft habt.«
Ich starrte zu Boden und versuchte nicht daran zu denken, dass meine letzte Hoffnung, Tyson noch einmal lebend zu sehen, soeben zunichtegemacht worden war. »Gut. Also kommt jetzt. Wir müssen Annabeth …«
In der Höhle hallte eine Explosion wider, dann folgte ein Schrei, der mir klarmachte, dass wir möglicherweise zu spät kommen würden. Denn dieser Angstschrei stammte von Annabeth.
Niemand bekommt das Vlies
»Ich hab Niemand erwischt«, tönte Polyphem.
Wir krochen zum Höhleneingang und beobachteten den böse grinsenden Zyklopen, der nichts als Luft in der Hand hielt. Das Ungeheuer schüttelte seine Faust und eine Baseballmütze fiel zu Boden. Und da sahen wir Annabeth, die kopfunter an ihren Beinen in Polyphems Faust hing.
»Ha«, sagte der Zyklop. »Fieses unsichtbares Mädchen. Hab schon eine tapfere Frau. Also wirst du mit Mango-Chutney gegrillt.«
Annabeth zappelte, schien aber nicht ganz bei sich zu sein. Sie hatte eine scheußliche Wunde auf der Stirn. Ihre Augen waren glasig.
»Ich mach ihm Beine«, flüsterte ich Clarisse zu. »Unser Schiff liegt auf der anderen Seite der Insel. Du und Grover …«
»Nichts da«, sagten beide wie aus einem Munde. Clarisse hatte sich mit einem überaus seltenen Widderhornspeer aus der Zyklopenhöhle bewaffnet. Grover hatte den Hüftknochen eines Schafs gefunden, er schien nicht gerade glücklich darüber, hielt ihn aber wie eine Keule und war zum Angriff bereit.
»Wir schnappen ihn uns gemeinsam«, knurrte Clarisse.
»Genau«, sagte Grover. Dann blinzelte er und schien es nicht fassen zu können, dass er mit Clarisse einer Meinung war.
»Alles klar«, sagte ich. »Angriffsplan Mazedonien.«
Sie nickten. Wir hatten im Camp Half-Blood dasselbe Training absolviert. Sie wussten, wovon ich redete. Sie sollten sich von den Seiten her anschleichen und den Zyklopen von den Flanken angreifen, während ich von vorn seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Vermutlich bedeutete das, dass wir alle sterben würden, nicht nur ich, aber ich war doch dankbar für die Hilfe.
Ich schnappte mir mein Schwert und schrie: »He, du Hässlicher!«
Der Riese wirbelte zu mir herum. »Noch einer? Wer bist du?«
»Lass meine Freundin runter. Wer dich hier beleidigt hat, das war ich.«
»Du bist Niemand?«
»Genau, du stinkender Rotzeimer!« Das klang nicht ganz so schmissig wie Annabeths Beschimpfungen, aber mir fiel nichts Besseres ein. »Ich bin Niemand und ich bin stolz darauf. Und jetzt lass sie runter und komm her. Ich will dir endlich das Auge richtig ausstechen.«
»UAAAAR«, brüllte er.
Die gute Nachricht: Er ließ Annabeth los. Die schlechte: Er ließ sie mit dem Kopf zuerst auf die Felsen fallen und da blieb sie bewegungslos wie eine Stoffpuppe liegen.
Die zweite schlechte Nachricht: Polyphem kam auf mich zugebrettert, tausend stinkende Pfund Zyklop, gegen die ich mit einem sehr kleinen Schwert antreten musste.
»Für Pan!« Grover griff von rechts her an. Er schleuderte seinen Schafsknochen, aber der prallte von der Stirn des Monstrums ab, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Clarisse kam von links gerannt und ließ ihren Speer gerade im richtigen Moment zu Boden fallen, so dass der Zyklop hineintrat. Er heulte vor Schmerz. Clarisse wich aus, um nicht zertrampelt zu werden, aber der Zyklop zog sich den Speer wie einen großen Splitter aus dem Fuß und kam weiter auf mich zu.
Ich schwenkte Springflut.
Das Ungeheuer streckte die Hand nach mir aus. Ich rollte mich zur Seite und stach ihm in die Hüfte.
Ich hoffte, dass es sich auflösen würde. Manchmal passierte das beim ersten Streich mit Springflut. Aber dieses Monstrum war zu groß und zu mächtig.
»Hol Annabeth«, schrie ich Grover zu.
Er stürzte zu ihr, schnappte sich ihre Tarnkappe und hob sie hoch, während Clarisse und ich versuchten, Polyphem abzulenken.
Ich muss zugeben, Clarisse hatte Mut. Immer wieder ging sie auf den Zyklopen los. Er stampfte umher, trat nach ihr, griff nach ihr, aber sie war zu schnell, und immer, wenn sie angriff, sprang ich hinzu und stach das Monstrum in einen Zeh oder den Knöchel oder die Hand.
Aber so konnten wir nicht ewig weitermachen. Irgendwann würden wir erschöpft sein oder das Ungeheuer würde einfach mit einem Schlag Glück haben. Einer würde reichen, um uns umzubringen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Grover Annabeth über die Seilbrücke trug. Das hätte ich ihm nicht geraten, schließlich warteten auf der anderen Seite die menschenfressenden Schafe, aber dann kam es mir doch besser vor als unsere Seite des Abgrunds, und das brachte mich auf eine Idee.
»Zurück!«, rief ich Clarisse zu.
Sie rollte sich zur Seite und die Faust des Zyklopen knallte in einen Olivenbaum neben ihr.
Wir rannten auf die Brücke zu, dicht gefolgt von Polyphem. Er blutete und hinkte wegen seiner vielen Wunden, aber damit hatten wir ihn nur langsamer und richtig wütend gemacht.
»Ich werd euch zu Schafshack zermalmen!«, versprach er. »Und Niemand sei tausendfach verflucht!«
»Schneller«, rief ich Clarisse zu.
Wir jagten den Hang hinunter. Die Brücke war unsere einzige Chance. Wir mussten auf die andere Seite gelangen, bevor der Riese uns schnappte.
»Grover«, schrie ich. »Nimm Annabeths Messer!«
Er machte große Augen, als er den Zyklopen hinter uns sah, nickte dann aber und schien verstanden zu haben. Noch während Clarisse und ich über die Brücke stolperten, fing Grover an, die Seile durchzuschneiden.
Das erste machte schnapp!
Polyphem sprang hinter uns her und versetzte die Brücke in wilde Schwingungen.
Die Seile auf Grovers Seite waren zur Hälfte durchtrennt.
Clarisse und ich hechteten auf festen Boden und landeten neben Grover. Ich schlug mit dem Schwert zu und kappte die restlichen Seile.
Die Brücke stürzte in den Abgrund und der Zyklop heulte … vor Freude, denn er stand genau vor uns.
»Versagt«, brüllte er schadenfroh. »Niemand hat versagt!«
Clarisse und Grover versuchten ihn anzugreifen, aber das Monster wischte sie wie Fliegen beiseite.
Meine Wut wurde immer größer. Ich konnte nicht fassen, dass ich so weit gekommen war und dass ich Tyson verloren hatte, nur um jetzt zu versagen – besiegt von einem riesigen blöden Monstrum in einem babyblauen Smokingkilt. Niemand sollte meine Freunde so einfach fertigmachen dürfen. Ich meine … niemand, nicht Niemand. Ach, ihr wisst schon, was ich meine.
Neue Kraft jagte durch meinen Körper. Ich hob mein Schwert und griff an, und ich vergaß, dass ich hoffnungslos unterlegen war. Ich stach dem Zyklopen in den Bauch. Als er sich krümmte, schlug ich ihm den Schwertgriff auf die Nase. Ich haute und trat und schlug, bis Polyphem plötzlich auf dem Rücken lag und benommen stöhnte. Ich stand über seinem Kopf und meine Schwertspitze schwebte über seinem Auge.
»Uhhhhh«, murmelte Polyphem.
»Percy«, keuchte Grover. »Wie hast du …«
»Bitte, neiiiiin«, stöhnte der Zyklop und starrte mich jammervoll an. Seine Nase blutete. In seinem halbblinden Auge war eine Träne zu sehen. »M-meine Schäfchen brauchen mich. Wollte doch nur die Schäfchen beschützen!«
Er fing an zu schluchzen.
Ich hatte gewonnen. Jetzt brauchte ich nur noch zuzustechen – mit einem raschen Hieb.
»Bring ihn um«, schrie Clarisse. »Worauf wartest du denn noch?«
Der Zyklop jammerte herzzerreißend, genau wie … wie Tyson.
»Das ist ein Zyklop«, mahnte Grover. »Du darfst ihm nicht vertrauen.«
Ich wusste, dass er Recht hatte. Ich wusste, dass Annabeth dasselbe gesagt hätte.
Aber Polyphem schluchzte … und zum ersten Mal machte ich mir klar, dass auch er ein Sohn des Poseidon war. Wie ich. Wie hätte ich ihn da kaltblütig töten können?
»Wir wollen nur das Vlies«, sagte ich zu dem Ungeheuer. »Dürfen wir das an uns nehmen?«
»Nein!«, schrie Clarisse. »Bring ihn um!«
Das Monstrum schniefte. »Mein schönes Vlies. Stolz meiner Sammlung. Nimm es, grausamer Mensch. Nimm es und gehe in Frieden.«
»Ich werde jetzt langsam zurückweichen«, sagte ich. »Eine falsche Bewegung …«
Polyphem nickte.
Ich trat zurück – und schnell wie eine Kobra stieß Polyphem mich an den Rand des Abgrunds.
»Törichter Sterblicher«, brüllte er und kam auf die Füße. »Mein Vlies nehmen? Ha! Erst fress ich dich.«
Er riss sein Riesenmaul auf und ich wusste, dass ich in meinem Leben nichts anderes mehr sehen würde als seine verfaulten Backenzähne.
Da hörte ich über meinem Kopf ein WUUSCH und dann ein TUMP!
Ein Felsbrocken von Fußballgröße segelte in Polyphems Kehle – ein perfekter Wurf, genau in den Korb. Der Zyklop würgte und versuchte, diese überraschende Pille zu schlucken. Er taumelte rückwärts, aber da war nichts mehr. Seine Ferse rutschte ab, die Felskante des Abgrunds bröckelte und der große Polyphem machte Flatterbewegungen, die ihm aber nicht halfen, als er rückwärts in den Abgrund kippte.
Ich fuhr herum.
Auf dem Weg zum Strand stand, vollkommen unversehrt, inmitten einer Herde von Killerschafen, ein alter Freund.
»Gemeiner Polyphem«, sagte Tyson. »Nicht alle Zyklopen sind so nett, wie sie aussehen.«
Tyson erzählte uns eine gekürzte Fassung seiner Erlebnisse: Regenbogen, der Hippocampus – der uns offenbar seit dem Long Island Sound die ganze Zeit gefolgt war und darauf gewartet hatte, dass Tyson mit ihm spielte –, hatte Tyson beim Untergang der C.S.S. Birmingham gefunden und in Sicherheit gebracht. Er und Tyson hatten seither das Meer der Ungeheuer nach uns abgesucht, dann hatte Tyson den Schafsgeruch gewittert und die Insel gefunden.
Ich hätte den großen Dussel umarmen mögen, nur stand er eben mitten zwischen den Killerschafen. »Tyson, den Göttern sei Dank. Annabeth ist verletzt.«
»Du dankst den Göttern, weil sie verletzt ist?«, fragte er verwirrt.
»Nein.« Ich kniete neben Annabeth nieder. Ihr Anblick machte mir schreckliche Sorgen. Ihre Augen waren so verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war. Ihre Haut war blass und schweißnass.
Grover und ich tauschten besorgte Blicke. Dann kam mir eine Idee. »Tyson, das Vlies – kannst du das für mich holen?«
»Welches?«, fragte Tyson und schaute sich in der Schafherde um.
»Vom Baum«, sagte ich. »Das goldene.«
»Ach. Hübsch. Ja.«
Tyson trottete hinüber und gab sich alle Mühe, nicht auf die Schafe zu treten. Wenn wir anderen versucht hätten, uns dem Vlies zu nähern, wären wir lebendig verschlungen worden, aber ich vermute, Tyson roch wie Polyphem, und deshalb bekam er keinen Ärger mit der Herde. Alle drückten sich an ihn und blökten liebevoll, sie schienen Schafsleckerbissen aus dem Weidenkorb zu erwarten. Tyson hob die Hand und nahm das Vlies vom Ast. Sofort färbten sich die Blätter der Eiche gelb. Tyson wollte zu mir zurücktrotten, aber ich schrie: »Keine Zeit! Wirf es!«
Das goldene Widderfell segelte durch die Luft wie ein glitzerndes, zottiges Frisbee. Ich fing es auf und grunzte. Es war schwerer, als ich erwartet hatte – sechzig oder siebzig Pfund kostbarer goldener Wolle.
Ich breitete es über Annabeth aus und bedeckte alles, nur nicht ihr Gesicht. Dabei betete ich in Gedanken zu allen Gottheiten, die mir gerade einfielen – sogar zu denen, die ich nicht leiden konnte.
Bitte. Bitte.
Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück. Sie öffnete die Augen. Sie sah Grover an und fragte mit schwacher Stimme: »Du bist nicht … verheiratet?«
Grover grinste. »Nein. Meine Freunde haben es mir ausgeredet.«
»Annabeth«, sagte ich. »Bleib einfach still liegen.«
Aber obwohl wir protestierten, setzte sie sich auf, und ich bemerkte, dass die Wunde auf ihrer Stirn schon heilte. Annabeth sah viel besser aus. Sie strahlte geradezu vor Gesundheit, als ob irgendwer ihr eine Glitzerspritze gesetzt hätte.
Tyson dagegen bekam jetzt Ärger mit den Schafen. »Runter«, befahl er, als sie auf der Suche nach Leckerbissen an ihm hochzuklettern versuchten. Einige schnüffelten in unsere Richtung. »Nein, Schäfchen. Hier lang. Kommt her!«
Sie gehorchten zwar, aber es war klar, dass sie hungrig waren, und langsam ging ihnen auf, dass Tyson nichts für sie hatte. Sie würden nicht ewig aushalten, wo so viel frisches Fleisch in der Nähe war.
»Wir müssen los«, sagte ich. »Unser Schiff …«
Die Königin Annes Rache war sehr weit weg. Der kürzeste Weg führte über die Felsen, aber die lagen auf der anderen Seite des Abgrunds, und wir hatten die Brücke zerstört. Die andere Möglichkeit war der Weg durch die Schafherde.
»Tyson«, rief ich. »Kannst du die Herde so weit wegführen wie möglich?«
»Die wollen fressen.«
»Das weiß ich. Sie wollen Leute fressen. Hol sie einfach vom Weg weg. Gib uns Zeit, zum Strand zu gelangen. Und dann komm hinterher.«
Tyson machte ein skeptisches Gesicht, aber dann pfiff er. »Kommt, Schäfchen. Äh, hier gibt’s Leutefutter.«
Er lief über die Wiese und die Schafe hinterher.
»Wickel dich in das Vlies«, sagte ich zu Annabeth. »Für den Fall, dass du noch nicht ganz wiederhergestellt bist. Kannst du stehen?«
Sie versuchte es, aber ihr Gesicht wurde wieder blass. »Oh. Bin wohl noch nicht ganz fit.«
Clarisse ließ sich neben sie fallen und betastete ihren Brustkorb. Annabeth keuchte.
»Rippen gebrochen«, stellte Clarisse fest. »Die heilen schon wieder, aber sie sind einwandfrei gebrochen.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich.
Clarisse sah mich wütend an. »Weil mir das schon häufiger passiert ist, du Idiot. Ich werde sie tragen müssen.«
Ehe ich widersprechen konnte, hob Clarisse Annabeth auf wie einen Sack voll Mehl und schleppte sie zum Strand hinunter. Grover und ich folgten ihr.
Als wir das Wasser erreicht hatten, konzentrierte ich mich auf die Königin Annes Rache. Ich befahl ihr, den Anker zu lichten und zu mir zu kommen. Nach einigen angsterfüllten Minuten sah ich das Schiff die Landzunge umrunden.
»Komme!«, schrie Tyson. Er rannte den Pfad herab. Die Schafe waren an die fünfzig Meter hinter ihm und blökten frustriert, weil ihr lieber Zyklop wegrannte, ohne sie gefüttert zu haben.
»Ins Wasser werden sie uns wohl nicht folgen«, sagte ich zu den anderen. »Wir müssen nur noch zum Schiff schwimmen.«
»Mit Annabeth, in diesem Zustand?«, widersprach Clarisse.
»Wir können es schaffen«, erklärte ich. Langsam fühlte ich mich wieder zuversichtlich. Ich war jetzt schließlich in meinem Element – dem Meer. »Wenn wir erst auf dem Schiff sind, kann uns nichts mehr passieren.«
Und fast hätten wir es wirklich geschafft.
Wir wateten gerade am Eingang zur Schlucht vorbei, als wir ein gewaltiges Gebrüll hörten und Polyphem sahen. Zerkratzt und blutend, aber noch überaus lebendig, kam er in seinem zerfetzten babyblauen Hochzeitsstaat mit einem Steinquader in jeder Hand auf uns zugespritzt.
Ich gehe mit dem Schiff unter
»Man sollte doch meinen, dem wären die Steine ausgegangen«, murmelte ich.
»Los, schwimmen!«, sagte Grover.
Er und Clarisse ließen sich in die Brandung fallen. Annabeth klammerte sich an Clarisse’ Hals und versuchte, mit einer Hand zu paddeln, aber das nasse Vlies zog sie hinunter.
Die Aufmerksamkeit des Ungeheuers allerdings galt nicht dem Vlies.
»Du, junger Zyklop«, brüllte er. »Verräter deiner Art!«
Tyson erstarrte.
»Hör nicht auf ihn«, flehte ich ihn an. »Komm weiter.«
Ich zog Tyson am Arm, aber ich hätte auch versuchen können, an einem Berg zu ziehen. Er drehte sich um und schaute dem älteren Zyklopen ins Gesicht. »Ich bin kein Verräter.«
»Dienst Sterblichen«, brüllte Polyphem. »Diebischen Menschen!«
Polyphem warf den ersten Quader. Tyson wischte ihn mit der Faust beiseite.
»Kein Verräter«, sagte Tyson. »Du bist nicht meine Art.«
»Tod oder Sieg!« Polyphem lief in die Brandung, aber sein Fuß war verwundet. Er stolperte und fiel der Länge nach ins Wasser. Das wäre witzig gewesen, nur rappelte er sich wieder auf, spuckte Wasser und knurrte.
»Percy«, schrie Clarisse. »Komm schon!«
Sie hatten das Schiff fast erreicht und das Vlies immer noch bei sich. Wenn ich das Ungeheuer noch ein wenig länger ablenken könnte …
»Geh schon«, sagte Tyson. »Ich halt den großen Hässlichen auf.«
»Nein. Der bringt dich um!« Ich hatte Tyson schon einmal verloren und wollte das nicht noch mal erleben. »Wir kämpfen gemeinsam gegen ihn.«
»Gemeinsam«, sagte Tyson zustimmend.
Ich zog mein Schwert.
Polyphem kam jetzt vorsichtiger näher, er hinkte noch schlimmer, aber sein Wurfarm war in bester Verfassung. Er schleuderte den zweiten Quader. Ich ließ mich zur Seite fallen, aber ich wäre zermatscht worden, wenn Tysons Faust den Felsen nicht zu Schotter zerbröselt hätte.
Ich befahl der See, sich zu erheben. Eine sieben Meter hohe Welle türmte sich auf und hob mich hoch. Ich wurde auf den Zyklopen zugetragen und trat ihm ins Auge. Dann sprang ich über seinen Kopf hinweg, als das Wasser ihn auf den Strand warf.
»Mach dich kaputt«, schrie Polyphem und spuckte Wasser. »Vliesdieb!«
»Du hast das Vlies gestohlen«, brüllte ich. »Und damit Satyrn in den Tod gelockt!«
»Na und? Satyrn schmecken lecker!«
»Das Vlies soll zum Heilen benutzt werden! Es gehört den Kindern der Gottheiten!«
»Bin ein Kind der Gottheiten!« Polyphem schlug nach mir, aber ich sprang zur Seite. »Vater Poseidon, verfluche Dieb!«
Er kniff jetzt sein Auge ganz fest zu, als ob er nur mit großer Mühe sehen könnte. Mir wurde klar, dass er sich am Klang meiner Stimme orientierte.
»Poseidon wird mich nicht verfluchen«, sagte ich und wich zurück, so dass der Zyklop in die Luft griff. »Ich bin auch sein Sohn. Er wird keinen vorziehen.«
Polyphem brüllte. Er riss einen Olivenbaum vom Felsen und zerschmetterte ihn genau dort, wo ich eben noch gestanden hatte. »Menschen nicht dasselbe. Sind gemein und tückisch und lügen!«
Grover half Annabeth gerade auf das Schiff. Clarisse winkte mir hektisch zu und schrie, ich sollte kommen.
Tyson schlich um Polyphem herum und versuchte, hinter ihn zu gelangen.
»Junger Kerl«, rief der ältere Zyklop. »Wo bist du? Hilf mir!«
Tyson blieb stehen.
»Nicht richtig erzogen!«, heulte Polyphem und schwenkte seine Olivenbaumkeule. »Armes Waisenkind. Hilf mir!«
Niemand bewegte sich. Es war nichts zu hören, außer dem Ozean und meinem Herzschlag. Dann trat Tyson vor und hob bittend die Hände. »Nicht kämpfen, Zyklopenbruder. Leg den …«
Polyphem fuhr zu der Stimme herum.
»Tyson!«, rief ich.
Der Baum traf ihn mit solcher Wucht, dass er mich zu einer Pizza mit extra viel Oliven platt gewalzt hätte. Tyson flog rückwärts und pflügte einen Schützengraben in den Sand. Polyphem rannte hinter ihm her, aber ich schrie »Nein!« und holte mit Springflut so weit aus, wie ich nur konnte. Ich hoffte, ich könnte Polyphem von hinten in den Oberschenkel stechen, aber ich traf ihn noch ein wenig höher.
»Bääh«, schrie Polyphem wie seine Schafe und schlug mit dem Baum nach mir.
Ich ließ mich fallen, aber trotzdem harkte ein Dutzend spitzer Zweige über meinen Rücken.
Ich blutete, ich war verletzt und erschöpft. Das Meerschweinchen in mir wollte die Flucht ergreifen. Aber ich schluckte meine Angst hinunter.
Wieder schwenkte Polyphem den Baum, aber diesmal war ich darauf vorbereitet. Ich packte einen Zweig, achtete nicht darauf, wie weh meine Hände taten, als ich gen Himmel gehoben wurde, und ließ mich von dem Zyklopen durch die Luft schwenken. Auf dem Scheitelpunkt des Bogens ließ ich los, fiel in das Gesicht des Riesen – und landete mit beiden Füßen auf seinem ohnehin schon lädierten Auge.
Polyphem jaulte vor Schmerz. Tyson griff ihn an und zog ihn zu Boden. Ich sprang neben die beiden, mit dem Schwert in der Hand, das Herz des Ungeheuers in Hiebweite. Aber ich fing Tysons Blick auf und wusste, dass ich das nicht tun durfte. Es wäre einfach nicht richtig gewesen.
»Lass ihn los«, sagte ich zu Tyson. »Und lauf.«
Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung schob Tyson den fluchenden Zyklopen weg und rannte auf die Brandung zu.
»Ich werde dich zerschmettern!«, schrie Polyphem und krümmte sich vor Schmerz. Er hielt sich die riesigen Pranken vor das Auge.
Tyson und ich ließen uns in die Wellen fallen.
»Wo seid ihr?«, schrie Polyphem. Er hob die Baumkeule auf und warf sie ins Wasser. Sie landete neben uns.
Ich rief eine Strömung, die uns tragen sollte, und wir wurden schneller. Ich glaubte schon fast, dass wir das Schiff erreichen könnten, als Clarisse vom Deck her schrie: »Ja, Jackson! Reingefallen, Zyklop!«
Halt die Klappe, hätte ich gern gerufen.
»Uarrr!« Polyphem schnappte sich einen Quader. Er warf ihn in Richtung von Clarisse’ Stimme, aber der Felsbrocken fiel vorher ins Wasser und verfehlte Tyson und mich um Haaresbreite.
»Ja, ja«, höhnte Clarisse. »Du wirfst wie ein Waschlappen. Und so einer wollte mich heiraten, du Idiot!«
»Clarisse«, rief ich; ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. »Halt die Klappe!«
Zu spät. Polyphem warf noch einen Quader und ich musste hilflos zusehen, wie er über meinen Kopf segelte und ein Loch in den Rumpf der Königin Annes Rache schlug.
Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie rasch ein Schiff sinken kann. Die Königin Annes Rache ächzte und knackte und senkte den Bug, als wollte sie eine Rutschbahn hinuntergleiten.
Ich fluchte und befahl der See, uns schneller vorwärtszubringen, aber schon versanken die Schiffsmasten. Grover konnte nicht schwimmen und Annabeth konnte es in ihrem Zustand nicht einmal versuchen.
»Tauchen«, sagte ich zu Tyson. Und als ein weiterer Quader über uns hinwegsegelte, verschwanden wir unter Wasser.
Die anderen gingen rasch unter, während sie vergeblich versuchten, im aufgewühlten Kielwasser des sinkenden Schiffs zu schwimmen.
Nicht alle wissen, dass ein sinkendes Schiff wie ein Strudel funktioniert und alles in seiner Nähe mitreißt. Clarisse war eine gute Schwimmerin, aber nicht einmal sie kam voran. Grover trat verzweifelt mit den Hufen um sich. Annabeth klammerte sich an das Vlies, das im Wasser leuchtete wie eine Welle aus frisch geschlagenen Münzen.
Ich tauchte zum Wrack hinunter, aber ich wusste, dass ich nicht die Kraft haben würde, die anderen herauszuziehen. Und schlimmer noch, überall wirbelten Holzstücke herum. All meine Macht im Wasser würde mir nicht helfen, wenn ich von einem Balken am Kopf getroffen würde.
Wir brauchen Hilfe, dachte ich.
Ja. Das war Tysons Stimme, laut und klar in meinem Kopf.
Ich schaute verwirrt zu ihm hinüber. Ich hatte schon erlebt, dass Nereiden und andere Wassergeister unter Wasser so zu mir gesprochen hatten, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen … Tyson war ein Sohn des Poseidon. Wir konnten uns verständigen.
Regenbogen, sagte Tyson.
Ich nickte, dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich, und Tyson und ich riefen in Gedanken gemeinsam: Regenbogen! Wir brauchen dich!
Sofort sahen wir unten in der Dunkelheit schimmernde Umrisse auf uns zukommen – drei Pferde mit Fischschwänzen, die schneller als Delfine nach oben jagten. Regenbogen und seine Freunde schauten in unsere Richtung und schienen unsere Gedanken zu lesen. Sie stürzten sich zwischen die Wrackteile und gleich darauf tauchten sie in einer Wolke aus Blasen wieder auf – und Grover, Annabeth und Clarisse umklammerten jeweils den Hals eines Hippocampus.
Regenbogen, der größte, trug Clarisse. Er kam auf uns zugejagt und ließ Tyson seine Mähne packen. Sein Freund, der Annabeth trug, kam zu mir.
Wir brachen an die Wasseroberfläche und entfernten uns in Windeseile von Polyphems Insel. Hinter uns konnte ich den Zyklopen triumphierend brüllen hören: »Ich hab’s geschafft. Endlich hab ich Niemand doch versenkt!«
Ich hoffte, dass er niemals erfahren würde, wie sehr er sich da irrte.
Wir schossen über das Meer und die Insel schrumpfte hinter uns zu einem Punkt zusammen und war dann verschwunden.
»Geschafft«, murmelte Annabeth erschöpft. »Wir …«
Sie ließ sich an den Hals des Hippocampus sinken und war sofort eingeschlafen.
Ich wusste nicht, wie weit die Hippocampi uns bringen konnten. Ich wusste nicht, wohin wir unterwegs waren. Ich rückte Annabeth einfach zurecht, damit sie nicht herunterrutschte, wickelte sie in das Goldene Vlies, für das wir so viel durchgemacht hatten, und sprach ein stummes Dankgebet.
Wobei mir einfiel … ich war den Gottheiten noch etwas schuldig.
»Du bist ein Genie«, sagte ich leise zu Annabeth.
Dann schmiegte ich meinen Kopf an das Vlies, und ehe ich mich’s versah, war auch ich eingeschlafen.
Überraschung am Strand von Miami
»Percy, aufwachen!«
Salzwasser spritzte in mein Gesicht. Annabeth rüttelte an meiner Schulter.
In der Ferne ging hinter der Skyline einer Stadt die Sonne unter. Ich sah eine Schnellstraße, die an einem Strand vorbeiführte, Palmen, Läden mit rot und grün leuchtenden Reklameschildern, einen Hafen voller Segelboote und Kreuzfahrtschiffe.
»Miami, glaube ich«, sagte Annabeth. »Aber die Hippocampi verhalten sich seltsam.«
Und wirklich waren unsere fischigen Freunde langsamer geworden und wieherten, schwammen im Kreis und beschnüffelten das Wasser. Sie sahen nicht gerade glücklich aus. Einer nieste. Ich konnte ihre Gedanken erraten.
»Weiter können sie uns nicht bringen«, sagte ich. »Zu viele Menschen. Zu viel Verschmutzung. Wir müssen selber an Land schwimmen.«
Diese Vorstellung begeisterte uns zwar nicht, aber wir bedankten uns bei Regenbogen und seinen Freunden fürs Bringen. Tyson weinte ein wenig. Er band seine improvisierte Satteltasche los, in der er sein Werkzeug und ein paar aus dem Wrack der Birmingham gerettete Dinge aufbewahrte. Dann legte er Regenbogen die Arme um den Hals, gab ihm eine klitschige Mango, die er von der Insel mitgebracht hatte, und sagte auf Wiedersehen.
Als die weißen Mähnen der Hippocampi im Wasser verschwunden waren, schwammen wir auf das Ufer zu. Die Wellen schoben uns vor sich her und sehr bald hatten wir die Welt der Sterblichen wieder erreicht. Wir stapften an den Landungsbrücken der Ausflugsschiffe vorbei und drängten uns durch Mengen von Menschen, die hier gerade ihren Urlaub begannen. Taxifahrer schrien einander auf Spanisch an und versuchten, sich gegenseitig die Kundschaft wegzuschnappen. Falls uns irgendwer bemerkte – fünf triefnasse Jugendliche, die aussahen, als ob sie eben noch mit einem Ungeheuer gekämpft hätten –, dann ließ er es sich nicht anmerken.
Jetzt, wo wir uns wieder unter Sterblichen aufhielten, ließ Nebel Tysons Auge verschwimmen. Grover hatte Mütze und Turnschuhe angezogen. Das Vlies hatte sich von einem Schaffell in eine rot-goldene Schuljacke mit einem großen glitzernden Omega-Zeichen auf der Tasche verwandelt.
Annabeth rannte zum nächstgelegenen Zeitungskiosk und sah sich das Datum auf dem »Miami Herald« an. Sie fluchte. »18. Juni. Wir sind schon zehn Tage aus dem Camp weg!«
»Das kann doch nicht sein«, sagte Clarisse.
Aber ich wusste, dass das sehr wohl sein konnte. Wo Ungeheuer leben, vergeht die Zeit anders.
»Thalias Baum ist bestimmt schon fast tot«, jammerte Grover. »Wir müssen das Vlies noch heute hinbringen!«
Clarisse ließ sich auf das Pflaster sinken. »Und wie sollen wir das schaffen?« Ihre Stimme zitterte. »Wir sind Hunderte von Kilometern entfernt. Ohne Geld. Ohne Mitfahrgelegenheit. Genau wie das Orakel es gesagt hat. Und du bist schuld, Jackson. Wenn du dich nicht eingemischt hättest …«
»Percy soll schuld sein?« Annabeth ging hoch. »Clarisse, wie kannst du das sagen? Du bist die größte …«
»Hört auf!«, sagte ich.
Clarisse schlug die Hände vors Gesicht. Annabeth stampfte vor Frust mit dem Fuß auf.
Die Sache war die: Ich hatte fast vergessen, dass der Auftrag eigentlich Clarisse erteilt worden war. Einen beängstigenden Moment lang sah ich alles von ihrem Standpunkt. Wie wäre mir wohl zu Mute gewesen, wenn eine Bande von anderen Halbbluten in mein Abenteuer eingedrungen wäre und mich blamiert hätte?
Ich dachte an das, was ich im Kesselraum der C.S.S. Birmingham belauscht hatte. Ares hatte Clarisse angebrüllt und ihr geraten, lieber nicht zu versagen. Das Camp war Ares total egal, aber wenn Clarisse ihn als Trottel dastehen ließ …
»Clarisse«, sagte ich. »Was genau hat das Orakel gesagt?«
Sie schaute auf. Ich dachte schon, sie würde mir sonst was an den Kopf knallen, aber sie holte tief Luft und sagte ihre Weissagung auf:
»Du reist mit Kriegern aus Knochen auf dem Schiff aus Eisen,
was du dann findest, wird den Weg dir weisen,
doch du verzweifelst an deinem Leben, eingesargt in Stein
und ohne Freunde hilflos, kehrst du heim allein.«
»Oh«, murmelte Grover.
»Nein«, sagte ich. »Nein … Moment mal. Ich hab’s.«
Ich wühlte in meinen Taschen nach Geld, fand aber nur eine goldene Drachme. »Hat hier irgendwer echtes Geld?«
Annabeth und Grover schüttelten düster die Köpfe. Clarisse zog einen feuchten Südstaatendollar aus der Tasche und seufzte.
»Echtes Geld?«, fragte Tyson zögernd. »Also … grünes Papier?«
Ich sah ihn an. »Ja, genau.«
»Wie das in den Seesäcken?«
»Ja, aber die haben wir schon vor Tagen …«
Ich verstummte, als Tyson in seiner Satteltasche herumwühlte und den Geldbeutel hervorzog, den Hermes in der Nacht, in der wir losgezogen waren, zu unseren Vorräten gelegt hatte.
»Tyson!«, sagte ich. »Wie hast du …«
»Dachte, das ist Futter für Regenbogen«, sagte er. »Das schwamm im Wasser, aber dann war da nur Papier drin. Tut mir leid.«
Er reichte mir das Geld. Fünfer und Zehner – mindestens vierhundert Dollar.
Ich stürzte zum Bordstein und schnappte mir ein Taxi, das gerade eine Familie von Kreuzfahrtpassagieren aussteigen ließ. »Clarisse«, schrie ich. »Komm schon. Du fährst zum Flughafen. Annabeth, gib ihr das Vlies.«
Ich weiß nicht genau, welche von beiden verblüffter aussah, als ich Annabeth die Vliesjacke wegnahm, das Geld in die Tasche steckte und sie Clarisse in die Arme legte.
Clarisse sagte: »Du willst mir …«
»Es ist deine Aufgabe«, sagte ich. »Und unser Geld reicht nur für einen Flug. Außerdem kann ich nicht durch die Luft reisen. Zeus würde mich in eine Million Fetzen sprengen. Das hat die Weissagung gemeint: Ohne Freunde hättest du versagt – das bedeutet, dass du unsere Hilfe brauchst, aber dann musst du allein nach Hause fliegen. Du musst das Vlies sicher hinbringen.«
Ich konnte sehen, wie es in ihr arbeitete – zuerst war sie misstrauisch, sie fragte sich, was das wohl für ein Trick sein könnte, aber dann schien sie zu beschließen, dass ich es ehrlich meinte.
Sie sprang ins Taxi. »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Ich werde nicht versagen.«
»Das wäre gut.«
Das Taxi verschwand in einer Wolke aus Auspuffgasen. Das Vlies war unterwegs.
»Percy«, sagte Annabeth. »Das war wirklich …«
»Großzügig?«, schlug Grover vor.
»Wahnsinnig«, korrigierte Annabeth. »Du setzt das Leben von allen im Lager darauf, dass Clarisse das Vlies noch heute Abend sicher hinbringt?«
»Es ist ihr Auftrag«, sagte ich. »Sie hat eine Chance verdient.«
»Percy ist lieb«, sagte Tyson.
»Percy ist zu lieb«, knurrte Annabeth, aber es kam mir so vor, als ob sie vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, doch ein bisschen beeindruckt war. Ich hatte sie jedenfalls überrascht. Und das war keine leichte Übung.
»Na los«, sagte ich zu den anderen. »Jetzt müssen wir überlegen, wie wir nach Hause kommen.«
Ich drehte mich um und sah eine Schwertspitze, die sich auf meine Kehle richtete.
»Hallo, Vetter«, sagte Luke. »Willkommen zurück in den Vereinigten Staaten!«
Seine Bären-Schläger nahmen uns in die Mitte. Der eine packte Annabeth und Grover am Schlafittchen. Der andere versuchte sich Tyson zu schnappen, aber Tyson faltete ihn zu einem Paket zusammen und brüllte Luke an.
»Percy«, sagte Luke gelassen. »Sag deinem Riesen, er soll sich ruhig verhalten, sonst lass ich Oreios die Köpfe der beiden anderen gegeneinanderschlagen.«
Oreios grinste und hob Annabeth und Grover vom Boden hoch. Die beiden strampelten und schrien.
»Was willst du, Luke?«, knurrte ich.
Er lächelte und dabei bewegte sich die Narbe auf seiner Wange.
Er zeigte auf das Ende der Landungsbrücke und ich sah etwas, das eigentlich ungeheuer auffällig war. Das größte Schiff im Hafen war die Prinzessin Andromeda.
»Aber Percy«, sagte Luke. »Ich will euch natürlich meine Gastfreundschaft anbieten.«
Die Bärenzwillinge trugen uns an Bord der Prinzessin Andromeda und ließen uns vor einem Swimming-Pool mit glitzernden Fontänen aufs Achterdeck fallen. Ein Dutzend von Lukes Ungeheuern – Schlangenmenschen, Laistrygonen, Demigottheiten in Schlachtenrüstung – hatten sich versammelt, um zuzusehen, wie uns »Gastfreundschaft« erwiesen wurde.
»Und nun … das Vlies«, sagte Luke seelenruhig. »Wo ist es?«
Er musterte uns, tippte mit der Schwertspitze auf mein Hemd und Grovers Jeans.
»He«, schrie Grover. »Da drunter ist echtes Fell!«
»Tut mir leid, alter Freund«, sagte Luke lächelnd. »Gib mir einfach das Vlies und dann lasse ich dich zu deiner, äh, kleinen Naturexpedition zurückkehren.«
»Bääh«, protestierte Grover. »Komm mir nicht mit ›alter Freund‹.«
»Vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden.« Lukes Stimme war bedrohlich ruhig. »Wo – ist – das – Vlies?«
»Hier nicht«, sagte ich. Vermutlich hätte ich die Klappe halten sollen, aber ich fand es zu schön, ihm die Wahrheit an den Kopf zu knallen. »Wir haben es schon mal vorausgeschickt. Dein Pech.«
Luke kniff die Augen zusammen. »Du lügst. Du hast doch nie im Leben …« Er lief rot an, als ihm eine entsetzliche Möglichkeit aufging. »Clarisse?«
Ich nickte.
»Du hast ihr vertraut … du hast ihr …«
»Genau.«
»Agrios!«
Der Bärenriese zuckte zusammen. »J-ja?«
»Geh nach unten und mach mein Ross bereit. Bring es an Bord. Ich muss sofort zum Flughafen von Miami fliegen.«
»Aber Boss –«
»Mach schon!«, schrie Luke. »Oder ich verfüttere dich an den Drachen!«
Der Bärenmann schluckte und polterte die Treppe hinunter. Luke lief vor dem Swimming-Pool hin und her, fluchte auf Altgriechisch und packte sein Schwert so fest, dass seine Knöchel weiß wurden.
Lukes restliche Mannschaft sah ziemlich beunruhigt aus. Vielleicht hatten sie ihren Boss noch nie dermaßen außer sich erlebt.
Ich überlegte. Wenn ich Lukes Zorn benutzen, wenn ich ihn zum Reden bringen könnte, damit alle hörten, wie verrückt seine Pläne waren …
Ich sah zum Swimming-Pool; die Fontänen ließen Nebel in die Luft aufsteigen und bildeten im Sonnenuntergang einen Regenbogen. Und plötzlich kam mir eine Idee.
»Du hast die ganze Zeit mit uns gespielt«, sagte ich. »Wir sollten für dich das Vlies holen, damit du dir die Mühe sparen konntest.«
Luke runzelte die Stirn. »Natürlich, du Blödmann. Und ihr habt alles versaut!«
»Verräter.« Ich fischte meine letzte goldene Drachme aus der Tasche und warf damit nach Luke. Wie ich es erwartet hatte, wich er mühelos aus. Die Münze segelte in die Gischt aus regenbogenbuntem Wasser.
Ich hoffte, dass mein Gebet auch stumm erhört würde. Ich dachte: O Göttin, nimm meine Gabe an.
»Du hast uns allesamt ausgetrickst«, schrie ich Luke an. »Sogar DIONYSOS im CAMP HALF-BLOOD!«
Hinter Luke fing die Fontäne an zu schimmern, aber ich musste die Aufmerksamkeit auf mich lenken und deshalb drehte ich die Kappe von Springflut.
Luke feixte nur. »Das ist nicht der richtige Moment für Heldentaten, Percy. Wirf dein blödes kleines Schwert hin, sonst lass ich dich eher früher umbringen als später.«
»Wer hat Thalias Baum vergiftet, Luke?«
»Ich natürlich«, fauchte er. »Das hab ich dir doch schon gesagt. Ich habe altes Pythongift benutzt, geradewegs aus den Tiefen des Tartarus.«
»Chiron hatte nichts damit zu tun?«
»Ha! Du weißt doch, dass er dazu niemals fähig wäre. Dem alten Trottel fehlt doch der Mumm.«
»Das nennst du Mumm? Deine Freunde verraten? Das ganze Camp in Gefahr bringen?«
Luke hob sein Schwert. »Du hast ja nicht mal die Hälfte kapiert. Ich wollte dir das Vlies überlassen … wenn ich es nicht mehr brauche.«
Das ließ mich zögern. Warum wollte er mir das Vlies überlassen? Bestimmt log er. Aber er durfte seine Aufmerksamkeit nicht von mir abwenden.
»Du wolltest Kronos damit heilen«, sagte ich.
»Ja! Der Zauber des Vlieses hätte seinen Heilungsprozess zehnfach beschleunigt. Aber du hast uns nicht besiegt, Percy. Du hast uns nur ein wenig aufgehalten.«
»Und deshalb hast du den Baum vergiftet, hast Thalia verraten, hast uns ausgenutzt – alles, um Kronos bei der Vernichtung der Götter zu helfen?«
Luke bleckte die Zähne. »Das weißt du doch. Warum fragst du mich also?«
»Weil ich will, dass das ganze Publikum dich hört.«
»Welches Publikum?«
Er kniff die Augen zusammen. Dann schaute er sich um und seine Schlägerbande folgte seinem Beispiel. Sie schnappten nach Luft und wichen zurück.
Über dem Pool flimmerte im Regenbogendunst ein Iris-Message-Bild von Dionysos, Tantalus und dem gesamten Camp im Speisepavillon. Alle schwiegen verblüfft und starrten uns an.
»Na«, sagte Dionysos trocken. »Ziemlich außerplanmäßige Unterhaltung zum Essen.«
»Mr D, Sie haben ihn gehört«, sagte ich. »Ihr alle habt Luke gehört. Nicht Chiron ist schuld daran, dass der Baum vergiftet worden ist.«
Mr D seufzte. »Nein, wohl nicht.«
»Diese Iris-Message könnte ein Trick sein«, meinte Tantalus, konzentrierte sich aber mehr auf einen Cheeseburger, den er mit beiden Händen in die Enge zu treiben versuchte.
»Ich fürchte, nicht«, sagte Mr D und schaute Tantalus angeekelt zu. »Sieht aus, als müsste ich Chiron wieder als Unterrichtskoordinator einsetzen. Na ja, irgendwie fehlen mir auch die Binokelpartien mit dem alten Klepper.«
Tantalus schnappte sich den Cheeseburger. Der blieb, wo er war. Er hob ihn vom Teller hoch und starrte ihn so verblüfft an, als hielte er den größten Diamanten der Welt in Händen. »Ich hab ihn«, schrie er mit schriller Stimme.
»Wir brauchen deine Dienste nicht mehr, Tantalus«, verkündete Mr D.
Tantalus machte ein verdutztes Gesicht. »Was? Aber …«
»Du kannst in die Unterwelt zurückkehren. Du bist entlassen.«
»Nein! Aber … neiiiiiin!«
Er löste sich in Nebel auf, seine Finger umklammerten den Cheeseburger und versuchten, ihn zum Mund zu heben. Aber es war zu spät. Er verschwand und der Cheeseburger fiel zurück auf den Teller. Die Campbewohner brachen in Jubel aus.
Luke brüllte vor Wut. Er schlug mit dem Schwert auf die Fontäne ein und die Iris-Message verschwand, aber es war zu spät.
Ich war ganz schön zufrieden mit mir, aber dann drehte Luke sich um und bedachte mich mit einem mörderischen Blick.
»Kronos hat Recht, Percy. Du bist eine unzuverlässige Waffe. Du musst ersetzt werden.«
Ich wusste nicht, wie er das meinte, aber mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Jemand blies in eine Trillerpfeife und die Türen ins Schiff wurden aufgerissen. Ein Dutzend Krieger quoll heraus, bildete einen Kreis um uns und ließ die Messingspitzen ihrer Speere funkeln.
Luke lächelte mich an. »Du wirst dieses Boot nicht mehr lebend verlassen.«
Invasion der Partyponys
»Dann kämpf du doch mit mir«, forderte ich Luke heraus. »Wovor hast du Angst?«
Luke verzog den Mund. Die Soldaten, die uns töten sollten, warteten auf seinen Befehl.
Aber ehe er etwas sagen konnte, erschien Agrios, der Bärenmann, mit einem fliegenden Pferd an Deck – dem ersten ganz schwarzen Pegasus, den ich je gesehen hatte. Er hatte Flügel wie ein riesiger Rabe. Es war eine Stute und sie bäumte sich auf und wieherte. Ich konnte ihre Gedanken verstehen: Sie belegte Agrios und Luke mit so üblen Schimpfwörtern, dass Chiron ihr dafür das Maul mit Sattelseife ausgewaschen hätte.
»Sir«, rief Agrios und wich einem Pegasushuf aus. »Euer Ross ist bereit!«
Luke ließ mich nicht aus den Augen.
»Das habe ich dir schon vorigen Sommer gesagt, Percy«, erklärte er. »Du kannst mich nicht in einen Kampf locken.«
»Und du weichst dem Kampf aus«, sagte ich. »Schiss, dass deine Krieger sehen könnten, wie du zusammengefaltet wirst?«
Luke schaute zu seinen Leuten hinüber und wusste, dass er mir in die Falle gegangen war. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde er wie ein Weichei dastehen. Und wenn er gegen mich antrat, würde er wertvolle Zeit verlieren, die er brauchte, um Clarisse zu verfolgen. Ich konnte nur hoffen, dass es mir gelingen würde, ihn abzulenken, damit die anderen eine Chance zur Flucht hätten. Wenn irgendjemand eine Idee haben könnte, wie wir hier wieder herauskommen sollten, dann war das Annabeth. Leider wusste ich aber, dass Luke ein hervorragender Schwertkämpfer war.
»Ich werde dich ganz schnell töten«, entschied er und hob seine Waffe.
Rückenbeißer war dreißig Zentimeter länger als mein eigenes Schwert. Seine Klinge funkelte an den Stellen, wo menschlicher Stahl mit himmlischer Bronze verschmolzen war, in einem boshaften grauen und goldenen Licht. Ich konnte geradezu spüren, wie die Klinge mit sich selbst kämpfte wie zwei aneinandergefesselte gegenpolige Magneten. Ich wusste nicht, wie sie entstanden war, aber ich ahnte eine Tragödie. Jemand war dabei ums Leben gekommen. Luke pfiff nach einem seiner Leute und der warf ihm einen runden Schild aus Leder und Bronze zu.
Er grinste mich böse an.
»Luke«, sagte Annabeth. »Gib ihm doch wenigstens einen Schild.«
»Tut mir leid, Annabeth«, sagte er. »Zu dieser Party müssen alle ihre eigenen Ausrüstungsgegenstände mitbringen.«
Der Schild war ein Problem. Mit beiden Händen mit dem Schwert zu kämpfen, gibt mehr Durchschlagskraft, aber mit einer Hand und mit einem Schild zu kämpfen, bietet bessere Verteidigungsmöglichkeiten und größere Beweglichkeit. Es gibt mehr mögliche Züge, mehr Varianten – mehr Gelegenheiten zu töten. Und Luke hatte Jahre länger trainiert als ich.
Ich dachte an Chiron, der mir gesagt hatte, ich sollte unter allen Umständen im Camp bleiben und kämpfen lernen. Jetzt würde ich dafür bezahlen, dass ich nicht auf ihn gehört hatte.
Luke holte aus und hätte mich mit dem ersten Schlag fast umgebracht. Sein Schwert fuhr unter meinem Arm durch, riss mein Hemd auf und streifte meine Rippen.
Ich sprang zurück und parierte mit Springflut, aber Luke stieß meine Klinge mit seinem Schild zur Seite.
»Eingerostet, Percy«, spottete er. »Du bist aus der Übung.«
Er griff mich wieder an und zielte auf meinen Kopf. Ich schlug wütend zurück. Er konnte meinem Schwert mit Leichtigkeit ausweichen.
Die Wunde über meinen Rippen brannte. Mein Herz hämmerte. Als Luke wieder zuschlug, sprang ich rückwärts in den Swimming-Pool und plötzlich stieg neue Kraft in mir auf. Ich wirbelte unter Wasser herum, ließ eine Blasenwolke aufsteigen und sprang aus der Tiefe heraus direkt auf Luke zu.
Die Kraft des Wassers warf ihn um, er spuckte und war wie geblendet, doch ehe ich zuschlagen konnte, rollte er zur Seite und stand schon wieder vor mir.
Ich griff an und säbelte den Rand von seinem Schild, aber das beeindruckte ihn nicht weiter. Er ging in die Hocke und schlug nach meinen Beinen. Plötzlich brannte mein Oberschenkel – es tat so weh, dass ich zusammenbrach. Meine Jeans waren über dem Knie zerfetzt. Ich war verletzt, ich wusste nicht, wie arg. Luke zielte weiter nach unten und ich rollte hinter einen Liegestuhl. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine trugen mein Gewicht nicht.
»Perrrcy«, meckerte Grover.
Ich rollte wieder zur Seite, als Lukes Schwert den Liegestuhl zerteilte, samt Metallgestell und allem.
Ich kroch auf den Swimming-Pool zu und gab mir alle Mühe, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde. Luke wusste das auch. Langsam und lächelnd kam er näher.
»Eins sollst du noch miterleben, ehe du stirbst, Percy.« Er sah den Bärenmann Oreios an, der immer noch Annabeth und Grover am Schlafittchen gepackt hatte. »Du kannst jetzt dein Abendessen verzehren, Oreios. Bon appétit.«
»Höhö. Höhö!« Der Bärenmann hob die beiden hoch und bleckte die Zähne.
Und dann brach der ganze Hades los.
WUSCH!
Ein Pfeil mit roten Federn ragte aus Oreios’ Mund. Mit einem überraschten Ausdruck in seinem behaarten Gesicht zerbröckelte er auf dem Deck.
»Bruder«, heulte Agrios. Er ließ die Pegasuszügel gerade lange genug los, dass die schwarze Stute ihm einen Tritt vor den Kopf geben konnte und dann über die Bucht von Miami davonflog.
Für den Bruchteil einer Sekunde waren Lukes Leute zu verblüfft, um mehr zu tun, als zuzusehen, wie die Körper der Bärenzwillinge sich in Rauch auflösten.
Dann hörten wir wildes Kriegsgeschrei und Hufe, die über Metall donnerten. Ein Dutzend Zentauren kam von der Hauptreppe herangaloppiert.