2. TEIL. Die Vertreibung der Nacktlinge

Mozzarella

Die Heizkörper waren eingeschaltet worden. In der Welt draußen verhüllte der Bart des alten Mannes die Hecke. Rasch verbreitete sich unter den Mäusen die Nachricht vom Wechsel der Jahreszeiten. Die Außenmäuse trugen den Hausbewohnern die Neuigkeit zu. Die Revolution stand unmittelbar vor dem Ausbruch und würde auf das ganze Haus übergreifen. Die Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund, von Nest zu Nest, von Stamm zu Stamm. Die Mäuse krochen aus ihren Löchern und Schatten ans Licht. Alle Stämme erhoben sich wie eine einzige Nation. Sie verfolgten ein gemeinsames, wahrhaftes und gerechtes Ziel.

Und so begann die Vertreibung der Nacktlinge.

Jeder Stamm führte die Aktionen durch, die man ihm zugewiesen hatte. Die Buchfresser zernagten die elektrischen Leitungen, die unter den Bodenbrettern und zwischen der Decke und dem oberen Stockwerk verliefen. Die Wilden zerbissen Mehlsäcke, verschütteten Bohnen, verstreuten Getreidekörner. Die Totenköpfe knabberten an den Gasleitungen. Die 13-K richteten als waschechte Rebellen Verwüstungen in den Schränken und Schubladen an und nagten Löcher in Kleidungsstücke. Die Unsichtbaren kümmerten sich um die Wasserleitungen auf dem Dachboden und hofften auf eine große Überschwemmung. Die Stinkmorcheln wurden von Gorm ins Wohnzimmer getrieben. Zitternd verbargen sie sich unter der Porzellanvitrine, bis sie wieder zurück in ihren Keller durften.

Selbst Kellog schloß sich der Revolution an und vergiftete das Wasser im Tank mit toten Schnecken, Würmern, Unkraut, Erbrochenem, Mäusekot und unidentifizierbaren Schleimklumpen. Fäulnis und Gestank waren seine Sache. Er empfand höchste Befriedigung, wenn etwas verrottete und üble Gerüche verströmte. Er schaute mit Begeisterung zu, wie sich das Wasser in ein häßliches Gelb verfärbte. Er bevorzugte stehende Gewässer, da sie sich nahtlos in die Philosophie seiner Art einfügten: Kloaken und Jauchegruben.

Mit dem Fortschreiten der Vertreibung der Nacktlinge wuchs auch Kellogs Anmaßung. Er träumte von seiner zukünftigen Machtstellung. Nach der Revolution, wenn die Nacktlinge verschwunden waren, würde er der unbestrittene Herrscher des Hauses sein. Kellogs Ego wuchs ins Unermeßliche, und er sah sich als Erwählten der Götter, als König der Ratten.

Eines Nachts verstieß er gegen seine eigenen Regeln, quetschte sich durch Claudes Loch und schlüpfte ins Innere des Hauses. Die Nacktlinge schliefen, und die Katzen hielten sich um diese Zeit im Garten auf. Die Mäuse waren damit beschäftigt, an Kabeln und Leitungen zu knabbern. Kellog schlenderte über den Treppenabsatz, als gehöre er ihm bereits. In seinem Geist stoben die Nacktlinge in alle Richtungen davon.

»Süße Zuckermaus«, krähte eine Stimme aus einem der Schlafzimmer. »Der Kleine Prinz riecht dein saftiges Fleisch. Süßes Honigmäulchen ...«

Kellog kauerte sich auf die Schwelle und schaute zum Käfig mit der weißen Maus hin.

». liebliche - hm - äh - Ratte?«

Kellog machte einen Buckel und fletschte die Zähne.

Die weiße Maus starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und sagte verwirrt: »Zeit zum Schlafen, Kleiner Prinz.« Sie legte sich auf ihr Bett aus Sägespänen und schloß die Augen.

Kellog beobachtete sie noch eine Weile und lief dann wieder auf den Treppenabsatz hinaus. Er glitt die Stufen in die Halle hinunter, von wo aus er durch das Gwenllian-Loch in den Schutz der Wände und Zwischendecken zurückkehren wollte. Er ging ein Risiko ein, doch er hatte sich etwas beweisen müssen: daß er nun vor den Nacktlingen keine Angst mehr hatte.

Plötzlich schleppte sich ein triefäugiger Spaniel durch die Wohnzimmertür. Er blieb auf der Schwelle stehen, blinzelte und starrte Kellog verwundert an. Dann zuckte er mit den seidig glänzenden Schlappohren.

Kellog wollte losrennen. Da fiel ihm ein, daß es sich um den alten Hirnlos handeln mußte, von dem die Mäuse immer sprachen. Er war angeblich das langsamste Geschöpf auf Erden und hatte noch niemals eine Maus gefangen. Seine Zähne waren vermutlich stumpf und vollkommen nutzlos.

»Steck deinen blöden Kopf woanders hin!« fauchte Kellog.

Die wenigen Worte verliehen dem Hund ungeahnte Dynamik und Energie. Hirnlos startete durch wie eine abgeschossene Kugel. Sein Maul stand offen, das Gesicht erstrahlte in grenzenloser Freude. Seine Augen wirkten plötzlich klar und funkelten. Die Arthritis schien aus den Gelenken gewichen. Die Nasenlöcher blähten sich. Von einer Sekunde zur anderen hatte sich Hirnlos in einen angriffslustigen Jäger verwandelt.

Kellog sauste die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Hirnlos, der nach seinem Schwanz schnappte. Kellog hämmerte das Herz in der Brust. Seine Beine wirbelten wie Trommel stöcke, die Füße berührten kaum die Stufen. Vor Anstrengung quollen ihm die Augen aus dem Kopf. Er wußte, daß er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Hirnlos verfügte über eine geheime Kraftreserve, die durch den Anblick Kellogs schlagartig freigesetzt wurde. Der Höllenhund war direkt hinter ihm - mit loderndem Blick, schnappenden Kiefern, kraftvollen Beinen. Er dachte nicht nach, wurde nur von seinem Instinkt getrieben, der sich bei den Rattenjagden seiner Jugendjahre gebildet hatte.

Die ruhmreichen Stunden der Vergangenheit waren der Grund für die Geschmeidigkeit und Vitalität des Spaniels: Stunden in den Gräben, in denen ihn sein Herr mit den Worten »töten, töten, töten« vorantrieb. Damals hatte er Dutzende von Ratten erlegt. Er war ein hervorragender Rattenjäger gewesen, und der Klang bestimmter Worte konnte ihn noch immer in äußerste Erregung versetzen. Ein Nacktling mußte nur leise den magischen Befehl flüstern, und schon schnüffelte Hirnlos in jeder Ecke des Zimmers und stieß dabei polternd die Möbel um.

Kellog schoß durch die Beine des Hundes in eine Ecke der Halle. Hirnlos schlug einen makellosen Salto und jaulte in Ekstase. Seine Pfoten schlitterten quietschend über das Linoleum. Er interessierte sich nicht sonderlich für Mäuse und jagte sie eher halbherzig. Doch wenn Ratten in der Nähe waren, vergaß er alle Altersbeschwerden und machte sich verjüngt an die Jagd.

Kellog rannte japsend wieder in Richtung Treppe. Hirnlos schnappte nach seinen Hinterbeinen. Die Dachratte sprang alle Stufen auf einmal hinunter und landete mit einem hörbaren Plumpsen. Hirnlos stürzte hinterher, doch Kellog hatte sich schon aufgerappelt, schoß erneut durch die Halle und verschwand im Gwenllian-Loch. Eigentlich war es den Mäusen vorbehalten, doch die große Ratte glitt mühelos hinein.

Unter den Dielenbrettern angekommen, rang Kellog nach Luft. Er lag flach auf dem Bauch und hörte, wie der Hund über ihm jaulte und auf dem Boden scharrte. Eine Maus kam vorbei und starrte die Ratte neugierig an.

Die Maus eilte weiter und fragte sich, welches Geschöpf die Ratte wohl in diesen Zustand versetzt hatte. Eine Katze? Oder ein Fuchs? Die Ratte mußte Entsetzliches durchgemacht haben.

Der Ausflug hatte Kellog beinahe das Leben gekostet. Er schleppte sich mühsam zu seinem Nest und schwor dabei, daß er den Schutz der Wände und Zwischendecken erst wieder verlassen würde, wenn die Nacktlinge endgültig das Haus verlassen hatten. Sie und ihr Höllenhund.

Das Haus war wie geschaffen für die Bemühungen der Stämme, die Nacktlinge aus seinen Mauern zu vertreiben. Einige Mäuse meinten, das Haus selbst sei auf ihrer Seite und biete sich für Sabotageakte förmlich an. Wasser floß ungehindert aus seinen Wunden, Stromkabel sprühten Funken, Gas zischte aus verschiedenen Löchern. Manche Teile des Hauses waren über die Jahre hinweg von selbst verrottet. Sie wurden eine Gefahr für jedes Lebewesen, das größer als ein durchschnittliches Nagetier war. Dachziegel rutschten herunter, Abflußrohre waren mit Haaren verstopft, Wasserbehälter durch klebrige Klumpen blockiert.

»Schicksal!« schrie Frych die Gefleckte. »Es mußte so kommen!«

In den ersten Stunden der Revolution starben zwei Mäuse. Eine fiel Augapfel zum Opfer, die mit der Leiche spielte, bis der Kopfjäger sie für seine ruchlosen Zwecke beschlagnahmte. Die andere wurde vom Küchennacktling mit einem Brotmesser aufgespießt. Er warf den Körper in den Abfalleimer, wo Spuck ihn entdeckte. Zum Abscheu und Entsetzen der verborgenen Zuschauer verschlang der Kater die noch zuckende Maus und erbrach sich prompt auf den Küchenboden. Hirnlos eilte herbei und schnüffelte mit offensichtlichem Interesse an dem Gegenstand in der Lache, bis man ihn davonjagte.

»Niemand hat gesagt, es sei ungefährlich«, brummte Gorm, der in einem Schrank eine Versammlung einberufen hatte.

»Niemand hat behauptet, wir brauchten keinen Mut für diese Aktion.«

»Aber«, flüsterte Tostig, »schon zwei Mäuse.«

»Du feiger Fettsack!« brüllte Gorm seinen Bruder an. »Wer bist du eigentlich? Niemand in meinem Stamm jammert über die Gefallenen, kapiert? Einer, zwei oder auch drei - was bedeutet das schon für die Wilden? Aber ich werde dich ausnahmsweise nicht züchtigen und dich deinem Gewissen überlassen. Wir stimmen ab, ob die Revolution fortgesetzt wird. Alle, die weitermachen wollen, verlassen die Versammlung

Kurze Pause, Füßescharren, Stille.

Gorm kreischte los: »Was, du bist noch hier, Tostig? Hau ab, bevor ich dich in den Hintern beiße.«

»Aber du hast gesagt -«

»Was ich sage und was ich meine, sind zwei völlig verschiedene Dinge«, fauchte Gorm. »Wir sind als einzige übriggeblieben - ich nehme an, du hast gesehen, wie rasch die anderen verschwunden sind. Sie drängten sich schon am Ausgang, bevor ich meinen Satz beendet hatte. Warum wohl, Tostig? Etwa nur, weil sie unbedingt die Vertreibung fortsetzen wollen?«

»N-nein, Gorm - weil sie Angst vor dir haben.«

»Bemerkenswerte Erkenntnis für ein Gehirn deiner Größe. Und du hast keine Angst vor mir, was?«

»Ich g-gehe jetzt, Gorm«, wimmerte Tostig.

»Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann, Bruder«, grunzte Gorm.

Solche Szenen waren typisch für die Frühzeit der Revolution, doch bald widmeten sich die Mäuse wieder ganz ihren Aufgaben. Sie nagten an Stromkabeln, rissen Kissenfüllungen heraus, gruben sich durch Matratzen, knabberten die Kleider in Schubladen und Schränken an, zernagten Teppiche und Matratzen, arbeiteten sich durch Holz und Gips. Im ganzen Haus tauchten neue Löcher auf, und alte wurden wiederentdeckt und vergrößert. Die Korkfliesen im Badezimmer wurden völlig zerstört. Im Wohnzimmer hing das Tischtuch in Fetzen herunter. In den Schlafzimmern wurden die Vorhänge von den Haken genagt.

Es gab auch außergewöhnliche Beweise des Mutes und der Opferbereitschaft. Ein Totenkopf unternahm eine Selbstmordexpedition, indem er in ein Abflußrohr kroch und es mit seinem Körper blockierte. Die Belohnung erwartete die Maus im Totenkopf-Himmel. Adlerauge, ein Unsichtbarer, verfing sich in den Sprungfedern einer Matratze und mußte acht Stunden dort verweilen. Währenddessen schlief über ihm ein Nacktling und tat unaussprechliche Dinge (das heißt, unaussprechlich für jeden außer Furz und Fusel). Als Adlerauge schließlich die Freiheit wiedererlangte, dauerte es weitere acht Stunden, bis sich seine Lungen wieder erholt hatten.

In der zweiten Nacht der Vertreibung starb Cadwallon, der Buchfresser. Er besaß schöne, starke Zähne, die er an zahlreichen Büchern gewetzt hatte. Ihm gelang es als erstem, ein Stromkabel durchzunagen.

Zeugen sprachen später von zuckenden blauen Blitzen und einem Funkenregen. Cadwallons Gliedmaßen wurden steif wie Äste, sein Fell knisterte und qualmte, dann verbreitete sich ein Schmorgeruch, der noch Stunden später in der Luft hing. Zu seinen Ehren legte man ein neues Loch an.

Niemand wußte, wer das Feuer gelegt hatte, das in einem Schlafzimmer ausbrach und diesen Raum, ein Badezimmer und einen Teil des Treppenabsatzes vernichtete. Manche behaupteten, Hywel der Böse habe eine Litze durchgenagt; Jago hingegen rühmte sich, er habe in einem derart atemraubenden Tempo Löcher in ein Bettlaken gefressen, daß die Reibung das Feuer entfachte.

Wer es auch war, die Flammen loderten furchterregend in die Höhe. Wie Ungeheuer verschlangen sie knackend und knisternd alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Zimmer waren erfüllt von Glut, Rauch und Gestank.

Der Geruch von Rauch setzte in den Mäusen tiefverwurzelte Ängste frei, die in Gedächtnisnischen die graue Vorzeit ihrer Rasse überdauert hatten. Damals vernichteten riesige Steppenbrände große Grasflächen, den Lebensraum ihrer Vorfahren. Später kamen dann Waldbrände und in noch jüngerer Zeit die Infernos, bei denen ganze Städte in Schutt und Asche gelegt wurden - die Häuser stammten aus einer Zeit, in der die Riesenschnecken noch mit Holz gebaut hatten.

Die Gedächtnisnischen öffneten sich, und ihr Inhalt überflutete die Mäusehirne. Die Erinnerungen waren grauenhaft: blin-des Herumrennen ohne Ziel, Nasen und Lungen, in denen die heiße Luft brannte, schmorendes Fell und Fleisch, verzehrender Schmerz.

Aber das jetzige Feuer hatten sie selbst entfacht, um sich die Nacktlinge vom Hals zu schaffen.

Diese waren in heller Aufregung. Sie drehten die Wasserhähne auf und hielten hoffnungsvoll Eimer darunter. Nach einer Weile quoll grünlicher, stinkender Schleim heraus - Kel-logs Werk. Der Gestank verbreitete sich im ganzen Haus.

Dann kamen weitere Nacktlinge mit glänzenden Metallhelmen. Sie löschten das Feuer mit Schläuchen und verursachten dabei beträchtlichen Schaden. Das Schlafzimmer war schwarz verkohlt, nun kamen noch Wasser und Löschschaum hinzu. Da sich dort keine Mäusenester befanden, nahmen die Nager wenig Schaden. Die Treppe wurde überflutet, Wasser floß in die Schränke; das Wohnzimmer lag genau unter dem Brandherd, und die Decke wurde so durchnäßt, daß der Putz herunterfiel. Abgesehen von einigen überschwemmten Gängen in der Zwischendecke blieben die Mäuse von der Zerstörung verschont.

Trödler begeisterte sich wie alle anderen für die Sabotageakte. Er trug einen Teil der Verantwortung für die Verwüstung der Aspidistra im Salon. Er zernagte die Blätter und urinierte auf die Wurzeln, was der Pflanze den Rest gab. Das Haus schwappte über vor Mäusestolz. Zum ersten Mal seit Mäusegedenken herrschte Eintracht unter den Stämmen, waren sie durch ein gemeinsames Ziel zusammengeschweißt. Sie fühlten sich alle wie Brüder und Schwestern und rieben die Nasen aneinander.

Selbst den Stinkmorcheln brachte man eine gewisse Achtung entgegen, da sie das Siegel an einem Faß durchnagten und den Keller überfluteten.

»Ganze Arbeit, was, Meister?« sagte Furz mit stolzgeschwellter Brust zu Gorm. »Nimmst mich bald in deinen Stamm auf, was?«

»Nur über meine Leiche«, brummte Gorm.

»Danke, Chef«, erwiderte Furz demütig. »Hab's doch gut gemacht.«

Insgesamt waren die Stämme mit Freude bei der Arbeit, allen voran die 13-K, die als anerkannte Abtrünnige besonders froh waren, am Krieg teilzunehmen.

Rutland

Trödler sauste durch die Luft und fiel schmerzhaft auf den Rücken. Er blieb einen Augenblick betäubt liegen, bevor er sich mit klopfendem Herzen aufrappelte. Staubwolken vernebelten den ganzen Dachboden. Mäuse krochen aus Nestern und Löchern, wo sie stillvergnügt an irgend etwas genagt oder vor sich hin gedöst hatten.

»Was ist los?« schrie jemand.

»Keine Ahnung«, rief eine andere Maus. »Ist jemand verletzt? Wo sind meine Jungen?«

In Trödlers Ohren dröhnte es noch. Als er wieder klar denken konnte, machte er sich auf die Suche nach Leichtfuß. Die Unsichtbare war seine Nestgefährtin geworden, und sie bewohnten ein maßgeschneidertes Heim in einer Höhle unter den Dachziegeln. Sie lag wie tot neben dem Wassertank. Trödler stieß sie mit der Nase an, und Leichtfuß schlug die Augen auf.

»Wo bin ich?« fragte sie verwirrt.

»Du warst ohnmächtig. Alle Knochen heil?«

Sie rollte sich auf den Bauch und lag zitternd da. »Ich glaube, ja«, murmelte sie.

»Keiner weiß, was passiert ist. Möglicherweise hat es etwas mit der Vertreibung zu tun. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß Gorm in der Lage ist, solche Kräfte zu entfesseln. Das war vielleicht ein Knall! Ich sehe mich mal um. Du bleibst hier und ruhst dich aus.« Trödler nahm das nächste Ausgangsloch und huschte durch verschiedene Tunnel, bis er einen starken Luftzug spürte. Als er durch das Gwenllian-Loch in die Halle schlüpfte, bot sich ihm ein Bild der Zerstörung.

Überall türmten sich zersplitterte Holzstücke und andere Trümmer. Ein bleichgesichtiger Nacktling starrte auf die klaffende Öffnung, die einmal der Schrank unter der Treppe gewesen war.

Die dreieckige Tür war verschwunden, oder besser gesagt, sie lag in kleinen Stücken und Splittern in der ganzen Halle verteilt. In der Luft hing ein starker Gasgeruch. Ein Nacktling hatte die Tür zum Garten geöffnet, damit das Gas abziehen konnte. Allem Anschein nach war die Leitung explodiert.

Die Nacktlinge betrachteten den ehemaligen Versammlungsort der Mäuse und brabbelten einander etwas zu. Kurz darauf kamen andere aus dem Obergeschoß und gingen geradewegs auf die Überreste des Schrankes zu. In den Händen trugen sie seltsame Metallgeräte. Trödler hörte, wie sie sich im Schrank zu schaffen machten, um die zerstörte Leitung zu reparieren. Dann ging er zum Dachboden.

Leichtfuß hatte sich bei seiner Rückkehr vollkommen erholt. Trödler berichtete, was er in der Halle gesehen hatte, und fand immer mehr interessierte Zuhörer. Selbst Kellog saß auf seiner Seite des Tanks und lauschte Trödlers Geschichte. Gnadenvoll hatte im Augenblick der Explosion den Dachboden verlassen. Daher behielten alle ihr Einflugloch im Auge. Die Menge hörte sich Trödlers Bericht über die Vorkommnisse unten im Haus an. Danach zogen sich alle in ihre Nester zurück, um die Lage zu erörtern.

In den nächsten Stunden herrschte fieberhafte Aktivität. Botschafter rannten zwischen den Stämmen hin und her und informierten über den Stand der Dinge unten im Haus. Gorm prophezeite einen frühen Sieg der Mäuse.

Währenddessen erfreuten sich der Kopfjäger und sein kanni-balisches Kuscheltier an den herumliegenden Mäuseleichen. Oft klangen die seidenweichen Worte des Kleinen Prinzen aus dem Zimmer: »Köstliches Mäusefleisch, o wie lieblich! Koche es mir weich und zart, mild und süß.«

Die Stromleitungen hatten Schaden genommen, die Wasserversorgung war stellenweise zusammengebrochen, und es war zu Überschwemmungen gekommen. Das Gas hatte erstklassige Arbeit geleistet, von den Schäden an der Einrichtung ganz zu schweigen. Einer der alten Nacktlinge hatte das Haus bereits verlassen - in einem weißen Kasten auf Rädern. Die anderen Nacktlinge legten wie im Rausch überall Gift aus und stellten Fallen auf. Doch so dumm waren die Mäuse nicht. Sie kannten diese Mittel bereits. Manche Gifte hinterließen nur eine leichte Übelkeit. Man konnte sie fressen, ohne größeren Schaden zu nehmen.

Kellog hatte ihnen mehrmals über den Tank zugerufen, daß sich der Plan seiner Meinung nach gut entwickle. »Vielleicht schafft ihr verrückten Mäuse es tatsächlich«, meinte er.

Ein Buchfresser, der zu Besuch gekommen war, schaute von seinem Aussichtspunkt auf einem Schrankkoffer zu Kellog hinüber. »Verrückt? Und das aus dem Munde eines Neuroti-kers mit soziopathischen Tendenzen.«

Kellog genoß die Situation. Es gab immer genug zu fressen, doch noch mehr wäre auch nicht schlecht gewesen. Wenn die Nacktlinge und ihr rattenjagender Spaniel verschwunden waren, würde er die uneingeschränkte Herrschaft übernehmen. Er konnte kommen und gehen, wie es ihm gefiel, Mäusekinder fressen und bei Bedarf die eine oder andere erwachsene Maus töten. Der Herr der Finsternis würde aus seiner Burg herabsteigen und das Gebiet der armen Untertanen verwüsten. Und kein Nacktling würde ihn je wieder bedrohen.

Und wie stand es mit Gnadenvoll? Wer wußte schon, was in ihrem Kopf vorging? Welche eisigen Wüsten erstreckten sich hinter den unergründlichen Augen dieses Raubvogels? Wer begriff den tieferen Sinn des flinken Angriffs von gebogenem Schnabel und nadelspitzer Kralle, der aus dem Nichts kam und sekundenschnellen Tod bedeutete?

Folglich interessierte sich niemand für Gnadenvolls Ansichten zur Vertreibung der Nacktlinge. Keiner wußte, ob sie überhaupt bemerkte, was im Haus geschah. Ihr Tagesablauf blieb immer gleich, sie schlief und tötete und fragte niemand nach seiner Meinung.

Trödler war tief in Gedanken versunken und soeben zu dem Schluß gelangt, daß es ihm eigentlich Spaß machte, »der Eine« zu sein, als ein Bote von unten den Dachboden betrat.

»Da passiert etwas!« schrie Nichtschwimmer aufgeregt. »Die Nacktlinge haben das Haus verlassen und stehen jetzt am Ende des Gartens. Sie haben die Haustiere mitgenommen. Und ein Nacktling kommt aufs Haus zu. Er sieht böse aus.«

Trödler bemerkte Angst in Nichtschwimmers Stimme. Ihn überlief ein kalter Schauer. Was meinte die Maus mit »böse«?

Nichtschwimmer fuhr aufgeregt in seinem Bericht fort: »Der Nacktling ist schwarz gekleidet und trägt eine Art Tonne auf dem Rücken. Aus der Tonne kommt ein Schlauch mit einer dicken Schnauze am anderen Ende. Und dann sein Gesicht -und die Augen -«

»Was ist damit?« schrie Leichtfuß, offensichtlich angesteckt von Nichtschwimmers Angst.

»Sie sind hinter diesen Glaskreisen. Ich meine, der Nacktling trägt so eine Art Gummigesicht mit Glasscheiben und ein Ding, mit dem er atmen kann.«

»Moment mal«, fiel Trödler ein. »Ich begreife das alles nicht. Anscheinend habt ihr vor irgend etwas Angst. Kennt ihr solche Wesen? Gibt es Geschichten von ihnen?«

Leichtfuß schaute ihn voller Entsetzen an. »Aber ja! Nichtschwimmer beschreibt gerade einen unserer schlimmsten Alpträume. Den Gasmacher. Die Maske schützt den Nacktling vor dem Gas, aber wir werden alle sterben!«

In diesem Augenblick erscholl ein gemeinsamer Schrei auf dem Dachboden und im ganzen Haus, da Erinnerungen wie Seifenblasen in die Mäusehirne stiegen.

»Gas! Das Gas kommt!«

»Schnell«, rief Trödler, als habe er sich ein Leben lang auf diesen Notfall vorbereitet, »wir müssen alle ins Labyrinth hinunter. Diesmal wird uns Tunnelgräberin nicht angreifen.«

»Ja, wir müssen auf dem schnellsten Weg dorthin«, stimmte Leichtfuß zu.

Mäuse strömten aus allen Löchern, huschten durch Zimmer, über Dachbalken, hinter Fußleisten entlang. Auch Kellog hatte die allgemeine Panik bemerkt und sich ebenfalls auf den Weg zum Labyrinth unter dem Haus gemacht.

Trödler und Leichtfuß erreichten mit als letzte das Loch in der Eingangshalle und sahen, wie der schreckliche Gasmacher durch die Haustür kam und sie hinter sich zuknallte. Trödler blieb stehen und schaute an der gigantischen Gestalt mit ihrem monströsen Gesicht aus Gummi und Glas empor. In den Glasscheiben spiegelte sich das Lampenlicht. Aus dem Inneren der Maske drang lautes Atmen. Der Gasmacher schaute sich um. Trödler konnte einfach nicht den Blick von dem häßlichen Tank und der schwarzen Rüsselschnauze abwenden, aus der das Gas strömen würde. Er stand wie festgefroren und starrte auf die grauenhafte Erscheinung. Leichtfuß riß ihn aus seiner Trance, und er folgte ihr rasch in den Keller. Von dort aus eilten sie in die Mitte des Labyrinths.

Der Gasmacher verstand sich auf seine Arbeit und hatte den Ausgang zum Garten bereits versperrt. Irgendwann konnte man den Stöpsel durchnagen und die alten Wege wieder freimachen, doch im Augenblick war den Mäusen der Weg in den Garten und damit in den besten Schutz vor der Vergasung verwehrt.

In der zentralen Höhle des Labyrinths saß Tunnelgräberin, die ebensolche Angst vor dem Gas hatte wie alle anderen. Sie kauerte reglos da, während sich die anderen Mäuse um sie versammelten. Normalerweise hätte sie geschrien und wilde Drohungen ausgestoßen, doch dieser Tag war kein normaler Tag. Heute hockte sie einfach wie betäubt da und wartete mit allen anderen auf das Gas.

Auch Kellog hatte sich in einem der zahlreichen Tunnel verkrochen.

In der Menge herrschte allgemeiner Friede. Nur wenige Mäuse erhoben die Stimme. Die meisten kauerten wie Tunnel-gräberin auf dem Boden und warteten auf das Ende der tödlichen Bedrohung. Sie hatten sich nach Stämmen zusammengefunden: Die Buchfresser drängten sich um Frych die Gefleckte, die 13-K um Ulf und Drenchie, Gorm der Alte war von seinen Wilden umgeben, die Unsichtbaren lagen bei Wisperer, die Totenköpfe und Stinkmorcheln kauerten von den anderen entfernt in ihren Ecken.

Alle spürten es instinktiv, als der Gasmacher den Keller betrat. Jeder stellte sich den Schweineschnauzenrüssel vor, der das Gas in dichten Wolken hervorrülpste. Jeder malte sich aus, wie das Gas durch das Labyrinth kroch, den runden und ovalen Gängen folgte und einen aufspürte. Trotz des verstopften Ausgangs drang an anderen Stellen durch winzige Risse und Spalten Luft aus der Außenwelt herein. Dieser kühle Hauch wehte durchs Labyrinth und formte sich zu einem Luftzug, der ausreichte, um das Gas von der Mitte des Labyrinths fernzuhalten.

Dann kam der Augenblick, in dem die Mäuse, die am Rand des Labyrinths hockten, das Gas riechen konnten. Es mußte sehr nahe sein.

Sie warteten.

Irgendwann begriffen sie, daß die Gefahr vorüber sein mußte. Das Gas war nicht bis zu ihnen vorgedrungen. Ein allgemeiner Seufzer erscholl. Der Geruch hing noch in den Gängen des Labyrinths, doch der Gasmacher war nicht mehr da. Der Luftzug hatte sie tatsächlich vor dem Tod bewahrt.

Leichtfuß streichelte Trödlers Hals. Flüstern und Gemurmel zeigten die allgemeine Erleichterung an, und bald erfüllten Freude und Triumph die Luft. Selbst Gorm verzichtete darauf, seine Nachbarn anzufauchen, und pries ihre wunderbare Rettung.

Sie mußten noch eine ganze Weile unten bleiben. In dieser Zeit nagten Ulf und Drenchie schon an dem Stöpsel zum Garten. Das Loch wurde zwar nicht groß genug, um eine Maus durchzulassen, aber der Wind pfiff durch die Tunnel und wehte den letzten Rest des tödlichen Gases davon.

Schließlich gingen sie in den Keller zurück. Furz rief: »Hier entlang, durchs Stinkmorchel-Gebiet! Haben nichts dagegen, wenn ihr unsern Keller benutzt, was, Fusel? Ist unser Geschenk für die Mäusenation ...«

»Halt die Klappe«, knurrte Gorm.

Nicht alle Mäuse konnten wie auf dem Hinweg durch die Halle und die Treppen hinauflaufen, da jetzt zu viele Nacktlinge im Haus waren, ganz abgesehen davon, daß sich Augapfel und Spuck dort herumtrieben. Also mußten sie einzeln oder paarweise den Rückweg antreten, von Schatten zu Schatten huschen, bis sie das Loch erreicht hatten, das ins Innere der Wände führte.

Im Nest angekommen sagte Trödler zu Leichtfuß: »Ich bin froh, daß es vorbei ist. Kann das auch zweimal hintereinander passieren?«

»Habe ich noch nie gehört.«

Beide wußten, daß sie Zeugen eines Ereignisses geworden waren, das in die Annalen der Mäusehistorie eingehen und von Generation zu Generation überliefert werden würde. Zweifellos würden sich mit der Zeit immer neue Ausschmückungen darum ranken, bis Helden und Heldinnen aus ihnen wurden, die einzigartige Taten vollbracht hatten, bis sich Fakten in Fiktion und Geschichte in Mythologie verwandelte.

Sage Derby

Wie alle anderen stammübergreifenden Versammlungen wurde auch diese im mittlerweile reparierten Schrank unter der Treppe abgehalten. Gorm der Alte führte selbstverständlich den Vorsitz. Jeder Stamm hatte mindestens drei Vertreter entsandt. Trödler spürte, daß die Revolution in eine Krise geraten war, und wartete gespannt auf neue Vorschläge.

Gorm eröffnete die Versammlung auf seine übliche brummige Art. »Wir scheinen auf der Stelle zu treten«, verkündete er. »Das Feuer hätte sie eigentlich vertreiben sollen. Der Fehlschlag der Vergasung war zwar ein großer Triumph für uns Mäuse, brachte unser Vorhaben aber nicht voran. Daher würde ich jeden Vorschlag begrüßen -«, er hielt inne und warf den Stinkmorcheln einen strengen Blick zu, »- das heißt jeden vernünftigen Vorschlag, wie wir mit der Revolution fortfahren sollen. Wir haben es mit Gasexplosionen, Feuer, Überschwemmungen und organisiertem Nagen probiert. Nichts hat ausgereicht, die Nacktlinge aus dem Haus zu vertreiben. Was nun?«

»Magie«, meinte Frych die Gefleckte. »Schwarze Magie, Macumba, Voodoo - alle Formen der Zauberei. Gruffydd Grünzahn ist in der Hexenkunst erfahren. Zweifelsohne könnte er ein Blendwerk heraufbeschwören, mit dem sich die Nacktlinge vertreiben ließen.«

Gorm nickte. »Das können wir versuchen, obwohl ich nie viel übrig hatte für diese Gaukelei. Was noch? Wisperer, wie wäre es mit einem Vorschlag von seilen der Unsichtbaren?«

»Wir haben unser Bestes getan«, dröhnte Wisperer. »Wir können eine weitere Überschwemmung organisieren, indem wir den Stöpsel des Wassertanks durchnagen. Allerdings würde das Kellog nicht sonderlich gefallen. Er betrachtet den Tank als seinen persönlichen See und hat bereits ein - mißlungenes – Attentat auf Nichtschwimmer verübt.«

»Also bleibt uns nur der faule Zauber. Na gut. Wenn die Magie versagt, müssen wir Ulug Beg zu Hilfe rufen. Ist Tolpatsch bereit, über die Wäscheleine zu laufen und den Weisen auf dem Rücken zu uns zu tragen?« fragte Gorm.

Da Tolpatsch anwesend war, konnte sie für sich selbst sprechen. »Huckepack über eine Wäscheleine ist ein gefährliches Unternehmen, aber wenn es sein muß, werde ich es tun.«

»Sonst noch Ideen?« fragte Gorm.

Astrid richtete sich auf. Ihr Anführer stöhnte.

»Du weißt vermutlich, was ich dir sagen will, weil du es schon einmal gehört hast. Ich betrachte es als meine Pflicht, dich immer wieder zu warnen. Solltest du weiterhin versuchen, die Nacktlinge zu vertreiben, wird blanker Terror unter den Mäusen ausbrechen. Ich sehe schreckliche Zeiten kommen, düstere Zeiten. Ich höre die mitleiderregenden Schreie gequälter Mäuse, denen niemand hilft. Ich sehe die ausgemergelten Gesichter, die hohlen Augen, die mageren Schwänze. Ich höre Mütter um ihre Jungen weinen. Ich sehe, wie sich Maus gegen Maus wendet. Es wird Pest und Entbehrung, Furcht und Haß, Hunger und Tod geben. Ein Wehklagen wird aus den Nestern dringen. Elend und Trauer werden herrschen.«

»Schön«, meinte Gorm gähnend. »Sonst noch jemand? Gut. In diesem Fall versuchen wir es mit Magie, und wenn das nicht hilft, holen wir Ulug Beg.«

Die Versammlung löste sich auf, und die Mäuse kehrten zu ihren Stämmen zurück.

Trödler war gespannt, was die Buchfresser nun unternehmen würden. Er verabschiedete sich daher von Leichtfuß, die sich nicht weiter für Zauberei interessierte, schlüpfte durch das Gwenllian-Loch und lief zwischen den Böden und Wänden zur Bibliothek. Seit dem Beginn des Waffenstillstands hatte man die Sicherheitsmaßnahmen in der Bibliothek gelockert. Die Wachen ließen alle Besucher durch. Das Loch, das Trödler benutzte, war sogar völlig unbewacht, da sich der Wächter auf die Suche nach einem schmackhaften Buch gemacht hatte.

Wenn Trödler die Bibliothek nach längerer Abwesenheit betrat, war er immer wieder beeindruckt. Um ihn herum standen Tausende von Büchern in allen Größen, Farben und Gerüchen.

Huschte er zwischen ihnen entlang, kam er sich klein und unbedeutend vor, denn sie ragten empor wie Säulen, die das Universum tragen. Einige waren so massiv, daß sie hundert Mäuse unter sich begraben konnten. Doch da er einmal zwischen ihnen gelebt hatte, betrachtete er sie andererseits auch als mögliche Nahrung.

Die Spannungen der Revolution machten ein normales Leben unmöglich. Trödler freute sich daher, einfach mal wieder mit einigen alten Bekannten Neuigkeiten auszutauschen: Rhodri, Nesta und Ethil. Owain und Mefyn rief er einen flüchtigen Gruß zu. Cadwallon war natürlich zum Märtyrer geworden, und man verehrte seine Gebeine, doch Marredud und Hywel der Böse waren noch sehr lebendig. Außer den Buchfressern befanden sich auch Mäuse aus anderen Stämmen in der Bibliothek. Gytha Schönbart von den Wilden, Furz die Stinkmorchel, und selbst Gunhild hatte sich hereingeschlichen. Sie horchte im Hintergrund und behielt die anwesenden Wilden im Auge. Viele Zuschauer erwarteten die große Magievorstellung.

Gruffydd Grünzahn saß in Nase-hoch-Position auf dem Regal mit den schwarzen Lederbänden. Er hatte zur Vorbereitung bereits einige Seiten eines Bandes gefressen, der sich seiner Aussage nach ausschließlich mit Zauberei befaßte. Murmelnd betrachtete er das zerkaute Papier, um die in Frage kommenden Zaubersprüche aufzuspüren.

»Woher weiß er, welches Buch er nehmen muß?« flüsterte Trödler Nesta zu, während sie einen Kreis um den Magier bildeten.

»Durch die Bilder. Wenn Nacktlinge mit spitzen Hüten drauf sind, ist es ein Zauberbuch. Oder Nacktlingsschädel ohne Fleisch. Solche Dinge eben. Man weiß es einfach.«

Gruffydd Grünzahns Augen verschleierten sich, und er stimmte einen monotonen Gesang an: »Zauberspruch für Schmerzen in den Eingeweiden und im Magen - wenn du einen Mistkäfer entdeckst, der Mist zu einer Kugel rollt, ergreife ihn und die Kugel mit beiden Händen und wiederhole dreimal: >ipso, skipso, facto, frum.< Dann wirf den Käfer weg, behalte jedoch den Mist, stecke ihn in einen Tabaksbeutel und lege diesen nachts unter dein Kopfkissen.«

Trödler war von dieser magischen Vorführung sehr beeindruckt, zumal er kaum ein Wort verstanden hatte. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, stimmte Gruffydd einen neuen, ebenso faszinierenden Gesang an: »Um die Gicht zu heilen und schwere Blähsucht zu lindern, nimm das Blut einer Schnecke, tränke damit ein Leinentuch und drehe einen Lampendocht daraus; gib ihn dem Leidenden, auf daß er den Docht entzünde. Danach wird er ohne Schmerzen gehen und die Winde lassen können.«

Trödler verspürte einen Schauder, als ihn die Worte durchfluteten. Magie schwängerte die Luft. Gruffydd Grünzahn hatte einen grauenhaften, unheimlichen, überirdischen Bann verhängt. Falls dieser die Nacktlinge nicht aus dem Haus trieb, würde nichts sie verjagen. Wenn ihn dieser Fluch getroffen hätte, wäre er jedenfalls in Windeseile in die Hecke gesaust.

Um Gruffydd bei seiner ungeheuren Aufgabe zu unterstützen, tanzten einige junge Mäuse (unter Anleitung von Frych der Gefleckten) auf den Regalen, peitschten einander mit ihren Schwänzen und sangen mit hoher Stimme und fremden Worten vom Herannahen des Winters. Manche von ihnen übertrieben ein wenig und stürzten hin, während sie in fremden Zungen sprachen. Diese Schau hatte Trödler schon mehrmals genossen. Die Hexenkunst schien alle in ihren Bann zu schlagen, die sich in die Nähe der Zauberer wagten.

»Attention!« schrie ein junger Mäuserich, der vermutlich am falschen Buch gekaut hatte. »Marchez!«

Gunhild, die in Trödlers Nähe stand, war offensichtlich schwer beeindruckt. »Marchez!« murmelte sie vor sich hin. Die Knappheit dieses Befehls gefiel ihr sehr. Es klang professionell; jeder würde dabei strammstehen.

Trödler schaute zu, wie sie neben den jungen Mäuserich trat, der weiter aus voller Kehle brüllte. »Marschieren oder sterben, marschieren oder sterben! Die Fremdenlegion, sie lebe hoch!«

»Kennst du noch mehr davon?« fragte Gunhild.

»Zum Angriff!« brüllte der Mäuserich, ermutigt durch so viel Aufmerksamkeit.

Trödler beobachtete, wie Gunhild dem Burschen bis ans Ende des Regals folgte, wo er mit Schaum vor dem Mund zusammenbrach, und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg zum Ausgang.

Als er wieder im Nest angekommen war, fragte ihn Leichtfuß über die Zauberei und ihre Wirksamkeit aus.

»Ich bin mir nicht so sicher. Es sah eindrucksvoll aus. Mich überwältigen die langen, fremdartigen Wörter der Bibliotheksmäuse immer wieder aufs neue. Wenn ich nur wüßte, was sie bedeuten.« Während er noch darüber nachdachte, überfiel ihn der Schlaf.

Als Leichtfuß und Trödler eng aneinandergekuschelt dalagen, schlich eine Maus am Eingang ihres Nestes vorbei. Sie spähte hinein und sah neidvoll auf das zufriedene Paar. Dann huschte sie zum Wassertank.

Zaghaft war auf dem Weg zu einer Verabredung mit Kellog.

Dieser hatte soeben wieder den täglichen Tribut bei den Küchenmäusen eingefordert. Seine massige Gestalt zeichnete sich vor dem Nest ab: ein dunkles Ungeheuer, das beinahe mit den Schatten verschmolz. Er war der finstere Herrscher des Dachbodens. Bald würde er frei im ganzen Haus herumstreifen und nach Lust und Laune plündern und zerstören. Nichtschwim-mers Tod stand ganz oben auf der Tagesordnung.

Zaghaft blieb diesmal auf seiner Seite des Tanks sitzen und zitterte trotzdem vor Angst. Nur ein kleiner Teich trennte ihn von Tod und Verderben. Kellog konnte glücklicherweise nicht schnell genug schwimmen, um eine Maus am anderen Ufer zu erlegen.

»Wann lieferst du mir Nichtschwimmer?« grollte Kellog.

»Bald«, erwiderte Zaghaft. »Ich bringe ihn dir bald. Weißt du, ich muß erst sein Vertrauen zurückgewinnen. Wir waren eine Weile verfeindet. Damit er mit mir kommt, muß ich mich erst wieder bei ihm einschmeicheln. Das braucht Zeit und Geduld ...«

»Ich bin kein geduldiger Nager«, murrte Kellog. »Ich will seine Augen und seine Leber. Warum zeigst du mir nicht einfach sein Nest? Den Rest besorge ich selbst.«

»Er - er zieht ständig um. Selbst ich weiß nie genau, wo er gerade steckt. Mein Plan ist der beste, glaub mir. Wir locken ihn ins offene Gelände, weit weg von allen Schlupflöchern, dann kannst du zuschlagen.«

»Na schön. Aber du solltest ihn bald haben, sonst nehme ich deine Augen und deine Leber.«

Zaghaft eilte davon. Er war froh, dem Anblick und Geruch der riesigen Ratte, deren Bosheit wie eine dunkle Wolke über dem Wassertank hing, entflohen zu sein. Er lief zum Nest von Nichtschwimmer und Töricht, das geschickt im Winkel zwischen zwei Balken verborgen lag. Von außen war es mit alten Sägespänen getarnt und sah aus wie ein Stück Holz. Zaghaft rief mit leiser Stimme: »Nichtschwimmer, ich bin's - Zaghaft. Ich wollte mich entschuldigen, weil ich dich so oft geärgert habe . Bist du da, Nichtschwimmer?«

»Was willst du wirklich von mir?« rief dieser unfreundlich.

Dann mischte sich Töricht ein. »Hören wir uns an, was er zu sagen hat! Kann doch nicht schaden, oder?«

»Warum hängt er ständig hier herum?« knurrte Nicht-schwimmer.

»Vermutlich weil es ihm leid tut. Komm herein, Zaghaft.«

Zaghaft ließ sich das nicht zweimal sagen.

Während er sich wortreich dafür entschuldigte, daß er Nichtschwimmer so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte, huschte eine andere Maus am Nest vorbei, ohne hineinzuschauen. Sie hatte weder das Nest noch die Stimmen darin bemerkt, weil sie nicht hören konnte. Sie hieß Lauscherin und war unterwegs zur Standuhr in der Halle.

Lauscherin war die einzige Maus im Haus, die sich gern im Inneren der Uhr aufhielt. Tatsächlich war sie darin geboren worden. Eines Nachts hatte sich ihre trächtige Mutter vor Augapfel hineingeflüchtet. Der blaue Schatten lauerte am Schrank unter der Treppe und hatte bereits drei Mäuse überfallen. Lau-scherins Mutter konnte als einzige fliehen und gebar sieben Junge, als die Standuhr Mitternacht schlug. Sie brachte die Kleinen später auf den Dachboden, vergaß aber, Lauscherin mitzunehmen. Als sie die Jungen zählte und zu ihrem Entsetzen feststellte, daß eines fehlte, war es schon zu spät. Lauscherin war inzwischen stocktaub, da sie neben dem Glockenspiel gelegen hatte.

Seither stattete sie der Standuhr regelmäßige Besuche ab. Sie schlüpfte von hinten hinein, kletterte an den Ketten ins Uhrwerk hinauf und atmete genießerisch den Ölgeruch ein. Dort zwischen den Sperrklinken und Zahnrädern, den Ankern und Federn ließ sie sich auf dem Glockenspiel nieder und wartete, bis es zwölf schlug. Wenn es soweit war, konnte sie zwar nichts hören, doch der ganze Uhrkasten zitterte, und die Schwingungen durchfluteten ihren Körper. Sie liebte dieses Beben, war süchtig danach und hätte für diesen Genuß sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt.

Bisher spielte sie nur eine untergeordnete Rolle bei der Vertreibung der Nacktlinge. Da sie taub war, lebte sie in ihrer eigenen Welt, einer Welt der Stille, einer anderen Wirklichkeit.

Obwohl sie das Lippen- und Körperlesen beherrschte, war sie sehr isoliert: eine einsame Maus, die nur wenig Kontakt zu ihresgleichen fand. Nun jedoch sollte sie eine tragende Rolle in der Vertreibung der Nacktlinge spielen und zur Heldin der Stunde werden.

Gruyere

So beeindruckend die magische Vorführung auch war, der Zauber funktionierte einfach nicht. Die Ohren der Nacktlinge verschrumpelten nicht, ihr Köpfe wirbelten nicht im Kreis herum, und sie führten ihr schweineähnliches Leben weiter wie zuvor.

Die Bibliotheksmäuse entdeckten noch ein anderes Buch. Darin waren Nacktlinge abgebildet, die in Behältern übers Meer fuhren. Die Mäuse folgerten, daß dieses Zauberbuch dazu diente, die Nacktlinge auf lange Reisen ins Unbekannte zu schicken, von denen sie nie mehr zurückkehrten. Jago fraß etwas davon und rülpste den folgenden, ehrfurchtgebietenden Zauberspruch hervor: »Die Möglichkeit, eine Positionslinie durch die Beobachtung eines Himmelskörpers festzulegen, basiert auf der fundamentalen Tatsache, daß für jeden gegebenen Zeitpunkt Höhe und Scheitelkreis eines Himmelskörpers im Verhältnis zum Horizont einer angenommenen Breite durch den Gebrauch von Formeln und Tabellen berechnet werden können, die der Astronom den Seeleuten zur Verfügung stellt.«

Nachdem Jago dieses Meisterstück der Rhetorik geliefert hatte, erwarteten die Mäuse, daß die Nacktlinge hinter besagtem Horizont verschwanden. Ein so komplizierter Zauber mußte einfach funktionieren! Doch wie bei Gruffydd Grünzahns Magie geschah auch diesmal nichts.

Ein Chor von Stimmen erhob sich. »Ulug Beg muß her!«

Und so nahm Tolpatsch, die große Balanciererin, ihr Training auf und wärmte die Beine, damit die Muskeln geschmeidig wurden. Andere Mäuse schauten zu, als sie den Hals drehte und die Schultern kräftigte, auf denen sie Ulug Beg hoch über dem verwilderten Garten die Wäscheleine entlang tragen würde.

Um auf die Leine zu gelangen, die zwischen der Hauswand und dem verlassenen Baumhaus gespannt war, in dem Ulug Beg sein Einsiedlerdasein fristete, mußte Tolpatsch Gnaden-volls Einflugloch benutzen. Daher warteten die Mäuse, bis die Eule die Flügel spannte und am purpurfarbenen Himmel auf die Jagd ging.

Sie gaben ihr einen beträchtlichen Vorsprung, da Tolpatsch auf der Wäscheleine ein ausgezeichnetes Ziel bieten würde. Auch gab es keinen Schutz vor anderen Raubtieren. Wer konnte schon garantieren, daß nicht ein Waldkauz sie bei ihrem Balanceakt erspähte?

Als es schließlich soweit war, nickte Tolpatsch knapp in die Runde und machte sich auf den Weg. Nachdem sie durch das Loch verschwunden war, liefen die Mäuse zu der Seite des Dachbodens, an der die Leine befestigt war. Durch Ritzen in der Verschalung konnten sie ihre Heldin beobachten. Die einen schauten zu, wie die Maus auf das schaukelnde Seil trat, während die anderen den Himmel nach dem geflügelten Tod absuchten.

Da es nur wenige Ritzen und viele interessierte Zuschauer gab, berichteten diejenigen, die etwas sehen konnten, den anderen von den Ereignissen.

»Jetzt ist sie auf der Leine - nein, sie schwankt - alles in Ordnung - jetzt läuft sie los - ja, das solltet ihr sehen! Sie ist drüben!«

Tolpatsch verschwand in dem baufälligen Baumhaus, das früher von einem jungen Nacktling benutzt worden war. Inzwischen hatte es viele Sommer leer gestanden, und der Zahn der Zeit hatte daran genagt.

Tolpatsch blieb lange dort drinnen, bevor sie allein wieder auftauchte. Sie machte sich auf den Rückweg zum Haus, wo bereits die Spekulationen wucherten: »Ulug Beg ist krank.« -»Ulug Beg liegt im Sterben.« - »Ulug Beg ist tot und voller Maden.«

»Er kommt nicht«, erklärte Tolpatsch atemlos, als sie Gorm gegenüberstand. »Sagt, er sei zu alt für eine Reise über die Wäscheleine auf dem Rücken eines Dreikäsehochs.«

»Welches Dreikäsehochs?«

»Ich, vermutlich.«

Sofort wurde eine Versammlung einberufen. Die Mäuse beschlossen, daß jemand mit Tolpatsch zu Ulug Beg gehen sollte. Frych schlug Gorm vor, da er Ulug Beg noch aus seiner Zeit als Anführer der Küchenmäuse kannte.

»Wenn er zu alt ist, bin ich es auch«, grollte Gorm. »Außerdem kann mich Tolpatsch nicht tragen.«

»Schickt doch Thorkils Dreibein hinüber«, rief ein Witzbold. »Er hat so flinke Füße.«

Dieser Vorschlag wurde von allen außer Thorkils selbst überhört, der den Scherzbold am liebsten gestellt und grausam bestraft hätte. Gorm schlug vor, daß jemand den Auftrag übernehmen solle, der mit der Außenwelt und Ulug Begs Denkweise als Außenmaus vertraut war. Jemand, der bis vor kurzem eine Heckenmaus gewesen war, fügte er beiläufig hinzu.

»Dieser Soundso«, brummte Gorm und tat, als denke er angestrengt nach. »Dieser Vagabund.«

»Du meinst Trödler«, brüllte Wisperer.

»Ja, ich glaube schon«, erwiderte Gorm mit Unschuldsmiene. »Trödler heißt der Bursche. Kann andere Mäuse um den Finger wickeln, nicht wahr? Habe ich jedenfalls gehört. Ein Schmeichler vor dem Herrn. Ist doch sicher die richtige Maus für die Sache, oder? Wenn jemand Ulug Beg überreden kann, zu uns zu kommen, dann er. Ich habe gehört, dieser Trödler kriegt jede Maus rum - vor allem die Weibchen.«

»Ulug Beg ist ein Männchen«, warf Frych ein.

»Na ja, kommt aufs Gleiche raus«, knurrte Gorm zufrieden. »Ist doch dasselbe Prinzip. Schauen wir doch mal, ob dieser Trödler ebenso gut balancieren wie herumschleimen kann.«

»Und wenn er herunterfällt?« fragte Frych.

»Kein großer Verlust«, antwortete Gorm und stocherte zwischen seinen Schneidezähnen herum. »Dann nehmen wir eben jemand anders. Ich meine, es wäre natürlich sehr bedauerlich, und wir wären alle tief betrübt, aber das Wohl der Nation hat Vorrang. Patriotische Pflichten und so weiter. Ich vermute, der Bursche wird sich die Chance nicht entgehen lassen.«

Trödler brach bei der Vorstellung, die Wäscheleine zu überqueren, nicht gerade in Begeisterung aus. Mit großen Augen spähte er durch die Risse in der Verschalung. Die Wäscheleine hing wirklich hoch. Doch schließlich war er ein Heckenmäuse-rich und im Klettern nicht unerfahren. Gewöhnlich hatte ihn allerdings ein Geflecht aus Zweigen oder Getreidehalmen vor schweren Stürzen bewahrt. Andererseits spielte es keine Rolle, ob die Leine zehn oder zwanzig oder tausend Mäuselängen hoch hing. Wenn er stürzte, konnte er sich von der Welt verabschieden. »Gut, ich bin einverstanden«, sagte er zu Tolpatsch. »Du gehst voran.«

Die Sonne war inzwischen untergegangen, und der Mond schien. Tolpatsch schlüpfte durch Gnadenvolls Loch und kletterte in die Dachrinne. Trödler folgte ihr auf dem Fuß. Die beiden huschten durch das welke Laub.

Schließlich erreichten sie die Stelle, an der die Wäscheleine am Regenrohr festgebunden war. Trödlers Herz klopfte zum Zerspringen.

»So sieht es also von oben aus.«

»Keine Panik«, beschwichtigte ihn seine Begleiterin. »Denk einfach an etwas Schönes und vergiß die Gefahr. Alles hängt von der Schwanzspitze ab, Trödler. Das ist mein Geheimnis.

Eigentlich balanciere ich nicht besser als andere Mäuse.« Sie schwenkte den Schwanz wie eine Balancierstange.

»Ich habe keine Schwanzspitze«, stöhnte Trödler.

»Jeder hat eine Schwanzspitze, selbst Wesen ohne Schwanz wie die Nacktlinge. Es hat gar nichts mit dem Körper zu tun, sondern mit dem Geist.«

»Stimmt«, meinte Trödler zweifelnd. »An die Schwanzspitze denken und die Gefahr vergessen.«

»Vergiß auch das Balancieren. Denk einfach an Leichtfuß. Stell dir ihr schönes Gesicht mit den seidigen Schnurrhaaren vor.«

»Aber wenn ich mich nicht konzentriere, falle ich hinunter.«

»Du wirst nicht fallen. Tu einfach, was ich dir sage.«

Tolpatsch trat als erste auf die Leine hinaus. Trödler zögerte einen Augenblick, bevor er ihr folgte. Hinter der Verschalung ertönte ein unterdrücktes Keuchen, als die Leine gefährlich schwankte.

»Nicht nach oben oder unten sehen«, sagte Tolpatsch ruhig. »Schau nur zum Baumhaus hinüber. Wo hast du Leichtfuß eigentlich kennengelernt?«

Sie liefen nun über die Leine.

Trödler begann zu zittern. »Wie bitte? Was hast du gesagt?«

»Weitergehen, nicht stehen bleiben - ich sagte, wo hast du Leichtfuß kennengelernt? Bist du ihr sofort verfallen - äh, ich meine, war es Liebe auf den ersten Blick?«

»Nein - nein, doch, ich glaube schon. Sie war bei dir ...«

Die Wäscheleine hing in der Mitte durch und schwankte dramatisch, als die Mäuse diese Stelle erreichten.

»Weiterlaufen!« befahl Tolpatsch streng. »Meinst du, Leichtfuß hat sich an dich herangemacht?«

»Natürlich nicht«, meinte Trödler beleidigt. Er merkte kaum, wie sich seine Füße bewegten. »Sicher, sie fand mich attraktiv - nein, so meine ich es nicht«, berichtigte er sich, denn seine Worte klangen prahlerisch, »ich will sagen, wir paßten einfach gut zueinander. Das Interesse war gegenseitig. Ich habe es aber erst bemerkt, als wir allein waren.«

Der Mond hing wie ein großer, runder Ball in den Zweigen des Baumes. Früher in der Hecke hatte Trödler die runde gelbe Form oft betrachtet und sich gefragt, wie und warum sie die Gestalt wechselte. Der Mond erschien ihm wie ein alter Freund. Auch der Wind, der durch die herbstkahlen Zweige strich, konnte ihn nicht von den Ästen losreißen. Um ihn herum summte die Nacht von Geräuschen - denen der Füchse, Vögel und Igel, der Hermeline und Wiesel, der Mäuse und Nacktlinge.

»Wir sind da!« rief Tolpatsch. »Gut gemacht!«

Trödler schaute nach unten und entdeckte, daß er am Rand einer Holzplatte stand, der Plattform, auf der das Baumhaus ruhte. Der Baum roch nach vermodertem Holz, war aber sicher stark genug, eine Maus zu tragen.

Aus der Nähe betrachtet wirkte das Baumhaus nicht gerade vertrauenerweckend. Es war düster und strahlte eine gewisse Bosheit aus. Normalerweise hätte er sich einem solchen Ort nicht um allen Käse der Welt genähert.

Tolpatsch war durch eines der Löcher in der Bretterwand hineingeschlüpft. Trödler folgte ihr.

Kaum zu glauben, aber innen sah das Gebäude noch schlimmer aus. Große Haufen Herbstlaub türmten sich auf den vermoderten Bodenbrettern. Überall hingen Spinnweben wie Schleier in der Luft. Käfer krabbelten und huschten über die Blätter und den anderen Unrat, der durch die Löcher im Dach gefallen war.

Trödler blieb eine Weile stehen, um sich an die Finsternis zu gewöhnen. Tolpatsch stand in einer Ecke des Raumes. Nachdem sich seine Augen an das Spiel von Dunkelheit und Mondlicht gewöhnt hatten, konnte Trödler in der Ecke eine zusam-mengekauerte Gestalt ausmachen.

Wäre er allein gewesen, hätte er vermutlich spätestens jetzt die Flucht ergriffen. Die Gestalt glich einer Ausgeburt der Hölle. Sie war kaum noch mäuseähnlich, ein verschrumpeltes, faltiges Etwas, dessen Haut wellenförmig am Körper herabhing. Die Farbe war ein schmutziges, dunkles Grau. Die Augen des Wesens tränten, doch die Pupillen leuchteten lebhaft. Die Schnurrhaare hingen wie ein ungepflegter Bart herunter, der Trödler an den alten Nacktling in der Bibliothek erinnerte. Der Schwanz sah wie eine knotige Schnur aus, die der alte Mäuserich vermutlich im Schmutz hinter sich herschleifte.

»Das ist Ulug Beg«, erklärte Tolpatsch. »Eine der ältesten lebenden Mäuse.«

»Der älteste lebende Mäuserich«, brummte Ulug Beg. »Wenn du eine ältere kennst, nenne mir ihren Namen.«

»Ich glaube, ich habe noch nie ein so altes Wesen erlebt«, gestand Trödler. »Auch nicht bei den Nacktlingen.«

»Es gibt keine Nacktlinge, die älter sind als ich«, erwiderte das pelzige Knochenbündel in der Ecke.

»Du mußt eine Menge wissen«, staunte Trödler.

»Ich weiß alles«, bemerkte der Mäuserich. »Das heißt, alles Wissenswerte. Wenn ich etwas nicht weiß, brauchst du es auch nicht zu wissen. Es gibt Wissen, und es gibt Banalitäten. Mit Banalitäten gebe ich mich nicht ab.«

»Bestimmt nicht.«

»Nun«, fuhr Ulug Beg fort, »es ist ja ganz nett, daß ihr mich besucht. Trotzdem werdet ihr wissen, daß ich ein Einsiedler bin. So soll es auch bleiben. Diese Maus hier erzählte etwas von einer Vertreibung der Nacktlinge, und daß ihr mich im Haus erwartet. Ich bin viel zu alt, um über Wäscheleinen zu laufen.«

»Entschuldige, Ulug Beg«, mischte sich Trödler ein, »aber ich glaube, du bist dir der Tragweite des Problems nicht bewußt. Die Mäuse haben einander immer bekriegt .«

»Jedenfalls in dem Haus«, brummte Ulug Beg.

»Ja, doch wir haben dem ein Ende gesetzt. Als nächstes wol-len wir die Nacktlinge und ihre Tiere verjagen. Sie fressen einfach zu viel. Danach sollte es eigentlich genügend Futter für alle geben, so daß wir nicht mehr darum kämpfen müssen. Ich gehöre nicht so ganz zu den Hausmäusen. Ich stamme aus der Hecke und bin erst vor kurzem zu ihnen gestoßen. Trotzdem finde ich ihre Pläne vernünftig.«

»So, so. Mir kommt etwas daran falsch vor - ein Teil der Gleichung geht nicht auf. Oberflächlich betrachtet scheint es aber ein guter Plan zu sein. Von wem stammt er?«

»Von Gorm dem Alten.«

»Diesem jungen Dreikäsehoch? Dann kann mit dem Plan etwas nicht stimmen. Ich werde darüber nachdenken. Ihr scheint wirklich sehr scharf darauf zu sein, die Nacktlinge loszuwerden, sonst würdet ihr mich nicht belästigen. Ich bin nämlich lieber allein.«

Trödler ergriff das Wort. »Das kann ich verstehen. Als ich in der Hecke lebte, war ich auch zufrieden. Doch seit ich ins Haus gezogen bin, fühle ich mich manchmal eingeengt. Die Mäuse sind einfach überall.«

Die Besucher warteten eine Weile, während Ulug Beg ins Leere starrte.

»Willst du mit uns kommen?« fragte Tolpatsch schließlich.

Ulug Beg schien aus seiner Trance zu erwachen. »Wa... was bitte? Mit euch kommen? Ganz sicher nicht! Ich kann nicht mehr huckepack über die Leine reisen. Seht mich doch an - nur noch Haut und Knochen. Wenn du mich anfaßt, falle ich auseinander. Ich kann nur überleben, indem ich mich nicht von der Stelle rühre und Eicheln fresse, die durchs Dach fallen.«

»Aber wie willst du von hier aus bei der Versammlung sprechen?« fragte Tolpatsch hilflos.

»Überhaupt nicht«, schnappte der Mäuserich.

Trödler starrte Ulug Beg an. Die Behauptung, er werde bei der geringsten Berührung auseinanderfallen, schien nicht ganz unberechtigt.

»Ich habe eine Idee«, schlug Trödler vor. »Wir erklären dir das Problem in allen Einzelheiten. Dann kannst du der Versammlung durch uns deine Lösungsvorschläge unterbreiten. Wie wäre das? Wir leiten deine Botschaft an Gorm und die anderen Anführer weiter.«

»Das habe ich noch nie getan«, erwiderte Ulug Beg schlicht.

Trödler blinzelte und wackelte mit dem Schwanz. »Was denn?«

»Botschafter benutzt. Ich fange auch gar nicht erst damit an.«

Trödler schaute hilfesuchend Tolpatsch an. Sie zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: »Ich habe alles getan, jetzt ist jemand anders an der Reihe.«

Trödler knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Was sollte er denn nun tun? Er konnte zurückkehren und Gorm sagen, er solle sich selbst über die Leine bemühen. Geschieht dem alten Kerl recht, dachte er. Entweder balanciert er hinüber, oder er verliert die Achtung seines Stammes. Allerdings hatte auch Trödler seinen Stolz und wollte nicht unverrichteter Dinge ins Haus zurückkehren. So schnell würde er nicht aufgeben.

Trödler hatte bemerkt, daß alte Mäuse, so klug sie auch waren, gern die alten Zeiten und die glorreichen Stunden ihrer Jugend heraufbeschworen. Sie betrachteten die Gegenwart voller Ungeduld und wollten mit der Zukunft nichts zu tun haben. Sie badeten lieber im goldenen Schein der Vergangenheit. Vielleicht konnte ihm diese Angewohnheit bei seiner Aufgabe nützen.

»Nun«, sagte er mit einem ehrfürchtigen Blick auf den Ziehharmonikakörper der alten Maus, »wir gehen jetzt. Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen.«

Tolpatsch sah Trödler verständnislos an, doch dieser schenkte ihr keine Beachtung.

»Ich wollte schon immer mit dir sprechen, seit ich hörte, daß du das Buch der Weisheit gefressen hast.«

»Das waren Zeiten«, erwiderte Ulug Beg verträumt. »Ich knabberte und nagte und wußte plötzlich alles. Wenn es etwas gibt, das ich nicht weiß .«

». ist es auch nicht wissenswert. Ich stimme dir von ganzem Herzen zu. Wie alt bist du eigentlich?«

»Älter als das Haus. Ich bin das älteste Lebewesen auf dem Planeten - jedenfalls beinahe.«

»Wirklich? Wie außergewöhnlich!« rief Trödler. »Du mußt damals viel erlebt haben. Bist du eigentlich in diesem Baumhaus geboren?«

Einige Erinnerungen später hatte Trödler den Eindruck, er wisse nun alles über die faltige Kreatur in der Ecke.

Ulug Beg verkündete: »Weißt du was? Ich werde meine alte Regel brechen und euch als Botschafter einsetzen. Du erscheinst mir recht fähig - das ist so selten in diesen Nächten. Du wirst es gut machen. Berichte mir von eurem Problem, und ich gebe dir meine Antwort. Ich habe noch nie versagt. Laß mich hören, was du zu sagen hast.«

Pont l'Eveque

»Die Vertreibung der Nacktlinge?« murmelte Ulug Beg, nachdem Trödler ihm von den Aktionen der Mäuse berichtet hatte.

Tolpatsch schnarchte schon seit geraumer Zeit in einer Ecke.

»Natürlich weiß ich auch, warum ihr keinen Erfolg habt.«

»Tatsächlich?«

»Es ist so deutlich wie die Schnurrhaare in deinem Gesicht. Ihr versucht, die Nacktlinge in einer Materialschlacht zu vertreiben - die könnt ihr einfach nicht gewinnen. Auf diese Weise schafft ihr sie niemals aus dem Haus.«

Trödler starrte auf das Häufchen Knochen. Er konnte nicht einmal erkennen, ob Ulug Beg die Nase erhoben oder gesenkt hielt. »Womit denn dann?« »Mit dem Übernatürlichen«, erwiderte der alte, weise Mäuserich. Seine kleinen Augen glänzten im Mondlicht. »Sie müssen nur glauben, daß es spukt. Und schon sind sie weg.«

Trödler wirkte wenig überzeugt. »Ich nehme an, die Bibliotheksmäuse könnten den Geist von Megator-Megator beschwören.«

»Es gibt keinen Megator-Megator.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich ihn erfunden habe. Ich erfinde ständig Geschichten, die andere Leute für das Evangelium halten. Megator-Megator ist ein Gebilde meiner Phantasie.«

Falls Trödler über den Verlust einer Legende enttäuscht war, verbarg er es geschickt. Es gab wichtigere Dinge. »Wie sollen wir einen Geist erschaffen? Ich wüßte nicht, wie wir die Nacktlinge überzeugen könnten, daß einer von uns ein Gespenst ist. Dafür sind wir viel zu klein.«

Ulug Beg stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. Es klang, als stöhne der Wind in den Zweigen. »Ihr Mäuse von heute - ich dachte, du wärst der, auf den ich gewartet habe, Trödler. Warum denkst du immer nur an das Nächstliegende? Visuelle Tricks! Es gibt auch noch andere Sinne. Eines kannst du mir glauben - wenn du ihnen den Geist zeigst, haben sie keine Angst mehr vor ihm. Sie müssen an einen Geist glauben, ohne ihn je zu Gesicht zu bekommen.«

»Geräusche!« erwiderte Trödler rasch.

»Genau - und Berührungen, falls ihr es schafft.«

»Geräusche und Berührungen. Keine Gerüche?«

Ulug Beg schüttelte den Kopf. »Wonach soll ein Geist denn riechen? Nach verfaultem Kohl? Dann suchen sie bloß nach einem verfaulten Kohlkopf. Nein, Geräusche sind am besten. Liefert ihnen einige unerklärliche Töne, das schlägt sie garantiert in die Flucht.«

Trödler begriff, daß er endlich die Lösung des Problems in Händen hielt. »Vielen Dank, Ulug Beg. Es war mir eine große

Ehre, dich zu treffen. Ich hätte mir niemals träumen lassen, mit dem Schöpfer von Megator-Megator zu sprechen.«

Der triefäugige Weise richtete sich ein wenig in seinem faltigen Hausmantel auf. »Du bist ein bißchen langsam, hast aber die Anlagen zu einem wirklich brauchbaren Gelbhals.«

Trödler betrachtete die seltsame Gestalt aus zottigem Fell mit den blinzelnden Augen und wunderte sich. Gelbhals, Hausmaus, weiße Maus, Feldmaus, Waldmaus? Schließlich nahm er allen Mut zusammen und stellte die Frage. »Hm - was für eine - hm - Art Maus warst du eigentlich früher?«

»Dieselbe wie heute - weißt du das nicht?«

Trödler wagte nicht zu raten und schüttelte den Kopf.

»Ein Mond-Stern-Mäuserich natürlich«, erwiderte Ulug Beg sachlich.

»Natürlich! Wie dumm von mir. Na ja, wir müssen uns auf den Weg machen ...« Trödler stieß Tolpatsch mit dem Schwanz an, um sie zu wecken.

»Was?« schrie sie und kauerte sich mit weit aufgerissenen Augen in Angriffsposition hin.

»Wir gehen«, sagte Trödler.

»Ja, gut - aber was ist mit unserer Aufgabe?«

»Erfüllt«, antwortete Trödler zufrieden.

»Ehrlich? Ausgezeichnet! Gut gemacht. Auf Wiedersehen, Ulug Beg.«

»Ja, auf Wiedersehen«, schloß sich Trödler an.

»Lieber nicht«, grollte der Weise. »Dann bin ich schon tot.«

»Du siehst jetzt schon tot aus«, platzte Tolpatsch heraus.

»Stimmt«, murmelte Ulug Beg. »Erzählt ihnen doch, ich sei gestorben und ihr hättet mit meinem Geist gesprochen, ha, ha, ha.« Er blinzelte ihnen noch einmal zu.

Die beiden Mäuse sausten über die vermoderten Bretter und das feuchte Laub. Sie schlüpften auf die mondbeschienene Plattform hinaus, an der die Wäscheleine festgebunden war, und sahen sich aufmerksam um, denn sie teilten die unausge-sprochene Furcht vor Eulen, die zuschlugen, bevor man sie entdeckt hatte.

»Wovon hat er geredet?« wollte Tolpatsch wissen. »Ist er bekloppt?«

»Nein, ich glaube, es war ein Scherz«, meinte Trödler. »Bringen wir es hinter uns. Ich freue mich nicht gerade auf die Wäscheleine.«

Im nächtlichen Garten herrschte geschäftiges Treiben. Es wurde getötet und gefressen. Igel mampften Würmer; ein Fuchs schlich ums Gartenklo und fragte sich, ob sich in den Kloakengeruch nicht auch ein wenig Haselmaus mischte. Hoch oben am Himmel hielten die Eulen mit den unfehlbar scharfen Augen lautlos nach Beute Ausschau. Außerhalb des Hauses ging das Leben weiter, als gebe es hinter den Mauern keinen Kampf auf Leben und Tod, als werde dort keine Mäusegeschichte geschrieben.

Diesmal wagte sich Trödler als erster auf die Leine. Sein Selbstvertrauen war seit der erfolgreichen Überquerung gewachsen. In diesem Augenblick verschwand der Mond hinter einer Wolke. Dunkelheit breitete sich aus. »Ab durch die Mitte. Ich will schnell hinüberkommen«, sagte Tolpatsch.

Trödler wußte, was sie meinte. Das Dunkel barg Gefahr. Tolpatsch wollte sich ihr nicht länger als unbedingt nötig aussetzen. Bei diesem Gedanken bewegte sich Trödler zu hastig und versuchte zu laufen. Plötzlich tauchte der Mond wieder auf, Schatten bewegten sich vor seinen Augen. Eine Eule? Er lief noch schneller, stolperte und rutschte ab. Einen Augenblick baumelte er mit den Beinen von der Leine, dann konnte er sich nicht länger festhalten und stürzte hinunter.

Obwohl er auf Gras und altem Laub landete, verschlug es ihm den Atem. Er drehte sich um, blieb auf dem Bauch liegen und japste nach Luft. Sein Herz klopfte wild. Hoch über ihm huschte Tolpatsch über die Leine und erreichte das Haus so rasch, daß er sich fragte, ob für sie dieselben Zeitgesetze gal-ten. Ihm war es vorgekommen, als habe er Stunden auf der Leine verbracht.

Die Gerüche des Gartens drangen von allen Seiten auf ihn ein. Die Nacht war erfüllt von den Spuren zahlloser Geschöpfe. Ein Garten ist ein dichtbevölkertes Land, das viel zu bieten hat. Was sollte er nun machen? Er mußte ins Haus zurück und den anderen Mäusen die Botschaft überbringen. Tunnelgräberins Eingang befand sich auf der anderen Seite des Hauses. Der beschwerliche Weg dorthin, mitten durch nächtliche Räuber, konnte tödlich enden. Er würde den Katzen aus dem Haus und der Nachbarschaft ausgesetzt sein, den Füchsen, Hermelinen, Wieseln und Eulen. Vielleicht trieben sich sogar Dachse hier herum, die auch keine Mäuseverächter waren.

Dort drüben raschelte es im Gras!

Trödler erstarrte. »Abwarten und losrennen«, lautete die goldene Regel.

Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Es roch nach Haselmaus. Eine Nase und ein Augenpaar tauchten zwischen den Gräsern auf, und Trödler sah sich einem Wesen mit sandfarbenem Fell und buschigem Schwanz gegenüber.

»Ach, eine neue Maus im Garten«, bemerkte die Haselmaus. »Wohl auf Fuchsjagd, was?«

»Fuchsjagd?« fragte Trödler.

»Kleiner Scherz«, kicherte die Haselmaus. »Trotzdem wärst du in einem Nest besser aufgehoben. Hier treiben sich tatsächlich Füchse herum. Du mußt ein sicheres Versteck suchen.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich bin auf dem Nachhauseweg. Das Klo schützt mein Nest vor Raubtieren. Der Geruch verwirrt sie. Gut, was?«

»Dann mußt du Stone sein! Ich habe von dir gehört. Mein Name ist Trödler. Ich lebe jetzt im Haus.«

»Ach, der berühmte Trödler. Auch ich habe von dir gehört. Warum um Himmels willen hast du die herrlichen Hecken und Felder verlassen, um in dieser Scheußlichkeit zu wohnen?«

»Scheußlichkeit? «

»Das Haus. Mäuse haben solche Behausungen nicht nötig. Wir sind eins mit der Natur und gedeihen in natürlicher Umgebung am besten. Du mußt in der frischen Luft, zwischen den Gräsern und Pilzen leben! Denk an diese wunderbare Vegetation. Gänseblümchen, Löwenzahn, Lichtnelken, Braunwurz -Hunderte von Pflanzen. Zur Zeit wächst nicht so viel, aber wenn der Frühling kommt . Du mußt das Haus für immer verlassen. Irgendwann wird die Natur es nämlich zurückerobern.«

Trödler erklärte seine Situation. »Das Schicksal hat mich hergeführt. Daher muß ich wieder ins Haus hinein. Welches ist der beste Weg?«

»Durchs Labyrinth oder durch das Regenrohr. Du hast die Wahl.«

In der Nähe erklang ein Laut, der an den Ruf eines Pfaus erinnerte. Die Mäuse wußten aber beide, daß es sich um einen Fuchs handelte.

»Welcher Eingang ist am nächsten?« fragte Trödler rasch.

»Das Regenrohr«, erwiderte die Haselmaus. »Leb wohl.«

Trödler rannte zur Hauswand, suchte nach dem Regenrohr und verschwand in der finsteren Öffnung. Die Innenwände waren von Moos und Flechten überzogen, an denen er sich festhalten konnte. So kam er gut voran.

Der Aufstieg dauerte lange, doch endlich hatte er die Regenrinne erreicht. Er lief sie entlang, warf noch einen Blick zum Himmel und schlüpfte durch Gnadenvolls Loch ins Reich der Unsichtbaren. Er seufzte erleichtert und lief auf das Gewirr der Dachbalken zu. Plötzlich verstellte ihm jemand den Weg.

»Wer da?« fragte er. »Wer ist da?«

»Astrid«, antwortete die Gestalt.

Er schaute sie erstaunt an. Astrid stand in dramatischer Pose vor ihm, halb von den Schatten verdeckt. Sie schien sich mit jemand zu unterhalten.

»Wer ist bei dir?«

»Niemand«, sagte Astrid. »Ich habe mit meinen Freunden und Informanten, den Schatten, gesprochen. Bringst du Neuigkeiten für die Versammlung? Tolpatsch erzählte, du habest auf der Leine das Gleichgewicht verloren. Alle suchen nach dir. Bist du verletzt?«

»Nein, mir ist nichts passiert. Ich glaube, Ulug Beg hat mir die Lösung des Problems verraten.«

»Die Lösung eines Problems kann eine Vielzahl neuer Probleme mit sich bringen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich meine, die Antworten könnten sich bald wieder in Fragen verwandeln. Wenn wir die Nacktlinge vertreiben, wird es uns noch leid tun. So viel habe ich den verschlüsselten Warnungen meiner Schatten entnehmen können. Ich sage dir, verlasse dieses Haus und nimm die Neuigkeiten mit dir in die Hecke.«

Trödler sah im Geist seine alte Heimat vor sich. Plötzlich roch er Knoblauchsrauke und Braunwurz und hörte die Stimmen zahlreicher Vögel, die durch die Hecke schwirrten. Doch dies war eine Welt aus einer anderen Zeit. Nun hielt ihn seine Aufgabe in diesen Mauern fest. Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, erklärte er feierlich.

»Dann bring der Versammlung deine Nachrichten. Doch eines solltest du nicht vergessen: Ich habe dich gewarnt.« Astrid hob dramatisch die Pfoten, als flehe sie die Götter an. »Ich habe mein Bestes getan, die Welt vor der Zerstörung zu bewahren.«

Trödler sagte freundlich: »Das weiß ich, Astrid. Tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht davonlaufen. Wir sind dem Ziel so nahe. Außerdem könntest du dich irren. Vielleicht wollen uns die Schatten nur unter ihre Herrschaft bringen.«

Mit diesen Worten rannte er davon, um weiteren Prophezeiungen aus dem Weg zu gehen. Die Unsichtbaren drangen aus allen Ecken des Dachbodens hervor, doch dank ihrer perfekten Tarnung entdeckte Trödler sie erst, als sich alle versammelt hatten. »Beruft die Versammlung ein«, rief er. »Es gibt Neuigkeiten von Ulug Beg!« Er entdeckte Leichtfuß und versetzte seiner Gefährtin im Vorbeilaufen einen liebevollen Biß.

Sie folgte ihm und flüsterte, sie freue sich, daß er wohlbehalten zurückgekehrt sei. Seine Geschichte könne er ihr später erzählen.

Trödler war in diesem Augenblick die wichtigste Maus, der Botschafter Ulug Begs, und alle erwarteten seine Rede.

Gorm der Alte wurde aus seinem Nickerchen gerissen. Die Versammlung kam in aller Eile zustande. Und dann konnte Trödler endlich berichten.

»Wir müssen geräuschvolle Geister erschaffen«, erklärte er der Menge. »Wir müssen die Nacktlinge aus dem Haus gruseln.«

»Geister!« erscholl es in der Runde. »Wir müssen den Nacktlingen mit Phantomen Angst einjagen! Das ist die Lösung! Ulug Beg hat es wieder einmal geschafft!«

Es folgte eine rasche, erregte Diskussion der Anführer. Sie stimmten darin überein, daß der Vorschlag brillant sei, vor allem, als Trödler erklärte, daß sie auf sichtbare Gespenster verzichten und einfach nur Geräusche erzeugen könnten. Auf einmal hörte sich alles ganz einfach an.

»Gut gemacht«, brummte Gorm widerwillig. »Gute Arbeit, Soundso.«

»Ich heiße Trödler.«

»Wie du willst. Jetzt müssen wir uns um diesen Geisterkram kümmern. Teller von der Anrichte werfen - so in der Art, was? Mitten in der Nacht an den Bettpfosten kratzen. Schön, schön. Die Sache läuft schon ...«

Emmentaler

Der Kopfjäger hockte grinsend in seinem Zimmer und polierte die Sammlung von Mäuseschädeln. Der Kleine Prinz rannte ruhelos im Käfig umher, da er verzweifelt versuchte, seinem Herrn etwas mitzuteilen.

»Sie haben etwas vor. Ich weiß es genau. Ich höre sie flüstern. Sie planen etwas ganz, ganz Böses - o ja - mein zartes Fell sagt es mir. Diese ungezogenen, kleinen Hausmäuse, diese zuckersüßen Schlingel. Sie schmieden ein Komplott, verschwören sich. Ich weiß es genau ...«

Der Kopfjäger ergriff den Käfig mit seinen schmutzigen Stummelfingern und schüttelte ihn wild. Der Kleine Prinz geriet ins Taumeln und fiel zu Boden. Auf diese Art befahl ihm sein Herr, den Mund zu halten.

»Du blödes Geschöpf!« rief der Kleine Prinz. »Ich will dich doch nur vor diesen schrecklichen Mäusen warnen!«

Diesmal fiel das Schütteln noch wesentlich unsanfter aus, und der Kleine Prinz verstummte. Sein Herr wollte bei der Reinigung seiner Sammlung nicht gestört werden. Er besaß ungefähr drei Dutzend unversehrter Schädel und einige, die Risse oder Löcher aufwiesen. Letztere waren vermutlich entstanden, als die Drähte der Schnappfallen auf die Köpfe der unglücklichen Opfer niedersausten. Dem Kopfjäger gefiel es ganz und gar nicht, wenn die Mäuseschädel beschädigt waren. Er wünschte sich perfekte Skelette, bei denen nur die Wirbelsäule gebrochen war.

Der Kleine Prinz konnte vom Käfig aus zum Fenster hinausschauen. Er sah in den Garten und beobachtete das geschäftige Treiben der Wesen dort unten. Letzte Nacht hatte er zwei Mäusen beim Seiltanz auf der Wäscheleine zugesehen. Sie suchten das verlassene Baumhaus auf. Der Kleine Prinz wußte, daß dort ein uralter Mäuserich namens Ulug Beg lebte, ein Weiser, der das Buch des Wissens gefressen hatte und seither alles wußte. Erstaunlich, was Mäuse unter der Folter alles preisgaben.

Für den Kleinen Prinzen hatte Ulug Beg eine ganz besondere Bedeutung, über die keine andere Maus im Haus Bescheid wußte. Es war ein Geheimnis zwischen dem Kleinen Prinzen und den Göttern, und selbst sie erinnerten sich vermutlich nicht mehr daran.

»Was wir jetzt brauchen«, murmelte der Kleine Prinz, »ist eine Maus, die wir foltern können.«

Gewöhnlich machte sich sein Herr mit Nadeln, kochendem Wasser und der Flamme des Bunsenbrenners an dem Opfer zu schaffen. Es erbrach sich zunächst vor Entsetzen und spuckte dann alle Informationen aus, die es in seinem Leben gesammelt hatte. In ihrer Qual nahmen viele Opfer irrtümlich an, der Kleine Prinz könne die Tortur beenden, sobald sie geredet hatten. Er bestärkte sie in dieser Vorstellung und erfuhr auf diese Weise all ihre Geheimnisse.

»Es gibt nur ein Problem. Wie soll ich diesem blöden Nacktling meine Neuigkeiten mitteilen?« sagte der Kleine Prinz zu sich selbst. »Er hat ja das Gehirn einer Kuh.«

Wie die meisten Mäuse glaubte auch er an die Regel: Je größer das Lebewesen, desto kleiner dessen Hirn. Ameisen gehörten demnach zu den intelligentesten Geschöpfen auf dem Planeten, obwohl sie aufgrund ihres übertriebenen Arbeitseifers verachtet wurden. Mäuse waren mit ihrer Gehirnzuteilung ganz zufrieden und betrachteten alle größeren Wesen als Dummköpfe unterschiedlichen Grades.

»Und dann kamen die Süßen wieder zurück«, sinnierte die weiße Maus und blickte auf die Wäscheleine. »Sie kamen zurück, aber ohne Ulug Beg mit seinem stinkenden, faltigen Hautmantel. Vielleicht ist er schon tot? Irgendwann müssen alle Mäuse sterben. Möglicherweise ist diese Kreatur nur noch ein Haufen Knochen.«

Der Kleine Prinz hatte Ulug Beg früher gesehen, wenn dieser mit einem Botschafter die Wäscheleine überquerte. Bis letzte Nacht hatte ihn jedoch immer nur eine Maus abgeholt und ihm als Führer gedient. Diesmal waren zwei Mäuse ins Baumhaus gegangen. Eine von ihnen hatte der Kleine Prinz wiedererkannt. Die Maus, die ihm entwischt war! Vor diesem Gelbhals Trödler war noch keine Maus ihrem Geschick in der Gefangenschaft des Kopfjägers entronnen. Der Herr hatte richtig getobt. Er hätte beinahe den Kleinen Prinzen in der dampfenden Brühe gekocht.

Und nun war der Gelbhals in irgendeine Intrige verwickelt, eine Verschwörung, an der sich alle Hausmäuse beteiligten.

»Ich hasse diesen Gelbhals mit dem zuckersüßen Gesicht«, sagte der Kleine Prinz genüßlich. »Seine Augen werden mir auf der Zunge zergehen. Ich möchte an seiner Leber lutschen, seine Hoden mit den Zähnen zerknacken. Er wird meine Praline, mein Nachtisch sein .«

Wieder wurde der Käfig geschüttelt. Er hatte wohl zu laut gesprochen. Der Gelbhals war an allem schuld. Seit er Trödler begegnet war, geriet der Kleine Prinz ständig in Schwierigkeiten. Der Gelbhals war der Dorn in seiner Pfote. Er ließ ihn nachts nicht mehr schlafen und zwang ihn zu nutzlosem Ränkeschmieden. »Seine Tränen schmecken wie Nektar. Sein Blut ist geschmolzener Honig. Er wird vor mir weinen. Er soll für mich bluten.«

Der Kleine Prinz fuhr mit dieser Litanei fort, bis ihm der Kopfjäger einen Blick zuwarf, der ihn endgültig verstummen ließ.

Cambozola

»Wir müssen Geister beschwören, Lemuren, Chimären und Schemen aus den entferntesten Regionen der übernatürlichen Sphäre«, schrie Frych die Gefleckte. Diese Geisterge schichte war genau das Richtige für sie. »Ich höchstselbst werde es unternehmen, jeden Folianten in der Bibliothek zu verschlingen, der sich den Anschein eines Werks über ektoplasmische Strahlung oder phantasmische Strömungen gibt. Die Mauern dieses Hauses werden ein geradezu spukhaftes Miasma verströmen.« Sie wurde bei dem Gedanken an die Beschwörung der Geister der Nacht so aufgeregt, daß sie aufsprang und zu einem Buch eilte, während ihre Jungen noch an ihren Zitzen hingen.

Gorms Truppe betrachtete das Geschehen eher vom praktischen Standpunkt aus: Mäuse machten unheimliche Geräusche, ohne daß man sie sah, Schluß, aus. Eine Maus rannte etwa über das oberste Regal des Geschirrschranks und stieß nacheinander alle Teller hinunter. Da sie senkrecht auf dem Rand im Regal lehnten, erzielte die Maus mit wenig Arbeit die größtmögliche Wirkung. Um den verdatterten Küchennacktling herum zerschellten die kostbaren Teller.

Die verborgenen Zuschauer beobachteten, wie sich der Nacktling am Kopf kratzte und die Verwüstung betrachtete. Offensichtlich suchte er nach der Ursache des Geschehnisses. Andere Nacktlinge kamen dazu, brabbelten, rangen die Hände und liefen zwischen den Scherben umher. Während der Tumult noch andauerte, kippte eine Pfanne aus einem anderen Regal und fiel scheppernd zu Boden. Erneutes Gebrabbel und Herumrennen. Danach stürzte ein Besen wie ein gefällter Baum um. Die Nacktlinge waren fassungslos.

Danach zogen sich die Mäuse zurück, da sie kein Risiko eingehen wollten. Nacktlinge waren zwar dumm, aber ein bißchen Gehirn hatten sie doch.

In der Bibliothek erzielten die Buchfresser berauschende Erfolge bei Hirnlos, dem Spaniel. Sie schossen hervor, zwickten ihn in den Schwanz und verkrochen sich wieder. Hirnlos brüllte obszöne Beschimpfungen in die Ecke, wo unsichtbare Mäuse kicherten. Der alte Nacktling starrte verwundert in die scheinbar leere Ecke, die sein Hund anbellte. Ein paarmal klappte der Nacktling auseinander, ging im Zimmer umher und entdeckte - gar nichts.

Schließlich entfaltete sich die weißhaarige Kreatur zum letzten Mal, um die Bibliothek zu verlassen - allerdings nicht ohne einen verwirrten Blick in die Runde zu werfen. In diesem Augenblick schoben einige Mäuse ein Buch vom Regal, das krachend zu Boden polterte. Vom Einband grinste ein Nacktlingsskelett. Hirnlos packte das Buch mit den Zähnen und präsentierte es schwanzwedelnd seinem Herrn. Dessen Augen traten hervor, als er das Buch in die Hand nahm. Er klemmte es unter den Arm und verließ schnellstens die Bibliothek.

Lauscherin wurde bei den Unsichtbaren zur Heldin der Stunde.

Sie kam auf die Idee, die Uhr könne einfach mal zur falschen Zeit schlagen. Daher drehte sie kurz vor drei ein Zahnrad, und die Uhr schlug fünf.

Einmal waren die Nacktlinge um Mitternacht noch wach. Lauscherin nutzte die Gelegenheit, um die Geisterstunde durch dreizehn Schläge anzukündigen, indem sie nach den üblichen zwölf Tönen auf den Klöppel sprang und damit ein besonders lautes »Dong!« erzeugte. Die Nacktlinge stürmten aus dem Wohnzimmer und starrten angsterfüllt die Uhr an. Lauscherin trat auf ein Zahnrad, und die Zeiger sausten nur so im Kreis herum. Dann betätigte sie den Anker des Glockenspiels. Weitere fünf Schläge hallten durchs Haus. Zu guter Letzt hüpfte sie auf den Mechanismus, der die Uhr mit einem Stöhnen zum Stillstand brachte.

Danach fühlten sich die Nacktlinge gar nicht mehr wohl. Sie ließen in der Halle und auf dem Treppenabsatz das Licht brennen. Das Zimmer des Kopfjägers blieb die ganze Nacht hellerleuchtet. Zu ihrer besonderen Freude stellten die Mäuse fest, daß der junge Nacktling große Angst vor Gespenstern hatte. So ermutigt, schaukelte Tolpatsch in dieser Nacht ausgiebig an der Kette des Wasserkastens in der Toilette. Das geräuschvolle Klirren der Kette hielt mindestens eine Stunde an.

Bezeichnenderweise tauchte nicht ein einziger Nacktling auf, um dem Lärm auf den Grund zu gehen.

Shropshire Blue

Im Lauf der nächsten Stunden entwickelten die Mäuse immer mehr Phantasie bei der Erzeugung seltsamer Geräusche. Da die meisten Nacktlinge im Haus schwerhörig waren, war eine gewisse Lautstärke nötig. Kratzen und Schaben hinter der Holztäfelung erwies sich beispielsweise als nutzlos. Es bedurfte schon eines herzhaften Knalls oder Krachs oder auch einer ganzen Serie von ungewohnten Tönen, um die Aufmerksamkeit der Nacktlinge zu erregen. Der Kopfjäger hörte selbstverständlich alles, besaß aber wenig Macht im Haus. So schrecklich er den Mäusen auch erschien, wurde er doch von seinen eigenen Artgenossen kaum beachtet.

Hywel der Böse machte eine interessante Entdeckung. Wenn er sich am Knopf des Radios festhielt und daran schaukelte, schaltete sich der Apparat an. Zu seiner großen Freude rannten die Nacktlinge herbei, sobald das Radio im leeren Zimmer losplärrte. Sie blieben davor stehen und schauten das Gerät an, als sei es lebendig. Besonders lohnend war es, den Apparat unmittelbar, nachdem sie ihn abgestellt hatten, wieder einzuschalten. Mit bleichem Gesicht wichen die Nacktlinge zurück und wimmerten einander unverständliche Laute zu.

In seinem ganzen Leben hatte Thorkils Dreibein keine intellektuellen Ruhmestaten vollbracht, doch er entdeckte schließlich, daß visuelle Tricks ebenso wirksam sein konnten wie die seltsamen Geräusche. Eines Morgens warf der Postbote vier Briefe in die Halle. Bevor die Nacktlinge die Sendungen fanden, hatte Thorkils sie fein säuberlich in einer Reihe angeordnet, indem er sie mit den Zähnen in die richtige Position schob. Ein Nacktling kam herbei, starrte auf die Briefe, auf den Schlitz in der Tür, erneut auf die Briefe und stieß einen gellenden Schrei aus. Anscheinend liebten die Nacktlinge nur ihre eigene Ordnung.

»Sieht aus, als würden wir gewinnen«, sagte Trödler zu Leichtfuß, als sie in ihrem Nest auf dem Dachboden lagen. »Die Nacktlinge sind nervös. Sie fahren bei jedem Geräusch zusammen. Besorgnis und Angst liegen in der Luft. Bald haben wir das Haus für uns allein.«

»Manchmal frage ich mich, ob das wirklich so gut ist«, meinte Leichtfuß stirnrunzelnd.

Trödler hatte noch nie etwas so Aufregendes wie die Vertreibung der Nacktlinge erlebt und wünschte sich, daß seine Nestgefährtin seine Begeisterung teilte. »Was meinst du damit?«

»Ich denke an Astrids Warnung.«

Trödler nickte. »Niemand bringt Astrid größere Achtung entgegen als ich, trotz allem, was über sie und Iban geredet wird, doch selbst Orakel sind nicht unfehlbar ...«

»Was?« schrie Leichtfuß, plötzlich hellwach. »Was ist mit Astrid und Iban?« Sie richtete sich ruckartig auf und prallte mit dem Kopf gegen den Balken, der die Nestdecke bildete. Es schien ihr nichts auszumachen. Sollte sie tatsächlich mehr an Klatsch als an Gesprächen über die Vertreibung der Nacktlinge interessiert sein?

Trödler schaute seine Gefährtin fragend an. Sie war eine großartige Maus, und er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Manchmal wunderte er sich jedoch über ihren Mangel an Ernst. Seiner Ansicht nach sollten sie über Banalitäten stehen. In der Hecke hatte es keine Zeit für Klatsch gegeben, und er konnte die Neigung der Hausmäuse dazu ganz und gar nicht gutheißen.

»Sag's mir, sag's mir, sag's mir!« flehte sie ihn an.

Trödler begriff, daß er die Information unter keinen Umständen für sich behalten konnte. »Na ja, weißt du, Astrid und Iban treffen sich seit geraumer Zeit, hinter Gorms Rücken natürlich .«

»Weiter, weiter«, drängte Leichtfuß.

Trödler seufzte. »Einige Bibliotheksmäuse sind ihnen auf die Schliche gekommen. Sie drohten, Iban zu verraten, wenn er nicht .«

»Wenn er nicht was?«

»Wenn er nicht dasselbe mit ihnen täte.«

Leichtfuß riß die Augen auf. »Du meinst, Iban war mit all diesen frustrierten, vertrockneten Jungfern aus den staubigen Regalen zusammen?«

Trödler antwortete steif: »Wenn du es so ausdrücken willst, ja.«

»Du lieber Himmel!« rief Leichtfuß. »Der bedauernswerte Kerl! Und die arme Astrid! Weiß sie davon?«

»Hm, ich glaube nicht. Sie hat einen leisen Verdacht, weiß aber nichts Genaues - und ich denke, wir sollten ihr nichts sagen.«

»Er ist ein Trottel!« schnaubte Leichtfuß. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er seinem Junggesellenstatus abschwören und mit Astrid ein Nest beziehen. Das würde doch jedes vernünftige Männchen tun, nicht wahr?«

»Die beiden sind aber keine durchschnittlichen Mäuse«, erklärte Trödler. »Ich meine, die eine redet mit Schatten und hat Visionen. Der andere ist ein Anhänger des Gottes der Finsternis und bricht alle zwei Sekunden dessen Gebote. Sie sind keine normalen Nager wie du und ich.«

Leichtfuß kuschelte sich an Trödler und leckte seine Schnurrhaare. »Du bist nicht durchschnittlich. Du bist ein ganz außergewöhnlicher Mäuserich«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Trödler genoß ihre Zärtlichkeiten und sagte bescheiden: »Eigentlich bin ich sogar ziemlich durchschnittlich.«

Sie drängte sich noch enger an sein warmes Fell. »Ganz und gar überdurchschnittlich«, flüsterte sie und knabberte an seinem Ohr.

Leicester

Während Trödler und Leichtfuß im Nest kuschelten, trat die Hauptheldin der Vertreibung der Nacktlinge in Aktion. Lauscherin entdeckte rein zufällig das Mittel, mit dem die Mäuse die Nacktlinge endgültig aus dem Haus jagen würden. Sie saß in der Standuhr und wartete auf die Schläge, bei denen ihr Körper so herrlich vibrierte. Es schlug drei. Sie streckte sich und schlüpfte aus dem Rosenholzgehäuse in die Eingangshalle. Hier blieb sie stehen und nahm die Atmosphäre der frühen Morgenstunden in sich auf. Alle Nacktlinge schliefen in ihren Betten, die meisten Mäuse hingegen waren hellwach und aktiv.

Lauscherin gehörte zu den Unsichtbaren. Sie lief zum Gwenllian-Loch, um von dort aus den Weg zum Dachboden zu nehmen. Bevor sie jedoch den sicheren Hafen erreicht hatte, erschien Spuck auf der Treppe. Er bemerkte sie und jagte los.

Lauscherin schoß quer durch die Halle zur Tür des Salons, die nur angelehnt war, glitt durch den Spalt und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Alle Schränke waren verschlossen. Spuck kam herein. Sein Blick verhieß nichts Gutes. Lauscherin sauste über den Teppich und verbarg sich unter dem Klavierhocker. Spuck sprang dagegen, so daß der Hocker umfiel und über den Boden rutschte. Lauscherin hüpfte über die Klavierpedale und quetschte sich zwischen dem linken Pedal und dem Gehäuse ins Innere des Klaviers.

Sie kletterte nach oben, bis sie auf den filzbezogenen Hämmern angelangt war. Voller Panik rannte sie eine Weile auf und ab, so daß die Hämmer gegen die Drähte schlugen. Allmählich entfalteten die entstehenden Schwingungen ihre beruhigende Wirkung, und Lauscherin verlangsamte ihr Tempo. Natürlich hörte sie die Töne nicht, konnte aber die Schwingungen spüren und empfand sie als beinahe so angenehm wie die des Glok-kenspiels in der Standuhr.

Als sie sich wieder gesammelt hatte, spähte sie durch den geöffneten Deckel nach draußen. Ob Spuck noch auf sie wartete? Wie alle Mäuse konnte sie nicht allzu gut sehen, hoffte aber, im Mondlicht eine verräterische Bewegung zu erkennen. Zu ihrem Erstaunen bot sich ihr ein völlig anderes Bild.

Der Raum war taghell erleuchtet. Die Nacktlinge standen mit offenen Mündern und aufgerissenen Augen im Halbkreis um das Klavier und klammerten sich entsetzt aneinander. Sie starrten das Klavier an wie ein Ungeheuer, das sie jeden Augenblick angreifen und verschlingen konnte. Erst jetzt begriff Lauscherin, was geschehen war.

Sie hatte Töne erzeugt, obwohl kein Nacktling die Tasten berührt hatte. Alle Mäuse im Haus wußten, daß das Klavier Geräusche von sich gab. Manchmal waren sie fürchterlich, vor allem wenn der Kopfjäger auf dem Hocker saß und mit den Stummelfingern in die Tasten hieb; doch immer brauchte man einen Nacktling, um dem Instrument einen Klang zu entlocken.

Lauscherin hatte nun zufällig eine Möglichkeit entdeckt, die Töne ohne Nacktlinge zu erzeugen. Kein Wunder, daß diese sich fürchteten. Vielleicht dachten sie, das Klavier spiele auf sich selbst? Oder ein Gespenst betätige die Tasten? Lauscherin war begeistert. Sie rannte wieder zu den Hämmern und tobte ausgelassen darauf herum, sprang von den hohen Tönen auf die tiefen Noten, trippelte auf den glockenhellen Tönen umher.

Auf den mittleren Hämmern ahmte sie Leichtfußens schweren Schritt nach. Die Schwingungen durchfluteten ihren Körper und verursachten ihr wohlige Gefühle. Dies war Lauscherins großer Beitrag zur Vertreibung - noch bedeutender als die dreizehn Schläge der Standuhr.

Die Mäuse im Haus hörten ebenfalls, wie das Klavier von selbst spielte. Es klang gar nicht so übel, und die Töne flossen beinahe melodisch dahin. Es kam ihnen vor, als suche jemand ein Lied, könne es aber nicht finden. Als sie erfuhren, daß eine Maus die Geräusche verursacht hatte, waren sie tief beeindruckt. Gorm gestand, daß Lauscherin auf diesem Gebiet sogar ihm überlegen sei. Einige Zuhörer zuckten bei seinen Worten erstaunt mit den Schnurrhaaren. Noch nie hatte Gorm einer anderen Maus größeres Lob als sich selbst gezollt.

Die ganze Woche über spielte Lauscherin zu den unterschiedlichsten Zeiten Klavier. Am zweiten Tag tauchte im Garten ein Schild mit dicken roten Zeichen auf. Am fünften Tag wurde fieberhaft gepackt. Am siebten Tag verließen die Nacktlinge mit ihren Koffern das Haus und stiegen in ihr Auto. Sie fuhren für immer davon. Den Kopfjäger nahmen sie mit, ebenso die Katzen und den Hund.

Die Vertreibung der Nacktlinge war gelungen.

Das Haus gehörte den Mäusen!

Jarlsberg

Rufe schallten durchs Haus. »Das Ungeziefer ist vertrieben! Die Speisekammer gehört uns!«

Ein Sturm auf die himmlische Speisekammer brach los. Die Mäuse wimmelten über die Treppe, quollen aus Löchern in den Fußleisten und strömten hinter der Wandvertäfelung hervor. Sie quetschten sich durch die geheimen Gänge, die die Kü-chenmäuse angelegt hatten, als dies noch ihr alleiniges Territorium gewesen war. Von überall her drängten sich die Mäuse in die Küche und die herrliche Speisekammer. Sie jubelten ausgelassen, gratulierten sich und ihren Nachbarn, vor allem Gorm und Lauscherin, und stopften sich hemmungslos voll.

Furz und Fusel waren so mit Honig abgefüllt, daß sie sich danach mit Essig statt mit Wein betranken.

Gorm der Alte schaufelte Unmengen von kaltem Kartoffelpüree in sich hinein, bis er die Augen verdrehte, umkippte und in der Schüssel einschlief.

Frych die Gefleckte verschlang Mandelpudding, während sich ihre Jungen um sie drängten und die Tropfen aufleckten, die von den mütterlichen Schnurrhaaren fielen.

Iban und Astrid wälzten sich in Butter und fraßen sich durch einen Berg von Johannisbeergelee, der schließlich zusammenbrach und sie beinahe erstickte.

Wisperer brüllte jedem, der es wissen wollte, zu, die Kekse seien einfach göttlich, wobei ein wahrer Sprühregen von Keks-bröckchen auf seinen Stamm niederging. Nichtschwimmer, der den Zuschauern seine Künste demonstrieren wollte, ertrank um ein Haar im Milchkrug. Ulf fraß eine ganze Knoblauchzehe und verbrachte den Rest des Tages allein.

Über den Mäusen hing eine Wolke aus Pfeffer und Salz, Mehl und Kleie. Maisflocken knirschten in Schnauzen und unter Füßen. Äpfel wurden angenagt, Brot schlichtweg übersehen.

Es gab jedoch auch Mäuse, die Maß hielten und der allgemeinen Schlemmerorgie fernblieben. Darunter waren I-kucheng und seine getreue Skrang, denen derartige Festivitäten nicht lagen. Auch Leichtfuß hielt sich im Hintergrund und verbarg einen Teil des Futters in der Nähe ihres Nestes. Jago, der Büchergourmet, schaute angewidert zu und berichtete seinen Stammesgenossen von leckeren neuen Zeitschriften und Illustrierten, die in der Bibliothek zu haben seien - der katzen-losen Bibliothek, wie er betonte. Er befahl ihnen, mit der sinnlosen Völlerei aufzuhören, die ihnen ohnehin nicht bekommen würde.

Trödler war weniger stoisch als seine Gefährtin. Zu seiner immerwährenden Scham stürzte er sich auf ein knuspriges, süßes Gebäck und verschlang es, bis nur noch ein paar sandartige Krümel übrigblieben. Danach stöhnte er voller Reue, als das Futter schmerzhaft seinen Verdauungstrakt passierte.

Es gab Nahrung für alle, was man wollte und soviel man wollte. Eine Köstlichkeit jedoch wurde immer noch mit Ehrfurcht betrachtet und erst gefressen, nachdem I-kucheng ein kleines Dankgebet gesprochen hatte. Und selbst dann verzehrten sie nur kleine Mengen davon.

Dies war das Ambrosia der Mäuse, die Gabe des Nagergottes, der Stoff, aus dem die Träume sind: köstlicher, herrlicher, delikater Käse.

Schließlich tauchte Kellog durch ein Loch unter dem Fleischregal auf. Die Mäuse machten ihm Platz. Wortlos trampelte er mitten durch das Futter und hinterließ seine Spuren im Senf, auf Kuchen, Kartoffeln und Würstchen. Als er auf ein Stück Käse und eine Schale mit Sahne stieß, ließ er sich auf alle Viere nieder und verschlang die Leckereien. Keine Maus traute sich, auch nur einen Happen davon für sich zu beanspruchen. Nichtschwimmer hatte sich zum Trocknen hinter einen Laib Brot gelegt und wurde durch einen Geheimgang hinausgeschmuggelt.

Kellog sprach nur wenig - und das mit voller Schnauze. »Wenn ich diesen Soundso finde, breche ich ihm den Hals.«

Danach wurde das Bankett in einer gedämpften, nicht mehr ganz so fröhlichen Stimmung fortgesetzt.

Torta San Gaudenzio

In den Tagen und Nächten seines Lebens auf dem Dachboden hatte sich Kellog an Gnadenvolls Gegenwart gewöhnt. Zunächst hatte er gehofft, sie werde sich ein anderes Revier suchen und ihm die Herrschaft überlassen. Irgendwann begriff er, daß dies nicht der Fall war, und fand sich damit ab.

Natürlich war Kellog vor der Eule noch mehr auf der Hut als vor Reimern, denn sie war der Schrecken aller Nagetiere. Er und sie unterschieden sich zwar kaum in der Körpergröße, aber die Eule war ungleich wilder und verfügte über gefährlichere Waffen. Bei einem Kampf mit der Ratte würde sie unweigerlich den Sieg davontragen.

Als Gnadenvoll den Wassertank aufsuchte, verbarg sich Kel-log zitternd in seinem Nest. Er haßte es, sich vor der Eule zu fürchten, wo er doch so gern Herrscher des Dachbodens gewesen wäre. Beim Hinausschauen entdeckte Kellog ihre gefiederte Gestalt mit den furchtbaren Klauen und kauerte sich in seinem Nest zusammen. Er betete, die Eule möge ertrinken. So etwas kam vor. Eulen badeten gern und ertranken gelegentlich in Wassertanks auf Dachböden. Die Vertreibung der Nacktlinge hatte das Haus von den Menschenwesen erlöst. Der Tod von Gnadenvoll wäre das Tüpfelchen auf dem I gewesen!

Gnadenvoll stieß beim Baden seltsame Zirplaute aus, die ein Nacktling sicher ganz reizend gefunden hätte. Kellog hingegen gefror das Blut in den Adern. Später erhielt er angenehmeren Besuch in Gestalt von Zaghaft, der mit ihm den endgültigen Plan für den Anschlag auf Nichtschwimmer besprechen wollte. Der Ort des Verbrechens war schon vereinbart. Zaghaft erklärte seinem Komplizen, der ideale Zeitpunkt sei in drei Nächten, wenn die Dämmerung in die Nacht überging. Kellog stimmte ihm zu, da er die Sache endlich hinter sich bringen wollte.

Dann überließ ihn Zaghaft seinen Träumen: Träumen von köstlich verschimmeltem Käse mit fleischigen Maden, von Mehlsäcken voller Getreidekäfer, von süßen, braungefleckten Äpfeln.

Kümmel

Seit die Nacktlinge verschwunden waren, sprachen nicht nur Furz und Fusel dem Alkohol zu. Überall taumelten betrunkene Mäuse herum, stritten sich wegen Kleinigkeiten, waren ungehobelt und derb und schliefen in fremden Nestern. Manche aber behielten einen klaren Kopf, und einige wünschten sich tatsächlich die Nacktlinge zurück.

Diese Mäuse bildeten keine feste Gruppe, sondern trafen sich in Ecken und Winkeln und fragten sich, ob die Vertreibung der Nacktlinge wohl so klug gewesen war. Sie fürchteten die heraufziehende Anarchie.

»Wie könnten wir sie bloß zurückholen?« wollte eine Maus von Astrid wissen, die sich natürlich am lautesten für die Rückkehr zur alten Ordnung einsetzte. »Wir können doch nicht einfach hingehen und sagen: >Wir haben einen Fehler gemacht, kommt bitte wieder.««

»Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen«, erwiderte die Prophetin. »Wenn sie jedoch zurückkehren, sollten wir unser altes Leben wieder aufnehmen und dem Walten der Natur nicht ins Handwerk pfuschen.«

Das Walten der Natur. Die anderen übernahmen diesen Ausdruck. Er verkörperte ihr Unbehagen über die neue Situation. Die Natur hatte beschlossen, daß die Nacktlinge im Haus herrschten, ganz einfach. Mäuse waren nicht zu Hausbesitzern geboren. Nacktlinge waren zwar Ungeziefer, aber trotz allem notwendig für einen geregelten Haushalt.

Selbst in Trödler wuchs allmählich der Verdacht, daß sie mit ihrer neugewonnenen Freiheit nicht richtig umgingen. In der fernen Hecke war man an Freiheit gewöhnt und hatte sie im Verlauf vieler Nächte in vernünftige Kanäle geleitet. In der Hecke herrschten Toleranz und Nachsicht, die dem mäusebeherrschten Haus zu fehlen schienen. In seiner Heimat kannte Trödler kein: »Das ist mein Gebiet, das ist deins, und wenn du die Grenze überschreitest, bist du tot.« Draußen sicherte man das harmonische Zusammenleben durch schweigende Übereinkunft.

Hier im Haus dagegen hatten immer feste Regeln gegolten, die nun über Nacht verschwunden waren. An ihre Stelle traten keine neuen Sitten und Gebräuche.

Jetzt, da die Nacktlinge verschwunden waren und es Nahrung in Hülle und Fülle gab, verwischten sich die Stammesgrenzen. Die Küche galt nicht länger als Territorium des Stamms der Wilden, noch gehörte die Bibliothek weiter den Buchfressern allein. Die Mäuse bauten Nester, wo es ihnen gerade beliebte, auch im Salon. Sofort kam es zu Kämpfen um die besten Plätze - wie das Sofa und die Betten -, und niemand kümmerte sich mehr um irgendwelche Regeln. Die Ordnung brach völlig zusammen.

Trödler erkannte die Gefahr, wußte aber keinen Ausweg. Im Gegensatz zu Astrid befürwortete er keine Rückkehr des Ungeziefers, sondern dachte über eine Maßregelung der zügellosesten Hausmäuse nach.

»Kommt und seht, was ich gefunden habe!« rief ein aufgeregter junger Mäuserich.

Die älteren, reiferen Mäuse lungerten auf dem Küchenboden herum und gaben sich ganz der Verdauung hin. Ihre Bäuche waren prallgefüllt, und sie fühlten sich alles andere als wohl. Die Köpfe wandten sich dem Störenfried zu, sonst rührte sich gar nichts.

»Was ist denn los?« brummte Gorm der Alte friedfertig.

»Kommt mit!« schrie der junge Mäuserich. Er war viel zu aufgeregt, um die schlechte Verfassung der Honoratioren zu bemerken.

»Ich gehe mit«, erklärte Trödler.

»Ich auch«, schloß sich Leichtfuß an.

Grimmig war ebenfalls dabei.

Als sich keiner mehr meldete, trabten die drei hinter dem Mäuserich her, der sie aus der Küche und die Treppe hinauf führte.

Trödler fand es seltsam, ohne Furcht vor einem Angriff durchs Haus zu wandern. Er bildete sich ein, daß Augapfel irgendwo in den Schatten lauerte, wo ihre grau-blaue Gestalt mit der Dämmerung verschmolzen sei. Es würde eine Weile dauern, bis sich die Mäuse bei ihren Spaziergängen nicht mehr zwanghaft umdrehten.

Natürlich gab es noch immer Gefahren. Gnadenvoll beherrschte nach wie vor den Speicher und war nicht zu unterschätzen. Erst vor einer Stunde war ein junger Unsichtbarer, betäubt von zu viel Futter, auf dem Weg zum Nest verschwunden. Wisperer vermutete, daß die Eule dahintersteckte.

Auch gab es Anzeichen dafür, daß sich der mächtige Kellog als Herr des Hauses empfand. Er trieb sich überall herum, schikanierte Mäuse und hatte bereits die Bewunderung einiger 13-K-Mitglieder erregt. Sie betrachteten Kellog als den neuen Herrn der Welt. Einerseits hatten sie Angst vor ihm, andererseits sahen sie in ihm auch eine Chance, als seine Anhänger zu allseits gefürchteten Mäusen zu werden. Eine oder zwei kleinere Banden trieben ihr Unwesen. Sie umschmeichelten Kellog schamlos und verhöhnten die Alten und Schwachen, um ihn zu beeindrucken.

Das Haus stand leer und würde Wildkatzen anlocken. Sicher, im Augenblick war alles fest verriegelt, doch irgendwann würden die Fensterscheiben zerbrechen, die Türen verrotten und Eindringlingen Einlaß gewähren. Schon jetzt war es feucht und kalt, da es ohne Nacktlinge auch keine Heizung mehr gab.

All diese Gedanken gingen Trödler durch den Kopf, als er hinter dem Mäuserich zum Treppenabsatz lief.

Vor dem Zimmer des Kopfjägers blieben sie kurz stehen. Dieser Ort hatte so lange als Folterkammer gedient, daß ihn die Atmosphäre eines Schlachthofs umwehte. Hier waren Mäuse gequält, verstümmelt und mißbraucht worden, bevor man sie tötete und an den Kleinen Prinzen verfütterte. Noch immer schmückten ihre gähnenden Totenschädel die Regale. Ihre gebleichten Knochen lagen auf der Kommode verstreut. An der Pinwand aus Kork steckten aufgespießte Felle. Es war nicht einfach, in diesen Raum zu gehen, der noch immer den Hauch des Todes verströmte.

Ihr Führer war zu jung, um so zu empfinden, und trat ohne Zögern ein. Trödler unterdrückte seine Angst vor diesem Raum und folgte mit Leichtfuß und Grimmig.

Dann entdeckten sie, was der Mäuserich gefunden hatte.

Auf dem Boden stand der Käfig des Kleinen Prinzen. Die Tür war offen, doch die weiße Maus saß noch darin. Anscheinend hatte der Kopfjäger sein Lieblingstier zurückgelassen und es den Stämmen ausgeliefert. Die Chance zur Flucht hatte die Maus nicht genutzt.

»Sie haben dich also zurückgelassen«, sagte Trödler und ging auf die Käfigtür zu. »Sie haben dich deinem Schicksal überlassen.«

Der Kleine Prinz kauerte in einer Ecke. Er schaute seine Besucher nicht an, sondern sprach mit den Gitterstäben.

»Nein, wißt ihr, es ist am besten, nicht hinauszugehen. Meine Nägel sind nicht geschnitten, außerdem bin ich so fett geworden. Seht euch bloß meinen dicken Bauch an. Ich bekomme nicht genügend Schlaf, seit mich mein Herr mit diesen schrecklichen Dingen gefüttert hat. Was für ein fürchterlicher Zustand ...«

Bei diesem mitleiderregenden Anblick erwachte Trödlers an-geborenes Mitgefühl und verdrängte alle Rachegelüste. »Kleiner Prinz!«

»Wenn mein Herr mit der Zahnbürste mein reines, wunderschönes Fell gebürstet hätte, wäre ich doch hübsch, nicht wahr, und alle Mäuse würden sagen: >Hallo, Kleiner Prinz, schön siehst du heute aus. So weiß und makellos wie eine Kirschpflaumenblüte, so unberührt wie der erste Schnee.< Aber er hat mich nicht gebürstet.«

Der Kleine Prinz hatte furchtbare Dinge getan, das konnte Trödler nicht abstreiten, doch irgend etwas an der weißen Maus weckte Trödlers tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen. Er konnte es selbst nicht genau erklären, doch spürte er, daß in dieser erbarmungswürdigen Kreatur mehr als bloße Grausamkeit und eine barbarische Gier nach Mäusefleisch steckte. Der Kleine Prinz war nicht nur Täter, sondern auch Opfer.

»Du hast einige schlimme Dinge getan, Kleiner Prinz. Sehr schlimme Dinge. Du siehst zwar tugendhaft und unschuldig aus, hast dich aber wie ein Ungeheuer in diesem Haus aufgeführt.«

Die weiße Maus starrte ihn lange mit ausdruckslosem Gesicht an. »Passiert ist passiert«, meinte sie schließlich. »Mehr gibt es nicht zu sagen, oder?«

Trödler konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Schicksal der weißen Maus von seiner Entscheidung abhing. Also wandte er sich an die anderen. »Was sollen wir mit ihm machen? Wir können ihn unmöglich den Stämmen ausliefern. Sie würden ihn in Stücke reißen. Es läuft ohnehin genug aus dem Ruder, da müssen wir nicht auch noch ihren Blutdurst anstacheln. So etwas könnte zu einer richtigen Vendetta ausarten. Mäuse würden alte Fehden ausgraben und Taten begehen, die ihnen später leid tun.«

»Wir sollten mit Gorm darüber sprechen«, meinte der Mäuserich, der den Kleinen Prinzen entdeckt hatte. »Gorm wird schon wissen, was zu tun ist.« »O nein!« schrie die weiße Maus. »Meine Schnurrhaare liegen nicht richtig.«

»Die wird man dir vermutlich mit der Wurzel ausreißen«, bemerkte der Mäuserich unbekümmert.

Leichtfuß schloß sich Trödlers Ansicht an und sagte: »Ich denke, wir sollten Gorm nichts von ihm sagen.«

»Wieso nicht?« fragte der Mäuserich.

»Möchtest du etwa zusehen, wie eine Maus in Stücke gerissen wird?«

»Ist mir egal. Er hat doch auch viele Mäuse getötet. Er hat sie sogar aufgefressen. Also verdient er es nicht besser!«

»Zunächst einmal vermute ich, daß der Kleine Prinz nicht eine einzige Maus getötet hat. Allerdings hat er ihr Fleisch gefressen, weil er es nicht anders kannte. Sein Herr hat die Mäuse getötet und an ihn verfüttert. Möglicherweise hat der Kopfjäger den Kleinen Prinzen anfangs hungern lassen, damit er einfach fressen mußte, was man ihm gab.«

Leichtfuß deutete auf den Kleinen Prinzen, der noch immer mit seinen Gitterstäben plauderte. »Ich frage dich noch einmal: Willst du zusehen, wie eine Maus in Stücke gerissen wird?«

Der Mäuserich scharrte unbehaglich mit den Füßen.

Grimmig ergriff nun das Wort. »Und genau das wird geschehen. Sie kommen herauf und töten ihn. Du wirst es mitansehen müssen - es wird deine Schuld sein. Ich hoffe, du kannst Blut sehen. Innerhalb weniger Sekunden wird der Käfig von Blut nur so triefen. Herausgerissene Eingeweide, herumrollende Augäpfel, ausgerenkte Gliedmaßen - das möchtest du dir sicher ansehen, nicht wahr? Willst du die Verantwortung für ein derartiges Massaker übernehmen?«

Der Mäuserich wurde grün im Gesicht. »Hm, nein«, murmelte er. »Aber was sollen wir mit ihm anfangen?«

»Was werdet ihr mit dem armen Mäuschen anfangen?« erklang das Echo aus dem Käfig. »Die Käfigtür schließen? Oder es zum Spielen in den Garten schicken? Was machen wir nur mit dem Kleinen Prinzen? So ein zartes Mäuschen, ein zerbrechlicher kleiner Bursche. Hat er noch ein Zuhause? Besitzt er auch nur einen einzigen Freund auf dieser Welt? Armer kleiner Kerl!«

»Halt den Mund, ich muß nachdenken«, sagte Trödler. »Wie heißt du?« fragte er den Mäuserich.

»Elisedd.«

»Ein Buchfresser, was? Nun, Elisedd, ich denke, wir müssen das hier sehr, sehr geheim halten. Du siehst mir wie ein vernünftiger Mäuserich aus, sehr reif für dein Alter. Wir kümmern uns um den Kleinen Prinzen. Wenn wir erwischt werden, halten wir dich aus der Sache heraus. Es hat in diesem Haus genug Blutvergießen gegeben. Was uns betrifft, waren wir niemals hier, einverstanden? Unsere Lippen sind versiegelt«, er fuhr sich mit der Pfote über die Schnauze, »und zwar bis zum Tod. Ich meine, daß wir dir vertrauen können. Denn ich sehe, daß du in deinem Inneren anders bist, daß du an höhere Gerechtigkeit glaubst, die von einer anderen Macht als der unseren geübt wird.«

Elisedd schluckte und schaute hoch. »Ich verstehe. Ich verspreche, es niemandem zu sagen.«

»Gut. Wir wissen deine Verschwiegenheit zu schätzen. Wenn du jemals mit einer Maus über die Sache sprechen möchtest, wenn du dir Sorgen machst, dann komm einfach zu mir. Einverstanden?«

»In Ordnung«, erwiderte Elisedd. »Ich muß jetzt gehen.«

»Denk dran«, erinnerte Leichtfuß ihn, »kein Wort über die Sache.«

Elisedd verschwand.

Trödler wandte sich zum Kleinen Prinzen. »Was machen wir nun mit dieser weißen Maus? Sollen wir ihn in den Garten schmuggeln und laufen lassen? Ein Falke oder ein Wiesel würde ihn eine Meile weit erspähen. Er könnte sich ebenso gut auf einen Hügel stellen, die Vorderpfoten ausstrecken und >Holt mich!< rufen.«

»Gärten sind wunderschön«, erzählte der Kleine Prinz den Gitterstäben. »Voll leckerer Blumen und zarter, weicher Blätter, die sich gut kauen lassen. Kommt mit mir in den Garten, meine Freunde, und ich zeige euch das grüne, grüne Gras ...«

Sie beachteten ihn nicht.

Leichtfuß sagte: »Du hast recht. Wenn wir ihn im Garten freilassen, ist er so gut wie tot. Er kann in der Wildnis nicht überleben. Falls er nicht gleich am ersten Tag etwas Giftiges frißt, wird ihn etwas fressen. Da könnten wir ihn genauso gut in die Jauchegrube werfen und ertrinken lassen.«

»Welche Wahl bleibt uns denn?«

»Er könnte eine Weile in unserem Nest wohnen«, sagte Leichtfuß. »Bis wir beschlossen haben, was zu tun ist.«

»In unserem Nest?« schrie Trödler fassungslos. »Das ist doch nicht dein Ernst.«

»Ich halte es für eine ausgezeichnete Idee«, warf Grimmig ein.

»Natürlich, um dein Nest geht es ja auch nicht«, fuhr ihn Trödler an. »Da fällt mir ein, du lebst doch allein.«

»Vergiß es«, antwortete Grimmig. »Ich bin weg. Haltet mich auf dem laufenden.« Und schon war er zur Tür hinaus und die Treppe hinuntergelaufen.

»Na gut«, seufzte Trödler. »Wir müssen das Beste daraus machen. Los, Leichtfuß, schmuggeln wir ihn nach oben, bevor die Orgie in der Speisekammer vorbei ist. Du kommst doch mit?« wandte er sich an den Kleinen Prinzen. »Wir zwingen dich zu nichts. Wenn du jedoch hier bleibst, wird dich früher oder später eine andere Maus entdecken. Wir können dann nur noch deine Überreste aufsammeln.«

Der Kleine Prinz trippelte durch seinen Käfig, blieb kurz an der Tür stehen und sprang hinaus. Seine rotgeränderten Augen blickten ängstlich. Mit zitternden Beinen huschte er in seine Behausung zurück.

»Was ist mit ihm los?« fragte Trödler.

»Ich fürchte, er war so lange im Käfig, daß er Angst vor weiten Räumen hat«, meinte Leichtfuß.

»Weite Räume!« rief Trödler, dem das Haus immer sehr eng erschienen war. »Da sollte er mal in die Felder hinausgehen. Ich zeige ihm, was ein weiter Raum ist.«

»Das gefällt dem Kleinen Prinzen nicht«, flüsterte die weiße Maus. »Der Kleine Prinz möchte hier bleiben.«

Trödler betrat den Käfig und kniff die weiße Maus so lange, bis sie zur Tür hinausrannte. Er trieb sie aus dem Zimmer und durch das Skelldulgan-Loch am Ende des Treppenabsatzes. In dem schmalen Tunnel, der zum Dachboden führte, wehrte sich der Kleine Prinz nicht mehr und trabte brav zwischen Trödler und Leichtfuß dahin.

Kurz vor dem Wassertank blieb Trödler stehen, um die Lage zu prüfen. »Er ist so auffällig wie ein Nacktling«, grollte er und wies auf das weiße Fell. »Dieses ist das Land der Unsichtbaren, und wir stehen hier mit einer Maus, die man zehn Felder weit erkennen kann. Was nun? Kellog wird ihn entdecken und alles ausplaudern.«

»Paß auf, wir wälzen ihn einfach in Dreck und Spinnweben«, schlug Leichtfuß vor. »Wenn wir vorher auf sein Fell spucken, klebt der Schmutz noch besser.«

Der Kleine Prinz sah sie entsetzt an. »Schmutz? Lieber sterbe ich.«

»In Ordnung«, erwiderte Trödler und entfernte sich. »Dann stirb. Gnadenvoll kann jeden Augenblick hereinkommen. Sie wird kurzen Prozeß mit dir machen. Für sie bist du nur ein weißer, flauschiger Klumpen, den sie kaum in der Kehle spürt.«

»Ich wälze mich ja schon!« schrie der Kleine Prinz.

Trödler und Leichtfuß befeuchteten sein Fell, während er sich im Staub wälzte. Schließlich saß ein dunkles Etwas mit rotgeränderten Augen vor ihnen. Vielleicht würden sie auf die-se Weise mit ihm durchkommen.

»Ich stinke«, wimmerte die weiße Maus.

Trödler sagte: »Gott sei Dank. Sonst hätte Kellog dich schon von weitem gewittert. Unsere Gerüche kennt er und wird nicht weiter darauf achten.«

»Du wirst niemals ein Unsichtbarer. Aber mehr können wir nicht tun«, meinte Leichtfuß. Sie führte den Kleinen Prinzen in das Gewirr der Balken hinauf und befahl ihm, sich nur gemeinsam mit ihr zu bewegen.

Auf dem ganzen Weg zum Nest fürchteten sie, entdeckt zu werden, da einige Unsichtbare ebenfalls aus der Küche zurückgekehrt waren. Weder Trödler noch Leichtfuß mochten sich vorstellen, was Wisperer mit dem Kleinen Prinzen anfangen würde. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt, und die Unsichtbaren haßten ihn noch mehr als die Wilden oder die Bibliotheksmäuse. Wisperer galt als guter Anführer, doch würde er nicht davor zurückschrecken, die weiße Maus zu opfern, um dem Zorn seines Stammes Einhalt zu gebieten. Der Kleine Prinz hatte einige ihrer nächsten Verwandten gefressen. Sie würden nicht zögern, der weißen Maus die Kehle aufzureißen.

Schließlich erreichten sie ihr Nest. Trödler ließ sich erleichtert auf das kuschelige Lager aus Hobelspänen und Pappstük-ken fallen.

Leichtfuß legte sich neben ihn. Der Kleine Prinz mußte sich einen Platz im hinteren Bereich des Nestes suchen.

»Warum tust du das?« wollte Trödler von seiner Gefährtin wissen. »Ich weiß, der Kleine Prinz hätte mich gefressen, wenn mich der Kopfjäger gekocht hätte. Er hat mich lächerlich gemacht und gequält, aber mir ist nichts wirklich Schlimmes zugestoßen. Doch wie steht es mit dir? Er hat sicher einige deiner Familienangehörigen verschlungen.«

»Über so etwas denke ich nicht gerne nach«, antwortete Leichtfuß. »Außerdem glaube ich nicht, daß es allein seine Schuld ist. Der Kopfjäger hat ihn in ein Monster verwandelt.«

Sie schaute Trödler ernst an. »Das Schlimme war, daß es ihm Spaß machte, daß er es richtig genossen hat. Aber was würdest du tun, wenn du ständig im Käfig säßest? Dabei muß eine Maus ja durchdrehen.«

»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Trödler. »Das habe ich mir auch schon gesagt. Na ja, wir müssen ihn wohl hier behalten, bis uns eine bessere Lösung einfällt. Wir müssen ihm Futter aus der Speisekammer besorgen. Die gehört ja nun glücklicherweise uns Mäusen .«

Münster

Zitternd lief Zaghaft zu Kellogs Nest. Er glitt durch Licht und Schatten, duckte sich hinter den Balken und nutzte die Schleichwege des Gerümpelurwalds: hier über einen Haufen Lumpen, dort durch ein paar rostige Fahrradspeichen, dann unter der Brücke einer Spielzeugeisenbahn hindurch. Er wußte nicht mehr so genau, warum er sich auf diese Sache eingelassen hatte; beinahe tat es ihm leid, ein anderes Lebewesen ans Messer zu liefern.

Das Komplott war sehr gefährlich. Zaghaft gaukelte der Welt zwar einen rücksichtslosen, gewalttätigen Charakter vor, doch im Inneren fühlte er sich ebenso verletzlich wie andere Mäuse auch. Nun hatte er an sich selbst etwas entdeckt, das er bei anderen verachtete: Angst.

Der Dachboden lag im Zwielicht. Zu dieser Tageszeit, wenn die Sonne untergegangen war, herrschte hier oben eine besondere Stille. Nichts rührte sich. Bald jedoch würde Gnadenvoll erwachen und auf die Jagd gehen. Obwohl ihr die Unsichtbaren mit größtem Geschick aus dem Weg gingen, war es ratsam, sich zu verkriechen, wenn die Eule wachsam, hungrig und ungeduldig losflog. Ihre brennenden gelben Augen glichen Fak-keln.

Für einen Mordanschlag war jetzt der ideale Zeitpunkt: Es gab keine Zeugen.

Zaghaft hatte Nichtschwimmer um eine Unterredung gebeten und mußte nun dem gefürchteten Kellog Bescheid sagen. Er fragte sich, ob der Schuh nicht eine Nummer zu groß für ihn sei. Jedenfalls bebte er vor lauter Angst. Schließlich erreichte er den Wassertank und glitt hinein. Er schwamm nicht so gut wie sein potentielles Opfer, konnte sich aber wie alle Mäuse lange genug über Wasser halten, um ans andere Ufer zu gelangen. Schon unterwegs nahm er Kellogs muffigen Geruch auf, der zu ihm herüberwehte. Die große Dachratte saß erwartungsvoll in ihrem Nest, da sie das Geplätscher gehört hatte.

Zaghaft krabbelte aus dem Wasser und schüttelte sich. »Bist du da, Kellog?« fragte er leise.

In dem finsteren Nest bewegte sich etwas.

Wieder überkam Zaghaft das Zittern. Den Mäusen erschien Kellogs Nest, das wie eine Festung über dem Wasser emporragte, überaus angsteinflößend. Es war das Heim eines Giganten - eines Despoten, der Mäusekinder stahl und aus Spaß Morde beging. Kellog hatte eine Rabenfeder in die Außenwand seines Nestes gewoben, die für die Unsichtbaren das schwarze Herz des Bewohners symbolisierte.

Als Kellog am Eingang erschien, überflutete Zaghaft eine strenge Geruchswolke. Die harten Augen starrten ihn an. Die langen Schnurrhaare vibrierten. Der dicke, nackte Schwanz zuckte.

Zaghaft betrachtete die spitzen gelben Schneidezähne.

»Und?« fragte das Rattenungeheuer. »Was ist?«

Zaghaft verließ der Mut. »Es ist soweit - du erinnerst dich doch? Ich habe versprochen, dir Nichtschwimmer zu liefern.«

»Natürlich erinnere ich mich. Erstaunlich, daß du erbärmlicher Wurm daran gedacht hast, wo ihr doch so schön in der Speisekammer feiert. Ich muß ihr noch einmal einen Besuch abstatten, sobald wir Nichtschwimmer los sind. Es ist an der Zeit, meine Position zu festigen. Langsam solltet ihr Jammergestalten mir die Achtung entgegenbringen, die ich verdiene. Ich werde mein Nest in der Speisekammer aufschlagen. Was hältst du davon? Dann müßtet ihr um jeden Krümel betteln. So viel Futter - aber Kellog wacht darüber. Dann würdet ihr mich doch vergöttern, nicht wahr? Ihr müßtet vor mir auf dem Bauch kriechen, um Futter flehen und meinen Namen rufen. Ich werde als Gott unter den Nagern herrschen, als lebende Legende, von ihnen verehrt und geliebt.«

»Ich - ich bin sicher, daß dir alle zustimmen werden«, murmelte Zaghaft.

»Ihnen bleibt auch gar nichts anderes übrig«, fauchte Kellog. »Sonst beiße ich ihnen die verdammten Köpfe ab, klar?«

»Klar würdest du das.«

»Der Herr des Hauses, was? Da unten gibt es keine Eule, die mir diesen Titel streitig macht. Nur Mäuse, die >Ja, Herr, nein, Herr, bitte nicht beißen< wimmern.« Kellog nickte langsam und bedächtig mit seinem großen Kopf. »Da ich gerade von Gnadenvoll spreche - ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, um dieses Dreckstück Nichtschwimmer zu beseitigen? Es wird dunkel.«

»Eben deshalb habe ich diesen Zeitpunkt gewählt«, erklärte Zaghaft. »Niemand ist unterwegs. Es dauert ja nicht lange. Ein paar schnelle Bisse, und schon bist du wieder in deinem Nest. Hauptsache, es läuft leise ab, damit Gnadenvoll nichts merkt. Geht das?«

»Zeige mir die Maus, und ich töte sie binnen einer Sekunde«, entgegnete Kellog. »Sie wird nicht mehr erfahren, wer ihr die Kehle zerfetzt hat.«

Zaghaft erschauerte, riß sich aber zusammen. »Dann los, bevor Nichtschwimmer die Lust am Warten vergeht. Ich habe mich mit ihm verabredet, um unsere Differenzen beizulegen. Jedenfalls glaubt er das. Ich sagte, ich wolle mit ihm allein sein, weil es mir peinlich sei, mich in aller Öffentlichkeit bei ihm zu entschuldigen. Daher hat er mir auch den ungewöhnlichen Zeitpunkt abgekauft.«

»Und er ist wirklich da?«

»Ganz bestimmt. Töricht hat ihn gedrängt, sich mit mir zu treffen. Sie sorgt schon dafür, daß er kommt.«

»Das hoffe ich - für dich«, drohte Kellog und glitt ins Wasser. »Ich werde heute nacht eine Maus töten. Vorzugsweise sollte es sich dabei um Nichtschwimmer handeln, im Notfall nehme ich aber auch jemand anders. Verstanden?«

»Verstanden«, flüsterte Zaghaft. Dann glitt auch er in den Tank und schwamm neben der Dachratte zum anderen Ufer hinüber.

Die beiden huschten gemeinsam durch den Dschungel aus Gerumpel. Schließlich blieb Zaghaft stehen und deutete mit der Nase auf einen entfernten Schatten unter einem Balken. »Er wartet dort drüben auf mich. Wenn du dich an der anderen Seite des Balkens entlangschleichst, wird er dich weder sehen noch riechen. Du mußt nur ganz leise sein.«

»Kein Problem«, murmelte Kellog und schaute sich nach der Eule um. »Ich bin still wie der Tod.«

Mit diesen Worten sprang die Ratte auf den Balken und kroch darauf entlang, wobei sie Nichtschwimmers Position stets im Auge behielt. Als Kellog ganz nah herangekommen war, verlangsamte er sein Tempo und bewegte sich nur noch in Zeitlupe vorwärts.

Das Licht schwand rasch. Draußen war die Sonne beinahe untergegangen. Auch die Schatten wandelten ihre Gestalt und würden bald mit der allgemeinen Dunkelheit verschmelzen. Schließlich blieb Kellog stehen. Auf der anderen Seite des Balkens wartete Nichtschwimmer, sein Feind. Kellog konnte ihn jetzt riechen. Sollte Nichtschwimmer Kellog ebenfalls bemerken und fliehen, würde Kellog Nichtschwimmer mit wenigen Sätzen einholen. Vermutlich bebte dieser vor Angst, da er ihn gewittert hatte und seine ausweglose Situation begriff.

Nun liegt er zitternd da, dachte Kellog bei sich. Er fragt sich, weshalb er sich auf dieses Treffen eingelassen hat.

Die Stille auf dem Dachboden war vollkommen. Nichts rührte sich, als warte die ganze Welt auf den Angriff der Ratte, als lausche jedes Ohr auf die erstickten Schreie, als rieche jede Nase schon den Tod. Die Zeit verging.

Plötzlich bewegte sich etwas!

»Hallo, Eule, hier bin ich. Komm und hol mich! Komm und schnapp mich! Ich warte auf dich, Eule ...« Nichtschwimmer war tatsächlich auf den Balken geklettert und brüllte, was das Zeug hielt.

War der vollkommen übergeschnappt? dachte Kellog. Wollte er in den Krallen einer Eule Selbstmord begehen?

Kellog spürte, wie ihn Panik überkam. Er war verwirrt, hin-und hergerissen zwischen Flucht und Mord. Da bleiben war gefährlich - doch Nichtschwimmer saß vor seiner Nase. Eine schnelle, verzweifelte Entscheidung - Kellog mußte Nichtschwimmer selbst töten! Kellog kauerte sich zusammen, spannte alle Muskeln an, bereitete sich auf den Sprung vor. Nichtschwimmer tanzte weiter und stieß dabei schrille Schreie aus. Kellog warf einen raschen Blick über die Schulter und stürzte los.

Die Lichter! Schon schossen die gelben Lampen durch die Dämmerung, Augen, die hundertmal stärker waren als die der Ratte. Krallen und Schnabel kamen näher. Wie ein Blitz sauste die Eule durch die Luft.

Kellogs Zähne ritzten gerade die Haut Nichtschwimmers, ein paar Blutstropfen flossen. Doch Nichtschwimmer warf sich blitzschnell hinter den Balken, und die Zähne der Ratte glitten ab.

Nichtschwimmer tauchte im Schatten unter. Kellog stürzte ihm nach. Die schwere Ratte plumpste vom Balken und gab in der Luft ein ideales Angriffsziel ab. Weiche Flügel zischten über ihren Kopf hinweg. Kellog spürte, wie die Krallen zuschlugen und seinen Rücken so tief aufrissen, daß die Wirbelsäule freilag.

Plötzlich begriff Kellog, daß er in eine Falle geraten war. »Betrogen!« kreischte er, während er blutend umhertaumelte. Er blieb auf der Seite liegen, während das Leben aus seinem Körper rann. Er wußte, er würde sterben, wußte, daß er einem ausgeklügelten Komplott zum Opfer gefallen war. Diese verdammten Waldmäuse hatten ihn der Eule als Beute ausgeliefert. Sie kannten seinen abgrundtiefen Haß, wußten, daß er jedes Risiko eingehen würde, um seinen Todfeind zu ermorden. Kellogs Augen verschleierten sich, sein Herz klopfte noch heftig, Haß brannte in ihm. Er würgte Galle hervor und wartete auf den tödlichen Schlag.

Gnadenvoll schwebte über ihm, stieß herab und schlug noch einmal zu. Diesmal riß sie Kellog die Kehle auf. Das Denken der Ratte vermischte sich mit dem Schmerz, bis beides im Nichts davonschwamm.

Von seinem Versteck aus konnte Nichtschwimmer sehen, daß die Ratte diese Welt verlassen hatte. Ihre Augen starrten glasig ins Leere. Gnadenvoll arbeitete schnell mit ihrem Schnabel, um an die Weichteile zu gelangen. Diese Ratte war eine ungewöhnlich große Beute für sie. Sie schlemmte eine Weile, und warmer Blutgeruch erfüllte die Luft. Nichtschwimmer hielt sich die ganze Zeit im Schatten. Als die Eule satt war, ließ sie den zerrissenen, blutigen Körper für die Maden liegen und flog durch ihr Loch in den Abend hinein.

Nichtschwimmer und Zaghaft liefen aufeinander zu. Die beiden Mäuse begegneten einander höflich, aber kühl. Freunde waren sie nicht und würden es auch niemals sein. Dazu waren sie zu unterschiedlich. Außerdem hätte Zaghaft gerne Töricht als Gefährtin gehabt. So etwas reichte schon aus, um Mäuse zu Feinden zu machen.

Allerdings hatte Kellog einen Fehler begangen, als er dachte, Mäuse würden einander betrügen. Sicher, eine Maus konnte eine andere hassen, doch würde sie sich niemals mit einer Ratte gegen ihresgleichen verbünden. Eine Maus blieb eine Maus und eine Ratte ein Außenseiter.

Nun brach der Pakt auseinander. Von der Leiche der Ratte aus gingen sie getrennte Wege. Bevor Nichtschwimmer zu seinem Nest lief, holte er das rote Seidenband und drapierte es über Kellogs totem Körper. Das Rot des Bandes war kaum vom Blut zu unterscheiden. Er kehrte zu seinem Weibchen zurück.

Voller Sorge erwartete sie ihn im Nest, das sich nun im Schlafzimmer eines Puppenhauses befand. Sie lief ihm entgegen. »Und?« fragte sie erleichtert.

»Geschafft«, antwortete ihr Gefährte.

Sie entdeckte das Blut an seiner Flanke. »Du bist verletzt«, sagte sie. »Laß es mich ablecken.«

»Es ist nicht schlimm«, meinte Nichtschwimmer, wehrte sich aber nicht gegen ihre Zunge. »Du solltest mal Kellog sehen.«

»Er ist also tot?«

»Ratzetot, sozusagen.«

Danach verloren sie kein Wort mehr über die Sache.

Frische Kaas

Sieben Nächte später fuhren Nacktlinge mit einem riesigen Fahrzeug vor und kamen den Weg zum Haus herauf. Sie wirkten groß und muskulös. Die Mäuse schauten zu, wie sie das Haus betraten und die Möbel aus den Zimmern räumten. Aus dem Salon und dem Wohnzimmer verschwanden die Dschungel der hölzernen Beine. Die Teppiche wurden aufgerollt, die Lampen hinausgetragen. Der Dachboden leerte sich. Die Sammlung des Kopfjägers mit den Glasbehältern, in denen Mäuse schwammen, wurde auf dem Gartenweg zerschmettert. Die Überreste verrotteten in der Sonne.

Mit der Standuhr in der Halle verschwand ein vertrautes Wahrzeichen. Nun verloren die Mäuse jegliches Zeitgefühl. Ihr ganzer Lebensrhythmus geriet durcheinander. Sie rannten zum Fenster, um nachzusehen, ob Tag oder Nacht war, ob Sonne oder Mond am Himmel standen. Ihre Verwirrung machte sie launisch, ja gereizt. Oftmals veränderte sich ihre Persönlichkeit über Nacht.

Man hatte nicht nur die Möbel, sondern auch die Reste der Nahrungsmittel mitgenommen. Manches davon warfen die Nacktlinge in den Mülleimer, doch das meiste verschwand in dem großen Wagen. Als sie schließlich abfuhren, glich das Haus wieder dem riesigen Schneckenhaus, das es einmal gewesen war.

Die Mäuse waren verblüfft, rissen sich aber zusammen, denn die Speisekammer war bisher niemals lange leer geblieben.

Den Möbeln trauerten sie nicht weiter nach, obwohl sie gern auf und unter ihnen herumgelaufen waren. Auf dem Dachboden waren mit dem Gerumpel auch zahlreiche Nester verschwunden, doch man konnte woanders neue einrichten. Die Dachbodenlandschaft, die in wenigen Tagen vom Gebirge zur Ebene geschrumpft war, erschreckte die Mäuse mit ihrer unendlichen Weite. Doch auch darüber würden sie mit der Zeit hinwegkommen, ebenso wie über den Verlust der Standuhr. Das Verschwinden der Nahrung hätte als Katastrophe gelten müssen, wäre da nicht die hundertprozentige Gewißheit gewesen, daß sich die Speisekammer wie von Zauberhand wieder füllen würde.

Manche zweifelten insgeheim an einem sofortigen Nachschub an Köstlichkeiten und glaubten an eine längere Wartezeit. »Möglicherweise«, so flüsterten sie einander zu, »werden den sieben fetten Tagen sieben magere Tage folgen.«

Astrid teilte jedem, der es wissen wollte, mit, daß die Zeit des

Überflusses für immer vorüber sei und die Tage des Darbens bevorstünden.

»Wartet nur ab«, meinte Gorm optimistisch, »bald sind die Regale wieder voll.«

Sie lungerten in der Küche herum und hofften auf das Erscheinen des Futters. An der Tür zur Speisekammer bildeten sich Schlangen. Mäuse umringten die leeren Regale und beteten um ein Wunder. Es gab einzelne, die zu dem Schöpfer beteten, die Speisekammer möge sich auf wundersame Weise wieder füllen.

Glux

Die Gelbhälse waren die größten Mäuse im Haus und benötigten daher mehr Futter als die anderen. Allerdings erwiesen sie sich meist auch als genügsamer, da sie von Natur aus bescheiden waren. Ihre Art hatte gelernt, mit dem Leben und seinen Schwierigkeiten klarzukommen. Wenn das Schicksal eine unerfreuliche Wendung nahm, zuckten sie mit den Schnurrhaaren, wackelten mit dem Schwanz und machten das Beste daraus. Vermutlich eigneten sich die Gelbhälse daher so gut für das Leben als Totenkopf. Auf ihrer soliden Lebensphilosophie konnten sie während ihrer Zeit als Wanderpriester ausgezeichnet aufbauen.

I-kucheng wurde von einigen wenigen Mäusen hochgeschätzt. Skrang war darunter und noch einige andere, die er mit seinem Urteil zufriedengestellt hatte.

Unter den Totenköpfen genoß er hingegen allgemeine Verehrung. Er hatte die Kampfkunst Ik-to, die reine Selbstverteidigung, vervollkommnet. Wenn sich Totenköpfe an seine Technik hielten, trugen sie keine schweren Verletzungen davon. Auch war er Anhänger der Selbstauslöschung, der Tilgung des Selbsts. Sein größter Schmerz bestand darin, daß sein Schüler Iban Yo, dem Gott der Finsternis und Unwissenheit, folgen und sein Gedächtnis anstatt des Selbsts auslöschen wollte.

In diesem Augenblick lag I-kucheng im Rajang-Loch auf dem Sterbebett. Bei ihm saß seine treue Kriegerpriesterin Skrang und beobachtete voller Trauer sein Dahinschwinden. Draußen vor dem Loch hielten zahlreiche Mäuse Wache. Die meisten von ihnen wollten sich jedoch lediglich versichern, daß er auch tatsächlich starb.

»Skrang«, krächzte I-kucheng und starrte dabei an die Decke, »verstehst du, dies ist ein Triumph. Der Tod bedeutet nicht Versagen, sondern Triumph.«

»Ja«, flüsterte sie. »Ich weiß. Willst du etwas beichten? Vielleicht eine Sünde aus deiner Jugend? Du solltest das tun, bevor du die Reise antrittst.«

Ihr selbst fiel nichts ein. Seit sie ihn kannte und ihm als Wächterin gedient hatte, war er ohne Sünde gewesen.

»Ich hasse diese Tapete.«

»Wie bitte?« fragte Skrang überrascht.

»Die Tapete - diese lächerlichen kleinen Rosen. Ich hasse sie«, gestand I-kucheng. »So, das war meine Beichte auf dem Sterbebett.«

»War das alles?«

»Ist das nicht schlimm genug? Etwas zu hassen, das Nacktlinge als Kunst betrachten? Ich habe damals miterlebt, wie sie das Zeug mit Bürsten und Kleber angebracht haben - der Kleber schmeckte grauenhaft. Das darf ich sagen, da ich zu dieser Zeit noch kein Totenkopf war. Ich habe die Tapete seither gehaßt, es aber bis heute verdrängt.«

»Unn wird dir deinen Fehltritt vergeben«, murmelte Skrang.

In diesem Augenblick erscholl ein Schrei aus der Menge. »Los, schneller, bring es hinter dich!«

»Was war das?« flüsterte I-kucheng. »Ein Glaubensgenosse?«

»Nichts, gar nichts«, erwiderte Skrang. »Jemand - hm - jemand hörte dich sagen, der Tod sei ein Triumph, und hat dich ermutigt.«

I-kucheng runzelte die Stirn. »Kein banaler Triumph - eine feierliche Handlung ...«

»Stimmt. Ich werde weitere Anfeuerungsrufe verbieten.«

Doch das war nicht mehr nötig, da I-kucheng die Schwelle zur Anderwelt überschritten hatte. Der letzte wahre Totenkopf lebte nicht mehr.

Als Skrang die Menge davon in Kenntnis setzte, zogen die Mäuse rasch an der Leiche vorüber. Nur wenige wirkten betroffen; sie erkannten, daß mit ihm eine Ära zu Ende gegangen war.

Skrang selbst tröstete sich mit dem Gedanken, daß der Tote in anderen weiterlebte, die er durch seine Lehren beeinflußt hatte. Sie glaubte, daß ein wenig von unserem Selbst in jeden übergeht, mit dem wir in Berührung kommen, auch wenn wir ihn nur nach einem Stückchen Käse fragen. Jenes undefinierbare Etwas, das unsere Persönlichkeit ausmacht, bleibt da, wenn wir in die Anderwelt hinübergehen. Manchmal ist dieses Etwas groß und stark, etwa wenn die verstorbene Maus ein guter Freund oder Verwandter war, manchmal auch winzig klein. Die Toten leben in den Lebenden weiter und bilden noch immer einen Teil des großen Mäusevolkes, das die Welt bevölkert.

Vestgötaöst

Im Haus herrschte eine schreckliche Hungersnot. Die Stämme durchlitten die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Es gab kein Zusammengehörigkeitsgefühl mehr, keine Bruder- oder Schwesternschaft, kein Empfinden, daß man zur selben Gruppe gehörte.

Einige Paare blieben noch zusammen, doch in den meisten Fällen kämpfte jede Maus für sich allein gegen den Hungertod.

Niemand konnte sich erinnern, daß je eine ähnliche Verzweiflung geherrscht hatte. Käse war nicht nur rationiert, sondern überhaupt nicht vorhanden. Fast alle Mäuse standen kurz vor dem Verhungern und verfielen beinahe dem Wahnsinn.

Das Haus hatte seinen harmonischen Rhythmus, den Einklang mit seinen Bewohnern verloren. Da es stets unabhängig von den Einflüssen der Natur bestanden hatte, entwickelte sich die Disharmonie zu einem Strudel, aus dem es anscheinend kein Entrinnen gab.

Astrids Prophezeiung hatte sich erfüllt, doch niemand dachte daran, ihr zu gratulieren. Sie aber ließ niemals ein »Ich habe es euch ja gesagt« über ihre Lippen kommen.

Selbst die Speisekammer hatte ihre überirdischen Eigenschaften verloren. Sie galt nicht mehr als göttlich oder himmlisch, quoll auch nicht mehr über, sondern hatte sich zu einem verlassenen Ort entwickelt. Er enthielt keine geheiligten Fleischplatten mehr, keine Kuchenteller mit herrlichen Krusten, keine vollen Servierbretter aus Marmor. Der Raum war so leer, daß die Stimme darin widerhallte. Selbst die Ameisen hatten sich verzogen. In diesem Tempel geschahen keine Wunder mehr.

Die Mäuse erlebten eine Zeit des Unglücks. Sie kämpften um jeden Krümel. Manche wagten sich in den Garten und suchten dort, zu Stones Freude, nach Futter. Doch sie konnten im Konkurrenzkampf mit Feldmäusen, Wühlmäusen, Spitzmäusen und anderen Wildtieren kaum bestehen. Ihnen erging es nicht viel besser als ihren Artgenossen, die im Haus geblieben waren.

Jago, der sein Leben lang für den Verzehr von Büchern geworben hatte, kaute nun an Stromkabeln. Natürlich ging es dabei nicht mehr um Sabotage, sondern ums nackte Überleben.

»Du bringst dich noch um«, bemerkte Wisperer. »Dieses Gummizeug verklebt deine Därme, und du erleidest einen qualvollen Tod.«

»Ich bin süchtig danach«, gestand Jago. »Ich habe während der Vertreibung der Nacktlinge so lange Kabel beknabbert, daß ich Geschmack daran gefunden habe. Die Nacktlinge haben alle Bücher mitgenommen. Wenn es in der Speisekammer Futter gäbe, könnte ich vielleicht davon loskommen, aber so .«

Zwei Stunden später befand sich Jago in einem fürchterlichen Zustand. Von Schmerzen gepeinigt wälzte er sich am Boden. Wie durch ein Wunder überlebte er die nächsten vierundzwanzig Stunden. Danach schwor er, nie wieder Stromkabel zu fressen. Kurz darauf holte ihn die Sucht ein, und er knabberte winzige Gummibröckchen, die ihm kurz nach dem Verzehr schwere Übelkeit bescherten.

Bald gehörte er zu jenen Mäusen, die sich in dunklen Ecken herumdrückten, war ständig gereizt und wies alle Versuche zurück, aus ihm wieder den vertrauten freundlichen Zeitgenossen zu machen.

Grimmig, der immer gerecht und überaus ehrlich gewesen war, stieß beim Eingang zu Tunnelgräberins Labyrinth auf einen Nußvorrat. Irgendein Eichhörnchen hatte das Futter dort versteckt und anscheinend vergessen. Er erzählte niemand von seiner Entdeckung. Erst Tunnelgräberin berichtete den anderen Mäusen von ihrem Verdacht, nachdem sie ihren Tribut in Nüssen erhalten hatte. Alle rannten hin und bedienten sich. Die Neuigkeit drang bis zu den Feldmäusen im Garten vor, so daß schließlich der gesamte Vorrat geplündert wurde. Grimmig selbst bezog im Gedränge schwere Prügel.

Derartige Zwischenfälle zeugten von der Anarchie, die nach der Vertreibung der Nacktlinge Einzug gehalten hatte.

Das Haus glich einem riesigen Grab, die Speisekammer einer leeren Gruft, in der die Schreie hungernder Mäuse widerhallten. Sie nagten an den Bodendielen, fraßen ihre Nester - und wenn sie schnelle Esser waren, fielen sie auch über die Nester der anderen her. Es gab Gerüchte von unaussprechlichen Greueltaten, die mit den zerschmetterten Flaschen des Kopfjägers und deren konservierten Insassen zu tun hatten. Sie waren zu schrecklich, als daß sie in die Annalen der Mäusehistorie eingehen dürften. Die Mitglieder der Stämme verwandelten sich in umherstreifende Gespenster, mager und ausgemergelt, unter deren Fell sich die Rippen abzeichneten. Das Haus kümmerte sich nicht um ihr Leid. Es war nur ein totes, kaltes Gebilde.

Überraschend und verdächtig zugleich erschien die Tatsache, daß Furz und Fusel noch immer runde Bäuche aufwiesen. Allerdings erregte nicht nur ihre Körperfülle Argwohn, sie beklagten sich auch nie über den Nahrungsmangel. Als Thorkils Dreibein sie deswegen zur Rede stellte, rief Fusel: »Wir haben doch aufgetriebene Bäuche, oder nicht? Ich meine, wir haben genau so Hunger wie alle andern. Sogar schlimmer. Nur haben wir ein bißchen Haltung, Fusel und ich. Jammern nicht so herum. Wir sind halt Stoiker ...«

»Stoiker?« brüllte Thorkils. »Was zum Teufel ist das denn?«

»Wir sind stoisch«, erklärte Fusel. »Noch nie gehört? Heißt, daß wir vieles einstecken, kapiert?«

»Wirklich? Na ja, da ihr anscheinend kein Krümelchen besitzt, werden wir euch im Keller einen Besuch abstatten und sehen, wie wir euch unter die Arme greifen können. Der Gedanke, ihr könntet kurz vor dem Verhungern stehen, bereitet mir schlaflose Nächte.«

»Ist nicht nötig«, meinte Furz rasch. »Wir tragen unsre Last stoisch mit uns herum. Braucht euch keine Sorgen zu machen.«

Die Wilden und die 13-K suchten den Keller systematisch ab und entdeckten in einem leeren Weinfaß einen Sack Kartoffeln. Gorm und seine Truppe stellten die Kellermäuse zur Rede, die energisch abstritten, davon gewußt zu haben.

»Wir sind am Verhungern und haben Kartoffeln in unserem eigenen Keller!«

Trödler betrachtete bekümmert das Auseinanderbrechen der Mäusegesellschaft. Er spielte mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen, und sprach mit Leichtfuß darüber. Sie fand die Idee zwar verlockend, doch der Winter stand vor der Tür.

»Ich habe noch nie im Winter draußen gelebt«, sagte sie. »Ich kenne keinen Winter, da ich im Frühling geboren wurde, aber ich spüre die Kälte in der Luft. Obwohl die Heizung nicht mehr läuft, ist es im Haus wärmer als draußen. Tut mir leid, du hältst mich bestimmt für verweichlicht.«

Trödler beschwichtigte sie und log ihr vor, er bleibe ohnehin lieber im Haus. In Wirklichkeit sehnte er sich nach der Hecke. Inzwischen war er zweihundertneunzig Nächte alt - eine Maus mittleren Alters - und wollte zu seinen Wurzeln zurückkehren. Nachdem er beinahe einen ganzen Winter in der Hecke überlebt hatte, würde er auch einen zweiten durchstehen. Schließlich verfügte er über ganz neue Erfahrungen. Doch der Gedanke, sich von Leichtfuß zu trennen und sie einem Ungewissen Schicksal zu überlassen, war unerträglich. Viele Mäuse hätten ihn dafür ausgelacht, da sie keiner Gefährtin sonderlich treu waren, doch einige wenige Männchen blieben bei einem einzigen Weibchen. Es handelte sich nicht um eine lebenslange Partnerschaft, wie Tauben sie eingingen, die ihrem Partner treu bis zum Tod waren, doch manche Mäuse wünschten sich einfach ein wenig Beständigkeit.

Also blieb Trödler im Haus und hungerte mit den anderen. Dafür wurde er geachtet. Sicher, er war eine Außenmaus und würde es immer bleiben, doch galt er als angesehene Außenmaus, die mit den Bewohnern durch dick und dünn ging.

Während dieser finsteren Zeit mußten Trödler und Leichtfuß nicht nur für sich selbst sorgen, sondern auch die Kreatur, die sie versteckten, durchfüttern. Der Kleine Prinz war ihnen nicht sonderlich dankbar für das Futter, das sie ihm brachten, sondern beklagte sich bitter über die unzureichende Ernährung. Weder Trödler noch Leichtfuß hatten Lust, sich mit ihm zu streiten. Ihnen fehlte einfach die Kraft dazu. Leichtfuß war der Meinung, der Kleine Prinz werde sich niemals ändern, obwohl Trödler noch immer auf eine Besserung hoffte. Doch im Augenblick sah es so aus, als habe der Kleine Prinz gleich zu Beginn seinen Vorrat an Höflichkeiten erschöpft. Im Lauf der Zeit wurde er halsstarrig, gereizt und verschwendete keinen Gedanken an andere.

Manchmal erschien die Entdeckung unvermeidlich.

Einmal knabberten Leichtfuß, Trödler und er an einem Stück Holzapfel. Wie üblich beschwerte sich die weiße Maus.

»Schmeckt wie nasse Pappe. Scheußlich! Und das nach dem köstlichen Futter, an das der Kleine Prinz immer gewöhnt war. Nicht das Fleisch - der Kleine Prinz will niemanden ärgern -, aber die Leckereien und Süßigkeiten, die ich immer bekommen habe. Warum habt ihr mich gerettet? Die Stämme hätten mich besser töten sollen.«

»Das läßt sich machen«, schnappte Trödler. »Ich hole Wisperer.«

Er tat, als gehe er zum Ausgang, doch der Kleine Prinz schrie: »Ja, das würdest du tun, nicht wahr? Du hast mich immer gehaßt!« Dann heulte er: »Keiner weiß, wie unglücklich ich bin ...«

»Noch ein Wort, und du bist todunglücklich«, drohte Leichtfuß. »Komm her, Trödler. Nimm noch etwas von dem Apfel, bevor dieser Gierschlund alles weggefressen hat.«

In diesem Augenblick erschien eine Maus am Eingang. Es war Ulf, der hagere, ausgemergelte Sohn Gorms des Alten. Der Anführer der jugendlichen Rebellen ließ sich ohne Begrüßung auf der Schwelle nieder. Im Nest wurde es dämmrig, da er die Türöffnung versperrte. »Hoffentlich störe ich nicht«, sagte er mit schwacher Stimme.

Der Kleine Prinz verschmolz mit den Schatten hinten im Nest. Er war noch immer so schmutzig wie bei seiner Ankunft auf dem Dachboden und konnte sich höchstens durch seine rotgeränderten Augen verraten. Außerdem war er, wie alle an-deren, abgemagert. Seine Wangen waren eingefallen, und die Rippen stachen unter dem Fell hervor.

»Nein, nein«, erwiderte Trödler mit klopfendem Herzen. »Überhaupt nicht, Ulf. Was kann ich für dich tun?«

»Ich dachte nur, du könntest mir eventuell sagen, wo du den Holzapfel gefunden hast. Vielleicht gibt es ja noch mehr. Ich habe heute das ganze Haus nach Futter abgesucht, Drenchie auch. Wir haben nichts mehr, gar nichts mehr.«

»Natürlich. Also, wenn du dich vom Klo aus in nördlicher Richtung hältst, kommst du zur Gartenmauer. Dort ragt ein Holzapfelzweig aus dem Wäldchen nebenan herüber. Du könntest es mal am Fuß der Mauer versuchen.«

»Hallo«, rief Ulf auf einmal. »Wer hockt denn da hinten in eurem Nest? Wir kennen uns nicht, oder doch?«

Der Kleine Prinz kauerte mit gesenkter Schnauze im Schatten. Leichtfuß sagte nichts. Trödler wollte zwar sprechen, doch ihm blieben die Worte im Hals stecken. Ulf wartete anscheinend darauf, daß der Fremdling sich äußerte. Die Sekunden schlichen quälend langsam dahin. Als der Kleine Prinz die Stille nicht mehr ertragen konnte, bewegte er sich ein wenig nach vorn und richtete sich auf. Trödler schluckte hart und schloß die Augen.

Dann hörte er die unverständlichen Worte: »Konichi wa! Go-schiso-sama deshta, totemo oish-kat-ta dess. Chiz-keki, mmmmmm!«

»Wie bitte?« fragte Ulf blinzelnd.

»Hajime-mashte, dozo yoroshku!« brüllte der Kleine Prinz und fügte ein Kichern hinzu, als habe Ulf einen guten Witz erzählt.

Der 13-K-Chef runzelte die Stirn und wandte sich an Trödler. »Wer ist das denn? Wovon redet er? Das ist doch die Sprache der Hunde und Füchse.«

»Hm, ja«, murmelte Trödler. »Er wirkte so verloren, also haben wir ihn mitgenommen. Ich - hm - habe ihn im Garten ge-funden. Soweit ich ihn verstehen konnte, wurde er - hm -steckte er in einer dieser Kisten, in der die Nacktlinge die Möbel weggebracht haben. Muß eine exotische Kiste gewesen sein! Der arme Kerl spricht nicht eine Silbe der Nagetiersprache. Kommt wohl daher, vermute ich, daß er einige seltsame Bücher gefressen hat.«

Ulf spähte in das dämmrige Nest. »Müssen wirklich seltsam gewesen sein, wenn er darüber seine Muttersprache vergessen hat.«

»Ja«, erwiderte Trödler, der allmählich Gefallen an der Geschichte fand. »Trägt sogar einen Hundenamen, Eh-he. So nennt er sich selbst.«

Ulf wandte sich dem Kleinen Prinzen zu. »Hm - sugoi!« Dann sagte er zu Trödler: »Ist das einzige Hundewort, das ich kenne. Heißt so viel wie >herzlich willkommene.«

»At-chi e it-te, Shukurim«, jubelte der Kleine Prinz.

Ulf starrte die Maus weiter an. »Sieht komisch aus, oder nicht? Was ist mit seinem Fell passiert?«

»Er hat - äh - Skorbut«, erklärte Trödler. »Aufgrund des Mangels an Gemüse und Obst in der Kiste. Dabei entfärbt sich das Fell.«

Ulf schien das Nest nur ungern zu verlassen. »Na ja, ich muß wieder los. Vielleicht finde ich einen Holzapfel, bevor ich auch Skorbut kriege. Bis später.«

»Sajonara!« flötete der Kleine Prinz.

Als Ulf verschwunden war, drehte sich Leichtfuß zu den beiden Männchen um. »Klasse! Ihr habt eine Geschichte erfunden, die innerhalb der nächsten Stunde im ganzen Haus die Runde machen wird. Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Konntet ihr euch nicht wenigstens etwas Einfaches ausdenken, bei dem sich alle zu Tode langweilen? Statt dessen haben wir jetzt die exotischste Geschichte, seit eine Wassermaus aus dem Brunnen draußen auftauchte und uns weismachen wollte, sie sei ein Zwerg-Nutria.« »Sei nicht böse auf den Kleinen Prinzen - er ist in Panik geraten«, bat die weiße Maus.

»Was sollte das Kauderwelsch eigentlich heißen?« erkundigte sich Trödler. »War es wirklich Hundesprache?«

»Ich habe es von Hirnlos gelernt«, erwiderte der Kleine Prinz stolz. »Bevor er dann senil wurde. Als Ulf mich begrüßte, habe ich >Hau ab, du Windbeutel< gesagt.«

»Tatsächlich?« rief Trödler erfreut.

»Ja.«

Leichtfuß unterbrach ihre Unterhaltung. »Du sagst, du hättest Hirnlos gekannt, als er noch nicht senil war. Wie alt bist du denn?«

»Der Kleine Prinz ist eintausendundfünfundzwanzig Nächte alt.«

»Über tausend Nächte? Das kann nicht sein«, meinte Trödler fassungslos. »Mäuse leben nur fünfhundert, höchstens sechshundert Nächte. Du siehst nicht einmal so alt aus.«

»Zahme Mäuse leben länger als wilde«, entgegnete der Kleine Prinz voller Stolz. »Ihr wilden Kreaturen sterbt wie die Fliegen. Es gibt zahme Mäuse, die zweitausendfünfhundert Nächte alt geworden sind. Schaut euch nur Ulug Beg an ...«

»Ulug Beg ist eine zahme Maus?« stieß Leichtfuß verwundert hervor.

»Ulug Beg ist meine Mutter«, sagte der Kleine Prinz leise.

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, bis sich Leichtfuß und Trödler gesammelt hatten.

»Ich dachte, er - sie - ich dachte, Ulug Beg sei ein Männchen.«

»Sie liebt es ein bißchen geheimnisvoll«, erklärte ihr Sohn. »Meine Mutter ist vor ungefähr eintausendfünfhundert Nächten geboren.«

Trödler ergriff das Wort. »Aber sie ist nicht weiß wie du, sondern eher schmutzig-grau.«

»Das bin ich im Augenblick auch.«

Trödler zuckte mit Schnurrhaaren und Schwanz. »Verstehe. Sie ist schmutzig geworden, weil sie schon so lange draußen lebt. Da hast du uns aber eine Überraschung bereitet, Kleiner Prinz. Ich hoffe, die Geschichte stimmt.«

Die weiße Maus sah ihn schockiert an.

»Wir sollten das besser für uns behalten«, rief Leichtfuß. »Gorm bekommt einen Schlag, wenn er erfährt, daß er die Ratschläge einer zahmen, weiblichen Maus angenommen hat.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Trödler. »Ulug Beg selbst möchte sicher auch nicht, daß es bekannt wird. Sie bleibt lieber die mystische Kreatur, die älter ist als die Zeit. Ich schlage vor, wir respektieren ihren Wunsch und verschweigen ihre wahre Identität.«

»Schöne Rede«, meinte der Kleine Prinz leise, rollte sich hinten im Nest zusammen und schlief ein.

Trödler spürte, daß ihn seit der Entdeckung des Käfigs etwas gedrängt hatte, die weiße Maus am Leben zu lassen. Ob es wohl die Stimmen der Vorfahren waren, die auf diese Weise zu ihm sprachen? Wollten sie ihn davon überzeugen, daß der Kleine Prinz den Mäusen zu irgendeiner Stunde nützlich sein konnte? Trödler wußte nur, daß er den Kleinen Prinzen vor den Krallen der anderen Mäuse bewahren mußte.

Leichtfuß warnte ihn aber, da sie Schwierigkeiten voraussah, und sie behielt recht.

Innerhalb einer Stunde drängte sich ein Dutzend Mäuse vor dem Nest. Alle erkundigten sich nach dem »Fremden«, von dem man ihnen berichtet hatte. Sie wollten ihn kennenlernen, doch Leichtfuß erklärte, es sei unmöglich. »Er ist sehr krank«, meinte sie, »er hat - hm - Skorbut. Wir wissen nicht genau, ob es ansteckend ist. Ihr wollt doch keine Epidemie verursachen, oder?«

Nach dieser Bemerkung zerstreute sich die neugierige Menge überraschend schnell.

Später bedauerte Leichtfuß ihre Worte über die Epidemie, da die Stammesführer daraufhin eine Versammlung aller Stämme einberiefen. Sie erklärten, daß der Fremde in der Wildnis ausgesetzt werden müsse, wenn er tatsächlich unter einer anstek-kenden Krankheit litt - am besten gemeinsam mit Trödler und Leichtfuß, weil sie sich vermutlich angesteckt hatten. Nur mit Hilfe seiner geballten rhetorischen Fähigkeiten gelang es Trödler, dieses Schicksal abzuwenden. Er überzeugte die Anführer, daß er und Leichtfuß besonders vorsichtig gewesen seien und der Fremde gewiß keine ansteckende Krankheit verbreiten werde.

Nach langen Erörterungen wurde seine Verteidigung anerkannt. Gorm der Alte ordnete jedoch an, daß sich Leichtfuß, Trödler und Eh-he von jungen Mäusen fernhalten müßten, bis sich der Zustand des Fremden gebessert hatte. »Und von mir könnt ihr ihn auch fernhalten«, knurrte er.

Trödler versicherte glaubhaft, daß Eh-he ihm keinesfalls zu nahe kommen werde.

Nach der Versammlung starb die Neugier auf den Fremden eines natürlichen Todes. Das Nest wurde nicht länger belagert. Trödler und Leichtfuß konnten wieder in Frieden leben.

Dieses Leben war jedoch nicht mehr als ein elendes Dahinvegetieren. Die Mäuse fraßen inzwischen Putz und Gips von den Wänden, Klebstoff, Stücke von Fußmatten, Sackleinen und Linoleum. Sie scheuten auch vor alter Seife aus dem Badezimmer nicht zurück. Der Gedanke an Futter wurde zu einer Manie und führte zu Träumen von lebendem Gemüse, tanzenden Käsestücken und zappelnden Würstchen. Es gab einige Todesfälle, vor allem unter den Jüngeren. Die Mäuse suchten die Schuld für diese Katastrophe immer bei den Falschen. Sie suchten sich unbeliebte Mäuse aus, statt sich an Gorm und die anderen Anführer zu halten, und griffen jene an.

Bei der Suche nach einem Sündenbock klagte oftmals ein Stammesmitglied das andere an.

»Warum hast du mich nicht davon abgehalten?« brüllte Gorm Ketil an. »Warum hast du nicht gesagt, der Plan sei dumm?«

»Es ist Astrids Schuld«, verteidigte sich Ketil. »Sie hätte dich zurückhalten sollen - sie hat alles gewußt. Wir nicht.«

Die Mäuse wollten nun nicht mehr allein durchs Haus laufen, weil sie die Angriffe ihrer Artgenossen fürchteten.

Glückspilz, ein alter Unsichtbarer, krabbelte eines Abends an Gnadenvolls Loch vorbei, als ihm ein unbekannter Angreifer einen Stoß versetzte. Er landete im Garten, doch glücklicherweise wurde sein Sturz von einem Rosenstrauch gedämpft, und er kam mit einem blauen Auge davon.

Mefyn und Nesta von den Buchfressern wurden von einigen alten Wilden der Katzenanbetung beschuldigt.

»Wir haben sie in einer Ecke erwischt«, schrie Elfwin. »Sie haben miaut.«

Gytha Schönbart sagte: »Vermutlich hat ihre Schwarze Magie die Speisekammer leer gemacht. Wir sollten sie totbeißen. Wir sollten -«

»Ja«, kreischte Seiltänzer von den 13-K. »Habt ihr nicht bemerkt, wie viele Käfer es auf einmal gibt? Das sind gar keine Käfer, sondern getarnte Katzen, die sie herbeigehext haben. Zerquetscht sie!«

»Wir haben nur darüber gesprochen, wo wir nach Futter suchen könnten«, behauptete Nesta. »Wir haben überhaupt nicht miaut.«

»Lügner!« kreischte die versammelte Menge und umzingelte sie.

»Hört auf!« flehte Trödler, um ein wenig Ordnung bemüht. »Es gibt mehr Käfer, weil die Nacktlinge sie nicht mehr -«

»Auf ihn, verstümmelt ihn!« erschollen einige Stimmen aus der Menge. »Nieder mit der lästigen Außenmaus!«

Überraschenderweise rettete die schmutzige Maus Eh-he, die bei Trödler und Leichtfuß im Nest wohnte, Nesta und Mefyn vor der blutrünstigen Horde.

»Dann soll die Maus, die niemals eine Katze sein wollte, den ersten Biß tun«, rief der Kleine Prinz.

Sie hielten inne. Es gab nicht eine Maus unter ihnen, die noch niemals davon geträumt hatte, eine Katze zu sein und die Welt zu beherrschen. Tief im Inneren hatten sie sich alle irgendwann Größe und Stärke gewünscht, lange Reißzähne und halbmondförmige Krallen.

»Ich dachte, du sprichst nur die Hundesprache«, warf Ulf dem Kleinen Prinzen vor.

»Normalerweise schon«, warf Leichtfuß ein. »Er hat solche klaren Momente, in denen er sich wieder an die Nagersprache erinnern kann.«

Alle starrten das verschmutzte Geschöpf an.

Der Kleine Prinz trat vor. »Ich habe mir nie gewünscht, eine Katze zu sein, und werde daher den ersten Biß tun.« Er zwickte die beiden Missetäter scharf in den Rumpf.

Mefyn und Nesta heulten auf. Die Menge johlte.

»Du wolltest wirklich noch nie eine Katze sein?« rief Ulf der Maus Eh-he zu.

»Na ja«, meinte der Kleine Prinz und neigte verschmitzt den Kopf, »nur eine ganz kleine Katze.«

Erneutes Gebrüll. Alle schrien durcheinander, und jede Unterhaltung drehte sich um den seltsamen Neuankömmling und seine schlauen Bemerkungen. Währenddessen bedeutete Trödler Mefyn und Nesta, sich unauffällig davonzumachen. Kurz darauf brachten sie den Kleinen Prinzen auf den Dachboden zurück.

»Das hast du wirklich gut gemacht«, lobte Trödler. »Du gehst für andere Mäuse Risiken ein.«

»Ich muß verrückt gewesen sein«, erwiderte der Kleine Prinz. »Ich habe nur etwas aus einer alten Geschichte wiederholt, die ich von meiner Mutter Ulug Beg kenne.«

»Verrückt - aber gut«, nickte Trödler.

Die Probleme blieben jedoch bestehen. Selbst die Anführer entgingen nicht den Aggressionen. In der Vollmondnacht kam es zum Aufstand. Er brach im Holzschuppen aus und breitete sich über die Küche und die Bibliothek aus, bis er auch den Dachboden erreichte. Hohläugige Mäuse streiften plündernd umher, zerstörten Nester und griffen jeden an, der sich ihnen nicht anschließen wollte. Gorm der Alte und Skuli wurden in der Küche umzingelt und mußten um ihr Leben kämpfen. Beide schlugen sich tapfer und brachten einigen Angreifern blutende Wunden bei.

Der Sachschaden war enorm. Es gab wieder einige Todesfälle, und viele Mäuse, darunter Gorms verbliebenes Double To-stig, flohen für immer aus dem Haus.

Trödler, Leichtfuß und der Kleine Prinz hielten sich zu dieser Zeit nicht im Nest auf, sondern suchten im Garten nach Holzäpfeln. Sie hörten die Geschichte bei ihrer Rückkehr und entdeckten die traurigen Überreste ihres Nestes. Man hatte es völlig ausgeplündert. Das Sägemehl aus einem alten Teddy, mit dem der Nestboden gepolstert war und das jemand wohl mit Frühstücksflocken verwechselte, hatte ein Angreifer aufgefressen. Irgendwo im Haus litt vermutlich eine Maus unter schrecklichen Bauchkrämpfen. Geschieht ihr recht, dachte Trödler.

Die schlimmsten Übeltäter unter den Aufständischen waren die Kellermäuse Furz und Fusel. Sie stachelten andere zu Gewalt und sinnloser Zerstörung an. Mit ihrem Gegröle hatten sie zunächst die Jugendlichen im Holzschuppen zum Aufstand angestiftet und dann die Mäuse angeführt, die wie eine Flutwelle durchs Erdgeschoß rollte.

»Töten, verstümmeln, quälen!« hatte Furz gekreischt. »Zerstören, plündern, vergewaltigen!«

Später stritt er solche Kriegsrufe ab und erklärte, jemand in der Menge habe seine Stimme nachgemacht. Also kamen die beiden Missetäter wieder einmal ungeschoren davon.

Der Aufstand hatte alle in Angst und Schrecken versetzt, auch die Rebellen. Als sich der Tumult gelegt hatte, schämten sich die meisten Aufständischen in Grund und Boden. Sie bemerkten die Verwüstung, die sie hinterlassen hatten, auch an ihren eigenen Nestern. »Es wird nie wieder passieren«, sagten sie.

Trödler, Leichtfuß und der Kleine Prinz machten sich an den Wiederaufbau ihres Nestes. Die weiße Maus stöhnte unablässig wegen ihrer schmerzenden Muskeln. Sie forderte zusätzliche Nahrung, falls sie für den Rest ihres Lebens körperliche Arbeit verrichten solle.

Nun glaubten die Mäuse, sie müßten gut sein, um die Götter des Füllhorns gnädig zu stimmen und wieder mit Futter gesegnet zu werden.

Doch dies war ein Irrglaube.

Walnut Credioux

Der Garten überwucherte das Haus nur deshalb nicht, weil der Winter näherrückte. Astrid teilte den Stämmen mit, daß er im Frühjahr das Haus erobern werde. Da sie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewonnen hatte, weil die sich nicht wieder füllende Speisekammer ihre hellseherischen Fähigkeiten bewies, hörten ihr die Mäuse zu.

»Die Natur fordert ihr Recht, und das Haus will zur Natur heimkehren«, erklärte sie. »Dieser Vorgang ist unvermeidlich. Die Ziegel werden bröckeln; der Beton wird rissig, gesprengt vom allesdurchdringenden Unkraut; Ranken werden das morsche Holz zerdrücken. Das Innen wird zum Außen. Wenn die Stürme das Dach davongeweht haben, ziehen die Feldmäuse ins Haus und übernehmen unsere Löcher. Wir sind hier nicht länger willkommen ...«

»Nicht länger willkommen?« meinte Furz zu Fusel. »Kann ich gut drauf verzichten. Ich brauche ein schönes, warmes Haus, jawohl, auch mit Nacktlingen drin, wenn's sein muß. Natur? Geschenkt. Wir sind doch zivilisierte Hausmäuse, nicht wahr, keine Blödmänner.«

Eines Nachts berief Gorm der Alte erneut eine Versammlung aller Stämme ein. Jede Maus, auch die kleinste und unbedeutendste, wurde dazu eingeladen. Die wichtigen Mäuse wie Frych, Wisperer und er selbst waren selbstverständlich auch dabei. Trödler erschien auf Gorms ausdrücklichen Wunsch. Es ging um das Überleben der Stämme, und Gorm würde jeden Vorschlag begrüßen, der Rettung versprach.

Selbst der Kleine Prinz kam - natürlich als Eh-he. Niemand wurde abgewiesen. Schließlich stand die Zukunft der gesamten Mäusenation auf dem Spiel.

Trotz der Tatsache, daß die Stämme dezimiert worden waren, war es im Schrank unter der Treppe recht voll. Die Mäuse gelten und schubsten und traten einander auf die Schwänze, bis Gorm die Versammlung eröffnete.

»Ihr wißt alle, warum wir uns versammelt haben«, knurrte er. »Wir brauchen eine Entscheidung, und zwar schnell. Man hat eine Wildkatze beobachtet, die ums Haus streifte. Wo eine ist, sind auch noch mehr. Ich wiederhole, wir müssen etwas unternehmen, auf der Stelle. Ich übergebe nun an Gunhild.«

Gunhild trat in die Mitte. »Hört zu, Leute«, eröffnete sie knapp ihre Rede, »wie Gorm schon sagte, wir müssen uns entscheiden. Ich mag Entscheidungen - hübsche, saubere Entscheidungen. Kein Gezeter, nur ein klares Ja oder Nein -«

»Weiter«, stöhnte eine Maus in der Menge.

»In Ordnung. Verstanden. Also eine schnelle Entscheidung.« Gunhild ging auf und ab und wackelte mit dem Schwanz. Ihre Schnurrhaare waren gestutzt und wirkten gestärkt, als habe Gunhild sie in Tapetenkleister getaucht. »Leute, die Sache ist die. Man hat mir befohlen - ich meine, mich gebeten -, euch für einen langen Marsch in Form zu bringen. Wir müssen ein neues Quartier finden. Unsere alten Baracken haben sich in Schweineställe verwandelt. Man kann nicht mal eine anständige Parade abhalten, ohne irgendwo auszurutschen. Also müssen wir den Hintern zusammenkneifen, Ordnung in die Reihen bringen und den organisierten Rückzug antreten. Ich will kein Chaos. Wir müssen diszipliniert aufbrechen. Verstanden? Sagt was dazu, Leute.«

Kurz herrschte tiefe Stille, dann rief eine Bibliotheksmaus: »Kann uns mal jemand erklären, was zum Teufel sie meint?«

Skrang trat in die Mitte des Kreises. »Wir müssen das Haus verlassen. Seid ihr bereit?«

»Warum hat sie das nicht gleich gesagt?« brummte die Bibliotheksmaus. »Ich bin bereit. Je eher, desto besser.«

Gorm schrie: »Ihr müßt das verstehen. Draußen beginnt bald der Winter. Wir müssen ein anderes Haus finden, was nicht leicht sein wird. Wir werden feindlichen Stämmen begegnen. Mäuse aus unseren Reihen werden sterben. Doch ich verspreche, daß wir irgendwo ein unbesetztes Gebiet finden werden -ein Haus, in dem wir uns ansiedeln und die guten, alten Kriege wieder aufleben lassen können«, er grinste, »eben den einen oder anderen Überfall, so wie früher. Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal >Assundoon!< gebrüllt habe.«

»Aber ich weiß noch, wann du mich zum letzten Mal in den Hintern gebissen hast«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund. »Das habe ich nicht vergessen - du wirst sehen.«

»Wenn du das bist, Ulf, sollst du deine Chance haben. Mein Kampfgeist ist noch nicht erloschen.«

»Wer soll uns anführen?« fragte Rhodri. »Wer ist unser Pfadfinder?«

»Ich natürlich«, brummte Gorm. »Wer denn sonst?«

Wieder herrschte Schweigen, bis Astrid vortrat. »Nicht du, Gorm, tut mir leid. Du magst ein ausgezeichneter, altbewährter Krieger sein - das kann keiner bestreiten -, aber du kannst uns nicht durch die Wildnis führen. Du weißt nichts über die Welt da draußen. Wir brauchen jemand, der sich auskennt und das Gelobte Haus sicher erreicht.«

»Wenn ich sage, ich führe euch an, dann tu' ich das auch, Hure«, fauchte Gorm. »Wie kann eine Nutte wie du mir sagen, was ich zu tun habe?«

»Halt den Mund«, donnerte Wisperer, »sie hat recht!«

Frych ergriff das Wort. »Dieses Weibchen mag sich letzthin gegen die Schranken der Schicklichkeit versündigt haben, indem sie in finsteren Winkeln Verkehr pflegte, doch sie ist immer noch die Hohepriesterin. Sie genießt die besondere Gunst der Schatten und Götter, und ihre Bekundungen müssen als seriöse Prognosen gelten. Wir benötigen einen Lenker, der uns auf gefahrvollem Kurs zum unbekannten Bestimmungsort geleiten kann. Ich selbst schlage Trödler vor, die gelbhalsige Außenmaus.«

Astrid schloß eine Weile die Augen und öffnete sie dann wieder. »Trödler ist der Erwählte!« schrie sie. »Ich habe es klar gesehen!«

»Du verdammte, schattenbequatschende Schlampe!« brüllte Gorm. »Werde ich einfach beiseite geschoben? Zur Hölle mit euch!«

Ulf trat vor. »Dies geht die ganze Mäusenation an, nicht nur die Wilden. Du solltest einmal im Leben auf den Rat anderer hören, Vater. Trödler ist der richtige Anführer für uns, wenn er die Aufforderung annimmt. Ich kann mir keinen besseren denken. Er ist ehrlich und geradeheraus, besitzt Mut und Erfindungsreichtum. Und vor allem weiß er, wie die Welt da draußen ist.«

»Ich sage dir -«, schnarrte Gorm so laut, daß die Mäuse in seiner Nähe die Flucht ergriffen.

»Willst du dich mit der ganzen Nation anlegen?« fragte Ulf.

»Wenn es sein muß!« schrie der alte Krieger. Er bedauerte seinen Entschluß, Trödler zu dieser Versammlung eingeladen zu haben.

»Komm von deinem hohen Roß herunter«, riefen einige Mäuse in der Menge, »du machst dich lächerlich.«

»Tatsächlich?« dröhnte Gorm. »Ich werde -«

Sofort wurde er von einem Dutzend kräftiger Mäuse aus allen Stämmen umringt.

Unter ihnen war erstaunlicherweise auch Furz. »Halt die Luft an, Gorm, du wirst uns nicht ruinieren. Wir müssen hier raus. Das Haus macht uns kaputt - und du bist nicht der Richtige für die Sache. Ich mag den selbstgerechten Arsch auch nicht, aber er ist nun mal der Richtige.«

Gorm schaute sich um. Gytha Schönbart und Elfwin, Mitglieder seines eigenen Stammes, bedrohten ihn. Da wußte er, daß ihm keine Chance blieb. »Das werde ich nicht vergessen«, knurrte er. »Wenn der Marsch vorüber ist, genehmige ich mir Trödler zum Frühstück.«

Trödler wollte vortreten, um zu der Versammlung zu sprechen.

In diesem Augenblick stieß Gorm einen gellenden Schrei aus: »Assundoon!«

Der Anführer der Wilden stürzte sich auf Trödler, der schnell zur Seite sprang.

Gorm war wütend, weil sein erster Schlag danebengegangen war. Er richtete sich hoch auf, um größer zu erscheinen. Dann trommelte er mit dem Schwanz auf den Boden und stampfte mit den Hinterbeinen. Diese Drohungen untermalte er mit schrillen Schreien, die seinen Gegner einschüchtern sollten.

Statt sich das anzusehen, führte Trödler dasselbe Ritual aus. Nun, da er der Pfadfinder war und vor der Erfüllung seines Schicksals stand, würde er die Herausforderung annehmen.

Er tat den ersten Biß. Als Gorms aggressive Vorführung zu Ende war, schoß er vor und biß den Anführer in den Rücken. Gorm versuchte Trödlers Rückzug zum Gegenbiß zu nutzen, traf ihn aber nicht. Sicher, auch er landete den einen oder anderen Treffer. Er vergrub seine Schneidezähne mehrmals in dem Gelbhals, den er so sehr haßte. Seine Bisse waren unangenehmer als die seines Gegners.

Doch schließlich ließen Gorms Kräfte nach. Seine Angriffe wurden seltener und weniger energisch. Die Außenmaus teilte Biß um Biß aus, bis Gorm sich nur noch verteidigen konnte. Er wurde zusehends langsamer, in seinen Augen stand Schmerz, die Beine gaben unter ihm nach. Die Zunge hing ihm aus der Schnauze, und er japste nach Luft. Einige Zuschauer wandten sich ab, weil sie die Niederlage Gorms nicht mitansehen wollten. Gunhild schluchzte hemmungslos. Ulf schluckte und bedeckte sein Gesicht mit den Vorderpfoten. Astrid sah sehr traurig aus. Schließlich taumelte Gorm nur noch keuchend umher.

Trödler ließ nicht von seinem Gegner ab. Er war nun Trödler der Eine. Wenn er mit seinen Angriffen innehielt, würde Gorm seine Stärke wiedergewinnen und ihn vielleicht doch noch besiegen. Also setzte der Heckenmäuserich seine Angriffe fort, selbst als Gorm sich auf den Rücken wälzte.

Irgendwann sah sich Gorm gezwungen, die geforderten Laute der Unterwerfung auszustoßen. Der Kampf stand hoffnungslos für ihn und würde seinen sicheren Tod bedeuten, wenn Trödler seine Bisse fortsetzte. Der Mächtige war gestürzt, und jene, die er unterdrückt hatte, sannen bereits auf Rache.

Als Trödler die erwartete Demutsbezeugung bemerkte, griff er nicht weiter an. Er hatte den Zweikampf gewonnen. Zum ersten Mal im Leben war Gorm im Kampf Maus gegen Maus unterlegen.

Nachdem sich Trödler zurückgezogen hatte, stürmten andere Mäuse vor und bissen den hilflosen Gorm. Er lag am Boden, während die Zähne seinen Rumpf, den Kopf und die Flanken trafen. Auf diese Weise wurden Verlierer von den Angehörigen der untersten sozialen Stufe bestraft. Die Anführerschaft seines Stammes würde er sich zurückerkämpfen müssen, indem er ein Stammesmitglied nach dem anderen unterwarf. Sobald er einen Kampf verlor, war seine Stellung auf immer dahin.

»In Ordnung«, schrie Trödler, »es reicht! Laßt ihn in Ruhe!«

Noch einige Bisse, und sie überließen Gorm sich selbst, der als mitleiderregendes Bündel, bedeckt vom Speichel anderer Mäuse, am Boden lag. Er blutete kaum, doch der Schmerz der Bißwunden und der Demütigung war kaum zu ertragen.

Astrid ging zu ihm. »Gorm, ist alles in Ordnung?«

»Laß mich in Ruhe!« zischte er. »Laß mich bloß in Ruhe!«

»Du hast dein Bestes gegeben. Er war zu stark für dich.«

Gorm wandte seiner Konkubine den mächtigen Kopf zu. »Das wollte ich eigentlich nicht hören«, sagte er sanft. »Es hilft mir überhaupt nicht. Sag mir lieber, daß er tot ist.«

»Er ist es nicht«, erwiderte Astrid.

»Dann gibt es keine Götter, denn meine Gebete wurden nicht erhört. Sag mir alles, aber nicht, daß er stark ist. Denkst du etwa, das könnte mich aufheitern, Hure?«

Astrid schüttelte traurig den Kopf und ging wieder zu der Versammlung. Trödler wurde gerade zum Leiter der Expedition ernannt, die sich auf die Suche nach dem Gelobten Haus machen sollte. Er versprach, seine Pflichten ernst zu nehmen und sich Helfer zu suchen.

Astrid wußte, daß er sein Bestes geben würde. Er war zuverlässig und vertrauenswürdig. Er besaß Ausstrahlung. Und vielleicht wollte er auch etwas beweisen. Doch er war nicht der große Gorm, hatte nicht dessen donnernde Kraft, dessen völlige Mißachtung der Gefahr. Es würde keinen zweiten Gorm geben.

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