Gegen seinen Willen war Lothar beeindruckt.
Stormwind war eine ebenso gewaltige wie beeindruckende Stadt gewesen, voller Türme und Terrassen, gebaut aus massivem Stein, der Wind und Wetter trotzte. Aber auf ihre ganz eigene Art war die Hauptstadt von Lordaeron vergleichbar schön.
Nicht, dass sie Stormwind sonderlich ähnlich gesehen hätte. Sie war zum Beispiel nicht so groß. Doch was ihr an Größe mangelte, glich sie mit Eleganz aus. Sie lag am nördlichen Ufer des Lordamere-Sees und leuchtete in Weiß und Silber. Sie funkelte nicht in der Art, wie Stormwind es tat, vielmehr schien sie zu leuchten, als würde die Sonne aus den anmutigen Gebäuden heraus scheinen und nicht etwa vom Himmel herab. Sie war ruhig und friedlich, strahlte fast etwas Heiliges aus.
»Ein machtvoller Ort«, sagte Khadgar und bestärkte Lothar damit in seinem eigenen Empfinden. »Obwohl ich ein wenig Wärme bevorzuge.« Er blickte hinter sich zum südlichen Rand des Sees, wo sich eine zweite Stadt erhob. Ihre Umrisse waren denen der Hauptstadt ähnlich, doch diese Spiegelstadt mutete um einiges exotischer an. Ihre Mauern und Türme leuchteten violett und in warmen Farben. »Das ist Dalaran«, erklärte er. »Dort befindet sich der Kirin Tor und seine Zauberer – meine Heimat, bevor ich zu Medivh geschickt wurde.«
»Vielleicht ist soviel Zeit, damit du nach Hause kannst, wenigstens kurz«, schlug Lothar vor. »Aber jetzt müssen wir uns auf die Hauptstadt konzentrieren.« Er betrachtete erneut die leuchtende Stadt. »Lasst uns hoffen, dass sie so ehrenhaft in ihren Ansichten sind, wie ihre Gebäude es vermuten lassen.«
Er trieb sein Pferd in einen leichten Galopp und ritt aus dem majestätischen Silberwald. Varian und der Magier befanden sich direkt hinter ihm. Die anderen Männer folgten in den Wagen.
Zwei Stunden später erreichten sie das Haupttor. Wächter standen am Eingang, obwohl die Doppeltore offen waren. Genügend Platz für zwei oder gar drei Wagen nebeneinander.
Die Wachen hatten sie natürlich längst aus der Ferne bemerkt. Der Wächter, der vortrat, trug einen roten Umhang über seinem polierten Brustharnisch. Goldene Verzierungen befanden sich an Rüstung und Helm. Sein Benehmen war höflich, fast schon respektvoll. Aber Lothar fiel sofort auf, dass der Mann nur ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen blieb, genau in Reichweite seines Schwertes.
Er zwang sich, entspannt zu bleiben. Hier war nicht Stormwind. Diese Leute waren keine erfahrenen Soldaten, gestählt durch ständige Gefechte. Sie hatten noch nie um ihr Leben kämpfen müssen.
Bis jetzt jedenfalls.
»Tretet ein und seid willkommen«, sagte der Hauptmann der Wache und verneigte sich. »Marcus Redpath hat uns Euer Kommen angekündigt und von Eurer Notlage berichtet. Der König befindet sich im Thronsaal.«
»Seid bedankt«, antwortete Khadgar nickend. »Kommt, Lothar«, ergänzte er und trieb sein Pferd an. »Ich kenne den Weg.«
Sie ritten durch die Stadt und kamen in den breiten Straßen gut zurecht. Khadgar schien sich tatsächlich auszukennen und wurde nie langsamer, um nach dem Weg zu fragen.
Schließlich erreichten sie den Palast. Dort stiegen sie ab und gaben die Pferde in die Obhut einiger ihrer Begleiter, die sich darum kümmern würden.
Lothar und Prinz Varian stiegen bereits die breite Palasttreppe hinauf, doch Khadgar war dicht dahinter und holte schnell auf.
Sie schritten durch die äußeren Palasttüren und erreichten einen breiten Hof. Logen standen an den Seiten. Momentan waren sie leer, aber Lothar vermutete, dass sie während der hier stattfindenden Feste wahrscheinlich aus allen Nähten platzten.
Auf der anderen Seite der Halle endete eine kleine Treppenflucht vor einer weiteren Reihe von Türen, die in den Thronsaal führten – ein beeindruckender Raum.
Das Deckengewölbe war so hoch, dass es sich in den Schatten verlor. Der Raum selbst war rund und wurde getragen von Bögen und Säulen. Goldenes Sonnenlicht schien durch das Buntglasfenster, das in der Deckenmitte eingesetzt war. Dabei entstanden komplizierte Muster auf dem Boden, ineinander verschachtelte Kreise, jeder anders, wobei ein Dreieck in der Mitte den innersten Ring überlappte.
Und im Zentrum prangte das goldene Siegel von Lordaeron.
Es gab mehrere hohe Balkone, die, wie Lothar glaubte, den Adeligen vorbehalten waren. Aber sie hatten auch einen strategischen Wert. Ein paar Wachen reichten aus, um von dort mit Bögen jederzeit jeden Punkt unter Feuer nehmen zu können.
Unmittelbar darunter befand sich eine kreisrunde Empore, von der konzentrisch angeordnete Stufen bis zum Thron hinauf führten. Der Thron selbst war aus glitzernden Steinen erbaut. Darauf saß ein Mann, groß und kräftig, dessen blondes Haar von leichtem Grau durchwirkt war. Seine Rüstung strahlte, die Krone auf seinem Kopf hingegen wirkte mehr wie ein Stachelhelm.
Ein wahrer König, das wusste Lothar sofort. Jemand wie Liane, der nicht zögerte, für sein Volk zu kämpfen. Seine Hoffnung wuchs bei diesem Gedanken.
Es waren auch andere Leute anwesend, Stadtmenschen und Arbeiter, sogar Bauern. Alle hielten sich in gebührendem Abstand zur Empore. Viele hatten etwas dabei, Pergamente, sogar Nahrungsmittel, doch sie alle entfernten sich geräuschlos, als Lothar und Khadgar sich näherten.
»Ja?«, rief der Mann auf dem Thron. »Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?«
Selbst von hier aus konnte Lothar die merkwürdig gefärbten Augen des Königs erkennen. In ihnen waren blau und grün vermischt. Sie blickten scharf, sodass Lothars Hoffnung weiter anstieg. Hier stand ein Mann, der klar sehen konnte.
»Euer Majestät«, antwortete Lothar, und seine tiefe Stimme war überall im Raum zu verstehen. Er blieb mehrere Schritte vor dem Podest stehen und verneigte sich. »Ich bin Anduin Lothar, ein Ritter aus Stormwind. Dies ist mein Begleiter Khadgar von Dalaran.« Er konnte Gemurmel aus der Menge hinter sich hören. »Und dies…«, dabei drehte er sich so, dass der König Varian sehen konnte, der hinter ihm gestanden hatte, entnervt von der Menschenmenge und den merkwürdigen Staatssymbolen, »… ist Prinz Varian Wrynn, Erbe des Thrones von Stormwind.«
Das Murmeln schwoll an zu lautem Raunen, als die Leute begriffen, dass der Jüngling ein echter Monarch war. Aber Lothar ignorierte sie und konzentrierte sich nur auf den König. »Wir müssen mit Euch sprechen, Majestät. Es ist äußerst wichtig und von großer Bedeutung.«
»Selbstverständlich.« Terenas erhob sich bereits von seinem Thron und kam auf sie zu. »Lasst uns allein«, bat er die Umstehenden.
Obwohl ein Befehl, war er höflich formuliert. Die Leute gehorchten, und bald blieben nur eine Handvoll Adliger und Wachen zurück. Die Männer, die Lothar begleitet hatten, traten ebenso zur Seite, sodass Lothar, Khadgar und Varian allein waren, als Terenas die Distanz zwischen ihnen vollends überwand.
»Euer Majestät«, grüßte Terenas Varian und verneigte sich wie vor einem Ebenbürtigen.
»Euer Majestät«, antwortete Varian, dem es gelang, den ersten Schreck zu überwinden.
»Wir waren sehr betrübt, vom Tod Eures Vaters zu hören«, fuhr Terenas freundlich fort. »König Liane war ein guter Mann, und wir durften ihn einen Freund und Verbündeten nennen. Wisset, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Euch Euren Thron zurückzuerobern.«
»Ich danke Euch«, sagte Varian, wobei seine Unterlippe ein wenig bebte.
»Nun kommt und setzt Euch und erzählt mir, was geschehen ist«, forderte Terenas ihn auf und wies auf die Stufen zur Empore. Er setzte sich auf die oberste und winkte Varian, neben ihm Platz zu nehmen. »Ich habe Stormwind selbst gesehen und bewundere die Stärke und Schönheit dieser Stadt. Was konnte solch eine Bastion zerstören?«
»Die Horde«, sagte Khadgar und sprach zum ersten Mal, seit sie den Thronsaal betreten hatten.
Terenas wandte sich ihm zu. Lothar sah, wie sich die Brauen des Königs zusammenzogen. »Die Horde hat das angerichtet.«
»Und was ist diese Horde?«, wollte Terenas wissen und wandte sich zuerst an Varian, dann an Lothar.
»Es ist eine Armee, aber eigentlich mehr als das«, antwortete Lothar. »Es ist eine Vielzahl von Truppen, mehr, als man zählen kann. Genug, um das Land von Küste zu Küste zu überziehen.«
»Und wer kommandiert diese unglaubliche Zahl von Männern?«, fragte Terenas.
»Es handelt sich nicht um Männer oder überhaupt Menschen. Es sind Orcs«, korrigierte ihn Lothar.
Der König blickte verwirrt, deshalb erläuterte Lothar: »Es ist eine neue Rasse, eine, die nicht von dieser Welt stammt. Sie sind so groß wie wir, aber kräftiger gebaut. Sie haben grüne Haut, leuchtend rote Augen und riesige Hauer, die aus ihrer Unterlippe wachsen.«
Ein Adeliger schnaubte im Hintergrund. Lothar drehte sich um. »Zweifelt Ihr an meinen Worten?«, rief er. Er schaute jeden der Balkone an, um herauszufinden, wer gelacht hatte. »Ihr denkt, ich lüge?« Er schlug mit seiner Faust auf die Rüstung, dort, wo eine der größeren Beulen sie zierte. »Das stammt vom Kriegshammer eines Orcs!« Er schlug auf eine andere Stelle. »Und das von einem Orc mit einer Kriegsaxt!« Er wies auf einen Einschnitt im Unterarm. »Hier hat ein Hauer gewütet, als mich eins der Monster ansprang und zu nahe kam, um es mit der Klinge zu bekämpfen! Diese üblen Kreaturen haben mein Land vernichtet, meine Heimat, mein Volk! Wenn Ihr an mir zweifelt, dann kommt herunter und sagt mir das ins Gesicht! Ich zeige Euch dann, was für eine Sorte Mann ich bin und was denen widerfährt, die mich der Lüge bezichtigen!«
»Genug!« Terenas’ Ruf unterdrückte jede mögliche Antwort. Die Wut war aus seiner Stimme herauszuhören. Aber als er sich an Lothar wandte, erkannte der, dass die Wut des Königs sich nicht gegen ihn richtete. »Genug«, wiederholte der König noch einmal und versicherte dann leiser: »Niemand hier zweifelt an Eurem Wort.« Ein ernster Blick bedeutete seinen Adeligen, dass er keinen Widerspruch duldete. »Ich kenne Eure Ehre und Eure Loyalität. Ich traue Eurem Wort, auch wenn diese Kreaturen uns merkwürdig erscheinen.« Er drehte sich um und nickte Khadgar zu. »Mit einem Zauberer von Dalaran, der für Euch bürgt, können wir Eure Aussage gar nicht anzweifeln. Genauso wenig wie die Absichten einer Rasse, die uns bislang unbekannt war…«
»Ich danke Euch, König Terenas«, erwiderte Lothar förmlich und zügelte seinen Ärger. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte.
Glücklicherweise wusste es Terenas. »Ich werde die Herrscher der Nachbarreiche zusammenrufen«, kündigte er an. »Diese Ereignisse gehen uns alle etwas an.« Er wandte sich wieder an Varian. »Euer Majestät, ich biete Euch mein Heim und meinen Schutz an, solange Ihr beides benötigt«, sagte er so laut, dass jeder es hören konnte. »Wenn Ihr bereit seid, wisset, dass Lordaeron Euch dabei unterstützen wird, Euer Königreich zurückzufordern.«
Lothar nickte. »Euer Majestät, Ihr seid sehr großzügig«, sagte er im Namen Varians. »Und ich kann mir keinen sichereren oder besseren Ort vorstellen, an dem unser Prinz bis zu seiner Volljährigkeit leben kann, als hier, in Eurer Hauptstadt. Wir sind aber nicht nur gekommen, um Zuflucht zu finden. Wir wollen Euch auch warnen.« Er stand hochaufgerichtet da, seine Stimme dröhnte durch den Raum und seine Augen fixierten den König von Lordaeron. »Denn die Horde wird sich nicht mit Stormwind begnügen. Sie wollen die ganze Welt erobern! Und sie haben die Macht und die Zahl an Kriegern, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Es fehlt ihnen auch nicht an magischer Unterstützung. Wenn sie erst mit meiner Heimat fertig sind…« Seine Stimme klang jetzt noch tiefer und rauer, doch er zwang sich weiterzureden, »… werden sie einen Weg finden, den Ozean zu überqueren. Und dann kommen sie hierher.«
»Ihr meint, wir sollen uns auf einen Krieg vorbereiten«, erwiderte Terenas ruhig.
Es war keine Frage, aber Lothar antwortete trotzdem. »Ja.« Er sah sich unter den versammelten Männern um. »Ein Krieg, bei dem es um das nackte Überleben unserer gesamten Rasse geht.«