5.

Abwartend umkreisten sich die beiden, der große und der kleine Mann. La Floquet schien wirklich eine mörderische Wut in sich zu verspüren — sein Unterkiefer zitterte vor Anspannung, während er Thornhill anstarrte.

»Legen Sie das Messer weg«, sagte Thornhill. »Haben Sie den Verstand verloren, La Floquet? In diesem Tal können Sie niemanden umbringen — es funktioniert nicht.«

»Vielleicht kann ich niemanden umbringen — aber ich kann ihn verletzen.«

»Was habe ich Ihnen getan?«

»Sie sind hier ins Tal gekommen; ich wäre vielleicht mit den anderen zurechtgekommen, aber mit Ihnen…! Sie waren es, der mich getrieben hat, den Berg zu besteigen. Sie waren es, der sich Marga genommen hat.«

»Ich habe niemanden genommen. Oder haben Sie beobachtet, wie ich ihr den Arm auf den Rücken gedreht habe? Sie hat mich Ihnen vorgezogen, und das tut mir aufrichtig leid für Sie.«

»Das wird Ihnen mehr als leid tun, Thornhill!«

Thornhill rang sich ein Grinsen ab. Dieses Herumtanzen ging jetzt schon viel zu lange. Er spürte, daß Marga ihn aus den Büschen heraus ängstlich beobachtete.

»Sie kleiner mordlustiger Paranoiker, geben Sie mir den Stein, bevor Sie sich damit noch selbst verletzen!« Er machte einen schnellen Schritt nach vorn, griff nach La Floquets Handgelenk. In den Augen des kleinen Mannes blitzte es gefährlich auf. Er drehte sich vor Thornhill weg, schleuderte ihm einen Fluch in einer unverständlichen Sprache entgegen und hieb dann mit dem Messer nach ihm, einen leisen Triumphschrei ausstoßend.

Thornhill wich zurück, aber die grobe Klinge erwischte ihn einige Zentimeter über dem Ellbogen am Arm, bohrte sich in die Innenseite seines Bizeps, hinterließ eine blutige Spur von etwa fünf Zentimetern. Thornhill verspürte einen stechenden, brennenden Schmerz im ganzen Arm, merkte, wie ihm Blut in die Hand floß. Er hörte, wie Marga erschrocken die Luft anhielt.

Den Schmerz ignorierend, sprang er nach vorn, ergriff La Floquet am Arm, als er gerade zu einem zweiten Streich ausholen wollte. Thornhill drehte sich, hörte ein leises Krachen in La Floquets Arm, und der kleine Mann stieß einen unterdrückten Schmerzenslaut aus. Das Messer glitt ihm aus den plötzlich unkontrollierbar gewordenen Fingern, fiel zu Boden und blieb mit der Spitze auf einem kleinen Stein liegen. Thornhill reagierte sofort, trat mit einem Fuß auf die Steinklinge und zerbrach sie.

Jetzt besaßen sie beide nur noch ihre rechte Hand, um zu kämpfen. La Floquet griff wieder an — mit gesenktem Kopf rannte er auf Thornhill zu, als wollte er ihn umstoßen. Im letzten Moment riß er den gesunden Arm aber hoch und zielte auf Thornhills Kiefer. Thornhill der Sekundenbruchteile zu spät zurückwich, bekam den Schlag fast voll mit, drehte sich einmal um seine eigene Achse, nutzte den Schwung aus, um La Floquet seinerseits hart ans Kinn zu treffen. Er hörte, wie Zähne splitterten. In diesem Augenblick fragte er sich, wann der Wächter erscheinen und den Kampf beenden würde — und ob diese Wunden jemals wieder heilen würden.

La Floquets schwerer Atem war das einzige, was man jetzt hören konnte. Er schüttelte den Kopf, um ihn klarzubekommen, bereitete sich auf einen neuen Angriff vor. Thornhill bemühte sich, nicht an den brennenden Schmerz in seinem Arm zu denken.

Wieder war La Floquet heran — Thornhill konnte ausweichen und einen Schlag in La Floquets Magengegend landen. Beinahe hätte er sich dabei noch das gesunde Handgelenk gebrochen, denn La Floquet besaß starke Bauchmuskeln. Aber der Schlag blieb nicht ohne Wirkung — La Floquet wurde grau im Gesicht und weich in den Knien, schnappte nach Luft. Thornhill traf ihn ein zweites Mal voll, diesmal am Kopf.

La Floquet blieb als ein Häufchen Elend am Boden liegen. Jetzt kümmerte Thornhill sich um seinen verletzten Arm. Die Wunde war tief und breit, obwohl das Messer offenbar größere Arterien verfehlt hatte. Das Blut quoll dick hervor, es fehlte aber das stoßartige Bluten, wie es bei Arterienverletzungen üblich war.


Es lag eine seltsame Faszination darin, dem Fluß seines eigenen Blutes zuzusehen. Durch den feinen Schleier, der über seinen Augen zu liegen schien sah er Margas blasses, besorgtes Gesicht — er schien mehr Blut verloren zu haben als er geglaubt hatte, und vielleicht war er jetzt dabei, auch noch das Bewußtsein zu verlieren. Nichts deutete darauf hin, daß der Wächter kommen würde.

»Sam…«

»Hübsche kleine Wunde, nicht?« Er lachte, spürte, daß sein Gesicht ganz heiß war.

»Wir sollten sie irgendwie verbinden. Eine Infektion…«

»Nein, das braucht es nicht. Es wird mir bald besser gehen. Wir sind ja hier im Tal.«

Sein verletzter Arm begann schrecklich zu jucken; mühsam unterdrückte er den Impuls, mit seinen Fingernägeln in der Wunde zu kratzen.

»Sie… sie heilt!« sagte Marga.

Thornhill nickte. Die Wunde begann sich zu schließen.

Als erstes stoppte der Blutfluß, als sich die Adern schlossen und das Blut wieder in den Kreislauf gepumpt wurde. Die zerfaserten Wundränder klebten plötzlich wieder zusammen, als wären sie verschweißt. Über die Wunde bildete sich eine Schutzschicht aus Haut. Das Jucken wurde beinahe unerträglich.

Wenige Sekunden darauf war es vorüber — eine hellrote Narbe blieb zurück, mehr nicht. Wie zur Probe berührte er das neugewachsene Fleisch — es fühlte sich warm, nachgiebig und ganz normal an.

La Floquet kam zu sich. Sein rechter Unterarm hatte im verkehrten Winkel abgestanden, war jetzt wieder in seiner alten Position. Benommen richtete sich der kleine Mann auf. Thornhill spannte sich in Erwartung eines neuerlichen Angriffs, aber La Floquet schien nicht mehr kämpfen zu wollen.

»Der Wächter hat die notwendigen Heilungsprozesse durchgeführt«, sagte Thornhill. »Wir sind wieder völlig intakt, abgesehen von einer Narbe hier oder da. Stehen Sie auf, Sie Narr!«

Er zerrte La Floquet auf die Beine.

»Es war das erste Mal, daß mich jemand in einem Zweikampf besiegt hat«, sagte La Floquet bitter. Seine Niederlage schien ihn innerlich zerbrochen zu haben. »Dazu waren Sie unbewaffnet, und ich besaß ein Messer.«

»Vergessen Sie's«, sagte Thornhill.

»Wie könnte ich? Dieses elende Tal: Ich kann ihm nicht entkommen, nicht mal durch Selbstmord, und ich werde auch keine Frau haben. Thornhill, Sie sind nur Geschäftsmann. Sie wissen gar nicht, wie das ist, wenn man sich selbst Normen für sein Verhalten setzt und dann nicht in der Lage ist, danach zu leben.« La Floquet schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt in der Galaxis eine große Zahl von Leuten, die viel dafür geben würden, anzusehen, wie dieses Tal mich kleingemacht hat. Und nicht mal Selbstmord gibt es hier! Aber ich lasse Sie und die Frau in Ruhe.«

Er wandte sich ab und ging davon — eine kleine, beinahe bemitleidenswerte Gestalt; der Kampfhahn, dem man den Kamm geschoren und die Schwanzfedern gezogen hatte. Thornhill verglich ihn mit der springlebendigen Gestalt, die er damals als erste den Berg heraufkommen gesehen hatte, und der Unterschied war schon sehr deutlich. Jetzt schlurfte der Mann dahin, ließ seine Schultern hängen.

»Warten Sie, La Floquet!«

»Sie haben mich besiegt, und das noch vor einer Frau. Was wollen Sie noch mehr von mir, Thornhill?«

»Wie stark ist Ihr Wunsch dieses Tal zu verlassen?« fragte Thornhill direkt.

»Ich…«

»Stark genug, um den Berg noch einmal zu besteigen?«

La Floquets Gesicht, bereits sehr blaß, wurde gespenstisch bleich. Mit brüchiger Stimme sagte er: »Verhöhnen Sie mich nicht, Thornhill.«

»Das tue ich nicht. Ich pfeife auf die Phobie, die Sie das erste Mal vom Berg heruntergetrieben hat. Ich denke, daß man diesen Berg besteigen kann. Aber nicht mit ein oder zwei Leuten. Wenn wir alle dort hinaufmarschierten… oder wenigstens die meisten von uns…«

La Floquet lächelte flüchtig. »Sie würden mitgehen? Und Marga?«

»Wenn es bedeutet, hier herauszukommen: ja. Vielleicht müssen wir McKay und Lona Hardin zurücklassen, aber wir wären immer noch sieben. Vielleicht liegt außerhalb des Tales eine Stadt — wir könnten vielleicht eine Nachricht absetzen und gerettet werden.«

Mit gerunzelten Brauen sagte La Floquet: »Wieso dieser plötzliches Sinneswandel, Thornhill? Ich dachte, es gefällt Ihnen hier, Ihnen und Miß Fallis, meine ich. Ich dachte, ich wäre der einzige, der bereit ist, den Gipfel zu ersteigen.«

Thornhill sah zu Marga und tauschte ein fast unsichtbares Lächeln mit ihr aus. »Ich lehne eine Antwort darauf ab, La Floquet, will Ihnen aber das eine sagen: Je schneller ich aus dem Einfluß dieses Tales herauskommen kann, desto glücklicher werde ich sein.«


Als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten und die anderen herbeigeeilt waren, trat Thornhill einige Schritte vor. Sechzehn Augen waren auf ihn gerichtet, einschließlich der zwei ausgefahrenen Tentakel des Spicaners.

»La Floquet und ich hatten oben auf dem Hügel gerade eine kleine Besprechung«, sagte er. »Wir sind zu einigen Entschlüssen gekommen, die wir dem Rest der Gruppe mitteilen möchten. Ich unterstelle, daß es für das Wohlergehen von uns allen notwendig ist, sofort einen Versuch zu unternehmen, dieses Tal zu verlassen. Im anderen Fall sind wir nämlich zu einem langsamen Tod der schlimmsten Sorte verurteilt — dem langsamen Verlust aller unserer Fähigkeiten.«

McKay unterbrach ihn. »Sie haben schon wieder die Seiten gewechselt, Thornhill. Ich hatte gedacht, daß vielleicht…«

»Ich habe bisher auf keiner Seite gestanden«, antwortete Thornhill schnell. »Es ist nur so, daß ich angefangen habe, nachzudenken. Hören Sie: Wir wurden innerhalb von zwei Tagen hierher gebracht, wurden aus unserem Leben herausgerissen, ganz gleich, wo wir uns gerade befanden, wurden von einer unvorstellbar fremden Kreatur in einem hermetisch abgeriegelten Tal abgesetzt. Tatsache ist: Wir werden ständig überwacht. Unsere Wunden verheilen fast sofort, und wir werden jünger. Sie, McKay, waren der erste, der das festgestellt hat.

Soweit, so gut. Dort befindet sich ein Berg, und höchstwahrscheinlich gibt es einen Weg aus diesem Tal. La Floquet hat versucht, ihn zu finden, aber er und Vellers haben es nicht geschafft; zwei Männer können nicht allein einen fast dreitausend Meter hohen Berg ohne Verpflegung und ohne Hilfe besteigen. Aber wenn wir alle losgehen…«

McKay schüttelte den Kopf. »Ich bin glücklich hier, Thornhill. Sie und La Floquet gefährden dieses Glück.«

»Nein«, mischte La Floquet sich ein. »Begreifen Sie denn nicht, daß wir einfach Haustiere hier sind? Daß wir Gegenstände eines vielleicht interessanten Experiments abgeben, weiter nichts? Und wenn diese Verjüngung anhält, sind wir innerhalb weniger Wochen oder Monate Kleinkinder.«

»Das interessiert mich nicht«, beharrte McKay stur. »Ich werde sterben, wenn ich das Tal verlasse — mein Herz würde es nicht überstehen. Jetzt sagen Sie, daß ich sterben werde, wenn ich bleibe. Aber immerhin durchlebe ich dabei noch einmal mein bestes Mannesalter, und diese Jahre habe ich draußen nicht mehr.«

»Also gut«, sagte Thornhill. »Letztendlich ist es eine Frage dergestalt, ob wir alle bleiben, damit McKay seine Jugend wieder genießen kann, oder ob wir einen Fluchtversuch machen. La Floquet, Marga und ich werden einen Versuch unternehmen, den Berg zu überqueren. Wer uns begleiten möchte, kann das tun. Diejenigen von Ihnen, die den Rest ihrer Tage hier im Tal verbringen möchten, können bleiben und uns großes Pech wünschen. Hat das jeder verstanden?«


Sieben von ihnen verließen am nächsten »Morgen« gleich nach dem Niedergang des Frühstücks-Mannas den Lagerplatz. McKay blieb mit der kleinen Lona Hardin zurück. Es gab einen kurzen, gespannten Augenblick des Abschiednehmens. Thornhill fiel auf, wie die Falten aus McKays Gesicht verschwunden waren, wie sein Haar wieder dunkler geworden war, wie sein Körper kräftiger wirkte. In gewisser Weise konnte er McKays Einstellung verstehen, aber auf keinen Fall konnte er sie akzeptieren.

Auch Lona Hardin sah jünger aus, und vielleicht machte sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Versuch, ihr unauffälliges Äußeres zu verändern. Nun, dachte Thornhill, die beiden mögen sogar glücklich im Tal werden, aber es war die hirnlose Glücksvorstellung einer Marionette, und danach stand ihm für seine Person nicht der Sinn.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte McKay, als die Gruppe sich anschickte loszuziehen. »Ich möchte Ihnen Glück wünschen, wenn ich es nur könnte.«

Thornhill grinste. »Vielleicht sehen wir Sie beide wieder — ich hoffe es nicht.«

Dann führte er die Gruppe am Berghang hinauf an; Marga lief neben ihm, ein paar Schritte hinter ihnen folgten La Floquet und Vellers, danach die drei Fremden. Der Spicaner, da war Thornhill sicher, hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was vor sich ging; dem Regulaner hatte der Aldebaraner alles ausführlich erklärt. Eines schienen sie alle gemeinsam zu haben: Alle waren fest entschlossen, das Tal zu verlassen.

Der Morgen war warm und angenehm, Wolken hüllten die Spitze des Berges ein. Der Aufstieg, dachte Thornhill, wird anstrengend, aber nicht unmöglich sein — vorausgesetzt, der Zauber des Tales reichte über die Baumgrenze hinaus und vorausgesetzt, der Wächter störte diesen Exodus nicht.

Es gab keinerlei Störungen. Thornhill verspürte fast Bedauern, das Tal verlassen zu müssen und wurde sich im gleichen Augenblick klar, daß das ein subtiler Trick des Wächters sein konnte.

Nach dem halben Vormittag befanden sie sich bereits dreihundert Meter über dem Tal. Beim Blick nach unten konnte Thornhill kaum noch das silberne Band des Flusses in dem kleinen Becken erkennen, den das Tal bildete; und natürlich war nichts mehr von McKay zu sehen.

Langsam ging es der Baumgrenze entgegen. Der eigentliche Kampf würde erst später beginnen, draußen auf den nackten Felsen, wo der Wind nicht so sanft, die Luft nicht so samten war wie hier.

Thornhills Uhr zeigte Mittag an, er verkündete eine Pause und holte dann das Manna hervor, das sie sich vom morgendlichen Regen aufgehoben hatten. Es schmeckte trocken und schal, fast wie Stroh, besaß nur noch einen Hauch seines sonst anregenden Geschmacks. Aber wie Thornhill vermutet hatte, fand hier oben am Hang kein mittäglicher Mannaregen statt, und so würgte jeder von ihnen das trockene Zeug hinunter; keiner wußte schließlich, wann es wieder etwas Frisches geben würde.

Nach kurzer Rast ordnete Thornhill den Weitermarsch an. Sie waren nur wenige hundert Meter gegangen, als sie einen Schrei von weit unter sich vernahmen:

»Warten Sie, Thornhill!«

Der Angesprochene fuhr herum. »Hast du etwas gehört?« fragte er Marga.

»Das war McKays Stimme«, sagte La Floquet.

»Warten wir auf ihn«, befahl Thornhill.

Zehn Minuten vergingen, dann kam McKay in Sichtweite, wie er mit großen Schritten den Berg hinaneilte, Lona Hardin nur wenige Meter hinter ihm. Er holte die Gruppe ein, blieb einen Augenblick stumm stehen, um Luft zu holen.

»Ich habe beschlossen, mitzukommen«, sagte er dann. »Sie haben recht, Thornhill — wir müssen das Tal verlassen.«

»Und er glaubt, daß es seinem Herzen schon besser geht«, sagte Lona Hardin. »Wenn er jetzt das Tal verläßt, ist er vielleicht wieder gesünder als vorher.«

Thornhill lächelte. »Hat lange gedauert, Sie zu überzeugen, nicht wahr?« Er legte die Hand an die Stirn und schaute nach oben. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Verschwenden wir keine Zeit mehr.«

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