27

„Los, weiter, Krieger der Horde! Wir sind nicht mehr fern!“

Grom Höllschreis Stimme schnitt durch den Lärm und bestärkte alle, die sie hörten. Rexxar wirbelte herum. Mit der Kriegsaxt in der Linken durchtrennte er einem Allianzkrieger den Hals, und mit der Axt in der Rechten spaltete er einen.

Neben ihm kämpfte sein Wolf Haratha. Er knurrte und sprang. Seine scharfen Zähne bissen in den Unterarm eines dritten Kriegers. Rexxar hörte das unverwechselbare Knacken von Knochen, die von Zähnen zerbissen wurden, und der Mann schrie auf. Das Schwert fiel ihm aus der Hand. Haratha ließ den zerfleischten Arm los, und in einer pfeilschnellen Bewegung sprang er dem Mann an die Kehle.

Sie waren ein tödliches Team.

Rexxar konnte Grom Höllschrei sehen, den Häuptling des Kriegshymnenklans. Seine Axt Blutdurst sang und schnitt durch die Feinde. Andere Krieger seines Klans kämpften neben ihrem Anführer. Ihre Gesänge und Kriegsrufe erschufen eine furchtbare Melodie des Todes und der Zerstörung. Rexxar war einer der wenigen, der diesem Klan nicht angehörte, aber das tat nichts zur Sache. Er hatte eigentlich gar keinen Klan. Zumindest keinen, der mit der Horde zu tun hatte.

Sein eigenes Volk, die Mok’Nathal, waren stets unabhängig gewesen. Sie waren nur wenige, weshalb ihr Leben schwierig gewesen war. Darauf beschränkt, ihr Land am Schergrat gegen Oger zu verteidigen, die es besetzen wollten. Rexxar hatte versucht, seinem Vater Leoroxx von dem Dunklen Portal zu erzählen, das die Orcs bauten, und von der Chance, eine frische, neue Welt für die belagerten Mok’Nathal zu finden. Aber Leoroxx verstand nur, dass sein Sohn nicht dort bleiben wollte, wo er geboren war, um seine Heimat zu verteidigen. Beide wollten sie ihrem Volk helfen, aber am Ende war Rexxar der Horde gefolgt und war für seine Wahl verstoßen worden. Und nun war die Horde die einzige Familie, die ihm geblieben war.

Aber er war ja schon immer anders gewesen.

Ein weiterer Mensch ging zu Boden. Rexxar sah auf. Durch seine Körpergröße konnte er über die anderen Krieger hinwegsehen. Grom hatte recht – sie waren nicht weit vom Dunklen Portal entfernt. Vielleicht hundert Menschen standen zwischen ihm und seiner Heimatwelt. Rexxar grinste und hob beide Äxte. Er würde diese Zahl deutlich verkleinern.

Während der letzten paar Monate hatte das Kriegsglück immer wieder gewechselt. Die Allianz hatte sie eine kurze Zeit lang in einem kleinen Tal eingeschlossen, das direkt neben diesem lag.

Aber sie konnten die Horde dort nicht lange halten. Die Menschen unterschätzten die Willensstärke und Wildheit der Orcs. Und Grom hatte seine Leute in die Freiheit geführt. Sie hatten sich an einem Ort namens Steinard im Norden neu gesammelt. Das war der Außenposten der Horde gewesen, als sie beim ersten Mal durch das Dunkle Portal gekommen waren. Der Sumpf, zwar stinkend und unangenehm, hatte immerhin Leben und Wasser geboten. Und Grom hatte verhindert, dass die Orcs verzweifelten. Sie hatten Steinard mit Vorräten aufgebaut, die sie aus Angriffen auf Allianztransporte erbeutet hatten. Und schließlich hatten sie die Kontrolle über das Dunkle Portal zurückerlangt.

Es war auf und ab gegangen mit Horde und Allianz. Aber jetzt war das kleine Spiel zu Ende. Grom hatte beschlossen, dass es Zeit für die Heimkehr war. Kein anderer Klan war gekommen, um ihnen zu helfen. Und obwohl sie immer noch eine Streitmacht waren, mit der man rechnen musste, wie die Allianz gerade feststellte, wurde ihre Zahl allmählich kleiner, während die Allianz von Minute zu Minute zahlreicher zu werden schien.

Außerdem war da noch die Sache mit dem merkwürdigen Gerät. Grom Höllschrei würde keinen seiner Leute aufgrund des Verrats eines anderen sterben lassen. Rexxar wollte dabei sein, wenn Grom zurückkehrte und sich denjenigen vornahm, der den Befehl erteilt hatte.

Ein Mensch griff ihn von einem Pferd aus an, das Schwert hoch erhoben und den Schild bereit. Aber er hatte nicht mit Rexxars Körpergröße gerechnet. Rexxar parierte den Schlag mit einer Axt und krachte in den Mann, während er mit der anderen das Schwert wegschlug.

Als der Reiter aus dem Sattel geworfen wurde, hob Rexxar beide Äxte hoch, und das eigene Bewegungsmoment sorgte dafür, dass der Mann aufgespießt wurde. Rexxar grinste und stieß einen wilden Kriegsschrei aus. Dann zog er die Äxte heraus und stieg über den toten Soldaten. Das reiterlose Pferd wandte sich ab und floh vor Haratas Bissen.

Manchmal war es gut, ein Halb-Oger zu sein.

Etwas flackerte am Rand seines Sichtfelds, als er kurz das Innere des Dunklen Portals wahrnehmen konnte. Er hatte es nur eine Sekunde lang gesehen, aber deutlich Blitze erkannt, Staubwolken, peitschende Wellen und einen bebenden Boden. Das Portal hatte bislang immer die andere Seite gezeigt, deshalb hatte er während des Kampfes immer wieder einmal nach Draenor hineinschauen können. Aber was er jetzt gesehen hatte – das war nicht mehr seine Heimatwelt. Das war ein Ort wie aus einem Albtraum!

Dann attackierte ihn ein weiterer Soldat der Allianz, und das lenkte Rexxars Gedanken augenblicklich auf die Schlacht zurück. Er erledigte den Krieger mit Leichtigkeit, aber direkt neben ihm hatte ein anderer Orc nicht so viel Glück. Er trug das Gewand eines Hexenmeisters und dieselbe grüne Haut wie die meisten Mitglieder der Horde. Rexxar, der der Horde erst kurz, bevor sie Azeroth angriffen hatte, beigetreten war, hatte sich nicht verändert. Es gab hier mehrere Hexenmeister. Einige waren recht mächtig, doch ihre Todesmagie brauchte Zeit, und im Schlachtenverlauf geschahen manche Dinge schnell.

Zwei Krieger griffen den Hexer gemeinsam an, und während der Zauberer einen von ihnen überwältigen konnte und ihn in heillosem Schrecken fliehen ließ, hatte der andere ihm in die Brust gestochen, bevor ein nahe stehender Kriegshymnenkämpfer dem Menschen mit seinem Knüppel den Schädel zertrümmerte. Jetzt wankte der Hexenmeister, eine Hand an den wachsenden Blutfleck gepresst. Seine Haut wurde schon bleich, Schweiß rann über seine Stirn.

Rexxar grunzte und schüttelte den Kopf. Er hatte nur wenig für Hexenmeister übrig, und dieser hatte sich offensichtlich nicht ausreichend auf die Schlacht vorbereitet.

Der Hexer bemerkte die Bewegung, und der verwundete Orc starrte Rexxar an. Ekel und Verachtung schwelten in seinem Blick. Dann trat er vor, streckte seine Handfläche vor sich aus.

„Du!“, rief der Hexer, „Halbblut! Du bist nicht wirklich von der Horde. Kein echter Orc. Aber du wirst reichen. Komm her!“

Rexxar schaute den Zauberer an, zu überrascht um zu antworten. Dieser Hexenmeister beleidigte ihn und erwartete dann auch noch Hilfe? War er komplett verrückt geworden?

Doch als der Zauberer näherkam, sah Rexxar das grüne Schimmern, das seine Hände umgab. Er atmete schnell ein, weil er das seltene Gefühl von Angst verspürte.

Nein, der Zauberer wollte keine Hilfe, keine herkömmliche jedenfalls – er wollte Rexxars Lebenskraft. Hexenmeister konnten anderen die Lebensenergie absaugen und sich selbst heilen. Dieser Prozess forderte einen hohen Preis. Eine schwere Wunde konnte einen gesunden Orc töten.

Und die Wunde dieses Hexers war tödlich.

Rexxar versuchte zurückzuweichen, aber er war eingezwängt. Die Orcs und Menschen hinter ihm standen zu dicht zusammen, als dass er sich hätte bewegen können. Er knurrte und hob beide Äxte. Eher würde er den Zauberer umbringen, als dass er so enden wollte...

Aber der Orc vollführte eine Geste, und plötzlich fiel Rexxar auf die Knie. Unglaublicher Schmerz durchfuhr ihn.

„Wie? Gar nicht mehr so selbstsicher?“, verspottete der Hexer ihn leise und trat nah genug an ihn heran, dass sein Atem über Rexxars Haut strich.

Rexxar krümmte sich, wand sich vor Schmerz und konnte sich nicht wehren.

„Tut es weh? Keine Angst. Bald sind die Schmerzen fort.“ Er hob seine Hände absichtlich langsam an, um den Moment auszukosten. Und dann sah Rexxar, wie sich die grün leuchtenden Hände näherten. Er meinte bereits zu spüren, wie ihm die Energie entzogen wurde. Müdigkeit überkam ihn.

Ein wildes Knurren drang durch den Nebel der Folter, und ein großer, schwarzer Schatten krachte in den Zauberer.

„Harata, nein!“ Weil der Zauberer abgelenkt war, brach der Bann, und Rexxar konnte sich wieder bewegen. Aber es war zu spät. Sein ergebener Wolfsgefährte hatte den Hexer weggeschubst, doch dabei hatte dessen Hand den dicken Pelz des Wolfes berührt. Rexxar schaute erschrocken auf, als sein Freund vor seinen Augen verging. Der starke Wolf sank binnen Sekunden in sich zusammen. Sein Körper wurde zu Staub, der vom Wind verweht wurde.

„Ah, jetzt geht es mir besser“, sagte der Zauberer, stand auf und wischte sich über sein Gewand. Der Blutfleck blieb, er bewegte sich jetzt allerdings wieder normal. „Dein Tier hat dir das Leben gerettet“, wandte er sich mit einem gemeinen Grinsen an Rexxar.

„Ja, das hat es“, antwortete Rexxar leise und wirbelte mit beiden Äxten. „Aber wer rettet dich jetzt?“

Er schlug aus dem Handgelenk zu. Die Äxte drangen tief in die Brust des Hexenmeisters ein. Rexxar hatte viel seiner bemerkenswerten Stärke in den Schlag gelegt, und der Zauberer fiel durch die Wucht des Schlages auf die Knie. Die Äxte schnitten durch ihn hindurch, und er landete auf dem blutdurchtränkten Boden.

Rexxar sah auf den Leichnam, keuchte, dann blickte er zu der Stelle, wo sein Wolf gestorben war. Die Wut durchdrang ihn noch und dröhnte in seinen Ohren. Er kniete sich hin und legte seine vom Hexenmeisterblut benetzte Hand auf den Staub.

„Du bist gerächt, mein Freund“, sagte er leise, „obwohl es mir lieber wäre, du wärst noch bei mir.“ Er atmete tief durch, stand auf, bezähmte seine Trauer und seine Wut und rief nach dem Anführer des Kriegshymnenklans.

Grom sah auf, bemerkte Rexxar und winkte dem Halb-Orc mit der Axt zu. Deshalb hatte Rexxar den Anführer des Kriegshymnenklans immer gemocht, trotz all seiner Wildheit und Gewaltbereitschaft. Grom hatte ihm immer denselben Respekt gezollt wie jedem anderen Krieger. Dafür hatte er auch stets Grom respektiert, aber jetzt waren Erfolge wichtiger als Manieren.

„Das Portal!“, brüllte Rexxar und zeigte darauf. „Da stimmt etwas nicht!“

Grom schaute genau in dem Moment auf das Portal, als eine Handvoll Orcs hindurchwankte. Zuerst erhob sich Rexxars Herz, er dachte, dass die Horde ihnen Hilfe geschickt hatte. Aber dann erkannte er, dass diese Orcs bereits geschlagen waren und bluteten. Und dass sie eher rannten als marschierten. Sie liefen, als würden sie vor etwas fliehen. Etwas auf Draenor.

„Lauft!“, rief einer von ihnen, als er mit einem Soldaten der Allianz zusammenstieß. Der Soldat fiel hin, doch der Orc rannte weiter, ohne sich um sein hilfloses Opfer zu kümmern. „Lauft!“

„Was geht da vor?“, fragte Grom, und Rexxar zuckte die Achseln, nicht weniger verwirrt. Sie starrten beide auf das Dunkle Portal, als die dortige Szenerie sich änderte. Sie wandelte sich von einer verrückt gewordenen Landschaft zu einem Mahlstrom wirbelnder Farben und dann zu völliger Dunkelheit.

Danach verschwand sie.

Einen Herzschlag später begann der steinerne Rahmen zusammenzubrechen, der das Dunkle Portal, den Spalt zwischen den Welten, eingerahmt hatte.

Das Geräusch steigerte sich zu einem Crescendo, und dann kollabierte das Zentrum. Die beiden massiven Hälften brachen donnernd zusammen, und eine Wolke aus Staub und Steinsplittern stieg auf. Die Stützpfeiler fielen als Nächstes, aus dem Gleichgewicht gebracht von dem ursprünglichen Aufprall.

Rexxar zog den Kopf ein und legte den Stoff seiner Kapuze vor den Mund, um den Staub nicht einatmen zu müssen. Orcs und Menschen verteilten sich und versuchten dem Chaos und dem Geröll zu entkommen.

„Nein!“, schrie jemand. Stöhnen und Schreie erfüllten die Luft.

Rexxar starrte auf die Überreste, die einst das Tor zwischen den Welten gebildet hatten. Das Portal – vernichtet? Bedeutete das, dass sie niemals mehr heimkommen würden? Was würde jetzt aus ihnen werden?

Glücklicherweise bewahrte ein Orc kühlen Kopf. „Neu gruppieren!“, brüllte Grom und schlug Rexxar auf die Schulter. „Du sammelst jeden auf dieser Seite ein, ich auf der anderen. Wir treffen uns am Eingang des Tals!“

Rexxar wurde aus der Erstarrung gerissen, nickte und gehorchte. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, verzichtete Rexxar auf die schützende Vermummung. Er konnte immer noch die Panik spüren, drängte sie aber zurück, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Grom ihm zugewiesen hatte. Jeden Orc, den er sah, schickte er zum Taleingang, und entweder wegen seiner Größe oder wegen der beiden Äxte, die er trug – oder weil sie einfach auf Befehle warteten –, gehorchten die Orcs ohne jedes Widerwort.

Als Rexxar selbst am Taleingang ankam, war Grom ebenfalls zurück und mit ihnen alle Mitglieder der Horde auf Azeroth. Die meisten blickten so benommen, wie er sich fühlte.

„Grom! Das Portal ist verschwunden!“, stammelte einer von ihnen.

„Was sollen wir tun?“

„Ja. Das Portal ist verschwunden. Und die Allianz gruppiert sich neu“, verkündete Grom laut und wies in die Richtung, in der sich die Menschen neu formierten, vor den Überresten des ehemaligen Portals. „Sie glauben, dass wir leichte Beute sind. Sie glauben, wir wären ohne das Portal verloren und verängstigt. Aber sie irren sich. Wir sind die Horde!“

Seine glühenden roten Augen schauten über die Menge vor ihm, und er hob Blutdurst. „Wir gehen nach Norden, zurück nach Steinard. Wir kriegen heraus, was mit unserer Welt geschehen ist. Wir versorgen unsere Verwundeten. Wir überleben! Dann formieren wir uns neu, damit wir den Menschen zu unseren Bedingungen, nicht zu ihren, entgegentreten.“ Er knurrte. „Die Allianz nähert sich. Wird sie uns besiegen?“

„Nein!“, erklang es aus den Reihen der Orcs.

Rexxar hielt sie insgeheim für die letzten Überreste der orcischen Horde.

Grom grinste, warf seinen Kopf zurück, öffnete seinen schwarz tätowierten Mund und stieß einen Kriegsruf aus, bevor er losstürmte.

Seine Leute folgten ihm.


Dieser da war der Richtige! Grom ging zu dem Orc, der eingemummt neben dem Feuer saß, als sie in dieser Nacht in Steinard kampierten. Er war nicht staubig oder blutig, und Grom kannte alle seine Krieger. Er legte seine Hände auf die Schultern des Orcs und zog ihn zu sich heran. Grom ragte über dem Orc auf, dessen Augen vor Überraschung geweitet waren.

Hinter Grom stand Rexxar.

Mühelos hob Grom den Orc an und hielt ihn in der Luft. Verzweifelt zappelte der Orc mit den Beinen. Der Häuptling des Kriegshymnenklans beugte sich vor.

„Also“, sagte Grom leise, und ein finsterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Was im Namen der Ahnen ist dort drüben passiert?“

Der Orc zitterte und erzählte alles, was er wusste. Seine Artgenossen hörten ihm gebannt zu. Das einzige Geräusch war die Stimme des Orcs, das Knacken des Feuers und die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Sumpfs.

Als er endete, schwiegen alle. Sie starrten ihn nur an, zu schockiert, um etwas zu sagen.

Schließlich, nach mehreren Minuten, schüttelte sich Grom. „So“, knurrte er und sah die anderen einschüchternd an, bis sie ihre Blicke abwandten. Nervös scharrten sie mit den Füßen. „Dann bereiten wir uns vor.“

„Vorbereiten?“, schrie Rexxar.

Grom sah den Krieger an, der halb Orc und halb Oger war.

„Worauf vorbereiten, Höllschrei? Unsere Welt ist tot. Unsere Leute sind tot. Und wir sind für immer hier gefangen. Ganz auf uns allein gestellt. Auf was im Namen der Ahnen sollten wir uns also vorbereiten?“ Rexxars Griff um die Axt war so fest, dass Grom glaubte, der Schaft könnte brechen.

„Wir bereiten uns auf die Rache für die Toten vor!“, knurrte Grom. Das Bild von Garrosh stand wieder vor seinem geistigen Auge. Sein Sohn und Erbe. Mein Junge, dachte er, mein Junge, tot wie der Rest.

„Wir sind alles, was übrig geblieben ist!“, erklärte er und fuhr die anderen Orcs an: „Wir sind jetzt die Horde! Wenn wir aufgeben, bedeutet das das Ende von allem, was wir kennen. Alles, was uns wichtig ist! Unser Volk wird nicht sterben, bevor wir uns nicht niederlegen und den Tod wie Feiglinge erwarten! Wenn Ner’zhuls Pläne...“

„Ner’zhul!“, brüllte Rexxar und beugte sich vor. Sein Gesicht war Grom jetzt ganz nah. „Der ist doch an allem schuld! Wer sonst könnte eine Welt zum Zusammenbruch bringen? Er hat uns alle verraten. Er versprach, Draenor zu retten, und hat es stattdessen zerstört!“

„Das wissen wir nicht!“, widersprach Grom. „Wir wussten, dass er mit extrem mächtiger Magie hantierte, um das Portal zu anderen Welten zu öffnen. Vielleicht ging etwas schief?“

„Oder es lief genau richtig... für ihn!“, fuhr Rexxar wütend fort. „Vielleicht hat er uns alle nur benutzt, unsere ganze Welt, um seine Ziele zu verwirklichen? Das hat Gul’dan doch gemacht, oder nicht?“

Viele der umstehenden Orcs grunzten oder murmelten ihre Zustimmung. Jeder wusste von Gul’dans Verrat und wie er die Orcs den Sieg im Zweiten Krieg gekostet hatte.

„Und wer hat Gul’dan ausgebildet?“, fuhr Rexxar fort. „Wer brachte ihm alles bei? Ner’zhul! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“

Das Murmeln wurde lauter und wütender. Grom wusste, dass er dieses Gespräch beenden musste, bevor sich die versammelten Krieger in einen wütenden Mob verwandelten.

„Begreift ihr denn nicht, dass das egal ist?“, begann er und stellte Rexxars Wut die eigene Ruhe entgegen. „Sollen wir unsere Entscheidung auf Gerüchten gründen lassen? Sollen wir uns nach dem verzehren, was hätte sein können, und uns darüber aufregen, was vielleicht passiert ist? Benimmt sich so die mächtige Horde?“ Er sah von Orc zu Orc und bezog sie in das Gespräch mit ein. Er war zufrieden, als das Murmeln erstarb und sie gespannt erwarteten, was er noch zu sagen hatte.

„Wir haben überlebt! Wir sind auf Azeroth, einer Welt voller Leben, Land und Schlachten. Wir können die Horde wieder aufbauen und die Welt erneut angreifen!“

Einige Orcs jubelten bei seiner Ansprache. Grom nutzte diese Stimmung zu seinem Vorteil und schwang Blutdurst über seinem Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Ja, die Allianz jagt uns“, rief er. „Und wir sind derzeit kein Gegner für sie. Aber eines Tages, und das wird schon bald sein, sind wir es wieder! Hier können wir uns ausruhen, erholen und planen. Von hier aus starten wir Angriffe, wie wir es bereits seit einigen Monden tun. Wir werden neu erstarken. Wir werden wieder die Jäger sein, und die Menschen werden vor Angst erzittern!“ Er hielt seine Axt immer noch über dem Kopf, senkte aber jetzt die Stimme, damit seine Worte fast schon schmeichelnd in die plötzliche Stille sinken konnten. „Und eines Tages werden wir, die Horde, uns gegen die Menschen erheben und uns rächen!“

Die Krieger jubelten und brüllten. Sie hoben ihre eigenen Waffen, und Grom nickte zufrieden. Sie standen alle hinter ihm. Alle waren wieder vereint.

Alle – bis auf einen.

„Du wurdest mehrfach betrogen, jedes Mal von einem anderen Orc, der die Führerschaft beanspruchte – und du beschreitest immer noch denselben Weg“, sagte Rexxar leise, obwohl seine Augen vor Wut brannten. „Du hast gar keinen Grund mehr zu kämpfen! Früher kämpften wir, um unser Volk zu schützen und diese Welt zu erobern. Aber unsere Leute sind fort! Wir brauchen diese Welt nicht mehr! Mit diesen paar Orcs kannst du leicht einen Ort finden, an dem uns die Menschen niemals aufspüren werden. Und das, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen!“

„Woher käme dann der Ruhm?“, rief ein anderer Orc.

Grom nickte. „Was ist dein Leben ohne Kampf?“, wollte er von Rexxar wissen. „Du bist ein Krieger, du verstehst uns! Kämpfen hält uns stark!“

„Vielleicht“, gestand das Halbblut ein. „Aber warum kämpfen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Wenn es reiner Selbstzweck wäre? Wir müssen niemanden retten oder irgendetwas gewinnen, nicht einmal Ruhm. Diese Schlachten dienen nur dazu, den Blutrausch zu stillen, geboren aus der Liebe zur Gewalt. Und dessen bin ich überdrüssig. Ich will nicht länger daran teilhaben.“

„Feigling!“, rief jemand, und Rexxars Augen zogen sich zusammen, als er sich zur vollen Größe aufrichtete. Er brachte die Doppeläxte auf Schulterhöhe.

„Tritt vor und wiederhole das“, drohte er. „Tritt vor, wo ich dich deutlich sehen kann, und nenn mich noch einmal Feigling! Dann wirst du schon sehen, ob ich vor einem Kampf zurückschrecke!“

Keiner bewegte sich, und nach einer Sekunde schüttelte Rexxar den Kopf, ein Lächeln lag auf seinen markanten Zügen. „Ihr seid die Feiglinge“, verkündete er und spie die Worte aus. „Ihr seid zu ängstlich, um außerhalb der Lügen und Versprechungen zu leben, die euch gemacht wurden. Ihr habt keinen Mut und keine Ehre. Deshalb kann man euch nicht trauen. Von jetzt an traue ich nur noch den Tieren.“

Grom hatte gemischte Gefühle, als er den großen Krieger gehen sah. Wie konnte Rexxar es wagen, sie jetzt zu verlassen, wo sie unbedingt zusammenbleiben mussten? Andererseits, wer konnte es ihm verdenken? Er gehörte nicht einmal im eigentlichen Sinne der Horde an. Weil die Mok’Nathal nie den Schergrat verlassen wollten. Groms Wissen nach hatte nur Rexxar sich der Horde angeschlossen und im Ersten und Zweiten Krieg gekämpft. Und was hatte es ihm eingebracht? Er hatte seine Welt verloren, sein Volk und selbst seinen Begleiter, den Wolf. War es da ein Wunder, dass der Halb-Orc sich betrogen fühlte?

„Niemand verlässt die Horde“, rief jemand. „Wir sollten ihn an den Ohren zurückschleifen oder töten!“

„Er hat uns alle beleidigt“, bemerkte ein anderer. „Er sollte für diese Anmaßung sterben!“

„Wir brauchen seine Kraft“, konterte ein dritter. „Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren!“

„Genug!“, brüllte Grom und sah sie an. Die Zwischenrufer verstummten. „Lasst ihn ziehen“, befahl er. „Rexxar hat der Horde gut gedient. Lasst ihm nun seinen Frieden.“

„Und was ist mit uns?“, wollte einer der Krieger wissen. „Was machen wir jetzt?“

„Wir wissen, was zu tun ist“, antwortete Grom. „Diese Welt ist nun unsere Heimat. Lasst uns darin leben.“

Aber als sie nickten und zum Feuer zurückgingen, um sich leise über Pläne, Siege und Nachschub zu unterhalten, kamen Grom Rexxars Worte wieder in den Sinn.

Ein Teil von ihm fragte sich, ob sie jemals das wiederfinden würden, was sie vor langer Zeit verloren hatten: ihren Frieden.

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