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Beginn der Recherchen: Mein besseres Leben begann mit Elan. Schon am nächsten Tag besaß ich das neue Büro und den Porsche endgültig, wenn sich auch der Wagen als älter herausstellte, als ich angenommen hatte, und sich in einem Zustand befand, der den Preis, den Lienhard verlangt hatte, etwas weniger menschenfreundlich erscheinen ließ. Das Büro,war jenes des ehemaligen Olympiasiegers im Fechten und Schweizermeisters im Pistolenschießen, Dr. Benno, gewesen, mit dem es seit langem abwärtsging. Der schöne Olympia-Heinz blieb der Verhandlung fern. Er sei bereit, wie Architekt Friedli erklärte, der mich in aller Herrgottsfrühe hingeführt hatte, mir das Büro zu überlassen, zweitausend im Monat, viertausend als Anzahlung, eine Summe, von der ich nicht wußte, in wessen Tasche sie floß, doch konnte ich das Büro sofort beziehen und nicht nur Bennos Mobiliar übernehmen, sondern auch seine Sekretärin, eine etwas verschlafene Innerschweizerin mit dem außerschweizerischen Namen Ilse Freude, die wie eine französische Bardame aussah, ihr Haar ständig anders färbte, doch erstaunlich tüchtig war; ein Kuhhandel, alles in allem, den ich nicht durchschaute. Dafür waren das Vorzimmer und das Büro am Zeltweg standesgemäß, mit Blick auf die obligaten Verkehrsstockungen, der Schreibtisch vertrauenerweckend, dazu ordentliche Sessel, gegen den Hinterhof eine Küche und ein Zimmer, in das ich meine Couch aus der Freiestraße stellte; ich vermochte mich vom alten Möbel nicht zu trennen. Auf einmal schien das Geschäft in Schwung zu kommen. Eine lukrative Ehescheidung stand in Aussicht, eine Reise nach Caracas winkte im Auftrag eines Großindustriellen (Kohler habe mich empfohlen), Erbstreitigkeiten waren zu schlichten, ein Möbelhändler war vor Gericht zu verteidigen, rentierende Steuererklärungen. Ich war in einer zu unvorsichtigen und beglückten Stimmung, um noch an die Privatdetektei zu denken, die ich in Bewegung gesetzt hatte und deren Bericht ich abwarten wollte, bevor ich den Fall Kohler weiterverfolgte. Dabei hätte mich Lienhard mißtrauischer machen sollen, als ich schon war: der Mann hatte Hintergrund, undurchsichtige Absichten, war mir von Kohler empfohlen worden und allzu begierig gewesen mitzumachen. Er ging gründlich vor. Ins >Du Théâtre< setzte er Schönbächler, einen seiner besten Männer, der am Neumarkt ein altes, doch komfortables Haus besaß. Den Estrich hatte er zu einer Wohndiele ausbauen lassen. Hier war seine gewaltige Diskothek untergebracht. Überall waren Lautsprecher montiert. Schönbächler liebte Symphonien. Seine Theorie (er war voller Theorien): Symphonien zwängen am wenigsten zum Mithören, man könne dazu gähnen, essen, lesen, schlafen, Gespräche führen usw., in ihnen hebe die Musik sich selber auf, werde unhörbar wie die Musik der Sphären. Den Konzertsaal lehnte er als barbarisch ab. Er mache aus der Musik einen Kult. Nur als Hintergrundmusik sei die Symphonie statthaft, behauptete er, nur als» Fond «sei sie etwas Humanes und nicht etwas Vergewaltigendes, so habe er die Neunte Beethovens erst begriffen, als er dazu einen Potaufeu gegessen habe, zu Brahms empfahl er Kreuzworträtsel, auch Wiener Schnitzel seien möglich, zu Bruckner Jassen oder Pokern. Am besten jedoch sei es, gleich zwei Symphonien gleichzeitig laufen zu lassen. Das tat er denn auch angeblich. Des Getöses bewußt, das er entfesselte, hatte er für die drei übrigen Parteien des Hauses die Miete nach einem genau berechneten System ausgeklügelt. Die Wohnung unter seiner Wohndiele war die billigste, der Mieter hatte nichts zu bezahlen, nur Musik auszuhalten, stundenlang Bruckner, stundenlang Mahler, stundenlang Schostakowitsch, die mittlere Wohnung kostete das übliche, die unterste war beinahe unerschwinglich. Schönbächler war ein empfindsamer Mensch. Sein Äußeres wies nichts Besonderes auf, im Gegenteil, er schien Außenstehenden als der personifizierte Musterbürger. Er war sorgfältig gekleidet, roch angenehm und war nie betrunken, stand überhaupt mit der Welt auf bestem Fuß. Was seine Nationalität betrifft, so bezeichnete er sich als Liechtensteiner. Das stelle nicht viel dar, pflegte er dazu zu äußern, das gebe er zu, doch brauche er sich wenigstens nicht zu schämen: Liechtenstein sei an der gegenwärtigen Weltlage relativ schuldlos, sehe man davon ab, daß es zu viele Briefmarken drucke, und übersehe man seine finanziellen Kavaliersdelikte; es sei der kleinste Staat, der auf großem Fuße lebe. Auch unterliege ein Liechtensteiner nicht so leicht dem Größenwahn, sich einen besonderen Wert nur aus der Tatsache zuzuschreiben, daß er Liechtensteiner sei, wie dies etwa den Amerikanern, den Russen, Deutschen oder Franzosen zustoße, die a priori des Glaubens seien, ein Deutscher oder ein Franzose sei an sich ein höheres Wesen. Einer Großmacht anzugehören — und für einen Liechtensteiner seien notgedrungen fast alle anderen Staaten Großmächte, sogar die Schweiz —, bringe psychologisch für die davon Betroffenen einen bedenklichen Nachteil mit sich, die Gefahr nämlich, einem bestimmten Verhältnisblödsinn zu erliegen. Diese Gefahr wachse mit der Größe einer Nation. Er pflegte das an einem Mäusebeispiel zu erläutern: Eine Maus, die sich mit sich allein befinde, betrachte sich durchaus noch als Maus, sobald sie sich aber unter einer Million Mäusen wisse, halte sie sich für eine Katze und unter hundert Millionen Mäusen für einen Elefanten. Am gefährlichsten seien jedoch die Fünfzig-Millionen-Mäusevölker (fünfzig Millionen als Größenordnung). Diese beständen aus Mäusen, die sich zwar für Katzen hielten, aber gerne Elefanten wären. Dieser übersteigerte Größenwahn sei nicht nur für die davon betroffenen Mäuse gefährlich, sondern jeweils auch für die ganze Mäusewelt. Das Verhältnis jedoch zwischen der» Mäuseanzahl «und dem von dieser erzeugten Größenwahn nannte er das» Schönbächlersche Gesetz«. Als Beruf gab er Schriftsteller an. Das mochte insofern erstaunen, als er weder einmal etwas veröffentlicht noch je etwas geschrieben hatte. Er leugnete es nicht. Er nannte sich nur schlicht einen» potentiellen Schriftsteller«. Er war um eine Erklärung seines Nichtschreibens nie verlegen. So behauptete er gelegentlich, die Schriftstellerei beginne mit dem» Sinn für Namen«, das sei ihre primäre poetische Bedingung, dazu komme ihre nicht minder moralische, die in der Wahrheitsliebe begründet liege. Überdenke man nun diese beiden Grundbedingungen, so werde klar, daß zum Beispiel ein Titel, >Gedichte von Raoul Schönbächler<, allein schon durch die Vorstellung unmöglich gemacht würde, diese Lyrik müsse wie ein schönes Bächlein dahinplätschern. Man könne freilich einwenden, dann sei der Name Schönbächler zu ändern, doch dann komme man mit dem Prinzip der Wahrheitsliebe in Konflikt. Wo Schönbächler auftauchte, gab es zu lachen. Er war ein guter Kerl, von dem in den Gaststätten viele lebten. Die Zeche ließ er aufschreiben, man schickte ihm die Rechnung jeden Monat zu, was sich zusammenaddierte, mußte beträchtlich sein. Hinsichtlich seines Einkommens war man im unklaren. Seine Angaben über ein großzügiges liechtensteinisches Staatsstipendium konnten natürlich nicht stimmen. Einige behaupteten, er sei der Generalvertreter gewisser Gummiartikel. Auch war nicht zu übersehen, daß er vieles wußte und ein scharfes, stets sorgfältig begründetes Urteil besaß. (Vielleicht war sein Nicht-Schreiben nicht nur Faulheit, wie es schien, vielleicht steckte die Einsicht dahinter, es sei, im Gegensatz zu den vielen, die produzieren, besser, nichts zu produzieren.) Am berühmtesten war jedoch seine Fähigkeit, Gespräche anzuknüpfen, um so mehr als diese Kunst unseren Mitbürgern nicht liegt. Schönbächler dagegen beherrschte sie virtuos. Anekdoten wurden erzählt, Legenden bildeten sich. So soll er auf eine Wette hin (wie der Kommandant steif und fest behauptet) einen Bundesrat, der am Nebentisch mit Mitgliedern der Kantonsregierung beim Vieruhrtee saß, derart in ein Gespräch über die Beziehungen unseres Staates zu Liechtenstein verstrickt haben, daß der Magistrat den Schnellzug nach Bern verfehlt hätten. Möglich. Doch ist den Bundesräten im allgemeinen nicht so viel zuzutrauen. Schönbächler galt im übrigen als harmlos. Daß er Lienhards Agent war, ließ sich niemand träumen. Als es bekannt wurde, war die Bestürzung groß, Schönbächler verließ unsere Stadt und lebt nun mit seiner Diskothek in Südfrankreich, sehr zum Leidwesen unserer Mitbürger, erst letzthin drohte mir einer mit der Faust, zum Glück war ich mit Lucky. Dieses Original nun, Schönbächler, tauchte eines Tages im >Du Théâtre< auf, zur allgemeinen Verwunderung, denn er war sonst dort selten zu sehen. Er bezog einen Tisch und blieb den ganzen Tag. Am nächsten Morgen kam er aufs neue, so eine Woche lang, plauderte mit allen, befreundete sich mit dem Chef de Service und den Kellnerinnen, doch dann verschwand er, war wieder in den alten Stammbeizen anzutreffen, es war anscheinend ein Intermezzo gewesen. In Wirklichkeit hatte Schönbächler die Hauptzeugen noch einmal vernommen. Was jedoch die weiteren Recherchen betrifft, so benutzte Lienhard Feuchting, der zu jenen berüchtigten Elementen zählt, die er in seiner Detektei im Talacker beschäftigt, und den ich damals noch nicht kannte — erst jetzt kenne ich ihn (von der >Monaco-Bar<). Feuchting ist ein unzuverlässiger, übler Bursche, das kann niemand bestreiten, und auch Lienhard bestreitet es nicht, ebensowenig wie die Polizei, die Feuchting schon mehrere Male verhaftet hat (Rauschgift) und dann wieder selber für ihre Recherchen braucht. Feuchting ist ein Spitzel, der sein Metier und sein Milieu kennt. Möglich, daß er einst bessere Tage gesehen, möglich, daß er sogar studiert hat, der Rest, der sich nun durchs Leben pumpt, gaunert, erpreßt, ist erbärmlich. Sein Pech, sagte er (im >Monaco<) zu diesem Thema, trübselig in sein Glas Pernod stierend, sei, daß er kein Russe, sondern Deutscher sei. Deutscher sei hierzulande kein Beruf, möglicherweise in Ägypten oder Saudi-Arabien, hier sei nur Russe einer. Seine Existenz würde in diesem Falle keinen Anstoß erregen, im Gegenteil, als Russe wäre er geradezu verpflichtet, so zu sein, wie er sei: versoffen und ruiniert; aber nicht einmal den Russen zu spielen sei hier möglich, weil er so aussehe wie in französischen Resistance-Filmen ein Deutscher. In diesem Punkt spricht er die Wahrheit. Ausnahmsweise. Er sieht so aus. Er kennt die Ober- und Unterwelt wie kein zweiter, beherrscht die Bar- und Finten-Geographie. Er vermag über jeden Stammkunden jedes zu erfahren. Doch bevor mir Lienhard das von Schönbächler und Feuchting Ermittelte zuschickte, traf ich zum zweiten Mal mit Monika Steiermann zusammen, trat das ein, was ich befürchtet oder erhofft hatte — ich weiß es nicht mehr. Es wäre besser gewesen, die Begegnung hätte nicht stattgefunden (die erste wie die zweite).


Arbeit in der Zentralbibliothek: Warum nicht die Steiermannsche Familiengeschichte erzählen? Eben erreichte mich eine neue Postkarte Kohlers — die letzte kam vor vier Wochen, das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter, er will Samoa später besuchen, er fährt von Hawaii nach Japan — mit einem Luxusdampfer, und hier war ich vor der Aufsichtskommission, vor dem Präsidenten Professor Eugen Leuppinger. Der berühmte Strafrechtler, Schmisse im Gesicht, poetisch, totale Glatze, empfing mich in seinem Büro; der Vizepräsident Stoss, sportlich, überhaupt frisch, fromm, fröhlich, frei, war auch zugegen. Die Herren waren menschlich. Der Hinauswurf werde zwar unumgänglich, der Regierungsrat würde sonst darum ersuchen, und da sei es klüger zuvorzukommen, aber man bedauerte, war betrübt, väterlich, begriff sozusagen auf der ganzen Linie, hatte Mitgefühl, machte durchaus keine Vorwürfe, aber dennoch, unter Männern gesprochen, Hand aufs Herz, ich müsse das selber zugeben, gerade für Juristen sei offiziell ein bestimmter Lebenswandel in einem bestimmten Milieu angezeigt, ja man dürfe formulieren, je bedenklicher dieses sei, desto untadliger müsse jener sein, die Welt sei nun einmal ein greuliches Philisternest, besonders unsere liebe Stadt, es sei zum Davonlaufen, und wenn er, Leuppinger, mal hier seine Bude schließen könne, dann auf nach dem Süden, doch nicht das sei das Wesentliche, natürlich seien zwar Prostituierte Menschen, sogar wertvolle Menschen, arme Menschen, denen er persönlich, er gebe es ruhig zu vor mir und vor Kollega Stoss, viel verdanke, Wärme, Mitgefühl, Verständnis, selbstverständlich sei das Gesetz auch für den Strich da, um das ominöse Wort mal zu gebrauchen, aber durchaus nicht im Sinne einer Förderung, ich müsse doch als Jurist selber einsehen, daß gewisse Ratschläge, die ich da der Unter- und Halbwelt gegeben hätte, gerade weil sie gesetzlich nicht anfechtbar seien, eine verheerende Wirkung zeitigten, die Kenntnis der gesetzlichen Handhaben sei in den Händen gewisser Kreise katastrophal, die Polizei sei geradezu verzweifelt, die Aufsichtskommission schreibe zwar nichts vor, übe keinen Gesinnungsterror, sei überhaupt liberal, na ja, ich wüßte schon, Statuten seien nun einmal Statuten, auch ungeschriebene, und dann fragte mich Leuppinger noch, wie Stoss mal raus mußte, ganz alter Bursche und Haudegen, ob ich ihm nicht eine bestimmte Rufnummer vermitteln könnte, um eine bestimmte Person mit einer tollen Figur (Giselle) näher kennenzulernen, und als er dann mal raus mußte, fragte Stoss, ganz ehemaliger Kranzturner, auch. Zwei Wochen später war ich mein Patent los. So sitze ich denn abgebrannt bald im Alkoholfreien, bald in der >Monaco-Bar<, lebe mehr oder weniger von Luckys und Giselles Gnaden und habe Zeit, enorm Zeit, das Schlimmste, was es für mich gibt, und deshalb: Warum nicht die Steiermannsche Familienchronik niederschreiben, darum sitze ich schließlich in der Zentralbibliothek — nur natürlich, man wurde sehr energisch, als ich mit der Flasche Gin anrückte —, warum nicht gründlich sein, peinlich genau, warum nicht den Hintergrund aufdecken, und überhaupt, was sind die Steiermanns ohne Hintergrund ihrer Familiengeschichte und — geschichten. Der Name trügt, der Ur-Steiermann wanderte zwar wie viele Industrielle einmal vom Norden her in unser Land ein, doch schon um das Jahr 1191, als ein süddeutscher Herzog auf den boshaften Einfall kam, unsere heutige Bundeshauptstadt zu gründen. Der Einfall hatte bekanntlich Erfolg, und die Steiermanns sind Urschweizer. Was nun den Gründer des Geschlechts betrifft, Jakobus Steiermann, so zählte er zu den Galgenvögeln aller Art und Stände, die sich im Raubkaff auf dem Felsen über dem grünen Fluß einnisteten (damals vier tüchtige Tagesmärsche von uns entfernt), ein aus dem Elsaß entwichener Krimineller, der auf diese Weise seinen Kopf vor dem Straßburger Henker in Sicherheit bringen konnte und sich in der neuen Vaterstadt zuerst als Landsknecht betätigte, später jedoch den Beruf eines Waffenschmieds ergriff, ein wilder, verrußter Geselle. Mit der blutigen Geschichte dieser Stadt bleiben denn auch die Steiermanns durch Jahrhunderte zäh verbunden, als Waffenschmiede verfertigten sie die einheimischen Hellebarden, mit denen man in Laupen und St. Jakob drosch, und zwar nach dem Standardmodell des Adrian Steiermann (1212–1255). Auch das verbriefte Privileg, für sämtliche süddeutschen Bistümer Richtbeile und Folterwerkzeuge herzustellen, besaß die Familie. Es ging steil aufwärts, die Schmiede in der Kesslergasse kam zu Klang und Namen. Schon der Sohn Adrians, der glatzköpfige Berthold Steiermann der Erste (der Berthold Schwarz der Sage?) machte sich daran, Feuerwaffen herzustellen. Noch berühmter Bertholds Urenkel, Jakobus der Dritte (1470–1517). Er baute so berühmte Geschütze wie die >Vier Evangelien<, den >Großen Psalter< und den >Gelben Urian<. Mit ihm wurde eine Kanonengießertradition weitergeführt, mit der zwar sein Sohn Berthold der Vierte jäh brach, als Wiedertäufer verfertigte er nur noch Pflüge, doch schon sein Sohn Jakobus der Vierte nahm die Kanonengießerei wieder auf, konstruierte die erste Granate, die ihn und die Kanone beim Abfeuern freilich zerfetzte. Das die eigentliche Urgeschichte. Plastisch, relativ ehrbar, auch politisch erfolgreich, ein Schultheiß, zwei Säckelmeister, ein Landvogt. In den späteren Jahrhunderten entwickelte sich aus der Waffenschmiede allmählich ein modernes Industrieunternehmen. Die Familiengeschichte wird verwickelter, die Motive beginnen sich zu verbergen, die Fäden werden unsichtbar gesponnen, zu den nationalen kommen internationale Gesichtspunkte und Verbindungen. Man verlor an Farbe, gewann jedoch an Organisation, besonders als in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein später Nachkomme des Ur-Steiermanns in den Osten unseres Landes zog. Dieser Heinrich Steiermann (1799–1877) ist denn auch als der Gründer der eigentlichen Maschinen- und Waffenfabrik Trög zu betrachten, die unter seinem ersten Enkel James (1869–1909) und besonders unter seinem zweiten Enkel Gabriel (1871–1949) aufblühte. Nicht mehr als Maschinen- und Waffenfabrik Trög freilich, sondern als Hilfswerkstätte Trög AG, lernte doch 1891 der zweiundzwanzigjährige James Steiermann die damals einundsiebzigjährige englische Krankenpflegerin Florence Nightingale kennen, unter deren Einfluß er die Waffenfabrik in eine >Hilfswerkstätte< für Prothesen umwandelte, nach seinem frühen Tod baute sein Bruder Gabriel weiter aus, stellte jegliche nur denkbare Art von Prothesen her, Hand-, Arm-, Fuß-, Beinprothesen, heute versorgt die Hilfswerkstätte den Weltmarkt auch mit Endoprothesen (künstliche Hüften, Gelenke usw.) und mit extrakorporellen Prothesen (künstliche Nieren, Lungen). Den Weltmarkt: der Ausdruck ist nicht übertrieben. Erzielt durch hartnäckige Leistung, durch Qualität, doch vor allem durch entschlossenes Ausnützen der Lage durch den rücksichtslosen Ankauf aller ausländischen Prothesenhersteller (meist Kleinbetriebe). Diese neue Generation begriff die Möglichkeiten, welche die Neutralität unseres Staates einem Prothesenfabrikanten bietet, als die Freiheit nämlich, gleich alle Parteien zu beliefern, Sieger und Besiegte im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Regierungstruppen, Partisanen und Rebellen heute. Ihre Devise:»Steiermann für die Opfer«, wenn sich auch unter Lüdewitz die Produktion der Hilfswerkstätte heute wieder dem ursprünglichen Charakter nähert, der Begriff Prothese ist dehnbar. Der Mensch sucht sich gegen einen Schlag unwillkürlich mit der Hand zu schützen, ein Schild ist damit eine Prothese der Hand, auch ein Stein, den er wirft, eine Prothese der geballten Hand, der Faust; diese Dialektik einmal begriffen, fällt auch die Waffenproduktion, welche die Hilfswerkstätte wiederaufgenommen hat, durchaus unter den Begriff Prothese: Panzer, Maschinenpistolen und Geschütze können als eine Weiterentwicklung der Handprothese gelten. Man sieht, ein erfolgreiches Geschlecht. Stellten die Steiermänner allesamt einfache, rüde, unkomplizierte Gesellen dar, treue Ehemänner, die schwer schufteten, öfters zu Geiz neigten, mit einer manchmal erfrischenden, souveränen Verachtung des Geistes, die es im Bildersammeln nur bis zu einer schwächeren Fassung der Toteninsel brachten und im Sport ausschließlich den Fußball förderten (auch dies mäßig, was den schwierigen Stand des FC Trög in der ersten Liga beweist), so waren die Frauen von einem anderen Kaliber. Entweder große Huren oder große Betschwestern, doch nie beides miteinander, wobei die Huren stets häßlich waren, starke Jochbögen, lange Nasen und breite zusammengekniffene Münder aufwiesen, die Betschwestern dagegen exquisite Schönheiten darstellten. Was nun Monika Steiermann betrifft, die in der Affäre des Dr.h.c. Isaak Kohler unvermutet eine Haupt-, ja eine Doppelrolle spielen sollte, so zählte sie dem Aussehen nach zu den Betschwestern, nach ihrem Lebenswandel beurteilt zu den großen Huren: Nach dem Tod ihrer Eltern (Gabriel Steiermann heiratete 1920 Stefanie Lüdewitz), die auf dem Fluge nach London abstürzten (genauer: verlorengingen, denn weder Eltern noch Privatflugzeug wurden je wiedergefunden), und nach dem tragischen Ende ihres Bruders Fritz, der an der Côte d'Azur unter- und nicht mehr auftauchte, erbte sie, 1930 geboren, das stattlichste Vermögen unseres Landes, während der Prothesenkonzern von ihrem Onkel mütterlicherseits geleitet wurde. Monikas Lebenswandel freilich war weitaus schwieriger zu leiten. Die wildesten und oft lächerlichsten Gerüchte gingen über dieses Mädchen um, verdichteten sich zu Beinahe-Gewißheiten, lösten sich wieder auf, wurden dementiert — stets von Onkel Lüdewitz — und gerade deshalb aufs neue geglaubt, bis ein neuer, noch großartigerer Skandal alles Vorhergewesene übertraf, worauf das Spiel von neuem begann. Man blickte auf die sittenlose Erbin von Abermillionen zwar mißbilligend, doch mit geheimem Stolz, neidisch — die kann sich alles leisten —, doch dankbar, man kam schließlich auf seine Kosten. Die Steiermann wurde die offizielle» Femme fatale mit Weltniveau «einer Stadt, deren Ruf auf der einen Seite durch krampfhafte Bemühungen von Behörde, Kirche und gemeinnützigen Vereinen verzweifelt hochgehalten wurde, auf der anderen Seite durch ihre Strichjungen wieder in Frage gestellt wurde: Durch diese und durch ihre Banken, nicht durch ihre Dirnen, wurde unsere Stadt ein internationaler Begriff. Man atmete beinahe auf. Der Doppelruf, zugleich prüde und schwul zu sein, wurde durch die Steiermann etwas gegen das alltägliche Laster hin korrigiert. Das Mädchen wurde immer populärer, besonders seit unser Stadtpräsident sie in seine berüchtigten Stegreifreden und Hexameter einzuflechten begann, die er des öfteren anläßlich offizieller Feiern zu vorgerückter Stunde zum besten gibt, sei es etwa bei der Verleihung eines Literaturpreises oder beim Jubiläum irgendeiner Privatbank. Daß ich jedoch fürchtete, Monika Steiermann zum zweiten Mal zu begegnen, hatte einen bestimmten Grund. Ich hatte sie bei Mock kennengelernt. Noch zu meiner Stüssi-Leupin-Zeit. Sein Atelier in der Nähe des Schaffhauserplatzes war im Winter überheizt, der Eisenofen glutrot, die Luft vom Pfeifen-, Zigarren- und Zigarettenrauch reines Giftgas, dazu alles unvorstellbar schmutzig, um ewig unvollendete Torsen ewig nasse Tücher, dazwischen haufenweise Bücher, Zeitungen, ungeöffnete Briefe, Wein, Whisky, Skizzen, Fotos, Bündnerfleisch. Ich war gekommen, um die Statue zu sehen, die Mock von der Steiermann gemacht hatte, neugierig, weil er mir erzählt hatte, er würde die Statue bemalen. Die Plastik stand mitten in der gewaltigen Unordnung des Ateliers, erschreckend naturalistisch, aber wahrhaftig und lebensgroß. In Gips, fleischfarben angemalt, wie Mock erklärte. Splitternackt und in eindeutig zweideutiger Pose. Ich betrachtete die Statue lange, verwundert — daß Mock das auch konnte. Er war sonst ein Meister im Andeuten: Mit wenigen Schlägen hieb er aus seinen oft zentnerschweren Steinen heraus, was er wollte, arbeitete er im Freien. Ein Auge entstand, ein Mund, eine Brust vielleicht, eine Vagina, den Rest brauchte er nicht zu behauen, aus Andeutungen schuf die Phantasie des Betrachters bald den Kopf eines Zyklopen, bald ein Getier, bald ein Weib. Auch wenn er modellierte, begnügte er sich mit dem Notwendigsten. Man muß modellieren, wie man skizziert, pflegte er zu sagen. Um so staunenswerter, wie er jetzt vorgegangen war. Der Gips schien zu atmen, vor allem weil er meisterhaft bemalt war. Ich trat zurück und dann wieder nahe heran, für die Haupt- und Schamhaare mußte er Menschenhaar genommen haben, um die Täuschung vollkommener zu machen: die Statue wirkte jedoch nicht puppenhaft. Sie strahlte eine bewundernswerte Plastik aus. Plötzlich bewegte sie sich. Sie stieg vom Sockel, würdigte mich keines Blickes, ging in den Hintergrund des Ateliers, suchte, fand eine halbvolle Flasche Whisky und trank. Sie war nicht aus Gips. Mock hatte gelogen. Es war die echte Monika Steiermann.

«Sie sind der vierte, der drauf reingefallen ist«, sagte Mock,»und das dümmste Gesicht haben Sie gemacht. Und von Kunst verstehen Sie auch nichts.»

Ich ging. Die Statue aus bemaltem Gips, die in der anderen Ecke des Ateliers stand, wurde anderntags abgeholt. Von einem Bevollmächtigten des Freiherrn von Lüdewitz, von ihrem Onkel, der die Hilfswerkstätte Trög AG leitete.


Monika Steiermann 1: Je weiter mein Bericht fortschreitet, desto schwieriger wird er zu erzählen. Nicht nur der Bericht verwirrt sich, auch meine Rolle wird zweideutig, ich vermag nicht mehr anzugeben, ob ich handelte oder ob durch mich gehandelt, ja ob mit mir gehandelt wurde. Vor allem bezweifle ich immer mehr, ob es Zufall war, wie Lienhard Monika Steiermann ins Spiel brachte. Mit dem Möbelhändler hatte ich kein Glück, er hatte nun einmal die in der Gagerneck hergestellten Renaissanceschränke durch die Zeugnisse eines von ihm erfundenen römischen Experten für echt erklärt und mit dessen Unterschrift versehen, was ich, aber nicht Jämmerlin übersah. Aber die Reise nach Caracas stand bevor, doch mitten in den Vorbereitungen meldete Ilse Freude Fanter an, einen weiteren Mann Lienhards. Zu meiner Verwunderung kam der dicke, Brissago rauchende Fanter in der Uniform der Stadtpolizei, bei welcher er zwei Jahrzehnte gedient hatte.

«Sie sind verrückt, Fanter, so zu erscheinen«, sagte ich.

«Es wird nützlich sein, Herr Spät«, seufzte er,»es wird nützlich sein. Monika Steiermann hat angerufen. Sie braucht einen Rechtsanwalt.»

«Warum?«fragte ich.

«Sie werde verprügelt.»

«Von wem?»

«Vom Dr. Benno«, antwortete Fanter.

«Weswegen?»

«Sie habe ihn mit einer anderen im Bett erwischt.»

«Dann sollte sie ihn doch verprügeln. Komisch. Nicht? Und warum soll gerade ich mich um die Steiermann kümmern?»

«Lienhard ist nicht Rechtsanwalt«, antwortete Fanter.

«Wo ist sie denn?»

«Halt bei Dr. Benno.»

«Mensch, Fanter, nicht so umständlich, wo ist Benno?»

«Sie fragen mich umständlich«, meinte Fanter.»Benno verprügelt die Steiermann im >Breitingerhof<. Der Prinz von Cuxhafen ist auch dort.»

«Der Rennfahrer?»

«Der.»

Ich rief den >Breitingerhof< an und verlangte Dr. Benno. Direktor Pedroli meldete sich am Apparat. Wer anrufe.

«Spät, Rechtsanwalt.»

«Er verprügelt die Steiermann wieder«, lachte Pedroli.»Gehn Sie ans Fenster, dann hören Sie's.»

«Ich bin am Zeltweg.»

«Macht nichts. Es hallt über die ganze Stadt«, meinte Pedroli.»Die Gäste verlassen fluchtartig mein Fünfsternhotel.»

Ich hatte meinen Porsche in der Sprecherstraße parkiert. Fanter setzte sich neben mich, und wir fuhren los.

«Durch die Hegibachstraße«, sagte Fanter.

«Ein Umweg«, gab ich zu bedenken.

«Egal. Die Steiermann hält was aus.»

In der Nähe der Klusstraße bei einer Stopp-Markierung stieg Fanter aus.

«Fahren Sie hier wieder vorbei«, sagte er.

Ende Oktober. Die Bäume rot und gelb. Auf den Straßen Laub. Vor dem Breitingerhof wartete schon die Steiermann, als ich vorgefahren kam, trug nichts als ein schwarzes Herrenpyjama am Leib, dem der linke Ärmel fehlte. Groß. Rothaarig. Zynisch. Schön. Fror. Ihr linkes Auge war blau zugeschwollen. Der Mund aufgeschlagen. Der nackte Arm zerkratzt. Sie winkte mir zu, spuckte in weitem Bogen Blut. Im Hotelportal wütete Benno, auch er zerschlagen und verkratzt, von zwei Gepäckträgern festgehalten, die Hotelfenster voller Menschen. Um die Steiermann Zuschauer, neugierig, grinsend, ein Polizist regelte den Verkehr. In einem weißen Sportwagen saß düster ein junger blonder Mann, offenbar Cuxhafen, ein Jung-Siegfried, sichtlich startbereit. Aus dem Hotel kam Direktor Pedroli, klein und agil, und legte der Steiermann einen Pelzmantel um die Schultern, sicher einen kostbaren, ich kenne mich in Pelzmänteln nicht aus.»Sie frieren, Monika, Sie frieren.»

«Ich hasse Pelzmäntel, du Scheißkerl«, sagte sie und warf ihm den Pelzmantel über den Kopf.

Ich hielt neben ihr.»Lienhard schickt mich«, sagte ich.»Spät, Rechtsanwalt Spät.»

Sie stieg mühsam in den Porsche.

«Total verprügelt«, stellte ich fest.

Sie nickte. Dann schaute sie mich an. Ich wollte eigentlich starten, aber ihr Blick machte mich unsicher.

«Haben wir uns nicht schon irgendwo gesehen?«fragte sie und hatte Mühe mit Sprechen.

«Nein«, log ich und startete.

«Cuxhafen folgt uns«, sagte sie.

«Wenn schon.»

«Er ist Rennfahrer.»

«Formel 1.»

«Den hängen wir nicht ab.»

«Und wie! Wohin?»

«Zu Lienhard«, sagte sie,»in seine Wohnung.»

«Weiß Cuxhafen, wo Lienhard wohnt?«fragte ich.

«Er weiß nicht einmal, daß es Lienhard gibt.»

Bei der Stopp-Markierung an der Hegibachstraße hielt ich pflichtgemäß. Auf dem Trottoir stand Fanter in seiner Polizeiuniform, trat zum Porsche, verlangte meine Papiere. Ich gab sie ihm, er überprüfte sie, nickte höflich. Dann wandte er sich Cuxhafen zu, der hinter mir hatte anhalten müssen, um nun dessen Papiere sorgfältig zu prüfen. Dann ging er um dessen Wagen herum, langsam, umständlich, immer wieder die Papiere überprüfend. Cuxhafen fluchte, wie ich im Rückspiegel bemerkte. Ich sah noch, wie er aussteigen mußte, wie Fanter ein Notizbuch hervorkramte, dann fuhr ich durch die Klusstraße gegen den See, durch den Höhenweg in die Biberlinstraße und zum Adlisberg, machte zur Sicherheit noch einige Umwege, raste dann durch die Katzenschwanzstraße zu Lienhards Bungalow.

Ich parkte vor der Gartentüre. Das Chalet nebenan mußte Jämmerlin gehören. Ich hatte gelesen, er würde heute sechzig, daher die vielen Wagen an der sonst wohl einsamen Straße. Er gab ein Gartenfest. Eben fuhr Stüssi-Leupin vor. Die Steiermann hinkte mir in ihrem schwarzen Pyjama die steile Treppe hinauf fluchend nach. Stüssi-Leupin hatte seinen Wagen verlassen und schaute zu uns herüber, offensichtlich belustigt. Jämmerlins Gesicht tauchte mißbilligend über der Hecke auf.

«Hier«, sagte die Steiermann und gab mir einen Schlüssel. Ich öffnete die Haustür, ließ die Steiermann eintreten. Durch die Haustür gelangte man unvermittelt in eine Wohnhalle. Ein moderner Raum mit alten Möbeln. Durch die offene Tür sah man in ein Schlafzimmer mit einem komfortablen Bett. Sie setzte sich auf einen Diwan, schaute auf einen Picasso über einer alten Truhe.»Der hat mich gemalt.»

«Ich weiß«, sagte ich.

Sie betrachtete mich amüsiert.»Und jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne«, sagte sie.»Von Mock. Ich spielte Ihnen eine Statue vor.»

«Möglich«, antwortete ich.

«Sie sind damals mächtig erschrocken«, erinnerte sie sich, und dann fragte sie:»Habe ich Ihnen damals denn gar nicht gefallen, daß Sie mich vergessen haben?»

«Doch, doch«, gab ich zu,»Sie haben mir schon gefallen.»

«Also haben Sie mich doch nicht vergessen«, meinte sie.

«Nicht ganz«, gab ich zu.

Sie lachte.»Na dann, weil Sie sich erinnern. «Sie stand auf und zog sich das Pyjama aus, stand splitternackt da, frech und erregend, gleichgültig, daß überdeutlich zu sehen war, wie unmäßig sie von Benno vermöbelt worden war. Sie trat an das große Fenster, von dem aus man zu Jämmerlin hinüber sah. Dort hatten sich die Gäste versammelt, starrten herüber, Jämmerlin mit einem Fernglas, neben ihm Stüssi-Leupin, der winkte. Monika nahm die Pose der Statue an, die Mock von ihr gemacht hatte, Stüssi-Leupin klatschte in die Hände, Jämmerlin drohte mit der Faust.

«Vielen Dank, daß Sie mich befreit haben«, sagte die Steiermann immer noch in der Pose, in der sie ihre Betrachter betrachteten, mir den Rücken zukehrend.

«Zufall«, antwortete ich.»Im Auftrag Lienhards.»

«Ich werde immer verprügelt«, sagte sie nachdenklich.»Zuerst von Benno und später von Cuxhafen. Und die anderen haben mich auch immer verprügelt. «Sie wandte sich wieder mir zu.

«Das versöhnt einen wieder mit Ihnen«, sagte ich.»Jetzt schwillt auch Ihr rechtes Auge zu.»

«Na und?»

«Soll ich ein nasses Tuch aufstöbern?«fragte ich.

«Quatsch«, sagte sie,»aber im Schrank finden Sie Cognac und Gläser.»

Ich öffnete einen alten Engadiner Schrank und fand, was sie verlangte, schenkte ein.

«Sie waren wohl oft hier?«fragte ich.

«Manchmal. Ich bin wohl wirklich eine Nutte«, stellte sie etwas bitter und etwas verblüfft, doch großzügig fest.

Ich lachte.»Die werden besser behandelt.»

Sie leerte das Glas Cognac und sagte dann:»Jetzt nehm ich ein heißes Bad.»

Sie hinkte ins Schlafzimmer. Verschwand. Ich hörte Wasser einlaufen, Fluchen. Dann kam sie zurück, verlangte noch einen Cognac.

Ich schenkte ein.»Wird es Ihnen nicht schaden, Monika?»

«Unsinn«, antwortete sie,»ich bin ein Roß. «Dann hinkte sie wieder zurück.

Als ich das Badezimmer betrat, lag sie in der Wanne und seifte sich ein.»Brennt verteufelt«, sagte sie.

Ich setzte mich auf den Wannenrand. Ihr Gesicht verfinsterte sich.

«Wissen Sie, was ich jetzt mache?«fragte sie, und als ich nicht antwortete,»Schluß, ich mache Schluß.»

Ich reagierte nicht.

«Ich bin nicht Monika Steiermann«, erklärte sie gleichgültig. Ich starrte sie verwundert an.

«Ich bin nicht Monika Steiermann«, wiederholte sie, und dann ruhig:»Ich führe nur das Leben der Monika Steiermann. Mein Vater war Professor Winter.»

Schweigen. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte.

«Ihre Mutter?«fragte ich und wußte gleichzeitig, daß es eine blödsinnige Frage war. Was ging mich ihre Mutter an.

Es war ihr gleichgültig.»Lehrerin«, antwortete sie,»im Emmental. Winter hat sie sitzenlassen. Er hat immer Lehrerinnen sitzenlassen.»

Sie konstatierte es ohne Groll.

«Ich heiße Daphne. Daphne Müller«, dann lachte sie:»So darf man eigentlich gar nicht heißen.»

«Wenn Sie nicht Monika Steiermann sind, wer ist dann Monika Steiermann?«fragte ich verwirrt.»Gibt es die überhaupt?»

«Fragen Sie Lüdewitz«, antwortete sie.

Dann wurde sie stutzig.»Ein Verhör?«fragte sie.

«Sie haben einen Rechtsanwalt verlangt. Ich bin Rechtsanwalt.»

«Ich sag's Ihnen schon, wenn ich Sie brauche«, antwortete sie plötzlich nachdenklich, fast feindselig geworden.

Lienhard erschien. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Er war einfach auf einmal da. Er stopfte sich eine seiner Dunhill.»Zufrieden, Spät?«fragte er.

«Ich weiß nicht«, antwortete ich.

«Zufrieden, Daphne?«fragte er.

«Mittelmäßig«, antwortete sie.

«Ich hab dir einige Kleider mitgebracht«, sagte er.

«Hab ja Bennos Pyjama«, meinte sie.

Draußen das Heranheulen eines Krankenwagens.

«Jämmerlin wird wieder einen Herzanfall bekommen haben«, sagte Lienhard trocken.»Ich habe ihm sechzig Rosen überreicht.»

«Und mich hat er nackt gesehen«, lachte sie.

«Das bist du ja öfters«, meinte er.

«Woher wußten Sie eigentlich, wer Daphne ist, Lienhard?«fragte ich.

«Man kommt eben darauf. Gelegentlich«, antwortete er und steckte seine Dunhill in Brand.»Wohin darf ich dich bringen, Fräulein Müller?»

«Nach Ascona.»

«Ich fahr dich hin.»

«Geschäftstüchtig«, meinte sie anerkennend.

«Kommt auf die Spesen«, sagte Lienhard.»Die zahlt er. «Damit wies er auf mich.»Er hat einige unbezahlbare Informationen bekommen.»

«Ich habe auch noch einen Auftrag für ihn«, sagte Daphne.

«Nun?«fragte Lienhard.

Ihr nicht ganz zugeschwollenes rechtes Auge glitzerte, und mit ihrer linken Hand fuhr sie durch ihr zinnoberrotes Haar.

«Er soll der echten Monika Steiermann, dieser lesbischen Ziege, ausrichten, ich wolle sie nicht mehr sehen. Hat sie's von einem Rechtsanwalt, ist's offiziell.»

Lienhard lachte.»Mädchen, das gibt einen Skandal, den du dir nicht vorstellen kannst.»

«Mir egal«, sagte sie.

Lienhards Dunhill wollte im Dampf des Badezimmers nicht recht brennen. Er zündete sie noch einmal an.

«Spät«, meinte er,»mischen Sie sich da nicht rein. Das ist ein Rat.»

«Sie haben mich hineingemischt«, antwortete ich.

«Auch wieder wahr«, sagte Lienhard und lachte, und dann sagte er zu Daphne:»Steig raus.»

«Sie sind ja auf einmal ein Redner geworden«, meinte ich zu Lienhard und ging.

Später, im Zeltweg, rief ich Lüdewitz an. Der tobte. Ich wußte zuviel. Er wurde kleinlaut. Und so kam mein Besuch bei der wirklichen Monika Steiermann zustande.


Zweite Rede an den Staatsanwalt: Je mehr ich schreibe, desto unwahrscheinlicher fällt mein Bericht aus. Ich bastle schriftstellerisch gewaltig, bemühe mich sogar im Dichterischen, berichte von der Wetterlage, versuche geographisch exakt zu sein, schaue im Stadtplan nach, all das nur, weil Sie, Herr Staatsanwalt Joachim Feuser (verzeihen Sie, daß der Tote in der Leichenhalle wieder an Sie persönlich das Wort richtet), das Literarische, ja Poetische schätzen und sich überhaupt als einen musischen Menschen betrachten, wie Sie bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten — sogar vor dem Geschworenengericht — zu erwähnen lieben und daher, ohne meine literarischen Zutaten, mein Manuskript womöglich in die Ecke feuern könnten. Aber mein Bericht bleibt Klischee. Trotz Dichtung. Tut mir leid. Ich komme mir wie der Verfasser eines Kolportageromans vor: ich als Gerechtigkeitsfanatiker, Lienhard als Limmat-Sherlock-Holmes, und Daphne Müller als Messalina der Goldküste, wie unser rechtes Seeufer genannt wird. Die Statue mit den straffen Brüsten und der unanständigen Haltung, die ich bei Mock übersehen hatte, während ich die lebendige Daphne als Statue bewunderte, dieses sinnliche Weibsbild aus bemaltem Gips ist mir (von der echten ganz zu schweigen) nachträglich lebendiger in Erinnerung als das Mädchen, das nun in meinem Bericht vorkommt. Natürlich ist es an sich gleichgültig, ob sie und falls, wie oft sie mit Lienhard schlief — mit wem schlief sie nicht? — , aber die inneren Beweggründe und Vorgänge sind nun einmal für meinen Bericht wesentlich, wie etwas geschieht in dieser verschlungenen Welt und warum. Stimmt das äußere Geschehen, lassen sich die inneren Motive wenn nicht mit Sicherheit erraten, so doch ahnen, stimmen die äußeren Fakten nicht, fand ein Beischlaf statt, den man nicht aufzeichnete, oder vermeldete man einen, der nicht stattfand, schwebt man im Leeren, im Vagen. So auch hier. Wie kam Lienhard hinter das Geheimnis der» falschen «Monika Steiermann? Weil er mit ihr schlief? Dann hätten es viele gewußt. Liebte sie ihn? Dann hätte sie es ihm nicht gesagt. Hatte sie Angst? Möglich. Und was Benno betrifft, wollte Lienhard ihn von Anfang an verdächtigen? War Daphne der Grund? Ich stelle diese Fragen, weil man mir die Schuld an Daphnes Tod zuschiebt. Ich hätte nicht die echte Monika Steiermann aufsuchen sollen. Aber Daphne hat mich darum gebeten. Ich hatte einer Möglichkeit nachzugehen. Diesen Auftrag hatte ich angenommen und auch den Vorschuß von fünfzehntausend Franken, auch wenn ich an die Unmöglichkeit dieser Möglichkeit glaubte und jetzt noch glaube: Denn daß Dr.h.c. Isaak Kohler der Mörder Winters ist, daran ist nicht zu zweifeln. Daß es auch ein anderer hätte sein können, ist nur eine Möglichkeit, die nichts besagt, daß auf der Suche nach dieser Möglichkeit übersehene Fakten ans Licht kommen, liegt am Wesen der Fiktion, Kohler sei nicht der Mörder, die ich für diese Suche machen mußte. Im übrigen habe ich die Wahrheit zu schreiben, bei der Wahrheit zu bleiben, doch eben: Was ist die Wahrheit hinter der Wahrheit? Ich stehe vor Vermutungen, tappe herum. Was stimmt? Was ist übertrieben? Was verfälscht? Was wird verschwiegen? Was soll ich bezweifeln? Was glauben? Ist überhaupt etwas Wahres, Sicheres, Gewisses hinter diesen Vorgängen, hinter diesen Kohlers, Steiermanns, Stüssi-Leupins, Lienhards, Hélènes, Bennos usw., die mir da über den Weg gelaufen sind, etwas Wahres, Sicheres, Gewisses, Wirkliches hinter unserer Stadt, hinter unserem Land? Ist nicht alles rettungslos abgekapselt, hoffnungslos ausgeschlossen von den Gesetzen und Motiven, die die übrige Welt in Schwung und Atem halten, ist nicht alles hinterwäldlerisch, mitteleuropäisch, provinzlerisch eben, unwirklich, was hier lebt, liebt, frißt, schiebt, geschäftelt und tüftelt, sich weiterzeugt und weiterorganisiert? Was stellen wir noch dar? Was repräsentieren wir noch? Steckt noch ein Körnchen Sinn, ein Gran Bedeutung in der Bagage, die ich beschreibe? Aber vielleicht lauert die Antwort auf diese Frage hinter allem und jedem, vielleicht bricht sie unvermutet aus jeder denkbaren menschlichen Situation und Konstellation hervor, überfallartig, wie aus einem Versteck. Die Antwort wird das Urteil über uns sein, der Vollzug dieses Urteils die Wahrheit. Ich will es glauben. Leidenschaftlich und beharrlich. Nicht der exquisiten Gesellschaft zuliebe, in der ich vegetiere, nicht dieser unerträglichen Relikte wegen, die mich umgeben, sondern um der Gerechtigkeit willen, der zuliebe ich handle, handeln muß, will ich mir den letzten Rest Menschlichkeit bewahren (pathetisch, feierlich, erhaben, heiliger Ernst mit Orgelbegleitung, was ich da niederschreibe, aber ich streiche es nicht durch, korrigiere es nicht, wozu auch Korrekturen, wozu auch Stil, nicht literarische Ambitionen leiten mich, sondern mörderische Absichten, im übrigen: nicht betrunken, Herr Staatsanwalt, Irrtum, nicht betrunken, nur nüchtern, eisig nüchtern, tödlich nüchtern). Es bleibt mir darum nichts anderes übrig (Auf Ihr Wohl, Herr Staatsanwalt!), als zu saufen, zu huren, zu berichten, meine Bedenken anzumelden, meine Fragezeichen zu setzen und zu warten, zu warten, bis sich die Wahrheit enthüllt, bis sich die grausame Göttin entschleiert (doch literarisch geworden, zum Kotzen). Das wird nicht in diesen Papieren geschehen, die Wahrheit ist keine Formel, die sich aufzeichnen läßt, sie liegt außerhalb jeder sprachlichen Bemühung, außerhalb jeder Dichterei, nur im Hereinbrechen des Gerichts, in diesem ewigen Selbstvollzug der Gerechtigkeit wird sie wirksam, ist sie zu ahnen. Wahrheit wird sein, wenn ich einmal vor Dr.h.c. Kohler stehen werde, Auge in Auge, wenn ich die Gerechtigkeit verwirklichen und das Urteil vollziehen werde. Dann wird einen Augenblick, einen Herzschlag, eine blitzschnelle Ewigkeit, die peitschende Sekunde eines Schusses lang die Wahrheit aufleuchten, die Wahrheit, die sich mir jetzt beim Nachdenken verflüchtigt, die kaum mehr zu sein scheint als ein bizarres böses Märchen. Als ein solches kommt mir auch mein Besuch bei der» echten «Steiermann vor: mehr Traum als Wirklichkeit, mehr Sage als Tatsache.


Monika Steiermann 2: >Mon Repos< ist am Rande unserer Stadt in einem riesigen und so verwilderten Park gelegen, daß die Villa seit langem beinahe unsichtbar geworden ist, nur im Winter sind bisweilen mühsam und unbestimmt einige Gemäuer und ein Giebel durch das wirre Geäst alter Bäume gegen den Wagnerbühl hin zu erraten. An Empfänge in >Mon Repos< vermögen sich nur noch wenige zu erinnern. Vater und Großvater der» echten «Monika gaben ihre Feste und Jubiläen schon auf ihren Landsitzen am Zuger- und Genfersee, hielten sich in unserer Stadt nur auf, um zu arbeiten (sie stellten noch Schwerarbeiter der Industrie dar), feiern taten sie auswärts, während die Damen, besuchten sie unsere Stadt, im >Dolder<, im >Baur au Lac< oder eben im >Breitingerhof< logierten. >Mon Repos< wurde nach und nach eine Sage, besonders nachdem eines Morgens drei Einbrecher, die aus Deutschland eingereist waren, jämmerlich zusammengeschlagen vor dem Parkportal der Steiermannschen Villa lagen; die Polizei gab dazu keinen Kommentar. Lüdewitz hatte sich eingeschaltet. Außer Daphne, die man für Monika Steiermann hielt, schien sich niemand in dem Haus aufzuhalten, die Lieferanten hatten ihre Ware in eine leere Garage neben dem Parkportal zu stellen, doch war die Menge der Lebensmittel beträchtlich. Daphne selber lud niemanden in die Villa ein, sie besaß noch ein Appartement in der Aurorastraße. Ich hatte schon zwei Treupel zu mir genommen, als ich zum Wagnerstutzweg fuhr. Der Wetterumsturz war wieder einmal umgestürzt, der See schien ein Rinnsal, so nah war das andere Ufer. Vier Uhr nachmittags. Vor dem Parkportal hielt ich an, den Wagen halb auf dem Trottoir geparkt. Das Portal war unverschlossen. Ich ging in den Park hinein, unsicher, die Treupel wirkten noch. Der Kiesweg führte aufwärts, hin und wieder einzelne hölzerne Stufen, aber er war durchaus nicht steil, wie ich erwartet hatte, bedeutet doch Stutz eine jähe Steigung. Der Park war ungepflegt, die Wege nicht gejätet, die Springbrunnen vermoost, dazwischen urwäldliche Partien, alles besetzt mit Unmengen von Gartenzwergen. Sie standen nicht einzeln herum, sondern in Gruppen, in Völkern, sinnlos, mit weißen Barten, rosig, lächelnd, idiotisch, saßen sogar in den Bäumen, wie Vögel auf den Ästen befestigt, dann wieder gab es größere Gartenzwerge, grimmigere, ja bösartigere, auch weibliche, die größer als die männlichen waren, unheimliche Zwergweiber mit großen Köpfen. Ich fühlte mich von ihnen verfolgt, eingekreist, lief immer schneller, bis ich nach einer jähen Kurve um eine mächtige alte Esche herum unvermittelt aufgefangen wurde: Es war, als würde ich gegen Eisen geschmettert, ohne daß ich recht erkennen konnte, wer mich da auf sich aufprallen ließ und mich umdrehte, offenbar ein Leibwächter, worauf ich den restlichen Weg zur Villa mehr getragen als geführt wurde. In der Haustüre stand ein zweiter Leibwächter, so massig, daß er die Türe auszufüllen schien, nahm mich in Empfang und schob mich ins Innere der Villa, zuerst durch eine Vorhalle, dann durch eine Halle mit einem prasselnden Kamin, ein ganzer Baumstamm schien darin zu brennen, und endlich in einen Salon oder, wenn man will, mehr in ein Kabinett. Man ließ mich in einen Ledersessel fallen. Benommen schaute ich auf. Die Arme und der Rücken schmerzten. Die beiden Leibwächter saßen mir gegenüber in klobigen Ledersesseln. Sie waren kahlköpfig. Ihre Gesichter waren wie aus Ton. Schlitzäugig, Backenknochen wie Fäuste. Sie waren sorgfältig gekleidet, dunkelblaue Anzüge aus reiner Seide, als wäre Hochsommer, seidene weiße Krawatten, doch Schuhe, wie Gewichtheber sie tragen. Sie wirkten wie Kolosse, ohne eigentlich sonderlich groß gewachsen zu sein. Ich nickte ihnen zu. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos. Ich sah mich um. An den getäfelten Wänden hingen und klebten Fotos, derart zahlreich, daß das dunkelbraune Getäfel fast wie mit einer Fototapete überdeckt war; und mit jener merkwürdigen Art von Schrecken, die jede Entdeckung begleitet, begriff ich, daß es sich um immer die gleiche Person handelte, die hier abgebildet war: Dr. Benno, und dann erst erkannte ich an der Wand gegenüber den vergitterten Fenstern in einer Nische die unanständige Meisterplastik Mocks, die nackte» falsche «Steiermann, Daphne, nur jetzt in Bronze, ihre Brüste wie Gewichte mit den Händen stemmend, und wie ich sie wahrgenommen hatte, öffnete sich die gegenüberliegende Doppeltür, und ein dritter kahlköpfiger Leibwächter, noch mächtiger, noch seidiger als die beiden in den Ledersesseln, trug ein verrunzeltes und verkrümmtes Wesen von der Größe eines vierjährigen Kindes herein. Es trug ein groteskes, tief ausgeschnittenes schwarzes Kleid, auf dem ein Saphir funkelte, über dem winzigen, zerkrüppelten Leib.

«Ich bin Monika Steiermann«, sagte das Wesen.

Ich erhob mich.»Spät, Rechtsanwalt.»

«So, so, ein Rechtsanwalt«, meinte das winzige Wesen mit dem mächtigen Kopf. Das Unheimliche war die Stimme. Es war, als ob aus dieser Ungestalt ein anderer Mensch spräche. Es war die Stimme einer Frau:»Was wollen Sie von mir?»

Der Leibwächter, das Wesen auf seinen Armen, blieb unbeweglich.

«Monika…»

«Frau Steiermann«, korrigierte mich das Wesen, und dann zupfte es an seinem Kleid:»Dior. Chic, nicht?«In seiner Stimme lag ein ruhiger, überlegener Spott.

«Frau Steiermann, Daphne will nicht mehr zu Ihnen zurückkehren.»

«Das sollen Sie mir ausrichten?«fragte das Wesen.

«Das soll ich Ihnen ausrichten«, antwortete ich.

Es war nicht zu erraten, wie das Wesen die Botschaft aufnahm.

«Whisky?«fragte es.

«Gern.»

Ohne daß das Wesen ein Zeichen gegeben hätte, öffnete sich die Doppeltür hinter mir, und ein vierter kahlköpfiger Leibwächter brachte Scotch und Eis.

«Pur?«fragte es.

«Mit Eis.»

Der vierte Leibwächter bediente, blieb. Auch die beiden ersten hatten sich erhoben.

«Wie gefallen Ihnen meine Diener, Rechtsanwalt?«fragte das Wesen, und jener, der es trug, führte ihm den Scotch zum Mund.

«Imponierend«, sagte ich.»Ich habe sie für Ihre Leibwächter gehalten.»

«Imponierend, aber blöd«, antwortete es.»Usbeken. Die Russen haben sie irgendwo in Innerasien aufgegabelt und in die Rote Armee gesteckt, dann sind sie in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, und weil die Nazi-Anthropologen nicht imstande gewesen sind, sich zu einigen, zu welcher Rasse sie gehören, sind sie am Leben geblieben. Mein Vater hat sie in einem Institut für Rassenforschung aufgekauft. Solche Biester sind damals billig zu haben gewesen. Als unbrauchbarer Restposten der Menschheit. Für mich sind sie Usbeken, weil mir das Wort gefällt. Haben Sie die Gartenzwerge gesehen, Rechtsanwalt?»

Der Schweiß lief mir über das Gesicht. Der Raum war überheizt.

«Eine ganze Armee, Frau Steiermann.»

«Ich stelle mich manchmal unter die Weiblein«, lachte das Wesen,»und kein Mensch bemerkt mich, auch wenn ich mich bewege. Cheerio.»

Der Usbeke, der es trug, hielt ihm wieder den Scotch an die Lippen. Es trank.

«Auf Ihr Wohl, Frau Steiermann«, sagte ich und trank ebenfalls.

«Setzen Sie sich, Rechtsanwalt Spät«, befahl es. Ich setzte mich in den Ledersessel. Der Usbeke blieb vor mir unbeweglich stehen, das Wesen auf dem Arm.

«Daphne will nicht mehr zu mir zurück«, sagte es,»ich hatte gewußt, daß sie einmal nicht mehr zurückkommt«, und in seinen großen Augen im kleinen faltigen Gesicht unter dem mächtigen, fast haarlosen Schädel waren Tränen.

Bevor ich etwas zu sagen vermochte, setzte der Usbeke das Wesen auf meinen Schoß, drückte mir dessen Scotch in die freie Hand und warf sich mit den drei anderen zum Fenster hin auf die Knie, sie berührten mit ihrer Stirn den Boden, und ihre gewaltigen Hintern schnellten hoch. Das Wesen krallte sich an mich. Ich war etwas unbeholfen mit den zwei Gläsern.

«Da beten sie wieder. Fünfmal im Tag. Setzen mich dabei meistens auf einen Schrank«, sagte es.

Dann befahl das Wesen:»Trinken.»

Ich hielt ihm das Glas an die Lippen.

«Ist der Olympia-Heinz nicht wunderschön?«fragte es unvermittelt und trank erst dann den Scotch aus, ohne innezuhalten.

«Sicher«, antwortete ich und stellte das leere Glas neben meinem Ledersessel auf den Teppich. Das Wesen fiel mir dabei fast vom Schoß.

«Unsinn«, sagte es mit seiner dunklen Stimme, die voller Selbstverachtung war.»Benno ist ein verkommener, kitschiger Geck, in den ich mich verliebt habe. Ich verliebe mich immer in kitschige Männer, weil Daphne sich immer in kitschige Männer verliebt.»

Das Wesen, das ich in den Armen hielt, fühlte sich wie ein winziges Gerippe an.

«Ich habe Daphne meinen Namen gegeben, damit sie das Leben führt, das ich hätte führen wollen, und sie hat es geführt«, stellte es fest.»Ich hätte auch mit jedem geschlafen. Haben Sie auch mit ihr geschlafen?«fragte das Wesen auf einmal trocken.

«Nein, Frau Steiermann.»

«Schluß mit Beten!«kommandierte es.

Die Usbeken erhoben sich. Jener, der das Wesen hereingetragen hatte, nahm es wieder auf die Arme. Ich hatte mich unwillkürlich ebenfalls erhoben, immer noch das Glas Whisky mit Eis in der Hand. Ich hatte meinen Auftrag ausgeführt und wollte mich verabschieden.

«Setzen Sie sich wieder, Rechtsanwalt«, befahl es. Ich gehorchte. Von den Armen des Usbeken sah es auf mich nieder. Seine Augen hatten nun etwas Drohendes. Verbannt in einen kleinen, zerkrüppelten Leib, konnte es sich nur durch seine Augen und durch die Stimme ausdrücken.

«Ein Messer«, sagte es.

Einer der Usbeken klappte ein Messer auf, reichte es ihm.

«Zu Bennos Fotos«, sagte das Wesen.

Der Usbeke trug es zu den Fotos an den Wänden, und es zerschnitt ruhig, als operiere es, Dr. Benno wie er lächelte, zerschnitt Dr. Benno wie er aß, wie er saß, zerschnitt Dr. Benno wie er nachdachte, wie er schlief, wie er strahlte, wie er trank, zerschnitt Dr. Benno im Frack, zerschnitt Dr. Benno im Smoking, im Maßanzug, im Reitkostüm, zerschnitt Dr. Benno beim Pistolenschießen, als Seeräuber auf einem Maskenball, in der Badehose, ohne Badehose, zerschnitt Dr. Benno im Fechttenue am Olympia-Turnier, zerschnitt Dr. Benno im Tennisanzug, Dr. Benno im Schlafanzug, Dr. Benno auf der Jagd, wir machten Platz, ich war von den Usbeken umstellt, jener, der das kleine Wesen trug, umkreiste uns in der höllischen Hitze dieses Kabinetts, dessen Boden sich mit den Fetzen der zerschnittenen Fotos zu bedecken begann. Als alle Fotos zerschnitten waren, nahmen wir unsere Plätze ein, als ob nichts geschehen wäre. Das Wesen wurde mir wieder auf den Schoß gesetzt. Ich saß da wie ein Vater mit einer Mißgeburt.

«Das hat mir gutgetan«, sagte es ruhig.»Jetzt lasse ich Daphne fallen. Ich sorge dafür, daß sie wird, was sie einmal gewesen ist.»

Es blickte zu mir auf. Das faltige Gesicht wirkte so uralt, als sei das Wesen geboren worden, bevor es Menschen gab.

«Lassen Sie den alten Kohler grüßen«, sagte es.»Er hat mich oft besucht. Wenn ich zornig geworden bin, weil er seinen Willen durchsetzen wollte, bin ich in der Bibliothek herumgeklettert und habe ihn mit Büchern beworfen. Aber er hat immer seinen Willen durchgesetzt. Noch jetzt leitet er meine Geschäfte. Vom Zuchthaus aus. Daß wir statt in die Optik und in die Elektronik in die Produktion von Panzerwaffen und Flugabwehrkanonen, Mörsern und Haubitzen einsteigen, ist Kohlers Verdienst. Denken Sie, Lüdewitz ist dazu fähig, oder gar ich? Sehen Sie mich an.»

Das Wesen schwieg.

«Ich habe nichts im Kopf als Vögeln«, sagte es dann, und der Hohn und die Verachtung, die dieses mißgestaltete Geschöpf gegenüber sich selber hatte, wurde wieder spürbar.

«Wegtragen«, befahl es.

Der Usbeke nahm es wieder auf die Arme.

«Adieu, Rechtsanwalt Spät«, sagte es, und in seiner Stimme war wieder der ruhige, überlegene Spott. Die Flügeltür wurde geöffnet, der Usbeke trug Monika Steiermann hinaus. Die Flügeltür schloß sich wieder. Ich war mit den zwei allein, die mich hereingebracht hatten. Sie traten vor meinen Ledersessel. Der eine nahm mir das Glas Whisky aus der Hand, ich wollte mich erheben, der andere drückte mich nieder. Dann klatschte mir der Scotch ins Gesicht, das Eis war schon vergangen. Die beiden rissen mich hoch, trugen mich aus dem Kabinett, durch die Halle, aus der Haustüre, den Park hinunter, an den Gartenzwergen vorbei, öffneten das Parkportal und warfen mich vor meinen Porsche. Ein altes Ehepaar, das auf dem Trottoir spazierte, starrte mich und dann die beiden Usbeken verwundert an, die sich im Park verloren.

«Fremdarbeiter«, sagte ich und nahm den Strafzettel zu mir, den ein Polizist unter den Scheibenwischer geklemmt hatte. Vor einer Ausfahrt sollte man nicht parken.


Bericht über einen Bericht über Berichte: Das Kommuniqué erschien drei Tage nach meinem Besuch am Wagnerstutz in unserem weltbekannten Lokalblatt, verfaßt von einem gewissen Nationalrat Äschisburger, dem Anwalt der Hilfswerkstätte Trög AG, des Inhalts, die Person, die seit zehn Jahren, von einem Internat an der Côte d'Azur auf die Gesellschaft losgelassen, unsere Stadt mit ihren Skandalen in Atem halte, sei nicht Monika Steiermann, als die sie sich mit der gütigen Erlaubnis der körperlich schwerbehinderten Erbin der Hilfswerkstätte Trög AG ausgebe, sondern die am 9.9.1930 geborene Daphne Müller, uneheliches Kind der Ernestine Müller, Lehrerin in Schangnau, Kanton Bern, gestorben am 2.12.1942, und des Adolf Winter, außerordentlicher Professor an der hiesigen Universität, ermordet am 25.3.1955. Diese dem Charakter des Nationalrats entsprechende grobe Pressemitteilung erweckte jenen Skandal, den Äschisburger beabsichtigt hatte, die Presse, vorher rücksichtsvoll, wurde rücksichtslos, selbst die Prügelei im >Breitingerhof< wurde ausführlich geschildert, Pedroli gab bekannt, Benno schulde ihm Aufenthalt und Essen für drei Monate, er hätte angenommen, die Steiermann würde schließlich zahlen, und nun sei die Steiermann gar nicht die Steiermann, doch blieben sowohl Daphne als auch Benno unauffindbar, die Meute stürzte sich auf mich, Äschisburger hatte angedeutet, ich hätte die echte Steiermann besucht, Ilse Freude wehrte sich wie eine Löwin, einige Reporter drangen gleichwohl zu mir vor, ich rettete mich in Vages, Unbestimmtes, verwies auf Lienhard, nannte unvorsichtigerweise Cuxhafen, den Pedroli verschwiegen hatte, die Meute stob nach Reims davon, zu spät, Cuxhafens neuer Maserati explodierte bei einer Testfahrt, und mit ihm löste sich der Prinz in seine Bestandteile auf, die Reporter, wieder in unserer Stadt, belagerten >Mon Repos<, Autokarawanen am Wagnerstutz, niemand wurde in den Park gelassen, geschweige in die Villa, ein Wagemutiger, der nachts, versehen mit allen technischen Apparaturen, über die Mauer kletterte, fand sich morgens, ohne daß er wußte, was ihm geschehen war, nackt, bar jeder Kleidung und Kameras, vor dem Parkportal im Matsch, denn mit dem Kommuniqué war auch der Herbst über Nacht zusammengebrochen, ein Sturm hatte die rostbraunen und gelben Farben von den Bäumen gefegt, man watete durch Laub und Äste, dann setzte Regen ein, später Schnee, wieder Regen, ein schmutziger Brei deckte die Stadt zu, in welchem nun der Reporter frierend stand. Doch setzte der Skandal nicht nur die Presse in Bewegung, er entzündete auch die Phantasie. In unserer Stadt wurden die unsinnigsten Gerüchte ausgebrütet, die ich allzulange nicht wahrnahm. Ich war zu sehr mit meiner Lage beschäftigt. Meine Klienten begannen sich abzusetzen, die Reise nach Caracas zerschlug sich, die lukrative Scheidung fiel ins Wasser, beim Steueramt fand ich keinen Glauben. Der hoffnungsvolle Neubeginn sah auf einmal hoffnungslos aus, der Vorschuß Kohlers war aufgebraucht, ich kam mir vor, als wäre ich bei einem Marathonlauf wie ein 100-Meter-Läufer gestartet, nun lag endlos die Strecke zur rentierenden Anwaltspraxis vor mir. Ilse Freude sah sich nach einem neuen Arbeitsplatz um. Ich stellte sie zur Rede.

Sie saß im Vorzimmer hinter dem Schreibtisch, hatte einen kleinen Spiegel auf die Tastatur gestellt und schminkte die Lippen karminrot. Ihr Haar, das gestern strohblond gewesen war, war schwarz mit einem Stich ins Blaue, das grünlich wirkte. Es war fünf Minuten nach sechs.

«Sie spionieren mir nach, Herr Doktor!«reklamierte Ilse Freude und schminkte sich weiter.

«Wenn Sie derart laut mit der Stellenvermittlung telefonieren«, verteidigte ich mich.

«Sondieren darf man wohl noch«, meinte sie, nachdem sie sich geschminkt hatte,»aber ich lasse Sie nicht im Stich, jetzt wo die Riesenarbeit auf uns zukommt.»

«Welche Riesenarbeit?«fragte ich verwundert.

Ilse Freude gab vorerst keine Antwort, stellte ihre prallvolle Umhängetasche auf den Schreibtisch, warf den Spiegel und den Schminkstift achtlos hinein.

«Herr Doktor«, erklärte sie,»Sie sehen zwar harmlos aus, viel zu gutmütig für einen Rechtsanwalt, Rechtsanwälte haben anders auszusehen. Ich kenne die Rechtsanwälte, entweder sehen sie vertrauenerweckend aus oder künstlerisch, wie Pianisten, nur ohne Frack, aber Sie, Herr Doktor…»

«Worauf wollen Sie hinaus?«unterbrach ich sie ungeduldig.

«Ich will darauf hinaus, daß Sie ein gerissener Hund sind, Herr Doktor. Sie sehen nicht aus wie ein Rechtsanwalt und sind doch einer. Sie wollen auch den unschuldigen Kantonsrat aus dem Zuchthaus befreien.»

«Was soll der Unsinn, Ilse?«staunte ich.

«Wozu haben Sie denn sonst einen Scheck von fünfzehntausend Franken vom Kantonsrat Kohler erhalten?»

Ich war perplex.»Woher wissen Sie das?«herrschte ich sie an.

«Hin und wieder muß ich schließlich Ihren Schreibtisch aufräumen«, fauchte sie zurück,»bei Ihrem Durcheinander. Und jetzt werden Sie noch grob.»

Sie wischte sich die Augen.»Aber Sie werden's schaffen. Sie holen den guten Kantonsrat raus. Ich bleibe bei Ihnen! Wie eine Klette! Wir beide schaffen das, Herr Doktor!»

«Sie glauben, der alte Kohler sei unschuldig?«fragte ich bestürzt.

Ilse Freude erhob sich graziös, trotz ihrer respektablen Fülle, hing sich die Tasche um.

«Das weiß doch die ganze Stadt«, sagte sie.»Und auch wer der Mörder ist.»

«Da bin ich aber gespannt«, sagte ich und fröstelte plötzlich.

«Doktor Benno«, erklärte Ilse.»Der war schweizerischer Meister im Pistolenschießen. Das steht in allen Zeitungen.»

Später aß ich mit Mock im >Du Théâtre<. Er hatte mich eingeladen, eine Seltenheit für den alten Geizkragen. Ich nahm die Einladung an, obgleich ich wußte, daß Mock nur einlud, wenn er sicher war, eine Absage zu erhalten. Aber ich war neugierig darauf, ob es stimme, daß Mock seit der Ermordung Winters nun an dessen Tisch zu speisen pflegte. Es stimmte. Zu meiner Überraschung begrüßte mich Mock freudig, doch kaum hatte ich Platz genommen, setzte sich der Kommandant zu uns, das erste Mal, daß ich ihn kennenlernte, auch stellte sich heraus, daß er gekommen war, um mich kennenzulernen, überhaupt das Treffen organisiert hatte und der Gastgeber war und am Schluß denn auch alles bezahlte. Mock war nur der Köder gewesen. Der Kommandant bestellte Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit Rösti und Bohnen und eine Flasche Chambertin, Winter zu Ehren, wie er sagte, der sei zwar ein fürchterlicher Schwätzer gewesen, aber ein herrlicher Fresser. Es sei stets eine Freude gewesen, ihm dabei zuzuschauen. Ich machte mit. Mock wählte vom Wagen Rindsbraten mit Kartoffelpüree. Das Mahl hatte etwas Makabres. Wir aßen schweigend, so daß es eigentlich überflüssig war, daß Mock seinen Hörapparat neben seinen Teller gelegt hatte, um ungestört essen zu können. Dann bestellte der Kommandant eine Mousse au chocolat, und ich erzählte ihm mein Gespräch mit Ilse Freude.

«Sie wissen nicht, Spät, wie recht Ihr Unikum von einer Sekretärin hat. Das Gerücht ist im Zuchthaus entstanden. Der Direktor und die Wärter schwören, Kohler könne unmöglich der Mörder sein. Wie das der alte Gauner zustande gebracht hat, weiß der Teufel. Glauben einmal einige einen Unsinn, glauben es andere. Es geht zu wie bei einer Lawine. Immer größere Glaubensunsinnsmassen stürzen herunter. Zuerst glauben's die vom Morddezernat selber. Na ja, es geht Sie, Spät, eigentlich nichts an, aber Leutnant Herren ist unbeliebt, und da wäre seine Mannschaft überglücklich, erwiese sich Kohlers Verhaftung als ein Irrtum, und was die übrige Polizei angeht, so ist die auf das Morddezernat eifersüchtig, während gegenüber der Polizei die Feuerwehr und die Angestellten des öffentlichen Verkehrs unter Minderwertigkeitskomplexen leiden, und schon ist die Lawine unaufhaltsam geworden und erreicht die Bevölkerung, die uns ohnehin jede Schlappe gönnt. Vor allem mir, und bereits hat sich der Mörder in ein Unschuldslamm verwandelt. Dazu kommt noch, daß es ein populärer Mord gewesen ist, der manchem in den Kram gepaßt hat, und daß die Zünfte und der Kreis um Kohler, die Ständeräte, die Nationalräte, Regierungsräte, Kantonsräte und Stadträte und wer sonst noch die Finger im Spiel hat, all die Generaldirektoren und Direktoren, Bosse und Chefs, sich über das forsche Vorgehen Jämmerlins und über das Umfallen der Richter ärgern. Sie haben nichts gegen eine Verurteilung, aber haben mit einer Strafe auf Bewährung oder gar mit einem Freispruch infolge Unzurechnungsfähigkeit gerechnet, was einen Politiker ja nicht unzurechnungsfähig macht. Kohlers Unschuld wäre Balsam auf viele Wunden, Spät.»

Mock schob den Teller von sich und stopfte sich seinen Hörapparat in die Ohren.

«Sie haben vom alten Kohler einen recht seltsamen'Auftrag bekommen, und jetzt dieses blödsinnige Gerede, er sei unschuldig und der Luftikus Benno sei der Mörder. Nur weil er ein Meisterschütze gewesen ist, wobei sich hierzulande ein jeder einbildet, er sei einer. Aber weshalb muß sich der Blödian auch verstecken«, sagte der Kommandant und beschäftigte sich mit seiner Mousse au chocolat.»Gefällt mir nicht. Der Auftrag Kohlers, das Gerücht, er sei unschuldig, und das Verschwinden Bennos hängen zusammen.»

«Spät ist in eine Falle gegangen«, sagte Mock und begann mit einem Kohlestift aufs Tischtuch zu zeichnen. Eine Ratte, schon eingeklemmt in der Falle, doch immer noch am Speck nagend.

Im Zeltweg saß Lienhard in meinem Büro.

«Wie sind Sie reingekommen?«fragte ich ungehalten.

«Unwichtig«, gab Lienhard zur Antwort und wies auf den Schreibtisch:»Die Berichte.»

«Halten Sie Kohler auch für unschuldig?«fragte ich argwöhnisch.

«Nein.»

«Mock meint, ich sei in die Falle gegangen«, sagte ich düster.

«Kommt auf Sie an«, antwortete Lienhard.

Hundertfünfzig Seiten, eng beschrieben, Telegrammstil. Hatte ich eine hypothetische Abhandlung erwartet, vage Kombination, stand ich Tatsachen gegenüber. Anstelle eines Unbekannten wurde ein Name genannt. Die Berichte selber waren verschieden zu würdigen, im ganzen mit Vorsicht aufzunehmen. Die Befragung der Zeugen durch Schönbächler: Zeugen widersprechen sich, aber das Ausmaß dieser Widersprüche war erstaunlich. Beispiele: Eine Serviertochter behauptete, Kohler habe ausgerufen» Sauchaib«, während der Prokurist eines Damenwäschegeschäfts, der damals am Nebentisch saß (»noch einen Saucespritzer habe ich abgekriegt«), aussagte, die Worte Kohlers hätten» Guten Tag, alter Freund «gelautet. Ein dritter Zeuge wollte gesehen haben, wie der Kantonsrat dem Professor noch die Hand schüttelte. Einer sagte aus, Kohler sei, nachdem er Winter niedergeschossen habe, mit Lienhard zusammengestoßen. Dazu ein Fragezeichen und eine Anmerkung Lienhards:»War nicht dort. «Weitere gegensätzliche Aussagen über fünfzig Seiten. Nun gibt es keinen objektiven Zeugen. Jeder Zeuge neigt dazu, dem Erlebten unbewußt Erfundenes beizumischen. Ein Vorfall, dessen Zeuge er ist, spielt sich außerhalb und im Zeugen ab. Dieser nimmt den Vorfall auf seine Weise wahr, prägt den Vorfall in sein Gedächtnis, und das Gedächtnis prägt ihn um: Jedes Gedächtnis gibt einen anderen Vorfall wieder. Auch häuften sich die Unstimmigkeiten, weil Schönbächler im Gegensatz zur Polizei alle Zeugen ausgefragt hatte. Je mehr Zeugen, desto widersprüchlicher die Aussagen, über fünfzig Seiten füllten die entgegengesetzten Behauptungen. Endlich der Zeitunterschied: Der Vorfall hatte sich nun vor eindreiviertel Jahren zugetragen. Die Phantasie hatte Zeit, das Gedächtnis umzuformen, dazu kam Wunschdenken, Wichtigtuerei usw., weitere fünfzig Seiten hätten mit den Aussagen jener gefüllt werden können, die sich einbildeten, beim Mord dabeigewesen zu sein, aber nicht dabeigewesen waren. Doch hatte Schönbächler sorgfältig recherchiert. Der Bericht Feuchtings: seine Methode die simpelste. Er fragte direkt und konnte sich das leisten, weil er immer direkt fragte. Es fiel nicht einmal mehr auf, wenn er sich erkundigte. Er erkundigte sich über alles, auch über Dinge, die sinnlos waren oder sinnlos zu sein schienen. Am Schluß setzten sich seine Steinchen zusammen, mühsam genug, durch unzählige Martinis gekittet, und gaben ein Mosaik frei, das bedenklicherweise die Aussagen verschiedener Zeugen bestätigte, die im Bericht Schönbächlers vorkamen, hatten doch einige behauptet, Dr. Benno sei auch im >Du Théâtre< gewesen, andere, er habe sich vor Kohler dem Professor genähert, wieder andere, er habe am gleichen Tisch gesessen, einer sogar meinte, er habe das Lokal unmittelbar nach dem Kantonsrat verlassen, und eine Bardame sagte aus, Benno sei kurz nach der Ermordung Winters in die Bar gestürzt gekommen, habe getanzt vor Freude, Gläser zerschlagen und geschrien» Der Zeck ist tot, der Zeck ist tot«, jeden angerempelt und erklärt, jetzt werde er sie heiraten. Man habe das auf die Steiermann bezogen, ihm Glück gewünscht und sich von ihm einladen lassen. Das alles hatte sich in der >Himmelfahrtsbar< abgespielt, wie eine Räuberhöhle in der Nähe des Münsters ihrer scharfen Schnäpse wegen genannt wurde, in der in letzter Zeit Benno viel gesehen wurde. Diese» letzte Zeit «währte bei Benno schon mehr als zwei Jahre. Aus gutem Hause, nach guter Erziehung, nach erfolgreichen Studien, nach sportlicher Karriere, nach glänzenden gesellschaftlichen Erfolgen, nach der Verlobung mit der Steiermann, mit der reichsten Partie der Stadt, verkam Benno plötzlich, veränderte sich, wurde gemieden. Allgemein wurde angenommen, die Steiermann habe ihre Verlobung rückgängig gemacht. Viele Auslandsreisen, Gerüchte, daß er spiele. Er konnte vorerst seine Kontakte zu den guten, einträglichen Häusern noch mühsam aufrechterhalten, wurde dann kaum mehr eingeladen, endlich boykottiert. Noch lebte er auf großem Fuß, später verkaufte er, was er vom einstigen Glanz hatte retten können: Stiche, Möbel, einige Harasse alten Bordeaux. Verschiedene Gegenstände, die er verkauft hatte, gehörten ihm nicht, so Schmuckstücke, zwei Prozesse waren hängig. (Eine genaue Darstellung der Schulden des Olympia-Heinz übergehe ich, sie waren katastrophal, geradezu abenteuerlich, über zwanzig Millionen.) Merkwürdigerweise trafen Feuchtings Recherchen über Benno in vielem auch für den ermordeten Winter zu (außer den Schulden): Auslandsreisen zu PEN-Club-Kongressen, die gar nicht stattgefunden hatten, über die er aber wochenlang berichtete, Gerüchte über Spielcasinobesuche. Auch Winter trieb sich samt seinen ewigen Goethe-Zitaten in der >Himmelfahrtsbar< herum, hatte er den literarischen Stammtisch im zweiten Stock des >Du Théâtre< verlassen. Dort saß er bei den Verlegern, Redakteuren, Theaterkritikern und den literaturhagiographischen Koryphäen unserer Stadt, um sich mit ihnen die Herrschaft über unsere Kultur nicht entgleiten zu lassen. Der erlauchte Kreis duldete ihn zwar, aber belächelte ihn, nannte ihn, entschwand er zu den Niederdorf-Bajaderen,»Mahadöh«. Es sei unzweifelhaft, zog Lienhard die Schlußfolgerung, daß, klammere man Kohler als Mörder aus, nur Benno als möglicher Täter in Frage komme. Er habe Daphne für Monika Steiermann gehalten. Dann sei zwischen ihm und Winter etwas vorgefallen. Daß Daphne mit Benno gebrochen habe, sei die Folge dieses Vorfalls gewesen, auch der Ruin Bennos. Als Verlobter einer Steiermann hätte er jeden Kredit gehabt, ohne die Steiermann keinen. Ich wurde mißtrauisch. Lienhards Version fügte sich nicht in die Fakten ein. Daphne hatte mit Benno erst Schluß gemacht, nachdem sie von ihm verprügelt worden war, und Monika Steiermann gab Benno erst auf, als Daphne mit ihr Schluß gemacht hatte. Winter und Lüdewitz hatten gewußt, daß Daphne nicht Monika Steiermann war, aber sie waren nicht die einzigen. Daß jemand die Identität des andern annimmt und sich selber ins Nichts auflöst, ist keine einfache Angelegenheit, dazu waren noch andere Mitwisser nötig. Auch von der Behörde mußten es einige gewußt haben. Und dann hatte es Kohler gewußt. Die Steiermann hatte es mir selber erzählt. Vielleicht hatten es viele gewußt. Die Falle, in die ich nach Mock geraten war, konnte nur darin bestehen, daß ich, ob ich wollte oder nicht, den Glauben an Kohlers Unschuld schürte, auch wenn ich diesen Glauben nicht teilte. Ich machte ihn mit, weil ich Kohlers Auftrag angenommen hatte. Gab ich der Fiktion nach, er sei nicht der Mörder, mußte ich auf einen anderen stoßen, war es nicht Brutus, der Cäsar tötete, war es Cassius; war es nicht Cassius, war es Casca. Vielleicht. Vielleicht waren nicht der Zuchthausdirektor und die Wärter die Urheber des Gerüchts, Kohler sei unschuldig, ich war es selber. Woher wußte der Kommandant von meinem Auftrag? Der Wärter Möser war dabei, als er erteilt wurde, die Knulpes, Hélène, Förder, Kohlers Privatsekretär, sicher verschiedene Anwälte, dann Lienhard, wer von seinen Leuten? Ilse Freude wußte es, hielt sie dicht? Vielleicht war Kohlers Auftrag schon ein Stadtgespräch, zwar war ich überzeugt, er habe seinen Mord aus wissenschaftlicher Neugier begangen, aber durch den Auftrag führten meine Recherchen von Kohler weg, statt auf ihn zu. War das der Sinn seines Auftrags? War ich der Urheber eines undurchsichtigen Manövers, lieferte ich die Berichte über die Recherchen meinem Auftraggeber ab? Aber ich war in einer Zwangslage. Lienhard würde bald die Spesen vorlegen. Ich brauchte Geld, und die einzige Geldquelle war Kohler. Ich mußte weitermachen. Trotz meiner Skrupel. Oder gab es einen Ausweg? Ich kam auf den Einfall, meinen früheren Chef Stüssi-Leupin aufzusuchen und mich mit ihm zu besprechen. Noch zögerte ich. Dann entschloß ich mich, doch nicht zu ihm zu gehen, die Recherchen nicht abzuliefern, geschehe, was wolle. Doch dann zögerte ich nicht mehr. Dr. Benno besuchte mich in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1956, von einem Freitag auf einen Samstag. Gegen Mitternacht. Ich weiß es noch genau. Weil sich in dieser Nacht sein Schicksal entschied und das meine. Ich studierte zum dritten Mal den Bericht, als er die Tür zum Büro aufriß, das einmal ihm gehört hatte und an dessen Schreibtisch ich saß. Er war ein großer, nun massiger Mann, mit langem strähnigem schwarzem Haar, das er zurückgekämmt hatte, so daß es seine Glatze bedeckte. Er hinkte auf meinen Schreibtisch zu. Er wirkte wie einer, der zu schwer für sein Knochengerüst geworden ist. Er stützte sich mit seinen im Gegensatz zum massigen Körper beinah kindlich wirkenden Händen auf die Schreibtischplatte, starrte mich an, halb beschienen von der Schreibtischlampe. Er war nicht mehr nüchtern, verzweifelt und in seiner Hilflosigkeit sympathisch. Ich lehnte mich zurück. Sein schwarzer Anzug glänzte speckig.

«Dr. Benno«, sagte ich,»wo sind Sie gewesen? Die Presse sucht Sie überall.»

«Egal, wo ich gewesen bin«, keuchte er.»Spät, lassen Sie den Prozeß sein. Ich bitte Sie.»

«Welchen Prozeß, Dr. Benno?«fragte ich.

«Den Sie gegen mich anstrengen«, sagte er heiser.

Ich schüttelte den Kopf.»Niemand strengt einen Prozeß gegen Sie an, Dr. Benno«, erklärte ich.

«Sie lügen«, schrie er.»Sie lügen! Sie haben gegen mich Lienhard eingesetzt, Fanter, Schönbächler, Feuchting. Und die Presse haben Sie auch auf mich gehetzt. Sie wissen, daß ich ein Motiv gehabt hätte, Winter zu erschießen.»

«Kohler hat es getan«, antwortete ich.

«Das glauben Sie ja selber nicht. «Er zitterte am ganzen Leib.

«Kein Mensch zweifelt daran«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Benno starrte mich an, trocknete sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Stirn,»Sie werden mir den Prozeß machen«, sagte er leise.»Ich bin verloren, ich weiß es, ich bin verloren.»

«Aber, Dr. Benno«, antwortete ich.

Er wankte zur Tür, öffnete sie langsam und ging, ohne sich weiter um mich zu kümmern.


Das Alibi: Wurde wieder unterbrochen. Das Schicksal schlug zu. Diesmal durch Lucky. In seiner Begleitung ein Subjekt, das er mir als den» Marquis «vorstellte. (Indem ich als Schreibender aus dem unheilvollen Geschehen herausgetreten bin, worin ich mich als Handelnder verstrickte, habe ich Farbe zu bekennen: In einer verbrecherischen Welt bin ich selbst ein Verbrecher geworden: Ihrer Zustimmung zu dieser Feststellung, Herr Staatsanwalt, bin ich sicher, mit der Einschränkung freilich, daß ich auch Sie, samt der Gesellschaft, die sie von Amts wegen vertreten, zu dieser verbrecherischen Welt zähle, und nicht nur Lucky, den Marquis und mich.) Was das menschenähnliche Subjekt betrifft, so war es aus Neuchâtel hergespült worden. Samt einem offenen Jaguar. Eine Visage mit einem Lächeln, als käme der Kerl aus Caux, mit Manieren, als würde er Luxusseife verkaufen. Es ging gegen zehn nachts. Es war Sonntag (diesen Bericht schreibe ich Ende Juli 1958, schwacher Versuch, Ordnung in meine Papiere zu bringen). Draußen war ein Gewitter gewesen, ungeheure krachende Entladungen, der Regen rauschte noch, doch ohne Erleichterung zu bringen, es war schwül und dumpf. Unter mir dröhnten die Psalmen» Sinke, Welt, in Christi Arm, gehe fröhlich unter «und» Heiliger Geist, mit Blitz und Knall auf uns Sünder niederfall«. Lucky zupfte etwas geniert an seinem Schnurrbärtchen herum, schien mir leicht nervös, auch wiesen seine Apostelaugen einen grüblerischen Schimmer auf, den ich vorher noch nie an ihnen wahrgenommen hatte: Lucky dachte offenbar nach. Die beiden hatten Regenmäntel an, die jedoch so gut wie trocken waren.

«Wir brauchen ein Alibi«, sagte Lucky kleinlaut,»der Marquis und ich. Für die letzten zwei Stunden.»

Der Marquis lächelte salbungsvoll.

«Und vor zwei Stunden?«fragte ich.

«Da ist unser Alibi bombensicher«, beteuerte Lucky und sah mich lauernd an.»Wir waren mit Giselle und Madeleine im >Monaco<.»

Der Marquis nickte bestätigend.

Ich wollte wissen, ob sie unbemerkt zu mir gekommen seien. Lucky war wie immer Optimist.»Erkannt hat uns niemand«, behauptete er.»Da sind Schirme praktisch.»

Ich überlegte.»Wo habt ihr die Schirme?«fragte ich dann, erhob mich von meinem Schreibtischsessel und schloß meine Papiere ein.

«Drunten. Wir haben sie hinter die Kellertür gestellt.»

«Gehören sie euch?»

«Wir haben sie gefunden.»

«Wo?»

«Auch im >Monaco<.»

«Ihr habt sie also vor zwei Stunden mitlaufen lassen?»

«Es hat geregnet.»

Lucky spürte besorgt, daß mich seine Antworten nicht begeisterten. Er holte hoffnungsvoll aus seinem Mantel eine Flasche Cognac Napoleon, und auch der Marquis zauberte eine solche auf den Schreibtisch.

«Schön«, nickte ich,»das sind menschlichere Züge.»

Dann legten die beiden je einen Tausenderlappen hin.

«Wir sind splendide Geschäftsleute«, stellte Lucky fest.

Ich schüttelte den Kopf.»Mein lieber Lucky«, bedauerte ich,»wegen einer falschen Aussage sitze ich prinzipiell nicht.»

«Begriffen«, sagte Lucky.

Die beiden stifteten noch je einen Tausender.

Ich ließ mich nicht erweichen.»Die Geschichte mit den Schirmen ist zu blöd«, stellte ich fest.

«Die Polizei sucht uns ja nicht der Schirme wegen«, wandte Lucky ein, doch war es ihm dabei sichtlich nicht geheuer.

«Aber sie könnte euch der Schirme wegen auf die Spur kommen«, gab ich zu bedenken.

«Kapiert«, sagte Lucky.

Die beiden opferten wieder je einen Tausender.

Ich staunte.»Ihr seid wohl Millionäre geworden?»

«Man hat so seine Einkünfte«, sagte Lucky.»Wenn wir den Rest bekommen, hauen wir ab. Ins Ausland.»

«Welchen Rest?»

«Den Rest vom Honorar«, erklärte der Marquis.

«Von welchem Honorar?«fragte ich mißtrauisch.

«Für einen Auftrag, den wir erledigt haben«, präzisierte Lucky.»Sind wir in Nizza, übergebe ich dir Giselle und Madeleine.»

«Ich überlasse Ihnen meine Mädchen«, versicherte der Marquis.»Neuchâtel ist praktisch.»

Ich prüfte die Scheine sorgfältig, faltete sie zusammen und steckte sie in die hintere Hosentasche. Lucky wollte Genaueres berichten, doch ich unterbrach ihn:»Ein für allemal: weshalb ihr das Alibi braucht, will ich nicht wissen.»

«Pardon«, entschuldigte sich Lucky.

«Rückt mal eure Zigaretten raus«, befahl ich dann.

Lucky war mit Zigaretten vollgestopft: Camel, Dunhill, Black and White, Super King, Piccadilly. Die Pakete häuften sich auf dem Schreibtisch.

«Eine Freundin hat einen Kiosk«, entschuldigte er sich.

«Und was raucht der Herr Marquis?»

«Nur selten«, lispelte der verlegen.

«Du hast keine Zigaretten bei dir?»

Der Marquis schüttelte den Kopf.

Ich setzte mich wieder hinter den Schreibtisch. Wir mußten handeln.

«Jetzt rauchen wir eine halbe Stunde lang«, ordnete ich an,»so viel und so schnell wie möglich. Ich Camel, Lucky die langen Super King, der Marquis in Gottes Namen Dunhill. Die Zigaretten so rauchen, daß man noch die Marke sieht, dann ausdrücken und alle in den gleichen Aschenbecher. Am Schluß nimmt jeder eine aufgebrochene Schachtel mit.»

Wir qualmten auf Tod und Leben. Wir hatten es bald los, vier Zigaretten auf einmal anzurauchen, dann brannten sie von selber ab. Draußen donnerte das Gewitter von neuem los, und unter uns heulten die Psalmen auf:»Zermalme, Gott, uns Otternbrut, zerschmettre, Jesu, unser Gut, wir haben Dich geschlachtet, den Heiligen Geist mißachtet.»

«Ich rauche sonst eigentlich überhaupt nie«, stöhnte der Marquis. Es ging ihm so schlecht, daß er beinahe menschlich wurde.

Nach einer halben Stunde häuften sich im Aschenbecher die Zigarettenstummel. Die Luft war lebensgefährlich, denn wir hatten das Fenster geschlossen. Wir verließen das Zimmer und liefen ein Stockwerk tiefer in die Arme der Polizei, doch galt ihr Besuch nicht uns, sondern den Heiligen vom Uetli. Nachbarn, die ohne Psalmen zur Hölle zu fahren wünschten, hatten protestiert. Der dicke Stuber von der Sittenpolizei rüttelte an der Tür, seine zwei Begleiter, Streifenpolizisten, betrachteten uns argwöhnisch, wir drei waren bekannte Persönlichkeiten.

«Aber Stuber«, sagte ich,»Sie sind doch bei der Sittenpolizei und haben nichts mit Heiligen zu tun.»

«Passen Sie lieber auf Ihre Heiligen auf«, brummte Stuber und ließ uns vorbei.

«Hurenanwalt«, rief mir einer der Streifenpolizisten nach.

«Wir marschieren am besten gleich zur Hauptwache«, stöhnte Lucky. Die Polizei hatte ihn demoralisiert. Der Marquis schien vor Entsetzen zu beten. Ich ahnte, daß ich mich in etwas Bedenkliches eingelassen hatte.

«Unsinn«, machte ich den beiden Mut.»Etwas Besseres als die Polizei hätte uns nicht begegnen können.»

«Die Schirme…»

«Die beseitige ich später.»

Die frische Luft tat uns gut. Der Regen hatte aufgehört. Die Straßen waren belebt, und in der Niederdorfstraße gingen wir ins >Monaco<. Giselle war noch da, Madeleine nicht mehr (jetzt weiß ich ihren Namen), dafür aber Corinne und Paulette, die Neuen in Luckys Diensten, eben aus Genf importiert, alle drei fein hergerichtet, den Preisen entsprechend, und schon einige Freier hinter sich.

«Sieht der Marquis grün aus«, rief Giselle und winkte.»Was habt ihr denn mit dem angerichtet?»

«Wir haben zwei Stunden gepokert«, erklärte ich,»und der Marquis mußte mitrauchen. Zur Strafe, daß er dich Lucky abspannen wollte.»

«Je m'en suis pas rendue compte«, sagte Paulette.

«Geschäfte wickeln sich in der Stille ab.»

«Et le résultat?»

«Ich bin jetzt dein Rechtsanwalt«, erklärte ich. Paulette staunte. Ich wandte mich Alphons zu. Der Barmann hatte eine Hasenscharte und wusch Gläser hinter der Theke. Ich verlangte Whisky. Alphons stellte drei Sixty-Nine vor uns hin. Ich trank mein Glas in einem Zug hinunter, sagte zum Barmann» Die Herren bezahlen «und verließ das >Monaco<. Als ich mich kaum zehn Schritte vom Eingang entfernt hatte, hörte ich einen Wagen halten. Ich beobachtete, wie der Kommandant mit drei Detektiven vom Morddezernat die Bar betrat. Ich drückte mich um die nächste Ecke und in die übernächste Kneipe. Auch später hatte ich Glück (wenigstens einmal): Stuber und die zwei Streifenpolizisten befanden sich nicht mehr im Haus an der Spiegelgasse, als ich eine Stunde später zurückkehrte. Es war still, auch die Uetli-Brüder mußten sich verzogen haben. Die beiden Schirme fand ich hinter der Kellertür. Ich wollte damit schon in den Keller hinuntersteigen, um sie dort zu verbergen, als ich auf eine andere Idee kam. Ich stieg die Treppe hinauf. Vor dem Lokal der Sekte war es still. Die Tür war unverschlossen, ich hätte sie sonst mit dem Hausschlüssel geöffnet, der wie bei vielen alten Häusern für alle Türen brauchbar war.

Ich betrat einen Vorraum. Er war nur spärlich vom Treppenhaus her beleuchtet. Neben der Tür stand ein Schirmständer mit einigen Schirmen. Ich stellte die beiden nassen Schirme zu den anderen, schloß die Tür sorgfältig und stieg zu meiner Wohnung hinauf. Ich machte Licht. Das Fenster stand weit offen. Im Lehnstuhl saß der Kommandant.

«Hier ist viel geraucht worden«, sagte er und schaute auf den mit Kippen gefüllten Aschenbecher.»Ich habe das Fenster geöffnet.»

«Lucky und der Marquis sind bei mir gewesen«, erklärte ich.

«Der Marquis?»

«So eine Type aus Neuchâtel.»

«Sein Name?»

«Will ich lieber nicht wissen.»

«Henry Zuppey«, sagte der Kommandant.»Wann sind sie bei Ihnen gewesen?»

«Von sieben bis neun.»

«Hatte es schon geregnet, als sie gekommen sind?«fragte der Kommandant.

«Sie sind gekommen, bevor es geregnet hat«, antwortete ich.»Um nicht durchnäßt zu werden. Warum?»

Der Kommandant betrachtete den Aschenbecher.»Stuber von der Sitte hat Sie, Lucky und den Marquis gesehen, als Sie um neun Ihre Bude verlassen haben. Wo sind Sie dann hingegangen?»

«Ich?»

«Sie.»

«Ins >Höck<. Ich habe zwei Whisky getrunken. Lucky und der Marquis sind ins >Monaco< gegangen.»

«Das weiß ich«, sagte der Kommandant.»Ich habe sie dort verhaftet. Aber nun muß ich sie freilassen. Sie haben ein Alibi. Sie haben bei Ihnen geraucht. Zwei Stunden lang. «Er betrachtete wieder den Aschenbecher.»Ich muß Ihnen glauben, Spät. Einer, dem es um die Gerechtigkeit geht, liefert zwei Mördern kein Alibi. Das wäre absurd.»

«Wer ist ermordet worden?«fragte ich.

«Daphne«, antwortete der Kommandant.»Das Mädchen, das sich als Monika Steiermann ausgegeben hat.»

Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch.

«Ich weiß, Sie sind im Bild«, sagte der Kommandant.»Sie haben die echte Monika Steiermann besucht, die hat die falsche fallenlassen, und so ist Daphne Müller denn auf den Strich gegangen. Ohne sich mit Lucky und Zuppey zu einigen. Und jetzt hat man sie tot in ihrem Mercedes auf dem Parkplatz am Hirschenplatz gefunden. Gegen halb neun. Um sieben ist sie gekommen, aber im Wagen geblieben. Es hat ja mordsmäßig gewittert. Na, Lucky und Zuppey haben jetzt ein Alibi und hatten keine Waffe bei sich, und ihre Regenmäntel sind trocken gewesen. Ich muß sie laufenlassen. «Er schwieg.»Ein verdammt schönes Mädchen«, sagte er dann.»Haben Sie mit ihr geschlafen?»

Ich antwortete nicht.

«Ist ja auch nicht wichtig«, meinte der Kommandant und zündete sich eine seiner Bahianos an, hustete.

«Sie rauchen zuviel, Kommandant.»

«Ich weiß, Spät«, antwortete der Kommandant.»Wir alle rauchen zuviel. «Er schaute wieder auf den Aschenbecher.»Aber ich sehe, daß Sie mir eine gewisse Aufmerksamkeit schenken. Nun, ich schenke Ihnen ja auch eine gewisse Aufmerksamkeit: Ein undurchsichtiger Mensch, wie Sie einer sind, ist mir noch nie vorgekommen. Haben Sie eigentlich keinen Freund?»

«Ich schaffe mir nicht gern einen Feind an«, antwortete ich.»Wollen Sie mich verhören, Kommandant?»

«Nur neugierig, Spät«, wich der Kommandant aus.»Sie sind noch nicht einmal dreißig.»

«Ich hab es mir nicht leisten können, mein Studium zu verbummeln«, antwortete ich.

«Sie sind unser jüngster Rechtsanwalt gewesen«, meinte der Kommandant,»und jetzt sind Sie keiner mehr.»

«Die Aufsichtskommission ist ihrer Pflicht nachgekommen«, sagte ich.

«Wenn ich mir nur ein Bild von Ihnen machen könnte«, sagte der Kommandant,»fiele es mir dann leichter, Sie zu verstehen. Aber ich kann mir kein Bild machen. Als ich Sie zum ersten Mal besucht habe, hat mir Ihr Kampf für die Gerechtigkeit eingeleuchtet, und ich bin mir schäbig vorgekommen, aber jetzt leuchten Sie mir nicht ein. Das Alibi nehme ich Ihnen noch ab, aber daß es Ihnen um die Gerechtigkeit geht, nehme ich Ihnen nicht mehr ab.»

Der Kommandant erhob sich.»Sie tun mir leid, Spät. Daß Sie in eine absurde Geschichte verstrickt sind, ist mir klar, daß Sie dabei selber absurd werden, ist wohl nicht zu ändern. Ich denke, darum lassen Sie sich fallen. Hat Kohler wieder einmal geschrieben?»

«Aus Jamaika«, antwortete ich.

«Wie lange ist er jetzt weg?»

«Über ein Jahr«, sagte ich,»fast anderthalb Jahre.»

«Der Mensch saust kreuz und quer um den Erdball«, sagte der Kommandant.»Aber vielleicht kommt er doch bald zurück. «Dann ging er.


Nachschrift. Wieder drei Tage später: Daß ich mit Daphne geschlafen hatte, verschwieg ich dem Kommandanten. Er fragte ja auch nicht weiter, und es war ihm nicht wichtig. Ich habe lange überlegt, ob ich es niederschreiben soll. Aber der Kommandant hat recht, es ist alles so unsinnig geworden, daß es keinen Sinn hat, etwas zu verschweigen: Zur Realität gehört auch das Schändlichste, zu diesem Schändlichen gehört meine Rolle, die ich beim Untergang Daphnes spielte, auch wenn der Grund ein Racheakt der» echten «Monika Steiermann war. Nach dem Skandal war Daphne fast ein Jahr lang unauffindbar gewesen. Kein Mensch wußte, wo sie war, auch Lienhard nicht, wie er behauptete. Ihre Wohnung in der Aurorastraße blieb leer, die Miete wurde bezahlt. Von wem, war nicht auszumachen. Dann war sie wieder aufgetaucht. In ihrer alten Pracht. Wie wenn nichts geschehen wäre, wenn auch mit neuem Gefolge. Was sie verschwenderisch getrieben hatte, betrieb sie nun beruflich. Von ihren Freunden im Stich gelassen, machte sie nun in ihrem weißen Mercedes die Runde, verlangte horrende Preise und kam finanziell wieder auf die Beine. Auch nach Abzug der Steuern. Gemeindesteuer, Staatssteuer, Wehrsteuer, Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Es galt als chic, mit ihr zu schlafen; es ist überflüssig, episch zu werden. Nur daß sie einmal bei mir erschien, will ich nicht verschweigen: Sie klopfte gegen zwei Uhr nachts an meine Wohnungstür in der Spiegelgasse. Ich kroch von der Couch, auf der ich schlief, dachte, es sei Lucky, machte Licht, öffnete, und sie trat ein. Sie schaute sich um. Das Fenster halb offen, das Zimmer eisig (es war Mitte Februar), an der kitschigen Tapete wieder die >Beobachter<-Bilder, auf dem Schreibtischsessel meine Kleider, auf dem Lehnstuhl mein Mantel. Sie trug einen Chinchilla — das mit den Preisen mußte wahr sein, oder die» echte «Steiermann zahlte noch immer —, zog sich aus, warf alles auf den Lehnstuhl und legte sich auf die Couch. Ich legte mich zu ihr. Sie war schön, und es war kalt. Sie blieb nicht lange. Sie zog sich wieder an, griff dann nach ihrem Chinchilla und legte einen Tausender auf meinen Schreibtisch. Als ich protestierte, schlug sie mir mit der rechten Hand mit aller Kraft ins Gesicht. Solche Geschichten erzählt man nicht gern, und ich habe sie auch niemandem erzählt. Wenn ich sie jetzt niederschreibe, so nur, weil mir die Felle davonschwimmen. Heute morgen, kurz vor sechs, war Freund Stuber von der Sitte bei mir und berichtete, man hätte Lucky und den Marquis bei Zollikon aus dem See gezogen (die Steiermannsche Villa ist nicht weit von der Fundstelle). Ich war etwas beleidigt, als der glückliche Stuber wieder ging: Er hatte mir nicht einmal Fragen gestellt, wenigstens einen vom Morddezernat hätte mir der Kommandant schicken können. Lucky und der Marquis hatten sich nicht schnell genug ins Ausland abgesetzt. So begann unser Nationalfeiertag, der Erste August 1958, recht trübselig. Außerdem war es ein Freitag, außerdem wurde Daphne beerdigt, die Gerichtsmedizin hatte sie zur Beerdigung freigegeben. Um zehn Uhr. Am Ersten August arbeitet man am Vormittag, auch die Totengräber, ein ganzer Nationalfeiertag ist für einen Kleinstaat zuviel, er kennt seine Dimensionen. Ich hatte eben mein Zimmer verlassen, als es donnerte, wie überhaupt die Gewitter in diesem Sommer etwas Alltägliches sind. Mein VW ist in Reparatur. (Ich hatte irgendwo über einem See gegessen, war dann unter einem wilden Nachthimmel mit meinem Porsche — na ja, Herr Staatsanwalt, um auch das zu beichten —, ich schlitterte mit ihm und mit Madeleine [war's Madeleine?] irgendwo vom Tüfweg ab in ein Gehölz, Lucky brachte die Sache in Ordnung, die Kleine lag zwei Monate im Spital, und ich hatte meinen alten VW wieder. Hatte. Ich hatte ihn wieder gehabt. Ich hätte ihn zwar längst holen können, aber habe beim Garagisten keinen Kredit mehr. Ich fürchte mich vor der Rechnung.) So mußte ich denn mit der Straßenbahn zu Daphnes Beerdigung fahren. Warum ich freilich die Türfalle des Vereinssälchens der Heiligen vom Uetli niederdrückte und warum ich, als die Tür sich öffnete, einen der beiden Schirme ergriff, die ich vor sechs Tagen hineingestellt hatte, ist nicht mehr auszumachen. Geschah es aus Gedankenlosigkeit oder aus einem makabren Humor heraus, ich weiß es nicht mehr. Der Himmel war schon tiefschwarz, obwohl es erst halb zehn war, als ich durch die Altstadt zum Bellevue lief, den Schirm wie einen Stock benutzend. Alles war nervös, und ich hatte es eilig wie vor jedem Gewitter, und das hereinbrechende mußte ein besonderes sein, weil es ja erst Vormittag war. Typisch Daphne, dachte ich. Beim Bellevue nahm ich die Straßenbahn. Eigentlich war es unter diesen Wetterbedingungen Unsinn, zur Beerdigung zu gehen, aber ich stieg gleichsam mechanisch in den überfüllten Tramwagen. Hin und wieder durchbrach die Sonne die schwarze Wolkenwand, sie war dann wie ein Scheinwerfer, der aufleuchtete und erlosch. Am Kreuzplatz stieg ein schwerer, schwarz gekleideter, eher kleingewachsener Mann mit leuchtender Glatze, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen und mit einer goldenen randlosen Brille in den Wagen. Ich glaubte zuerst unwillkürlich, es müsse sich um den ermordeten Winter handeln, der als Gespenst wiederkehre, um dem Begräbnis seiner Tochter beizuwohnen, so sehr glich der Mann dem Verstorbenen, auch trug er einen Totenkranz, dessen Schleife ich freilich nicht zu lesen vermochte. Im Friedhofwaren schon viele versammelt. Die ganze Prominenz war anwesend, gegen Nostalgie ist niemand gefeit, von ihren neuen Kunden war niemand erschienen. Aber Daphne Müller war nicht der einzige Grund, diesen Vormittag unseren schmuck angelegten städtischen Friedhof zu besuchen. Im Grab neben ihr wurde Staatsanwalt Jämmerlin der Ewigkeit übergeben. Auch sein Ableben wurde allgemein bedauert, gibt es doch nichts Traurigeres, als sich nicht mehr ärgern zu können. Zum Glück mischte sich in die Trauer Schadenfreude. Sein Ende entbehrte nicht der Komik. Er war in der Sauna, die er wöchentlich besuchte, nackt neben den nackten Lienhard zu sitzen gekommen und nicht mehr imstande gewesen, den Schreck zu überleben. So trauerte man auf den Stockzähnen. Auch die gleichzeitigen Beerdigungen hatten ihr Gutes. Man konnte an beiden zusammen teilnehmen. Ich überlegte, wer zu wessen Beerdigung gekommen war, der Stadtpräsident, Staatsanwalt Feuser und einige freigesprochene Unzüchtler, weil sie den Verstorbenen noch im Grab ärgern wollten, zu Jämmerlins, Lienhard, Leuppinger, Stoss und Stüssi-Leupin zu beiden, Friedli, Lüdewitz, Mondschein dagegen wohl nur zur Beisetzung Daphnes. Jedermann hatte einen Schirm bei sich. Pfarrer Senn stand an Daphnes, Pfarrer Wattenwyl an Jämmerlins Grab. Beide startbereit. Ich wartete ungeduldig, trat von einem Bein aufs andere. Es donnerte. Doch weder Pfarrer Senn noch Pfarrer Wattenwyl begannen zu beten. Der ältere Mann, dem ich im Tram begegnet war, hatte seinen Kranz niedergelegt (es war sonst kein anderer beim Sarg), seiner halbschwester daphne, hugo winter. Es mußte sich um den Primarschullehrer Winter handeln. Es donnerte wieder, diesmal ein gewaltiges Krachen. Ein Windstoß. Alles wartete und wartete, sogar die vom Nachbargrab sahen zu uns herüber, man wartete auf etwas, ich wußte nicht worauf, bis ich begriff: Vom Eingang des Friedhofs her wurde auf einem Rollstuhl die» echte «Monika Steiermann von einer hageren Krankenschwester in Marschschritten an den Sarg gestoßen. Die Zwergin hatte sich grell geschminkt, auf ihrem Kopf saß eine zinnoberrote Perücke, den Haaren Daphnes nachgebildet, eine Perücke, die den Kopf des kleinen Wesens noch größer machte, dazu trug sie einen Minirock, der wie ein Kinderkleid wirkte, mit einer Perlenkette, die zwischen den verkrüppelten Beinchen über den Rollstuhl hing, auf dem Schoß hielt sie einen Gegenstand, der in ein schwarzes Tuch gewickelt war. Neben ihr schritt ein gedrungener Mann in einem dunklen Anzug, der zu kurz und zu eng war, der schwerreiche Grobian, Nationalrat Äschisburger. Er schleppte einen Kranz hinter sich her. Sogar der Stadtpräsident und Feuser, ja auch die Totengräber verließen das Grab Jämmerlins und wechselten zu Daphne Müllers hinüber. Pfarrer Wattenwyl stand allein. Er wäre wohl am liebsten auch gekommen. Erneutes Krachen, erneute Böen.

«Verflixt«, sagte jemand neben mir. Es war der Kommandant.

Die Krankenschwester hatte die Steiermann ans offene Grab gefahren, Äschisburger warf den Kranz auf den Sarg, meiner ewig geliebten monika, ihre monika stand auf der Schleife.

Pfarrer Senn trat vor, zuckte zusammen, als es wieder donnerte, und alle Anwesenden traten näher. Ich wurde wider Willen unmittelbar hinter die Steiermann gedrängt und befand mich zwischen der Krankenschwester und dem Kommandanten, vor diesem befand sich Äschisburger, und vor der Krankenschwester Stüssi-Leupin. Der Sarg wurde ins Grab gesenkt. Am Nebengrab war niemand, Jämmerlins Sarg ins Grab zu senken, Pfarrer Wattenwyl sah noch immer zu uns herüber, Pfarrer Senn öffnete zaghaft die Bibel, kündete Johannes 8, Vers 5 bis 11 an, kam aber nicht dazu, den Text auch zu lesen. Monika Steiermann hielt den Gegenstand, den sie trug, hoch und schmetterte ihn mit einer Kraft, die ihr niemand zutraute, ins Grab, so daß er mit Wucht auf Daphnes Sarg polterte, durch den er krachend brach: Es war der bronzene Kopf von Mocks» falscher «Monika Steiermann. Pfarrer Wattenwyl kam herbeigestürzt, und Pfarrer Senn war so erschrocken und verwirrt, daß er automatisch sagte:»Lasset uns beten.»

Aber da fielen schon die ersten schweren Tropfen, die Windstöße backten sich zum Sturm zusammen, und die Regenschirme öffneten sich. Da ich hinter der Steiermann stand, wollte ich die Zwergin schützen und öffnete auch den meinen. Ich drückte auf einen Knopf in der Nähe des Griffs, und zu meiner Verblüffung flog mein Schirmdach davon, stieg hoch, kreiste über der Trauergemeinde und fiel, da der Sturm schlagartig aufhörte, wie ein großer schwarzer Vogel in Daphnes Grab. Viele unterdrückten ein Lachen. Ich starrte auf den Schirmstab, den ich in der Hand hielt: es war ein Stilett. Es kam mir vor, als hielte ich mit der Mordwaffe am Grabe der Ermordeten Wache, während der Pfarrer das Unservater betete. Dann begannen die Totengräber mit ihren Schaufeln zu arbeiten, und auch der Sarg mit Jämmerlin konnte hinuntergelassen werden. Die Krankenschwester rollte die Steiermann zurück, ich mußte Platz machen, stand immer noch da mit dem Stilett, während sich die Schirme schlossen: Das Gewitter, unseren Friedhof pietätvoll verschonend, entlud sich über dem Stadtzentrum, noch am Abend wurde Wasser aus den Kellern gepumpt, dafür von irgendwoher einige Knallfrösche. Man feierte schon. Überaus mächtig flutete grelles Sonnenlicht über die zum Friedhofsausgang strömende Menge und über die schaufelnden Totengräber. Auch Pfarrer Senn war bemüht, so schnell als möglich davonzugehen, und Pfarrer Wattenwyl stand verwirrt herum, auch der Stadtpräsident und Feuser waren schon gegangen. Nur noch Lienhard stand am Grabe Jämmerlins und sah zu, wie es zugeschaufelt wurde. Als er an mir vorbeiging, weinte er. Er hatte einen Feind verloren. Ich starrte wieder auf das Stilett. Seine Spitze war dunkelbraun und die Rinne in der schmalen Waffe auch.

«Ihr Schirm ist nicht mehr brauchbar, Spät«, meinte neben mir der Kommandant, nahm mir das Stilett mit dem Schirmgriff aus der Hand und wandte sich dem Friedhofsausgang zu.


Der Verkauf: Eine Postkarte Kohlers aus Hiroshima beruhigt mich, er reist nach Singapur. Endlich Zeit, das Entscheidende zu berichten, auch wenn das Entscheidende eine Dummheit ist, die von keiner finanziellen Notlage entschuldigt werden kann. Ich schickte Stüssi-Leupin die Berichte zu, und er empfing mich zwei Tage später im Wohnzimmer seines Heims weit außerhalb der Stadt. Die Bezeichnung Wohnzimmer ist untertrieben, unbewohnte Halle genauer. Der Raum ist quadratisch, ich schätze 20 x 20 Meter, drei Seiten aus Glas, eine Türe nirgends sichtbar, durch die eine der Wände sieht man auf ein altes Städtchen hinunter, das, noch von der Autobahn verschont, von endlosen Autokolonnen durchrollt wird, die in der Abenddämmerung der Landschaft etwas Lebendiges, Gespenstisches geben, Lichterketten ziehen durch die Adern der alten Gemäuer, durch die zwei ändern Glaswände blickt man auf von hinten angestrahlte Findlinge, auf tonnenschwere erratische Blöcke, von Mock sparsam behauen, Granitgötter, die vor den Menschen die Erde beherrschten, die Gebirge aus der Tiefe zerrten, die Kontinente auseinanderrissen, Monolithen, die riesenphallengleich ihre Schatten in die damals leere Halle warfen, denn außer einem Konzertflügel befanden sich ihm in der Diagonale gegenüber nur noch zwei Klubsessel. Der Konzertflügel stand fast vor dem Eingang, denkbar ungünstig postiert, neben einer Holztreppe, die zu einer Empore führt, wo sich mehrere nicht sehr große Zimmer befinden müssen, schien doch das Haus, als ich mit dem Porsche angefahren kam, einstöckig zu sein, vom Städtchen aus gesehen hatte ich es als Bungalow in Erinnerung. In einem der beiden Klubsessel saß mein ehemaliger Chef, in einen Schlafrock gehüllt, unbeweglich, nur von einer Stehlampe zwischen den Sesseln beleuchtet. Ich räusperte mich, er rührte sich nicht, ich ging über die verschieden gefärbten, kunstvoll angeordneten Marmorplatten, womit der Boden der Halle ausgelegt war, Stüssi-Leupin rührte sich immer noch nicht. Ich setzte mich in den anderen Klubsessel, versank in einem Meer von Leder. Neben meinem Klubsessel entdeckte ich auf dem Boden in einem Körbchen eine entkorkte Flasche Rotwein, ein kleines tulpenförmiges Kristallglas und eine Schale mit Baumnüssen, das gleiche stand neben dem etwa vier Meter entfernten Klubsessel, in welchem Stüssi-Leupin saß, nur daß sich vor ihm noch ein Telefon auf dem Boden befand. Ich betrachtete Stüssi-Leupin. Er schlief. Ich dachte an das Porträt von Varlin, das ich für übertrieben gehalten hatte, erst jetzt erkannte ich die Genialität, mit welcher der Maler den Anwalt gesehen hatte: unter einem wirren Fell schlohweißer Haare ein quadratischer Bauernschädel, brutal zurechtgehauen, eine Nase wie ein knolliges Gewächs, tiefe Furchen, die sich zu dem wie von einem Meißel bearbeiteten Kinn hinunterzogen, der unsäglich trotzige und doch zarte Mund. Ich betrachtete dieses Gesicht, als wäre es eine mir vertraute und doch rätselhafte Landschaft, denn ich wußte wenig von Stüssi-Leupin, obgleich er einige Jahre mein Chef gewesen war, aber er hatte nie ein persönliches Wort mit mir gewechselt, vielleicht der Grund, weshalb ich nicht in seiner Kanzlei geblieben war.

Ich wartete. Plötzlich glotzten mich durch eine randlose Brille seine verwunderten Kinderaugen an.

«Warum trinken Sie denn nicht, Spät«, sagte er, hellwach, als hätte er nicht geschlafen (vielleicht hatte er auch nicht geschlafen),»schenken Sie sich ein, ich schenke mir ja auch ein.»

Wir tranken. Er beobachtete mich, schwieg und beobachtete mich.

Bevor wir auf die Schwierigkeit zu sprechen kämen, begann er und schaute vor sich hin, und er könne sich denken, worin sie bestünde, eine persönliche Bemerkung, die auch mit den Skrupeln zu tun habe, die mich jetzt plagten, derentwegen ich anmarschiert käme — na ja, auch nicht ganz richtig, ich sei ja mit einem Porsche vorgefahren, nobel, nobel.

Er lachte in sich hinein, irgend etwas schien ihn ungemein zu amüsieren, trank und fuhr fort, ob er mir je seine Lebensgeschichte erzählt habe. Nein? Wozu auch. Schön. Er sei der Sohn eines Bergbauern, und seine Familie nenne sich Stüssi-Leupin, um nicht mit den Stüssi-Bierlin verwechselt zu werden, mit denen seine Familie seit Menschengedenken in einem Streit um einen Kartoffelacker liege, der so steil sei, daß sie ihn jedes Jahr wieder herauf buckeln müßten, und das oft mehrere Male, der, habe man Glück, die Kartoffeln für drei, vier Röstis liefere, und dennoch werde um dessentwillen prozessiert, geprügelt und gemordet. Noch jetzt. Kurz und gut, junger Kollege, nach seinem Studium habe er sich gleich in seinem Heimatdorf als Rechtsanwalt angesiedelt, im Stüssi-Dorf, wie es genannt werde, seien doch nicht nur die Stüssi-Leupin mit den Stüssi-Bierlin, sondern auch die Stüssi-Moosi mit den Stüssi-Sütterlin verfeindet und so die ganzen Stüssis hindurch, doch das sei nur am Anfang gewesen, bei der Dorfgründung sozusagen, wenn es so eine je gegeben habe, heute sei jede Stüssi-Familie mit jeder anderen verkracht. Und in diesem Bergnest, Spät, in diesem Genist von Familienzwist, Mord, Inzest, Meineid, Diebstahl, Unterschlagung und Verleumdung habe er seine Lehrjahre als Bauernanwalt durchgemacht, als Fürsprecher, wie dort die Leute sagen, nicht um die Justiz in dieses Tal einzuführen, sondern um sie von ihm fernzuhalten, ein Bauer, der einen Unfall seiner Alten vortäusche und seine Magd heirate, oder eine Bäuerin den Knecht, nachdem sie ihren Alten mit Arsen auf den Friedhof gezaubert habe, nützten auf ihren Höfen mehr als im Gefängnis. Leere Gefängnisse kosteten den Staat weniger als volle, leere Bauernhöfe, und die Matten verfilzten und die Heimaterde rutsche ins Tal.

Er lachte vor sich hin.

«Himmel, ist das noch eine Zeit gewesen!«staunte er.»Da muß mich der Teufel reiten, und ich heirate eine von Melchior, gehe in unsere verschissene Stadt und werde Staranwalt. Wie ist das Wetter?»

«Föhn. Viel zu warm für den Dezember«, antwortete ich.»Wie im Frühling.»

«Gehen wir nach draußen?»

«Gern«, antwortete ich.

«Gehen ist vielleicht nicht gerade das richtige Wort«, meinte er, drückte auf einen Knopf in der Lehne seines Klubsessels, und die überdimensionierten Glaswände senkten sich in den Boden, die Scheinwerfer hinter den Findlingen erloschen. Wir saßen unter der freischwebenden Betondecke wie im Freien, nur von der Stehlampe beschienen.

Eine aufschneiderische Konstruktion, meinte er, vor sich hin starrend. Er komme sich wie der Führer in der Reichskanzlei vor. Aber was wollen Sie, Spät, als Staranwalt müsse er sich einen Van der Heussen leisten, obwohl ihm der Füdlibürger Friedli lieber wäre. Schicksal, komme man in Mode. Und nun sitze er allein hier. Einst habe es in dieser Halle ein Fest um das andere gegeben, die Leute im Städtchen hätten sich beschwert, auch Füdlibürger, bis — nun, das tue nichts zur Sache. Die Möbel habe er drauf hin fortschaffen lassen. Alles modernes Zeug.

Dann sagte er, sich Wein einschenkend:»Kommen wir zur Sache, Spät.»

Ich berichtete vom Auftrag Dr.h.c. Isaak Kohlers.

Er sei im Bild, unterbrach Stüssi-Leupin meine Ausführungen, trank, auch die Knulpes seien bei ihm gewesen. Über meinen Auftrag habe ihn Hélène unterrichtet, Kohlers Tochter, und die Recherchen Lienhards und Konsorten habe er auch studiert.

Ich erzählte von meinen Überlegungen über Kohlers Motive, von Hélènes Verdacht, er sei gezwungen worden, den Mord zu begehen, berichtete auch von meiner Begegnung mit Daphne, von meinem Besuch bei der echten Monika Steiermann und vom Auftauchen Bennos in meinem Büro.

«Junger Mann, haben Sie eine Chance«, staunte Stüssi-Leupin und schenkte sich erneut Wein ein.

«Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, antwortete ich unsicher.

«Natürlich verstehen Sie«, entgegnete Stüssi-Leupin; —»sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Machen wir einmal das Spiel Kohlers mit. Einmal angenommen, er sei nicht der Mörder, ist ein anderer Mörder verdammt leicht zu finden. Es kann nur Benno sein, darum schlottert er ja. Er hat über zwanzig Millionen von der vermeintlichen Steiermann durchgebracht, Winter hat die echte Steiermann aufgeklärt, die Verlobung geht in Brüche, Benno wird ruiniert, schießt Winter im >Du Théâtre< über den Haufen. Voilà. Das ist die Version, die Ihr Auftraggeber braucht und die Sie brauchen werden.»

Stüssi-Leupin hielt sein Glas gegen das Licht der Stehlampe. Vom Städtchen her tutete es herauf, minutenlang, nach den stehenden Lichtern der Scheinwerfer zu schließen, hatten sich die Autokolonnen ineinander verkeilt.

Stüssi-Leupin lachte:»Ausgerechnet einem Grünschnabel wie Ihnen muß der schönste Revisionsprozeß des Jahrhunderts in den Schoß fallen.»

«Ich habe keinen Auftrag, einen Revisionsprozeß zu führen«, sagte ich.

«Der Auftrag, den Sie angenommen haben, führt dazu.»

«Kohler hat Winter ermordet«, stellte ich fest.

Stüssi-Leupin wunderte sich.»Na und?«sagte er.»Sind Sie dabeigewesen?»

Hinten im Raum kam eine schwarze Gestalt die Holztreppe herunter und hinkte auf uns zu.

Beim Näherkommen erkannte ich, daß es sich um einen Priester handelte, der eine kleine schwarze Handtasche trug. Er blieb etwa drei Meter vor Stüssi-Leupin stehen, hustete, die Scheiben tauchten wieder herauf, die Scheinwerfer setzten ein, die granitenen Götter warfen ihre Schatten in den wieder geschlossenen Raum. Der Priester war uralt, schief, verrunzelt und hatte einen Klumpfuß.

«Ihre Frau hat die Letzte Ölung bekommen«, sagte er.

«In Ordnung«, sagte Stüssi-Leupin.

«Ich werde für sie beten«, versicherte der Priester.

«Für wen?«fragte Stüssi-Leupin.

«Für Ihre Frau«, präzisierte der Priester.

«Ihr Beruf«, antwortete Stüssi-Leupin gleichgültig und schaute auch nicht hin, als der Priester etwas murmelte und dem Ausgang zuhinkte, wo ihm die Hausdame, die auch mich hereingelassen hatte, die Türe öffnete.

«Meine Frau liegt im Sterben«, meinte Stüssi-Leupin beiläufig und trank sein Glas aus.

«Unter diesen Umständen…«, stammelte ich und erhob mich.

«Mein Gott, Spät, sind Sie zimperlich«, sagte Stüssi-Leupin.»Nehmen Sie wieder Platz!»

Ich setzte mich, er schenkte sich neu ein. Die Glaswände versanken in die Erde, die Scheinwerfer erloschen, wir saßen wieder im Freien.

Stüssi-Leupin starrte vor sich hin.

«Meine Frau hat die Größe, mir die Tortur zu ersparen, ihrem Sterben beizuwohnen«, sagte er, und es klang gleichgültig,»dazu ist der Priester bei ihr gewesen, und jetzt sind der Arzt und eine Krankenschwester bei ihr. Meine Frau, Spät, sie ist nicht nur saulebenslustig gewesen, saureich und saukatholisch, sie ist auch sauschön. Komisch, unser Schweizerdeutsch. Sie hat mich ein Leben lang betrogen. Der Arzt, der bei ihr sitzt, ist ihr letzter Liebhaber gewesen. Aber ich verstehe sie. Ein Mann wie ich ist Gift für die Weiber.»

Er lachte vor sich hin, wechselte dann unvermittelt das Thema.

Ich sei ein Narr, meinte er, ich hielte Dr. Isaak Kohler für schuldig. Er, Stüssi-Leupin, auch. Zwar widersprächen sich alle Zeugen, zwar sei die Mordwaffe nie gefunden worden, zwar fehle ein Motiv. Trotzdem. Wir hielten ihn für schuldig. Warum? Weil der Mord in einem überfüllten Restaurant geschehen sei. Die Anwesenden hätten es irgendwie bemerkt, auch wenn sie sich nun widersprächen. Wir wüßten es also nicht unbedingt, aber wir glaubten es unbedingt. Das habe ihn schon beim Prozeß gewundert. Weder sei nach dem Revolver gefragt noch seien Zeugen vernommen worden, auch habe sich der Richter mit der Aussage des Kommandanten zufriedengegeben, der zwar bei der Tat in der Nähe gesessen sei, aber weder erwähnt habe, ob er den Mord direkt gesehen oder Zeugen vernommen hatte, dazu sei der Verteidiger eine Niete und Jämmerlin in Hochform gewesen. Wir hätten unsere liebe Mühe, unser Wissen über Kohlers Schuld unserem Glauben an Kohlers Schuld anzugleichen. Unser Wissen hinke unserem Glauben hinterher, ein geschickter Verteidiger fabriziere allein aus dieser Diskrepanz schon einen Freispruch. Doch sollten wir unserem guten Jämmerlin noch eine Chance geben, nach einem Motiv zu suchen. Kohler habe mir den lukrativen Auftrag zugeschanzt, weil ich nichts von Billard verstehe. Ich hätte daraus den Schluß gezogen — er habe aufmerksam zugehört —, Kohler hätte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze der Gesellschaft zu untersuchen, und nur deshalb sein Motiv nicht angegeben, weil er damit vor Gericht keinen Glauben gefunden hätte. Lieber Freund, er könne dazu nur sagen, so ein Motiv sei zu literarisch, Schriftsteller erfänden solche Motive, wenn er auch glaube, bei einem Mann wie Kohler müsse es sich um ein besonderes Motiv handeln. Aber um welches?

Stüssi-Leupin überlegte.

«Sie haben den falschen Schluß gezogen«, sagte er dann.»Weil Sie von Billard nichts verstehen. Kohler hat à la bande gespielt.»

«A la bande«, erinnerte ich mich.»Das hat Kohler einmal gesagt. Beim Billard im >Du Théâtre<. >A la bande, so muß man den Benno schlagen.<»

«Und wie hat er gespielt?«fragte Stüssi-Leupin.

«Ich weiß nicht recht«, dachte ich nach.»Kohler hat die Kugel an die Umrandung gespielt, von dort ist die Kugel zurückgeprallt und hat Bennos Kugel getroffen.»

Stüssi-Leupin schenkte sich Wein ein.

«Kohler hat Winter erschossen, um Benno zu erledigen.»

«Warum denn?«fragte ich verständnislos.

«Spät, Sie sind auch gar zu naiv«, wunderte sich Stüssi-Leupin.»Dabei hat Ihnen die Steiermann das Stichwort geliefert. Kohler führt ihre Geschäfte. Auch vom Zuchthaus aus. Der flechtet nicht nur Körbe. Die Steiermann braucht Kohler, und Kohler braucht die Steiermann, Lüdewitz ist Attrappe. Aber wer ist Herr, wer Knecht? Irgendwie hat Kohlers Tochter recht. Es war ein Gefälligkeitsmord. Warum nicht? Auch eine Art Erpressung. Die Abermillionen liegen bei der Steiermann, die zwanzig Millionen waren ihre zwanzig Millionen, da wird Kohler gespurt haben, und so hat er über Winter Benno erledigt. Auf Wunsch der Steiermann. Vielleicht brauchte sie den Wunsch gar nicht auszusprechen. Vielleicht hat er ihn nur erraten.»

«Eine noch wahnwitzigere These als die Wahrheit«, sagte ich.»Die Steiermann hat Benno geliebt, weil Daphne ihn geliebt hat, und hat ihn erst fallenlassen, als Daphne sie verlassen hat.»

«Eine realistischere These als die Wahrheit. Die ist meistens unglaubhaft«, entgegnete er.

«Ihre These wird kein Mensch abnehmen«, sagte ich.

«Die Wahrheit wird kein Mensch abnehmen«, antwortete er,»kein Richter, kein Geschworener, nicht einmal Jämmerlin. Sie spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar sind. Die einzige These, die der Justiz einleuchten wird, kommt es zum Revisionsprozeß, ist die, daß Dr. Benno der Mörder ist. Er allein hat ein handfestes Motiv. Auch wenn er unschuldig ist.»

«Auch wenn er unschuldig ist?«fragte ich.

«Stört Sie das?«antwortete er.»Auch seine Unschuld ist eine These. Er ist der einzige, der den Revolver hätte verschwinden lassen können. Mein Bester, führen Sie den Revisionsprozeß durch, und in einigen Jahren sind Sie meinesgleichen.»

Das Telefon läutete. Er nahm es ab, legte wieder auf.

«Meine Frau ist tot«, sagte er.

«Mein Beileid«, stammelte ich.

«Nicht der Rede wert«, sagte er.

Er wollte sich wieder Wein einschenken, aber die Flasche war leer. Ich stand auf und schenkte ihm ein, stellte meine Flasche neben die seine.

«lch muß noch fahren«, sagte ich.

«Verstehe«, antwortete er,»der Porsche hat auch gekostet.»

Ich setzte mich nicht mehr.»Ich übernehme den Revisionsprozeß nicht, Herr Stüssi-Leupin, und auch mit dem Auftrag will ich nichts mehr zu tun haben. Ich vernichte die Ermittlungen«, erklärte ich. j

Er hielt sein Glai gegen die Stehlampe.

«Wieviel beträgt der Vorschuß?«fragte er.

«Fünfzehntausend und zehntausend als Spesen.»

Die Treppe kam ein Mann mit einer Tasche herunter, offenbar der Arzt, zögerte, überlegte, ob er zu uns kommen solle, dann kam die Hausdame, führte ihn hinaus.

«Sie werden Mühe haben, das abzustottern«, meinte Stüssi-Leupin:»Wieviel im ganzen?»

«Dreißigtausend und die Spesen«, antwortete ich.

«Ich biete Ihnen vierzigtausend, und Sie übergeben mir, was Sie ermittelt haben.»

Ich zögerte.

«Sie wollen den Revisionsprozeß führen.»

Er betrachtete immer noch sein Glas mit dem roten Talbot.»Meine Angelegenheit. Verkaufen Sie mir nun die Papiere?»

«Ich muß wohl«, antwortete ich.

Er trank das Glas aus.»Sie müssen nicht, Sie wollen. «Dann füllte er das Glas von neuem, hielt es wieder gegen das Licht.

«Stüssi-Leupin«, sagte ich und fühlte mich gleichwertig,»kommt es zum Prozeß, werd ich Bennos Anwalt.»

Ich ging. Als ich den Schatten eines Findlings erreicht hatte, sagte er noch:»Sie sind nicht dabeigewesen, hämmern Sie sich das ein, Spät, Sie sind nicht dabeigewesen, und ich bin nicht dabeigewesen.»

Dann leerte er sein Glas und schlief wieder ein.


… Dr.h.c. Isaak Kohler hat mir telegrafisch seine Ankunft angezeigt: Er wird übermorgen um 22 Uhr 15 von Singapur kommend landen, und ich werde ihn erschießen, und dann werde ich mich erschießen. Damit bleiben mir noch zwei Nächte, meinen Bericht zu Ende zu führen. Die Ankündigung überraschte mich, vielleicht, daß ich nicht mehr an seine Rückkehr glaubte. Zugegeben, ich bin betrunken. Ich war im >Höck<, ich war in der letzten Zeit immer im >Höck<, an den langen Holztischen, zwischen ebenfalls Betrunkenen. Lebe von Giselle und von den Mädchen, die seit dem Tode des Marquis hierhergezügelt sind, nicht von Neuchâtel, sondern von Genf und Bern, während viele von hier nach Genf oder Bern gezogen sind, eine beträchtliche Umorganisiererei hat eingesetzt, mit der ich persönlich nichts zu tun habe, legal darf ich nichts tun, und illegal habe ich nichts zu tun, als auf übermorgen 20 Uhr 15 zu warten. Luckys Position hat der Orchideen-Noldi übernommen, er soll von Solothurn kommen, in Frankfurt Karriere gemacht haben und ist sehr vornehm, seine Mädchen tragen jetzt Orchideen, die Polizei ist wütend, Orchideen lassen sich nicht verbieten, eine Juristin aus Basel, die um ein Uhr nachts beim Bellevue über die Straße ging, eine Orchidee an der Bluse — sie kam von einer Diskussion über das Frauenstimmrecht im Fernsehen —, wurde verhaftet, sie hatte nichts bei sich, sich auszuweisen, es entstand ein Bombenskandal, die Polizei, der Polizeivorsteher — letzterer durch ein ungeschicktes Dementi — machten sich lächerlich. Orchideen-Noldi herrscht unumschränkt, hat sich jetzt Rechtsanwalt Wieherten geholt, einen unserer angesehensten Rechtsanwälte, der sich aus sozialen Beweggründen für das Recht jener Damen, die schließlich auch Steuern zahlen, einsetzen will und die Einführung von Massagesalons befürwortet. Mir selber deutete der Orchideen-Noldi an, daß ich» mit meinem Lebenswandel «für das Gewerbe nicht mehr tragbar sei, aber er werde mich nicht fallenlassen, das sei er Lucky schuldig, er habe mit seinem Personal, wie er sich ausdrückte, gesprochen, so daß ich einstweilen im >Höck< bleiben darf, auch der Kommandant hat mich nicht mehr belästigt, niemand scheint daran interessiert zu sein, wie Lucky und der Marquis ums Leben gekommen sind, und der doch unaufgeklärte Tod Daphnes ist in Vergessenheit geraten. So bin ich denn zwar kein Zuhälter, aber ein Ausgehaltener. Wenn mich im >Höck< die Gäste um Adressen fragen, mit denen ich, ohne Geld zu verlangen, herausrücke, worauf mir die Gäste — meist ältere Herren — den Whisky bezahlen, ist das nur nobel, eigentlich selbstverständlich. Das zur Begründung meines alkoholisierten Zustandes, meiner schlechten Handschrift und meiner Eile, denn ehrlich gesagt, als ich das Telegramm Kohlers vorfand, ging ich vorerst auf eine Sauftour, kam irgendwie in die Spiegelgasse zurück und sitze nun zwanzig Stunden später an meinem Schreibtisch. Zum Glück habe ich noch eine Flasche Johnnie Walker bei mir, zu meiner Verwunderung, aber jetzt erinnere ich mich an den Zahnarzt aus Thun, der mich im >Höck< aufgesucht hat und den ich Giselle im >Monaco< vorgestellt habe — ich bin vom >Monaco< gekommen und nicht vom >Höck<, wie ich wahrscheinlich behauptet habe —, die Eile, die bei dieser Niederschrift geboten ist, verbietet sowohl das Wiederlesen des Geschriebenen als auch das Abschweifen — die Flasche Johnnie Walker war verdient —, Giselle war vom Zahnarzt nicht angetan, es grauste ihr, er nahm beim Veuve Cliquot — bei der zweiten Flasche — seine Gebisse aus dem Mund, zuerst das obere und dann das untere, die er sich selber verfertigt hatte, zeigte er uns doch neben dem Weisheitszahn links des oberen Gebisses seine Initialen, C. V., nahm die Gebisse in die Hand, klapperte mit ihnen und versuchte, damit Giselle in den Busen zu beißen, Hindelmann am Nebentisch liefen vor Lachen die Tränen auf den Bauch, besonders als dem Zahnarzt seine Gebisse unter den Tisch fielen, und nicht nur unter den unsrigen, sondern auch unter Hindelmanns Tisch, an dem dieser mit Marilyn saß, einer Neuen aus Olten, woher auch der Orchideen-Noldi kommt — nein, aus Solothurn — oder doch aus Olten — , worauf der Zahnarzt auf allen vieren seine Gebisse suchen mußte, die keiner aufheben wollte, sondern mit den Schuhen unter den nächsten Tisch stieß. Endlich wollte Giselle doch, vor lauter Lachen war es spät geworden, und ich bekam meinen Johnnie Walker. Daß ich mich über Hindelmanns Wiehern ärgerte, liegt daran, daß er im Prozeß Kohler ein gar zu kläglicher Vertreter der Anklage war. Prozeß, nicht Revisionsprozeß. Alle erwarteten, daß Stüssi-Leupin einen Revisionsprozeß anpeile, aber er überraschte durch seine Eingabe an das Justizdepartement. Dr.h.c. Isaak Kohler habe nie zugegeben, den Germanisten Professor Adolf Winter im Restaurant >Du Théâtre< niedergeschossen zu haben. Ein bloßer Augenzeugenbericht genüge nicht, wenn der Täter die Tat abstreite, auch Augenzeugen könnten irren. Der Fall Kohler gehöre deshalb vor das Geschworenengericht und nicht vor das Obergericht. Es müsse deshalb alles juristisch und gesetzlich Mögliche unternommen werden, das alte Urteil für ungültig zu erklären und den Fall Kohler vor ein Geschworenengericht zu bringen, das ihm zukomme. Diese Eingabe Stüssi-Leupins, ein fieberhaftes Durchstöbern der Akten und Protokolle bewirkend, die zum Entsetzen des Justizvorstehers Moses Sprünglin das Fehlen eines Schuldbekenntnisses bestätigten — man hatte Kohlers philosophische Floskeln als solches genommen —, hatte zur Folge, daß der Justizvorsteher den Vorsitzenden Oberrichter Jegerlehner vorzeitig pensionierte und die vier Beisitzenden Oberrichter sowie Staatsanwalt Jämmerlin rüffelte, den Fall Kohler dem Geschworenengericht zuwies — ein rechtlich etwas überstürztes Vorgehen. Jämmerlins Tobsuchtsanfall nützte nichts, seine Eingabe ans Bundesgericht wurde mit geradezu sensationeller Eile abgelehnt, sozusagen umgehend, ein einmaliger Fall bei dieser durch Arbeitsüberlastung im Schneckentempo arbeitenden Behörde, kurz, der neue Prozeß Kohler kam schon im April 1957 zustande. Jämmerlin gab nicht nach, er wollte erneut als Ankläger auftreten, doch wurde er von Stüssi-Leupin als befangen abgelehnt. Er wehrte sich wie der Satan, gab erst nach, als er hörte, daß Stüssi-Leupin auch Lienhard als Zeugen aufgeboten hatte. Sicher, auch Feuser wäre Stüssi-Leupin nicht gewachsen gewesen, wobei mir bewußt wird, daß ich über den Prozeß selber noch nicht berichtet habe, nichts über die traurige Rolle, die der Kommandant darin spielte, der aussagte, er habe nicht gesehen, wie Kohler geschossen habe, er habe es nur angenommen. Überhaupt zog Stüssi-Leupin alle Register. Er war glänzend, ich gebe es zu. Die aufgebotenen Zeugen widersprachen sich derart, daß die Geschworenen oft das Lachen verbeißen mußten und das Publikum vor Vergnügen quietschte; daß der Revolver nie gefunden wurde, spielte Stüssi-Leupin nach Noten aus, daß dieser Umstand im ersten Prozeß übergangen, daß somit das Corpus delicti fehlte, allein schon ein Grund, Kohler des mangelnden Beweises wegen freizusprechen. Doch allmählich lenkte Stüssi-Leupin den Verdacht auf Benno, zur Tatzeit im >Du Théâtre<, immerhin auf einen Schweizermeister im Pistolenschießen, Besitzer einer Revolversammlung, die er laut Lienhard aus finanzieller Notwendigkeit heraus verkauft haben will — ein Raunen ging durch den Saal —, dann folgten Andeutungen über ein Zerwürfnis zwischen Dr. Benno und Professor Winter, ein Verhör Bennos war unumgänglich, alle sahen der Einvernahme mit Spannung entgegen, aber Dr. Benno erschien nicht vor dem Geschworenengericht. Ich hatte ihn schon tagelang gesucht. Ich war entschlossen, seine Verteidigung zu übernehmen, wie ich es Stüssi-Leupin verkündet hatte, dazu hatte ich Informationen von Benno nötig, um gegen Kohler zu recherchieren, aber auch in der >Himmmelfahrtsbar< wußte niemand Bescheid. Feuchting vermutete, er habe sich bei Daphne versteckt, diese sei eine gute Haut und lasse ihre alten Liebhaber nicht im Stich, ein gewisser Emil E., ein Deodorant-Vertreter, der letzthin bei ihr in der Aurorastraße einen Monatslohn hinterlassen habe, hätte den Eindruck gehabt, es sei noch jemand in ihrem Appartement. Er blieb unauffindbar. Man dachte, er sei geflohen. Die Polizei wurde aufgeboten, Interpol eingeschaltet, es ging beinahe zu wie bei Isaak Kohlers Verhaftung. Daphne machte Schwierigkeiten, verlangte eine richterliche Verfügung, ihre Wohnung zu durchsuchen, und als Ilse Freude am nächsten Morgen mein Büro am Zeltweg betrat, fand sie den flotten Fechter und Meisterschützen am Lüster baumelnd, vom Luftzug geschaukelt, dadurch entstanden, daß das Fenster offen und sie die Türe geöffnet hatte, Benno hatte einen Schlüssel zu seinem alten Büro behalten und war auf meinen Schreibtisch geklettert, der einst der seine war, während ich bei Daphne, um Benno doch noch auf zutreiben — ich duftete noch tagelang nach allen möglichen Essenzen, die der Deodorant-Vertreter Emil E… Vielleicht liegt darin der Grund, daß ich über diesen Prozeß so ungern berichte: Mein erneutes Verhältnis mit Daphne wäre zur Sprache gekommen, und dies in Gegenwart Hélènes, hätte Stüssi-Leupin Daphne verhört, was er sicher getan hätte, wäre ihm Benno durch seinen Selbstmord nicht zuvorgekommen, was man als Geständnis seiner Schuld interpretierte: Dr.h.c. Isaak Kohler wurde mit Glanz und Gloria freigesprochen. Als er den Saal verließ und an mir vorbeikam, blieb er stehen und betrachtete mich mit seinen kalten, leidenschaftslosen Augen und sagte, was sich jetzt abgespielt habe, sei die erbärmlichste Lösung gewesen, daß ich in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei, mein Gott, das sei verständlich, warum ich denn nicht zu ihm gekommen sei, statt die Recherchen Stüssi-Leupin zu übergeben, der dieses häßliche Justiztheater inszeniert habe, ein Freisprüch, pfui Teufel, es sei peinlich, als ein Unschuldslamm dastehen zu müssen, wer sei denn schon ein solches, und dann sagte er einen Satz, der mich zur Weißglut brachte, der mir klarmachte, daß es meine Pflicht war, Kohler zu erschießen, denn jemand mußte die Gerechtigkeit wiederherstellen, sollte sie nicht ganz und gar zur Farce werden: Hätte ich ihm, sagte er nämlich, die Recherchen abgeliefert statt an Stüssi-Leupin verkauft, so hätte Benno auch ohne Prozeß am Lüster gebaumelt, und damit gab er mir einen Stoß, als sei ich ein Lumpenhund, daß ich auf Mock taumelte, der hinter mir stand, seinen Hörapparat in der Westentasche versorgte und» na ja «sagte. Kohler verließ das Gerichtsgebäude. Siegesfeier im Zunfthaus >Zur Ameise<. Ansprache des Stadtpräsidenten in Hexametern, dann ab nach Australien, und ich komme mit meinem Revolver zu spät angerannt. Man kennt die Geschichte. Das sind jetzt anderthalb Jahre her, und wieder ist es Herbst. Immer ist es Herbst. Mein Gott, wieder betrunken, ich fürchte, daß meine Handschrift unleserlich wird, und es ist elf Uhr mittags — noch 3 5 Stunden 15 Minuten —, saufe ich weiter, kommt es zur Katastrophe. Schrecklich, wenn Hélène mich noch lieben würde, es wäre mein Todesurteil. Ich kann nur versichern, daß ich sie liebte, ja vielleicht noch liebe, obgleich sie mit dem alten Knochen Stüssi-Leupin schläft, und letzthin sah ich sie mit Friedli, er hatte seine Rechte um ihre Schulter gelegt, als wäre sie längst sein Eigentum, aber eigentlich spielt das keine Rolle. Es ist nicht nötig, über unsere Liebe zu schreiben, ebenso unnötig wie über das Gespräch mit dem Sektenprediger Berger vorhin auf der Treppe — vorhin, ich ging doch noch einmal ins >Höck<, aber es war ein Mißerfolg, kein Whisky war aufzutreiben, die Stammgäste schauten ein Fußballspiel und waren schlechter Laune, weil die Schweizer so schlecht spielten, und die Typen, die sonst nach Adressen fragten, waren auch schlechter Laune. Das >Monaco< war geschlossen. Ich hatte kein Geld bei mir, das Portemonnaie hatte ich vergessen, ich mußte Whisky haben, ich wankte ins >Du Théâtre<, auch das war leer, Alfrede, wenn es Alfredo war, schaute mich merkwürdig an, Ella und Klara kamen entschlossen aus dem Hintergrund, jemand rief meinen Namen. Stüssi-Leupin saß am Tisch, wo James Joyce immer gesessen hatte, und lud mich mit einer Handbewegung ein, mich zu ihm zu setzen. Ella und Klara sahen es ungern, aber Stüssi-Leupin ist Stüssi-Leupin. Ich solle mir die Hose zuknöpfen, sagte er, und als ich mich gesetzt hatte, meinte er, ich ließe mich verdammt gehen, und goß Kirsch in seinen Kaffee. Ich brauche eine Flasche Whisky, sagte ich gedankenabwesend, mein Zustand war hoffnungslos, ich begriff, daß ich ohne Whisky nicht mehr leben konnte, eine panische Furcht ergriff mich, keinen Whisky auftreiben zu können, alles wehrte sich in mir, etwas anderes als Whisky zu trinken, etwa Wein oder Bier oder Schnaps oder gar jenen sauren Apfelmost, den hier die Clochards saufen (weshalb sie zwar eine Säuferleber, aber keinen Rheumatismus haben), ein Rest von Menschenwürde in mir verlangte, nur Whisky zu trinken, der Gerechtigkeit zuliebe, die mich zugrunde richtet, und da stellte Ella schon ein Glas vor mich hin. Das Stüssi-Tal hätte wieder einen Rechtsanwalt nötig, meinte Stüssi-Leupin trocken, sein Nachfolger, der Fürsprecher Stüssi-Sütterlin, sei auf der Jagd erschossen worden, jemand habe ihn für eine Gemse gehalten, entweder ein Stüssi-Bierlin oder ein Stüssi-Feusi, auch ein Stüssi-Moosi komme in Frage, der Untersuchungsrichter in Flötigen habe den Fall ad acta gelegt, hoffnungslos, ihn aufzuklären, das wäre doch ein Posten für mich, ich wäre der erste Nicht-Stüssi als Fürsprecher, daß ich wieder zu meinem Anwaltspatent käme, ließe sich schon einrichten. Ausgerechnet mir mache er diesen Vorschlag, antwortete ich und trank den Whisky in einem Zug aus, ausgerechnet Ihnen, antwortete er, wissen Sie, Spät, fuhr er fort, es sei Zeit, daß ich aus allem meine Schlüsse ziehe, wenn es seine, Stüssi-Leupins, Leidenschaft sei, auch Schuldige aus dem Haifischrachen der Justiz zu retten, wenn sie eine Chance hätten, ihm zu entgehen, um einmal dieses Bild zu brauchen, so nicht, um die Justiz zum Narren zu halten. Ein Rechtsanwalt sei kein Richter, ob er an die Gerechtigkeit und an die aus dieser Idee deduzierten Gesetze glaube oder nicht, sei seine Sache, das sei letztlich eine metaphysische Angelegenheit, wie etwa die Frage nach dem Wesen der Zahl, aber als Rechtsanwalt habe er zu untersuchen, ob ein von der Justiz erfaßtes Subjekt von ihr als schuldig oder unschuldig betrachtet werden dürfe, gleichgültig, ob es schuldig oder unschuldig sei. Hélène habe ihm von meinem Verdacht erzählt, aber meine Recherchen seien ungenügend gewesen, Hélène sei damals zwar Stewardeß gewesen — Herrgott, zu jener Zeit glaubte man noch, jener Beruf sei etwas Besonderes —, aber nicht im Flugzeug, in welchem der englische Minister nach seiner Insel zurückgeflogen sei. Der sei mit einem englischen Militärflugzeug zurückgeflogen worden, und dabei würde wohl kaum eine Swissair-Stewardeß gebraucht. Daß Hélène damals auf meine Frage so unbestimmt geantwortet habe, sei begreiflich, sie hätte die Bedeutung der Frage nicht gleich begriffen, was dagegen die Worte Kohlers betreffe, die er an mich gerichtet und von denen ihm Mock berichtet habe, so seien sie ihm unverständlich. Kohler habe einen neuen Prozeß gewollt, er hätte ja nur, um nicht als Unschuldsengel dazustehen, erklären müssen, er habe den alten PEN-Bruder abgeknallt und wie, verflixt einmal, er den Revolver habe verschwinden lassen, er, Stüssi-Leupin, habe ein verdammt ungutes Gefühl, daß er den Alten freibekommen habe, sei seine juristische Pflicht gewesen, aber nun dünke ihn, er habe ein Raubtier freigelassen, einen Einzelgänger, die immer am gefährlichsten seien, hinter Kohlers Vorgehen stecke ein Motiv, mit dem er nicht herausrücke, zuerst habe er geglaubt, die Steiermann bediene sich des Kohlers, jetzt scheine ihm, Kohler bediene sich der Steiermann. Winter, Benno, Daphne, die beiden Zuhälter, etwas viel Tote, und plötzlich würde ich, gäbe ich mich nicht zufrieden, aus der Sihl gefischt. Na ja, dann hatte ich eben meine Flasche, und wie ich in die Spiegelgasse geraten bin, weiß ich nicht — Ella hatte, während mir Stüssi-Leupin seine Weisheiten auftischte, noch einen Whisky hingestellt —, daß ich überhaupt imstande war, sein Gespräch wiederzugeben, ist ein Wunder, es ist schon halb zwei nachts, ich muß inzwischen eingenickt sein — noch etwas mehr als zwanzig Stunden — neunzehn Stunden, ich habe mich verschaut, es ist halb drei Uhr nachts — wird Kohler — Dr.h.c. Isaak Kohler —, das Gespräch mit Simon Berger muß auf der Treppe stattgefunden haben, als ich mit dem Whisky Stüssi-Leupins in die Spiegelgasse zurückgekehrt bin. Es müssen Wochen vergangen sein, seit die Psalmen der Letzten vom Uetli verstummt sind, plötzlich hatten sie aufgehört zu dröhnen — Stuber von der Sitte hatte mich aufgesucht und mir nicht undeutliche Winke gegeben, daß man amtlicherseits einen Zusammenhang zwischen mir und dem organisierten Strich weiterhin vermute, als der Psalm >Jesu Christ, an deinen Wunden< jäh abbrach, darauf ertönte ein Schreien, Protestieren, Aufheulen, ein Lärm sondergleichen, darauf ein Treppen-Hinunterpoltern von vielen Füßen, dann Totenstille, und Stuber setzte seine Vermutungen fort: Darum hätte ich eigentlich erstaunt sein müssen, vor der Türe des Sektenlokals im Stockwerk unter mir den Prediger vorzufinden. Er lehnte gegen die Türe, unbeweglich, ich wollte an ihm vorbei, er taumelte gegen mich. Er wäre gefallen, hätte ich ihn nicht aufgefangen. Wie ich ihn von mir schob, sah ich, daß sein Gesicht verbrannt und augenlos war. Entsetzt wollte ich weitergehen, die Treppe hinauf, in mein Zimmer, aber Berger ließ mich nicht los, er umklammerte mich und schrie, er habe in die Sonne gestarrt, um Gott zu schauen, und wie er Gott erblickt habe, sei er sehend geworden, vorher sei er blind gewesen, aber nun sehe er, sehe er, und dies schreiend, riß er mich nieder, worauf wir auf die Treppe zu liegen kamen, die zu meinem Zimmer führte. Ich weiß nicht, was er mir alles erzählte, ich war zu betrunken, um es zu begreifen, wahrscheinlich war es Unsinn, was er vom Innern der Sonne schwatzte, von der totalen Finsternis, die dort herrsche, die eins sei mit der Verborgenheit Gottes, die man nur zu erkennen vermöge, wenn man sich von der Sonne die Augen ausbrennen lasse, erst dann nehme man wahr, wie sich Gott als dimensionsloser Punkt vollendeter Schwärze im Sonneninnern vertiefe, mit unendlichem Durst die Sonne in sich aufsauge, in sich hineinschlürfe, ohne größer zu werden, als sei er ein Loch ohne Boden, der Abgrund des Abgrunds, und wie sich die Sonne nach innen entleere, so weite sie sich aus, noch bemerke man nichts, doch morgen halb elf Uhr nachts werde es soweit sein, die Sonne werde, nur noch Licht geworden, aufstrahlen und sich ausweiten, mit Lichtgeschwindigkeit, und alles versengen, die Erde werde im ungeheuren Lichtschein verdampfen, so ungefähr, er sprach wie betrunken zu einem Betrunkenen, der ich damals war und der ich jetzt noch betrunkener bin und nicht weiß, warum ich von diesem Sektenprediger schreibe, der verhüllt vor seine Gemeinde trat, ihr den Weltuntergang verkündete und mit der Aufforderung, seine Anhänger sollten sich wie er die Augen von der Sonne ausglühen lassen, das Tuch vom Kopf riß: Das Schreien, Protestieren, Aufheulen, der Lärm sondergleichen, den ich gehört hatte, die die Treppe hinunterpolternde Gemeinde war die Antwort gewesen. Wiedergelesen, was ich geschrieben habe. Noch drei Stunden etwa, bis ich zum Flughafen aufbrechen muß. Der Kommandant war schon um halb acht morgens gekommen, oder noch früher, er saß vor meiner Couch, ich war erstaunt, als ich erwachte, ihn dasitzen zu sehen, das heißt, ich bemerkte ihn erst, als ich mich übergeben hatte und vom wc zurückkam und mich wieder auf die Couch legen wollte. Der Kommandant fragte, ob er Kaffee zubereiten solle, er ging dann, ohne meine Antwort abzuwarten, zur Kochnische, ich schlief wieder ein, als ich zu mir kam, war der Kaffee schon bereit, wir tranken schweigend. Ob ich wisse, fragte dann der Kommandant, daß ich ein jeder zehnte sei, und auf meine Frage nach der Bedeutung seiner sonderbaren Frage antwortete er, daß er jeden zehnten laufenlasse, und ich sei einer von diesen. Sonst hätte er mich am Grabe Daphnes verhaften müssen, er sei wie ich Rechtsanwalt gewesen, ein erfolgloser wie ich, nur hin und wieder sei er als Pflichtverteidiger eingesetzt worden, und so sei er denn bei der Polizei gelandet, als Sozialist hätten ihm Parteifreunde, die nie im Traume daran gedacht hätten, sich an ihn zu wenden, hätten sie privat einen Rechtsanwalt gebraucht, einen Posten in der Kriminalabteilung der Stadtpolizei zugeschanzt, als Rechtsberater, daß er nach oben gerutscht und schließlich Kommandant geworden sei, stelle nicht das Ergebnis von besonderen Leistungen dar, es seien die Intrigen der Politik gewesen, die ihn hinaufgespült hätten, und bei den anderen Instanzen des Justizapparates sei es ebenso, nicht daß er von Korruption sprechen wolle, aber der Anspruch der Justiz, etwas Objektives darzustellen, ein von jeder gesellschaftlichen Rücksicht und Vorurteilen keimfreies Instrumentarium, sei derart weit davon entfernt, was es in Wirklichkeit sei, daß er den Fall Kohler nicht so tragisch zu sehen vermöge wie ich, gewiß, es sei meinerseits ein Fehler gewesen, den Auftrag anzunehmen und Stüssi-Leupin das Material zu liefern, womit er Benno an den Lüster hetzen und den Prozeß gewinnen konnte, aber — ob nun Kohler schuldig sei hin oder her — und es wisse im Grunde ja jeder, daß der Kantonsrat den Universitätsprofessor niedergeschossen habe, auch er, der Kommandant, zweifle nicht daran — wenn er mich nun betrachte und überlege, wohin mich mein Aufbegehren gegen einen juristisch gesehen außergewöhnlichen, aber einwandfreien und damit berechtigten Freispruch gebracht habe — auch wenn damit die Gerechtigkeit schachmatt gesetzt worden sei —, so bliebe mir nichts anderes übrig, wolle ich in dieser Angelegenheit noch Gerechtigkeit üben, als Kohler und mich selber zum Tode zu verurteilen und an beiden das Todesurteil zu vollziehen, den Revolver zu nehmen, den ich hinter meiner Couch versteckt halte, und damit Kohler und dann mich selber ins Jenseits zu befördern, was er, der Kommandant, zwar für logisch, aber auch für unsinnig halte, denn vor der Gerechtigkeit, absolut genommen, was sie als Idee nun einmal sei, stünde ich nicht besser da als Kohler, er brauche nur an meine Rolle, die ich bei Daphnes Tod gespielt habe, zu erinnern. Vor der Gerechtigkeit stünden sich Kohler und ich als zwei Mörder gegenüber. Ein Richter dagegen übe ein diskutables Amt aus. Er habe dafür zu sorgen, daß eine so unvollkommene Institution funktioniere, wie es die Justiz nun einmal sei, die dazu diene, im Diesseits für ein gewisses Einhalten menschlicher Spielregeln zu sorgen. Ein Richter brauche persönlich ebensowenig gerecht zu sein wie der Papst gläubig. Wenn jedoch einer auf eigene Faust Gerechtigkeit ausüben wolle, gehe es verdammt unmenschlich zu. Dieser übersehe, daß Gaunereien bisweilen humaner seien als Korrektheiten, weil das Weltgetriebe nun einmal von Zeit zu Zeit geschmiert werden müsse, eine Funktion, die unserem Land ja besonders liege. So ein Gerechtigkeitsfanatiker müsse selber gerecht sein, und ob ich das sei, sei an mir zu beantworten. Sie sehen, Kommandant, ich bin in der Lage, unser Gespräch — oder besser Ihren Vortrag, denn ich sprach ja kein Wort, lag einfach da, verkotzt wie ich war, und hörte Ihnen zu — seinem Sinn nach halbwegs genau wiederzugeben, ich war auch nicht verwundert, daß sie erraten hatten, was zu tun ich von Anfang an beschlossen hatte, und vielleicht ließ ich mich nur deshalb fallen, möglicherweise verhalf ich nur deshalb Lucky und dem Marquis aus Neuchâtel zu ihrem Alibi, wahrscheinlich wurde ich nur deshalb zu dem, was ich bin, selbst für einen Orchideen-Noldi zu schäbig und unter der Würde der Damen, die er vertritt, um auf meine Weise ebenso schuldig zu werden wie Dr.h.c. Isaak Kohler, aber dann ist mein Urteil und die Ausführung meines Urteils durch mich die gerechteste Sache der Welt, denn die Gerechtigkeit kann sich nur unter Gleichschuldigen vollziehen, so wie es nur eine Kreuzigung gibt, jene des Isenheimer Altars, ein gekreuzigter Riese hängt am Kreuz, ein gräßlicher Leichnam, unter dessen Gewicht sich die Balken biegen, an die er genagelt ist, ein Christus, noch entsetzlicher als jene, für welche dieses Altarbild gemalt wurde, für die Aussätzigen, wenn diese jenen Gott hängen sahen, stellte sich zwischen ihnen und diesem Gott, der ihnen doch nach ihrem Glauben den Aussatz geschickt hatte, Gerechtigkeit ein: dieser Gott war für sie gerecht gekreuzigt worden. Ich schreibe nüchtern, Herr Staatsanwalt Feuser, ich schreibe nüchtern, und gerade deshalb bitte ich Sie, dem Kommandanten nicht vorzuwerfen, er hätte meinen Revolver zu sich nehmen sollen, das ganze Gespräch oder besser die ganze kreuzbrave Ansprache des Kommandanten war nicht väterlich gemeint, die Geschichte mit jedem zehnten, den er springen lasse, glaube, wer will, wahrscheinlich wäre er froh, wenn er jeden zehnten Verbrecher fangen würde, das Ganze war eine Provokation: Er wird sich nachträglich ärgern, mich damals nicht verhaftet zu haben, als er mir bei der Beerdigung, als das Schirmdach davonflog, das Stilett aus der Hand nahm, aber ich kenn ihn, er denkt schnell, er begriff, daß dann nicht nur die Frage nach den Mördern der armen Daphne Müller neu gestellt werden mußte, sondern auch die nach den Mördern der Mörder, daß er dann in die Bezirke der Monika Steiermann geraten wäre, und wer legt sich schon gern mit einem Prothesen-Imperium an, das sich anschickt, wieder ins Waffengeschäft einzusteigen, aber wenn ich in zwei Stunden — genauer in zwei Stunden und dreizehn Minuten — auf Dr.h.c. Isaak Kohler schieße, wird der Kommandant zugreifen, auch wenn die Schüsse ohne Wirkung wären — doch, Herr Staatsanwalt, einigen wir uns beide dahin: Einerseits versuchte der Kommandant mit seiner rührenden Ansprache zu verhindern, daß die Schüsse, wenn ich schon schösse, gefährlich würden, daß ich schon längst die Platzpatronen gegen echte umgetauscht habe, konnten Sie wirklich nicht ahnen, Herr Kommandant (ich wende mich wieder an Sie). Darum bin ich denn wohl auch nie näher auf den Trödler eingegangen im Parterre. Instinktiv. Damit Sie nicht näher auf ihn eingehen. Der Einäugige ist ein Original, und bei ihm war alles aufzutreiben. War. Denn auch das ist jetzt Vergangenheit, der Trödler ist seit drei Wochen ausgezogen, der Laden im Parterre und die Wohnung im ersten Stock sind leer, und da es auch bei den Heiligen vom Uetli still und verlassen geworden ist und ich außerdem gestern (oder vorgestern oder vorvorgestern) einen eingeschriebenen Brief gefunden habe, den ich vor Monaten empfangen, aber nicht gelesen hatte, des Inhalts, daß das Haus an der Spiegelgasse, unter Denkmalschutz stehend, aus Gründen seiner Baufälligkeit dringend der Renovation bedürfe, durch Friedli, der es innen umbauen und im alten Gehäuse Luxuswohnungen einrichten wird, seine neue Tätigkeit, so daß ich denn bis zum 1.10. meine Wohnung zu verlassen habe, und weil dieser 1.10. längst vorüber ist, mußte ich in der Stadt herumirren, um meine letzte Flasche Whisky aufzutreiben, irgendwann, gestern, bei Stüssi-Leupin im >Du Théâtre<, sonst hätte ich beim Einäugigen in seiner Wohnung zwar nicht den Whisky, doch eine Flasche Grappa aufgetrieben, so wie ich in seinem Trödlerladen im Trichter eines Alphorns die Patronen gefunden und die Platzpatronen hineingeschüttet habe, mit denen Sie, Herr Kommandant, meinen Revolver geladen hatten. Dr.h.c. Isaak Kohler und ich werden volksmusikalisch sterben. Doch bevor ich — wenn auch meine Nüchternheit immer bedrohlicher wird, so bedrohlich, als ob vor mir eine Sonne auftauche, in die ich wie der wahnsinnige Prediger zu starren gezwungen bin —, bevor ich in nicht ganz einer Stunde zum Flughafen fahre (mit meinem VW, er hat die Reparatur nur mäßig überstanden, das heißt, ich ließ sie abbrechen, Geldmangel), ein letztes Wort an Sie, Kommandant: Ich nehme meinen Verdacht zurück. Sie haben anständig gehandelt. Sie wollten mir die Freiheit der Entscheidung überlassen, meine Würde nicht antasten. Es tut mir leid, daß ich anders entschieden habe, als Sie gehofft haben. Und jetzt ein letztes Geständnis: Ich habe in diesem Spiel um die Gerechtigkeit nicht nur mich verspielt, sondern auch Hélène, die Tochter des von mir Ermordeten, der mein Mörder ist. Ich werde mich erschießen müssen, weil ich ihn erschossen haben werde. Futurum exactum. Die Lateinstunden fallen mir wieder ein, die mir im Waisenhaus ein alter Pfarrer gab, mich auf das Gymnasium in der Stadt vorzubereiten. Ich habe immer gern vom Waisenhaus erzählt, sogar bei Mock erzählte ich davon, obgleich es schwer war, sich mit ihm zu unterhalten. Als ein Schriftsteller vom Tod seiner Mutter berichtete, an der er offenbar sehr gehangen hatte, und ich die Vorzüge des Waisenhauses zu erläutern begann und die Familie als Brutstätte des Verbrechens bezeichnete, dieses ewig gepriesene Familienglück sei zum Kotzen, was den Schriftsteller sichtlich irritierte, lachte Mock, von dem man nie weiß, was von einem Gespräch er realisiert und was nicht — daß er von den Lippen zu lesen versteht, hat er wieder einmal seinen Hörapparat verlegt, nehme ich an, was er zwar bestreitet (auch eine List von ihm), wenn ich mich brüste, meinte er, ohne Vater und Mutter aufgewachsen zu sein, komme ihm das unheimlich vor, zum Glück, führte er in seiner umständlichen Art aus — der Schriftsteller war längst gegangen —, sei ich Jurist geworden und hätte nicht im Sinn, Politiker zu werden, was zwar immer noch möglich sei, aber ein Mensch, der für ein Waisenhaus schwärme, sei schlimmer als einer, der sich in seiner Jugend entweder mit seinem Vater oder mit seiner Mutter oder gar mit beiden herumgeschlagen habe wie er, Mock, der seine Alten, wie er sich ausdrückte, wie die Pest gehaßt habe, obgleich sie herzensgute Christenmenschen gewesen seien, aber er habe sie gehaßt, weil sie acht Kinder und ihn noch dazu gezeugt hätten, ohne jemanden von der weit überdurchschnittlichen Kinderschar zu fragen, ob er oder sie es gestatte, geboren zu werden, Zeugen sei ein Verbrechen sondergleichen, wenn er jetzt an einem Chemp (er meinte damit einen Stein) wütend herummeißle, so bilde er sich zwar ein, es sei entweder sein Vater oder seine Mutter, an dem oder an der er sich räche, aber bei mir müsse er sich fragen, was für einer ich denn sei mit meinem Waisenhausfimmel. Schön, er, Mock, habe einen Haß im Bauch, gegen die, welche ihn gezeugt, geboren und dann nicht in den nächsten Kehrichteimer geschmissen hätten, und haue diesen Haß aus dem Stein heraus zu einer Gestalt, zu einer Form, die er liebe, weil er sie geschaffen habe, und die, wenn sie fühlen könnte, ihn wiederum hassen könnte, wie er seine Eltern gehaßt habe, die ihn auch geliebt hätten, deren Sorgenkind er gewesen sei, das alles sei menschlich, ein Kreislauf von Haß und Liebe zwischen Schöpfer und Geschöpf, aber wenn er sich dagegen so einen wie mich vorstelle, der, statt zu hassen, durch wen er sei und daß er sei, eine Institution liebe, die ihn hervorgebracht und abgerichtet habe, und der damit prädestiniert werde, eine Leidenschaft für etwas Nicht-Menschliches auszubrüten, für eine Ideologie, oder sei es nur für ein Prinzip, für die Gerechtigkeit zum Beispiel, und wenn er sich dann noch ausdenke, wie so einer wie ich darauf mit Menschen umgehen werde, die seinem Prinzip, das der Gerechtigkeit, um beim Beispiel zu bleiben, nicht entsprächen, und wer entspreche dem schon, so breche ihm der pure Angstschweiß aus. Sein Haß sei produktiv, der meine destruktiv, der Haß eines Mörders.»Mensch, Spät«, schloß er seinen kaum verständlichen Gedankengang,»Sie tun mir leid. Sie sind verdammt schief gewickelt. «Daraufhin habe ich sein Atelier nie mehr betreten. Warum ich von diesem Gespräch erzähle, Herr Kommandant: weil dieser Bildhauer, der soeben in Venedig gefeiert wurde, verdammt recht hat. Ich bin ein Retortenmensch, gezüchtet in einem Musterlaboratorium, geleitet nach den Prinzipien der Erzieher und Psychiater, die unser Land nebst Präzisionsuhren, Psychopharmaka, Bankgeheimnis und ewiger Neutralität hervorgebracht hat. Ich wäre ein Musterprodukt dieser Versuchsanstalt geworden, nur eines fehlte in ihr: ein Billardtisch. So wurde ich in die Welt gesetzt, ohne sie durchschauen zu können, weil ich mich nie mit ihr auseinandergesetzt hatte, weil ich mir vorstellte, in ihr müsse die Waisenhausordnung herrschen, in der ich aufgewachsen war. Unvorbereitet wurde ich in die Raubtierordnung der Menschen gestoßen, unvorbereitet sah ich mich den Trieben gegenüber, durch die sie geformt wird, Gier, Haß, Furcht, List, Macht, aber ebenso hilflos wurde ich jenen Gefühlen ausgesetzt, welche die Raubtierordnung menschlich macht, der Würde, dem Maß, der Vernunft, der Liebe endlich. Ich wurde von der menschlichen Wirklichkeit weggetrieben wie ein Nichtschwimmer von einem reißenden Fluß, mit meinem Untergang kämpfend, wurde ich im Untergang selber ein Raubtier, zu welchem nach dem nächtlichen Gespräch mit Stüssi-Leupin, in welchem ich das Material verkaufte, das dazu dienen sollte, einen Mörder freizusprechen, dessen Tochter kam: Hélène erwartete mich in meiner Anwaltspraxis am Zeltweg, in meiner piekfeinen Dreizimmerwohnung, die ich von Benno übernommen hatte. Erst jetzt fällt mir auf, daß sie mich in und nicht vor der Wohnung erwartete. Im Sessel vor meinem Schreibtisch. Und daß sie sich in der Wohnung auskannte. Aber Benno — wer fiel nicht auf ihn herein. So kam sie, weil sie mir vertraute, und so gab sie sich hin, weil ich sie begehrte, aber den Mut, mich auch ihr anzuvertrauen, und den Glauben, daß auch sie mich begehrte, weil sie mich liebte, hatte ich nicht. So verfehlten wir unsere Liebe. Ich verschwieg ihr, daß ihr Vater nicht gezwungen war zu morden (auch wenn es die teuflische Zwergin gewünscht haben soll), daß es ihm nur gefiel, auf diesem armseligen Planeten den Herrgott zu spielen, und daß ich mich zweimal hatte kaufen lassen, von ihm und von einem Staranwalt, der Freude daran hatte, das Spiel der Justiz zu Ende zu spielen, wie ein Großmeister, der eine Schachpartie großmütig übernimmt, die ein Anfänger begann. So schliefen wir miteinander, ohne miteinander zu sprechen, ahnungslos, daß es kein Glück ohne Sprache gibt. Vielleicht gibt es darum nur das momentane Glück, das Glück, das ich in jener Nacht spürte, als ich ahnte, was aus mir hätte werden können, eine unfaßliche Möglichkeit, die in mir lag und die ich dann nicht verwirklicht habe, und weil ich damals glücklich war, eine Nacht lang, war ich überzeugt, daß ich würde, was ich nicht wurde. Als wir uns am Morgen anstarrten, wußten wir, daß alles vorüber war. Nun muß ich zum Flughafen.

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