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Nachwort des Herausgebers: Ich machte auf eine recht seltsame und im Grunde zufällige Weise Bekanntschaft mit einigen Personen, von denen ich erst später begriff, daß sie nicht nur in diese vielschichtige Handlung verwickelt, sondern auch deren Hauptakteure waren.

Es muß um das Jahr 1984 herum gewesen sein. In München. Ich führe kein Tagebuch. Meine Zeitangaben sind nie allzu genau. Ich nehme an, Ende Mai, und ich hielt die Geschichte damals für erfunden. Eine bequeme Villa, ein bequemer Park, der sich unter hohen Bäumen verliert. Im Park, der Villa entlang, gedeckte Tische. Eine angenehme Gastgeberin. Verleger, Journalisten, Film-, Theater-, klug dosiertes Kulturleben. Wie immer verwechsle ich jemand mit jemandem. Bin unsicher, ob eine andere die sei, von der ich glaube, daß sie es sei. Dann ist es doch eine andere. Dann ist ein anderer jemand ganz anderes. Dann erschrecke ich erschrocken einen Intendanten eines Hauses, wo ich einst alle kannte und jetzt niemand mehr kenne. Ich denke, er denkt, ich wolle ihm ein Stück andrehn, und er denkt, ich wolle ihm ein Stück andrehn. Ein Schauspieler läuft herum wie ein König Lear, der seinen Text vergessen hat, und ist untröstlich:»Das Theater ist am Ende. Es gibt keine neuen Stücke. «Einen anderen Schauspieler habe ich so oft im Fernsehen gesehen, daß ich mir einbilde, er sei ein alter Bekannter, und er ist bestürzt, weil wir uns zum ersten Mal begegnen. Eine Frau schiebt einen Greis im Rollstuhl herein. Elegant, überlegen, schön. Um die Fünfzig. Ich kenne sie, aber weiß ihren Namen nicht. Sie begrüßt mich reserviert, duzt mich und nennt mich Max. Sie hat mich verwechselt. Gelächter. Sie entschuldigt sich. Ich fühle mich geehrt. Sie siezt mich wieder. Wer der Greis sei? Ihr Vater. Er muß uralt sein. Bald hundert. Zart und zerbrechlich. Ungemein lebendig. Rosige Haut. Dünnes weißes Haar, gestutzter Schnurrbart, gepflegter Bart, halb Voll-, halb Spitzbart. Er habe mit dem bayerischen Ministerpräsidenten konferiert. Über Politik? Über eine Stiftung effektiver Wissenschaft. Verstehe nicht. Es gebe heute zuviel unnütze Wissenschaft. Verstehe. Sie denkt immer noch, ich kenne sie, und ich kenne sie nicht. Die Gastgeberin unterhält sich mit dem Greis. Plaudert mit ihm. Lacht viel. Der Greis muß witzig sein. Sitze zwischen der unbekannten Bekannten und der deutschen Witwe eines italienischen Verlegers, den ich einmal einen Tag lang in Mailand kennengelernt habe. Die Bekannte, auf deren Namen ich nicht komme, hat bemerkt, daß ich nicht weiß, wer sie ist. Sie ist verstummt. Die Witwe erzählt mir von einer Schauspielerin, in die ich einmal verliebt war. Die sei mit einem Feuerwehrmann durchgebrannt. Nach dem Essen in den Salon. Die Film- und Theatermenschen scharen sich um den Intendanten. Sie interessieren sich für die Kunst. Die anderen um den Greis im Rollstuhl. Sie interessieren sich für die Wirklichkeit. Ein Kunstkritiker hält mit einer kurzen Dankesrede an die Gastgeberin einige Minuten lang die beiden Sphären zusammen. Er versteht zuviel von der Kunst, um die Wirklichkeit nicht zu unterschätzen, und zuviel von der Wirklichkeit, um die Kunst nicht zu überschätzen. Dann fallen die beiden Sphären wieder auseinander. Die einen diskutieren über Botho Strauss, die andern über Franz Josef Strauß. Was der Greis von diesem halte. Historiker, kein Meteorologe. Was er damit sagen wolle? Der Historiker komme mit langfristigen Aussagen. Er sei Metaphysiker. Bilde sich ein, den Weltgeist im Griff zu haben. Der Meteorologe wage nur kurzfristige Aussagen. Er sei Wissenschaftler. Bilde sich nicht ein, eine Gashülle im Griff zu haben. Die Welt sei undurchschaubar. Was politisch möglich sei? Schnelle chirurgische Eingriffe und dann die zufällige Wirkung beobachten. Was er damit meine? Ein Konzern, den er freiwillig beraten und unfreiwillig geführt habe, sei in eine diffizile Lage geraten. Es sei unnötig, sie näher zu beschreiben. Wirtschaftliche Zusammenhänge seien noch komplizierter als eine Gashülle, die Voraussagen noch ungenauer. Der Greis sprach leicht, leise und schnell. Nur hin und wieder war ein leises Gebißgeklapper bemerkbar. Es habe sich eigentlich nur um die Notwendigkeit gehandelt, eine Person zu ermorden oder ermorden zu lassen. Alles war verblüfft. Verlegen. Doch dann wieder gerührt. Als würde der Greis eine Liebesgeschichte erzählen. Gewiß, mit einem Mord zu kommen, war ein Fauxpas. Auch der Kulturzirkel horchte herüber. Es war schon ein wenig, als hätte der Greis einen Fisch mit dem Messer gegessen. Aber ein König und ein beinah Hundertjähriger dürfen auch das.»Er ist einfach reizend«, hauchte eine Schauspielerin herüber, die ich auch schon im Fernsehen oder im Film gesehen hatte oder glaubte gesehen zu haben. Leinwand und Bildschirm backen die Gesichter zusammen. Mindestens zehn sehen gleich aus. Der Greis ließ sich ein Glas Champagner geben. Schlürfte. Ein Regisseur und Schauspieler, mit mir seit langem befreundet, erschien. Schweizerischer Herkunft. Typ russischer Großfürst nach Verlust seiner Ländereien, gewohnt, mit Leibeigenen umzugehen, groß, wohlbeleibt. Gepflegter Bart, gewählt nachlässig gekleidet. Handküßte die Gastgeberin, bemerkte die irritierte Gesellschaft, überflog sie amüsiert, sagte mit der nur ihm eigenen herzerwärmenden Grandezza,»Grüß Gott, Herr Kantonsrat, grüß dich, Hélène«, winkte mir zu, nicht ungnädig, sagte dann,»ich seh, der Herr Kantonsrat ist dabei, seine Geschichte zu erzählen. Sie ist phantastisch«, goß sich Champagner ein, setzte sich. Der Greis erzählte weiter. Es ging eine Autorität von ihm aus, die alle in Bann zog. Es lag nicht daran, was er sagte, sondern wie er es sagte. Es ist darum auch eigentlich unmöglich, seine Geschichte, so wie er sie erzählte, wiederzugeben. Die Gastgeberin möge verzeihen, wenn er unverblümt von Mord gesprochen habe. Man habe ihn gefragt, was politisch möglich sei, fuhr er ungefähr fort. Die Politik und die Wirtschaft unterlägen den gleichen Gesetzen, jenen der Machtpolitik. Das gelte auch für den Krieg. Besonders die Wirtschaft sei eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln. Wie es Kriege zwischen Staaten gebe, gebe es Kriege zwischen Konzernen. Den Bürgerkriegen entsprächen die internen Machtkämpfe innerhalb eines Konzerns. Überall stehe man immer wieder vor der Notwendigkeit, Menschen von der Macht auszuschalten oder selber ausgeschaltet zu werden. Da sei ein schneller chirurgischer Griff vonnöten und abzuwarten, ob er erfolgreich gewesen sei oder nicht. Das brauche, das sei zugegeben, in den seltensten Fällen durch einen Mord zu geschehen. Morde seien eigentlich wirkungslose Methoden. Der Terrorismus kräusle nur die Oberfläche der Weltstruktur. Sein Mord sei notwendig gewesen. Doch sei nicht der Mord das Problem gewesen, sondern die Erkenntnis, daß nur ein Mord weiterhelfen konnte. Gewiß, er hätte den Mord anordnen können. Alles lasse sich delegieren. Aber er sei jetzt bald hundert und habe sich bis jetzt seine Schuhe selber gebunden. Seien später noch weitere Morde nötig, die erledigten sich von selber, Gott habe bei der Erschaffung der Welt nur einmal zugegriffen. Ein Anstoß hätte genügt. Auch ihm sei die Lösung des Problems blitzschnell gekommen. Er schmunzelte. Er habe vor mehr als dreißig Jahren einen zu jener Zeit ebenso berühmten wie unbeliebten Politiker von einer Privatklinik zum Flughafen begleiten müssen. In der Klinik habe der berühmte Politiker in einem dicken Wintermantel wirr vor dem Bett gestanden. Er werde verfolgt. Die Erbschaftssteuer, die er durchgesetzt habe, hätte zu viele ruiniert. Er werde sich zur Wehr setzen. Er habe einen Revolver aus dem Mantel gezogen. Damit werde er jeden enterbten Erben niederschießen. Eine Schwester sei um Hilfe schreiend davongestürzt. Dann habe er den Revolver wieder in den Mantel gesteckt. Der Arzt sei mit zwei Pflegern herbeigerast gekommen. Ein Oberst im Militär, ein rüder Kerl in der Medizin, diagnostizierte, die Krankheit sitze dem Politiker nun auch im Hirn, na ja, beruflich nicht schlimm, er pumpe den Mano noch einmal mit Beruhigungsmitteln voll, dann ab mit ihm in die Heimat, sonst kratze der ihm noch hier ab. Der arme Bursche sei nach kurzem Kampf, bei dem ein Pfleger k.o. ging, aus seinem Wintermantel samt Revolver ausgepackt, sein Hintern — pardon, die Damen — vollgespritzt, in seinen Wintermantel wieder eingepackt und in seinen Rolls-Royce gestopft worden. So sei er denn mit einem bewaffneten, verrückt gewordenen Staatsmann in die Stadt gefahren. Ein wunderschöner Frühlingsabend. Beim Eindunkeln. Gegen sieben. Da man bei ihnen früh aufstehe, speise man auch frühabends. Wie er nun mit dem vor sich hin dösenden Finanzgenie die Rämistraße hinuntergefahren sei und die in die Restaurants stürzenden Menschen gesehen habe, sei ihm eine Möglichkeit durch den Kopf geschossen, wie er sein Problem auf die eleganteste Weise der Welt zu lösen vermöchte.»Mein Gott«, sagte die deutsche Witwe des italienischen Verlegers, sei das spannend. Die Person, erzählte der Greis weiter, deren Einfluß auf den Konzern er zu beseitigen hatte, habe oft die Gewohnheit gehabt, um diese Zeit in einem aller Welt bekannten Lokal zu speisen. Der Greis hatte ein zweites Glas Champagner geleert. Er habe anhalten lassen, dem nun leise schnarchenden Minister den Revolver aus dem Mantel gezogen, — sei ins Lokal gegangen, habe festgestellt, daß er richtig spekuliert hatte, daß die Person anwesend war, worauf er sie erschoß und, wieder im Rolls-Royce, den Revolver dem Politiker in die Manteltasche zurückgeschoben und ihn, den ehrenwerten Minister Ihrer Majestät, nach dem Flughafen gefahren und in eine Spezialmaschine verfrachtet, die den kranken Parteiführer samt Revolver durch die Lüfte auf seine Insel davongetragen habe, wo er, kaum angekommen, das einstige Weltreich endgültig finanziell ruinierte. Leises Gekicher von der Kultur her. Die Tochter von einer gespenstisch hoheitsvollen Ruhe. Ihr Vater hätte erzählen können, er habe ein Konzentrationslager geleitet, sie hätte keine Miene verzogen. Auch wir hörten gebannt zu. Wie einem alten Bombenleger. Und doch amüsiert, ja belustigt, verzaubert von der Leichtigkeit und dem Sarkasmus, mit welchen der Greis erzählte, die alles ins Abstrakte, Unwirkliche rückten. Ein Verleger fragte verwirrt:»Und Sie?«—»Mein Bester«, antwortete der Greis, einem Etui eine schwere Zigarre entnehmend (ich schätze, mich an meine Raucherzeit erinnernd, daß es eine Toppers war),»mein Bester«, er vergesse zweierlei. In welchen Gesellschaftskreisen wir uns bewegten, und die Justiz, die sich, wenn auch mehr unbewußt als bewußt, nach den Gesellschaftskreisen richte, über die sie zu befinden habe, wenn sie auch — besonders Privilegierteren gegenüber — manchmal allzu rabiat vorzugehen pflege, um die Vorurteile abzustreiten, die sie nun einmal habe. Aber wozu langweilen. Er sei verhaftet worden, vom Obergericht verurteilt, aber dann vom Geschworenengericht freigesprochen worden, trotzdem der Mord in aller Öffentlichkeit begangen worden sei. Na ja, notwendigerweise. Eindeutige Beweise fehlten. Die Zeugen hätten sich widersprochen. Die Tatwaffe sei nie gefunden worden. Wer schaue schon im Mantel eines Ministers nach. Ein Motiv habe man ihm nicht nachweisen können. Ein Konzern sei für einen Staatsanwalt undurchschaubar. Und dann sei auch zufällig ein ehemaliger Schweizermeister im Pistolenschießen zugegen gewesen, der, als man ihn verhören wollte, sich erhängt habe, Glück müsse man haben, es sei natürlich auch möglich, daß dieser geschossen hätte im Augenblick, als er, damals siebzigjährig, hätte schießen wollen, was wirklich gewesen sei, sei der Tote, den Kopf auf dem Tournedos Rossini mit grünen Bohnen, wie er sich erinnere, doch wie diese Wirklichkeit möglich geworden sei, sei im Grunde nebensächlich. Er zündete sich die Zigarre an, mit der er vorher hantiert hatte, ein wenig wie ein Dirigent mit seinem Taktstock. Plötzlich brach die Gesellschaft in Gelächter aus, einige klatschten in die Hände, ein dicker Journalist öffnete ein Fenster und lachte in die Nacht hinaus:»Ein unsterblicher Witz. «Alle waren von seiner Unschuld überzeugt. Auch ich. Warum eigentlich? Durch seinen Charme? Durch sein Alter? Köstlich, strahlte die deutsche Witwe des italienischen Verlegers, die Gastgeberin meinte, das Leben schreibe die unwahrscheinlichsten Geschichten, die Tochter sah mich an, kalt und aufmerksam, als wolle sie erforschen, ob ich die Geschichte glaube. Der Greis rauchte seine Zigarre und brachte das Kunststück zustande, das mir nie gelungen war, den Rauch in Ringen auszustoßen. Er verstehe, meinte er, ein zu Unrecht Beschuldigter sei nicht genierlich wie ein Mörder, daher der herzliche Beifall, es sei sein Schicksal, daß ihm niemand seinen Mord glauben wolle. Auch ich wohl nicht, und damit wandte er sich an mich, der ich in meinen Komödien meine Helden gleich haufenweise ins Jenseits schicke. Erneutes Gelächter, es ging hoch her, schwarzer Kaffee wurde serviert, Cognac. Was bleibe, sei die Frage nach der Moral, begann der Greis aufs neue, sich auf die Asche seiner Zigarre konzentrierend, die er nicht abstreifte, sondern sorgsam anwachsen ließ. Plötzlich war er ein anderer. Nicht mehr hundertjährig, sondern zeitlos. Ob er nun getötet habe oder nur töten wollte, sagte er, moralisch zähle die Absicht, nicht die Ausführung. Doch die Frage der Moral sei eine Frage der Rechtfertigung einer Handlung, die nicht den allgemeinen Grundsätzen einer Gesellschaft entspräche, nach denen diese sich angeblich richte. Nun falle die Rechtfertigung in die Kategorie des Dialektischen. Dialektisch lasse sich alles rechtfertigen, somit auch moralisch. Darum halte er jede Rechtfertigung für stillos, überspitzt gesagt, jede Moral für unmoralisch, er könne nur ins Feld führen, er habe im Interesse eines Konzerns gehandelt, der übrigens trotzdem pleite gegangen sei, so daß auch sein schöner Mord nutzlos gewesen sei, ob er ihn nun begangen habe oder ob er von einem anderen verübt worden sei, worauf er die Frage, was politisch zu erreichen sei, dahin beantworten könne: Wenn etwas, nur durch Zufall, und, wenn etwas zufällig erreicht worden sei, stelle es das Gegenteil dessen dar, was man habe erreichen wollen. Dann entschuldigte er sich. Die verehrte Gastgeberin möge so gütig sein, ihn zu entlassen, und seine Tochter Hélène ihn in die >Vier Jahreszeiten< führen. Sie rollte ihn hinaus, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich hielt seine Geschichte für erfunden. Wer mordet schon so. Aber daß der Greis einmal mächtig gewesen war und noch beträchtlichen Einfluß hatte, war nicht zu übersehen, wozu hätte ihn sonst Strauß empfangen. Ich hielt ihn für einen Wirtschaftsführer, der seine Leichen im Keller hatte, doch Börsenmanöver sind komplizierter zu erzählen als Morde, und so plauderte er denn über einen erfundenen Mord, von dem er sicher sein konnte, daß man ihm diesen im Gegensatz zu seinen Spekulationen nicht zutraute. Schon im Taxi vergaß ich seine Geschichte, dachte nur noch der Dialektik nach, die er der Moral zugeordnet hatte, und erinnerte mich plötzlich an seinen Namen: Kohler, Isaak Kohler. Ich hatte einmal bei einem Bankett der Freunde des Schauspielhauses ihm gegenübergesessen. Neben seiner Tochter. Irgendwann. Vor vielen Jahren. Was gefeiert wurde, weiß ich nicht mehr. Endlose Reden. Kohler sah damals vital und braungebrannt aus, seine Tochter berichtete, er sei eben von einer Weltreise zurückgekommen.

Im Sommer darauf, vielleicht schon anfangs September. Der Vater einer Bekannten war gestorben, einer Stüssi-Moosi. Sie war vor etwa fünfzehn Jahren unsere Hausangestellte gewesen. Sie meldete mir, der Hof ihres Vaters sei zu verkaufen. Ich kannte den Hof. Er war alt und halb zerfallen. Ich war entschlossen, ihn zu kaufen. Die Aussicht beeindruckend. Unten das Stüssital mit Stüssikofen, dann Flötigen, die Hochalpen. Hinter dem Hof steil abfallend eine Fluh. Das Dorf ein Nest, noch nicht in den eigentlichen Alpen gelegen. Alte Häuser. Eine Kapelle. Hin und wieder predigt der Pfarrer von Flötigen. Ein Gasthof. Erstaunlich, daß es noch Dörfer ohne Fremdenverkehr gibt. Zu verhandeln hatte ich mit dem» Fürsprecher«, wie man dort einen Rechtsanwalt nennt. Er bewohnte ein Zimmer im Gasthof >Zum Leuenberger<, wickelte seine Geschäfte in der Gaststube ab. Zwischen Bauern als Zuhörer. Er schien mehr eine Art Dorfrichter zu sein, schlichtete, als ich ankam, eine Schlägerei. Ein Bauer mit verbundenem Kopf zog fluchend davon. Der Fürsprecher ist nachträglich schwer zu beschreiben. Etwa gegen Fünfzig. Er konnte auch wesentlich jünger sein. Schwerer Alkoholiker. Trank Bäzi, einen Schnaps, den man anderswo Obstler nennt. Er wirkte bucklig, ohne es zu sein. Griesgrämig. Das Gesicht aufgedunsen, nicht unedel. Die Augen wasserblau, rot unterlaufen. Meistens listig, oft verträumt. Er versuchte mich zu betrügen. Er verlangte den doppelten Preis, den mir die ehemalige Hausangestellte angedeutet hatte. Erzählte komplizierte Geschichten über Schwierigkeiten mit dem Gemeinderat von Stüssikofen. Er schwafelte über ungeschriebene Gesetze. Er nannte den Hof verhext, der Stüssi-Moosi-Bauer habe sich erhängt. Jeder Stüssi-Moosi-Bauer habe sich erhängt. Die Bauern hörten mit einer unverschämten Offenheit zu, mimten Sich-Erhängen, als er von den erhängten Bauern sprach, hoben die rechte Hand über den Kopf, als zögen sie an einem Strick, verdrehten die Augen, streckten ihre Zungen heraus. Ich begriff, daß der Fürsprecher mich nicht betrügen, sondern den Kauf des Hofs verhindern wollte — dafür betrog er später die Familie unserer ehemaligen Hausangestellten. Er verkaufte den Hof zu einem Spottpreis an einen Stüssi-Sütterlin. Als er spürte, daß mein Interesse am Hof nachließ, mehr durch die Feindseligkeit der Bauern als durch seine Ausflüchte, wurde er leutselig. Allerdings war er nun betrunken. Doch nicht unangenehm. Im Gegenteil. Er wurde witzig. Wenn auch auf eine bissige Weise. Er begann zu erzählen. Die Bauern rückten zusammen. Sie feuerten seine Erzählung an. Offenbar kannten sie seine Geschichten. Sie hörten ihm zu, wie man einem Märchenerzähler zuhört. Er behauptete, er sei in der größten Stadt unseres Landes ein berühmter Anwalt gewesen. Scheißberühmt, wie er sich ausdrückte. Er habe Geld wie Heu verdient. Mit den Großbanken, mit den reichen Familien der Stadt. Aber die liebsten Klienten seien ihm die Prostituierten gewesen.»Seine Huren«, wie er sich ausdrückte. Er erzählte unzählige Schnurren. Besonders über einen» Orchideen-Noldi«. Die meisten hielt ich für erfunden. Aber ich war gefesselt.

Weniger durch die Geschichten als durch die in sie verpackte Gesellschaftskritik. Sie hatte etwas Anarchistisches. Sie entsprach nicht der Wirklichkeit, sie entsprach seinem Kopf. Er verwirrte sich in eine Geschichte um einen Mordprozeß. Er machte den Angeklagten nach, die fünf Oberrichter. Die Bauern wieherten. Er als Verteidiger habe den Prozeß gewonnen. Darauf habe er bemerkt, daß der Freigesprochene doch der Mörder sei. Der Freigesprochene, ein Regierungsrat, hatte ihn, den Fürsprecher, und die fünf Oberrichter hereingelegt. Die Bauern jauchzten, soffen nun auch Bäzi. Offensichtlich hatten sie die Geschichte schon oft gehört und konnten sie nicht genug hören. Immer wieder forderten sie den Fürsprecher auf weiterzuerzählen, er zierte sich, man schenkte ihm Bäzi ein, er wies auf mich, das interessiere mich doch nicht, man schenkte mir Bäzi ein, doch, doch, das interessiere mich. Der Fürsprecher erzählte, wie er versucht habe, einen Revisionsprozeß zu erreichen, aber die Regierung und zuletzt das Bundesgericht hätten das verhindert. Ein Regierungsrat sei eben ein Regierungsrat. Jedes juristische Hindernis, jede Schikane rief ein Hohngelächter hervor. So gehe es zu in der freien Schweiz, rief ein Bauer und bestellte noch ein Bäzi. Dann habe er auf eigene Faust gehandelt, sagte der Fürsprecher. Er habe gewartet, bis der Regierungsrat von einer Weltreise zurückgekommen sei. Aus der Presse habe er die Ankunftszeit erfahren. Dann habe er dem Polizeikommandanten seine Absicht mitgeteilt. Der habe den Flughafen abriegeln lassen. Aber der Fürsprecher habe sich in der Putzmannschaft als Putzfrau verkleidet eingeschmuggelt. Er habe in einem aufklappbaren künstlichen Busen einen Revolver versteckt. Ein Polizist habe nach seinen falschen Brüsten gegriffen. Der Fürsprecher habe geschrien, man wolle ihn vergewaltigen. Der Polizeikommandant habe sich entschuldigt und den Polizisten in die Gefängniszelle des Flughafens gesperrt. Die Bauern schlugen sich johlend auf die Schenkel. Dann erzählte der Fürsprecher, wie er den durch ihn freigesprochenen Mörder erschossen habe. Auf dem Weg zur First Class Lounge. Der Regierungsrat fiel Kopf voran in den Putzkübel. Wie Tell den Geßler in der Hohlen Gasse hab er den» Uhung «erledigt, grölte ein Bauer. Die anderen brachen in Beifallsrufe aus. Ein Heidenlärm. Das sei noch echte Gerechtigkeit. Der Fürsprecher spielte seine Verhaftung vor. Schilderte, wie ihm der Polizeikommandant den falschen Busen vom Leib gerissen habe. Kletterte auf den Tisch. Hielt die Verteidigungsrede vor den fünf Oberrichtern, die den Ermordeten freigesprochen hatten und nun dessen Mörder freisprechen mußten. Da habe er den Oberrichtern gesagt» Pfui Teufel, Justiz «und sei Fürsprecher im Stüssital geworden. Dann fiel er auf den Stuhl herunter. Ein Bauer erhob sich, eine halbvolle Flasche Bäzi in der Linken, klopfte dem Erzähler auf die Schultern, erklärte, er selber sei ein Stüssi-Stüssi, und der Fürsprecher sei der einzige Nicht-Stüssi in Stüssikofen, aber trotzdem ein Schweizer von echtem Schrot und Korn, dann trank er die Flasche leer und fiel über den Tisch, begann zu schnarchen. Die anderen stimmten die abgeschaffte Nationalhymne an, deren erste Strophe schließt:»Heil dir Helvetia! Hast noch der Söhne ja, wie sie St. Jakob sah, freudvoll zum Streit. «Die Geschichte kam mir irgendwie bekannt vor. Ich wollte noch einige Details wissen, aber der Fürsprecher war zu betrunken, um noch ansprechbar zu sein. Einige Bauern erhoben sich drohend, während die anderen schon den Schluß der zweiten Strophe sangen:»Da wo der Alpenkreis nicht dich zu schützen weiß, wall dir vor Gott, steh'n wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott. «Der Fürsprecher tat mir leid. Aus dem Staranwalt war ein heruntergekommener Winkeladvokat geworden. Er hatte einen Mord begangen, hatte seinen eigenen Prozeß gewonnen, aber der Mord hatte ihn erledigt. Ich gab den Gedanken auf, den Hof zu kaufen. Ich hatte zu gehen, im Stüssital sind die Leute aus der Stadt unbeliebt, und da sie an meinem Wagen gesehen hatten, daß ich aus Neuchâtel kam, war ich ohnehin ein fremder Fötzel, obgleich ich die gleiche Sprache rede wie sie, vielleicht weniger singend. Ich verließ das Wirtshaus.»Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer, dich, du Hocherhabener, Herrlicher! Wenn der Alpen Firn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet. Eure fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland!«dröhnte es mir nach. Sie waren zur neuen Nationalhymne übergegangen.


Dann wieder Vergessen. Der Greis im Rollstuhl, seine Tochter, der besoffene Mörder in der Gaststube in Stüssikofen inmitten von besoffenen Bauern sanken ins Unterbewußte. Der Ärger, den Hof nicht kaufen zu können, deckte sie zu. Ich hatte den Hof nicht aus bloßer Laune zu kaufen versucht. Ich brauchte Veränderung. Zurückgekehrt, begann ich umzuorganisieren. Der Unrat, der sich während vierzig Jahren Schriftstellern angesammelt hatte, wurde ausgemistet. Haufen unerledigter Korrespondenz, nie gesehene und doch bezahlte Rechnungen, Abrechnungen, nie zur Kenntnis genommen, Berge von Korrekturen, endlos umgeschriebene Manuskripte, Fragmente, Fotos, Zeichnungen, Karikaturen, eine Heidenunordnung, die teils in Ordnung verwandelt, teils zum Verschwinden gebracht werden mußte. Berge ungelesener Manuskripte, in der Sintflut unerledigter Post seit Jahrzehnten untergegangen, wahllos schlug ich eines auf. Justiz. Fort mit dem Plunder. Beim Wegwerfen fiel mein Blick auf die erste Manuskriptseite, und ich las den Namen Dr.h.c. Isaak Kohler. Ich holte das Manuskript wieder aus dem Plastiksack. Ein Dr.H. hatte es aus Zürich geschickt, aber ich lese nie die Manuskripte, die mir zugeschickt werden. Mich interessiert Literatur nicht, ich mache selber welche. Dr.H. Ich erinnerte mich. Chur. 1957. Nach einem Vortrag. In einem Hotel. Ich ging zur Bar, um noch einen Whisky zu trinken. Außer der älteren Bardame fand ich dort noch einen Herrn, der sich mir vorstellte, kaum daß ich Platz genommen hatte. Es war Dr.H., der ehemalige Kommandant der Kantonspolizei Zürich, ein großer und schwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenen Uhrkette quer über der Weste, wie man dies heute nur noch selten sieht. Trotz seines Alters waren seine borstigen Haare noch schwarz, der Schnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf einem der hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eine Bahianos und redete die Bardame mit Vornamen an. Seine Stimme war laut, und seine Gesten waren lebhaft, ein unzimperlicher Mensch, der mich gleicherweise anzog wie abschreckte. Er nahm mich am nächsten Morgen in seinem Wagen nach Zürich mit. Ich blätterte im Manuskript. Es war in Schreibmaschinenschrift. Über dem Titel in Handschrift:»Fangen Sie damit an, was Sie wollen. «Ich begann das Manuskript zu lesen. Ich las es durch. Der Verfasser, ein Rechtsanwalt, war seinem Stoff nicht gewachsen. Die Gegenwart kam ihm dazwischen. Das Wichtigste erzählte er am Schluß, und dann fehlte ihm auf einmal die Zeit. Er überhastete sich. Im großen und ganzen eine eher dilettantische Arbeit. Auch machten mich gewisse Szenen stutzig. Etwa die Kapitelüberschriften: Ein Versuch, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Auch gewisse Namen. Wer heißt schon Nikodemus Molch, wer Daphne Müller, wer Ilse Freude? Und wer hält sich schon eine Armee von Gartenzwergen? Hatte mir nicht der Kommandant einmal gesagt, er liebe Jean Paul? Ich konnte den Kommandanten nicht fragen. Er war gestorben. 1970. Dann las ich den Brief, den der Kommandant beigelegt hatte:»Komme von der Beerdigung Stüssi-Leupins. Nur Mock war anwesend. Aß mit ihm nachher im >Du Théâtre< Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit grünen Bohnen. Nachher langes Suchen nach Mockens Hörgerät. Die Kellnerin hatte es mit der Platte hinausgetragen. Was unseren guten Gerechtigkeitsfanatiker betrifft, so war es ihm doch gelungen, sich in den Flughafen einzuschleichen. In der Putzmannschaft. Und geschossen hat er auch und fiel vor Schreck, daß der Schuß losging, kopfüber in den Putzkübel, zum Glück'hat Kohler nichts bemerkt, da gerade ein viermotoriges Flugzeug startete. Schaden hätte der Attentäter ohnehin nicht anrichten können. Er hatte sich getäuscht. Ich bin doch auf den Trödler näher eingegangen. Die Patronen im Alphorn waren sorgfältig präparierte Platzpatronen. Wußte nachher nicht, was ich mit dem Gerechtigkeitsfanatiker anfangen sollte. Er war am Ende. Der Justiz übergeben mochte ich ihn nicht. Stüssi-Leupin (siehe oben) nahm sich seiner an. Verschaffte ihm eine Stelle. Sind nun einige Jahre her. Ihr Dr.H., Exkommandant. «Ich telefonierte nach Stüssikofen. Der Leuenbergerwirt meldete sich. Ich verlangte den Fürsprecher. Tot. Letzte Woche» verräblet«. Wie er geheißen habe? Geheißen? Fürsprecher. Wo er beerdigt sei? Denk in Flötigen. Ich fuhr hin. Der Friedhof lag außerhalb des Dorfes. Von einer Steinmauer eingefaßt. Ein schmiedeeisernes Eingangstor. Es war kalt. Das erste Mal im Jahr, daß ich den Winter ahnte. Friedhöfe haben für mich etwas Vertrautes. Ich spielte als Kind in einem Friedhof. Er war individuell. Jeder Tote hatte sein eigenes Grab, Grabsteine, schmiedeeiserne Kreuze, Sockel, Säulen, sogar ein Engel war zu sehen. Auf dem Grab von einem Christeli Moser. Aber der Friedhof von Flötigen war ein moderner Friedhof, ein vom Gemeinderat von Flötigen vor zehn Jahren beschlossener Friedhof. Was vor zehn Jahren gestorben war, war nicht mehr vorhanden. Da der Friedhof begrenzt war und nicht mehr erweitert werden konnte — die Bodenpreise waren zu hoch —, wurde nur zehnjähriges Liegen in der Heimaterde gestattet. Dann ab in die Ewigkeit. Doch in diesen zehn Jahren mußte man strammliegen. Jedem sein gleiches Grab. Seine gleichen Blumen. Sein gleicher Grabstein. Mit der gleichen Schrift beschriftet. So lagen die Toten in Reih und Glied, sogar der, den ich suchte. Unordentlich im Leben, ordentlich als Leiche. Der letzte neben einem noch leeren Grab. Der Grabstein und die Blumen (Astern, Chrysanthemen) waren schon gesetzt. Auf dem Grabstein:

FELIX SPÄT, FÜRSPRECHER, 1930–1984.

Zu Hause las ich noch einmal das Manuskript durch. Es mußte vom Urmanuskript abgetippt worden sein. Trotz der Dichtereien, die durch den Kommandanten hineingeraten sein mochten, war es am authentischsten. Was Späts Erzählung betrifft, rühmte er sich in Stüssikofen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, und Kohler unterschob in München seinen Mord jenem, den er mit dem Ermordeten beseitigen wollte. Ich ließ das Manuskript fotokopieren. Die Adresse des Dr.h.c. Isaak Kohler fand ich im Telefonbuch. Ich schickte ihm die Kopie. Einige Tage später erhielt ich einen Brief von Hélène Kohler. Sie bat mich, sie zu besuchen. Der Zustand ihres Vaters lasse ihre Abwesenheit nicht zu. Ich telefonierte. Anderntags betrat ich den Kohlerschen Besitz.


Es war, als träte ich ins Manuskript ein, als kommentiere es mich, als ich vom schmiedeeisernen Gartenportal der Villa entgegenging. Die Natur atmete Reichtum. Die Oktoberflora ließ sich nicht lumpen. Die Bäume durchweg majestatisch. Noch fast sommerlich. Kein Föhn. Kunstvoll zugeschnittene Hecken und Büsche. Bemooste Statuen. Nackte bärtige Götter mit jugendlichen Hintern und Waden. Stille Teiche. Ein gravitätisches Pfauenpaar. Alles totenstill und versponnen. Nur einige Vögel waren zu vernehmen. Das Haus von wildem Wein, Efeu und Rosen umrankt, vergiebelt, groß und geräumig. Innen bequem und leicht. Antike Möbel, kostbare Stücke. An den Wänden berühmte Impressionisten. Später alte Holländer (ein uraltes Dienstmädchen führte mich). Im Arbeitszimmer Dr.h.c. Isaak Kohlers hatte ich zu warten. Der Raum war geräumig. Von der Sonne vergoldet. Durch die geöffnete Flügeltür konnte man in den Park gelangen. Die beiden Fenster, die Tür flankierend, reichten fast bis zum Fußboden. Kostbares Parkett. Ein riesiger Schreibtisch. Tiefe Ledersessel. An den Wänden keine Bilder, nur Bücher bis zur Decke. Ausschließlich mathematische und naturwissenschaftliche Werke, eine beachtliche Bibliothek. In einer weiten Nische der Billardtisch, auf welchem vier Kugeln lagen. Durch die geöffnete Tür rollte sich der uralte Dr.h.c. Isaak Kohler, noch zarter, noch zerbrechlicher, noch durchsichtiger geworden, ein Phantom beinah. Er schien mich nicht zu bemerken. Er rollte sich zum Billardtisch. Er kletterte zu meinem Erstaunen aus dem Rollstuhl und begann Billard zu spielen. Aus einer Türe im Hintergrund kam Hélène. Sportlich, Blue jeans, Seidenhemd, handgestrickte Jacke mit drei großen roten, blauen und gelben Quadraten. Sie legte einen Finger an den Mund. Ich verstand. Ich folgte ihr. Ein großer Gesellschaftsraum. Wieder eine offene Flügeltüre. Auf einer Terrasse nahmen wir Platz. Unter einer Marquise. Das letzte Mal in diesem Jahr, daß ich draußen saß. Alte Korbstühle, ein Eisentisch mit einer Schieferplatte. Auf dem Rasen eine Mähmaschine. Die ersten Laubhaufen. Die Pfauen dazwischen. Sie sagte, sie gärtnere gerade. Ein Bursche stak hinten im Park Erde um. Pfiff dabei. Die Pfauen müßten sie abschaffen. Die Nachbarn reklamierten. Sie hätten ein halbes Jahrhundert reklamiert. Aber ihr Vater liebe Pfauen. Sie glaube, nur um die Nachbarn zu ärgern. Er habe die Pfauen einfach schreien lassen. Trotz der Polizei, die von Zeit zu Zeit vorgesprochen habe. Der Pfauenschrei sei das Gräßlichste, was man hören könne. Die Häuser um sie herum hätten der Pfauen wegen an Wert verloren. Der Bodenpreis sei gesunken. Ihr Vater hätte alles aufgekauft. Die Nachbarn hätten nicht mehr zu reklamieren gewagt. Dann schenkte sie mir Tee ein. Ihr Vater sei ein Ungeheuer, sagte ich. Das könne sein, sagte sie. Ob sie das Manuskript gelesen habe? Überflogen, antwortete sie. Spät habe sie geliebt, meinte ich, darüber hatte er Hemmungen zu schreiben, und auch sie habe ihn einmal geliebt. Der gute Spät, sagte sie, die einzige, die er je geliebt habe, sei Daphne gewesen, über die schreibe er auch am lebendigsten. Die Liebe zu ihr, Hélène, bilde er sich nur ein. Habe er sich eingebildet, stellte ich richtig, der gute Spät sei vor vierzehn Tagen gestorben, im Stüssital.»Der Tee ist kalt geworden«, sagte sie und goß den Inhalt ihrer Tasse über die Terrasse auf den mit gelbem Laub bedeckten Rasen, vor die Füße des Gärtnerjungen, der frech pfeifend vorbeilief.


Dann schrien die Pfauen. Das täten sie um diese Zeit sonst nicht, erklärte sie, sie würden gleich aufhören. Aber die Pfauen hörten nicht auf. Wir sollten am besten hineingehen, sagte sie, und wir gingen hinein, schlössen die Flügeltüre, setzten uns in zwei Fauteuils, zwischen uns ein kleiner Spieltisch. Cognac? Bitte. Sie schenkte ein. Die Pfauen schrien draußen weiter, stur, unheimlich. Zum Glück höre ihr Vater die Biester nicht, sagte sie, und dann fragte sie, ob ich das mit der echten Monika Steiermann gelesen habe. Das komme mir alles unwahrscheinlich vor, antwortete ich. Auch sie sei einmal bei ihr eingeladen gewesen, an einem Sommerabend, sagte Hélène, sie sei noch nicht ganz achtzehn gewesen und habe Daphne, wie alle in dieser Stadt, für Monika Steiermann gehalten und sie bewundert, aber auch neidisch sei sie gewesen und auch auf Benno sei sie neidisch gewesen, weil er sie gemieden hätte, wen habe der sonst damals nicht alles verführt, es sei geradezu chic gewesen, mit Benno zu schlafen, so wie es chic gewesen sei, mit Monika Steiermann zu schlafen, obgleich man überzeugt gewesen sei, die beiden würden heiraten, auch das habe man für chic gehalten, aber sie, Hélène, sei die Tochter Kohlers gewesen und unantastbar. Benno sei ihr aus dem Weg gegangen. Doch habe sie keine Bedenken gehabt, die Einladung der Steiermann anzunehmen, vielmehr im geheimen gehofft, dort Benno zu treffen, so verliebt sei sie gewesen. Sie habe es ihrem Vater nach dem Abendessen beim schwarzen Kaffee mitgeteilt. Ob sie in die Aurorastraße eingeladen worden sei, habe ihr Vater gesagt und zum Marc gegriffen, er trinke zu Hause immer Marc. Ins >Mon Repos<, habe sie gesagt, dorthin sei noch niemand eingeladen worden. Nein, habe ihr der Vater geantwortet, dorthin seien bis jetzt nur Lüdewitz und er eingeladen worden. Ob er ihr einen Rat geben dürfe? Sie befolge keinen Rat, habe sie störrisch entgegnet. Sie solle die Einladung nicht annehmen, habe ihr Vater gesagt und seinen Marc ausgetrunken, das sei sein Rat. Aber sie sei trotzdem gegangen. Sie sei mit dem Fahrrad zum Wagnerstutz geradelt und habe am Eingangsportal geklingelt, nachdem sie das Rad an das Gitter gelehnt habe, erzählte sie weiter. Sie sei erstaunt gewesen, daß nichts geschah. Dann habe sie bemerkt, daß die große Gittertür unverschlossen gewesen sei, sie habe das Portal geöffnet und den Park betreten, aber kaum hätte sie den Park betreten gehabt, sei sie von einer unerklärlichen Furcht ergriffen worden, sie wollte wieder zurück, aber das Portal habe sich nicht mehr öffnen lassen. Hatte sie in ihrer Erzählung bisweilen gezögert, so sprach sie von nun an, als hätte sich alles, was sich zutrug, nicht mit ihr, sondern mit jemand anderem zugetragen. Nach ihrem Bericht war sie sich von diesem Augenblick an bewußt gewesen, daß sie in eine Falle gelockt worden war. Der verwilderte Park lag im Widerschein eines intensiven Abendrots, ein Glutstreifen, der ihr bösartig vorkam. Mechanisch schritt sie den Weg zur unsichtbaren Villa hinauf. Der Kies knirschte unter ihren Schritten. Dann bemerkte sie einen Gartenzwerg neben dem Weg, dann drei, darauf mehrere durch die Halme des ungeschnittenen Rasens lugend, mitten in Lupinen und Rittersporn, von Cosmeen überwuchert, trotz ihrer pausbäckigen Gesichter im Abendlicht tückisch, besonders als sie bemerkte, daß noch von den Bäumen Zwerge Pfeife schmauchend heruntergrinsten, angeekelt eilte sie an den Gartenzwergen vorbei, bis sie sich Gartenzwergen mit großen, fast kahlen, bartlosen Köpfen gegenüber befand, Figuren aus bemaltem Ton, die größer waren als die anderen Gartenzwerge, etwa von der Größe vierjähriger Kinder. Sie wagte nicht, an ihnen vorbeizugehen, bis sie bemerkte, daß einer dieser Gartenzwerge ihr zuzwinkerte, sie starrte die Figur entsetzt an. Die Figur begann zu grinsen. Sie eilte den Park hinauf, durch Scharen obszöner Gartenzwerge, bis sie auf eine Wiese gelangte, die ohne Gartenzwerge war, ein sanfter Ab-hang, an welchem oben die Villa sichtbar war. Atemlos blieb sie stehen. Sie blickte zurück. In der Hoffnung, sie hätte sich getäuscht. Alles sei nur ein Angsttraum gewesen. Da sah sie wieder den grinsenden Gartenzwerg mit kleinen schwankenden Schritten auf sich zukommen, sie rannte gegen die Villa hinauf, sie rannte durch die offene Haustür, sie hörte hinter sich ein trippelndes Rennen, sie rannte durch eine Vorhalle, dann durch eine Halle mit einem prasselnden Kamin, trotzdem es Sommer war, alles leer, nur das trippelnde Rennen hinter ihr. Sie gelangte in ein Kabinett, schlug die Türe zu, verriegelte sie, sah sich um. Sie war allein. Die Wände mit Fotos von Benno bedeckt. Sie warf sich in einen Ledersessel. Ein seltsamer süßer Geruch. Sie verlor die Besinnung. Sie sei dann wieder zu sich gekommen, fuhr sie ihre Erzählung fort. Vier nackte Kolosse hätten sie umklammert. Sie seien glatzköpfig gewesen und hätten nach Olivenöl gestunken. Sie seien glitschig wie Fische gewesen. Sie wisse nicht mehr alles. Sie hätte sich gewehrt. Jemand hätte gelacht. Dann seien ihr die Schenkel auseinandergerissen worden. Professor Winter sei aufgetaucht, nackt und dickbäuchig. Über dem geilen Faun habe sie den Gartenzwerg gesehen, der ihr nachgetrippelt war. Er habe auf dem Schrank gehockt, und erst jetzt habe sie begriffen, daß es kein Gartenzwerg, sondern ein weibliches Wesen war, das vom Schrank herunterlauerte, und daß alles, was geschah, nur um dieses Wesens willen mit dem fast kahlen Kopf einer Erwachsenen und dem Leib einer Vierjährigen geschah, das sie in die Villa hetzte, damit an ihr, Hélène, vollbracht würde, was an ihm nicht vollbracht werden könnte und welches dieses wünschte, daß es an ihm selber vollbracht würde, und wie nun Winter sie genommen und sich Benno und dann Daphne auf sie geworfen, habe sie als einzige Waffe die Lust überwältigt, sie habe geschrien und geschrien, und ihre Lust sei umso unermeßlicher gewesen, desto qualvoller der Blick des Wesens geworden sei. Es habe am ganzen Leib gezittert, in seinem Blick sei ein grenzenloser Neid gewesen, als ob es das Unglück geschüttelt hätte, von der Lust ausgeschlossen zu sein, die Hélène empfunden habe, die auf seinen Befehl von seinen Kreaturen vergewaltigt worden sei, bis das Wesen in höchstem Entsetzen geschrien habe:»Aufhören!«und in ein Schluchzen ausgebrochen sei. Hélène sei losgelassen, das Wesen hinausgetragen worden, und sie habe sich allein im Kabinett befunden. Sie habe ihre Kleider zusammengesammelt, in der Halle sei noch Glut im Kamin gewesen, dann sei sie durch die Vorhalle getappt, und durch den stockdunklen Park hinab habe sie das Portal erreicht. Es sei unverschlossen gewesen, endete sie ihren Bericht, und sie sei nach Hause geradelt.


Sie schwieg. Ob ich schockiert sei, fragte, sie dann.»Nein«, sagte ich,»aber noch etwas Cognac wäre schon das richtige. «Sie schenkte mir und sich ein. Zurückgekehrt, sagte sie, sei ihr Vater noch im Arbeitszimmer gewesen. Am Schreibtisch. Er habe sie kaum angeschaut. Sie habe ihm alles erzählt. Dann sei er zum Billardtisch gegangen und habe zu spielen begonnen. Was sie noch wolle, habe er gefragt. Rache, habe sie geantwortet.»Vergiß das Ganze«, habe ihr Vater gesagt. Aber sie habe auf Rache bestanden. Er habe das Spiel unterbrochen und sie angeschaut. Er hätte ihr den Rat gegeben, nicht hinzugehen, und sie sei hingegangen. Ihre Sache. Kein Rat müsse befolgt werden, sonst wäre es ein Befehl. Was geschehen sei, sei unwichtig, weil es geschehen sei. Man müsse Geschehenes von sich schütteln, wer nie vergessen könne, werfe sich der Zeit entgegen und werde zermalmt. Sie wolle sich aber rächen, habe sie geantwortet.»Mein Kind«, sagte ihr Vater, und es sei das einzige Mal gewesen, daß er sie so genannt habe, was er vorgebracht habe, sei auch nur ein Rat gewesen. Sie wolle die Rache haben, schön, sie solle die Rache haben. Seine Sache. Dann habe er vier Kugeln auf den Billardtisch gesetzt und zugestoßen, nur einmal, zuerst eine Kugel an die Bande, von dort sei sie zurückgekommen und habe eine Kugel in die» Tasche «gestoßen, Winter, habe ihr Vater gesagt, als die nächste Kugel in einer Tasche verschwunden sei, Benno, dann Daphne, und als er Steiermann gesagt habe, sei der Tisch leer gewesen. Und sie? habe sie gefragt. Sie sei das Queue, habe er geantwortet. Er werde sie nur einmal brauchen. Was mit ihnen geschehe, habe sie gefragt.»Sie werden sterben«, habe er geantwortet. In der Reihenfolge, wie er es angekündigt habe. Sie solle schlafen gehen, er habe noch zu arbeiten.


Dieses Gespräch, fuhr sie etwas später fort, wir waren beim dritten Cognac, und aus dem Nebenzimmer war das Aufeinanderprallen der Billardbälle zu hören, dieses Gespräch sei ihr noch unheimlicher in Erinnerung, als was vorher im >Mon Repos< geschehen sei, sie hätte in ihrem Zimmer das Licht gelöscht und lange in dieser endlosen Nacht die unbarmherzigen Sterne betrachtet, denen es gleichgültig sei, ob es auf der unsäglichen Nichtigkeit, die unsere Erde darstelle, Leben gebe oder nicht, geschweige denn menschliche Schicksale, und da sei ihr der Argwohn gekommen, ihr Vater hätte gewollt, daß sie hinginge, und damit gerechnet, daß ihre Neugier sie verführe. Aber warum hatte die Zwergin sie ausgewählt? War mit ihrer Demütigung sie, Hélène, oder ihr Vater gemeint? Wenn ihr Vater gemeint war, warum hatte er ihr, Hélène, zuerst abgeraten, sich zu rächen? Wollte er nur überlegen, ob er den Kampf aufnehmen solle oder nicht? Aber worum ging es in diesem Kampf? Wer stand wem gegenüber? Daß sich hinter dem Ziegeltrust, den ihr Vater immer spaßhalber erwähnte, noch andere, weit gewichtigere Unternehmen versteckten, und daß er hin und wieder vom Silikon sprach, dem die Zukunft gehöre, obgleich alle, die sie befragte, die Auskunft gaben, sie hätten keine Ahnung, was ihr Vater damit meinte, beunruhigte sie. War etwa zwischen ihm und Lüdewitz ein Machtkampf im Gange? War das, was an ihr geschehen war, nur ein Zeichen der Steiermann an ihren Vater, daß sie seine Einmischung nicht mehr dulde?

Ich überlegte, was sie mir erzählt hatte. Eines sei mir nicht klar, sagte ich, ihr Vater habe in München seinen Mord erzählt, gut, er habe ein falsches Motiv angegeben, aber daß ihm erst vor dem >Du Théâtre< die Idee gekommen sei, er könne den Revolver des Politikers — nein, das sei nun ganz und gar unwahrscheinlich. Hélène schaute mich aufmerksam an. Sie war eine verdammt schöne Frau. Es stimme, sagte sie, ihr Vater habe nicht die Wahrheit erzählt. Sie hätten beide den Mord abgesprochen. Der arme Spät habe es erraten. Ihr Vater habe mit seinem eigenen Revolver Winter erschossen und die Waffe in den Mantel des Ministers geschoben, worauf sie den Revolver im Flugzeug wieder aus dessen Manteltasche genommen und in London in die Themse geschmissen habe. Der Minister sei nicht mit der Swissair nach London geflogen, warf ich ein. Stüssi-Leupin habe recht mit seinem Einwand gehabt, antwortete sie, aber er habe nicht wissen können, daß sie auf Wunsch des Ministers als seine Begleiterin mitgeflogen sei. Sie hätte ihn deswegen immer wieder in der Privatklinik besucht. Sie schwieg. Ich schaute sie an. Sie hatte ein Leben hinter sich, und ich hatte ein Leben hinter mir.»Spät?«fragte ich. Sie wich meinem Blick nicht aus. Ich erzählte ihr meine Begegnung mit ihm. Sie hörte zu. Spät hätte sich von ihr ein falsches Bild gemacht, sagte sie ruhig, und auch ich würde mir von ihr ein falsches Bild machen. Schon wenige Wochen nach dieser Nacht habe sie ein Verhältnis mit Winter angefangen, dann mit Benno, darum der Streit Bennos mit Winter und jener Daphnes mit Benno und deren Bruch mit der Steiermann, mit wem sie sonst noch geschlafen habe, spiele keine Rolle, mit allen, sei die relativ exakteste Antwort. Sie sei sich selber unerklärlich. Sie versuche immer wieder rational etwas Irrationales zu erklären, aber ihr Verhalten sei stärker als ihre Vernunft. Vielleicht seien alle ihre Erklärungen nur Vorwände, ihre Natur zu rechtfertigen, die in jener Nacht im >Mon Repos< zum Durchbruch gekommen sei, vielleicht sehne sie sich nach immer weiteren Vergewaltigungen, weil der Mensch nur dann wirklich frei sei, wenn er vergewaltigt werde: auch frei vom eigenen Willen. Aber das sei ebenfalls nur eine Erklärung. Das unheimliche Gefühl, sie sei nichts als ein Werkzeug ihres Vaters, habe sie nie verlassen. Alle, die er bei seinem Billardspiel genannt hatte, seien in der vorhergesagten Reihenfolge ums Leben gekommen, zuletzt die Steiermann. Vor zwei Jahren. Auf seinen Rat hin sei sie ins Waffengeschäft eingestiegen, woran die Trög AG zugrunde gegangen sei. Dann habe man sie tot auf ihrer griechischen Insel gefunden. Ihre vier Leibwächter von Kugeln durchsiebt. Die Steiermann habe man erst ein halbes Jahr später gefunden, mit dem Kopf nach unten in einem Olivenbaum. Ob ich es nicht gelesen hätte? Der Name sei mir kein Begriff gewesen, antwortete ich. Als die Nachricht vom Verschwinden der Steiermann in den Zeitungen stand, sagte Hélène, habe sie auf dem Schreibtisch ihres Vaters ein Telegramm gefunden, das nur aus einer Zahlenreihe bestanden habe, 1171953, die, lese man sie als Datum, den Tag ihrer Vergewaltigung bedeute. Sei jedoch der Mord im Auftrag ihres Vaters geschehen, wer hatte ihn ausgeführt, und wer stand hinter den Ausführern und wer hinter denen und wer wieder hinter denen? Ob der Tod der Steiermann das Ende eines Wirtschaftskriegs gewesen sei? Ob dieser als Machtkampf etwas Rationales oder Irrationales gewesen sei? Was gehe in der Welt vor? Sie wisse es nicht. Ich wisse es auch nicht, sagte ich.


«Kehren wir zu Spät zurück«, sagte ich, wenn es ihr nichts ausmache. Es mache ihr nichts aus, sagte sie, sie hätte gehofft, als Spät den Auftrag ihres Vaters angenommen hatte, er würde dahinterkommen. Hinter was? Dahinter, wer ihren Vater zum Mord angestiftet habe, sie. Nicht sehr logisch, sagte ich. Warum? antwortete sie, sie hätte ihren Vater angestiftet. Sie hätte wählen können. Sie drehe sich im Kreis herum, stellte ich fest, zuerst habe sie ihrem Vater alle Schuld zugewiesen, jetzt sich. Sie seien beide schuldig, antwortete sie. Das sei reichlich verrückt, sagte ich. Sie sei verrückt, entgegnete sie. Weiter, befahl ich. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Als nach dem Freispruch ihres Vaters, nachdem er abgereist sei, Spät sie angepöbelt habe und beinah auf die Wahrheit gestoßen sei, sei sie zum Kommandanten gegangen und habe ihm alles gestanden. Was das heiße, fragte ich. Gestanden, alles habe sie gestanden, wiederholte sie. Und? fragte ich. Sie schwieg. Dann sagte sie, der Kommandant habe auch nur gefragt, und? Dann habe er sich eine Zigarre angezündet und gesagt, alter Schnee. Benno habe sich das Leben genommen, nachträglich festzustellen, wer nun geschossen habe, oder gar die Themse nach dem Revolver abzusuchen, unmöglich, es gebe Fälle, wo die Justiz ihren Sinn verloren habe, zur bloßen Farce werde. Sie solle wieder gehen, er vergesse, was sie ihm erzählt habe. Warum ihr Vater Spät nicht einmal erwähnt habe, fragte ich. Er habe ihn vergessen. Stüssi-Leupin auch, sagte ich. Es sei merkwürdig, antwortete sie, ihr Vater bilde sich ein, Benno, nicht er, habe den Mord begangen. Sie sei die einzige, die noch wisse, daß ihr Vater der Mörder gewesen sei. Ob sie denn das genau wisse, fragte ich, es sei zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht sei es doch Benno gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Es sei ihr Vater gewesen. Sie habe den Revolver untersucht, den sie der Manteltasche des Ministers entnommen und zu Hause selber geladen habe.


Warum sie mir das alles erzähle, fragte ich. Sie schaute mich erstaunt an. Wozu in aller Welt ich ihr das Manuskript denn zugeschickt habe? Nur um hinter die Wahrheit zu kommen? Ich sei vor allem ein Schriftsteller, der nicht an der Wahrheit der anderen, sondern an seiner eigenen interessiert sei, mir gehe es darum, einen Roman zu schreiben, und um nichts anderes, und erscheine einmal das Buch, so werde es unter meinem Namen erscheinen, nicht unter jenem Späts. Ob das Manuskript von Spät sei oder von mir, wisse nur ich, ich behaupte, es vom Kommandanten bekommen zu haben. Sie habe den alten Schwafler auch gekannt, er sei oft bei ihrem Vater und ihr zu Gast gewesen und habe aus der Schule geplaudert. Das könne er auch bei mir getan haben. Aber wenn ich sie schon benutze, so solle ich sie nicht wie ein goethisches Frauenzimmer beschreiben, die man samt und sonders verprügeln sollte, so langweilig seien sie, außer Philine, der einzigen von seinen Geschöpfen, mit welcher der alte Herr gern geschlafen hätte. Dann blickte sie starr vor sich hin. Vor dem Fenster ging pfeifend der Gärtnerjunge vorbei. Ob ich hinausfinde? Ich verabschiedete mich. In seinem Arbeitszimmer spielte der Alte immer noch Billard. A la bande.


Vier vor zwei. Ich trete vor mein Arbeitszimmer. Als ich es anlegen ließ, sah ich von ihm aus den See. Nun versperren Bäume die Sicht. Einige von ihnen mußte ich schon fällen, die noch nicht waren, als ich hierher zog. Es ist traurig, Bäume fällen zu müssen, man mordet sie. Die Eiche ist mächtig geworden. An den Bäumen spüre ich die Zeit, meine Zeit. Anders als ich sie am Himmel erspähe. Mit einem gewissen Bedauern sehe ich schon die Plejaden, Aldebaran, Kapella, Wintersterne, und doch ist es noch Sommer, ein Anzeichen, in einem Drittel eines Jahres ein Jahr älter geworden zu sein. Am Himmel spult sich die objektive Zeit ab, die meßbare Zeit eines bald Fünfundsechzigjährigen, mit den Bäumen wächst sie mit mir subjektiv dem Tod entgegen, nicht mehr meßbar, nur noch spürbar. Aber wie empfindet die Erde die Zeit? Ich schaue auf den nächtlichen See, er hat sich nicht verändert, sieht man von dem ab, was ihm die Menschen antaten. Doch wie alt empfindet sich die Erde? Objektiv? Uralt? Viereinhalb Milliarden Jahre alt? Oder fühlt sie sich subjektiv im besten Alter, da es noch sieben Milliarden Jahre dauern könnte, bis sie von der Sonne verglüht wird? Oder fühlt sie die Zeit in Blitzgeschwindigkeit, fühlt sie sich als ungeduldige ungestüme Kraft, kocht sie sich zusammen, sprengt sie Kontinente auseinander, stemmt Gebirge hoch, schiebt Schichten übereinander, schwemmt Meere übers Land, ist unser Wandel über einen sicheren Boden in Wirklichkeit ein Gehen über einen schwankenden Boden, der sich jederzeit zu öffnen und uns zu verschlingen vermag? Und wie ist es mit der Zeit der Menschheit beschaffen? Wir haben sie so objektiv wie möglich gemessen und eingeteilt in Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Neueste Zeit, eine noch neuere erwartend, ja, es gibt noch delikatere Einteilungen, wie etwa die, daß auf das Vermächtnis des Ostens das Zeitalter der Griechen folgt, daß sich daran Cäsar und Christus schließen, gefolgt vom Zeitalter des Glaubens, fröhlich läutet die Renaissance das Zeitalter der Reformation ein, und dann ist das Zeitalter, in welchem die Vernunft anhebt, nicht aufzuhalten, sie hebt sich bis heute an, sie hebt und hebt, seien wir nicht kleinlich, der Erste und der Zweite Weltkrieg und Auschwitz waren Episoden, Chaplin ist bekannter als Hitler, an Stalin glauben nur noch die Albaner und an Mao einige peruanische Terroristen, vierzig Jahre Frieden, das zählt, nicht überall, zugegeben, eigentlich nur zwischen den Supermächten und in Europa, im Pazifik im großen und ganzen und in Japan, reingewaschen von jeder Schuld durch Hiroschima und Nagasaki, und selbst China öffnet sich den Verkehrsbüros. Doch wie erlebt dieser Friede, wo er überhaupt Zeit hat, sich so zu nennen, seine Zeit? Bleibt sie ihm stehen, und wenn, weiß er mit ihr etwas anzufangen? Läuft sie ihm davon? Braust sie gar wie ein Sturmwind über ihn hin, als Tornado, die Autos ineinanderschmeißend, Züge von den Schienen fegend, Jumbo-Jets an Berge schmetternd, Städte niederbrennend? Wie rollt sich die Zeit unseres vierzigjährigen meßbaren Friedens objektiv ab, die Zeit, in der ein wirklicher Krieg, auf den hin man sich rüstet, immer undenkbarer scheint und doch bedacht wird? Hat unsere Friedenszeit, die zu erhalten Millionen demonstrieren, Transparente tragen, Pop singen und beten, nicht schon längst die Form dessen angenommen, das wir einst Krieg genannt haben, indem wir die Katastrophen, uns zu besänftigen, in unseren Frieden einbauen? Die Weltgeschichte gaukelt der Menschheit endlose Zeit vor, vielleicht ist sie für die Erde objektiv gemessen nur eine kurze Episode, nicht einmal das, ein Zwischenfall innerhalb einer Erdsekunde, kosmisch kaum mehr feststellbar, kaum eine schwer zu deutende Schramme hinterlassend. Die Dorer glaubten, sie seien, kaum dem Boden entsprossen, noch im Lehm steckend, über sich hergefallen: So fallen wir in Wirklichkeit über uns her, ob im Frieden oder im Krieg, kaum der Eiszeit entronnen, Männer über Frauen, Frauen über Männer, Männer über Männer, Frauen über Frauen, nicht von der Vernunft gelenkt, sondern vom Instinkt, Millionenjahre länger entwickelt als jene, undurchschaubar in seinen Motiven. So halten wir uns, indem wir mit Atom-, Wasserstoff-, Neutronenbomben drohen, das Schlimmste vom Leibe, wie Gorillas auf unsere Brüste trommelnd, die anderen Gorillahorden abzuschrecken, während wir Gefahr laufen, am Frieden einzugehen, den wir bewahren wollen, im Verrecken bedeckt von den Zweigen der gestorbenen Wälder. Müde kehre ich zu meinem Schreibtisch zurück. Zu meinem Schlachtfeld, in den Bannkreis meiner Geschöpfe, aber nicht in eine andere Wirklichkeit, außer jener, daß ihre Zeit abgelaufen ist, nicht die unsrige. Von mir erfunden, vermochte ich sie nicht zu enträtseln. Meine Geschöpfe erschufen sich ihre Wirklichkeit, die sie meiner Einbildungskraft entrissen und damit meiner Wirklichkeit, der Zeit, die ich hergab, sie zu schaffen. So sind auch sie ein Teil unser aller Wirklichkeit geworden und damit eine der Möglichkeiten, deren eine wir die Weltgeschichte nennen, auch sie eingepuppt vom Kokon unserer Fiktionen. Doch ist die Geschichte, die nur in meiner Phantasie wirklich wurde und die nun, geschrieben, von mir weicht, sinnloser als die Weltgeschichte, weniger erdbebensicher als der Boden, auf dem wir unsere Städte bauen? Und Gott? Denken wir ihn, hat er anders gehandelt als Dr.h.c. Isaak Kohler? Hatte Spät nicht die Freiheit, den Auftrag abzuweisen, einen Mörder zu suchen, den es nicht gab? Mußte er denn nicht einen Mörder finden, den es nicht gab, so wie der Mensch, als er die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen aß, den Gott finden mußte, den es nicht gab, den Teufel? Ist dieser nicht die Fiktion Gottes, um seine mißratene Schöpfung zu rechtfertigen? Wer ist der Schuldige? Jener, der den Auftrag gibt, oder jener, der ihn annimmt? Jener, der verbietet, oder jener, der das Verbot mißachtet? Jener, der die Gesetze erläßt, oder jener, der sie bricht? Jener, der die Freiheit zuläßt, oder jener, der sie wahrnimmt? Wir gehen an der Freiheit zugrunde, die wir gestatten und die wir uns gestatten. Ich verlasse mein Arbeitszimmer, das nun leer geworden ist, befreit von meinen Geschöpfen. Halb fünf. Am Himmel seh ich zum ersten Mal den Orion. Wen jagt er?


Friedrich Dürrenmatt

22.9.85

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