NEW ORLEANS
Donnerstag, 20. Februar, 23 Uhr
Sie zog sich langsam aus, und als sie nackt war, hüllte sie sich in ein leuchtendrotes Morgenkleid, damit man dasBlut nachher nicht so deutlich sah. Doris Whitneyblickte sich zum letzten Mal im Schlafzimmer um. Sie wollte sicher sein, daß dieser freundliche Raum, den sie in den vergangenen dreißig Jahren so liebgewonnen hatte, sauber und ordentlich war. Sie öffnete die Nachttischschublade und nahmbehutsam die Pistole heraus. Die Waffe glänzte schwarz und war erschreckend kalt. Sie legte sie neben das Telefon und wählte die Nummer ihrer Tochter in Philadelphia.
«Tracy… ich wollte nur mal eben deine Stimme hören.«
«Mutter! Das ist aber eine Überraschung!«
«Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.«
«Nein, ich habe noch gelesen. Charles und ich wollten zum Essen gehen, aber das Wetter ist einfach zu scheußlich. Hier schneit es wie verrückt. Undbei euch?«
Lieber Gott, wir reden über das Wetter, dachte Doris Whitney. Dabei hätte ich ihr so viel zu sagen. Und kann es nicht.
«Mutter? Bist du noch dran?«
Doris Whitney schaute aus dem Fenster.»Hier regnet es. «Wie melodramatisch, dachte sie. Und passend. Wie in einem Hitchcock‑Film.
«Was ist das für ein Krach im Hintergrund?«
Donner. Doris Whitney war so in Gedanken versunken, daß sie es nicht wahrgenommen hatte. Über New Orleans tobte ein
Gewitter. Anhaltende Regenfälle, hatte es im Wetterbericht geheißen. Temperaturen um neunzehn Grad. Gegen Abend gewittrige Schauer. Vergessen Sie Ihren Regenschirm nicht. Sie würde keinen Regenschirmbrauchen.
«Es donnert, Tracy. «Doris Whitneybemühte sich, einen heiteren Tonfall anzuschlagen.»Nun erzähl mir mal, was sich so tut in Philadelphia.«
«Ich komme mir vor wie eine Märchenprinzessin, Mutter«, sagte Tracy.»Ich habe nie geglaubt, daß man so glücklich sein kann. Morgen abend lerne ich Charles' Eltern kennen. «Sie senkte ihre Stimme, als hätte sie eine große Ankündigung zu machen.»Die Stanhopes vom Chestnut Hill. «Tracy lachte.»Sie sind eine Institution. Ich habe eine Heidenangst.«
«Mußt du nicht, Liebling. Sie werden dich sicher mögen.«
«Charles sagt, das sei egal. Er liebt mich. Und ichbete ihn an. Ich kann es gar nicht erwarten, daß du ihn kennenlernst. Er ist phantastisch.«
«Das glaube ich dir gern. «Sie würde Charles nie kennenlernen. Und nie ein Enkelkind auf dem Schoß wiegen. Nein. Daran darf ich nicht denken.»Weiß er, wie froh er sein kann, daß er dich hat?«
«Ich sage es ihm immer wieder«, lachte Tracy.»Jetzt haben wir aber genug von mir geredet. Erzähl mir von dir. Wie fühlst du dich?«
Sie sind kerngesund, Doris, hatte Dr. Rush gesagt. Sie werden hundert Jahre alt. Eine der kleinen Ironien des Schicksals.»Ich fühle mich prächtig.«
«Hast du inzwischen einen Freund?«fragte Tracy.
Seit Tracys Vater vor fünf Jahren gestorben war, hatte Doris Whitney nicht einmal daran gedacht, mit einem anderen Mann auszugehen, obwohl Tracy ihr gut zugeredet hatte.
«Nein. «Doris Whitney wechselte das Thema.»Wie läuft es mit deinem Job? Macht er dir immer noch Spaß?«
«Ja, ich finde ihn einfach toll. Und Charles hat nichts
dagegen, wenn ich nach der Hochzeit weiterarbeite.«
«Das ist schön, mein Kind. Hört sich so an, als wäre er ein sehr verständnisvoller Mann.«
«Ist er auch. Du wirst ja sehen.«
Ein gewaltiger Donnerschlag krachte — das Stichwort gewissermaßen. Es war Zeit. Es gabnichts mehr zu sagen, nur ein letztes Lebewohl.»Auf Wiedersehen, Liebling. «Doris Whitney achtete sehr darauf, daß ihre Stimme nicht zitterte.
«Wir sehen unsbei der Hochzeit, Mutter. Ich rufe dich an, sobald ich den Termin weiß.«
«Ja. «Es gabdoch noch etwas zu sagen.»Ich habe dich sehr, sehr lieb, Tracy. «Doris Whitney legtebehutsam den Hörer auf.
Sie griff nach der Pistole. Es gabnur einen Weg, das Ganze schnell hinter sich zubringen. Sie hobdie Pistole an ihre Schläfe und drückte ab.
PHILADELPHIA
Freitag, 21. Februar, 8 Uhr
Tracy Whitney trat aus der Eingangshalle ihres Appartmenthauses in einen grauen, mit Graupeln vermischten Regen hinaus. Er fiel unparteiisch auf die eleganten Limousinen, die von uniformierten Chauffeuren die Market Street entlanggesteuert wurden, und auf die leerstehendenBehausungen, die sich in den Slums von North Philadelphia aneinanderdrängten. Er wusch die Limousinen sauber und machte ein schmieriges Chaos aus den Müllhaufen vor den heruntergekommenen Reihenhäusern. Tracy Whitney war auf dem Weg zu ihrer Arbeit in derBank. Sie lief auf der Chestnut Street nach Osten, und wenn sie nicht so schnell gegangen wäre, hätte sie laut gesungen. Sie trug einen gelben Regenmantel, Stiefel und einen gelben Hut, der ihr üppiges, seidig glänzendes kastanienbraunes Haar kaum fassen konnte. Sie war fünfundzwanzig, hatte ein lebhaftes, kluges Gesicht, einen vollen, sinnlichen Mund, strahlende Augen, deren Farbe sichbinnen Sekunden von sanftem Moosgrün zu einem tiefen Jadeton wandeln konnte, und eine hübsche, sportliche Figur.
Und als sie nun die Straße entlangging, drehten sich die Leute nach ihr um, lächelten sie an undbeneideten sie um das Glück, das sie ausstrahlte. Tracy lächelte zurück.
Es ist unanständig, so glücklich zu sein, dachte sie. Ich heirate den Mann, den ich liebe, und ich werde ein Kind von ihm haben. Was will man mehr?
Als sich Tracy demBankgebäude näherte, warf sie einen
Blick auf ihre Uhr: 8 Uhr 20. Die Pforten der Philadelphia Trust and FidelityBank würden sich erst in zehn Minuten für die Angestellten öffnen, aber Clarence Desmond, stellvertretender Direktor derBank und Leiter der Auslandsabteilung, stelltebereits den Außenalarm abund schloß die Tür auf. Es machte Tracy Spaß, das Morgenritual zubeobachten. Sie stand im Regen und wartete, während Desmond das Gebäudebetrat und die Tür hinter sich abschloß.
Überall auf der Welt habenBanken ihre geheimen Sicherheitsvorkehrungen, und die Philadelphia Trust and FidelityBank machte da keine Ausnahme. Die Routinebliebimmer die gleiche. Bis auf das» Sicherheitssignal«, das jede Woche geändert wurde. Diese Woche handelte es sich um einen halbheruntergelassenen Rolladen, der den draußen wartenden Angestelltenbedeutete, daß gerade eine Überprüfung im Gange war. Clarence Desmond vergewisserte sich, daß keine Eindringlinge in derBank versteckt waren und darauf lauerten, die Angestellten als Geiseln zu nehmen. Er schaute überall nach: auf den Toiletten, in den Nebenräumen, im Tresorraum und im Raum mit den Schließfächern. Erst wenn er sich davon überzeugt hatte, daß er allein im Gebäude war, ging der Rolladen hoch: alles in Ordnung.
Um 8 Uhr 30betrat Tracy Whitney mit den anderen Angestellten die etwas protzige Eingangshalle, nahm ihren Hut ab, zog ihren Regenmantel und ihre Stiefel aus und hörte mit heimlicherBelustigung zu, wie die anderen über das Wetter jammerten.
Dann machte sie sich an ihre Arbeit.
Tracy leitete die Abteilung für telegrafische Überweisungen. Bis vor kurzem waren die Überweisungen vonBank zuBank und von Land zu Land eine langweilige, umständliche Sache gewesen. Aber mit der Einführung der Computer hatte sich das durchgreifend geändert. Nun konnten ungeheureBeträgeblitzschnell überwiesen werden. Alle Transaktionen waren
kodiert, und der Kode wechselte regelmäßig, damit kein unbefugtes Eindringen in den Zahlungsverkehr möglich war. Tagtäglich gingen Millionen elektronischer Dollar durch Tracys Hände, Diese Arbeit faszinierte sie, undbis sie Charles kennengelernt hatte, war dasBankwesen für sie das Aufregendste auf der Welt gewesen.
Tracy hatte Charles Stanhope junior während einer Finanztagung kennengelernt, auf der er den Gastvortrag hielt. Charles leitete die Investmentgesellschaft, die sein Urgroßvater gegründet hatte, und seine Firma stand in regem Geschäftsverkehr mit derBank, für die Tracy arbeitete. Nach Charles' Vortrag war Tracy zum Rednerpult gegangen, um seiner Auffassung zu widersprechen, daß die Länder der dritten Welt in der Lage seien, die schwindelerregendenBeträge zurückzuzahlen, die sie von Großbanken und westlichen Regierungen geborgt hatten. Charles war anfangsbelustigt, dannbeeindruckt und schließlich fasziniert von den leidenschaftlichen Argumenten der schönen jungen Frau. Sie hatten das Gesprächbeim Essen in einem Restaurant fortgesetzt.
Charles Stanhope junior ließ Tracy zunächst völlig kalt, obwohl sie natürlich wußte, daß man ihn für diebeste Partie von Philadelphia hielt.
Charles war fünfunddreißig, maß einen Meter achtundsiebzig, hatte schütteres strohblondes Haar undbraune Augen, trat ernst, ja pedantisch auf und war, so dachte Tracy, einer von jenen sterbenslangweiligen Reichen.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, beugte sich Charles etwas vor und sagte:
«Mein Vater ist überzeugt, daß sie ihm im Krankenhaus das falscheBaby gegeben haben.«
«Wiebitte?«
«Ichbin aus der Art geschlagen. Ich finde nämlich nicht, daß
Geld der Hauptzweck des Lebens ist. Aber das dürfen Sie meinem Vaterbitte nie verraten.«
Er hatte etwas sobezauberndBescheidenes, daß sich Tracy allmählich für ihn erwärmte. Wie das wohl wäre, mit jemandem wie ihm verheiratet zu sein?
Es hatte Tracys Vater die meiste Zeit seines Lebens gekostet, ein Geschäft aufzubauen, über das die Stanhopesbloß spöttisch gelächelt hätten: unbedeutend. Zwischen den Stanhopes und den Whitneys liegen Welten, dachte Tracy. Aber was spinne ich da eigentlich vor mich hin? Ein Mann lädt mich zum Essen ein, und ich überlege mir, obich ihn heiraten will. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen.
Dann sagte Charles:»Ich hoffe, Sie haben morgen abend noch nichts vor?«
In Philadelphia gabes viel zu sehen, und man konnte eine Menge unternehmen. An den Samstagabenden gingen Tracy und Charles ins Theater oder ins Konzert, und unter der Wochebummelten sie durch New Market oderbesuchten das Philadelphia Museum of Art und das Rodin‑Museum.
Da Charles sich nichts aus Sport machte, Tracy dagegen Spaß an körperlicherBewegung hatte, joggte sie jeden Samstagmorgen allein durch die Anlagen am Schuylkill River, und Samstag nachmittagsbesuchte sie einen Tai Chi Chuan‑Kurs. Das Training dauerte eine Stunde, und danach traf sie sich, erschöpft, aberbester Laune, mit Charles in seiner Wohnung. Er war ein Feinschmecker, kochte vorzüglich undbereitete gern für Tracy und sich Gerichte fremder Länder zu.
Charles war der förmlichste Mensch, den Tracy kannte. Sie war einmal zu einer Verabredung mit ihm eine Viertelstunde zu spät gekommen, und er ärgerte sich so darüber, daß es ihr den ganzen Abend verdarb. Danach hatte sie sich geschworen, nie wieder unpünktlich zu sein.
Tracy hatte nicht viel sexuelle Erfahrung, aber sie hatte den
Eindruck, daß Charles imBett genauso war wie im sonstigen Leben: gewissenhaft und überaus korrekt. Einmal hatte Tracybeschlossen, frech und unkonventionell zu sein. Sie hatte Charles damit so schockiert, daß sie sich fragte, obsie vielleicht einbißchen pervers sei.
Die Schwangerschaft kam völlig unerwartet. Und als es passierte, war Tracy entsetzlich unsicher. Charles hatte nie über eine mögliche Ehe geredet, und sie wollte nicht, daß er das Gefühl hatte, er müsse sie nun heiraten. Ganz kurz dachte sie an eine Abtreibung, aber sie merktebald, daß sie dies nicht wirklich wollte.
Eines Abendsbeschloß sie, Charles nach dem Essen zu sagen, daß sie schwanger war. Sie kochte in ihrer Wohnung ein Cassoulet für ihn und ließ es anbrennen vor lauter Nervosität. Als sie ihm das angesengte Fleisch und diebräunlich verfärbtenBohnen vorsetzte, vergaß sie ihre sorgfältig einstudierte kleine Rede und platzte einfach damit heraus:»Es tut mir schrecklich leid, Charles. Ich — ichbin schwanger.«
Dem folgte ein unerträglich langes Schweigen, und als Tracy es geradebrechen wollte, sagte Charles:»Wir heiraten selbstverständlich.«
Tracy fiel ein Stein vom Herzen.»Ich will aber nicht, daß du denkst… Ich meine, du mußt mich nicht heiraten.«
Er hobdie Hand, winkte ab.»Ich will dich aber heiraten, Tracy. Dubist sicher eine wunderbare Ehefrau. «Langsam fügte er hinzu:»Meine Eltern werden natürlich einbißchen überrascht sein.«
Und er lächelte Tracy an und küßte sie.
Tracy fragte ruhig:»Warum werden sie überrascht sein?«
Charles seufzte.»Ach, Liebling… ich fürchte, dubist dir nicht ganz im klaren, worauf du dich da einläßt. Die Stanhopes heiraten immer — in Anführungszeichen, wohlgemerkt —
ihresgleichen. Also erstens reich und zweitens alteingesessene Prominenz von Philadelphia.«
«Und deine Eltern habenbereits eine Frau für dich ausgesucht«, vermutete Tracy.
Charles nahm sie in die Arme.»Das ist völlig egal. Wen ich ausgesucht habe — das zählt und sonst nichts. Nächsten Freitag essen wirbei meinen Eltern zu Abend. Es wird Zeit, daß du sie kennenlernst.«
Fünf Minuten vor neun nahm Tracy eine Veränderung im Geräuschpegel derBank wahr. Die Angestellten sprachen ein wenig schneller undbewegten sich einbißchen rascher. In fünf Minuten würden sich die Pforten derBank öffnen, und dann mußte allesbereit sein. Durch das Fenster zur Straße sah Tracy die Kunden, die im kalten Regen auf demBürgersteig anstanden und warteten.
Tracybeobachtete, wie der Wachmann derBank neueBlankoformulare zur Ein- und Auszahlung in die Metallständer auf den sechs Tischen steckte, die am Mittelgang der Schalterhalle aufgereiht waren. Die Stammkundschaft derBank erhielt Einzahlungsbelege mit einem persönlichen Kode auf Magnetstreifen im unteren Feld des Formulars. Wenn eine Einzahlung vorgenommen wurde, buchte der Computer denBetrag automatisch auf das richtige Konto. Doch es geschah oft, daß Kunden ohne ihre Einzahlungsbelege in dieBank kamen. Dannbenutzten sieBlankoformulare.
Der Wachmannblickte auf die Wanduhr. Die Zeiger rückten auf 9 Uhr, und er ging zur Tür und schloß sie fast feierlich auf.
DerBankalltag hattebegonnen.
In den nächsten Stunden war Tracy so sehr am Computerbeschäftigt, daß sie an nichts anderes denken konnte. Bei jeder telegrafischen Überweisung mußte nachgeprüft werden, obsie fehlerfrei war. Wenn ein Kontobelastet wurde, tippte
Tracy die Kontonummer, denBetrag und dieBank ein, auf die das Geld überwiesen werden sollte. JedeBank hatte ihre eigene Leitzahl, und dieBankleitzahlen aller größerenBanken der Welt waren in einem Verzeichnis zum Dienstgebrauch aufgeführt.
Der Vormittag verging wie im Flug, und Tracy wollte in der Mittagspause zum Friseur. Zu einem teuren, aber das würde sich hoffentlich lohnen. Charles' Eltern sollten sie von ihrerbesten Seite sehen. Ich muß sie dazubringen, daß sie mich mögen, dachte Tracy. Es ist mir egal, wen sie für ihn ausgesucht haben. Niemand kann Charles so glücklich machen wie ich.
Es war 13 Uhr. Tracy schlüpfte gerade in ihren Regenmantel, als Clarence Desmond sie in seinBüro rief. Desmond war die Idealverkörperung einesBankmannes; hätte die Philadelphia Trust and FidelityBank im Fernsehen Werbung gemacht, so wäre er der perfekte Sprecher gewesen. Er war immer konservativ gekleidet, hatte etwas von einer soliden, altmodischen Autorität und wirkte absolut vertrauenswürdig.
«Nehmen Sie Platz, Tracy«, bat er. Er rühmte sich, alle Angestelltenbeim Vornamen zu kennen.»Scheußlich draußen, nicht?«
«Ja.«
«Aber die Leute müssen nun mal zurBank. Tja. «Mehr unverbindliche Floskeln fielen ihm nicht ein. Erbeugte sich ein wenig vor.»Wie man hört, wollen Charles Stanhope und Sie heiraten.«
Tracy war verblüfft.»Wir haben es noch nichtbekanntgegeben. Woher…«
Desmond lächelte.»Was die Stanhopes tun, macht immer von sich reden. Das freut mich sehr für Sie. Ich darf doch davon ausgehen, daß Sie auch weiterhin für uns arbeiten? Nach der Hochzeitsreise natürlich. Wir möchten Sie nicht verlieren, denn Sie sind eine von unseren wertvollsten
Mitarbeiterinnen.«
«Charles und ich haben schon darüber gesprochen, und wir fandenbeide, daß ich sicher glücklicherbin, wenn ich weiterarbeite.«
Desmond lächelte zufrieden. Stanhope & Sons gehörte zu den wichtigsten Investitionsgesellschaften der Finanzwelt, und wenn er das Geschäftskonto dieser Firma exklusiv für sein Haus ergattern konnte, war das ein guter Fang. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.»Wenn Sie von der Hochzeitsreise zurückkommen, Tracy, wartet eineBeförderung auf Sie — inklusive Gehaltserhöhung.«
«Oh, vielen Dank! Das ist ja wunderbar!«Tracy wußte, daß sie es sich redlich verdient hatte. Aber sie war trotzdem aufgeregt und stolz. Sie konnte es kaum erwarten, Charles davon zuberichten. Tracy schien, als hätten sich die Götter abgesprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um sie mit Glück zu überhäufen.
Charles' Eltern wohnten am Rittenhouse Square in einer imposanten alten Villa, die zu den Wahrzeichen der Stadt zählte. Tracy war schon oft an ihr vorbeigekommen. Und jetzt, dachte sie, wird die Villa ein Teil meines Lebens sein.
Tracy war nervös. Die feuchte Luft hatte ihrer schönen Frisurböse zugesetzt, und sie hatte sich viermal umgezogen. Sollte sie sich einfach kleiden? Oder festlich? Siebesaß ein Yves‑Saint‑Laurent‑Kleid, das sie sich mühsam zusammengespart hatte. Wenn ich das trage, werden sie mich für überspannt halten. Und wenn ich eines von meinenbilligen Fähnchen anziehe, werden sie glauben, ihr Sohn heiratet unter seinem Niveau. Ach, was soll's — das glauben sie sowieso, dachte Tracy. So entschied sie sich schließlich für einen schlichten grauen Wollrock und eine weiße Seidenbluse. Als einzigen Schmuck wählte sie die dünne goldene Halskette, die sie von ihrer Mutter zu Weihnachten geschenktbekommen hatte.
EinButler in Livree öffnete ihr die Tür.»Guten Abend, Miß Whitney. «DerButler weiß, wie ich heiße. Ist das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes?» Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«DerButler führte Tracy durch eine marmorne Eingangshalle, die ihr zweimal so groß vorkam wie die ganzeBank. O Gott, dachte sie in plötzlicher Panik. Ichbin falsch angezogen! Ich hätte doch das Yves‑Saint‑Laurent‑Kleid nehmen sollen. Als sie in dieBibliothek trat, spürte sie, wie sich eine Laufmasche an der Ferse ihrer Strumpfhose löste. Und dann stand sie Charles' Eltern gegenüber.
Charles Stanhope senior war fünfundsechzig oder sechsundsechzig. Er sah streng aus. Und wie der Erfolgsmensch überhaupt. Wenn man ihnbetrachtete, wußte man, wie sein Sohn in dreißig Jahren aussehen würde. Er hattebraune Augen wie Charles, ein energisches Kinn und schüttere weiße Haare. Tracy mochte ihn sofort. Das war der ideale Großvater für ihr Kind.
Charles' Mutter wirktebeeindruckend. Sie war ziemlich klein und mollig, aber sie hatte etwas Königliches an sich. Sie sieht solide und zuverlässig aus, dachte Tracy. Sicher eine wunderbare Großmutter!
Mrs. Stanhope streckte Tracy die Hand entgegen.»Wie nett von Ihnen, meine Liebe, daß Sie zu uns gekommen sind. Wir haben Charles gebeten, ein paar Minuten mit Ihnen alleine sprechen zu dürfen. Sie haben doch nichts dagegen?«
«Natürlich hat sie nichts dagegen«, sagte Charles' Vater.»Nehmen Sie Platz… Tracy, ja?«
«Ja, Sir.«
Charles' Eltern setzten sich auf eine Couch ihr gegenüber. Warum habe ich das Gefühl, ich müßte gleich ein Verhör über mich ergehen lassen? Tracy hatte die Stimme ihrer Mutter im Ohr: Gott lädt dir nie mehr auf, als du tragen kannst, Kind. Du mußt es schrittweise angehen, eins nach dem andern.
Tracys erster Schritt war ein dünnes Lächeln, das ihr völlig
schief geriet, weil sie im selben Moment spürte, wie die Laufmasche in ihrer Strumpfhose zum Knie hinaufwanderte.
«Also!«Mr. Stanhopes Stimme klang jovial.»Sie und Charles wollen heiraten.«
Das Wort wollenbeunruhigte Tracy. Charles hatte seinen Eltern doch sicher gesagt, daß sie auf jeden Fall heiraten würden.»Ja«, sagte Tracy.
Mrs. Stanhope räusperte sich.»Besonders lange kennen Sie und Charles sich eigentlich nicht, oder?«
Tracy empfand einen leisen Groll und kämpfte dagegen an. Ich hatte recht. Es wird tatsächlich ein Verhör.
«Lange genug, um zu wissen, daß wir uns lieben, Mrs. Stanhope.«
«Lieben?«murmelte Mr. Stanhope.
Mrs. Stanhope hobihre Augenbrauen.»Um ganz ehrlich zu sein, Miß Whitney — Charles' Ankündigung hat uns doch etwas schockiert. «Sie lächelte milde.»Charles hat Ihnen gewiß von Charlotte erzählt?«Sie sah Tracys fragenden Gesichtsausdruck.»Also nicht. Charlotte und er sind gemeinsam aufgewachsen. Sie waren immer sehr vertraut miteinander, und — nun ja, eigentlich haben alle erwartet, daß sie sich dieses Jahr verloben würden.«
Es war nicht nötig, Charlotte zubeschreiben. Tracy hätte einBild von ihr malen können. Wohnte in der Nachbarvilla. Reich. Derselbe soziale Hintergrund wie Charles. Eliteschulen. Eliteuniversitäten. Liebte Pferde und gewann Pokale.
«Erzählen Sie uns von Ihrer Familie«, schlug Mr. Stanhope vor.
Mein Gott, das ist wie eine Szene aus einem alten Film, dachte Tracy wütend. Ichbin Rita Hayworth undbegegne Cary Grants Eltern zum ersten Mal. Ichbrauche einen Drink. In den alten Filmen kam immer als letzte Rettung derButler mit Drinks.
«Wo sind Sie her, meine Liebe?«erkundigte sich Mrs.
Stanhope.
«Aus Louisiana. Mein Vater war Automechaniker. «Dieser Zusatz wäre nicht nötig gewesen, aber Tracy konnte der Versuchung nicht widerstehen. Zum Teufel mit diesem aufgeblasenen Paar. Sie war stolz auf ihren Vater.
«Automechaniker?«Charles' Eltern starrten sie an.
«Ja. Er hat eine kleine Fabrik in New Orleans aufgemacht und sie mit der Zeit zu einem recht stattlichenBetriebausgebaut. Als er vor fünf Jahren starb, hat meine Mutter die Firma übernommen.«
«Und was stellt diese… äh… Firma her?«
«Auspufftöpfe und anderes Autozubehör.«
Mr. und Mrs. Stanhope tauschten einenbedeutungsvollenBlick und sagten wie aus einem Munde:»Aha!«
Ihr Ton ließ Tracy erstarren. Wie lang es wohl dauern wird, bis ich diebeiden mag? fragte sie sich. Sieblickte in die zwei teilnahmslosen Gesichter ihr gegenüber undbegann zu ihrem eigenen Entsetzen aufs Geratewohl draufloszuplappern.»Meine Mutter wird Ihnenbestimmt gefallen. Sie ist schön und intelligent und sehr charmant. Sie kommt auch aus dem Süden. Sie ist sehr klein, ungefähr so groß wie Sie, Mrs. Stanhope…«Das Schweigen war derart drückend, daß Tracy verstummte. Dann gabsie ein kleines, albernes Gelächter von sich und verstummte abermals unter Mrs. Stanhopes starremBlick.
Schließlich sagte Mr. Stanhope ausdruckslos:»Wie uns Charles mitteilt, sind Sie schwanger.«
Oh, wie sehnlich wünschte sich Tracy, er hätte es ihnen nicht mitgeteilt! Sie waren so ablehnend! Als hätte ihr Sohn überhaupt nichts damit zu tun, als wäre es ein Makel, schwanger zu sein. Jetzt weiß ich, was ich hätte tragen sollen, dachte Tracy. EinBüßerhemd.
«Ich verstehe nicht, wie man heutzutage…«, begann Mrs. Stanhope. Aber siebrachte den Satz nicht zu Ende, weil in
diesem Moment Charles in dieBibliothek trat. Tracy war in ihrem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, jemanden zu sehen.
«Na?«fragte Charles strahlend.»Wie kommt ihr miteinander aus?«
Tracy stand auf und eilte in seine Arme.»Gut, Liebling. «Sie drückte ihn an sich und dachte: Gott sei Dank, daß Charles nicht so ist wie seine Eltern. So könnte er einfach nicht sein. Er ist nicht engstirnig und snobistisch und kalt.
Hinter Tracy und Charles wurde ein diskretes Hüsteln vernehmbar, und da stand derButler mit den Drinks. Es wird alles gut ausgehen, sagte sich Tracy. Dieser Film hat ein Happy‑End.
Das Essen schmeckte vorzüglich, aber Tracy war so nervös, daß sie keinenBissen hinunterbrachte. Das Tischgespräch drehte sich umBankgeschäfte und Politik und diebetrübliche Verfassung der Welt. Alles war sehr unpersönlich und höflich. Niemand sagte laut:»Sie haben unseren Sohn zur Ehe gezwungen. «Man muß fair sein, dachte Tracy. Sie haben natürlich das Recht, sich über die Frau Gedanken zu machen, die ihr Sohn heiratet. Eines Tages wird ihm die Firma gehören. Es ist wichtig, daß er die richtige Frau hat. Und Tracy schwor sich: Die wird er auch haben.
Charles nahm sacht die Hand, mit der Tracy unter dem Tisch an ihrer Serviette herumnestelte, lächelte und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Ihr Herz machte einen Sprung.
«Tracy und mir wäre eine kleine Hochzeit am liebsten«, sagte Charles.»Und danach…«
Mrs. Stanhope fiel ihm ins Wort.»Unsinn. Eine kleine Hochzeit… das gibt es nicht in unserer Familie, Charles. Dutzende von Freunden undBekannten werden erleben wollen, wie du heiratest. «Sieblickte Tracy an, betrachtete prüfend ihre Figur.»Vielleicht sollten wir die Einladungen zur
Hochzeit schon in den nächsten Tagen losschicken. «Und dann fügte sie hinzu:»Das heißt, wenn es euch recht ist.«
«Ja. Natürlich ist uns das recht. «Also würde es doch eine Hochzeit geben. Warum hatte ich auch nur den Schatten eines Zweifels daran?
«Einige Gäste werden aus dem Ausland anreisen«, fuhr Mrs. Stanhope fort.»Ich sorge dafür, daß sie hier im Haus untergebracht werden können.«
«Wißt ihr schon, wo ihr eure Flitterwochen verbringen wollt?«fragte Mr. Stanhope.
Charles lächelte und drückte Tracys Hand.»Das ist unser kleines Geheimnis, Vater.«
«Und wie lange sollen eure Flitterwochen dauern?«wollte Mrs. Stanhope wissen.
«Etwa fünfzig Jahre«, antwortete Charles. Und Tracy liebte ihn dafür.
Nach dem Essen gingen sie in dieBibliothek, um einenBrandy zu trinken. Tracy sah sich in dem hübschen, alten, mit Eiche getäfelten Raum um: Regale mit ledergebundenenBüchern, zwei Corots, ein kleiner Copley und ein Reynolds. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn Charles völlig unvermögend gewesen wäre, aber sie mußte natürlich zugeben, daß ein Leben im Wohlstand sehr angenehm sein würde.
Kurz vor Mitternacht fuhr Charles sie zu ihrer kleinen Wohnung in der Nähe des Fairmount‑Parks zurück.
«Hoffentlich war der Abend keine Strapaze für dich, Tracy. Meine Eltern können manchmal einbißchen steif sein.«
«Ich fand sie reizend«, log Tracy.
Sie war erschöpft von der Anspannung der letzten Stunden, doch als sie mit Charles vor ihrer Wohnungstür stand, fragte sie:»Kommst du noch mit rein?«Er sollte sie jetzt in seinen Armen halten, sollte sagen:»Ich liebe dich. Kein Mensch auf der Welt wird uns je auseinanderbringen.«
Stattdessen sagte er:»Heute nicht mehr. Ich habe morgen
viel zu tun.«
Tracy verbarg ihre Enttäuschung.»Natürlich, Liebling. Ich verstehe.«
«Ich rufe dich morgen an. «Er küßte sie flüchtig, wandte sich um und ging den Korridor entlang. Tracy sah ihm nach, bis er verschwunden war.
Die Wohnung stand in Flammen. Glocken klingelten hartnäckig und laut durch die Stille. Feueralarm. Tracy setzte sich schlaftrunken in ihremBett auf, schnupperte ins dunkle Zimmer. Roch es nach Rauch? Nein. Aber das Klingeln hörte nicht auf, und Tracy wurde klar, daß es das Telefon war. EinBlick auf den Wecker: 2 Uhr 30. Charles ist etwas zugestoßen — das raste ihr als erster Gedanke durch den Kopf. In Panik griff sie nach dem Hörer.
Eine ferne Männerstimme fragte:»Tracy Whitney?«
Sie zögerte. Wenn es ein obszöner Anruf war…»Wer ist am Apparat?«
«Lieutenant Miller vom New Orleans Police Department. Spreche ich mit Tracy Whitney?«
«Ja. «Tracybekam Herzklopfen.
«Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«
Tracy krampfte die Hand um den Hörer.
«Es geht um Ihre Mutter.«
«Hatte sie einen Unfall?«
«Sie ist tot, Miß Whitney.«
«Nein!«schrie Tracy. Das war ein obszöner Anruf. Irgendein Irrer versuchte, ihr Angst zu machen. Es war alles in Ordnung mit ihrer Mutter. Ihre Mutter lebte. Ich habe dich sehr, sehr lieb, Tracy.
«Ichbedaure außerordentlich, Ihnen das auf diesem Wege mitteilen zu müssen.«
Es war Wirklichkeit. Ein Alptraum. Aber es geschah tatsächlich. Tracy konnte nicht sprechen, war wie gelähmt.
Und wieder die Männerstimme:»Hallo? Miß Whitney? Hallo?«»Ich komme mit der ersten Maschine.«
Tracy saß in der winzigen Küche ihrer Wohnung und dachte an ihre Mutter. Es konnte nicht sein, daß sie tot war. Sie war immer so lebenssprühend gewesen, so vital. Sie hatten eine so enge und liebevolleBeziehung gehabt. Seit ihrer Kindheit hatte Tracy mit allen Problemen zu ihrer Mutter kommen, mit ihr über die Schule, die Jungen und später über die Männer reden können. Nach dem Tod von Tracys Vater waren viele Leute, die die Firma kaufen wollten, an Doris Whitney herangetreten. Sie hatten ihr so viel Geld geboten, daß sie den Rest ihres Lebens gut davon hätte leben können. Aber sie hatte sichbeharrlich geweigert, das Geschäft zu verkaufen.»Dein Vater hat diese Firma aufgebaut. Ich kann seine Lebensarbeit nicht einfach verschleudern. «Und sie hatte dafür gesorgt, daß das Geschäftblühte.
Ach, Mutter, dachte Tracy. Ich liebe dich so sehr. Du wirst Charles nie kennenlernen. Du wirst dein Enkelkind nie sehen. Und Tracybegann zu weinen.
Sie machte sich Kaffee und ließ ihn kalt werden, während sie im Dunkeln saß. Sie sehnte sich so sehr danach, Charles anzurufen, ihm zu sagen, was geschehen war, ihn an ihrer Seite zu haben. Aber einBlick auf die Küchenuhr zeigte ihr, daß sie ihn jetzt nicht anrufen konnte, ohne ihn zu wecken. Und das wollte sie nicht; deshalbwürde sie ihn aus New Orleans anrufen. Sie fragte sich, obder Tod ihrer Mutter einen negativen Einfluß auf die Heiratspläne haben würde, und sofort hatte sie Schuldgefühle. Wie konnte sie jetzt nur an sich denken? Lieutenant Miller hatte gesagt:»Wenn Sie hier sind, kommen Siebitte zur Polizeidirektion. «Warum zur Polizeidirektion? Was war passiert?
Tracy stand im überfüllten Empfangsgebäude des Flughafens von New Orleans und wartete inmitten ungeduldiger Passagiere, die stießen und drängelten, auf ihren Koffer. Sie hatte das Gefühl zu ersticken undbemühte sich, näher an dasBand mit dem Gepäck heranzukommen, aber niemand ließ sie durch. Nervosität stieg in ihr auf, und sie fürchtete sich vor dem, was ihrbevorstand. Sie versuchte sich einzureden, das sei alles nur ein Mißverständnis, doch die Worte von Lieutenant Miller hallten wieder und wieder in ihr nach: Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie… Sie ist tot, Miß Whitney… Ichbedaure außerordentlich, Ihnen das auf diesem Wege mitteilen zu müssen…
Als Tracy endlich ihren Koffer in der Hand hielt, stieg sie in ein Taxi und nannte die Adresse, die Lieutenant Miller ihr genannt hatte:»SouthBroad Street 715, bitte.«
Der Fahrer grinste sie im Rückspiegel an.»Zu denBullen, wie?«
Kein Gespräch. Nicht jetzt. In Tracys Kopf war alles in Aufruhr, aber der Fahrer plauderte während der Fahrt munter weiter:»Hat Sie die große Show hierher geführt, Miß?«
Tracy hatte keine Ahnung, wovon er redete, aber sie dachte: Nein. Mich hat der Tod hierher geführt. Sie hörte die Stimme des Fahrers, doch sie nahm seine Worte nicht wahr. Sie saß starr im Fond und warblind für die vertraute Umgebung, die an ihr vorbeizog. Erst als sie sich dem French Quarter näherten, bemerkte Tracy den wachsenden Lärm. Es war das Getöse eines verrückt gewordenen Pöbelhaufens; Randaliererbrüllten eine alte, wilde Litanei.
«Weiter kann ich Sie nichtbringen«, meinte der Fahrer.
Und dannblickte Tracy auf und sah es. Es war ein unglaublichesBild. Hunderttausende von schreienden Menschen, die Masken trugen, als Drachen und Alligatoren und heidnische Götter verkleidet waren, füllten die Straßen
undBürgersteige. Der Lärm war ohrenbetäubend.
«Steigen Sie aus, bevor die mir mein Taxi umkippen«, befahl der Fahrer.»Dieser gottverdammte Karneval.«
Natürlich, wie hatte sie es vergessen können. Es war Februar, und die ganze Stadt stürzte sich in den Faschingstrubel. Tracy stieg aus, stand mit dem Koffer in der Hand amBordstein und wurde im nächsten Moment hineingerissen in die lärmende, tanzende Menge. Es war obszön, ein Hexensabbat! Eine Million Furien feierte den Tod ihrer Mutter! Der Koffer wurde Tracy aus der Hand gerissen und verschwand. Ein dicker Mann mit Teufelsmaske hielt sie fest und küßte sie, ein Hirsch drückte ihr dieBrüste, ein Riesenpanda packte sie von hinten und hobsie hoch. Sie kämpfte sich frei, wollte davonrennen, aber es war unmöglich. Sie war eingekeilt, saß in der Falle, ein winziger Teil der ausufernden Festivitäten, schwamm mit in der johlenden Menge. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Schließlich konnte sie sich doch losreißen und in eine ruhige Straße fliehen. Sie war dem Zusammenbruch nahe. Lange Zeit stand sie reglos da, gegen einen Laternenpfahl gelehnt, atmete tief undbekam sich allmählich wieder in die Gewalt. Dann machte sie sich auf den Weg zur Polizeidirektion.
Lieutenant Miller war ein Mann in mittleren Jahren. Er sahbekümmert aus, hatte ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und schien sich in seiner Rolle äußerst unwohl zu fühlen.»Tut mir leid, daß ich Sie nicht vom Flughafen abholen konnte«, sagte er zu Tracy,»aber die ganze Stadt ist zur Zeit übergeschnappt. Wir haben die Sachen Ihrer Mutter durchgesehen, und Sie waren die einzige, die wir anrufen konnten.«
«Bitte, Lieutenant, bitten sagen Sie mir, was… was meiner Mutter passiert ist.«
«Sie hat Selbstmordbegangen.«
Ein kalter Schauer überlief Tracy.»Aber das ist doch unmöglich! Warum sollte sie sich umbringen? Sie hatte doch allen Grund zu leben!«Tracys Stimme klang verzweifelt.
«Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Er ist an Sie gerichtet.«
Das Leichenschauhaus war kalt und neutral und erschreckend. Tracy wurde durch einen langen weißen Korridor in einen großen, sterilen Raum geführt.
Ein Mann im weißen Kittel schlenderte zur nächsten Wand, streckte die Hand nach einem Griff aus und zog eine überdimensionale Schublade auf.»Wollen Sie mal schauen?«
Nein! Ich mag den leeren, leblosen Körper nicht in diesem Kasten liegen sehen. Tracy wollte nur eines: fort. Ein paar Stunden zurück in die Vergangenheit, zurück zum Klingeln der Glocken. Und es soll ein richtiger Feueralarm sein, nicht das Telefon, nicht die Nachricht vom Tod meiner Mutter. Tracybewegte sich langsam vorwärts. Jeder Schritt war ein stummer Schrei. Dannblickte sie auf die leblose Hülle nieder, die sie ausgetragen, gestillt und genährt, mit ihr gelacht und sie geliebt hatte. Siebeugte sich herabund küßte ihre Mutter auf die Wange, die kalt war und sich gummiartig anfühlte.»Oh, Mutter«, flüsterte Tracy.»Warum? Warum hast du das getan?«
Der kurze Abschiedsbrief, den Doris Whitney hinterlassen hatte, gabkeine Antwort auf diese Frage.
Liebe Tracy,
bitte verzeih mir. Ichbin gescheitert, und ich hätte es nicht ertragen, Dir zur Last zu fallen. Es istbesser so. Ich liebe Dich.
Deine Mutter
Die Zeilen waren so leblos und leer wie der Körper in der Schublade.
Am Nachmittag traf Tracy alle Vorbereitungen für dieBeerdigung und fuhr dann mit dem Taxi zum Haus der Familie Whitney. In der Ferne hörte sie den Lärm der ausgelassenen, ihren Karneval feiernden Menge.
Das Haus der Whitneys stammte aus dem 19. Jahrhundert und war, wie die meisten Wohnhäuser in New Orleans, in Holzbauweise errichtet und nicht unterkellert. Hier in diesem Haus war Tracy aufgewachsen, und esbargbehagliche Erinnerungen.
Sie war seit einem Jahr nicht mehr hier gewesen, und als das Taxi vor dem Haus hielt, sah sie schockiert das große Schild auf dem Rasen: ZU VERKAUFEN. Darunter der Name einer Immobilienfirma. Nein, das war unmöglich. Dieses Haus werde ich nie verkaufen, hatte Tracys Mutter oft gesagt. Wir waren hier alle so glücklich.
Von seltsamer Furcht erfüllt, ging Tracy an der großen Magnolie vorbei zur Vordertür. In der siebten Klasse hatte sie ihren eigenen Hausschlüsselbekommen, den sie seitdem stetsbei sich trug — als Talisman, als Erinnerung an jenen Ort der Geborgenheit, an den sie jederzeit zurückkehren konnte.
Sie sperrte die Tür auf, trat ein undbliebwiebetäubt stehen. Die Zimmer waren völlig kahl, die schönen alten Möbel fort. Tracy lief von Raum zu Raum. Sie konnte es nicht fassen. Es war, als sei eine Katastrophe über das Haus hereingebrochen. Tracy eilte in den ersten Stock und stand in der Tür zu dem Zimmer, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens gewohnt hatte. Kalt und leer starrte es sie an. O Gott, was ist geschehen? Tracy hörte die Türglocke und stieg wie in Trance die Treppe hinunter, um zu öffnen.
Otto Schmidt stand vor ihr, der Werkmeister der Whitney Automotive Parts Company. Er war weit über sechzig, hatte ein runzliges Gesicht und einen, abgesehen vomBierbauch, zaundürren Körper. Ein Kranz von widerspenstigen grauen
Haaren säumte seinen nackten Schädel.
«Tracy«, sagte er.»Ich habe es eben erfahren. Ich… ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«
Tracy drückte ihmbeide Hände.»Ach, Otto. Ichbin so froh, Sie zu sehen. Kommen Sie herein. «Sie führte ihn in das leere Wohnzimmer.»Tut mir leid, daß man hier nirgendwo sitzen kann«, entschuldigte sie sich.»Wir müssen uns auf denBoden setzen. Macht es Ihnen was?«
«Nein, nein.«
Sie nahmen einander gegenüber Platz, die Augen verschleiert vor Kummer. Otto war schon jahrelangbei der Firma, und Tracy wußte, wie sehr sich ihr Vater auf ihn verlassen hatte. Als ihre Mutter die Firma übernommen hatte, war Schmidt geblieben und ihrbei der Leitung des Geschäfts zur Hand gegangen.
«Otto, ich verstehe das alles nicht. Die Polizei sagt, meine Mutter hat Selbstmordbegangen. Aber Sie wissen ja, daß sie keinen Grund hatte, sich umzubringen. «Plötzlich durchzuckte sie ein entsetzlicher Gedanke.»Sie war doch nicht krank, oder? Sie hatte keine furchtbare…«
«Nein, das nicht. «Otto Schmidt schautebetreten weg. In seinen Worten schwang irgend etwas Unausgesprochenes mit.
Langsam sagte Tracy:»Sie wissen, woran es lag.«
Erblickte sie aus feuchtenblauen Augen an.»Ihre Mutter hat Ihnen nicht erzählt, was hier in letzter Zeit passiert ist. Sie wollte nicht, daß Sie sich Sorgen machen.«
Tracy runzelte die Stirn.»Sorgen? Warum? Sprechen Sie weiter…bitte.«
Er öffnete die schwieligen Hände und schloß sie wieder.»Ist Ihnen der Name Joe Romano einBegriff?«
«Joe Romano? Nein. Warum?«
Otto Schmidt kniff die Augen zusammen.»Vor sechs Monaten ist Romano an Ihre Mutter herangetreten. Er wollte
die Firma kaufen. Sie hat abgewinkt, aber er hat ihr das Zehnfache von dem geboten, was das Geschäft wirklich wert ist, und da konnte sie nicht widerstehen. Sie war so aufgeregt. Sie wollte das ganze Geld in Wertpapieren anlegen. Die hätten soviel Zinsen gebracht, daß Siebeide den Rest Ihres Lebens gut davon hätten leben können. Sie wollte Sie überraschen. Ich habe mich so sehr für Sie gefreut. Ich wollte mich eigentlich schon vor drei Jahren zur Ruhe setzen, aber ich konnte Mrs. Doris ja nicht einfach allein lassen, nicht wahr? Dieser Romano…«, Otto spie das Wort fast aus,»… dieser Romano hat eine kleine Anzahlung geleistet. Das große Geld sollte vorigen Monat kommen.«
«Ja, und weiter?«fragte Tracy ungeduldig.»Was ist passiert?«
«Als Romano die Firma übernommen hat, hat er allen gekündigt und seine Leute in denBetriebgesetzt. Dann hat er die Firma systematisch ausgeplündert. Er hat das gesamte Inventar verkauft, eine Menge neue Maschinenbestellt und weiterverkauft, aber nicht dafürbezahlt. Die Lieferfirmen waren zunächst nichtbeunruhigt. Sie haben gedacht, sie hätten es noch mit Ihrer Mutter zu tun. Als sie Ihre Mutter schließlich angemahnt haben, ist sie zu Romano gegangen und wollte wissen, was eigentlich los ist. Romano hat gesagt, er wäre nun doch nicht interessiert, und sie könnte die Firma wiederhaben. Aber inzwischen war die Firma nichts mehr wert. Und Ihre Mutter hatte außerdem eine halbe Million Dollar Schulden, die sie nichtbezahlen konnte. Tracy — meine Frau und ich haben mitverfolgt, wie Ihre Mutter gekämpft hat, und es hat uns fast umgebracht. Sie hat mit allen Mitteln versucht, die Firma zu retten. Es ging nicht. Sie mußte Konkurs anmelden. Und sie haben ihr alles genommen: das Geschäft, dieses Haus, sogar ihr Auto.«
«O Gott!«
«Es geht noch weiter. Der Staatsanwalt hat Ihrer Mutter
mitgeteilt, daß er gegen sie Anklage erheben will wegenBetrugs und daß sie mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hat.«
Tracy kochte vor hilfloser Wut.»Aber sie hätte den Leuten dochbloß die Wahrheit sagen müssen! Sie hätte ihnen nur erklären müssen, was dieser Romano mit ihr gemacht hat!«
Der alte Werkmeister schüttelte den Kopf.»Joe Romano arbeitet für einen Mann namens Anthony Orsatti. Und Orsatti hat das Sagen in New Orleans. Ich habe zu spät herausgefunden, daß Romano dasselbe auch schon mit anderen Firmen gemacht hat. Wenn Ihre Mutter ihn verklagt hätte, hätte es Jahre gedauert, bis alles geklärt gewesen wäre. Und dafür hatte sie nicht das nötige Geld.«
«Warum hat sie mir nichts gesagt?«Es war ein Aufschrei des Schmerzes, ein Aufschrei um den Schmerz ihrer Mutter.
«Mrs. Doris war eine stolze Frau. Und was will man machen? Man kann nichts machen.«
Da irrst du dich, dachte Tracy erbost.»Ich will mit Joe Romano reden. Wo wohnt er?«
«Das können Sie vergessen«, erwiderte Schmidt.»Sie haben keine Ahnung, wieviel Macht der Mann hat.«
«Wo wohnt er, Otto?«
«In einem Haus am Jackson Square. Aber es ist sinnlos, ihn aufzusuchen, Tracy, glauben Sie mir.«
Tracy gabkeine Antwort. Sie empfand eine Regung, die ihr völlig fremd war: Haß. Joe Romano wird dafürbezahlen, daß er meine Mutter in den Tod getrieben hat. Das schwor sich Tracy.
Siebrauchte Zeit. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Planen. Sie konnte das leergeräumte Haus nicht ertragen. Also zog sie in ein kleines Hotel in der Magazine Street, weit entfernt vom French Quarter, wo immer noch wild gefeiert wurde. Sie hatte kein Gepäck, und der mißtrauische Mann am Empfang sagte:»Sie müssen im voraus zahlen. Vierzig Dollar pro Nacht.«
Tracy rief von ihrem Zimmer aus Clarence Desmond an und teilte ihm mit, sie werde einige Tage nicht zur Arbeit kommen können.
Er kaschierte seinen Ärger über die Störung.»Da machen Sie sich nur keine Gedanken«, sagte er.»Wir finden schon jemand, der für Sie einspringt. «Er hoffte, daß sie nicht vergessen würde, Charles Stanhope zu erzählen, wie verständnisvoll er gewesen war.
Dann führte Tracy ein Telefonat mit Charles.»Charles, Liebling…«
«Wo steckst dubloß, Tracy? Meine Mutter hat den ganzen Vormittag versucht, dich zu erreichen. Sie wollte heute mit dir zu Mittag essen. Ihr müßt etliche Dingebesprechen.«
«Tut mir leid, Liebling. Ichbin in New Orleans.«
«Wobist du? In New Orleans? Was machst du denn da?«
«Meine Mutter ist… gestorben. «Die Worteblieben Tracy fast im Hals stecken.
«Oh, das tut mir leid, Tracy. Es ist ganz plötzlich gekommen, nicht? Sie war doch noch ziemlich jung?«
Sie war noch sehr jung, dachte Tracy trübsinnig.»Ja«, antwortete sie.»Sie war noch ziemlich jung.«
«Was ist passiert? Und wie geht es dir?«
Tracy konnte sich nicht dazu überwinden, Charles zu
erzählen, daß ihre Mutter Selbstmordbegangen hatte. Am liebsten hätte sie die ganze entsetzliche Geschichte herausgeschrieen. Was man ihrer Mutter angetan, wie man sie in den Tod getrieben hatte. Aber sie hielt sich zurück. Das ist mein Problem, dachte sie. Ich darf Charles nicht damitbelasten.»KeineBange«, sagte sie,»mir geht es gut, Liebling.«
«Soll ich kommen, Tracy?«
«Nein, danke. Ich schaffe das schon. Morgen ist dieBeerdigung, und am Montagbin ich wieder in Philadelphia.«
Am späten Nachmittag verließ Tracy das Hotel. Sie ging die Canal Street entlang, bis sie zu einem Pfandhaus kam. Ein müder Mann mit altmodischem grünem Augenschirm saß hinter dem vergitterten Tresen.
«Kann ich was für Sie tun?«
«Ich… ich möchte eine Waffe kaufen.«
«Was für eine?«
«Äh… einen Revolver.«
«Wollen Sie einen 32er, einen 45er, einen…«
Tracy hatte noch nie in ihrem Leben eine Waffe in der Hand gehabt.»Einen… einen 32er. Der tut's wohl.«
«Ich habe einen schönen Smith & Wesson für 229 Dollar oder einen Charter Arms für 159 Dollar…«
Tracy hatte nicht soviel Geldbei sich.»EtwasBilligeres haben Sie nicht?«
Der Mann zuckte die Achseln.»Billiger ist nur noch 'ne Schleuder, Lady. Aber weil Sie's sind, kriegen Sie von mir einen 32er für 150 Dollar. Und eine Schachtel Munition gratis dazu.«
«Gut. «Tracybeobachtete, wie der Mann zu einem Tisch voll Waffen ging und einen Revolver aussuchte. Er trug ihn zum Tresen.»Wissen Sie, wie man so ein Dingbedient?«
«Man… man drückt einfach ab.«
Der Mann gabeinen Grunzlaut von sich.»Soll ich Ihnen
zeigen, wie man ihn lädt?«
Tracy wollte sagen, das sei nicht nötig, sie habe nicht vor, Gebrauch von der Waffe zu machen, sie wolle nur jemanden erschrecken. Aber dann wurde ihr klar, wie läppisch das klingen würde. Und sobat sie den Mann, es ihr zu zeigen. Sie sah zu, wie er die Patronen in die Trommel steckte, öffnete dann ihre Handtasche und legte die 150 Dollar auf den Tresen.
«Ichbrauche noch Ihren Namen und Ihre Adresse für das Polizeiregister.«
Daran hatte Tracy nicht gedacht. Es war eine strafbare Handlung, Joe Romano mit der Waffe zubedrohen. Aber er ist der Kriminelle, nicht ich.
Der Mannblickte Tracy fragend an. Der grüne Schirm ließ seine Augen gelberscheinen.»Name?«
«Smith. Joan Smith.«
Er notierte es auf einer Empfangsbescheinigung.»Adresse?«
«Dowman Road. Dowman Road 3020.«
Ohne aufzublicken, sagte der Mann:»Die Hausnummer gibt's nicht. Das wäre mitten im Mississippi. Machen wir 1520 daraus. «Er schobihr die Empfangsbescheinigung zu.
Sie unterschriebund fragte:»Das war's?«
«Ja, das war's. «Der Mann reichte Tracybehutsam den Revolver durch das Gitter. Sie starrte wie gebannt auf die Waffe, nahm sie dann entgegen, verstaute sie in ihrer Handtasche, drehte sich um und eilte aus dem Pfandhaus.
«He, Lady!«rief ihr der Mann nach.»Vergessen Sie nicht, daß das Ding geladen ist!«
Am Jackson Square, der im Herzen des French Quarter lag, schirmten Hecken und schöne Magnolien die gepflegten alten Häuser vor dembrausenden Verkehr ab. In einem dieser Häuser wohnte Joe Romano.
Tracy wartete, bis es dunkel war, und machte sich dann auf den Weg. Der Karnevalszug hatte sich zur Chartres Street weitergewälzt, und Tracy hörte von fern den Widerhall des Tumults, in den sie am Vormittag geraten war.
Sie stand im Schatten, betrachtete Joe Romanos Haus, spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Handtasche. Ihr Plan war einfach. Sie würde ruhig und vernünftig mit Joe Romano reden. Sie würde ihnbitten, die Schande vom Namen ihrer Mutter zu tilgen. Wenn er sich weigerte, würde sie ihn mit dem Revolverbedrohen und ihn zwingen, ein schriftliches Geständnis niederzulegen. Dieses Geständnis würde sie Lieutenant Millerbringen; er konnte dann Romano verhaften. Womit die Ehre ihrer Mutter wiederhergestellt war. Tracy wünschte sich sehnlich, daß Charlesbei ihr wäre. Doch es war wohlbesser, das allein zu tun. Charles durfte nicht in die Sache hineingezogen werden. Sie würde ihm davonberichten, wenn alles vorbei war und Joe Romano hinter Schloß und Riegel saß.
Ein Fußgänger näherte sich. Tracy wartete, bis er verschwunden war und die Straße verlassen dalag. Dann lief sie zur Haustür und drückte die Klingel. Keine Reaktion. Wahrscheinlich ist er auf einer Faschingsparty, dachte Tracy. Aber ich kann warten. Ich kann warten, bis er nach Hause kommt. Plötzlich ging das Licht auf der Veranda an. Die Tür öffnete sich, und ein Mann stand vor Tracy. Sein Aussehen verblüffte sie. Sie hatte sich eine üble Gestalt vorgestellt, eine Gangstervisage. Stattdessen hatte sie einen attraktiven, kultiviert wirkenden Mann vor sich, den man ohne weiteres für einen Professor hätte halten können. Seine Stimme war leise und freundlich.»Guten Abend. Kann ich Ihnenbehilflich sein?«
«Sind Sie Joseph Romano?«fragte Tracy unsicher.
«Ja. Was kann ich für Sie tun?«Er hatte eine angenehme, verbindliche Art. Kein Wunder, daß sich meine Mutter von ihm
hatblenden lassen, dachte Tracy.
«Ich… ich würde gern mit Ihnen reden, Mr. Romano.«
Er warf einen prüfendenBlick auf ihre Figur.»Bitte, kommen Sie herein.«
Tracy trat in ein Wohnzimmer voll schöner antiker Möbel. Joseph Romano führte ein gutes Leben. Mit dem Geld meiner Mutter, dachte Tracy erbittert.
«Ich wollte mir gerade einen Drink machen. Mögen Sie auch einen?«
«Nein, danke.«
Erbetrachtete sie neugierig.»Weshalbwollten Sie mich sprechen, Miß…«
«Tracy Whitney. Ichbin Doris Whitneys Tochter.«
Er schaute sie einen Moment völlig verständnislos an. Dannbegriff er.»Ach ja. Ich hab's gehört. Das mit Ihrer Mutter, meine ich. Zu dumm.«
Zu dumm! Er trug die Schuld am Tod ihrer Mutter, und sein einziger Kommentar war:»Zu dumm.«
«Mr. Romano, der Staatsanwalt glaubt, daß meine Mutter eineBetrügerin war. Sie wissen, das stimmt nicht. Ich möchte, daß Sie mir helfen, meine Mutter von diesem Verdacht zu entlasten.«
Er lachte.»Im Karneval rede ich nie übers Geschäft. Das verbietet mir meine Religion. «Romano ging zurBar und mixte zwei Drinks.»Ich glaube, Sie fühlen sichbesser, wenn Sie einen Schluck getrunken haben.«
Er ließ ihr keine andere Wahl. Tracy öffnete ihre Handtasche, zog den Revolver heraus und zielte auf Romano.»Ich werde Ihnen sagen, wann ich michbesser fühle, Mr. Romano. Wenn Sie gestehen, was Sie meiner Mutter angetan haben.«
Joseph Romano drehte sich um und sah die Waffe.»Stecken Sie das Schießeisen lieber weg, Miß Whitney. Es könnte losgehen.«
«Es wird losgehen, wenn Sie nicht genau das tun, was ich
Ihnen sage. Sie schreiben jetzt auf einBlatt Papier, wie Sie die Firma ausgeplündert undbankrott gemacht haben. Und wie Sie meine Mutter zum Selbstmord getrieben haben.«
Romanobeobachtete Tracy nun genau, einen wachsamen Ausdruck in den dunklen Augen.»Ich verstehe. Und was ist, wenn ich mich weigere?«
«Dann töte ich Sie. «Tracy spürte, wie der Revolver in ihrer Hand zitterte.
«Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie jemand kaltblütig töten, Miß Whitney. «Er ging langsam auf sie zu, einen Drink in der Hand. Seine Stimme klang sanft und einschmeichelnd.»Ich habe nichts mit dem Tod Ihrer Mutter zu tun. Glauben Sie mir, ich…«Er schüttete Tracy den Drink ins Gesicht.
Der Alkoholbrannte Tracy in den Augen, und im nächsten Moment wurde ihr der Revolver aus der Hand geschlagen.
«Ihre Frau Mama hat mir was vorenthalten«, lächelte Joe Romano.»Sie hat mir nicht verraten, daß sie eine geile Tochter hat.«
Er packte Tracybei den Armen. Sie konnte nichts sehen und hatte Angst. Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen, aber er stieß sie gegen die Wand, drückte sich an sie.
«Du hast Courage, Baby. Das gefällt mir. Es macht mich scharf. «Seine Stimme war heiser. Tracy spürte seinen Körper an ihrem. Sie wollte sich wegdrehen, aber er hatte sie so fest im Griff, daß sie hilflos war.
«Du hast ein kleines Abenteuer gesucht, wie? Bei Joebist du da an der richtigen Adresse.«
Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Sie konnte nur keuchen.»Lassen Sie mich los!«
Er riß ihr dieBluse auf.»He! Was für tolle Titten«, flüsterte er und kniff sie in dieBrustwarzen.»Wehr dich, Baby«, sagte er leise.»Ich mag das.«
«Lassen Sie mich los!«
Er drückte fester zu, er zwang Tracy zuBoden.
«Dubistbestimmt noch nie von einem richtigen Mann gefickt worden«, grinste er. Jetzt war er über ihr. Sein Körper war schwer, und seine Hände wanderten an ihren Oberschenkeln empor. Tracy schlugblindlings um sich. Daberührten ihre Finger den Revolver, und sie griff danach.
Plötzlich gabes einen ohrenbetäubenden Knall.
Sie hörte Romanos Schrei und spürte, wie sich sein Griff lockerte. Durch rote Schleier vor den Augen sah sie mit kaltem Entsetzen, wie er von ihr abglitt und zuBoden sackte.»Du hast auf mich geschossen, du Miststück. Du hast auf mich geschossen…«
Tracy war wie gelähmt. Ihr wurde schlecht, und die Augen taten ihr höllisch weh. Sie rappelte sich mühsam hoch, wandte sich um, stolperte zu der Tür am anderen Ende des Raumes und stieß sie auf. EinBadezimmer. Sie taumelte ans Waschbecken, ließ kaltes Wasser einlaufen und nahm ein Augenbad, bis der Schmerz halbwegs erträglich war und sie wieder klar sehen konnte. Dann schaute sie in den Spiegel. Ihre Augen warenblutunterlaufen, ihrBlick flackerte unruhig. Mein Gott, ich habe eben einen Mann getötet. Sie rannte ins Wohnzimmer zurück.
Joe Romano lag auf demBoden, und seinBlut färbte den weißen Teppich rot. Tracy stand mit leichenblassem Gesicht neben Romano.»Es tut mir leid«, stammelte sie verwirrt.»Ich wollte Sie nicht…«
«Einen Krankenwagen…«Romanos Atem ging stoßweise.
Tracy eilte zum Telefon, wählte und sprach mit erstickter Stimme in die Muschel.»Bitte schicken Sie sofort einen Krankenwagen. «Sie nannte Romanos Adresse.»Hier liegt ein Mann mit einer Schußwunde.«
Sie hängte ein undblickte auf Joe Romano nieder. Lieber Gott, betete sie, laß ihn nicht sterben. Du weißt, daß ich ihn nicht töten wollte. Sie kniete sich neben Romano, um festzustellen, ober noch lebte. Er hatte die Augen
geschlossen, aber er atmete noch.»Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, sagte Tracy.
Dann floh sie.
Siebemühte sich, nicht zu rennen, denn sie wollte kein Aufsehen erregen, zog deshalbauch ihre Jacke um sich, damit man die zerrisseneBluse nicht sah. Vier Straßen von Romanos Haus entfernt versuchte sie, ein Taxi zu kriegen. Sechs fuhren an ihr vorbei. Allebesetzt. Lauter glückliche, lachende Fahrgäste. Von fern hörte Tracy eine Sirene, und Sekunden später raste ein Krankenwagen an ihr vorbei, in die Richtung von Joe Romanos Haus. Ich muß schnell weg von hier, dachte Tracy. Zehn Meter vor ihr hielt ein Taxi amBordstein. Die Fahrgäste stiegen aus. Tracy rannte auf das Taxi zu.»Sind Sie frei?«
«Kommt ganz drauf an. Wo wollen Sie hin?«
«Zum Flughafen. «Tracy hielt den Atem an.
«Steigen Sie ein.«
Auf dem Weg zum Flughafen dachte Tracy nach. Wenn der Krankenwagen zu spät gekommen war… wenn Joe Romano tot war… dann war sie eine Mörderin. Sie hatte den Revolver, der ihre Fingerabdrücke trug, nicht eingesteckt. Aber sie konnte der Polizei sagen, daß Romano versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und daß die Waffe aus Versehen losgegangen war — nur würde ihr das niemand glauben. Sie hatte den Revolver gekauft, der neben Joe Romano auf demBoden lag. Sie mußte so rasch wie möglich fort aus New Orleans.
«Na, hat Ihnen der Karneval Spaß gemacht?«fragte der Fahrer.
Tracy schluckte.»Ich… ja. «Sie holte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und richtete sich notdürftig her. Was für eine Dummheit von ihr, Romano zu einem Geständnis zwingen zu wollen. Alles war verkehrt gelaufen. Wie sage ich's Charles? Sie wußte, er würde schockiert sein. Aber wenn sie ihm alles erklärt hatte, würde er sie verstehen. Und wissen,
was zu tun war.
Als Tracy das Empfangsgebäude des New Orleans International Airportbetrat, schien ihr, daß alle Leute sie vorwurfsvoll anstarrten. Das macht mein schlechtes Gewissen, dachte sie. Wenn sie nur in Erfahrung hättebringen können, wie es Joe Romano ging! Aber sie hatte keine Ahnung, in welches Krankenhaus er eingeliefert worden war und an wen sie sich wenden konnte. Er wird es überleben. Charles und ich werden zu MuttersBeerdigung nach New Orleans zurückfliegen, und Joe Romano wird wieder gesund. Sie versuchte, dasBild des Mannes auf demBoden aus ihren Gedanken zu verbannen, dessenBlut den weißen Teppich rot färbte. Sie mußte nach Hause, sie mußte zu Charles.
Tracy ging zum Schalter der Delta Airlines.»Ein Ticket für den nächsten Flug nach Philadelphia, bitte. Touristenklasse.«
Der Mann hinter dem Schalter zog seinen Computer zu Rat.»Flugnummer 304… Sie haben Glück. Da ist noch ein Platz frei.«
«Wann startet die Maschine?«
«In zwanzig Minuten. Das schaffen Sie noch.«
Tracy langte in ihre Handtasche und fühlte eher, als daß sie es sah, wie zwei Polizisten neben sie traten. Der eine fragte:»Sind Sie Tracy Whitney?«
Ihr Herz hörte einen Moment auf zu schlagen. Es wäre albern zu leugnen, daß ich Tracy Whitneybin.»Ja…«
«Sie sind verhaftet.«
Und Tracy spürte, wie sich der kalte Stahl von Handschellen um ihre Gelenke schloß.
Alles geschah in Zeitlupe. Alles geschah einer anderen Person. Tracybeobachtete, wie sie aus dem Empfangsgebäude geführt wurde. Passanten drehten sich um und gafften. Sie wurde in den Fond eines Streifenwagens gestoßen. Stahldraht trennte Vorder- und Rücksitz. Der
Streifenwagen fuhr los. Blaulicht an, mit jaulenden Sirenen. Tracy machte sich klein, versuchte unsichtbar zu werden. Sie war eine Mörderin. Joe Romano war gestorben. Aber es war ein Versehen gewesen. Sie würde erklären, wie es passiert war. Sie mußten ihr glauben. Sie mußten.
Das Polizeirevier, auf das Tracy gebracht wurde, befand sich im Stadtteil Algiers, am Westufer des Mississippi. Es war ein düsterer, ja drohenderBau, der Hoffnungslosigkeit ausstrahlte. Die Wachstube war voll von schäbig aussehenden Typen: Prostituierte, Zuhälter, Diebe und ihre Opfer. Tracy wurde zum Schreibtisch des diensthabenden Sergeants geführt.
«Das ist die Whitney, Sergeant«, sagte einer der Polizisten, die sie verhaftet hatten.»Wir haben sie auf dem Flughafen erwischt. Sie wollte gerade abhauen.«
«Ich wollte nicht…«
«Nehmen Sie ihr die Handschellen ab.«
Die Fesseln verschwanden, und Tracy sagte:»Es war ein Versehen. Ich wollte ihn nicht töten. Er hat versucht, mich zu vergewaltigen, und…«Sie wurde der Hysterie in ihrer Stimme nicht Herr.
Der Sergeant fragtebarsch:»Sind Sie Tracy Whitney?«
«Ja. Ich…«
«Abführen.«
«Nein! Einen Moment noch«, bat Tracy.»Ich muß jemand anrufen. Ich… ich habe das Recht, ein Telefongespräch zu führen.«
Der Sergeantbrummte:»Sie kennen sich aus, oder? Wie oft waren Sie denn schon im Knast, Schätzchen?«
«Noch nie. Das ist…«
«Okay, Sie können ein Telefongespräch führen. Drei Minuten. Welche Nummer?«
Tracy war so nervös, daß ihr Charles' Telefonnummer nicht einfiel. Sie konnte sich nicht einmal an die Vorwahl von Philadelphia erinnern. Zwei‑fünf‑eins? Nein.
Sie zitterte.
«Na, nun machen Sie schon. Ich habnicht die ganze Nacht lang Zeit.«
Zwei‑eins‑fünf… Ja!» Zwei‑eins‑fünf‑fünf‑fünf‑fünf‑neun‑drei‑null‑eins.«
Der Sergeant wählte die Nummer und gabTracy den Hörer. Es klingelte einmal, zweimal, endlos. Niemand hobab. Aber Charles muß doch zu Hause sein!
«Ihre Zeit ist um«, sagte der Sergeant, streckte die Hand aus und wollte Tracy den Hörer abnehmen.
«Bitte, warten Sie!«rief Tracy verzweifelt. Und nun fiel ihr plötzlich wieder ein, daß Charles sein Telefon nachts abstellte, um nicht gestört zu werden. Sie hörte es unablässig klingeln und erkannte mit entsetzlicher Klarheit, daß sie ihn nicht erreichen konnte.
Der Sergeant fragte:»Sind Sie fertig?«
Tracyblickte ihn an und sagte dumpf:»Ja, ichbin fertig.«
Ein hemdsärmeliger Polizist führte sie in einen Raum, wo ihre Personalien aufgeschrieben und Fingerabdrücke gemacht wurden. Dann wurde sie einen Flur entlanggeführt und in eine Einzelzelle gesperrt.
«Das Hearing ist morgen früh«, brummte der Polizist. Dann ging er. Tracy war allein.
Das ist nicht wahr, dachte sie. Das ist nur ein furchtbarer Traum. O Gott, laß esbitte nicht Wirklichkeit sein.
Aber die stinkende Pritsche war Wirklichkeit und die Toilette ohneBrille war Wirklichkeit, und die Gitterstäbe auch.
Die Nachtstunden zogen sich endlos hin. Wenn ich Charles nur erreicht hätte. Siebrauchte ihn jetzt, wie sie noch nie jemanden gebraucht hatte. Ich hätte ihm alles anvertrauen sollen. Wenn ich ihm alles anvertraut hätte, wäre das nicht passiert.
Um 6 Uhrbrachte ein gelangweilter Wärter das Frühstück:
lauwarmen Kaffee und kalte Hafergrütze. Tracy kriegte nichts hinunter. Ihr Magen revoltierte. Um 9 Uhr wurde sie von einer Aufseherin geholt.
«Es geht los, Süße. «Die Aufseherin schloß die Zellentür auf.
«Ich muß ein Telefongespräch führen«, sagte Tracy.»Es ist sehr…«
«Später«, erwiderte die Aufseherin.»Sie wollen den Richter doch sicher nicht warten lassen. Der kann nämlich ganz schön fies werden.«
Sie marschierte mit Tracy einen Flur entlang und dann durch eine Tür, die in einen Gerichtssaal führte. Auf der Richterbank saß ein ziemlich alter Mann, dessen Kopf und Hände unablässig zuckten. Vor ihm stand der Staatsanwalt, Ed Topper, ein Mittvierziger mit welligem, graumeliertem Haar und kalten schwarzen Augen.
Tracy wurde zu einem Stuhl geführt, und dann rief der Gerichtsdiener» Im Namen des Volkes. «Tracy merkte plötzlich, daß sie auf die Richterbank zusteuerte. Der Richter überflog einBlatt Papier, das vor ihm lag. Sein Kopf ging ruckartig auf und nieder.
Jetzt. Jetzt konnte Tracy endlich erklären, was geschehen war. Sie preßte ihre Hände aneinander, damit sie nicht zitterten.
«Euer Ehren, es war kein Mord. Ich habe auf ihn geschossen, ja, aber nur aus Versehen. Ich wollte ihn lediglich erschrecken. Er hat versucht, mich zu vergewaltigen, und ich…«
Der Staatsanwalt fiel ihr ins Wort.»Euer Ehren, wir wollen hier nicht unsere Zeit vergeuden. Diese Frau ist, bewaffnet mit einem Revolver vom Kaliber 32 mm, in Mr. Romanos Haus eingebrochen und hat einen Renoir im Wert von einer halben Million Dollar gestohlen. Als Mr. Romano sie auf frischer Tat ertappte, hat sie ihn kaltblütig niedergeschossen und die Flucht ergriffen.«
Tracy spürte, wie ihr dasBlut aus dem Gesicht wich.»Wovon… wovon reden Sie eigentlich?«
All das gabkeinen Sinn.
Der Staatsanwalt polterte:»Wir haben die Waffe sichergestellt, mit der Mr. Romano verwundet wurde. Tracy Whitneys Fingerabdrückebefinden sich darauf.«
Verwundet! Also lebte Joe Romano, und sie war keine Mörderin.
«Sie konnte mit dem Gemälde entkommen, Euer Ehren. Mittlerweilebefindet es sich vermutlich in den Händen eines Hehlers. Die Staatsanwaltschaftbeantragt daher, daß Tracy Whitney wegen Mordversuchs undbewaffneten Raubes in Haft gehalten und die Kaution auf eine halbe Million Dollar festgesetzt wird.«
Der Richter wandte sich Tracy zu, die völlig schockiert dastand.»Haben Sie einen Anwalt?«
Tracy hörte ihn nicht einmal.
Der Richter erhobseine Stimme.»Ich habe Sie gefragt, obSie einen Anwalt haben?!«
Tracy schüttelte den Kopf.»Nein. Ich… was dieser Mann gesagt hat, ist nicht wahr. Ich habe nie…«
«Haben Sie Geld für einen Verteidiger?«
Sie hatte ein paar hundert Dollar im Angestelltenfonds derBank. Und sie hatte Charles.»Ich… nein, Euer Ehren, aber ich verstehe nicht…«
«Dann wird das Gericht einen Verteidiger für Siebestellen. Die Kaution wird auf eine halbe Million Dollar festgesetzt. Da Sie diese nicht hinterlegen können, werden Sie ersatzweise in Haft gehalten.«
«Nein! Warten Sie! Das ist alles ein Irrtum! Ich…«
An ihre Abführung aus dem Gerichtssaal konnte sich Tracy später nicht mehr erinnern.
Der Verteidiger, den das Gericht für siebestellt hatte, hieß
Perry Pope. Er war Ende Dreißig, hatte ein kantiges, intelligentes Gesicht und freundlicheblaue Augen. Tracy mochte ihn sofort.
Er kam in ihre Zelle, setzte sich auf die Pritsche und sagte:»Für eine junge Dame, die erst seit vierundzwanzig Stunden in New Orleans ist, haben Sie ja tüchtig Furore gemacht!«Er grinste.»Aber Sie haben Glück. Ihre Schießkünste sind miserabel. Es ist nur eine Fleischwunde. Romano wird's jedenfalls überleben. «Er zog eine Pfeife aus der Tasche.»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
«Nein, überhaupt nicht.«
Er stopfte seine Pfeife, zündete sie an und musterte Tracy.»Sie sehen eigentlich nicht wie eine Schwerverbrecherin aus, Miß Whitney.«
«Ichbin auch keine. Ich schwöre esbei allem, was mir heilig ist.«
«Überzeugen Sie mich«, sagte Perry Pope.»Erzählen Sie mir, was vorgefallen ist. Von Anfang an. Und lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Tracy erstattete ihm von allemBericht. Perry Pope hörte ihr schweigend zu. Als sie ausgeredet hatte, lehnte er sich gegen die Zellenwand, einen erbosten Ausdruck im Gesicht.»Dieses Schwein«, murmelte er.
«Ich verstehe nicht, wovon der Staatsanwalt gesprochen hat. «Sieblickte Perry Pope verwirrt an.»Ich weiß nichts von diesemBild.«
«Das ist alles ganz einfach. Joe Romano hat Sie als Täterin vorgeschoben. Genauso wie Ihre Mutter. Sie sind in eine abgekartete Sache hineingeraten.«
«Ich verstehe immer noch nicht.«
«Dann will ich es Ihnen erklären. Romano wird Anspruch auf die Versicherungssumme für den Renoir erheben, den er irgendwo versteckt hat, und eine halbe Million kassieren. Die Versicherung wird hinter Ihnen her sein, nicht hinter ihm.
Wenn einbißchen Gras über die Sache gewachsen ist, wird er dasBild an einen Privatsammler verkaufen und dank Ihrem Versuch in Selbstjustiz noch einmal eine halbe Million kassieren. War Ihnen denn nicht klar, daß ein erzwungenes Geständnis wertlos ist?«
«Nein, nicht richtig. Ich dachte mirbloß, wenn ich ihm die Wahrheit entlocken kann, wird vielleicht jemand gegen ihn ermitteln.«
Die Pfeife war Perry Pope ausgegangen. Er zündete sie wieder an.»Wie sind Sie in Romanos Haus gekommen?«
«Ich habe geläutet, und er hat mich reingelassen.«
«Er erzählt das anders. Auf der Gartenseite des Hauses ist ein Fenster eingeschlagen. Und da seien Sie eingestiegen, behauptet er. Er hat der Polizei gesagt, er hätte Sie genau in dem Moment erwischt, als Sie sich mit dem Renoir aus dem Staubmachen wollten. Und als er versucht hätte, Sie aufzuhalten, hätten Sie ihn niedergeschossen und wären geflohen.«
«Das ist eine Lüge! Ich…«
«Aber es ist seine Lüge und sein Haus und Ihr Revolver. Haben Sie auch nur eine leise Ahnung, mit wem Sie sich da angelegt haben?«
Tracy schüttelte stumm den Kopf.
«Dann will ich Sie mal aufklären, Miß Whitney. Diese Stadt ist fest in der Hand einer Cosa‑Nostra‑Familie. IhrBoß ist Anthony Orsatti. Ohne seinen Segen läuft hier gar nichts. Wenn Sie eineBaugenehmigung haben oder eine Straße asphaltieren wollen, wenn Sie Miezen und Strichjungen anschaffen lassen oder mit Rauschgift dealen wollen, müssen Sie mit Orsatti reden. Joe Romano hat als Killerbei ihm angefangen. Inzwischen ist er seine rechte Hand. «Perry Popeblickte Tracy verwundert an.»Und Sie sind mir nichts, dir nichts zu Romano gegangen und haben ihn mit einer Schußwaffebedroht.«
Tracy saß starr und erschöpft da. Schließlich fragte sie:»Glauben Sie mir meine Geschichte?«
Perry Pope lächelte.»Ja, sie ist so haarsträubend naiv, daß sie einfach wahr sein muß.«
«Können Sie mir helfen?«
«Ich will es versuchen«, antwortete er langsam.»Ich gäbe viel darum, die ganzeBagage hinter Schloß und Riegel zubringen. Sie haben diese Stadt gekauft und die meisten Richter dazu. Falls es zum Prozeß vor dem Schwurgericht kommt, können Sie sichbegraben lassen.«
Tracyblickte ihn verdutzt an.»Falls?«
Perry Pope stand auf und ging in der kleinen Zelle hin und her.»Ich will nicht, daß Sie vor ein Schwurgericht müssen. Denn glauben Sie mir, die Geschworenen sind seine Geschworenen. Es gibt hier nur einen Richter, den Orsatti nie hat kaufen können. Sein Name ist Henry Lawrence. Wenn ich es einrichten kann, daß Ihr Fall von ihm verhandelt wird, läßt sich wohl ein Kompromiß für Sie herausholen. Es ist nicht ganz korrekt, aber ich werde unter vier Augen mit ihm sprechen. Er haßt Orsatti und Romano genauso wie ich. Wir müssen jetzt nur noch an ihn herankommen.«
Perry Pope sorgte dafür, daß Tracybei Charles im Geschäft anrufen konnte, und sie hörte die vertraute Stimme von Charles' Sekretärin:»Hier Vorzimmer Mr. Stanhope.«
«Harriet. Hier Tracy Whitney. Ist…«
«Oh! Er wollte Sie anrufen, Miß Whitney, aber wir haben Ihre Nummer nicht. Mrs. Stanhope möchte unbedingt mit Ihnen über die Hochzeit reden. Wenn Sie sichbitte sobald wie möglichbei ihr melden würden…«
«Harriet, kann ich Mr. Stanhope sprechen?«
«Tut mir leid, Miß Whitney, er ist auf dem Weg nach Houston, zu einer Konferenz. Aber wenn Sie mir Ihre Nummer hinterlassen, wird er sichbestimmtbei Ihnen melden, sobald
er kann.«
«Ich…«Es ging nicht, daß er sie im Gefängnis anrief. Erst mußte sie ihm alles erklären.
«Ich… ich rufe zurück. «Sie legte auf.
Morgen, dachte Tracy, morgen werde ich Charles alles erklären.
Am Nachmittag wurde Tracy in eine größere Zelle verlegt.
Wie durch ein Wunder tauchte ein köstliches Essen aus einem Restaurant auf, und wenig später traf einBlumenstrauß ein. Dazu einBriefchen. Tracy öffnete das Kuvert und zog eine Karte heraus.
KOPF HOCH, WIR WERDEN DIE DRECKSKERLE SCHLAGEN. PERRY POPE.
Erbesuchte Tracy am nächsten Morgen. Sie sah sein vergnügtes Gesicht und wußte sofort, daß er gute Nachrichten hatte.
«Wir haben Glück!«rief er.»Ich habe eben mit Richter Lawrence geredet und mit Topper, dem Staatsanwalt. Topper hat Zeter und Mordio geschrieen, aber wir haben jetzt eine Absprache.«
«Eine Absprache?«
«Ja, ich habe Richter Lawrence Ihre Geschichte erzählt. Er istbereit, ein Schuldgeständnis von Ihnen zu akzeptieren.«
Tracy starrte ihren Anwalt entgeistert an.»Ein Schuldgeständnis? Aber ichbin doch nicht…«
«Hören Sie mich erst mal zu Ende an. Wenn Sie sich schuldigbekennen, ersparen Sie dem Staat die Prozeßkosten. Ich habe den Richter davon überzeugen können, daß Sie dasBild nicht gestohlen haben. Er kennt Joe Romano, und er glaubt mir.«
«Und wenn ich mich schuldigbekenne«, sagte Tracy langsam,»was passiert dann?«
«Dann verurteilt Richter Lawrence Sie zu drei Monaten Gefängnis, natürlich auf…«
«Gefängnis!«schrie Tracy entsetzt.
«Moment. Natürlich aufBewährung. Und Sie müssen dieBewährungsfrist nicht in Louisiana verbringen.«
«Aber dann… dannbin ich ja vorbestraft.«
Perry Pope seufzte.»Wenn Ihnen wegen Mordversuchs in Tateinheit mitbewaffnetem Raubder Prozeß gemacht wird, können Sie gut und gerne zehn Jahre kriegen.«
Zehn Jahre Gefängnis!
Perry Popebeobachtete sie geduldig.»Die Entscheidung liegtbei Ihnen. Ich kann Ihnen nur dazu raten. Es grenzt an ein Wunder, daß ich damit durchgekommenbin. Und jetzt wird natürlich eine Antwort von Ihnen erwartet. Siebrauchen sich nicht darauf einzulassen. Sie können sich auch einen anderen Anwalt nehmen und…«
«Nein. «Tracy wußte, daß dieser Mann redlich war. Unter den gegebenen Umständen und in Anbetracht ihres wahnwitzigen Verhaltens hatte er alles Menschenmögliche für sie getan. Wenn sie nur mit Charles hätte reden können. Aber Perry Pope wollte jetzt eine Antwort von ihr. Wahrscheinlich hatte sie Glück, wenn sie mit drei Monaten aufBewährung davonkam.
«Ich… ich akzeptiere die Absprache. «Tracybrachte die Worte nur mühsam heraus.
Perry Pope nickte anerkennend.»Kluges Mädchen.«
Vor der Verhandlung durfte Tracy keine Telefongespräche mehr führen. Im Gerichtssaal standen Ed Topper und Perry Pope rechts und links von ihr. Auf der Richterbank saß ein distinguiert aussehender Herr, über fünfzig, mit glattem, faltenlosem Gesicht und dichtem, wohlfrisiertem Haar.
Richter Lawrence sagte zu Tracy:»Dem Gericht ist mitgeteilt worden, daß die Angeklagte sich schuldigbekennen will. Ist
das richtig?«
«Ja, Euer Ehren.«
«Sind sich alle Parteien einig?«
Perry Pope nickte.»Ja, Euer Ehren.«
«Die Staatsanwaltschaft ist einverstanden, Euer Ehren«, sagte Ed Topper.
Richter Lawrence saß einen Moment lang schweigend da. Dannbeugte er sich vor undblickte Tracy in die Augen.»Einer der Gründe für den traurigen Zustand, in dem sich unser herrliches Landbefindet, ist der, daß es auf seinen Straßen von Ungeziefer wimmelt, das da glaubt, es könne sich alles erlauben. Leute, die Recht und Ordnung verhöhnen. EinigeBundesstaaten in diesem Lande hätscheln die Kriminellen. Wir in Louisiana tun das nicht. Wenn jemandbei der Verübung eines schweren Verbrechens auch noch kaltblütig zu morden versucht, sind wir der Meinung, daß eine gehörige Strafe angebracht ist.«
In Tracy regte sich Panik. Sie drehte sich zur Seite, um Perry Pope anzublicken, doch der hatte die Augen auf den Richter geheftet.
«Die Angeklagte hat gestanden, daß sie versucht hat, einen prominentenBürger dieser Stadt zu ermorden. Einen Mann, derbekannt ist für seine Menschenliebe und Mildtätigkeit. Die Angeklagte hat auf ihn geschossen, während sie einen Kunstgegenstand im Wert von einer halben Million Dollar stahl. «Die Stimme des Richters wurde härter.»Dieses Gericht wird Sorge dafür tragen, daß Sie nicht in den Genuß des Geldes kommen, jedenfalls nicht im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre, denn die nächsten fünfzehn Jahre werden Sie im Gefängnis verbringen, im Southern Louisiana Penitentiary for Women.«
Der Gerichtssaalbegann sich um Tracy zu drehen. Ein entsetzlicher Streich wurde ihr gespielt. Der Richter war ein Mann von derBühne, der den falschen Text sprach. Was er
sagte, verstieß gegen die Abmachung. Tracy wandte sich zur Seite, um das Perry Pope zu erklären, aber der schaute weg. Er raschelte mit Papieren in seiner Aktentasche, und Tracybemerkte zum ersten Mal, daß er völlig abgekaute Fingernägel hatte. Richter Lawrence hatte sich erhoben und sammelte seine Unterlagen ein. Tracy stand da wie vom Donner gerührt. Sie konnte nicht fassen, was ihr geschah.
Ein Gerichtsdiener nahm siebeim Arm.»Kommen Sie«, sagte er.
«Nein!«schrie Tracy.»Nein, bitte nicht!«Sieblickte zum Richter auf.»Das ist ein Irrtum, Euer Ehren, ein furchtbarer Irrtum! Ich…«
Der Gerichtsdiener schloß seine Hand fester um ihren Arm, und es fiel Tracy wie Schuppen von den Augen: Es war kein Irrtum. Sie war hinters Licht geführt worden. Sie sollte zugrunde gerichtet werden.
Wie ihre Mutter.
Die Geschichte von Tracy Whitneys Verbrechen und Verurteilung erschien auf der Titelseite des New Orleans Courier, dazu ein Polizeifoto der Delinquentin. Die großen Depeschendienste griffen die Story auf und übermittelten sie telegrafisch an Zeitungen im ganzen Land. Als Tracy aus dem Gerichtssaal geführt wurde, sah sie sich einer Schar von Fernsehreportern gegenüber. Sie fühlte sich gedemütigt und verbarg ihr Gesicht. Doch sie konnte den Kameras nicht entkommen. Joe Romano war ein gefundenes Fressen für die Medien, und der Anschlag auf sein Leben von Seiten einer schönen, jungen Einbrecherin erst recht. Tracy hatte den Eindruck, von Feinden umzingelt zu sein. Charles holt mich da raus, sagte sie sich immer wieder. O Gott, Charles soll michbitte da rausholen. Ich kann unser Kind nicht im Gefängnis kriegen.
Erst am darauffolgenden Nachmittag gestattete ihr der diensthabende Sergeant, daß sie Charles anrief. Harriet war am Apparat.
«Harriet, hier Tracy Whitney. Kann ich Mr. Stanhope sprechen?«
«Einen Moment, Miß Whitney. «Tracy hörte das Zögern in der Stimme der Sekretärin.»Ich… ich schaue mal nach, obMr. Stanhope da ist.«
Nach langem, qualvollem Warten hörte Tracy endlich Charles' Stimme. Sie hätte weinen können vor Erleichterung.»Charles…«
«Tracy? Bist du's, Tracy?«
«Ja, Liebling. Oh, Charles, ich habe versucht, dich zu erreichen…«
«Ichbin hier fast verrückt geworden, Tracy! Die Zeitungen sind voll von Greuelgeschichten über dich. Ich kann es einfach nicht glauben.«
«Es ist auch nicht wahr, Liebling. Ich…«
«Warum hast du mich nicht angerufen?«
«Ich habe es versucht. Aber ich konnte dich nicht erreichen. Ich…«
«Wobist du?«
«Im… im Gefängnis. In New Orleans. Charles, die wollen mich ins Zuchthaus schicken für etwas, das ich nicht getan habe. «Sie mußte weinen.
«Bleibdran. Hör zu. In der Zeitung heißt es, daß du auf einen Mann geschossen hast. Das ist nicht wahr, oder?«
«Ich habe auf ihn geschossen, aber…«
«Dann ist es also wahr.«
«Aber nicht so, wie's dasteht, Liebling. Ich kann dir alles erklären. Ich…«
«Tracy, hast du dich des Mordversuchs und des Diebstahls eines Gemäldes schuldigbekannt?«
«Ja, Charles. Aber nur, weil…«
«Herrgott, wenn du so dringend Geld gebraucht hast, hättest du es mir doch sagen können… Und daß du dann gleich versuchst, jemand umzubringen… Ichbegreife es nicht. Meine Eltern auch nicht. Dubist die Schlagzeile in der Philadelphia Daily News. Das ist das erste Mal, daß meine Familie in einen Skandal verwickelt wird.«
Wie erbittert Charles war, merkte Tracy an der mühsamen Selbstbeherrschung, mit der er sprach. Sie hatte verzweifelt auf ihn gebaut. Aber er war auf der Seite der anderen. Sie mußte sich zwingen, nicht zu schreien.»Liebling, ichbrauche dich. Bitte komm. Du kannst das alles in Ordnungbringen.«
Ein langes Schweigen am anderen Ende der Leitung.»Es sieht nicht so aus, als wäre da viel in Ordnung zubringen. Jedenfalls nicht, nachdem du ein Schuldgeständnis abgelegt
hast. Meine Familie kann es sich nicht leisten, in so etwas hineingezogen zu werden. Das siehst du sicher ein. Es war ein furchtbarer Schock für uns. Offenbar habe ich dich nie richtig gekannt.«
Jedes Wort war wie ein Hammerschlag. Die Welt stürzte ein. Tracy fühlte sich so einsam wie noch nie in ihrem Leben. Jetzt hatte sie niemand mehr. Niemand.»Und… und was wird aus unserem Kind?«
«Mach mit deinem Kind, was du für richtig hältst«, antwortete Charles.»Es tut mir leid, Tracy. «Die Verbindung wurde unterbrochen.
Tracy stand fassungslos da, den Hörer in der Hand.
Hinter ihr sagte eine Gefangene:»Wenn du jetzt fertigbist, Schätzchen… ich würde gern mit meinem Anwalt telefonieren.«
Tracy wurde in ihre Zelle zurückgeführt. Die Aufseherin hatte Weisungen für sie:»Stellen Sie sich darauf ein, daß Sie morgen früh um sechs ins Staatsgefängnis verlegt werden.«
TracybekamBesuch von Otto Schmidt. Er schien in den Stunden, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, um Jahre gealtert zu sein.
«Ich wollte Ihnen nur sagen, wie schrecklich leid es uns tut, meiner Frau und mir. Wir wissen genau, es war nicht Ihre Schuld.«
Wenn Charles das nur gesagt hätte!
«Wir werden morgen frühbei derBeerdigung von Mrs. Doris sein.«
«Vielen Dank, Otto.«
Morgen früh werden wirbeidebegraben, dachte Tracy. Sie tot, ich lebendig.
Tracy verbrachte die Nacht hellwach. Sie lag auf ihrer schmalen Pritsche und starrte gegen die Decke. Immer und immer wieder rief sie sich das Gespräch mit Charles in Erinnerung. Er hatte ihr nicht einmal die Chance gegeben zu
erklären, was passiert war.
Tracy dachte über das Kind nach. Sie hatte von Frauen gelesen, die im Gefängnis ein Kindbekamen. Aber diese Geschichten hatten mit ihrem Leben so wenig zu tun gehabt, daß es war, als seien esBerichte über Wesen von einem fremden Stern. Und nun geschah es ihr selbst. Mach mit deinem Kind, was du für richtig hältst, hatte Charles gesagt. Sie wollte das Kind haben. Aber sie werden es mir nicht lassen, dachte Tracy. Sie werden es mir wegnehmen, weil ich die nächsten fünfzehn Jahre im Gefängnisbin. Es istbesser, wenn das Kind nie erfährt, wer seine Mutter ist.
Und dann weinte sie.
Um sechs Uhr morgens traten ein Wärter und eine Aufseherin in Tracys Zelle.»Tracy Whitney?«
«Ja. «Es erstaunte sie, wie seltsam ihre Stimme klang.
«Auf Anordnung des Kriminalgerichts des Staates Louisiana in New Orleans werden Sie nunmehr in das Southern Louisiana Penitentiary for Women überführt. Dann wollen wir mal, Baby.«
Tracy wurde einen endlosen Korridor entlanggeführt, an überbelegten Zellen vorbei. Pfiffe gellten.
«Gute Reise, Süße…«
«He, Tracy, sagst du mir, wo du dasBild versteckt hast? Ich teil mir dann die Kohle mit dir…«
«Frag nach Ernestine Littlechap, wenn du in denBau kommst. Bei derbist du echt gut aufgehoben…«
Tracy ging an dem Telefon vorbei, von dem aus sie Charles angerufen hatte. Lebwohl, Charles.
Sie trat in einen Hof. Ein gelberBus mit vergitterten Fenstern stand wartend da. Ein halbes Dutzend Frauen saß, von zweibewaffneten Wärternbewacht, bereits imBus. Tracy schaute sich die Gesichter der Frauen an. Die einen hatten etwas Trotziges, die anderen trugen einen gelangweilten Ausdruck
zur Schau, wieder andere sahen verzweifelt aus. Ihrbisheriges Leben würdebald zu Ende sein. Sie waren Ausgestoßene, sollten in Käfige gesperrt werden wie wilde Tiere. Tracy fragte sich, welche Verbrechen siebegangen hatten, und obeine unter ihnen war, die so unschuldig war wie sie. Und sie überlegte sich, was diese Frauen in ihrem Gesicht sahen.
Die Fahrt zog sich endlos hin. Es war heiß und stickig imBus, aber Tracy merkte nichts davon. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen und war in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
Sie war ein kleines Mädchen, am Strand mit ihren Eltern, und ihr Vater trug sie auf seinen Schultern ins Meer. Sie schrie, aber ihr Vater sagte: Dubist doch keinBaby mehr, Tracy. Er ließ sie ins kalte Wasser fallen. Sie ging unter, geriet in Panik und erstickte fast. Ihr Vater hobsie aus den Wellen und ließ sie wieder hineinfallen. Seit damals hatte sie schreckliche Angst vor Wasser…
Die Aula des Colleges war dichtbesetzt: Studenten, Eltern, Verwandte. Tracy hielt die Abschiedsrede. Sie sprach fünfzehn Minuten, und ihre Rede war voll von hochfliegendem Idealismus, klugen Verweisen auf die Vergangenheit und strahlenden Zukunftsträumen…
Ich gehe nach Philadelphia, Mutter. Meine Freundin Annie kann mir da einenBankjobvermitteln…
Charles schlief mit ihr. Siebeobachtete diebewegten Schatten an der Zimmerdecke und dachte: Wieviel Frauen würden sich danach sehnen, an meiner Stelle zu sein? Charles war eine erstklassige Partie. Und sie hatte sofort Schuldgefühle für diesen Gedanken. Sie liebte Charles. Sie spürte ihn in sich, erbewegte sich schneller, schneller und drängender, kurz vor dem Höhepunkt, und er keuchte: Bist du soweit? Und sie log und sagte ja. War es schön für dich? Ja, Charles. Und sie dachte: Ist das alles? Und wieder
Schuldgefühle…
«He, du! Ich rede mit dir! Bist du taub? Es geht los. «Tracyblickte auf und fand sich in dem gelbenBus wieder, der auf einem Hof stand. Ringsum düsteres Gemäuer. Neun hintereinander gestaffelte, oben mit Stacheldraht versehene Zäune umgaben die fünfhundert Morgen Farmland und Wald, die zum Gelände des Southern Louisiana Penitentiary for Women gehörten.»Steig aus«, befahl der Wärter.»Wir sind da.«
Eine stämmige Aufseherin mit hartem Gesicht und rötlich gefärbten Haaren hielt eine kurze Ansprache an die neuen Häftlinge:»Einige von euch werden viele Jahrebei unsbleiben. Zu schaffen ist das nur, wenn ihr die Außenwelt total vergeßt. Ihr könnt's euch leichtmachen, und ihr könnt's euch schwermachen. Wir haben hier Vorschriften, und an die habt ihr euch zu halten. Wir sagen euch, wann ihr aufstehen, arbeiten, essen und auf die Toilette gehen sollt. Wenn ihr euch nicht an die Vorschriften haltet, werdet ihr esbitterbereuen. Wir haben hier gern unsere Ruhe, und wir wissen genau, wie man mit Leuten umgeht, die Ärger machen. «Ihre Augen wanderten mit einer ruckartigenBewegung zu Tracy.»Ihr werdet jetzt gleich vom Gefängnisarzt untersucht. Danach geht ihr unter die Dusche. Und dann werdet ihr in eure Zellen eingewiesen. Morgen früh teilen wir euch zur Arbeit ein. Das wär's. «Sie drehte sich um.
Einblasses, junges Mädchen, das neben Tracy stand, sagte:»Entschuldigung, könnte ichbitte…«
Die Aufseherin wirbelte herum. Ihr Gesicht war verzerrt vor Wut.»Halt dein dreckiges Maul. Du redest nur, wenn du gefragt wirst, ist das klar? Das gilt für euch alle, ihr Arschlöcher.«
Tracy war entsetzt über diesen Ton. Die Aufseherin winkte zwei Wärterinnen am anderen Ende des Raumes.»Bringt diese Nutten mal raus hier.«
Tracy wurde mit den anderen aus der Tür geführt. Dann ging es durch einen langen Korridor, und schließlich wurden die Frauen in einen großen, weiß gekachelten Raum geleitet, in dem ein Untersuchungstisch stand. Daneben ein dicker Mann
in mittleren Jahren, der einen dreckigen Arztkittel trug.
Eine Aufseherin rief:»Antreten!«Die Frauen stellten sich in einer Reihe auf.
Der Mann im Arztkittel sagte:»Ichbin Dr. Glasco, meine Damen. Ausziehen.«
Die Frauenblickten einander unsicher an. Dann fragte eine:»Wie weit sollen wir uns denn…«
«Wißt ihr nicht, was ausziehen heißt, verdammt noch mal? Kleider runter! Und zwar alle!«
Die Frauenbegannen langsam, sich auszuziehen. Einige waren geniert, einige empört, andere gleichgültig. Links von Tracy stand eine Frau Ende Vierzig, die am ganzen Leibzitterte, rechts von Tracy ein erbarmenswert mageres Mädchen, das so aussah, als sei es nicht älter als siebzehn Jahre. Ihre Haut war mit Pickeln übersät.
Der Arzt winkte der ersten Frau in der Reihe.»Legen Sie sich auf den Tisch und stecken Sie die Füße in diebeiden Schlaufen.«
Die Frau zögerte.
«Na, nun machen Sie schon. Sie halten den ganzenBetriebauf.«
Die Frau legte sich auf den Tisch, und der Arzt führte ihr ein Spekulum in die Vagina ein.»Sind Sie geschlechtskrank?«fragte er.
«Nein.«
«Wir werden'sbald wissen.«
Die nächste Frau legte sich auf den Tisch. Als ihr der Arzt das Spekulum einführen wollte, mit dem er die erste Frau untersucht hatte, rief Tracy:»Moment mal!«
Der Arztblickte verdutzt auf.»Was?«
Alle starrten jetzt Tracy an, die sagte:»Ich… Sie haben das Instrument nicht sterilisiert.«
Dr. Glascos Mundwinkel hoben sich. Er lächelte Tracy eiskalt an.»Wer hätte das gedacht! Wir haben eine Gynäkologin in
unserer Mitte. Sie sindbesorgt wegen Krankheitserregern, ja? Stellen Sie sich ganz hinten an.«
«Wie?«
«Sind Sie schwerhörig? Sie sollen sich am Ende der Reihe anstellen.«
Tracybegriff nicht, aber sie ging ans Ende der Reihe.
«Wenn Sie gestatten«, sagte der Arzt,»werden wir jetzt weitermachen. «Er führte der Frau auf dem Tisch das Spekulum ein, und Tracy wurde plötzlich klar, warum er sie ans Ende der Reihe geschickt hatte. Er würde alle Frauen mit dem unsterilen Spekulum untersuchen, und sie würde die letzte sein. Zorn wallte in ihr auf. Er hätte die Frauen getrennt untersuchen können, statt sie vorsätzlich ihrer Würde zuberauben. Und sie ließen es geschehen. Wenn alle protestieren würden… Nun war Tracy an der Reihe.
«Auf den Tisch mit Ihnen, werte Kollegin.«
Tracy zögerte, doch ihrbliebkeine Wahl. Sie legte sich auf den Tisch und schloß die Augen. Sie spürte, wie er ihreBeine auseinanderspreizte, und dann war das kalte Spekulum in ihr, bohrte und stieß. Der Mann tat ihr weh, und das mit voller Absicht. Tracybiß die Zähne zusammen.
«Haben Sie Syphilis oder Tripper?«fragte der Arzt.
«Nein. «Sie würde ihm nichts von dem Kind sagen. Diesem Ekel nicht. Sie würde mit dem Gefängnisdirektor darüber reden.
Das Spekulum wurde grobaus ihr herausgezogen. Dr. Glasco streifte ein Paar Gummihandschuhe über.»So«, sagte er,»stellt euch noch mal in einer Reihe auf undbückt euch. Wir nehmen uns jetzt eure süßen kleinen Popos vor.«
Tracy wollte es eigentlich nicht sagen, aber da war es ihr schon herausgerutscht:»Warum machen Sie das?«
Dr. Glasco funkelte sie an.»Das will ich Ihnen gern verraten, werte Kollegin. Weil Arschlöcher ein großartiges Versteck sind. Ich habe hier eine ganze Sammlung von Marihuana und
Kokain — alles von Damen wie Ihnen. Und jetztbücken Sie sich gefälligst. «Er ging die Reihe entlang undbohrte seine Finger in einen Anus nach dem andern. Tracy wurde übel. Sie spürte, wie es ihr hochkam, undbegann zu würgen.
«Wenn Sie mir hier in dieBude kotzen, tunke ich Sie mit der Nase rein. «Der Arzt wandte sich den Wärterinnen zu.»Bringt die Damen zum Duschen. Sie stinken.«
Die nackten Gefangenen wurden, ihre Kleider auf dem Arm, einen anderen Flur entlanggeführt. Sie traten in einen großen Raum mitBetonwänden und Zementfußboden und einem Dutzend offener Duschkabinen.
«Legt die Kleider da in die Ecke«, befahl eine Aufseherin.»Und dann steigt ihr unter die Dusche. Seift euch von obenbis unten abund wascht euch die Haare.«
Tracy stellte sich unter die Dusche. Das Wasser war eiskalt. Sie schäumte sich ein, riebsich abund dachte: Ich werde nie mehr sauber. Was sind das für Menschen? Wie können sie ihre Mitmenschen nur sobehandeln? Das halte ich keine fünfzehn Jahre aus!
Eine Wärterin herrschte sie an:»He, du! Schluß jetzt. Komm raus.«
Tracy trat aus der Kabine, bekam ein dünnes, verschlissenes Handtuch und trocknete sich notdürftig ab.
Als alle geduscht hatten, wurden sie in die Kleiderkammer geführt. Eine lateinamerikanische Mitgefangene wachte über dieBestände. Sie schätzte nach Augenmaß die Kleidergröße jeder Frau und gabgraue Gefängniskluft aus. Die Aufseherinnen standen daneben und sahen zu, wie Tracy und die anderen Frauen sich anzogen. Als sie fertig waren, wurden sie in einen Raum geführt, wo Aufnahmen gemacht und ihre Fingerabdrücke registriert wurden.
Ein Wärterbetrat den Raum und deutete auf Tracy.»Whitney? Der Direktor will mit dir reden. Komm mit.«
Tracys Herz machte einen Sprung. Charles hatte doch etwas
unternommen! Natürlich hatte er sie nicht im Stich gelassen. Er hatte sich nur so verhalten, weil er schockiert gewesen war. Inzwischen hatte er nachgedacht und gemerkt, daß er sie noch liebte. Er hatte mit dem Gefängnisdirektor gesprochen und ihm erklärt, was für ein furchtbarer Irrtum das alles war. Sie würdebald auf freiem Fuß sein.
Wieder wurde Tracy einen Flur entlanggeführt, durch eine von Wärtern und Wärterinnenbewachte Sicherheitsschleuse mit zwei mehrfach verschlossenen Türen. Als sie durch die zweite Tür gelassen wurde, stieß eine andere Gefangene mit ihr zusammen und rannte sie fast um. Sie war ein Koloß, die gewaltigste Frau, die Tracy je gesehen hatte, über einsachtzig groß und über zwei Zentner schwer. Sie hatte ein ausdrucksloses, pockennarbiges Gesicht und gelbliche Augen. Sie hielt Tracy fest, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor, und drückte ihren Arm gegen TracysBrüste.
«He!«sagte die Frau zu dem Wärter.»Wir haben 'ne Neue. Wie ist es — tut ihr die zu mir in die Zelle?«Sie sprach mit starkem schwedischem Akzent.
«Geht nicht, Bertha. Die ist schon in 'ner andern.«
Die Frau streichelte Tracys Gesicht. Als Tracy zurückfuhr, lachte die Frau.»Okay, Baby, okay. BigBertha sieht dich wieder. Wir haben 'ne Menge Zeit.«
Sie näherten sich dem Vorzimmer des Direktors. Tracy fühlte sich schwach vor Hoffnung. ObCharles da war? Oder ober seinen Anwalt geschickt hatte?
Die Sekretärin des Direktors nickte dem Wärter zu.»Er erwartet die Whitney. Bleiben Sie solange hier.«
GeorgeBrannigan, der Gefängnisdirektor, saß an einem ramponierten Schreibtisch undblätterte in Papieren, die vor ihm lagen. Er war Mitte Vierzig, ein dünner, vergrämter Mann mit sensiblem Gesicht und tiefliegendenbraunen Augen.
Brannigan leitete das Southern Louisiana Penitentiary for
Women schon seit fünf Jahren. Angefangen hatte er als fortschrittlicher Strafrechtler und glühender Idealist. Er war fest entschlossen gewesen, in diesem Gefängnis umfassende Reformen durchzuführen. Doch das System hatte ihnbesiegt, wie es auch anderebesiegt hatte.
Bei der Erbauung des Gefängnisses hatte man geplant, die Zellen mit je zwei Insassinnen zubelegen. Inzwischen mußten sich vier Frauen eine Zelle teilen. Brannigan wußte, daß dieselben Zustände im ganzen Land herrschten. Die Gefängnisse waren alle überfüllt und hatten alle zuwenig Personal. Tausende von Kriminellen wurden Tag und Nachtbloß verwahrt und hatten nichts weiter zu tun, als ihren Haß zu nähren und auf Rache zu sinnen. Es war ein stumpfsinniges, brutales System, doch es gabkein anderes.
Brannigan drückte eine Sprechtaste und sagte seiner SekretärinBescheid.»Schicken Sie sie rein.«
Der Wärter öffnete die Tür zuBrannigansBüro, und Tracy trat ein.
Branniganblickte zu der Frau auf, die vor ihm stand. Obwohl sie die schmutziggraue Gefängniskluft trug und obwohl ihre Züge von Erschöpfung gezeichnet waren, sah Tracy Whitney schön aus. Sie hatte ein reizendes, offenes Gesicht, undBrannigan fragte sich, wie lange es wohl sobleiben würde. Er war an dieser Gefangenenbesonders interessiert, weil er in der Zeitung von ihrem Fall gelesen und ihre Akte studiert hatte. Sie war nicht vorbestraft, sie hatte niemanden getötet, und fünfzehn Jahre waren ein unmäßig hartes Urteil. Daß Joe Romano sie verklagt hatte, machte das Ganze nur noch fragwürdiger. Aber der Gefängnisdirektor war nichts weiter als ein Verwahrer von Körpern. Er konnte sich nicht gegen das System auflehnen. Er war das System.
«Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er.
Tracy war froh, daß sie sich setzen konnte. Sie hatte weiche Knie. Der Gefängnisdirektor würde ihr jetzt von Charles
Initiativeberichten, undbinnen kurzem würde sie frei sein.
«Ich habe mir Ihre Akte angeschaut«, begannBrannigan.
Darum hat ihn Charles auch sicher gebeten.
«Wie ich sehe, werden Sie lange Zeitbei unsbleiben. Sie sind zu fünfzehn Jahren verurteilt.«
Es dauerte einen Moment, bis Tracy die volle Tragweite seiner Wortebegriff. Irgend etwas lief hier auf entsetzliche Weise verkehrt.»Haben… haben Sie nicht mit… mit Charles gesprochen?«Tracy stotterte vor Nervosität.
Branniganblickte sie verständnislos an.»Mit Charles?«
Und nun wußte sie es. Ihr wurde flau im Magen.»Bitte«, sagte sie,»bitte, hören Sie mich an. Ichbin unschuldig. Ichbin hier fehl am Platz.«
Wie oft hatte er das schon gehört? Hundertmal? Tausendmal? Ichbin unschuldig.
Er sagte:»Das Gericht hat Sie aber für schuldigbefunden. Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Machen Sie sich das Leben hier nicht unnötig schwer. Nehmen Sie es locker. Versuchen Sie es zumindest. Wenn Sie Ihre Lage akzeptieren, werden Sie sich sehr viel leichter tun. Uhren zählen nicht im Gefängnis. Nur Kalender.«
Ich kann keine fünfzehn Jahre hinter Gittern sitzen, dachte Tracy verzweifelt. Lieber wäre ich tot. O Gott, laß michbitte sterben. Aber das darf ich ja nicht, oder? Denn das Kind würde mit mir sterben. Es ist auch dein Kind, Charles. Warum hilfst du mir nicht? Und das war der Moment, in dem sie ihn zu hassenbegann.
«Wenn Sie Probleme haben«, sagte DirektorBrannigan,»ich meine, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann kommen Siebitte zu mir. «Er wußte genau, wie hohl seine Worte klangen. Sie war jung und schön und unverdorben. Die lesbischen Mannweiber im Gefängnis würden über sie herfallen wie die Tiere. Er konnte ihr nicht einmal eine Zelle zuweisen, in der sie sicher war. In fast allen Zellen führte ein
Mannweibdas Kommando. Brannigan hatte von nächtlichen Vergewaltigungen in den Duschräumen, auf der Toilette und auf den Fluren gehört. Aber nur gerüchtweise. Denn die Opfer hielten danach den Mund. Oder sie waren tot.
DirektorBrannigan sagte freundlich:»Bei guter Führung können Sie in zwölf Jahren entlassen werden, vielleicht auch schon in…«
«Nein!«Es war ein Schrei der schwarzen Verzweiflung, der tiefen Hoffnungslosigkeit. Tracy hatte das Gefühl, daß die Wände desBüros sie erdrückten. Dann war sie auf denBeinen und schrie. Der Wärter stürzte insBüro und packte Tracybei den Armen.
«Sachte«, sagteBrannigan.
Er saß ratlos da und sah zu, wie Tracy abgeführt wurde.
Sie ging durch endlose Korridore, an Zellen mit Frauen jeder Art vorbei. Die Frauen waren schwarz und weiß undbraun und gelb. Sie starrten Tracy an, sie sprachen sie an in Dutzenden von Akzenten, sie riefen es ihr nach, sie psalmodierten es fast, und es war immer dasselbe:»Eine neue Fotze, eine neue Fotze!«
InBlock C saßen sechzig Frauen ein, in jeder Zelle vier. Gesichter lugten zwischen Gitterstäben hindurch, als Tracy den stinkenden Flur entlanggeführt wurde. Der Ausdruck in diesen Gesichtern war unterschiedlich: teils Gleichgültigkeit, teils Gier, teils Haß. Tracy schritt als Fremde durch ein seltsames, unbekanntes Land. Und es war alles ein Traum. Sie war stumm, aber in ihr gellten Schreie. Der Gang zum Direktor war ihre letzte Hoffnung gewesen. Jetzt gabes nichts mehr. Nichts als die niederschmetternde Aussicht, die nächsten fünfzehn Jahre hier eingesperrt zu sein.
Die Aufseherin schloß eine Zellentür auf.»Rein mit dir.«
Tracy schaute in die Zelle. Drei Frauenblickten ihr schweigend entgegen.
«Nun mach schon«, befahl die Aufseherin.
Tracy zögerte. Dann trat sie in die Zelle. Die Tür fiel krachend hinter ihr zu.
Sie war zu Hause.
Es war eng in der Zelle. Die vier Pritschen, der kleine Tisch mit dem Spiegel drüber, durch den ein Sprung lief, die vier schmalen Spinde und die Toilette ohneBrille in der Ecke hatten kaum darin Platz.
Die drei Frauen starrten Tracy an. Die Puertoricanerinbrach das Schweigen.»Sieht ganz so aus, als hätten wir 'ne Neue. «Sie hatte eine tiefe, gutturale Stimme. Und sie wäre schön gewesen ohne die violette Narbe, die ein Messer hinterlassen hatte und die von der Schläfebis zum Hals lief. Sie schien nicht älter als vierzehn zu sein. Bis man ihr in die Augen sah. Eine dicke Mexikanerin in mittleren Jahren sagte:»Hallo. Wegen was haben sie dich denn eingeknastet, Querida?«
Tracy war so gelähmt, daß sie nicht antworten konnte.
Die dritte Frau war eine Schwarze. Fast einsachtzig groß, mit schmalen, lauernden Augen und einem maskenhaft starren und harten Gesicht. Sie hatte sich den Schädel kahlrasiert. Er glänztebläulich im trüben Licht.»Das da in der Ecke — das ist deine Pritsche.«
Tracy ging zu der Pritsche. Die Matratze starrte vor Dreck. Sie war fleckig von den Ausscheidungen Gott weiß wie vieler Frauen. Tracy konnte sich nicht dazu überwinden, sie auch nur zuberühren. Unwillkürlich verlieh sie ihrem Ekel Worte.»Auf… auf dieser Matratze kann ich nicht schlafen.«
Die dicke Mexikanerin grinste.»Mußt du auch nicht, Schätzchen. Du kannst gern auf meiner schlafen.«
Tracy wurde sich plötzlich einer Unterströmung in der Zellebewußt, die sie wie eine Naturgewalt traf. Die drei Frauen ließen sie nicht aus den Augen, musterten sie, stierten sie an. Tracy fühlte sich nackt. Eine neue Fotze. Sie hatte auf einmal schreckliche Angst. Das ist alles nur Einbildung, dachte sie. Oh, wenn es doch nur Einbildung wäre…Bitte.
Jetzt konnte sie wieder sprechen.»An… an wen kann ich mich wenden, damit ich eine saubere Matratze kriege?«
«An Gott«, knurrte die Schwarze.»Bloß — der war in letzter Zeit nicht hier.«
Tracy drehte sich um undbetrachtete die Matratze von neuem. Mehrere große schwarze Kakerlaken krabbelten darüber. Ich kann hier nichtbleiben, dachte Tracy. Hier werde ich verrückt.
Als hätte sie ihre Gedanken erraten, sagte die Schwarze:»Man gewöhnt sich an alles, Baby.«
Tracy hörte die Stimme des Gefängnisdirektors: Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben: Machen Sie sich das Leben hier nicht unnötig schwer. Nehmen Sie es locker. Versuchen Sie es zumindest…
Die Schwarze sprach weiter.»Ichbin Ernestine Littlechap.«
Sie nickte in die Richtung der Frau mit der langen Narbe.»Das ist Lola. Sie ist aus Puerto Rico. Der Fettsack hier ist Paulita aus Mexiko. Und werbist du?«
«Ich… ichbin Tracy Whitney. «Fast hätte sie gesagt:»Ich war Tracy Whitney. «Sie hatte dasbeklemmende Gefühl, daß sie ihre Identität verlor. Sie empfand einen entsetzlichenBrechreiz und hielt sich an der Kante der Pritsche fest.
«Wobist du her, Schätzchen?«fragte die dicke Mexikanerin.
«Es tut mir leid, aber… aber ich habe keine Lust zu reden. «Tracy fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie nicht mehr stehen konnte. Sie ließ sich auf die Kante der dreckigen Pritsche sinken und wischte sich mit ihrem Rock den kalten Schweiß von der Stirn. Mein Kind, dachte sie, ich hätte dem Direktor sagen sollen, daß ich ein Kind erwarte. Wenn ich's ihm sage, bekomme ich eine saubere Zelle. Vielleicht sogar eine für mich allein.
Sie hörte Schritte auf dem Flur. Eine Aufseherin ging an der Zelle vorbei. Tracy eilte zur Tür.»Entschuldigung«, sagte sie,»ich muß mit dem Direktor sprechen. Ich…«
«Ich schick ihn dir gleich«, erwiderte die Aufseherin über ihre Schulter hinweg.
«Sie verstehen mich nicht. Ich…«
Die Aufseherin war fort.
Tracybiß sich auf die Knöchel, um nicht zu schreien.
«Bist du krank, oder was, Baby?«fragte die Puertoricanerin.
Tracy schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht sprechen. Sie ging zu ihrer Pritsche zurück, betrachtete sie einen Moment und legte sich langsam hin. Es war ein Akt der Hoffnungslosigkeit, eine Kapitulation. Tracy schloß die Augen.
Ihr zehnter Geburtstag war der aufregendste Tag ihres Lebens gewesen. Wir gehen zu Antoine's zum Essen! hatte ihr Vater verkündet.
Zu Antoine's! Dieser Namebeschwor eine andere Welt herauf, eine Welt der Schönheit und des Glanzes und des
Reichtums. Tracy wußte, daß ihr Vater nicht viel Geld hatte. Nächstes Jahr können wir uns einen Urlaubleisten. Das war eine stehende Redensartbei ihr zu Hause. Und jetzt gingen sie zu Antoine's! Ihre Mutter zog ihr ein neues grünes Kleid an, ihr Vater platzte fast vor Stolz.
Antoine's übertraf Tracys kühnste Träume. Es war märchenhaft. Elegant und geschmackvoll eingerichtet, mit weißen Leinentischdecken und prächtigem Geschirr. Es ist ein Palast, dachte Tracy. Bestimmt kommen Könige und Königinnen hierher. Sie war zu aufgeregt, um zu essen, zu sehr damitbeschäftigt, all die schön angezogenen Männer und Frauen zubetrachten. Wenn ich großbin, schwor sich Tracy, gehe ich jeden Abend zu Antoine's und nehme meine Eltern mit.
Du ißt ja gar nichts, Tracy, sagte ihre Mutter.
Ihr zuliebe zwang sich Tracy, ein paar Happen zu essen. Siebekam einen Geburtstagskuchen mit zehn Kerzen, und die Kellner sangen HappyBirthday, und die anderen Gäste drehten sich um und klatschtenBeifall, und Tracy fühlte sich wie eine Prinzessin. Von draußen hörte sie dasBimmeln einer Straßenbahn.
DasBimmeln der Glocke war laut und penetrant.
«Abendessen«, verkündete Ernestine Littlechap.
Tracy öffnete die Augen. Im ganzenBlock flogen krachend die Zellentüren auf. Tracy lag auf ihrer Pritsche und versuchte verzweifelt, sich an der Vergangenheit festzuklammern.
«He! Es gibt Futter!«sagte die junge Puertoricanerin.
Tracy wurde übelbei dembloßen Gedanken an Essen.»Ich habe keinen Hunger.«
Nun ließ sich Paulita vernehmen, die dicke Mexikanerin.»Das ist denen scheißegal. Alle müssen in die Kantine.«
Draußen auf dem Flur stellten sich Gefangene in Zweierreihen auf.
«Jetzt hebmal den Arsch von der Pritsche, sonst kriegen sie dich dran«, sagte Ernestine warnend.
Ich kann nicht, dachte Tracy. Ichbleibe hier.
Ihre Zellengenossinnen traten auf den Flur und stellten sich zu den anderen. Eine kleine, gedrungene Aufseherin mit wasserstoffblondem Haar sah Tracy auf der Pritsche liegen.»Was ist denn mit dir los?!«rief sie.»Hast du die Klingel nicht gehört? Komm raus aus der Zelle.«
«Danke, ich habe keinen Hunger«, erwiderte Tracy.»Ich möchte vom Essenbefreit werden.«
Die Augen der Aufseherin weiteten sich in ungläubigem Staunen. Sie stürmte in die Zelle und ging mit ausgreifenden Schritten zu Tracys Pritsche.»Was meinst du eigentlich, wer dubist? Wartest du vielleicht auf den Zimmerservice? Los, hoch mit dir. Ich könnte dich melden, weißt du das? Wenn das noch mal passiert, kommst du ins Loch. Verstehst du?«
Nein, sie verstand nicht. Nichts von dem, was ihr geschah. Sie erhobsich mühsam von der Pritsche und trat zu den anderen Frauen, stellte sich neben die Schwarze.»Warum…«
«Halt die Klappe!«knurrte Ernestine Littlechap aus dem Mundwinkel.»Im Glied wird nicht gequatscht.«
Die Frauen marschierten durch einen schmalen, trostlosen Flur, passierten eine Sicherheitsschleuse und kamen in eine riesige Kantine mit großen, derbgezimmerten Holztischen und Stühlen. An einer langen Theke mußten sie nach ihrem Essen anstehen. Es gabwäßrigen Thunfischauflauf, schlaffe grüneBohnen, eineblasse Eierkrem und, je nach Wahl, dünnen Kaffee oderbilligen Fruchtsaft. Das wenig appetitliche Essen wurde mit Schöpfkellen auf dieBlechteller der Gefangenen geklatscht. Die lange Schlange schobsich an der Theke vorbei, und die Insassinnen, die dahinterstanden und den Fraß austeilten, riefen unablässig:»Weiter! Die nächste… Weiter! Die nächste…«
Als Tracy abgefertigt war, blickte sie sich unschlüssig um.
Sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie hielt Ausschau nach Ernestine Littlechap, aber die Schwarze war verschwunden. Schließlich ging Tracy zu dem Tisch, an dem Paulita saß, die dicke Mexikanerin. Zwanzig Frauen schlangen hier gierig ihr Essen hinunter. Tracyblickte auf ihren Teller. Die grüne Galle kam ihr hoch. Sie schobden Teller von sich.
Paulita streckte die Hand danach aus.»Wenn du's nicht essen willst — ich nehm's gern.«
Lola sagte:»He, du mußt was essen, sonst machst du's hier nicht lang.«
Ich will es hier auch nicht lang machen, dachte Tracy verzweifelt. Ich will sterben. Wie halten diese Frauen das aus? Wie lange sind sie schon hier? Monate? Jahre? Sie dachte an die stinkende Zelle und an ihre dreckige Matratze, und sie hätte am liebsten geschrieen. Sie preßte die Lippen aufeinander, um keinen Laut von sich zu geben.
Die Mexikanerin sagte:»Wenn die spitzkriegen, daß du nichts ißt, kommst du ins Loch. «Sie sah Tracys verständnislosen Gesichtsausdruck.»In 'ne Einzelzelle, wo's dunkel ist. Das würde dir gar nicht gefallen. «Siebeugte sich vor.»Dubist zum ersten Mal im Knast, wie? Ich gebdir 'n guten Tip, Querida. Ernestine Littlechap hat hier das Sagen. Sei nett zu ihr, dannbist du fein heraus.«
Dreißig Minuten nachdem die Frauen die Kantinebetreten hatten, schrillte eine Glocke. Die Frauen standen auf. Paulita fischte sich noch schnell eine liegengebliebeneBohne von einem der Teller. Tracy stellte sich neben sie. Die Frauen marschierten in ihre Zellen zurück. Das Abendessen warbeendet. Es war 16 Uhr — noch fünf lange Stunden, bis das Licht ausging.
Als Tracy in die Zelle zurückkam, war Ernestine Littlechap schon da. Tracy fragte sich, wo sie während des Essens gewesen war. Tracy warf einenBlick auf die Kloschüssel in
der Ecke. Sie hätte dringend auf die Toilette gemußt, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. Nicht vor diesen Frauen. Sie würde warten, bis das Licht ausging. Sie setzte sich auf die Kante ihrer Pritsche.
Ernestine Littlechap sagte:»Ich habgehört, daß du nichts gegessen hast. Das ist dochbeknackt.«
Woher wußte sie das? Und warum kümmerte es sie?» Was muß ich tun, wenn ich den Direktor sprechen will?«
«Da reichst du 'n schriftliches Gesuch ein. Mit dem wischen sich die Wärterinnen den Arsch. Die meinen nämlich, daß jede Frau, die mit dem Direktor sprechen will, dochbloß Ärger macht. «Sie ging zu Tracy, bliebvor ihrer Pritsche stehen.»Du kannst hier jede Menge Schwierigkeiten kriegen. Was dubrauchst, ist 'ne Freundin, die dir hilft, daß du keine Schwierigkeiten kriegst. «Sie lächelte, und ein goldener Schneidezahn kam zum Vorschein. Ihre Stimme klang sanft.»Jemand, der sich auskennt in dem Zoo hier.«
Tracyblickte zu dem lächelnden Gesicht der Schwarzen auf. Es schien irgendwo in der Nähe der Decke zu schweben.
So etwas Großes hatte sie noch nie gesehen.
Das ist eine Giraffe, sagte ihr Vater.
Sie waren im Zoo im Audubon‑Park. Tracy liebte den Park. Am Sonntag gingen sie hin, um das Sonntagskonzert zu hören, und danach führten ihre Eltern sie ins Aquarium oder in den Zoo. Sie wanderten langsam zwischen den Käfigen dahin undbetrachteten die Tiere.
Finden die das nicht scheußlich, so eingesperrt zu sein, Papa?
Ihr Vater lachte. Nein, Tracy, sie haben ein schönes Leben. Sie werden versorgt, sie werden gefüttert, und ihre Feinde können ihnen nichts tun.
Tracy fand, daß die Tiere unglücklich aussahen. Sie hätte gern die Käfige aufgemacht und sie freigelassen. Ich möchte
nie so eingesperrt sein, dachte Tracy.
Um 20 Uhr 45 gellte die Glocke durch das ganze Gefängnis. Tracys Zellengenossinnenbegannen sich auszuziehen. Tracy rührte sich nicht.
Lola sagte:»Du hast 'ne Viertelstunde Zeit, dann mußt du in der Falle sein.«
Die Frauen hatten inzwischen ihre Nachthemden angezogen. Die wasserstoffblonde Aufseherin kam an der Zelle vorbei. Als sie Tracy auf der Pritsche liegen sah, bliebsie stehen.
«Zieh dich aus«, befahl sie. Dann wandte sie sich an Ernestine.»Habt ihr der das nicht gesagt?«
«Doch, haben wir.«
Die Aufseherin wandte sich wieder an Tracy.»Mach ja keinen Stunk«, warnte sie.»Du tust hier, was man dir sagt, sonst knallt's. «Und damit ging sie.
«Das war Old Iron Pants, Baby«, erklärte Paulita.»Leg dich nicht mit ihr an. Die ist hundsgemein.«
Tracy stand langsam auf und fing an, sich auszuziehen. Den anderen kehrte sie dabei den Rücken. Sie legte alle ihre Kleider ab. Nur die Unterhosebehielt sie an. Dann streifte sie das grobe Nachthemd über den Kopf. Sie spürte dieBlicke der drei Frauen auf sich.
«Du hast wirklich 'n hübschen Körper«, sagte Paulita.
«Echt«, bestätigte Lola.
Ein kalter Schauer überlief Tracy.
Ernestine kam zu Tracy undblickte auf sie herunter.»Wir sind deine Freundinnen. Wir kümmern uns um dich und sind nett zu dir. «Ihre Stimme war heiser vor Erregung.
Tracy drehte sich wütend um.»Laßt mich in Ruhe! Ich… ichbin nicht…«.
Die Schwarze gluckste.»Dubistbald so, wie wir dich haben wollen, Baby.«
«Wir haben Zeit. Viel Zeit«, sagte die Mexikanerin. Das Licht
ging aus.
Die Dunkelheit war Tracys Feindin. Starr vor Nervosität saß sie auf der Kante ihrer Pritsche. Die anderen warteten nur darauf, über sie herzufallen. Das spürte sie. Oderbildete sie es sichbloß ein? Sie war so überreizt, daß ihr alles alsBedrohung erschien. Hatten die Frauen siebedroht? Nicht richtig. Vielleicht versuchten sie nur, nett zu sein, und sie sah Gespenster. Natürlich hatte sie schon von homosexuellen Aktivitäten im Gefängnis gehört, aber das war doch wohl die Ausnahme und nicht die Regel. Vom Wachpersonal wurde so etwas gewiß nicht geduldet.
Trotzdem verstummten ihre Zweifel nicht. Tracybeschloß, die ganze Nacht wach zubleiben. Wenn eine der Frauen ihr zu nahe kam, würde sie um Hilfe rufen. Das Wachpersonal war dafür verantwortlich, daß den Gefangenen nichts passierte. Kein Grund zur Aufregung, Tracy. Du mußt nur auf der Hut sein.
Tracy lauschte auf jedes Geräusch. Sie hörte, wie die drei Frauen nacheinander auf die Toilette gingen und anschließend zu ihren Pritschen zurücktappten. Als Tracy es nicht mehr aushielt, ging auch sie auf die Toilette. Die Spülung funktionierte nicht. Der Gestank war fast unerträglich. Sie eilte zu ihrer Pritsche zurück und setzte sich wieder auf die Kante. Es wirdbald hell, dachte sie. Morgen frühbitte ich um ein Gespräch mit dem Direktor. Ich werde ihm sagen, daß ich ein Kind erwarte. Er wird mich in eine andere Zueile verlegen.
Tracy war am ganzen Leibverspannt. Sie legte sich auf die Pritsche. Sekunden später krabbelte etwas über ihren Hals. Sie unterdrückte einen Schrei. Ich muß durchhaltenbis morgen früh, dachte Tracy. Morgen früh ist alles in Ordnung.
Um drei Uhr fielen ihr die Augen zu.
Sie wurde dadurch wach, daß sich eine Hand über ihren
Mund legte und zwei andere Hände nach ihrenBrüsten tasteten. Sie versuchte, sich aufzusetzen und zu schreien. Das Nachthemd wurde ihr vom Körper gerissen. Dann die Unterhose. Tracy wehrte sich verzweifelt, kämpfte, wollte hoch von der Pritsche.
«Immer mit der Ruhe«, flüsterte eine Stimme aus dem Dunkel.»Dann tut's nicht weh.«
Tracy drosch mitbeidenBeinen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Füße klatschten gegen pralles Fleisch.
«Carajo!«keuchte die Stimme.»Du Sau! Dir werden wir's zeigen!«
Ein Faustschlag traf Tracys Gesicht, ein zweiter ihren Magen. Jemand war über ihr, drückte sie nieder, würgte ihr die Luft ab, während Hände sie obszönbefingerten.
Tracy konnte sich einen Moment lang losreißen, aber dann packte sie eine der Frauen und schlug ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. Blut spritzte ihr aus der Nase. Sie wurde auf denBoden geworfen und an Armen undBeinen festgehalten. Tracy sträubte sich mit aller Kraft, doch sie war den dreien nicht gewachsen. Kalte Hände und heiße Zungen liebkosten ihren Körper. IhreBeine wurden auseinandergestemmt. Etwas Kaltes und Hartes wurde in sie hineingestoßen. Sie wand sich hilflos, versuchte zu schreien. Ein Arm legte sich über ihren Mund, und Tracy grubdie Zähne in das fremde Fleisch undbiß zu, so fest sie konnte.
Ein dumpfer Schrei.»Du miese Fotze!«
Fäuste trommelten ihr ins Gesicht… Schmerz hüllte sie ein, und sie sank tiefer, immer tiefer, bis sie schließlich nichts mehr spürte.
Die schrille Glocke weckte sie. Sie lag nackt auf dem kaltenBoden der Zelle. Die anderen Frauen lagen auf ihren Pritschen.
Auf dem Flur rief Old Iron Pants:»Aufstehen!«Als sie an der
Zelle vorbeikam, sah sie Tracy. Sie lag in einer kleinenBlutlache, das Gesicht grün undblau geschlagen, ein Auge zugeschwollen.
«Was ist denn hier los?«Die Aufseherin sperrte die Tür auf und trat in die Zelle.
«Die muß von ihrer Pritsche gefallen sein«, sagte Ernestine Littlechap.
Die Aufseherin ging zu Tracy und stieß sie mit dem Fuß an.»He! Steh auf.«
Tracy hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Ja, dachte sie, ich muß aufstehen. Ich muß hier weg. Aber sie konnte sich nichtbewegen. Ihr ganzer Körper war wie eine offene Wunde.
Die Aufseherin packte Tracybei den Ellenbogen und zerrte sie in eine halbsitzende Stellung. Es tat so weh, daß Tracy fast ohnmächtig wurde.
«Was ist passiert?«
Mit dem einen Auge sah Tracy verschwommen ihre Zellengenossinnen, die stumm auf ihre Antwort warteten.
«Ich… ich…«Tracy versuchte weiterzusprechen, doch siebrachte kein Wort über die Lippen. Sie versuchte es noch einmal. Und irgendein tief verwurzelter Instinkt ließ sie sagen:»Ichbin von meiner Pritsche gefallen…«
«Du lügst!«fauchte die Aufseherin.»Ich hasse das. Wir werden dich ins Loch stecken, damit du einbißchen Respekt lernst.«
Es war eine Art Vergessenheit, eine Rückkehr in den Mutterleib. Sie war allein im Dunkeln. Die enge Zelle im Keller war leerbis auf eine dünne, abgewetzte Matratze, die auf dem kalten Zementfußboden lag. Ein stinkiges Loch imBeton diente als Toilette. Tracy lag in undurchdringlicher Schwärze und summte Lieder vor sich hin, die ihr Vater ihr vor langer Zeitbeigebracht hatte. Sie wußte nicht, wie nah sie dem Wahnsinn war.
Und sie wußte auch nicht genau, wo sie war. Aber das war egal. Es gabnur eins: Die Leiden ihres mißhandelten Körpers. Ich muß hingefallen sein und mir weh getan haben. Aber Mama kümmert sich schon darum. Mit gebrochener Stimme rief sie:»Mama, Mama…«, und als keine Antwort kam, schlief sie wieder ein.
Sie schlief achtundvierzig Stunden, und an die Stelle der Qual trat Schmerz, und an die Stelle des Schmerzes trat Elend. Tracy öffnete die Augen. Das Nichts umgabsie. Es war so dunkel, daß sie nicht einmal die Umrisse der Zelle erkennen konnte. Erinnerungen kehrten wieder. Man hatte sie zum Arzt gebracht. Sie hörte seine Stimme:»… eine Rippe gebrochen, Fraktur an der Handwurzel… Die Platzwunden und Prellungen sehen ziemlichböse aus, aber das heilt schon wieder… Sie hat das Kind verloren…«
«Mein Kind«, flüsterte Tracy.»Sie haben mein Kind ermordet.«
Und sie weinte. Siebeweinte ihr Kind. Siebeweinte sich selbst. Siebeweinte die ganze kranke Welt.
Dann lag sie auf der dünnen Matratze im Dunkel und war von solchem Haß erfüllt, daß es sie schüttelte. Ihre Gedanken loderten auf undbrannten alles nieder, bis nur noch eine Empfindung in ihr war: der Wunsch nach Rache. Nicht Rache an ihren Zellengenossinnen. Die waren Opfer wie sie. Sondern Rache an den Männern, die ihr Leben zugrunde gerichtet hatten.
Joe Romano:»Ihre Frau Mama hat mir was vorenthalten. Sie hat mir nicht verraten, daß sie eine geile Tochter hat…«
Anthony Orsatti:»Joe Romano arbeitet für einen Mann namens Anthony Orsatti. Und Orsatti hat das Sagen in New Orleans…«
Perry Pope:»Wenn Sie sich schuldigbekennen, ersparen Sie dem Staat die Prozeßkosten…«
Richter Henry Lawrence:»… denn die nächsten fünfzehn
Jahre werden Sie im Gefängnis verbringen…«
Das waren ihre Feinde. Und dann war da noch Charles, der ihr nicht einmal zugehört hatte:»Herrgott, wenn du so dringend Geld gebraucht hast, hättest du es mir doch sagen können… Offenbar habe ich dich nie richtig gekannt… Mach mit deinem Kind, was du für richtig hältst…«
Sie würden es ihrbüßen müssen. Tracy wußte noch nicht, wie, aber sie wußte, daß sie es schaffen würde.
Alles fiel von ihr ab, bis nur noch ein Glosen in ihr war. Kalte Glut.
Die Zeit verlor jedeBedeutung. Es drang nie Licht in die Zelle, und so gabes keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und Tracy wußte nicht, wie lange sie in Dunkelhaft saß. Von Zeit zu Zeit wurde kaltes Essen durch eine Klappe am unteren Ende der Tür geschoben. Tracy hatte keinen Appetit. Aber sie zwang sich, ihren Teller leer zu essen. Du mußt was essen, sonst machst du's hier nicht lang. Jetztbegriff sie es. Jetzt wußte sie, daß sie all ihre Kraftbrauchen würde für das, was sie plante. Siebefand sich in einer Lage, die jeder andere für hoffnungslos gehalten hätte. Sie war zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Sie hatte kein Geld und keine Freunde, hatte nichts. Aber tief in ihr war ein Quell der Stärke. Ich werde überleben, dachte Tracy. Ja, sie würde überleben, wie ihre Vorfahren überlebt hatten. Sie hatte englisches und irisches und schottischesBlut in ihren Adern, und sie hatte diebesten Eigenschaften dieser Völker geerbt: Intelligenz und Mut und Willenskraft. Meine Vorfahren haben Hungersnöte, Seuchen und Sturmfluten überlebt, und ich werde das hier überleben. Sie waren jetztbei ihr in ihrer höllischen Zelle: die Hirten und die Trapper, die Farmer und die Krämer, die Ärzte und die Lehrer — die Geister der Vergangenheit, und jeder war ein Teil von ihr.»Ich werde euch nicht enttäuschen«, flüsterte Tracy in die Dunkelheit. Siebegann, ihre Flucht zu planen.
Zunächst mußte sie körperlich wieder zu Kräften kommen. Die Zelle war zu eng für intensive Gymnastik, aber sie war groß genug für Tai Chi Chuan, fürs Schattenboxen, jene uralte Kunst, die die Krieger als Vorbereitung auf den Kampf erlernt hatten. Die Übungen erforderten nur wenig Raum, aber sie
beanspruchten jeden Muskel des Leibes. Tracy stand auf undbegann mit den einleitendenBewegungen. Jede hatte einen Namen und eineBedeutung. Sie fing an mit der kämpferischen Vertreibung der Dämonen. Dann kam das sanftere Sammeln des Lichts. DieBewegungen waren anmutig und fließend und wurden sehr langsam ausgeführt. Jede rührte her aus der geistigen Mitte, und alle kehrten regelmäßig wieder. Tracy hatte die Stimme ihres Lehrers im Ohr: Erwecke dein Chi, deine Lebensenergie. Am Anfang ist sie schwer wie einBerg, doch dann wird sie leicht wie eine Vogelfeder. Tracy spürte, wie die Energie ihre Finger durchströmte, und sie sammelte sich, bis ihr ganzes Sein auf ihren Körper konzentriert war, der die zeitlosenBewegungen durchlief.
Der ganze Zyklus dauerte eine Stunde, und danach war Tracy erschöpft. Sie vollzog dieses Ritual jeden Morgen und jeden Nachmittag, bis sich ihr Leibzu kräftigenbegann.
Wenn sie ihren Körper nicht übte, übte sie ihren Geist. Sie lag im Dunkeln und rechnete komplizierte Gleichungen aus, sie arbeitete in Gedanken an ihrem Computer in derBank, sie löste Denksportaufgaben, sie sagte Gedichte auf, sie rekonstruierte so wörtlich wie möglich den Text der Stücke, bei denen sie am College mitgespielt hatte. Sie war eine Perfektionistin, und wenn sie damals eine Rollebekommen hatte, die mit einembestimmten Akzent gesprochen werden mußte, hatte sie, bevor das Stück einstudiert wurde, wochenlang diesen Akzent geübt. Einmal war ein Talentsucher an sie herangetreten und hatte ihr eine Drehprobe in Hollywood angeboten.»Nein, danke«, hatte ihm Tracy gesagt,»ich will nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Das ist nichts für mich.«
Sie hörte Charles' Stimme: Dubist die Schlagzeile in der Philadelphia Daily News…
Tracy verbannte diese Erinnerung aus ihrem Gedächtnis. Es gabPforten in ihr, die von nun an verschlossenbleiben
mußten. Sie hatte sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihre Feinde vernichten würde. Einen nach dem andern. Siebesann sich auf ein Spiel, das sie als Kind gespielt hatte: Wenn man die Hand in den Himmel hob, konnte man die Sonne auslöschen.
Und das hatten ihre Feinde mit ihr gemacht: Sie hatten die Hand gehoben und ihr Leben ausgelöscht.
Tracy wußte nicht, wieviel Gefangene durch die Dunkelhaft seelisch gebrochen worden waren. Es wäre ihr auch egal gewesen.
Als die Zellentür am siebten Tag geöffnet wurde, war Tracy geblendet vom Licht, das plötzlich hereinströmte. Ein Wärter stand draußen.»Auf geht's. Du kommst wieder nach oben.«
Er streckte die Hand aus, um Tracy auf dieBeine zu helfen, doch zu seiner Verblüffung stand sie mühelos auf und ging ohne Hilfe aus der Zelle. Die anderen Gefangenen, die er aus dem Loch geholt hatte, waren erledigt oder trotzig gewesen, aber diese war weder das eine noch das andere. Eine Aura von Würde umgabsie, und sie strahlte ein Selbstbewußtsein aus, das sich seltsam abhobvon diesem Ort. Tracy stand im Licht und wartete, bis sich ihre Augen allmählich wieder an die Helligkeit gewöhnten. Die würde ich gern vögeln, dachte der Wärter. Wenn die gewaschen ist, kannst du dich mit der überall sehen lassen. Die tut sicher was für mich, wenn ich was für sie tue.
Und er sagte:»So 'n hübsches Mädchen sollte man nicht ins Loch stecken. Wenn wir gute Freunde wären, würde ich dafür sorgen, daß das nicht noch mal passiert.«
Tracy drehte sich um undblickte ihn an, und als er den Ausdruck in ihren Augen sah, beschloß er unverzüglich, die Sache nicht weiter zu verfolgen.
Der Wärter führte Tracy nach oben und übergabsie einer Aufseherin.
Die Aufseherin rümpfte die Nase.»Heiliger Gott, du stinkst ja fürchterlich. Stell dich unter die Dusche. Deine Kleider verbrennen wir.«
Die kalte Dusche war ein Genuß. Tracy wusch sich die Haare und schrubbte sich von Kopfbis Fuß mit der harten Kernseife. Dann trocknete sie sich abund zog frische Kleider an. Die Aufseherin wartete schon auf sie.»Der Direktor will mit dir reden.«
Als Tracy diese Worte zum letzten Mal gehört hatte, hatte sie geglaubt, die Freiheit winke. So naiv würde sie nie wieder sein.
DirektorBrannigan stand am Fenster, als Tracy in seinBüro kam. Er drehte sich um und sagte:»Bitte, nehmen Sie Platz. «Nachdem Tracy sich gesetzt hatte, fuhr er fort:»Ich war in Washington, bei einer Tagung, undbin erst heute morgen zurückgekommen. Ich habe einenBericht über den Vorfall gelesen. Man hätte Sie nicht in Einzelhaft stecken sollen.«
Tracy saß da undbeobachtete ihn. Ihr Gesicht war ausdruckslos, gabnichts preis.
Der Direktor schaute auf ein Papier, das auf seinem Schreibtisch lag.»DemBericht zufolge sind Sie von Ihren Zellengenossinnen sexuellbelästigt worden.«
«Nein, Sir.«
Brannigan nickte verständnisvoll.»Es ist mir klar, daß Sie Angst haben. Aber ich kann es nicht dulden, daß in diesem Gefängnis die Häftlinge das Regiment führen. Ich möchte die Frauenbestrafen, die Ihnen das angetan haben. Doch dazubrauche ich Ihre Aussage. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts passieren kann. Und jetzt erzählen Sie mirbitte genau, was geschehen ist und wer dafür verantwortlich war.«
Tracyblickte ihm in die Augen.»Ich. Ichbin von meiner Pritsche gefallen.«
Der Direktorbetrachtete sie lange. Tracy sah, daß Enttäuschung sein Gesicht verdüsterte.»Sind Sie sicher?«
«Ja, Sir.«
«Und Sie werden es sich nicht noch anders überlegen?«
«Nein, Sir.«
Brannigan seufzte.»Na schön. Wie Sie meinen. Ich werde Sie in eine andere Zelle verlegen, wo…«
«Das will ich nicht.«
Erblickte sie verdutzt an.»Sie… Sie wollen in Ihre alte Zelle zurück?«
«Ja, Sir.«
Branniganbegriff es nicht. Vielleicht hatte er sich in dieser Frau getäuscht. Vielleicht hatte sie das Ganze selbst provoziert. Was diese verdammten Insassinnen taten und dachten, das wußte nur Gott der Herr. Er wünschte sichbloß eins: versetzt zu werden in ein ruhiges, halbwegs normales Männergefängnis. Aber seiner Frau und seiner kleinen Tochter Amy gefiel es hier. Sie wohnten in einembezaubernden Haus, und die Gefängnisfarm hatte eine ebensobezaubernde Umgebung. Für diebeiden war es, als lebten sie auf dem Land. Er dagegen mußte sich vierundzwanzig Stunden am Tag mit diesen verrückten Weibsbildern herumschlagen.
Branniganblickte die junge Frau an, die vor ihm saß, und sagte linkisch:»Also gut. Dann sehen Sie zu, daß Sie sich in Zukunft aus allen Konflikten heraushalten.«
«Ja, Sir.«
Die Rückkehr in ihre Zelle war das Schwierigste, was Tracy je erlebt hatte. In dem Moment, in dem sie eintrat, überfiel sie mit aller Gewalt das Schreckliche, das sich hier ereignet hatte. Ihre Zellengenossinnen warenbei der Arbeit. Tracy lag auf ihrer Pritsche, starrte gegen die Decke, schmiedete Pläne. Dann griff sie nach unten undbrach von der Seitenverkleidung ihrer Pritsche ein loses Stück Metall ab, das sie unter der Matratze versteckte. Als es um 11 Uhr zum Mittagessen klingelte, war Tracy die erste, die auf dem Flur stand.
In der Kantine saßen Paulita und Lola an einem Tisch nahe
beim Eingang. Von Ernestine Littlechap keine Spur.
Tracy setzte sich zu Frauen, die sie nicht kannte. Das Essen schmeckte nach nichts, doch sie aß ihren Teller leer. Den Nachmittag verbrachte sie allein in der Zelle. Um 14 Uhr 45 kehrten Paulita, Lola und Ernestine zurück.
Paulita grinste überrascht, als sie Tracy sah.»Dubist also zu uns zurückgekommen, süße Muschi. Hat dir wohl gefallen, was wir mit dir gemacht haben, wie?«
«Das kannst du gern auch noch öfter kriegen«, sagte Lola.
Tracy tat so, als hörte sie den Spott nicht. Sie interessierte sich nur für die Schwarze. Ernestine Littlechap war der Grund dafür, daß Tracy in diese Zelle zurückgekommen war. Tracy vertraute ihr nicht. Nicht eine Sekunde. Aber siebrauchte sie.
Ich geh dir 'n guten Tip, Querida. Ernestine Littlechap hat hier das Sagen…
Als an diesem Abend fünfzehn Minuten vor dem Verlöschen des Lichts die Glocke schrillte, erhobsich Tracy von ihrer Pritsche und zog sich aus. Diesmal kehrte sie den anderen nicht den Rücken. Sie legte ihre Kleider mit der größten Selbstverständlichkeit ab, und die Mexikanerin pfiff leise durch die Zähne, als sie Tracys volle, festeBrüste sah, ihre langen, wohlgeformtenBeine und ihre samtigen Oberschenkel. Tracy streifte ihr Nachthemd über und legte sich auf die Pritsche. Das Licht ging aus.
Eine halbe Stunde verstrich. Tracy lag im Dunkeln und lauschte auf die Atemzüge der anderen. Dann hörte sie Paulita flüstern:»Mama zeigt dir heute, wie schön die Liebe ist. Zieh dein Nachthemd aus, Baby.«
«Wirbringen dirbei, wie man 'ne Muschi leckt, und du übst es so lange, bis du's richtig machst«, kicherte Lola.
Die Schwarze sagte kein Wort. Tracy spürte den Luftzug, als Lola und Paulita auf sie zukamen. Doch sie war gerüstet. Sie hobdas Stück Metall, das sie unter der Matratze hervorgeholt hatte, und schwang es mit aller Kraft. Es klatschte einer der
Frauen mitten ins Gesicht. Ein Schmerzensschrei, und Tracy trat mitbeidenBeinen nach der anderen Gestalt.
«Wenn ihr's noch mal versucht, bring ich euch um«, keuchte Tracy.
«Du Drecksau!«
Tracy hörte, wie diebeiden erneut auf sie losgingen, und hobdas Stück Metall.
Plötzlich drang Ernestines Stimme aus dem Dunkel.»Jetzt reicht's. Laßt sie in Ruhe.«
«Ernie, mir läuft dasBlut nur so runter. Der gebich's dermaßen…«
«Mach, was ich dir sage, verdammt noch mal.«
Schweigen. Tracy hörte, wie die zwei Frauen schweratmend zu ihren Pritschen zurückgingen. Sie lag reglos da, alle Muskeln angespannt, darauf vorbereitet, daß diebeiden es noch einmal versuchen würden.
Ernestine Littlechap sagte:»Du traust dich was, Baby.«
Tracy gabkeine Antwort.
«Du hast uns nichtbeim Direktor verpfiffen. «Ernestine lachte leise.»Wenn du's getan hättest, wärst du jetzt tot.«
Tracy glaubte ihr aufs Wort.
«Warum hast du dich vom Direktor nicht in 'ne andere Zelle verlegen lassen?«
Selbst das wußte sie.»Weil ich wieder hierher kommen wollte.«
«Echt? Warum?«Ernestine Littlechaps Stimme klang etwas verblüfft.
Auf diesen Moment hatte Tracy gewartet.»Weil du mir helfen sollst. Ich will abhauen.«
Eine Aufseherin kam zu Tracy und sagte:»Du hastBesuch, Whitney.«
Tracyblickte sie verwundert an.»Besuch?«Wer konnte das sein? Und plötzlich wußte sie es. Charles. Er war doch gekommen. Aber zu spät. Als sie ihn so dringend gebraucht hatte, war er nicht dagewesen. Und jetztbrauche ich ihn nicht mehr. Niemand mehr.
Tracy folgte der Aufseherin den Flur entlang undbetrat dasBesuchszimmer.
Ein wildfremder Mensch saß an einem kleinen Holztisch. Er gehörte zu den unattraktivsten Männern, die Tracy je gesehen hatte. Er war kleinwüchsig, hatte einen aufgeschwemmten, eunuchenhaften Körper, eine rüsselartige Nase und einen kleinen, verbitterten Mund. Seine Stirn war hoch undbauchig gewölbt. Er hatte dunkelbraune Augen, die durch die dicken Gläser seinerBrille vergrößert wurden, und einen stechendenBlick.
Er stand nicht auf.»Mein Name ist Daniel Cooper. Der Gefängnisdirektor hat mir gestattet, mit Ihnen zu sprechen.«
«Worüber?«fragte Tracy mißtrauisch.
«Ichbin Versicherungsdetektivbei der IIPA, der International Insurance Protection Association. Einer unserer Klienten hat den Renoir versichert, der Mr. Joseph Romano gestohlen wurde.«
Tracy holte tief Luft.»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe ihn nicht gestohlen.«
Sie machte kehrt, ging auf die Tür zu.
Undbliebstehen, als sie Coopers nächste Worte hörte.»Ich weiß.«
Tracy drehte sich um undblickte Cooper an. Argwöhnisch und wachsam.
«Niemand hat ihn gestohlen. Sie sind reingelegt worden, Miß Whitney.«
Langsam ließ sich Tracy auf einen Stuhl sinken.
Daniel Cooper war seit drei Wochen mit dem Fallbefaßt. J. J. Reynolds, sein Vorgesetzter, hatte ihn damals in der Hauptgeschäftsstelle der IIPA in Manhattan in seinBüro gerufen.
«Ich habe einen Auftrag für Sie, Dan«, sagte Reynolds.
Daniel Cooper haßte es, wenn man ihn Dan nannte.
«Ich werde mich kurz fassen. «Reynolds wollte sich kurz fassen, weil Cooper ihn nervös machte. Cooper machte alle nervös. Er war ein komischer Kauz. Viele sagten sogar, er sei ihnen unheimlich. Daniel Cooper war geradezu krankhaft verschlossen. Niemand wußte, wo er wohnte, ober verheiratet war, ober Kinder hatte. Er war äußerst ungesellig. AnBüroparties oder Treffen außerhalbdesBüros nahm er grundsätzlich nicht teil. Er war ein absoluter Einzelgänger, und Reynolds duldete ihn nur in seiner Organisation, weil der Mann ein Genie war. Eine unfehlbare Spürnase mit Computergehirn. Daniel Cooper hatte mehr Diebesgut sichergestellt und mehr Fälle von Versicherungsbetrug aufgedeckt als alle anderen Detektive der IIPA zusammen. Reynolds hätte nur gern gewußt, wie der Kerl funktionierte. Er fühlte sich schonbeklommen, wenn er ihm gegenübersaß und Cooper ihn anglotzte mit seinen dunkelbraunen Augen.
Reynolds sagte:»Eine unserer Vertragsgesellschaften hat für eine halbe Million Dollar ein Gemälde versichert, und…«
«Den Renoir. New Orleans. Joe Romano. Eine Frau namens Tracy Whitney ist schuldig gesprochen und zu fünfzehn Jahren verurteilt worden. Das Gemälde ist nicht wieder aufgetaucht.«
Schau ihn dir an! dachte Reynolds. Bei jedem anderen
würde ich sagen, es ist reine Angabe.»Das ist richtig«, bestätigte Reynolds mit leisem Groll.»Die Whitney hat dasBild irgendwo versteckt, und wir wollen es wiederhaben. Übernehmen Sie den Fall.«
Cooper drehte sich um und verließ J. J. Reynolds' Zimmer. Grußlos.
Cooper lief durch das Großraumbüro, in dem fünfzig Angestellte arbeiteten, Computer programmierten, Berichte tippten, Telefongespräche führten. Es ging zu wie im Tollhaus.
Als Cooper an einem der Schreibtische vorbeikam, sagte ein Kollege:»Wie ich gehört habe, sollst du den Fall Romanobearbeiten. Viel Glück. New Orleans ist…«
Cooper ging weiter, ohne zu antworten. Warum ließen sie ihn nicht in Ruhe? Mehr wollte er gar nicht. Aber sie mußten ihn immer wieder mit ihren Annäherungsversuchenbelästigen.
Es war ein regelrechtes Spiel geworden in diesemBüro. Sie waren fest entschlossen, seine geheimnisvolle Zurückhaltung zu durchbrechen und herauszufinden, wer er wirklich war.
«Was machst du am Freitagabend, Dan…?«
«Wenn du nicht verheiratetbist, Dan… Sarah und ich kennen ein wirklich liebes Mädchen…«
Sahen sie denn nicht, daß er sie nichtbrauchte und nichts von ihnen wissen wollte?
«Komm doch mit, nur auf einen Drink, Dan…«
Aber Daniel Cooper wußte, wohin das führen konnte. Aus einem harmlosen Drink wurde im Nu eine Einladung zum Essen. Und damit konnten Freundschaftenbeginnen, und Freundschaften konnten zu Vertraulichkeiten führen. Und das war zu gefährlich.
Daniel Cooper lebte in Todesangst, jemand werde eines Tages von seiner Vergangenheit erfahren. Daß man die Vergangenheit mitsamt ihren Totenbegraben konnte, war eine Lüge. Die Totenblieben nichtbegraben. Alle zwei, drei Jahre rührte eines der Skandalblätter die alte Geschichte wieder auf,
und Daniel Cooper verschwand für mehrere Tage. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sichbetrank.
Daniel Cooper hätte einen Psychiater jahrelang in Atem halten können, wenn er imstande gewesen wäre, sich zu offenbaren. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, mit irgend jemandem über seine Vergangenheit zu sprechen. Der einzige greifbareBeweis, den er noch hatte von jenem entsetzlichen Tag vor langen Jahren, war ein verblaßter und vergilbter Zeitungsausschnitt, den er sicher in seinem Zimmer verwahrte. Dort konnte ihn niemand finden. Von Zeit zu Zeit schaute er ihn sich an: alsBestrafung. Doch auch so war jedes Wort des Artikels in sein Gedächtnis eingebrannt.
Er duschte oderbadete mindestens dreimal am Tag und fühlte sich trotzdem nie sauber. Er glaubte fest an die Hölle und an das Höllenfeuer, und er wußte, daß sein einziges Heil auf Erden in derBuße lag. Er hatte zur New Yorker Polizei gehen wollen, doch da er den Anforderungen nicht genügt hatte, weil er zehn Zentimeter zu klein war, war er im Versicherungswesen gelandet und Detektiv geworden. Er sah sich als Jäger, der die Gesetzesbrecher aufspürte. Er war die Rache Gottes, er war das Instrument, das Gottes Zorn über die Missetäterbrachte. Nur so konnte er für die VergangenheitBuße tun und sich rüsten für die Ewigkeit.
Er überlegte sich, obihm noch Zeit zum Duschenblieb, bevor er zum Flughafen mußte.
Daniel Cooper hielt sich zunächst in New Orleans auf. Fünf Tage verbrachte er dort, und als er wieder abreiste, wußte er über Joe Romano, Anthony Orsatti, Perry Pope und Richter Henry Lawrence alles, was er wissen mußte. Cooper las das Protokoll von Tracy Whitneys Einvernahme und Verurteilung. Er suchte Lieutenant Miller auf und erfuhr vom Selbstmord von Tracy Whitneys Mutter. Er unterhielt sich mit Otto Schmidt und fand heraus, wie die Firma ruiniert worden war. Bei all seinen
Gesprächen machte sich Cooper keine einzige Notiz, aber er hätte jedes wortwörtlich wiedergeben können. Er war zu 99 Prozent von Tracy Whitneys Unschuld überzeugt. Doch das genügte ihm nicht. Der einzige Prozentpunkt Unsicherheit war für ihn nicht akzeptabel. Er flog nach Philadelphia und führte eine Unterredung mit Clarence Desmond, dem stellvertretenden Direktor derBank, bei der Tracy Whitney gearbeitet hatte. Charles Stanhope junior hatte sich geweigert, ihn zu empfangen.
Und als Cooper nun die junge Fraubetrachtete, die ihm gegenübersaß, war er hundertprozentig davon überzeugt, daß sie nichts mit dem Diebstahl des Gemäldes zu tun hatte. Jetzt konnte er seinenBericht schreiben.
«Romano hat Sie reingelegt, Miß Whitney. Früher oder später hätte er sowiesobehauptet, dasBild sei gestohlen worden, und Anspruch auf die Versicherungssumme erhoben. Sie sind ihm gerade recht gekommen und haben ihm sein Vorhaben erleichtert.«
Tracys Herz schlug schneller. Dieser Mann wußte, daß sie unschuldig war. Wahrscheinlich hatte er so vielBeweise gegen Joe Romano gesammelt, daß er sie vollständig entlasten konnte. Er würde mit dem Gefängnisdirektor oder mit dem Gouverneur reden und sie von diesem Alptraum erlösen. Es fiel ihr plötzlich schwer zu atmen.»Dann helfen Sie mir?«
Daniel Cooper war perplex.»Ich soll Ihnen helfen?«
«Ja, damit ichbegnadigt werde oder…«
«Nein.«
Das Wort war wie eine Ohrfeige.»Nein? Aber warum nicht? Sie wissen doch, daß ich unschuldigbin…«
Wie konnte man nur so dämlich sein?» Mein Auftrag ist erledigt«, sagte Daniel Cooper sachlich.
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, zog sich Cooper sofort aus und ging unter die Dusche. Er wusch sich gründlich von Kopfbis Fuß und ließ das dampfend heiße Wasser fast eine halbe Stunde über seinen Körper laufen. Dann trocknete er sich ab, zog sich an, nahm Platz und schriebseinenBericht.
AN: J. J. Reynolds Aktenzeichen: Y-72–830–412
VON: Daniel Cooper
BETRIFFT: Renoir, Deux Femmes dans le Café Rouge, Öl auf Leinwand.
Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß Tracy Whitney in keiner Weise in den Diebstahl des obigen Gemäldes verwickelt ist. Ich glaube vielmehr, daß Joe Romano die Versicherung mit der Absicht abgeschlossen hat, einen Einbruchdiebstahl zu fingieren, die Versicherungssumme einzustreichen und das Gemälde an einen Privatsammler weiterzuverkaufen. Wahrscheinlich ist es mittlerweile außer Landes. Da es sich um ein rechtbekanntes Gemälde handelt, nehme ich an, daß es in der Schweiz auftauchen wird, wo ein im guten Glauben getätigter Kauf den Schutz des Gesetzes genießt. Will heißen: Wenn ein Käufer sagt, er habe ein Kunstwerk in gutem Glauben erworben, darf er es selbst dannbehalten, wenn es gestohlen ist. Empfehlung: Da es keinen konkretenBeweis für Romanos Versicherungsbetrug gibt, wird unser Klient ihn auszahlen müssen. Weiterhin wäre es sinnlos, von Tracy Whitney die Rückgabe des Gemäldesbeziehungsweise Schadenersatz zu erwarten, da sie weder über den VerbleibdesBildes unterrichtet ist, noch über Geldmittel verfügt, die ich hätte eruieren können. Außerdem wird sie die nächsten fünfzehn Jahre im Southern Louisiana Penitentiary for Women einsitzen.
Daniel Cooper hielt einen Augenblick inne, um über Tracy Whitney nachzudenken. Er vermutete, daß andere Männer sie schön gefunden hätten. Und er fragte sich, ohne eigentliches
Interesse, was fünfzehn Jahre Haft aus ihr machen würden. Es war nicht vonBelang.
Daniel Cooper unterzeichnete seinenBericht und überlegte sich, ober noch Zeit für eine weitere Dusche hatte.
Old Iron Pants hatte Tracy in die Wäscherei geschickt. Von den fünfunddreißig Arbeiten, die Gefangenen zugewiesen werden konnten, war dieser Jobder schlimmste. Der Raum war riesig, feucht und heiß, voll von Waschmaschinen undBügelbrettern. Ungeheure Ladungen Schmutzwäsche wurden Tag für Tag und Stunde für Stunde angeliefert. Die Waschmaschinen zu füllen und zu leeren und die schweren Körbe zu denBügelbrettern zu schleppen, war eine geisttötende und erschöpfende Arbeit.
Um 6 Uhr morgens ging es los. Alle zwei Stunden durften die Gefangenen zehn Minuten Pause machen. Am Ende des Neunstundentages waren die meisten Frauen zum Umfallen müde. Tracy tat ihre Arbeit völlig mechanisch. Sie sprach mit niemandem und spann sich ganz in ihre Gedanken ein.
Als Ernestine Littlechap erfuhr, wo Tracy arbeitete, bemerkte sie:»Old Iron Pants will dich fertigmachen.«
«Das ist mir egal«, erwiderte Tracy.
Ernestine Littlechap war verblüfft. Sie hatte hier nicht mehr das verschreckte junge Mädchen vor sich, das vor drei Wochen ins Gefängnis eingeliefert worden war, sondern eine durchgreifend gewandelte Frau. Irgend etwas hatte sie verändert, und Ernestine Littlechap hätte gern gewußt, was.
Tracy arbeitete schon über eine Woche in der Wäscherei, als eines Nachmittags eine Wärterin zu ihr kam.»Du wirst versetzt. Du sollst in die Küche. «Derbegehrteste Jobim Gefängnis.
Es gabzweierlei Kost im Southern Louisiana Penitentiary for Women: Die Häftlinge aßen Haschee, Hotdogs, Bohnen und
ungenießbare Eintöpfe; das Wachpersonal und die Verwaltungsleute speisten Steaks, frische Fische, Geflügel, Frischgemüse, Obst und verführerische Desserts. Ihre Mahlzeiten wurden von ausgebildeten Köchen zubereitet. Die Gefangenen, die in der Küche arbeiteten, kamen an diese Verpflegung heran, und sie nutzten es weidlich.
Als sich Tracy in der Küche meldete, überraschte es sie nicht übermäßig, Ernestine Littlechap zu sehen.
Tracy ging zu ihr.»Danke. «Mit einiger Mühe verlieh sie ihrer Stimme einen freundlichen Ton.
Ernestine gabein undefinierbares Knurren von sich.
«Wie hast du mich an Old Iron Pants vorbeigeschleust?«
«Die ist nicht mehr da.«
«Wie kommt's?«
«Wir haben hier unsere Grundsätze. Wenn 'ne Aufseherin zu verbiestert ist und uns das Leben schwermacht, sägen wir sie ab.«
«Du meinst, der Direktor hört auf…«
«Quatsch. Was hat der denn damit zu tun?«
«Wie könnt ihr dann…«
«Ganz einfach. Wenn die Aufseherin, die du absägen willst, Dienst hat, gibt's Knatsch. Manbeschwert sich über sie. ZumBeispiel meldet 'ne Frau, daß Old Iron Pants ihr an die Muschi gefaßt hat. Am nächsten Tag jammert 'ne andere, sie war tierischbrutal. Und dann sagt eine, sie hätte ihr was aus der Zelle geklaut, 'n Radio oder so. Ja, und wo taucht das Radio auf? Natürlich im Zimmer von Old Iron Pants. Und schon ist sie weg. Die Aufseherinnen haben hier nichts zu melden. DieBosse im Knast — das sind wir.«
«Warumbist du hier?«fragte Tracy. Die Antwort interessierte sie nicht. Es ging nur darum, freundschaftlicheBeziehungen zu dieser Frau aufzubauen.
«Reines Pech. Ich hatte da 'n paar Mädchen. Die haben für mich gearbeitet.«
Tracyblickte Ernestine Littlechap an.»Du meinst, als…?«Sie zögerte.
«Als Nutten?«Ernestine lachte.»Nein. Als Dienstmädchenbei reichen Knackern. Ich habso 'n Stellenvermittlungsbüro aufgemacht. Und ich habmindestens zwanzig Mädchen gehabt. Die reichen Knacker finden ja kaum Personal. Also habich stinkfeine Anzeigen in die Zeitung gesetzt, und wenn sie mich angerufen haben, habich ihnen meine Mädchen geschickt. Die haben sich im Haus umgeschaut, und wenn ihre Leute weg waren — beim Arbeiten oder verreist oder so —, haben sie das Silber und den Schmuck und die Pelze und alles eingesammelt und sind abgehauen. «Ernestine seufzte.»Wir haben Geld gemacht, kann ich dir sagen… also, du würdest mir's echt nicht glauben.«
«Und wie haben sie dich erwischt?«
«War 'n saudummer Zufall. Eins von meinen Mädchen hat im Haus vomBürgermeister Essen serviert, und der hat Gäste gehabt, und da war auch 'ne alte Tante eingeladen, bei der das Mädchen mal gearbeitet hat — und tüchtig abgeräumt, ist ja klar. DieBullen haben sie in die Mangel genommen, und sie hat mich verpfiffen, und deswegenbin ich hier.«
Sie standen allein an einem Herd.
«Ich kann hier nichtbleiben«, flüsterte Tracy.»Ich muß draußen was Dringendes erledigen. Hilfst du mirbeim Abhauen? Ich…«
«Jetzt schneid mal schön Zwiebeln. Heut abend gibt's Irish Stew.«
Und damit ging sie.
Das Informationssystem im Gefängnis war unglaublich. Die Häftlinge wußten alles, was geschehen würde, langebevor es geschah. Gefangene fischten Merkblätter aus dem Müll, hörten Telefongespräche abund lasen die Post des Direktors. Die Informationen wurden koordiniert und an die» wichtigen«
Insassinnen weitergeleitet. Ernestine Littlechap war die Nummer Eins auf der Liste. Tracy merkte, wie das Wachpersonal und die Gefangenen vor Ernestine kuschten. Da die anderen Häftlinge zu dem Schluß gekommen waren, daß Ernestine Tracy unter ihre Fittiche genommen hatte, ließen sie Tracy in Ruhe. Und nun wartete Tracy voll Unbehagen auf die Annäherungsversuche der Schwarzen. Doch Ernestine hielt Distanz. Warum? fragte sich Tracy.
In Paragraph 7 der zehnseitigen Gefängnisordnung, die jeder Fraubei Haftantritt überreicht wurde, hieß es:»Jede Form von geschlechtlicherBetätigung ist streng verboten. Zu keiner Zeit dürfen sich mehr als vier Insassinnen in einer Zelle aufhalten. Zu keiner Zeit darf auf den Pritschen mehr als eine Insassin liegen.«
Die Wirklichkeit war so lächerlich anders, daß die Frauen die Gefängnisordnung nur als» das Witzblatt «bezeichneten. Im Laufe der Wochen verfolgte Tracy mit, wie tagtäglich» Neue «eintrafen. Und es war immer das gleiche. Heterosexuelle Frauen, die zum ersten Mal in Haft waren, hatten keine Chance. Sie kamen schüchtern und furchtsam an, und die Lesben warteten schon auf sie. Das Drama gliederte sich in mehrere, sorgfältig durchplante Akte. In einer kalten und feindseligen Welt war die Lesbe freundlich und mitfühlend. Sie lud ihr zukünftiges Opfer in den Aufenthaltsraum ein. Dort sahen diebeiden fern. Und wenn die Lesbe die Hand der Neuen hielt, ließ es die Neue geschehen, weil sie Angst hatte, ihre einzige Freundin zu kränken. Die Neue merktebald, daß die anderen Frauen sie in Ruhe ließen. Ihre Abhängigkeit von der Lesbe nahm zu, die Intimitäten ebenfalls, bis die Neue schließlichbereit war, alles zu tun, um ihre einzige Freundin nicht zu verlieren.
Wer sich nicht fügte, wurde vergewaltigt. 90 Prozent der Frauen, die neu ins Gefängnis kamen, wurden in den ersten Tagen mehr oder minder direkt zu homosexuellen Aktivitäten
genötigt. Tracy war entsetzt.
«Warum wird das geduldet? Ich meine, von oben?«fragte sie Ernestine.
«Das liegt am System«, erklärte Ernestine.»Und es ist in jedem Gefängnis so. Es geht nicht, daß du zwölfhundert Frauen von ihren Männern trennst und meinst, sie ficken mit niemand. Wir vergewaltigen, okay. Aber da geht's nichtbloß um Sex. Es geht auch um Power. Wir wollen zeigen, wer derBoß ist. Die Neuen, die hier reinkommen, sind Freiwild. Da hilft nur eins: daß sie die Frau von jemand werden. Dann haben sie ihre Ruhe.«
Tracy wußte, daß sie einer Expertin lauschte.
«Aber die Wärterinnen sind genauso übel«, fuhr Ernestine fort.»Sagen wir mal, 'ne Neue kommt hier an und hängt an der Nadel. Sie ist auf Turkey undbraucht 'n Schuß. Sie schwitzt und zittert wie verrückt. Na, und die Aufseherin kann ihr Heroinbesorgen. Aber die will natürlich was dafür, verstehst du? Also leckt die Neue der Aufseherin die Muschi, und sie kriegt ihren Schuß. Die Wärter sind noch übler. Die haben Schlüssel zu den Zellen, und da müssen siebloß in der Nacht reinhuschen und sichbedienen. Kann natürlich sein, daß sie dich anknallen — aber sie können 'ne Menge für dich tun. Wenn du 'ne Nase Koksbrauchst oder so, oder wenn duBesuch von deinem Freund haben willst, läßt du mal schnell den Wärter drüber. Wir nennen das Tauschhandel, gibt's in jedem Gefängnis hier.«
«Das ist ja furchtbar!«
«Kann schon sein, aber irgendwie muß man überleben. «Das Deckenlicht in der Zelle schien auf Ernestines kahl rasierten Schädel.»Weißt du, warum in diesem Knast Kaugummi streng verboten ist?«
«Nein.«
«Weil die Frauen den unauffällig in die Schlösser kleben. Dann sperren die Türen nicht richtig, und in der Nacht können
sie raus aus den Zellen und sichbesuchen. Die Frauen, die hier zurechtkommen, sind vielleicht keine Intelligenzbestien, aber schlau sind sie auf jeden Fall.«
Es gabzahlreiche Liebesaffären im Gefängnis. Und die Regeln waren noch strenger als draußen. Die Rollen von Mann und Frau wurden starr festgelegt und durchgespieltbis ins letzte Detail. Der» Mann «war ein Macho in einer männerlosen Welt. Er änderte seinen Namen. Ernestine hieß Ernie, aus Tessie wurde Tex, ausBarbara wurdeBob, und Katherine war Kelly. Der» Mann «trug die Haare kurz oder rasierte sich den Schädel und verrichtete keine» weiblichen «Arbeiten. Die» Frau «hatte für ihn sauberzumachen, Wäsche zu flicken und zubügeln. Lola und Paulitabuhlten verbissen um Ernestines Gunst und versuchten ständig, einander zu übertreffen.
Die Eifersucht war groß und führte oft zu gewalttätigen Szenen. Wenn die Frau einem anderen» Mann «schöne Augen machte oder gar auf dem Gefängnishof mit einem sprach und dabei erwischt wurde, erhitzten sich die Gemüter. Es herrschte ein reger postalischer Verkehr — vor allem Liebesbriefe.
DieBriefe wurden zu kleinen Dreiecken gefaltet, die sich leicht imBH oder im Schuh verstecken ließen. Tracy sah häufig den Austausch solcherBriefe zwischen Frauen, diebeim Eintritt in die Kantine oder auf dem Weg zur Arbeit aneinander vorbeigingen.
Tracy konnte oftbeobachten, wie sich Gefangene in das Wachpersonal verliebten. Diese Liebe war aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit geboren. Die Gefangenen waren in allen Dingen vom Wachpersonal abhängig. Dasbetraf ihr Essen und ihr Wohlergehen, manchmal auch ihr nacktes Leben. Tracybemühte sich, für niemanden etwas zu empfinden.
Sexbeherrschte das Gefängnisbei Tag undbei Nacht, Sex unter der Dusche, auf den Toiletten, in den Zellen — undbei Dunkelheit oraler Sex zwischen den Gitterstäben hindurch. Die Frauen, die den Wärterinnen» gehörten«, wurden nachts aus der Zelle gelassen und schlüpften in die Zimmer des Wachpersonals.
Wenn das Licht ausgegangen war, lag Tracy auf ihrer Pritsche und hielt sich die Ohren zu, um die Geräusche nicht mitzukriegen.
Eines Nachts zog Ernestine eine Packung Rice Crispies unter ihrer Pritsche hervor und streute sie auf den Flur vor der Zelle.
Frauen in den Nachbarzellen taten es ihr nach.
«Was soll das?«fragte Tracy.
Ernestine wandte sich ihr zu und sagtebarsch:»Das geht dich 'n Dreck an. Bleibin der Falle und rühr dich nicht.«
Ein paar Minuten später gellte ein Entsetzensschrei aus einer der Nachbarzellen.»O Gott, nein! Nicht! Laßt mich in Ruhe! Bitte!«
Nun wußte Tracy, was geschah, und es widerte sie an. Die Schreie gellten weiter. Dann wurden sie leiser. Und schließlich war nur noch herzzerreißendes Schluchzen zu hören. Zorn loderte in Tracy. Wie konnten Frauen das nur einander antun? Sie hatte gedacht, das Gefängnis habe sie hart gemacht, doch als sie am Morgen aufwachte, merkte sie, daß sie geweint hatte: Auf ihren Wangen war das Salz getrockneter Tränen.
Tracy war entschlossen, Ernestine keinesfalls ihre Gefühle zu zeigen, und fragte sobeiläufig wie möglich:»Wofür waren denn die Rice Crispies?«
«Das ist unser Frühwarnsystem. Wenn 'ne Aufseherin kommt, hören wir sie gleich.«
Tracy stelltebald fest, daß das Gefängnis auch eine Lehranstalt war. Freilich eine recht unorthodoxe.
Es wimmelte hier von Expertinnen für alle möglichen Straftaten, die einen lebhaften Erfahrungsaustausch über Methoden desBetrugs, des Laden- undBeischlafdiebstahlsbetrieben. Siebrachten sich auf den neuesten Stand über Erpressungsverfahren im horizontalen Gewerbe und informierten einander über Polizeispitzel und Agenten.
Auf dem Gefängnishof lauschte Tracy eines Tages einem Seminar, das eine gewiefte Taschendiebin für eine faszinierte Gruppe von Jüngeren hielt.
«Die wirklichen Profis kommen aus Kolumbien. InBogota gibt's 'ne Schule, da könnt ihr für 200 Dollar alle Tricks lernen. Die hängen 'ne Schaufensterpuppe an die Decke, und die hat 'n Anzug an, mit zehn Taschen. In denen ist Geld und Schmuck.«
«Und was ist der Witz dabei?«
«Daß an jeder Tasche 'ne Glocke hängt. Wirklich gutbist du erst, wenn du alle Taschen ausräumen kannst, ohne daß es klingelt.«
Der Lehrbetriebging im Aufenthaltsraum weiter.
«Kennt jemand von euch den Schließfachtrick?«erkundigte sich eine alte Häsin.»Nein? Also: Du hängst auf 'nemBahnhof rum, bis du 'ne olle Schrulle siehst, die ihren Koffer oder 'n schweres Paket in so 'n Gepäckfach wuchten will. Du machst das für sie und gibst ihr den Schlüssel. Bloß — das ist einer von 'nem andern Fach. Wenn sie weg ist, machst du ihr Schließfach leer und verpißt dich.«
Die Zeit verstrich weder langsam noch schnell. Sie rann dahin. Die Routine änderte sich nie. Vom Wecken um 4 Uhr 40bis zum Verlöschen des Lichts um 21 Uhr war alles geregelt, bliebder äußere Ablauf immer gleich. Die Vorschriften waren unumstößlich. Die Gefangenen mußten sich zum Essen in der Kantine einfinden. Niemand durfte im Glied reden. Keine Frau durfte in ihrem Spind mehr als fünf Kosmetikartikel haben. Die
Betten mußten vor dem Frühstück gemacht werden und waren den Tag über sauber und ordentlich zu halten.
Das Gefängnis hatte eine Art eigener Musik: die schrillen Klingeln, das Schlurfen von Füßen aufBeton, das Krachen von eisernen Türen, das Flüsternbei Tag und die Schreiebei Nacht, das Knistern und Knacken in den Walkie‑talkies des Wachpersonals, das Knallen der Tablettsbei den Mahlzeiten.
Und im Hintergrund immer der Stacheldraht und die hohen Mauern, die Einsamkeit und die Isolation und der Haß, der alles durchdrang.
Tracy wurde eine Mustergefangene. Ihr Körper reagierte automatisch auf die akustischen Reize des Gefängnisalltags: den Riegel an der Zellentür, der nach dem Anwesenheitsappell vorgeschoben und morgens wieder aufgezogen wurde, wenn es zum Antreten auf den Flur ging, die Glocke zu Arbeitsbeginn undbei Arbeitsende.
Tracys Körper war gefangen, aber ihre Gedanken waren frei, und sie fuhr fort, ihre Flucht zu planen.
Die Häftlinge durften nicht nach draußen telefonieren und konnten pro Monat nur zwei Anrufe von je fünf Minuten Dauer entgegennehmen. Eine Weile nach Tracys Einlieferung meldete sich Otto Schmidt.
«Ich dachte mir, Sie wollten es vielleicht wissen«, sagte er.»Es war eine sehr schöneBeerdigung. Ich habe mich um die Kosten gekümmert, Tracy.«
«Danke, Otto. Ich… vielen Dank. «Mehr gabes nicht zu sagen.
Und weitere Anrufe erhielt sie nicht.
«Vergiß, was draußen ist«, meinte Ernestine.»Da wartet ja niemand auf dich.«
O doch, dachte Tracy. Da warten einige: Joe Romano, Perry Pope, Richter Henry Lawrence, Anthony Orsatti und Charles Stanhope junior.
Auf dem Gefängnishofbegegnete TracyBigBertha wieder.
Der Gefängnishof war ein großes, von Mauern eingegrenztes Rechteck. Eine seiner Seiten wurde von der Außenmauer des Gefängnisses gebildet. Die Häftlinge hatten jeden Vormittag eine halbe Stunde Hofgang. Hier war einer der wenigen Orte, wo sie sprechen durften, und hier sammelten sich Grüppchen und Gruppen von Frauen, um einander vor dem Mittagessen die neuesten Nachrichten und Klatschgeschichten mitzuteilen. Als Tracy zum ersten Mal auf den Hof trat, hatte sie plötzlich Freiheitsgefühle. Und dann wurde ihr klar, woran das lag: Sie war draußen, sie atmete frische Luft. Hoch oben sah sie die Sonne und Schönwetterwolken, und fern in der Tiefe desblauen Himmels hörte sie den Düsenlärm eines aufsteigenden Flugzeugs.
«He! Ich habdich schon überall gesucht«, sagte eine Stimme.
Tracy drehte sich um. Vor ihr stand die gewaltige Schwedin, die sie an ihrem ersten Tag im Gefängnis fast über den Haufen gerannt hätte.
«Ich habgehört, du gehst mit 'ner Niggerlesbe.«
Tracy wollte sich an der Frau vorbeistehlen. AberBigBertha packte sie mit eisernem Griff.»Mir gibt man keinen Korb«, zischte sie.»Sei nett zu mir, Baby. «Sie drängte Tracy an die Mauer und preßte ihren massigen Körper gegen sie.
«Laß mich los.«
«Du mußt mal tüchtig durchgewichst werden, Baby. Verstehst du, was ich meine? Von mir kannst du das kriegen. Bald gehörst du mir, Baby. «HinterBigBertha knurrte eine vertraute Stimme:»Nimm die Finger weg von ihr, du Arschloch.«
Und da stand Ernestine Littlechap mit flammendemBlick, die großen Hände zu Fäusten geballt. Die Sonne spiegelte sich auf ihrem kahlrasierten, glänzenden Schädel.
«Dubesorgst ihr's nicht richtig, Ernie.«
«Aber dirbesorg ich's gleich richtig«, fauchte die Schwarze.»Wenn du sie noch mal anmachst, kriegst du den Arsch voll. Aber so, daß du's nie vergißt.«
Die Luft war plötzlich elektrisch geladen. Diebeiden Amazonen starrten sich an. Nackter Haß stand in ihren Augen. Die würden sich meinetwegen glatt umbringen, dachte Tracy. Und dann erkannte sie, daß es mit ihr nur sehr wenig zu tun hatte. Sie erinnerte sich an einen Satz von Ernestine:»Hier mußt du powern oderbescheißen oder die Hindernisse eben auf die elegante Tour nehmen. Jedenfalls mußt du deine Stellung halten, sonst gehst du drauf.«
BigBertha gabschließlich nach. Sie warf Ernestine einen verächtlichenBlick zu.»Ich hab's nicht eilig. «Dann schielte sie lüstern nach Tracy.»Dubist noch 'ne ganze Weile hier, Baby. Ich auch. Wir sehen uns wieder.«
Sie drehte sich um und ging.
Ernestine sah ihr nach.»Das ist vielleicht 'ne Sau. Weißt du das zufällig noch — das mit der Schwester in Chicago, die die Kranken kaltgemacht hat? Sie hat die Leute mit Gift vollgepumpt und zugeschaut, wie sie verreckt sind. Tja. Das ist der Engel, der auf dich spitz ist, Whitney. Kacke! Dubrauchst jemand, der auf dich aufpaßt. Die macht dich nächstes Mal wieder an.«
«Hilfst du mirbeim Abhauen?«
Die Glocke klingelte.
«Es gibt Futter«, sagte Ernestine Littlechap.
Als Tracy an diesem Abend auf ihrer Pritsche lag, dachte sie über Ernestine nach.
Obwohl die Schwarze sie nie wieder angerührt hatte, vertraute Tracy ihr immer noch nicht. Sie konnte nicht vergessen, was Ernestine und diebeiden anderen Frauen in der Zelle ihr angetan hatten. Aber siebrauchte die Schwarze.
Jeden Tag durften die Gefangenen nach dem Abendessen eine Stunde im Aufenthaltsraum verbringen. Dort konnten sie fernsehen oder miteinander reden oder die neuesten Zeitungen und Illustrierten lesen. Tracyblätterte eine Illustrierte durch, als ihr plötzlich ein Foto ins Auge stach. Ein Hochzeitsbild von Charles Stanhope junior und seiner frisch Angetrauten. Sie kamen lachend aus der Kirche, Arm in Arm. Es traf Tracy wie ein Schlag. Dieses Foto, Charles' glückliches Lachen, erfüllte sie mit Schmerz. Doch aus dem Schmerz wurde im Nu kalter Zorn. Sie hatte ihr Leben mit diesem Mann verbringen wollen, und er hatte ihr den Rücken gekehrt und es zugelassen, daß sie zugrunde gerichtet wurde, daß ihr gemeinsames Kind kläglich starb… Aber das war eine andere Zeit, ein anderer Ort, eine andere Welt. Tracy schlug die Illustrierte zu.
AnBesuchstagen merkte man gleich, welche Frauen Freunde oder Verwandte erwarteten. Sie duschten, zogen frische Kleider an und schminkten sich. Ernestine kehrte meistens strahlend vergnügt aus demBesuchszimmer zurück.
«Mein Al, der kommt immer«, erzählte sie Tracy.»Wenn ich aus dem Knast entlassen werde, wartet er schon auf mich. Und weißt du, warum? Weil ich ihm das gebe, was er von keiner anderen kriegt.«
Tracy konnte ihre Verwirrung nicht verbergen.»Du meinst… sexuell?«
«Logo. Was hier drin passiert, hat nichts mit draußen zu tun. Hierbrauchen wir manchmal was Warmes zum Umarmen, 'ne Frau, die uns streichelt und uns sagt, sie mag uns. Wir müssen das Gefühl haben, daß es jemand gibt, dem wir nicht egal sind. Ob's stimmt oder nicht, ob'sbloß 'ne kurze Sache ist oder nicht, ist egal. Mehr haben wir nicht. Aber wenn ich wieder rauskomme…«, Ernestine grinste von einem Ohr zum andern,»… wenn ich wieder rauskomme, bin ich sagenhaft spitz auf meinen Mann, verstehst du?«
Es gabetwas, das Tracy schon seit einiger Zeit Kopfzerbrechen machte. Siebeschloß, es jetzt zur Sprache zubringen.»Ernie, dubeschützt mich. Warum?«
Ernestine zuckte die Achseln.»Spielt doch echt keine Rolle.«
«Ich möchte es aber wissen. «Tracy wählte ihre Worte mit größter Sorgfalt.»All deine anderen… deine anderen Freundinnen gehören dir praktisch. Sie tun genau, was du ihnen sagst.«
«Wenn sie nicht unheimlich was auf den Arsch kriegen wollen, ja.«
«Aberbei mir ist das alles anders. Warum?«
«Paßt's dir nicht?«
«Doch. Ichbin nur neugierig.«
Ernestine dachte einen Augenblick nach.»Okay. Du hast was, auf das ich scharfbin. «Sie sah den Ausdruck in Tracys Gesicht.»Nein, so war's nicht gemeint. Auf was ich da scharfbin, das krieg ich woanders. Du hast — ja — du hast Format. Wie so 'ne coole Lady in der Vogue. Und da gehörst du auch hin. Hier hast du nichts verloren. Ich habkeine Ahnung, wie du draußen in die Scheiße gerasseltbist, aber wahrscheinlich hat dich jemand reingelegt. «Sieblickte Tracy an und sagte fast schüchtern:»Ichbin wenig anständigen Menschenbegegnet in meinem Leben. Aber dubist 'n anständiger Mensch. «Ernestine wandte sich ab. Ihre nächsten Worte waren fast unhörbar:»Und es tut mir leid, das mit deinem Kind. Ehrlich…«
Als an diesem Abend das Licht ausgegangen war, flüsterte Tracy ins Dunkel:»Ernie, ich muß weg von hier. Bitte, hilf mirbeim Abhauen.«
«Ich will jetzt schlafen, verdammt noch mal! Halt den Mund, ja?«
Zum großen Knall zwischen Ernestine Littlechap undBigBertha kam es am folgenden Tag auf dem Gefängnishof. Die Frauen spielten Softball. Einige Wärter paßten auf sie auf. Big
Bertha, die am Schlagen war, drosch denBall ins Außenfeld und spurtete zum ersten Mal, wo Tracy stand. BigBertha rannte Tracy über den Haufen, riß sie zuBoden — und dann war sie über ihr. Ihre Hände schlängelten sich zwischen TracysBeinen empor, und sie flüsterte:»Mir gibt keine 'n Korb. Heut nacht komm ich zu dir, Baby, und ich fick dich, bis du nicht mehr kannst.«
Tracy wehrte sich verbissen. Plötzlich hatte jemandBigBerthabeim Kragen. Ernestine. Sie zerrte die kolossale Schwedin hoch und würgte sie.
«Du Fotze!«schrie Ernestine.»Ich habdich gewarnt!«Sie zogBigBertha die Fingernägel durchs Gesicht, krallte nach ihren Augen.
«Ich kann nichts mehr sehen!«brüllteBigBertha.»Ichbinblind!«Sie packte ErnestinesBrüste und kniff siebrutal. Diebeiden Amazonenboxten und schlugen sich. Vier Wärter kamen gelaufen. Siebrauchten fünf Minuten, um die Frauen zu trennen. Beide wurden ins Gefängniskrankenhaus geschafft. Spät am Abend wurde Ernestine in ihre Zelle zurückgebracht. Lola und Paulita eilten an ihre Pritsche, um sie zu trösten.
«Alles okay?«flüsterte Tracy.
«Super sogar«, antwortete Ernestine. Ihre Stimme klang dumpf, und Tracy fragte sich, wie schwer sie verletzt war.»Ich habgestern meine Zeit so weit abgesessen, daß ichbedingt entlassen werden kann. Ich kommbald raus aus dem Knast.
Aber du hast Probleme. Diese miese Alte läßt dich jetzt nicht mehr in Ruhe. Die will dich unbedingt ficken. Und wenn sie durch ist mit dir, dannbringt sie dich um.«
Sie lagen im Dunkeln und schwiegen. Schließlich sprach Ernestine wieder.»Ich glaub, es wird Zeit, daß wir darüber reden, wie wir dich hier rauskriegen.«
«Du wirst morgen dein Kindermädchen verlieren«, sagte GefängnisdirektorBrannigan zu seiner Frau.
Sue EllenBranniganblickte überrascht auf.»Warum? Judy war doch immer sehr nett zu Amy.«
«Ich weiß, aber sie hat den größten Teil ihrer Strafe abgesessen. Sie wird morgenbedingt aus der Haft entlassen.«
Das Paar frühstückte in dembehaglichen kleinen Haus, das zu den Annehmlichkeiten vonBrannigans Position gehörte. Weitere Vergnügungen waren eine Köchin, ein Dienstmädchen und ein Kindermädchen für seine Tochter Amy, die demnächst fünf wurde. Als Sue EllenBrannigan vor fünf Jahren hier angekommen war, hatte es sie etwas nervös gemacht, auf dem Gefängnisgelände leben zu müssen. Und es hatte sie zutiefstbeunruhigt, daß ihre Hausangestellten ausnahmslos Kriminelle waren.
«Woher willst du wissen, daß sie uns nicht mitten in der Nacht ausrauben und uns den Hals abschneiden?«hatte sie damals ihren Mann gefragt.
«Wenn sie das tun«, hatte DirektorBrannigan erwidert,»streiche ich ihnen die Hafterleichterungen.«
Er hatte auf seine Frau eingeredet, ohne sie überzeugen zu können. Doch Sue EllensBefürchtungen hatten sich als grundlos erwiesen. Die Hausangestellten waren alle sehrbeflissen. Sie wollten einen guten Eindruck machen und ihre Haftzeit verkürzen und arbeiteten daher sehr gewissenhaft.
«Und ich hatte mich gerade mit dem Gedankenbefreundet, Amy auf Dauer in Judys Obhut zu lassen«, klagte Mrs. Brannigan. Sie wünschte Judy von Herzen alles Gute, aber daß sie ging — das wollte sie nicht. Wußte man denn, wer
nachkam? Es gabso viele Gruselgeschichten über die schrecklichen Dinge, die Fremde mit Kindern anstellten.»Schwebt dir schon eine Nachfolgerin vor, George?«Der Gefängnisdirektor hatte gründlich über diese Frage nachgedacht. Für die Aufgabe, Amy zubetreuen, kam ein Dutzend Insassinnen in Frage. Aber Tracy Whitney war ihm nicht aus dem Sinn gegangen. Ihr Fall verstörte ihn. Er arbeitete seit fünfzehn Jahren als Kriminologe, und er rühmte sich, daß es zu seinen Stärken gehörte, Häftlinge richtig einzuschätzen. Einige der Frauen, für die er die Verantwortung trug, waren hartgesottene Verbrecherinnen, andere saßen im Gefängnis, weil sie im Affekt eine Straftat verübt hatten oder einer momentanen Versuchung erlegen waren; doch es schienBrannigan, daß Tracy Whitney weder in die eine noch in die andere Kategorie fiel. IhreBehauptung, sie sei unschuldig, hatte ihn nichtbeeindruckt: Das sagten Häftlinge immer. Was ihn verstörte, waren die Leute, die sich zusammengetan hatten, um Tracy Whitney hinter Gitter zubringen. Brannigan war von einem Ausschuß der Stadt New Orleans unter dem Vorsitz des Gouverneurs von Louisiana zum Gefängnisdirektor ernannt worden, und obwohl er mit der Lokalpolitik nichts zu schaffen hatte und nichts zu schaffen haben wollte, wußte er genau, wer auf dieserBühne mitspielte. Joe Romano gehörte zur Mafia und war Anthony Orsattisbestes Pferd im Stall. Perry Pope, der Anwalt, der Tracy Whitney verteidigt hatte, arbeitete für die Mafia. Und Richter Henry Lawrence wurde von der Mafia geschmiert. Tracy Whitneys Verurteilung war also suspekt. Man konnte auch sagen, daß sie zum Himmel stank.
Und nun traf DirektorBrannigan seine Entscheidung.»Ja«, sagte er zu seiner Frau,»mir schwebt schon eine Nachfolgerin vor.«
In der Gefängnisküche gabes eine Nische mit einem kleinen
plastikbeschichteten Eßtisch und vier Stühlen. Das war der einzige Ort, an dem man halbwegs ungestört sein konnte.
Und hier saßen Ernestine Littlechap und Tracy während ihrer zehn Minuten Pause und tranken Kaffee.
«Vielleicht verrätst du mir mal, warum du abhauen willst und warum du's so eilig hast«, schlug Ernestine vor.
Tracy zögerte. Konnte sie Ernestine vertrauen? Sie hatte keine andere Wahl.»Es… es gibt da ein paar Leute, die meiner Familie und mir etwas Schlimmes angetan haben. Das will ich ihnen heimzahlen. Und darum muß ich raus.«
«Was haben die denn gemacht?«
Tracy sagte langsam:»Sie haben meine Mutter in den Tod getrieben.«
«Wer?«
«Ich glaube nicht, daß du mit den Namen viel anfangen kannst. Joe Romano, Peny Pope, Henry Lawrence, Anthony Orsatti…«
Ernestine starrte Tracy mit offenem Mund an.»Großer Gott! Willst du mich verarschen?«
Tracy war überrascht.»Du kennst sie also?«
«Mensch, wer kennt die denn nicht? In New Orleans läuft nichts ohne Orsatti und Romano. Bleibdenenbloß vom Pelz, die pusten dich weg wie nichts.«
«Die haben mich schon weggepustet«, sagte Tracy tonlos.
Ernestineblickte in die Runde, um sich zu vergewissern, daß sie nichtbelauscht wurden.»Also, entwederbist du übergeschnappt oder totalbehämmert. An die kommst du nicht ran!«Sie schüttelte den Kopf.»Vergiß es.«
«Nein. Ich muß hier weg. Läßt sich das irgendwie machen?«
Ernestine schwieg lange. Schließlich sagte sie:»Reden wir auf dem Hof.«
Sie standen allein in einer Ecke des Gefängnishofs.
«Aus diesem Knast sind bis jetzt zwölf Frauen
ausgebrochen«, sagte Ernestine.»Zwei sind erschossen worden. Die andern zehn sind geschnappt worden und wieder hierher gekommen. «Tracy äußerte sich nicht.»Die Wachtürme sind rund um die Uhrbesetzt. Die Wachmannschaften haben MGs, und das sind fiese Typen, glaub's mir. Wenn jemand abhaut, sind sie ihren Joblos, also knallen sie dich lieber ab. Ums ganze Gefängnis läuft 'n Stacheldrahtzaun, und angenommen, du schaffst es da rüber und kommst an den MGs vorbei, dann haben die Spürhunde mit so 'ner feinen Nase, daß sie noch 'n Moskitofurz riechen. Ein paar Meilen weiter ist 'ne Station von der National Guard, und wenn hier jemand abgehauen ist, lassen sie Hubschrauber mitBordkanonen und Suchscheinwerfern starten. Obdie dich tot oder lebendig kriegen, das ist denen scheißegal. Sie finden, tot istbesser. Weil die anderen dann nicht so leicht auf dumme Gedanken kommen.«
«Aber versucht haben es doch immer wieder welche«, sagte Tracy störrisch.
«Den Frauen, die hier ausgebrochen sind, haben Leute von draußen geholfen — Freunde, die Knarren und Kohle und Kleider in den Knast geschmuggelt haben. Fluchtautos hatten sie auch. Die haben schon auf sie gewartet. «Ernestine legte einebedeutungsvolle Pause ein.»Und trotzdem sind sie geschnappt worden.«
«Mich schnappen sie nicht«, sagte Tracy.
Eine Aufseherin näherte sich denbeiden.»Whitney!«rief sie.»Der Direktor will mit dir reden. Beeilung!«
«Wirbrauchen jemand, der sich um unsere kleine Tochter kümmert«, sagte GefängnisdirektorBrannigan.»Der Jobist rein freiwillig. Sie müssen ihn nicht nehmen, wenn Sie nicht mögen.«
Jemand, der sich um unsere kleine Tochter kümmert. Tracys Gedanken überstürzten sich. Möglicherweise würde ihr das die
Flucht erleichtern. Wenn sie im Haus des Direktors arbeitete, erfuhr sie wahrscheinlich sehr viel mehr über das Sicherheitssystem des Gefängnisses.
«Ich nehme ihn gern«, sagte Tracy.
GeorgeBrannigan war zufrieden. Er hatte das seltsame, widersinnige Gefühl, daß er dieser Frau etwas schuldig war.»Bestens. Siebekommen 6 °Cent Stundenlohn. Das Geld wird Ihnen am Ende jedes Monats gutgeschrieben.«
Die Gefangenen durften nicht überBargeld verfügen, und was sie im Laufe der Haft verdient hatten, wurde ihnenbei der Entlassung ausgehändigt.
Am Ende des Monatsbin ich nicht mehr hier, dachte Tracy, aber sie sagte:»Ja, sehr schön.«
«Sie können morgen früh anfangen. Die Oberaufseherin erklärt Ihnen alles weitere.«
«Vielen Dank, Sir.«
Der Gefängnisdirektorblickte Tracy an und war in Versuchung, noch einige Worte hinzuzufügen. Er wußte nur nicht genau, welche. Und so sagte er lediglich:»Das wär's.«
Als Tracy Ernestine die Neuigkeit mitteilte, meinte die Schwarze nachdenklich:»Das heißt, daß du dich im Knast freibewegen darfst. Vielleicht kannst du dann eher abhauen.«
«Aber wie?«fragte Tracy.
«Es gibt drei Möglichkeiten, und die sind alle gefährlich. Du kannst heimlich türmen. Da klebst du in der Nacht Kaugummi ins Schloß von der Zellentür und von den Türen auf dem Flur. Dann schleichst du dich auf den Hof, wirfst 'ne Decke übern Stacheldraht, kletterst drüber und rennst, was du kannst.«
Hunde und Hubschrauber dicht auf den Fersen. Tracy hatte das Gefühl, daß sie spüren konnte, wie die Patronen der MGs auf den Wachtürmen ihren Körper durchsiebten. Es schauderte sie.»Und die zweite Möglichkeit?«
«Dubrichst ganzbrutal aus. Dazubrauchst du 'ne Knarre,
und 'ne Geisel mußt du auch nehmen. Wenn sie dich lebend erwischen, kriegst du fünf Jahre zusätzlich aufgebrummt.«
«Und die dritte Möglichkeit?«
«Du spazierst einfach weg. Das geht aber nur, wenn sie dich zu 'nem Arbeitstrupp draußen einteilen. Und wenn du dann im Geländebist, mußt du eben tüchtig marschieren.«
Tracy dachte darüber nach. Ohne Geld, ohne Auto und ohne Versteck hatte sie keine Chance.»Aberbeim nächsten Appell würden sie merken, daß ich fortbin, und mich verfolgen.«
Ernestine seufzte.»Es gibt nun mal keinen perfekten Fluchtplan. Deswegen hat's auch noch niemand geschafft, aus diesem Knast abzuhauen.«
Ich werde es schaffen, schwor sich Tracy. Ich werde es schaffen.
An dem Morgen, an dem Tracy zuBrannigans Haus geführt wurde, begann ihr fünfter Monat in Haft. Ihr war unbehaglichbei dem Gedanken, die Frau und das Kind des Direktors kennenzulernen und ihnen womöglich nicht zu gefallen, denn sie mußte diesen Jobunbedingt haben. Er sollte ihr Schlüssel zur Freiheit sein.
Tracy trat in die große, gemütliche Wohnküche und nahm Platz. Ihre Achselhöhlen wurden feucht vor Nervosität. In der Tür erschien eine Frau, die ein altrosa Hauskleid trug.
«Guten Morgen«, sagte sie.
«Guten Morgen.«
Die Frau wollte sich setzen, überlegte es sich anders undbliebstehen. Sue EllenBrannigan hatte ein freundliches Gesicht, warblond, Mitte Dreißig und stets ein wenig geistesabwesend und konfus. Sie war dünn, neigte zur Übereifrigkeit und wußte nie genau, wie sie mit ihren kriminellen Dienstboten umgehen sollte. Sollte sie sichbei ihnen dafürbedanken, daß sie ihre Arbeit taten, oder sollte sie die Frauen einfach herumkommandieren? Sollte sie
liebenswürdig sein oder sie wie Gefangenebehandeln? Sue Ellen hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, unter Drogenabhängigen, Kidnapperinnen und Mörderinnen zu leben.
«Ichbin Mrs. Brannigan«, sagte sie.»Amy wirdbald fünf, und Sie wissen ja, wie lebhaft Kinder in diesem Alter sind. Man muß sie hüten wie einen Sack Flöhe. «Sie warf einen flüchtigenBlick auf Tracys Hände. Das Mädchen trug keinen Ehering, aber das wollte heutzutage natürlich nichts heißen. Schon gar nichtbei der Unterschicht, dachte Sue Ellen. Sie machte eine kleine Sprechpause und fragte dann taktvoll:»Haben Sie Kinder?«
Tracy mußte an dasBaby denken, das sie verloren hatte.»Nein«, sagte sie.
«Aha. «Diese junge Frau verwirrte Sue Ellen. Sie entsprach ihren Erwartungen in keiner Weise. Das Mädchen hatte fast etwas Elegantes.»Ich hole jetzt Amy. «Sue Ellen eilte aus der Küche.
Tracy schaute sich um. Das Haus war ziemlich groß und sehr hübsch eingerichtet. Es schien Tracy, als sei es Jahre her, seit sie in einer normalen Wohnung gewesen war. Das gehörte alles in eine andere Welt, in die Welt jenseits des Stacheldrahtzauns.
Sue Ellen kam mit einem kleinen Mädchen an der Hand zurück.»Amy, das ist…«Sprach man eine Gefangene mit Voroder mit Nachnamen an? Sue Ellen entschied sich für einen Kompromiß:»Das ist Tracy Whitney.«
«Hi«, sagte Amy. Sie war mager wie ihre Mutter und hatte die gleichen tiefliegenden, intelligentenbraunen Augen. Kein hübsches Kind, aber Amy hatte etwas Offenes und Freundliches, das einen rühren konnte.
Es wird mich nicht rühren, schwor sich Tracy.
«Bist du mein neues Kindermädchen?«
«Ja.«
«Judy istbedingt freigelassen, hast du das schon gewußt? Wirst du auchbedingt freigelassen?«
Nein, dachte Tracy.»Ichbin noch lange hier, Amy«, antwortete sie.
«Ach, das ist ja schön«, sagte Sue Ellen munter. Dann errötete sie verlegen.»Ich meine…«Sie führte nicht weiter aus, was sie meinte, sondernbegann, Tracy ihre künftigen Pflichten zu erläutern.»Sie essen gemeinsam mit Amy. Sie können das Frühstück für sie zubereiten und am Vormittag mit ihr spielen. Das Mittagessen macht die Köchin. Danach schläft Amy ein Stündchen, und am Nachmittag ist sie gern draußen auf dem Farmgelände. Es ist gut für ein Kind, wenn es all das Wachsen undBlühen sieht — meinen Sie nicht auch?«
«Doch.«
Die Farmbefand sich auf der anderen Seite des Gefängnisses. Ihre zwanzig Morgen Grund, bepflanzt mit Gemüse und Obstbäumen, wurden von Häftlingenbestellt. Inmitten des Geländes lag ein großer, künstlicherBewässerungsteich, der von einerBetonmauer eingefaßt war.
Die nächsten fünf Tage erschienen Tracy fast wie ein neues Leben. Unter anderenBedingungen hätte es sie gefreut, den düsteren Gefängnismauern entrinnen, sich ungehindertbewegen und frische Landluft atmen zu können, aber sie mußte ständig an ihre Flucht denken, und nichts hatte daneben Platz. Wenn ihr Dienstbei Amybeendet war, hatte sie sich im Gefängnis zurückzumelden. Jede Nacht wurde sie in ihrer Zelle eingeschlossen, dochbei Tagbliebihr immerhin die Illusion der Freiheit. Nach dem Frühstück in der Gefängnisküche ging sie zum Haus des Direktors und machte Frühstück für Amy.
Tracy hatte von Charles eine Menge übers Kochen gelernt, und die feinen Sachen in den Küchenregalen und im Kühlschrank derBrannigans führten sie in Versuchung, aber
Amy aß am liebsten etwas Einfaches: Haferbrei mit Obst oder ein Müsli. Danach spielte Tracy mit ihr oder las ihr vor. Unwillkürlichbegann sie, Amy die Spiele zu lehren, die ihre Mutter mit ihr gespielt hatte.
Amy liebte Puppen. Tracy wollte aus einer alten Socke des Direktors ein Lämmchen für sie machen, doch es wurde eine Kreuzung aus Fuchs und Ente daraus.»Es ist sehr schön«, sagte Amy ergeben.
Tracy ließ das mißglückte Lamm mit verschiedenen Akzenten sprechen: mit französischem, italienischem und mexikanischem. Den mexikanischen hatte sie Paulita abgelauscht, und denbewunderte Amy am meisten. Tracy sah die Freude im Gesicht des kleinen Mädchens und dachte: Ich werde mich nicht an siebinden. Sie ist mein Mittel zur Flucht, weiter nichts.
Nach Amys Mittagsschlaf unternahmen sie lange Spaziergänge, und Tracy sorgte dafür, daß sie Teile des Gefängnisgeländes durchstreiften, die sie noch nicht kannte. Siebeobachtete jeden Ausgang und Eingang genau, achtete darauf, mit wieviel Mann die Wachtürmebesetzt waren und wann die Wachablösung stattfand. Es wurde ihrbald klar, daß sich keiner der Fluchtpläne, die sie mit Ernestinebesprochen hatte, verwirklichen ließ.
«Hat mal jemand zu türmen versucht, indem er sich in einem der Lieferwagen versteckt hat, die hier ankommen? Ich habe schon einen mit Milch gesehen und einen mit Nahrungsmitteln und…«
«Das kannst du vergessen«, erwiderte Ernestine.»Jeder Wagen, der durchs Tor fährt, wird durchsucht.«
Eines Morgens sagte Amybeim Frühstück:»Ich habdich lieb, Tracy. Willst du meine Mutter sein?«
Diese Worte gaben Tracy einen Stich ins Herz.»Eine Mutter ist genug. Dubrauchst nicht zwei.«
«Doch. Der Vater von meiner Freundin Sally Ann hat noch mal geheiratet, und Sally Ann hat zwei Mütter.«
«Dubist aber nicht Sally Ann«, entgegnete Tracy schroff.»Iß auf.«
Amyblickte sie tief verletzt an.»Ich habkeinen Hunger mehr.«
«Na schön, dann lese ich dir vor.«
Als Tracy vorzulesenbegann, spürte sie Amys kleine Hand auf der ihren.
«Darf ich auf deinem Schoß sitzen?«
«Nein. «Hol dir die Zuwendungbei deiner Familie, dachte Tracy. Du gehörst mir nicht an. Niemand gehört mir an.
Der Umstand, daß sie tagsüber von der Gefängnisroutine erlöst war, machte die Nächte nur noch schlimmer. Tracy haßte es, in ihre Zelle zurückzukehren, verabscheute es, eingesperrt zu sein wie ein Tier. Sie konnte sich nicht an die Schreie gewöhnen, die in der Dunkelheit aus den Nachbarzellen drangen. Sie knirschte mit den Zähnen, bis ihr die Kiefer weh taten. Ich muß es durchstehen, dachte sie. Und ich werde es durchstehen. Sie schlief wenig, weil es in ihrem Kopf unaufhörlich arbeitete. Die Flucht war der erste Schritt. Die Rache an Joe Romano, Perry Pope, Richter Henry Lawrence und Anthony Orsatti der zweite. Und die Rache an Charles war der dritte. Aber noch war auch nur derbloße Gedanke daran zu schmerzlich. Damitbefasse ich mich, wenn die Zeit reif ist, sagte sich Tracy.
Es gelang ihr nicht mehr, BigBertha aus dem Weg zu gehen. Tracy war sicher, daß die kolossale Schwedin ihr nachspionierte. Wenn sie in den Aufenthaltsraum trat, tauchte wenige Minuten späterBigBertha auf, und wenn sie auf dem Hof war, erschienBigBertha kurz danach.
Eines Tages watschelte sie auf Tracy zu und sagte:»Du
siehst heutbesonders schön aus, Baby. Ich kann's kaum erwarten, daß wir endlich zusammen sind.«
«Komm mir nicht zu nahe«, warnte Tracy.
Die Amazone grinste.»Und wenn ich's doch tu? Deine Niggerin istbald weg. Ich sorg dafür, daß du in meine Zelle kommst.«
Tracy starrte sie an.
BigBertha nickte.»Ich kann das, Baby. Glaub's mir.«
Tracys Zeit wurde knapp. Sie mußte fliehen, bevor Ernestine entlassen wurde.
Amys liebster Spazierweg führte durch eine große Wiese mitbuntenBlumen. In der Nähebefand sich derBewässerungsteich mit seinerBetonmauer, die steil zum tiefen Wasser abfiel.
«Laß uns schwimmen gehn«, flehte Amy.»Bitte, bitte, Tracy.«
«Der ist nicht zum Schwimmen da«, erwiderte Tracy.»Das ist einBewässerungsteich.«
Es fröstelte siebeim Anblick des kalten, bedrohlich aussehenden Wassers.
… Ihr Vater trug sie auf seinen Schultern ins Meer. Sie schrie, aber ihr Vater sagte: Dubist doch keinBaby mehr, Tracy. Er ließ sie ins kalte Wasser fallen. Sie ging unter, geriet in Panik und erstickte fast…
Als Tracy davon erfuhr, traf es sie wie ein Schlag, obwohl siebereits damit gerechnet hatte.
«Nächste Woche komm ich hier raus«, sagte Ernestine.»Am Samstag.«
Ein eisiger Schauer überlief Tracy. Sie hatte Ernestine nicht von ihrer Unterhaltung mitBigBerthaberichtet. Ernestine würde ihrbald nicht mehr helfen können. Wahrscheinlich hatteBigBertha genügend Einfluß, um Tracy in ihre Zelle verlegen zu lassen. Zu verhindern war das nur durch ein Gespräch mit
dem Direktor, und Tracy wußte, daß sie so gut wie tot war, wenn sie das tat. Alle Frauen im Gefängnis würden sich gegen sie wenden. Hier mußt du powern oderbescheißen, oder die Hindernisse eben auf die elegante Tour nehmen. Sie würde die Hindernisse auf die elegante Tour nehmen.
Wieder sprach sie mit Ernestine über Fluchtmöglichkeiten. Keine war zufriedenstellend.
«Du hast kein Auto, und du hast niemand draußen, der dir hilft. Die kriegen dich hundertprozentig, und dann hängst du noch tiefer in der Scheiße. Bleiblieber cool und sitz deine Zeit hier ganz locker ab.«
Doch Tracy wußte, daß sie nicht so lässig würdebleiben können, nachdemBigBertha es ernsthaft auf sie abgesehen hatte. Der Gedanke daran, was die Schwedin mit ihr machen wollte, verursachte Tracy Übelkeit.
Es war Samstag morgen, sieben Tage vor Ernestines Entlassung. Sue EllenBrannigan war übers Wochenende mit Amy nach New Orleans gefahren, und Tracy arbeitete in der Gefängnisküche.
«Wie läuft's mit deinem Kindermädchenjob?«erkundigte sich Ernestine.
«Ganz gut.«
«Ich habdie Kleine mal gesehen. Die ist niedlich.«
«Ja, sie ist okay«, sagte Tracy. Es klang gleichgültig.
«Ichbin echt froh, wenn ich draußenbin. Und ich sag dir eins: Ich komm nie mehr in diesen Scheißknast hier. Wenn AI und ich was für dich tun können…«
«Achtung!«rief eine Männerstimme.
Tracy drehte sich um. Ein Wäschereiangestellter schobeinen Karren mit Körben voll von schmutzigen Uniformen und Weißzeug vor sich her. Tracybeobachtete verdutzt, wie er auf die Tür zusteuerte.
«Ich habgesagt, wenn AI und ich was für dich tun können… du weißt schon… dir was schicken oder so…«
«Ernie, was macht denn der Mann hier? Das Gefängnis hat doch eine eigene Wäscherei?«
«Oh, der holt die Sachen vom Wachpersonal ab«, lachte Ernestine.»Früher haben die ihre Uniformen immer in die Gefängniswäscherei gegeben, aber irgendwie waren dann alle Knöpfe abgerissen, die Ärmel kaputt und schweinischeBriefe in den Taschen — oder die Hemden sind eingelaufen und der ganze Stoff war im Arsch. Ist das nicht 'ne Affenschande? Ja, und jetzt schicken sie ihre Sachen in 'ne Wäscherei draußen. «Ernestine lachte wieder.
Tracy hörte nicht mehr zu.
«George, ichbin mir nicht sicher, obwir Tracybehalten sollen.«
GefängnisdirektorBranniganblickte von seiner Zeitung auf.
«Was hast du denn für Probleme mit ihr?«
«Ich weiß auch nicht genau. Ich habe das Gefühl, daß sie Amy nicht mag. Vielleicht kann sie Kinder einfach nicht leiden.«
«Sie war doch nicht häßlich zu Amy, oder? Hat sie Amy angeschrieen oder geschlagen?«
«Nein…«
«Was dann?«
«Gestern kam Amy zu Tracy gelaufen und hat sie umarmt, und Tracy hat sie weggestoßen. Ich fand das schlimm. Amy ist doch so in sie vernarrt… Ehrlich gesagt, ich glaube sogar, daß ich einbißchen eifersüchtigbin. Kann es das sein?«
Brannigan lachte.»Das kann es allerdings sein. Ich finde, daß Tracy Whitney die richtige Frau für diesen Jobist. Wenn sie dir wirklich Schwierigkeiten macht, sag mirBescheid, dann werde ich etwas dagegen unternehmen.«
«Ja, Liebling. «Aber Sue Ellen war mit dieser Lösung keineswegs zufrieden. Sie griff nach ihrer Petitpoint‑Stickerei und machte die ersten Stiche. Das Thema war noch nicht abgeschlossen.
«Warum funktioniert das nicht?«
«Habich dir doch gesagt, Baby. Weil die Wachen jeden Wagen durchsuchen, der durchs Tor fährt.«
«Aberbei einem Lieferwagen, der einen KorbWäsche geladen hat, werden sie die Wäsche doch nicht auskippen, um
auf denBoden des Korbs zu schauen!«
«Nein, das nicht. Aber der Korbwird in den Abstellraum gebracht, und da paßt 'n Wärter auf, wie er vollgepackt wird.«
Tracy dachte nach.
«Ernie… könnte jemand den Wärter fünf Minuten ablenken?«
«Verdammt noch mal, wie stellst du dir das vor, daß…«Siebrach mitten im Satz ab, und einbreites Lächeln erhellte ihr Gesicht.»Während jemand mit ihmbumst, legst du dich in den Korbund wirst mit Wäsche zugedeckt!«Sie nickte.»Ja. Ich glaube, das könnte klappen.«
«Dann hilfst du mir also?«
Ernestine überlegte es sich einen Moment. Dann sagte sie sanft:»Ja, ich helf dir. Das ist meine letzte Chance, BigBertha 'n Tritt in den Arsch zu geben.«
Im Informationssystem des Gefängnisses liefen sämtliche Drähte heiß, und das einzige Thema war Tracy Whitneys Flucht. Ein Ausbruchversuch gehörte zu den Ereignissen, die alle Gefangenenbewegten. Sie durchlebten und durchlitten jeden stellvertretend mit und wünschten sich, sie hätten den Mut gehabt, es selbst zu riskieren. Aber da waren die Wachen und die Hunde und die Hubschrauber… und am Ende die Frauen, die zurückgebracht wurden — oder ihre Leichen.
Dank Ernestines Hilfe machte der Fluchtplan rasche Fortschritte. Ernestine nahm Tracy für ein Kleid Maß, Lola klaute Stoff aus der Gefängnisschneiderei, und Paulita gabdas Gewandbei einer Näherin in einem anderenBlock in Auftrag. Aus dem Magazin wurde ein Paar Gefängnisschuhe gestohlen und passend zum Kleid umgefärbt. Wie durch Zauberkraft tauchten Hut, Handschuhe und eine Handtasche auf.
«Jetzt mußt du noch Papiere haben«, sagte Ernestine zu Tracy.»Dubrauchst Kreditkarten und 'n Führerschein.«
«Woher soll ich…«
Ernestine grinste.»Überlaß das nur mir.«
Am Abend darauf überreichte sie Tracy drei Kreditkarten, die auf den Namen Jane Smith ausgestellt waren.»Fehlt nur noch der Führerschein«, sagte Ernestine.
Nach Mitternacht hörte Tracy, wie die Zellentür geöffnet wurde. Jemand schlich leise auf ihre Pritsche zu. Tracy setzte sich auf. Sie war sofort hellwach.
«Whitney?«flüsterte eine Frau.»Komm mit.«
Tracy erkannte die Stimme. Sie gehörte Lillian, einer Gefangenen aus einer Nachbarzelle.»Was willst du?«fragte Tracy.
Und nun schoß Ernestines Stimme durch die Dunkelheit.»Hat dich deine Mutter zu heiß gebadet? Halt's Maul und stell keine soblöden Fragen.«
Lillian sagte leise:»Wir müssen unsbeeilen. Wenn sie uns erwischen, bin ich dran. Komm.«
«Wohin gehen wir?«erkundigte sich Tracy, als sie Lillian durch den dunklen Flur zu einer Treppe folgte. Sie stiegen einen Stock höher, und nachdem sie sich vergewissert hatten, daß keine Wärterinnen in der Nähe waren, eilten sie einen anderen Flur entlang, bis sie zu dem Raum kamen, in dem Tracy die Fingerabdrücke abgenommen und die Fotos von ihr geknipst worden waren. Lillian stieß die Tür auf.»Da rein«, flüsterte sie.
Tracy trat ein. Drinnen wartete schon eine andere Frau.
«Stell dich an die Wand«, sagte sie. Ihre Stimme klang etwas hektisch.
Tracy ging zur Wand. Sie hatte fast Magenkrämpfe vor Aufregung.
«Schau in die Kamera. Na, nun mach schon. Und 'nbißchen lächeln. Versuch's wenigstens.«
Sehr witzig, dachte Tracy. Noch nie in ihrem Leben war sie so nervös gewesen.
«DasBild kriegst du morgen früh«, sagte die Frau.»Ist für
deinen Führerschein. Und jetzt abdurch die Mitte.«
Tracy und Lillian liefen wieder zurück. Unterwegsbemerkte Lillian:»Ich habgehört, du wirst in 'ne andere Zelle verlegt.«
Tracybliebstehen.»Was?«
«Ach, hast du das noch nicht gewußt? Du kommst zuBigBertha.«
Ernestine, Lola und Paulita waren noch wach, als Tracy in die Zelle zurückkehrte.»Wie ist's gelaufen?«
«Gut.«
Ach, hast du das noch nicht gewußt? Du kommst zuBigBertha.
«Dein Kleid ist am Samstag fertig«, sagte Paulita.
Der Tag von Ernestines Entlassung. Das ist mein letzter Termin, dachte Tracy.
Ernestine flüsterte:»Alles klar. Der Lieferwagen von der Wäscherei kommt am Samstag um zwei. Um halbzwei mußt du im Abstellraum sein. Mach dir keine Gedanken wegen dem Wärter. Um den kümmert sich Lola dann schon nebenan. Lola und Paulita warten im Abstellraum auf dich. Paulitabringt deine Sachen mit. Der Führerschein und die Kreditkarten sind in der Handtasche. Und um Viertel nach zwei fährt der Wagen mit dir durchs Tor.«
Tracy konnte kaum atmen. Sie zitterte schon, wenn von ihrer Flucht auch nur die Rede war. Obdie dich tot oder lebendig kriegen, das ist denen scheißegal. Sie finden, tot istbesser.
In wenigen Tagen würde sie das Weite suchen. Sie machte sich keine Illusionen. Ihre Chancen waren gering. Man würde sie irgendwann aufspüren und wieder hierherbringen. Doch sie hatte sich geschworen, zuvor noch ein paar Dinge zu erledigen.
Im Gefängnis wußten viele von dem Kampf, den Ernestine Littlechap undBigBertha um Tracy ausgetragen hatten. Nun kursierte die Meldung, daß Tracy in die Zelle der Schwedin
verlegt würde, und da war es kein Zufall, daß niemandBigBertha von Tracys Fluchtplanberichtet hatte: BigBertha haßte schlechte Nachrichten. Auch neigte sie dazu, dieBotschaft mit demBoten zu verwechseln und diesen Menschen dementsprechend zubehandeln. Und so erfuhrBigBertha von Tracys Vorhaben erst am Morgen des Samstags, an dem es in die Tat umgesetzt werden sollte. Die Frau, die Tracy fotografiert hatte, verriet es ihr.
BigBertha nahm die Nachricht schweigend entgegen. Das Schweigen war unheildrohend, und ihr massiger Körper schien noch massiger zu werden.
Ihre einzige Frage lautete:
«Wann?«
«Heute nachmittag um zwei, Bert. Sie verstecken die Whitney im Abstellraum in 'nem Wäschekorb.«
BigBertha sann lange darüber nach. Dann watschelte sie zu einer Aufseherin und sagte:»Ich muß mit dem Direktor reden. Und zwar sofort.«
Tracy hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ihr war schlecht vor Aufregung. Die Monate im Gefängnis kamen ihr vor wie eine Ewigkeit. Bilder aus der Vergangenheitblitzten in ihr auf, als sie auf ihrer Pritsche lag und ins Dunkel starrte.
Ich komme mir vor wie eine Märchenprinzessin, Mutter.
Ich habe nie geglaubt, daß man so glücklich sein kann.
Also! Sie und Charles wollen heiraten.
Und wie lange sollen eure Flitterwochen dauern?
Du hast auf mich geschossen, du Miststück!
Ihre Mutter hat Selbstmordbegangen.
Offenbar habe ich dich nie richtig gekannt.
Das Hochzeitsfoto von Charles, der seineBraut anlächelte…
Das Schrillen der Morgenglocke raste durch den Flur wie eine Stoßwelle. Tracy saß hellwach auf ihrer Pritsche.
Ernestinebeobachtete sie.»Wie fühlst du dich?«
«Prima«, log Tracy. Sie hatte einen trockenen Mund, und ihr Herz schlug unregelmäßig.
«Heute kommen wirbeide hier raus.«
Tracy konnte kaum schlucken.»Mhm.«
«Bist du sicher, daß dubis halbzwei aus dem Haus vom Direktor wegkommst?«
«Kein Problem. Amy schläft immer nach dem Mittagessen.«
Paulita sagte:»Du darfst nicht zu spät kommen. Keine Minute. Sonst geht's schief.«
«KeineBange. Ichbin schon pünktlich.«
Ernestine langte unter ihre Matratze und holte einBündelBanknoten hervor.»Dubrauchst 'nbißchen Kohle. Sindbloß zweihundert Dollar, aber das müßte reichen fürs erste.«
«Ernie, ich weiß nicht, wie ich dir…«
«Ganz einfach. Halt die Klappe und nimm's.«
Tracy zwang sich, ein paarBissen zum Frühstück zu essen. Ihr Kopf dröhnte, und jeder Muskel tat ihr weh. Ich stehe diesen Tag nicht durch, dachte sie. Aber ich muß ihn durchstehen.
In der Küche herrschte angespanntes, unnatürliches Schweigen, und Tracy merkte plötzlich, daß sie der Grund dafür war. Sie war das Ziel wissenderBlicke und der Gegenstand nervösen Geflüsters. Ein Ausbruchsversuch standbevor, und sie war die Heldin des Dramas. In wenigen Stunden würde sie frei sein. Oder tot.
Tracy konnte ihr Frühstück nicht aufessen. Sie erhobsich und machte sich auf den Weg zu DirektorBrannigans Haus. Als sie darauf wartete, daß eine Wärterin ihr die Flurtür aufschloß, sah sie sich plötzlichBigBertha gegenüber. Die riesige Schwedin grinste.
Die wird sich noch wundern, dachte Tracy.
Jetzt gehört sie mir, dachteBigBertha.
Der Morgen verging so langsam, daß Tracy das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden. Die Minuten schienen sich endlos zu dehnen. Sie las Amy vor und nahm nicht wahr, was sie las. Sie merkte, daß Mrs. Brannigan sie vom Fenster ausbeobachtete.
«Tracy, spielen wir Verstecken.«
Tracy war eigentlich zu nervös für jede Art von Tätigkeit, aber sie wollte Mrs. Brannigan nicht mißtrauisch machen. Sie nötigte sich zu einem Lächeln.»Gut, Amy. Versteck du dich zuerst, ja?«
Sie waren auf dem Hof vor dem Haus. In der Ferne konnte Tracy das Gebäude sehen, in dem sich der Abstellraumbefand. Um Punkt 13 Uhr 30 mußte sie da sein. Sie würde das Kleid anziehen, das für sie geschneidert worden war, und die dazu passenden Schuhe. Um 13 Uhr 45 würde sie auf demBoden des großen Wäschekorbs liegen, mit Uniformen und Weißzeug zugedeckt. Um 14 Uhr würde der Wäschereiangestellte den Korbholen und ihn auf seinem Karren zum Lieferwagen rollen. Um 14 Uhr 15 würde der Wagen durchs Tor fahren, in Richtung Stadt.
Der Fahrer kann von seinem Sitz nicht in den Laderaum sehen. Wenn der Wagen in der Stadt ist und an 'ner Ampel hält, machst du einfach die Tür auf, steigst ganz cool aus und nimmst dir 'nBus.
«Siehst du mich?!«rief Amy. Sie hatte sich hinter einer Magnolie versteckt und hielt die Hand vor den Mund, um nicht zu kichern.
Sie wird mir fehlen, dachte Tracy. Die einzigen Menschen, die mir fehlen werden, sind eine kahlköpfige Schwarze und ein kleines Mädchen. Tracy fragte sich, was Charles Stanhope junior wohl dazu gesagt hätte.»Ich komme!«rief sie.
Sue Ellenbeobachtete diebeiden vom Haus aus. Ihr schien, daß sich Tracy merkwürdigbenahm. Den ganzen Vormittag
hatte sie immer wieder auf ihre Uhr geschaut, als erwarte sie jemanden, und mit ihren Gedanken war sie weiß Gott wo gewesen, aber gewiß nichtbei Amy.
Ich muß mit George reden, dachte Sue Ellen. Ich werde daraufbestehen, daß er ein anderes Kindermädchen ins Haus holt.
Auf dem Hof spielten Tracy und Amy eine Weile Himmel und Hölle, anschließend Fangen. Dann las Tracy Amy vor, und dann war es endlich 12 Uhr 30, Zeit für Amys Mittagessen und Zeit für Tracy, sich zu empfehlen. Siebrachte Amy ins Haus.
«Ich gehe jetzt, Mrs. Brannigan.«
«Wie? Oh, hat Ihnen das niemand gesagt, Tracy? Wir haben heute hohenBesuch. Er wird hier zu Mittag essen. Amy kann also kein Schläfchen machen. Nehmen Sie siebitte mit.«
Tracy mußte sich zwingen, nicht laut zu schreien.»Das… das geht nicht, Mrs. Brannigan.«
Sue EllenBrannigan erstarrte zur Salzsäule.»Und warum geht das nicht?«
Tracy merkte, wie ungehalten Mrs. Brannigan war, und dachte: Ich darf sie nicht verärgern. Sonst sagt sie gleich dem DirektorBescheid, und ich werde in meine Zelle zurückgeschickt.
Tracy quälte sich ein Lächeln ab.»Amy hat doch noch nichts zu Mittag gegessen. Sie wirdbestimmt Hunger haben.«
«Ich habe der Köchin gesagt, sie soll einen Picknickkorbpacken. Sie können mit Amy einen kleinen Spaziergang machen und auf der Wiese picknicken. Amy mag das gern — nicht wahr, Liebling?«
«Ja, sehr, sehr gern. «Sieblickte Tracy flehend an.»Picknicken wir, Tracy? Ja?«
Nein! Doch. Nur keine Panik. Es kann immer noch klappen.
Du darfst nicht zu spät kommen. Keine Minute. Sonst geht's schief.
Tracyblickte Mrs. Brannigan an.»Wann… wann soll ich Amy zurückbringen?«
«So gegen drei. Dann sind die Leute fort.«
Und der Lieferwagen auch. Der Himmel schien einzustürzen.»Ich…«
«Fehlt Ihnen was? Sie sehen soblaß aus.«
Das war die Idee. Tracy würde sagen, sie fühle sich sterbenselend. Sie würde ins Gefängniskrankenhaus gehen. Aber die würden sie dabehalten und untersuchen wollen. Nie im Leben würde sie rechtzeitig im Abstellraum sein. Sie mußte sich etwas anderes einfallen lassen.
Mrs. Brannigan starrte sie an.
«Nein, mir fehlt nichts.«
Mit der stimmt irgendwas nicht. Das war der Schluß, zu dem Sue EllenBrannigan kam. Ich werde wirklich daraufbestehen, daß George ein anderes Kindermädchen ins Haus holt.
Amys Augen strahlten vor Freude.»Die größten Sandwiches kriegst alle du, Tracy. Wir machen es uns schön, ja?«
Tracy wußte keine Antwort darauf.
Der» hoheBesuch «hatte sich überraschend angesagt. Gouverneur William Haber wollte in eigener Person die Mitglieder des Gefängnisreformausschusses durch das Southern Louisiana Penitentiary for Women führen. Damit mußte DirektorBrannigan einmal im Jahr leben.
«Nur keine Aufregung, George«, hatte der Gouverneur gemeint.»Laß dieBude einbißchen putzen, sag deinen Damen, daß sie nett lächeln sollen, und schon kriegen wir unserBudget wieder erhöht.«
Am Morgen hatte der Oberinspektor des Wachpersonals folgende Weisung ausgegeben:»Alle Drogen, Messer und Vibratoren müssen weg.«
Gouverneur Haber und seine Leute sollten um 10 Uhr eintreffen. Sie würden zunächst den Zellentrakt inspizieren,
dann die Farmbesichtigen und schließlich im Haus des Gefängnisdirektors zu Mittag essen.
BigBertha war ungeduldig. Als sie darum ersucht hatte, den Direktor sprechen zu dürfen, hatte man ihr gesagt:»Der Direktor hat heute vormittag sehr wenig Zeit. Morgen wäre es günstiger. Er…«
BigBertha war explodiert:»Scheiß auf morgen! Ich will jetzt mit ihm reden! Das ist unheimlich wichtig!«
Es gabwenig Häftlinge, die sich so etwas herausnehmen durften. BigBertha gehörte zu ihnen.
Die Gefängnisleitung wußte sehr wohl, wie mächtig sie war. Sie hatte erlebt, wieBigBertha Meutereien angezettelt und abgewiegelt hatte. Keine Strafanstalt der Welt konnte reibungslos funktionieren, wenn sich die
Führungspersönlichkeiten unter den Insassen nicht kooperativ verhielten, undBigBertha war eine.
Fast eine Stunde saß sie nun schon im Vorzimmer des Direktors. Ihr massiger Körper quoll über die Kanten des Sessels, in den sie sich geflegelt hatte. Die sieht wirklich fies aus, dachte die Sekretärin des Direktors. Wenn ich die anschaue, wird's mir ganz anders.
«Wie lang dauert das denn noch?«wollteBigBertha wissen.
«Nicht mehr lang. Der Direktor hatBesuch. Er hat heute morgen sehr viel um die Ohren.«
BigBertha sagte:»Der wird gleich noch mehr um die Ohren haben. «Sie warf einenBlick auf ihre Uhr. 12 Uhr 45. Noch 'ne Menge Zeit.
Es war ein herrlicher Tag, warm und wolkenlos, und der leichte Sommerwind trug eine Fülle von Gerüchen über das grüne Land. Tracy hatte auf der Wiesebeim Teich ein Tischtuch ausgebreitet, und Amy aß geradebegeistert ein Sandwich mit Eiersalat. Tracy schaute auf ihre Uhr. Es war
schon eins. Sie konnte es nicht fassen. Der Vormittag hatte sich endlos gedehnt, und jetzt verging die Zeit wie im Flug. Sie mußte sich rasch etwas einfallen lassen, sonst war ihre letzte Chance dahin, in die Freiheit zu gelangen.
13 Uhr 10. Im Vorzimmer von DirektorBrannigan legte die Sekretärin den Hörer auf die Gabel und sagte zuBigBertha:»Tut mir leid. Der Direktor läßt ausrichten, daß er heute nicht mit Ihnen sprechen kann. Wir machen einen anderen Termin aus. Wie wäre es zumBeispiel mit…«
BigBertha wuchtete sich aus ihrem Sessel empor.»Er muß aber mit mir reden! Es ist…«
«Sagen wir, morgen, ja?«
BigBertha wollte erwidern:»Morgen ist es zu spät. «Aber sie hielt ihre Zunge im Zaum. Nur der Direktor durfteBescheid wissen. Wer hier petzte, hatte oft einen tödlichen Unfall. Aber sie würde nicht aufgeben. Sie würde sich Tracy Whitney nicht durch die Lappen gehen lassen. BigBertha watschelte in die Gefängnisbibliothek und setzte sich an einen der langen Tische im rückwärtigen Teil des Raumes. Sie schriebetwas auf einen Zettel, und als die Aufseherin an ihrem Tisch vorbei zu einem der Regale ging, um einer Gefangenenbehilflich zu sein, standBigBertha auf und ließ den Zettel liegen.
Als die Aufseherin wieder an dem Tisch vorbeikam, sah sie den Zettel und faltete ihn auseinander. Sie las ihn zweimal:
GUT AUFPASSEN HEUTE AUF DEN LIEFERWAGEN VON DER
WÄSCHEREI!
Keine Unterschrift. Ein dummer Witz? Die Aufseherin wußte es nicht. Sie griff nach dem Telefon.»Den Oberinspektor des Wachpersonals, bitte.«
13 Uhr 12.»Du ißt ja gar nichts«, sagte Amy.»Magst du was von meinem Sandwich?«
«Nein! Laß mich in Ruhe. «Sobarsch hatte Tracy eigentlich nicht sein wollen.
Amy hörte auf zu essen.»Bist duböse auf mich, Tracy? Bitte, sei nichtböse auf mich. Ich habdich so lieb. Ichbin nieböse auf dich.«
«Nein, ichbin nichtböse auf dich. «Ichbrate nur in der Hölle.
«Wenn du keinen Hunger hast, habich auch keinen. Laß unsBall spielen, Tracy. «Amy zog einen Hartgummiball aus der Tasche.
13 Uhr 16. Sie hätte schon unterwegs sein müssen. Zum Abstellraumbrauchte sie mindestens fünfzehn Minuten. Sie würde es mit knapper Not schaffen, wenn sie sich jetztbeeilte.
Aber sie konnte Amy nicht einfach allein lassen. Tracyblickte sich um und sah in einiger Entfernung eine Gruppe von Häftlingen, die Gemüse ernteten. Und nun wußte Tracy, was sie machen würde.
«Magst du nichtBall spielen, Tracy?«
Tracy stand auf.»Doch. Spielen wir was Neues. Wir schauen mal, wer denBall am weitesten werfen kann. Erst werfe ich, und dann kommst du. «Tracy nahm denBall und warf ihn so weit sie konnte, in die Richtung der Arbeiterinnen.
«Toll«, sagte Amybewundernd.»Das war wirklich weit.«
«Ich hole denBall jetzt wieder«, sagte Tracy.»Du wartest hier.«
Und sie rannte, rannte um ihr Leben. Es war 13 Uhr 18. Wenn sie einbißchen zu spät kam, würden sie ja wohl auf sie warten. Oder nicht! Sie legte noch etwas Tempo zu. Hinter sich hörte sie Amy rufen, aber sie achtete nicht darauf. Die Arbeiterinnenbewegten sich jetzt in die andere Richtung. Tracy schrie ihnen nach, und sieblieben stehen. Als siebei ihnen ankam, war sie außer Atem.
«Ist was?«fragte eine der Frauen.
«Nein, nichts. «Tracy keuchte, schnappte nach Luft.»Das kleine Mädchen da hinten. Jemand von euch kümmert sich um
sie, ja? Ich muß was Wichtiges erledigen. Ich…«
Sie hörte von fern ihren Namen und drehte sich um. Amy stand auf derBetonmauer desBewässerungsteichs und winkte.
«Tracy! Schau mal!«
«Nein! Geh da runter!«schrie Tracy.
Und sie sah entsetzt, wie Amy das Gleichgewicht verlor und in den Teich fiel.
«O Gott!«AllesBlut wich aus Tracys Gesicht. Sie mußte eine Wahl treffen. Aber sie hatte keine Wahl. Ich kann ihr nicht helfen. Jetzt nicht. Irgend jemand wird sie schon retten. Ich muß mich selbst retten. Ich muß weg von hier, sonst krepiere ich. Es war 13 Uhr 20.
Tracy drehte sich um und rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Die Frauen riefen ihr nach, aber sie hörte sie nicht. Sie flog dahin, sie merkte nicht, daß sie ihre Schuhe verloren hatte, sie achtete nicht darauf, daß sie sich die Füße an dem steinigenBoden aufschürfte. Ihr Herz raste, und ihre Lungen platzten, und sie zwang sich, schneller zu rennen, noch schneller. Dann war siebei der Mauer und sprang hinauf. Weit unten sah sie Amy im tiefen Wasser, die verzweifelt paddelte, um nicht unterzugehen. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang Tracy in den Teich. Und erst als sie klatschend im Wasser landete, dachte sie: Lieber Gott! Ich kann doch nicht schwimmen…