ZWEITES BUCH

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NEW ORLEANS

Freitag, 25. August, 10 Uhr

Lester Torrance, Schalterbeamterbei der First MerchantsBank of New Orleans, brüstete sich mit zweierlei: mit seinem überragenden erotischen Können und mit seiner Fähigkeit, die Kunden richtig einzutaxieren. Er war Ende Vierzig und hoch aufgeschossen, hatte ein fahles Gesicht, einen gepflegten Schnurrbart und lange Koteletten. Er warbei zweiBeförderungen übergangen worden, und aus Rache dafürbenutzte er dieBank als privaten Aufreißplatz. Gunstgewerblerinnen erkannte er auf zwei Meilen gegen den Wind, und es machte ihm Freude, sie wenigstens versuchsweise dazu zu überreden, daß sie ihm ihre Dienstleistungen gratis gewährten. Einsame Witwen waren einebesonders leichteBeute. Sie kamen in allen Stadien der Verzweiflung, und früher oder später tauchten sie vor Lesters Schalter auf. Wenn sie ihr Konto vorübergehend überzogen hatten, lieh ihnen Lester ein mitfühlendes Ohr und ließ ihre Schecks nicht gleich platzen. Vielleicht konnten sie dafür ja irgendwo mit ihm zum Essen gehen? Viele Kundinnen suchten Rat und Hilfebei ihm und weihten ihn in delikate Geheimnisse ein: Siebrauchten einen Kredit, ohne Wissen ihres Mannes… Sie wollten, daß gewisse Schecks, die sie ausgestellt hatten, vertraulichbehandelt wurden… Sie erwogen die Scheidung, und obLester ihnen helfen könne, ihr gemeinsames Konto gleich aufzulösen? Lester war äußerstbemüht, die Damen nach Wunsch zubedienen. Um seinerseits nach Wunschbedient zu werden.

An diesem Freitagmorgen wußte Lester, daß er den Vogel abgeschossen hatte. Er sah die Frau in dem Moment, in dem sie dieBankbetrat. Sie war einfach umwerfend. Sie hatte glattes schwarzes schulterlanges Haar, und sie trug einen engen Rock und einen ebenso engen Pullover und prunkte mit einer Figur, um die sie jedes Las‑Vegas‑Girlbeneidet hätte.

In derBankbefanden sich noch vier weitere Schalter, und die Augen der jungen Frau wanderten von einem zum andern, als suche sie Hilfe. Dann erblickte sie Lester, und er nickte eifrig und lächelte ihr aufmunternd zu. Sie ging zu seinem Schalter — Lester hatte es gleich gewußt.

«Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte Lester mit Wärme.»Was darf ich für Sie tun?«Er sah, wie sich ihreBrustwarzen unter dem Kaschmirpullover abzeichneten, und dachte: Mein Kleines, für dich tu ich alles!

«Ich habe Probleme«, sagte die Frau mit leiser Stimme. Sie hatte den wundervollsten Südstaatenakzent, den Lester je vernommen hatte.

«Dafürbin ich ja da«, sagte er herzlich.»Um Probleme zu lösen.«

«Oh, ich hoffe, Sie können das wirklich! Ich habe nämlich leider etwas Furchtbares angestellt.«

Lester schenkte ihr sein schönstes, väterlichstes Lächeln, das in etwa ausdrückte: Auf mich kannst dubauen wie auf einen Fels.»Also, ich glaub's einfach nicht, daß eine sobezaubernde junge Dame wie Sie etwas Furchtbares anstellen kann.«

«Oh, aber ich habe etwas Furchtbares angestellt. «Ihre sanftenbraunen Augen waren vor Entsetzen geweitet.»Ichbin die Sekretärin von Joseph Romano, und er hat mir vor einer Woche gesagt, ich soll neue Schecks für ihnbesorgen, und ich hab's völlig verschwitzt, und jetzt haben wirbald keine Schecks mehr, und wenn er das rauskriegt, weiß ich nicht, was er mit mir macht. «All das war in einem langen, leisen,

samtigen Schwall aus ihr herausgepurzelt.

Lester wußte natürlich, wer Joe Romano war. Ein hochgeschätzter Kunde dieserBank, obwohl er auf seinem Konto immer nur verhältnismäßig kleineBeträge hatte. Es war allgemeinbekannt, daß er das dicke Geld woanders wusch.

Inbezug auf Sekretärinnen hat er einen sagenhaften Geschmack, dachte Lester. Er lächelte erneut.»Na, aber das ist doch gar nicht so schlimm, Mrs….?«

«Miß Hartford. Laureen Hartford.«

Miß. Was für ein Glückstag. Lester ahnte, nein, wußte, daß diesblendend laufen würde.»Ich fordere jetzt sofort die Schecks für Sie an. Die haben Sie in zweibis drei Wochen, und…«

Sie gabein kleines Stöhnen von sich, das Lester unendlich verheißungsvoll klang.»Oh, das ist zu spät! Und Mr. Romano ist schon so sauer auf mich! Ich kann mich irgendwie nicht auf meine Arbeit konzentrieren, verstehen Sie?«Siebeugte sich vor. IhreBrüste schwebten in verführerischer Nähe. Sie sagte atemlos:»Wenn Sie diese Schecksbeschleunigt anfordern… also, ich würde Ihnen direkt was dafür geben….«

Lester sagte wehmütig:»Ach Gott, Laureen, das tut mir wirklich leid, aber es ist unmöglich, die Schecks…«Er sah, daß sie den Tränen nahe war.

«Das… das kann mich meinen Jobkosten. Bitte… ich mache alles dafür.«

Ihre Worte klangen Lester wie Musik in den Ohren.

«Ich will Ihnen was sagen«, verkündete Lester.»Ich hänge mich gleich ans Telefon undbitte umbeschleunigte Zustellung, und Sie haben die Schecks am Montag. Na, was sagen Sie dazu?«

«Oh, Sie sind einfach wunderbar!«Ihre Stimmebebte fast vor Dankbarkeit.

«Ich schicke sie Ihnen insBüro, und…«

«Es istbesser, ich hole sie selbst. Ich will nicht, daß Mr.

Romano erfährt, wie dumm ich war.«

Lester lächelte milde.»Dumm ist nicht das richtige Wort, Laureen. Wir vergessen alle hin und wieder was. «Sie sagte sanft:»Aber Sie vergeß ich nie. Bis Montag.«»Ichbin da. «Nur eine mehrfach gebrochene Wirbelsäule hätte ihn daran gehindert, sich am Montag zur Arbeit einzufinden. Siebedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln und schritt langsam aus derBank. Ihr Gang war eine Sehenswürdigkeit. Lester grinste, als er zu einem Stahlschrank lief, die Kontonummer von Joe Romano heraussuchte und telefonisch umbeschleunigte Zustellung der Schecksbat.

Das Hotel in der Carmen Street war von hundert anderen Hotels in New Orleans nicht zu unterscheiden. Deshalbhatte Tracy es auch als Quartier gewählt. Seit einer Woche wohnte sie in dem kleinen, schäbigen Zimmer. Mit ihrer Zelle verglichen, kam es ihr wie ein Palast vor.

Als sie von derBegegnung mit Lester zurückkehrte, nahm sie die schwarze Perücke ab, fuhr sich mit den Fingern durch ihr eigenes üppiges Haar, entfernte die weichen Kontaktlinsen und cremte sich das dunkle Make‑up vom Gesicht. Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und atmete tief durch. Es ließ sich gut an. Zu erfahren, wo Joe Romano seinBankkonto hatte, war einfach genug gewesen. Tracy hatte einenBlick auf den gesperrten Scheck aus dem Nachlaß ihrer Mutter geworfen, den Joe Romano ausgestellt hatte. An die kommst du nicht ran, hatte Ernestine gesagt.

Ernestine irrte sich. Und Joe Romano war nur der erste. Die anderen würden folgen. Mann für Mann.

Tracy schloß die Augen und dachte an das Wunder zurück, das sie hierher gebracht hatte…

Das kalte, dunkle Wasser schlug über ihr zusammen. Sie

ging unter, und Entsetzen erfüllte sie. Sie sank tiefer, und nun hatte sie das Kind ertastet und faßte es und zog es an die Wasseroberfläche. Amy versuchte sich inblinder Panik loszureißen, schlug mit Armen undBeinen wild um sich und zog siebeide wieder nach unten. Tracys Lungenbarsten. Sie kämpfte sich empor aus dem nassen Grab, hielt das kleine Mädchen verbissen fest und spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Wir schaffen es nicht, dachte sie. Wir sind erledigt. Stimmen riefen, Amy wurde ihr entrissen, und sie schrie:»O Gott, nein!«Starke Hände legten sich um ihre Taille, und dann sagte jemand:»Es ist alles in Ordnung. Ganz ruhig. Es ist alles vorbei.«

Tracyblickte sich verzweifelt nach Amy um und sah, daß sie sicher und geborgen war in den Armen eines Mannes. Und kurz darauf wurden siebeide aus dem tiefen Wasser gezogen…

Das Ereignis hätte nicht mehr als ein paar Zeilen im Innenteil der Morgenblätter hergegeben, wäre da nicht der Umstand gewesen, daß eine Gefangene, die nicht schwimmen konnte, ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um die Tochter des Gefängnisdirektors zu retten. Über Nacht wurde Tracy von den Zeitungen und Fernsehkommentatoren zur Heldin gekürt. Gouverneur Haber kam mit DirektorBrannigan ins Gefängniskrankenhaus, um Tracy zubesuchen.

«Das war sehr mutig von Ihnen«, sagte der Direktor.»Sie sollen wissen, daß meine Frau und ich Ihnen sehr dankbar sind. «Er war so ergriffen, daß er mit erstickter Stimme sprach.

Tracy fühlte sich schwach und war noch ziemlich mitgenommen von dem Vorfall.»Wie geht es Amy?«

«Sie istbald wieder auf dem Damm.«

Tracy schloß die Augen. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passiert wäre, dachte sie. Sie erinnerte sich der Kühle, mit der sie die Zuneigung dieses Kindes erwidert hatte, und schämte sich. Die Rettung hatte sie ihre Fluchtgelegenheit

gekostet, aber sie wußte, wenn sie noch einmal die Wahl hätte, würde sie nicht anders handeln.

Der Vorfall wurde kurz untersucht.

«Es war meine Schuld«, sagte Amy zu ihrem Vater.»Wir habenBall gespielt, und Tracy ist demBall nachgerannt und hat mir gesagt, ich soll warten, aber ichbin auf die Mauer gestiegen, damit ich siebesser sehen kann. Und dannbin ich ins Wasser gefallen. Aber Tracy hat mich gerettet, Daddy.«

Tracybliebüber Nacht zurBeobachtung im Krankenhaus, und am nächsten Morgen wurde sie in DirektorBrannigansBüro geführt. Die Medien warteten schon auf sie. Sie hatten einen untrüglichen Instinkt für herzerwärmende Storys, und so waren denn Korrespondenten von UPI und AP zugegen; die lokale Fernsehstation hatte ein Kamerateam geschickt.

Am Abend wurde Tracys Heldentat publik, und die Geschichte von der mutigen Rettung wurdebundesweit vom Fernsehen übernommen und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Time, Newsweek, People und Hunderte von Zeitungen und Zeitschriften griffen die Story auf. Eine Flut vonBriefen und Telegrammenbrach über das Southern Louisiana Penitentiary for Women herein, und in allen wurde dieBegnadigung von Tracy Whitney gefordert.

Gouverneur Haber erörterte das Thema mit GefängnisdirektorBrannigan.

«Tracy Whitney sitzt hier wegen zweier Schwerverbrechen ein«, bemerkteBrannigan.

Der Gouverneur überlegte.»Aber sie hat keine Vorstrafen, nicht wahr, George?«

«Das ist richtig, Governor.«

«Also, ich kann es Ihnen ja ganz offen sagen — ich werde mächtig unter Druck gesetzt, da was zu unternehmen.«

«Ich auch, Governor.«

«Natürlich können wir uns nicht von der Öffentlichkeit

vorschreiben lassen, wie wir mit unseren Häftlingen verfahren sollen, nicht wahr?«

«Nein, gewiß nicht.«

«Andererseits«, sagte der Gouverneur nachdenklich,»andererseits hat sich die Whitney alsbemerkenswert mutig erwiesen. Sie ist eine regelrechte Volksheldin geworden.«

«Zweifellos«, bestätigteBrannigan.

Der Gouverneur zündete sich eine Zigarre an.»Was meinen Sie, George?«

GeorgeBrannigan wählte seine Worte mitBedacht.»Es ist Ihnen natürlich klar, Governor, daß ich hier persönlichbetroffenbin. Schließlich hat sie ja mein Kind gerettet. Aber abgesehen davon glaube ich nicht, daß Tracy Whitney demBild entspricht, das man sich von einer Kriminellen macht. Und ich glaube ebensowenig, daß sie in Freiheit eine Gefahr für die Gesellschaft wäre. Darum möchte ich ausdrücklichbefürworten, daß Sie siebegnadigen.«

Der Gouverneur, der demnächst seine Kandidatur für eine weitere Amtsperiodebekanntgeben wollte, wußte gute Ideen durchaus zu schätzen.»Okay. Aberbehalten wir es noch ein Weilchen für uns. «In der Politik hing alles vom richtigen Zeitpunkt ab.

Nachdem sie sich mit ihrem Mannberaten hatte, sagte Sue Ellen zu Tracy:»Der Direktor und ich würden uns sehr freuen, wenn Sie zu uns ins Haus ziehen wollten. Wir haben noch ein kleines Zimmer frei, und Sie könnten sich dann ständig um Amy kümmern.«»Vielen Dank«, antwortete Tracy.»Das mache ich gern. «Es lief wunderbar. Tracybrauchte die Nächte nicht mehr in ihrer Zelle zu verbringen, und ihreBeziehung zu Amy änderte sich vollständig. Amy liebte Tracy, und Tracy konnte ihre Zuneigung jetzt erwidern. Es war ihr eine Freude, mit diesem aufgeweckten, zärtlichen Kind zusammenzusein. Sie spielten

ihre alten Spiele, sahen Disney‑Filme im Fernsehen und schauten sichBilderbücher an. Es war fast so, als gehörte Tracy zur Familie.

Doch immer wenn sie etwas zubesorgen hatte, das sie in den Gefängnisbau führte, lief ihrBigBertha über den Weg.

«Du hast Schwein gehabt, Baby«, knurrteBigBertha.»Aber dubistbald wiederbei uns. Ich arbeite schon daran.«

Drei Wochen nach Amys Rettung spielten Tracy und Amy auf dem Hof Fangen, als Sue EllenBrannigan aus dem Haus eilte. Siebliebeinen Moment stehen undbeobachtete diebeiden.»Tracy, mein Mann hat eben angerufen. Sie sollen sofort zu ihm insBüro kommen.«

Tracy hatte plötzlich Angst. Sollte sie in den Zellentrakt zurückverlegt werden? HatteBigBertha ihren Einfluß geltend gemacht? Oder war Mrs. Brannigan zu dem Schluß gekommen, daß das Verhältnis zwischen Amy und Tracy zu innig wurde?

«Ja, Mrs. Brannigan.«

Als Tracy insBüro des Gefängnisdirektors geführt wurde, stand GeorgeBrannigan schon in der Tür.»Setzen Sie sich lieber«, sagte er.

Tracy versuchte, ihr künftiges Schicksal aus dem Ton seiner Stimme herauszuhören.

«Ich habe Neuigkeiten für Sie. «Er legte eine kleine Pause ein, war von irgendwelchen Gefühlen übermannt, die Tracy nichtbegriff.»Ich habe eben eine Weisung des Gouverneurs von Louisiana erhalten. «Wieder eine Pause.»Sie sind mit sofortiger Wirkungbegnadigt.«

Heiliger Gott, habe ich richtig gehört? Tracy scheute sich, auch nur ein Wort zu sagen.

«Sie sollen wissen«, fuhr der Direktor fort,»daß dieseBegnadigung nicht erfolgt ist, weil es mein Kind war, das Sie gerettet haben. Sie haben instinktiv so gehandelt, wie jeder

anständige Mensch gehandelt hätte. Ich habe nie glauben können, daß Sie eine Gefahr für die Gesellschaft sind. «Und lächelnd fügte er hinzu:»Amy wird Sie vermissen. Wir auch.«

Tracy war sprachlos. Der Direktor kannte ja die Wahrheit nicht: Wenn Amy nicht in den Teich gefallen wäre, hätten seine Leute Jagd auf Tracy gemacht.

«Sie werden übermorgen auf freien Fuß gesetzt.«

Tracy konnte es immer noch nicht fassen.»Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

«Siebrauchen nichts zu sagen. Wir sind hier alle sehr stolz auf Sie. Meine Frau und ich glauben, daß Sie draußen in der Welt noch große Taten vollbringen werden.«

Es stimmte also: Sie war frei. Tracy fühlte sich so schwach, daß sie sich auf den Schreibtisch des Direktors stützen mußte. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme fest und ruhig:»Ich habe viel vor, Sir.«

An Tracys letztem Tag im Southern Louisiana Penitentiary for Women kam eine Frau aus ihrem altenBlock auf sie zu.»Dubist alsobald frei.«

«Ja.«

Die Frau hießBetty Franciscus, war Anfang Vierzig, immer noch attraktiv und von einem natürlichen Stolz, der sie wie eine Aura umgab.

«Wenn du draußen Hilfebrauchst — da gibt es einen Mann in New York, den du aufsuchen solltest. Er heißt Conrad Morgan. «Sie steckte Tracy einen Zettel zu.»Er hat sich sehr für die Resozialisierung engagiert und unterstützt gern Leute, die im Gefängnis waren.«

«Danke, aber ich glaube nicht, daß ich das je…«

«Man kann nie wissen. Bewahr die Adresse für alle Fälle auf.«

Zwei Stunden später ging Tracy durchs Gefängnistor, an den Fernsehkameras vorbei. Sie wollte nicht mit den Reportern

sprechen, doch als sich Amy von ihrer Mutter losriß und in Tracys Arme flog, surrten die Kameras. Und dieseBilder wurden dann in den Abendnachrichten gezeigt.

Freiheit war für Tracy kein abstraktes Wort mehr. Es war etwas Fühlbares, an dem man sich freuen und das man genießen konnte. Freiheit, das hieß: frische Luft atmen, eine Privatsphäre haben, nicht in Schlangen nach Essen anstehen und sich nicht nach schrillen Glocken richten müssen. Es hieß: heißeBäder und duftende Seifen, weiche Unterwäsche, hübsche Kleider und hochhackige Schuhe. Esbedeutete: einen Namen zu haben, statt eine Nummer zu sein. Esbedeutete: BigBertha entronnen zu sein und der Angst vor Vergewaltigung und der tödlichen Monotonie des Gefängnisalltags.

Es dauerte eine Weile, bis sich Tracy wieder in die Freiheit eingelebt hatte. Wenn sie die Straße entlangging, achtete sie sorgsam darauf, mit keinem Menschen zusammenzustoßen. Wenn man im Gefängnis jemanden aus Versehen anrempelte, konnte das der Funke sein, der das Pulverfaß zum Explodierenbrachte. Am schwierigsten fand es Tracy, sich daran zu gewöhnen, daß nichts und niemand siebedrohte.

Es stand ihr frei, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.

In Philadelphia verfolgte Charles Stanhope junior auf dem Fernsehschirm mit, wie Tracy das Gefängnis verließ. Sie ist immer noch schön, dachte er. Wenn er's sich recht überlegte, so schien es ein Ding der Unmöglichkeit, daß sie die Verbrechenbegangen hatte, für die sie verurteilt worden war. Er warf einen flüchtigenBlick auf seine musterhafte Frau, die friedlich strickend am anderen Ende des Raumes saß. Ich frage mich, obich einen Fehler gemacht habe.

Daniel Cooperbeobachtete Tracy im TV in seiner New

Yorker Wohnung. IhreBegnadigung war ihm völlig egal. Er stellte den Fernseher abund wandte sich wieder der Akte zu, die er geradebearbeitete.

Als Joe Romano die Abendnachrichten sah, lachte er schallend. Die Whitney hatte mehr Glück als Verstand. Das Gefängnis war sicher nicht das Schlechteste für sie. Inzwischen muß sie affengeil sein. Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder.

Romano war recht zufrieden mit sich. Er hatte den Renoir schon längst an einen Hehler weitergeleitet, und dasBild war von einem Privatsammler in Zürich gekauft worden. Fünfhundert Riesen von der Versicherung und noch mal zweihundertfünfzig vom Hehler. Natürlich hatte sich Romano das Geld mit Anthony Orsatti geteilt. Romano war da sehr gewissenhaft, denn er hatte des öfteren miterlebt, was Leuten passierte, die sichbei ihren Geschäften mit Orsatti nicht korrekt verhielten.

Am Montagmittag kehrte Tracy als Laureen Hartford in die First MerchantsBank of New Orleans zurück. Zu dieser Stunde herrschte dort Hochbetrieb. Vor Lester Torrances Schalter hatte sich eine Schlange gebildet. Tracy stellte sich dazu, und als Lester sie sah, nickte er ihr strahlend entgegen. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.

Als Tracy schließlich vor ihm stand, verkündete Lester:»Also, einfach war es nicht, aber für Sie habich's gern getan, Laureen.«

Ein warmes, anerkennendes Lächeln erhellte Laureens Gesicht.»Ach, Sie sind wirklich wunderbar.«

«Hier…«Lester zog eine Schublade auf, nahm den kleinen Karton voll Schecks heraus, den er in die hinterste Ecke geschoben hatte, und überreichte ihn Laureen.»Bitte. Vierhundert Stück. Ist das genug?«

«Oh, mehr als genug. Es sei denn, Mr. Romano stellt jetzt Tag und Nacht nur noch Schecks aus. «Sieblickte Lester tief in die Augen und seufzte:»Sie haben mir das Leben gerettet.«

Lester empfand ein angenehmes Kribbeln in den Lenden.»Ich finde, die Menschen sollten nett zueinander sein. Finden Sie nicht auch, Laureen?«

«Doch, Lester. Sie haben ja so recht!«

«Wissen Sie was? Sie sollten hier ein Konto eröffnen. Bei mir wären Sie gut aufgehoben. Echt gut.«

«Ich weiß«, gurrte Laureen.

«Wollen wir nicht irgendwo zum Essen gehen und mal darüber reden?«

«Mit Wonne.«

«Wo kann ich Sie telefonisch erreichen, Laureen?«

«Oh, ich werde Sie anrufen, Lester. «Und damit entfernte sie sich.

«Jetzt warten Sie doch noch eine…«Der nächste Kunde trat vor Lesters Schalter und reichte dem schwer frustrierten Mann einen Sack voll Münzen.

In der Mitte derBankbefanden sich vier Tische mitBehältern für Ein- und Auszahlungsbelege, und an den Tischen drängten sich Leute, die damitbeschäftigt waren, Formulare auszufüllen. Tracy entfernte sich aus Lesters Sicht. EinBankkunde stand von einem der Tische auf, und Tracy setzte sich an seinen Platz. Der Karton, den Lester ihr gegeben hatte, enthielt acht PäckchenBlankoschecks. Aber Tracy war nicht an den Schecks interessiert, sondern an denbeigefügten Einzahlungsbelegen.

Sie trennte die Einzahlungsbelege von den Schecks und hielt in weniger als drei Minuten achtzig Einzahlungsbelege in der Hand.

Sie vergewisserte sich, daß niemand siebeobachtete, und legte zwanzig davon in den Metallbehälter.

Dann ging sie zum nächsten Tisch, wo sie wieder zwanzig

Einzahlungsbelege deponierte. Nach kurzer Zeit hatte sie alle auf die vier Tische verteilt. Es handelte sich umBlankoformulare, aber im unteren Feld eines jeden war ein Magnetstreifen mit Joe Romanos persönlichem Kode. Egal, wer mit diesen Formularen Geld einzahlte: Der Computer würde denBetrag automatisch als Gutschrift auf Joe Romanos Kontobuchen. Dank ihrerBankerfahrung wußte Tracy, daß die Formulare mit Joe Romanos persönlichem Kode in spätestens zwei Tagen aufgebraucht sein würden und daß es mindestens fünf Tage dauern würde, bis die Panne auffiel. Und damitbliebihr reichlich Zeit für das, was sie plante.

Tracy verließ dieBank und warf die Schecks ein paar Straßen weiter in einen Abfallkorb. Mr. Joe Romano würde sie nichtbrauchen.

Tracys nächste Station war die New Orleans Holiday Travel Agency. Die junge Frau hinter dem Tresen fragte:»Kann ich Ihnen helfen?«

«Ja. Ichbin Joseph Romanos Sekretärin. Mr. Romano möchte für Freitag dieser Woche einen Flug nach Rio de Janeirobuchen.«

«Ein Ticket?«

«Ja. Erster Klasse. Gangplatz. Raucher, bitte.«

«Hin und zurück?«

«Einfach.«

Die Frau vom Reisebüro zog ihren Tischcomputer zu Rat. Nach ein paar Sekunden sagte sie:»Alles klar. Ein Sitz erster Klasse, Pan American, Flugnummer 728. Die Maschine geht am Freitag um 18 Uhr 35. Kurze Zwischenlandung in Miami.«

«Bestens«, sagte Tracy.

«Macht 1929 Dollar. Wollen Siebar zahlen? Oder geht das auf Kreditkarte?«

«Zahlungbei Ablieferung. Können Sie das Ticketbitte am Donnerstag in Mr. RomanosBüro zustellen?«

«Wir können es auch schon morgen zustellen, wenn Sie

wollen.«

«Nein. Morgen ist Mr. Romano nicht da. Donnerstag um elf — geht das?«

«Ja, natürlich. Und an welche Adresse?«

«Mr. Joseph Romano, Poydras Street 217, Zimmer 408.«

Die Frau notierte es.

«Gut. Ich werde sehen, daß es am Donnerstagvormittag abgeliefert wird.«

«Um punkt elf«, sagte Tracy.»Danke.«

Fünfzig Meter weiterbefand sich der Acme Luggage Store. Tracybetrachtete die Reisetaschen und Koffer im Schaufenster. Dann trat sie ein.

Ein Verkäufer näherte sich ihr.»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

«Ich möchte einen Koffer für meinen Mann kaufen. Vielleicht auch zwei.«

«Da sind Siebei uns gerade richtig. Wir räumen im Moment einen Teil unseres Lagers und haben ein paar hübsche, preiswerte…«

«Nein«, sagte Tracy.

Sie ging zu den Vuitton‑Koffern, die an einer der Wände aufgestapelt waren.»Die sind eher das, was ich suche.«

«Oh, einer von denen wird Ihrem Mann sicher gefallen. Wir haben sie in drei Größen. Welche möchten Sie denn?«

«Ich nehme einen von jeder Größe.«

«Na, prima. Bar oder auf Karte?«

«Zahlungbei Ablieferung. Mein Mann heißt Joseph Romano. Könnten Sie die Koffer am Donnerstagvormittag in seinBürobringen lassen?«

«Aber selbstverständlich, Mrs. Romano.«

«Um 11 Uhr?«

«Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

Dann fiel Tracy noch etwas ein.»Oh… würden Sie wohl seine Initialen darauf prägen? In Gold? J. R.«

«Gewiß doch. Mit Vergnügen, Mrs. Romano.«

Tracy lächelte und gabdem Verkäufer die Adresse von Joe

RomanosBüro. Bei der Western Union schickte sie ein Telegramm mit

bezahlter Rückantwort an den Rio Othon Palace am Strand

von Copacabana in Rio de Janeiro. Es lautete:

ERBITTE ABFREITAG DIESER WOCHE FÜR 2 MONATE IHRE TEUERSTE SUITE. UMGEHENDEBESTÄTIGUNG AN: JOSEPH ROMANO, POYDRAS STREET 217, ZIMMER 408, NEW ORLEANS, LOUISIANA, USA.

Zwei Tage später rief Tracybei der First MerchantsBank an und ließ sich mit Lester Torrance verbinden. Als sie seine Stimme hörte, sagte sie sanft:»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Lester, aber hier ist Laureen Hartford, Mr. Romanos Sekretärin, und…«

Na, und ober sich noch an sie erinnerte! Seine Stimme war voll Eifer.»Aber natürlich erinnere ich mich an Sie, Laureen. Ich…«

«Ja, wirklich? Dabin ich aber sehr geschmeichelt. Sie kommen doch jeden Tag mit soviel Menschen zusammen…«

«Aber mit keinen wie Ihnen«, versicherte Lester.»Sie haben nicht vergessen, daß wir mal zum Essen gehen wollten, nein?«

«Wie könnte ich! Wo ich mich doch schon so darauf freue! Paßt es Ihnen am nächsten Dienstag, Lester?«

«Ja, sicher!«

«Also abgemacht. Oh! Bin ichblöd! Ich finde es so aufregend, mit Ihnen zu reden, daß ich's fast vergessen hätte — Mr. Romano hat gesagt, ich soll mich nach seinem Kontostand erkundigen. Können Siebitte mal schnell für mich nachschauen?«

«Klar. Kein Problem.«

Normalerweise hätte sich Lester Torrance nach dem Geburtsdatum des Anrufers oder irgendeinem anderen Erkennungszeichen erkundigt, aber in diesem Fall war das gewiß nicht nötig.»Bleiben Sie dran, Laureen«, sagte er.

Lester Torrance ging zum Kontoschrank, nahm sich Joe Romanos Auszug vor undbetrachtete ihn verdutzt. In den letzten Tagen waren ungewöhnlich viel Einzahlungen auf Romanos Konto gemacht worden. Lester Torrance fragte sich, was da wohl imBusch war. Offensichtlich eine große Sache. Wenn er mit Laureen Hartford zum Essen ging, würde er sie aushorchen. Ein paar Insiderinformationen konnten nie schaden. Er kehrte ans Telefon zurück.

«IhrBoß hält uns schwer in Atem«, teilte er Tracy mit.»Er hat jetzt etwas über dreihunderttausend Dollar auf seinem Scheckkonto.«

«Gut. Das entspricht genau der Zahl, die mir hier vorliegt.«

«Sollen wir denBetrag auf ein Geldmarktkonto umbuchen? Auf dem Scheckkontobringt er keine Zinsen, und ich könnte…«

«Nein, danke. Er will, daß das Geldbleibt, wo es ist«, erwiderte Tracy.

«Okay.«

«Vielen Dank, Lester. Sie sind ein Schatz.«

«Warten Sie noch eine Sekunde! Soll ich Sie imBüro anrufen? Wegen Dienstag, meine ich?«

«Ich rufe Sie an, mein Engel«, sagte Tracy.

Und legte auf.

Das moderneBürohochhaus, das Anthony Orsatti gehörte, lag in der Poydras Street, zwischen dem Hafenviertel und dem gigantischen Louisiana Superdome. DieBüros der Pacific Import‑Export Company nahmen den ganzen vierten Stock des Gebäudes ein. Am einen Ende der Etagebefanden sich Orsattis Zimmer, am anderen die von Joe Romano. Der Raum

dazwischen wurde von vier jungen Empfangsdamen ausgefüllt, die am Abend Anthony Orsattis Freunde und Geschäftspartner zu unterhalten hatten. Vor der Tür zu Orsattis Vorzimmer wachten zweibullige Männer, die ihr Leben dem Schutz ihresBosses verschrieben hatten. Sie dienten dem Capo auch als Chauffeure, Masseure und Laufburschen.

An diesem Donnerstagmorgen saß Orsatti in seinemBüro und studierte die Umsätze des Vortags, die mit Lotto, Wettgeschäften, Prostitution und einem Dutzend weiterer lukrativer Aktivitäten erzielt worden waren. All diese Aktivitäten steuerte die Pacific Import‑Export Company.

Anthony Orsatti ging auf die siebzig zu. Er war seltsam gebaut: ein großer, fleischiger Oberkörper auf kurzen, dürrenBeinen, die für einen wesentlich kleineren Mann gedacht zu sein schienen. Wenn er stand, sah er aus wie ein sitzender Frosch. Sein Gesicht war von einem wüsten Netz aus Narben überzogen — so kreuz und quer und durcheinander, als hätte es einebetrunkene Spinne gewebt. Er hatte keinen Mund, sondern ein Maul und schwarze, aus den Höhlen quellende Augen. In seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte er plötzlich Haarausfallbekommen. Seitdem war er völlig kahl, und seitdem trug er eine schwarze Perücke. Sie saß schlecht, aber das hatte ihm in all den Jahren nie jemand zu sagen gewagt. Orsattis kalte Augen waren die Augen eines Spielers — sie gaben nichts preis, und sein Gesicht warbloß dann nicht ausdruckslos, wenn er mit seinen fünf Töchtern zusammen war, die er innig liebte. Nur an seiner Stimme konnte man seine Gefühle ablesen. Sie war rauh, heiser und fast tonlos — Folge einer Drahtschlinge, die ihm an seinem einundzwanzigsten Geburtstag um den Hals gelegt und zugezogen worden war. Wenn Orsatti sich wirklich aufregte, senkte er die Stimme zu einem erstickten, kaum hörbaren Flüstern.

Anthony Orsatti war ein König, der sein Reich mit Schmiergeldern, Waffengewalt und Erpressung regierte. Er herrschte über New Orleans, und es zollte ihm in Form von unermeßlichem Reichtum Tribut. Die Capos der anderen Familien im Land achteten ihn und suchten häufig seinen Rat.

Im Moment war Anthony Orsatti leutselig gestimmt. Er hatte mit seiner Geliebten gefrühstückt, die er sich in einem Appartmenthaus hielt, das ihm gehörte. Erbesuchte sie dreimal pro Woche, und derBesuch heute morgen warbesondersbefriedigend gewesen. Sie veranstaltete mit ihm Dinge imBett, die anderen Frauen nicht einmal im Traum einfielen, und Orsatti glaubte allen Ernstes, sie mache das aus Liebe. Seine Organisation lief wie eine gut geölte Maschine. Es gabkeine Probleme, weil sich Orsatti darauf verstand, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, bevor sie sich zu Problemen auswuchsen. Er hatte seine Philosophie einmal Joe Romano erklärt:»Laß aus einem kleinen Problem nie ein großes Problem werden, Joe, sonst ist das wie ein Schneeball, aus dem eine Lawine wird. Wenn du so 'n kleinenBoß von 'nemBezirk hast, der meint, er müßte größere Anteile kriegen — dann schmilzt du ihn, klar? Kein Schneeball mehr. Oder es kommt so 'n junger Schnösel aus Chicago und fragt dich, ober hier 'n kleines Geschäft aufziehen kann. Du weißt natürlich, daß aus dem kleinen Geschäftbald 'n großes Geschäft wird, das dir die Einnahmen versaut. Also sagst du, ja, er kann hier 'n Geschäft aufmachen, und wenn er in New Orleans ist, schmilzt du den Drecksack. Kein Schneeball mehr. Verstehst du, was ich meine?«

Joe Romano verstand, was er meinte.

Anthony Orsatti liebte Romano wie einen Sohn. Er hatte ihn als verwahrlosten Knaben aufgelesen, der in dunklen GassenBetrunkene ausraubte. Er hatte ihn in die Lehre genommen, und nun konnte der Junge seinen Weg machen. Romano war flink, er war schlau, und er war ehrlich. Im Laufe von zehn

Jahren hatte er einen steilen Aufstieg erlebt. Und nun war er Orsattis rechte Hand. Er überwachte sämtliche Operationen der Familie und hatte niemanden über sich außer Orsatti.

Lucy, Orsattis Privatsekretärin, klopfte an und trat ein. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, hatte das Collegebesucht undbesaß ein Gesicht und eine Figur, diebei Mißwahlen für preiswürdigbefunden worden waren. Orsatti umgabsich gern mit schönen jungen Frauen.

Erblickte auf die Uhr, die auf seinem Schreibtisch stand. Es war 10 Uhr 45. Er hatte Lucy gesagt, daß er vor Mittag nicht gestört zu werden wünschte. Stirnrunzelndblickte er sie an.»Was ist denn?«

«Tut mir leid, daß ich Sie störe, Mr. Orsatti. Eine Miß Gigi Dupres ist am Apparat. Sie klingt total hysterisch. Und sie sagt mir einfach nicht, was sie will. Siebesteht darauf, mit Ihnen persönlich zu sprechen. Ich habe mir gedacht, daß es vielleicht wichtig sein könnte.«

Orsatti saß reglos da und ließ den Namen durch den Computer in seinem Hirn laufen. Gigi Dupres! Eine von den Schnallen, die er letztes Mal in Las Vegas in seine Suite abgeschleppt hatte? Gigi Dupres! Nein, er konnte sich nicht erinnern. Und dabei rühmte er sich, ein Gedächtnis zu haben, bei dem nichts durch die Maschen fiel. Aus reiner Neugier griff er zum Telefon und schickte Lucy mit einer lässigen Handbewegung aus demBüro.

«Hallo?«

«Mr. Anthony Orsatti?«Sie sprach mit französischem Akzent.

«Ja. Was gibt's?«

«Oh, Gott sei Dank, daß ich Sie erwischt habe, Mr. Orsatti!«

Lucy hatte recht. Die Dame klang total hysterisch. Anthony Orsatti war nicht interessiert. Er wollte schon einhängen, aber sie sprach weiter.

«Sie müssen ihn aufhalten! Bitte!«

«Lady, ich weiß nicht, von was Sie reden, und ichbin ein vielbeschäftigter…«

«Ich rede von Joe, meinem Joe. Joe Romano. Er hat versprochen, mich mitzunehmen, er hat es fest versprochen!«

«Also, wenn Sie Probleme mit Joe haben, dann wenden Sie sich an ihn. Ichbin nämlich nicht sein Kindermädchen.«

«Er hat mich angelogen! Ich habe eben rausgekriegt, daß er ohne mich nachBrasilien fliegen will. Und die Hälfte von den dreihunderttausend Dollar gehört mir!«

Anthony Orsatti entdeckte mit einem Mal, daß er doch interessiert war.»Was für dreihunderttausend Dollar?«

«Das Geld, das er auf seinem Scheckkonto versteckt hat. Das Geld, das erbeiseite geschafft hat.«

Anthony Orsatti war jetzt sehr interessiert.

«Bitte sagen Sie Joe, er muß mich mit nachBrasilien nehmen. Bitte! Tun Sie das für mich?«

«Ja«, versprach Anthony Orsatti.»Ich kümmere mich um die Sache.«

Joe RomanosBüro war modern eingerichtet — alles in Weiß und Chrom. Gestaltet hatte es einer der gefragtesten Innenarchitekten von New Orleans. Joe Romanobrüstete sich mit seinem guten Geschmack. Er hatte sich aus den Slums von New Orleans nach oben gekämpft, und auf dieser Ochsentour hatte er sich autodidaktisch gebildet. Er verstand etwas von Malerei, und er liebte die Musik. Joe Romano hatte allen Grund, stolz zu sein, o ja. Es traf zu, daß New Orleans die Pfründe von Anthony Orsatti war, aber es traf auch zu, daß Joe Romano sie für ihn verwaltete und in dieser seiner Eigenschaft unentbehrlich war.

Seine Sekretärin trat insBüro.»Mr. Romano, hier ist einBote mit einem Ticket nach Rio de Janeiro. Zahlungbei Ablieferung. Soll ich einen Scheck ausstellen?«

«Rio de Janeiro?«Romano schüttelte den Kopf.»Das muß

ein Irrtum sein.«

DerBote stand in der Tür.»Mir ist gesagt worden, ich soll das unter dieser Adressebei Mr. Joseph Romano abliefern.«

«Tja, da hat man Ihnen eben was Falsches gesagt. Soll das ein neuer Sales‑Promotion‑Trick sein oder wie?«

«Nein, Sir. Ich…«

«Lassen Sie mal sehen. «Romano nahm demBoten das Ticket aus der Hand und warf einenBlick darauf.»Freitag. Was will ich denn am Freitag in Rio?«

«Das ist eine gute Frage«, kommentierte Anthony Orsatti, der hinter demBoten aufgetaucht war.»Was willst du am Freitag in Rio, Joe?«

«Das ist ein dummes Versehen, Tony. «Romano gabdemBoten das Ticket zurück.»Nehmen Sie's wieder mit und…«

«Nur nicht so eilig. «Anthony Orsatti griff sich das Ticket undbetrachtete es gründlich.»Erster Klasse, Gangplatz, Raucher. Nach Rio de Janeiro. Am Freitag. Einfacher Flug.«

Joe Romano lachte.»Da hat irgend jemand Quatsch gemacht. «Er wandte sich seiner Sekretärin zu.»Madge, rufen Sie das Reisebüro an und sagen Sie den Leuten, daß sie Mist gebaut haben.«

Joleen trat ein, dieBüroassistentin.»Entschuldigung, Mr. Romano. Die Koffer sind da. Soll ich den Lieferschein unterschreiben?«

Joe Romano starrte sie an.»Was für Koffer? Ich habe keine Kofferbestellt.«

«Lassen Sie sie reinbringen«, befahl Anthony Orsatti.

«Großer Gott!«sagte Joe Romano.»Sind denn hier alle übergeschnappt?«

EinBote mit drei Vuitton‑Koffern kam insBüro.

«Was soll das? Ich habe die Dinger nichtbestellt.«

DerBote warf einen prüfendenBlick auf seinen Lieferschein.»Hier steht: Mr. Joseph Romano, Poydras Street 217, Zimmer 408.«

Joe Romano riß allmählich die Geduld.»Es ist mir scheißegal, was da steht. Ich habdie Dinger nichtbestellt. Und jetzt schaffen Sie die mal raus hier.«

Orsattibetrachtete auch die Koffer gründlich.»Da sind deine Initialen drauf, Joe.«

«Was? Oh, Moment! Das ist wahrscheinlich ein Geschenk.«

«Hast du Geburtstag?«

«Nein. Aber du weißt doch, wie die Weiber sind, Tony. Die machen einem immer Geschenke.«

«Hast du irgendwas inBrasilien laufen?«erkundigte sich Anthony Orsatti.

«InBrasilien?«Joe Romano lachte.»Soll das ein Witz sein, Tony?«

Orsatti lächelte honigsüß. Dann wandte er sich der Sekretärin, derBüroassistentin und denbeidenBoten zu.»Raus.«

Als sich die Tür geschlossen hatte, fragte Anthony Orsatti:»Wieviel Geld hast du auf deinem Scheckkonto, Joe?«

Joe Romanoblickte ihn verwirrt an.»Weiß ich nicht genau. Fünfzehnhundert, nehme ich an… vielleicht auch zwei Riesen. Warum?«

«Ruf doch spaßeshalber malbei deinerBank an und frag nach, ja?«

«Warum? Ich…«

«Frag nach, Joe.«

«Bitte. Wenn's dich glücklich macht…«Er drückte die Sprechtaste für seine Sekretärin.»Verbinden Sie mich mit der Oberbuchhalterin von der First Merchants.«

Eine Minute später war sie in der Leitung.

«Hallo, Schätzchen. Geben Sie mir mal meinen Kontostand durch? Mein Geburtsdatum ist der 14. Oktober.«

Anthony Orsatti hörte über den Nebenanschluß mit. Eine halbe Minute später meldete sich die Oberbuchhalterin wieder.

«Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen, Mr. Romano.

Ihr derzeitiger Kontostandbeläuft sich auf dreihundertzehn‑tausendneunhundertfünf Dollar und fünfunddreißig Cent.«

Romano spürte, wie ihm dasBlut aus dem Gesicht wich.»Was?«

«Dreihundertzehntausendneunhundertfünf…«

«Sieblöde Gans!«schrie Romano.»Ich habe nicht soviel Geld auf dem Konto. Sie haben da irgendwas verbockt. Geben Sie mir den…«

Der Hörer wurde ihm aus der Hand genommen. Anthony Orsatti legte ihn auf die Gabel.»Wo kommt das Geld her, Joe?«

Joe Romano war leichenblaß.»Ich schwöre esbei Gott, Tony, ich weiß nichts von diesem Geld.«

«Nein?«

«He, du mußt mir glauben! Weißt du, was da los ist? Jemand will mich aufs Kreuz legen.«

«Der muß dich aber sehr gern mögen. Wo er dir doch 'n Abschiedsgeschenk von dreihundertzehntausend Dollar gemacht hat. «Orsatti nahm schwerfällig in einem der Sessel Platz und schaute Joe Romano lange an. Schließlich sagte er ruhig:»War alles schon arrangiert, wie? Das Ticket nach Rio… einfacher Flug… die Koffer… Als wolltest du 'n neues Leben anfangen.«

«Nein!«Panik klang aus Romanos Stimme.»Herrgott, du kennst mich doch, Tony. Ich habdich niebeschissen. Dubist für mich wie ein Vater.«

Er schwitzte jetzt. Es klopfte, und Madge steckte den Kopf durch die Tür. Sie hatte ein Kuvert in der Hand.

«Tut mir leid, daß ich störe, Mr. Romano. Hier ist ein Telegramm für Sie, aber da müssen Sie selbst unterschreiben.«

Mit dem Instinkt eines Tieres, das in der Falle sitzt, sagte Joe Romano:»Jetzt nicht. Ich habe zu tun.«

«Ich nehm's«, sagte Anthony Orsatti, und er hatte sich aus

dem Sessel erhoben, bevor Madge die Tür schließen konnte. Er las das Telegramm und ließ sich Zeit dabei. Dann richtete er seine kalten Augen auf Joe Romano.

Anthony Orsatti sprach so leise, daß Romano ihn kaum verstand.»Ich lese es dir vor, Joe. ›bestätigen dankend Ihre Reservierung der Princess‑Suite für zwei Monate abFreitag, dem 1. September.‹ Unterzeichnet ist es mit: ›S. Montalband, Hoteldirektor, Rio Othon Palace, CopacabanaBeach, Rio de Janeiro.‹ Es ist deine Reservierung, Joe. Aber du wirst sie nichtbrauchen, oder?«

13

André Gillien stand in der Küche und traf Vorbereitungen für Spaghetti alla carbonara, einen großen italienischen Salat und einenBirnenkuchen, als er ein lautes, unheilverkündendes Knallen hörte. Sekunden später verstummte dasbehagliche Summen der Klimaanlage.

André stampfte mit dem Fuß auf und sagte:»Merde! Nicht heute abend! Heute abend wollen die Herren doch spielen!«

Er eilte zum Sicherungskasten, legte die Schalter um, einen nach dem andern, kippte sie wieder zurück… Nichts passierte.

Oh, Mr. Pope würde wütend sein. Er würde toben! André wußte, wie sehr sich sein Arbeitgeber immer auf den allwöchentlichen Pokerabend am Freitag freute. Er war schon eine Tradition, dieser Abend, und es kamen stets dieselben ausgesuchten Gäste. Ohne Klimaanlage war es im Haus nicht auszuhalten. Die reinste Sauna! New Orleans im September — das standen nurBarbaren durch. Auch nach Sonnenuntergang gabes keine Erlösung von der Hitze und Schwüle des Tages.

André kehrte in die Küche zurück und schaute auf die Küchenuhr. 16 Uhr. Die Gäste würden um 20 Uhr eintreffen. André spielte mit dem Gedanken, Mr. Pope anzurufen und ihm von dem Malheur zuberichten, aber dann fiel ihm wieder ein, daß sein Arbeitgeber gesagt hatte, er werde den ganzen Tagbei Gericht sein. Der arme Mann war so furchtbar im Geschirr. Erbrauchte einbißchen Entspannung am Abend. Und jetzt das!

André holte ein kleines schwarzes Adreßbuch aus einer Küchenschublade, schlug eine Telefonnummer nach und wählte.

Es klingelte dreimal. Dann meldete sich eine metallische Stimme:»Hier ist der automatische Anrufbeantworter der Eskimo Air Conditioning Company. Unsere Monteure sind im Augenblick nicht greifbar. Wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, werden wir sobald wie möglich zurückrufen. Bitte sprechen Sie nach dem Signalton.«

Pah! Sich mit einer Maschine unterhalten müssen — das waren die Segnungen der Zivilisation!

Ein schriller, widerlicher Lautbeleidigte Andrés Ohr. Er sprach in die Muschel:»Hierbei Monsieur Perry Pope, Charles Street 42. Unsere Klimaanlage funktioniert nicht mehr. Bitte schicken Sie jemand! So schnell wie möglich!«

André knallte den Hörer auf die Gabel. Kein Wunder, daß niemand greifbar war. Vermutlich fielen in dieser entsetzlichen Stadt überall die Klimaanlagen aus. Die Wartungsdienste waren dieser verfluchten Hitze und Schwüle schlichtweg nicht gewachsen. Trotzdem empfahl es sich, daßbald jemand kam. Mr. Pope konnte sehr ungehalten werden. Sogar ausgesprochen jähzornig.

In den drei Jahren, die André Gillien als Kochbei Perry Pope arbeitete, hatte er gemerkt, wie einflußreich sein Dienstherr war. Man mußte es als verblüffendbezeichnen. So jung und schon sobrillant! Perry Pope kannte Gott und die Welt. Erbrauchtebloß mit den Fingern zu schnippen, und schon sprangen die Leute.

André Gillien hatte den Eindruck, daß es im Hausbereits merklich wärmer wurde. Wenn jetzt nichtbald was passiert, ist die Kacke am Dampfen.

André ging wieder daran, Salami und Provolone für den Salat in hauchdünne Scheiben zu schneiden, und konnte sich nicht des schrecklichen Gefühls erwehren, daß der Abend einböses Ende nehmen würde.

Als es dreißig Minuten später an der Hintertür klingelte, waren Andrés Kleider von Schweiß durchweicht, und die

Küche glich einemBackofen. Gillien hastete zur Tür und öffnete.

Zwei Monteure in Overalls standen vor ihm, den Werkzeugkasten in der Hand. Der eine war einbaumlanger Schwarzer, der andere ein kurzwüchsiger Weißer mit verschlafenem und gelangweiltem Gesichtsausdruck. Auf dem Fahrweg parkte ihr Kombi.

«Sie haben Probleme mit Ihrer Klimaanlage?«fragte der Schwarze.

«Allerdings! Gott sei Dank, daß Sie da sind. Sie müssen sie sofort reparieren. Es kommenbald Gäste.«

Der Schwarze ging in die Küche, schnupperte, roch den Kuchen im Rohr und sagte:»Mmm!«

«Bitte!«drängte Gillien.»Machen Sie was!«

«Schauen wir uns die Anlage mal an«, sagte der kurzwüchsige Mann.»Wo ist sie denn?«

«Hier lang.«

André führte diebeiden Monteure im Sturmschritt zu dem Raum, in dem das Klimagerät stand.

«Das ist 'n gutes Gerät, Ralph«, sagte der Schwarze zu seinem Kollegen.

«Ja, AI. So gute machen die heute gar nicht mehr.«

«Aber warum funktioniert das Ding dann nicht, um Himmels willen?«wollte Gillien wissen.

Diebeiden Monteure drehten sich um und starrten ihn an.

«Wir sind hier eben erst reingekommen, Mann«, sagte Ralph vorwurfsvoll. Er kniete nieder und öffnete eine Klappe am unteren Teil des Geräts, zog eine Taschenlampe aus seinem Overall, legte sich auf denBauch und spähte in die Eingeweide der Maschine. Ein paar Sekunden darauf stellte er sich wieder auf dieBeine.»Da fehlt nichts«, sagte er.

«Wo fehlt's denn?«fragte André.

«Muß 'n Kurzer sein — irgendwo in 'nem Endverschlußkasten. Der hat die ganze Anlage lahmgelegt.

WievielBelüftungsschlitze haben Sie denn hier?«

«In jedem Zimmer einen. Moment. Ja… das sind mindestens neun.«

«Daran liegt's wahrscheinlich. Der Umwandler ist überlastet. Na, schauen wir's uns mal an.«

Die drei Männer marschierten wieder in den Flur. Als sie am Wohnzimmer vorbeikamen, sagte AI:»Der hat's aber schön hier, der Mr. Pope.«

Das Wohnzimmer war exquisit eingerichtet. Lauter antike Möbel, die ein Vermögen wert waren. Auf demBoden lagen kostbare Orientteppiche. Links vom Wohnzimmerbefand sich ein geräumiges Speisezimmer, rechts davon ein Zimmer, in dessen Mitte ein großer, mit grünem Filzbespannter Spieltisch stand. In einer Ecke dieses Zimmers stand ein zweiter, runder Tisch, derbereits zum Abendessen gedeckt war. Diebeiden Monteure traten ein, und AI leuchtete mit seiner Taschenlampe denBelüftungsschlitz hoch oben an der Wand an.

«Hmm«, brummte er. Erblickte zur Zimmerdecke über dem Spieltisch auf.»Was ist denn da oben?«

«Der Dachboden.«

«Den schauen wir uns auch mal an.«

Diebeiden Monteure folgten André auf den Speicher, einen langen, niedrigen Raum voll Staubund Spinnweben.

AI ging zu einem Schaltkasten an der Wand. Er inspizierte das Drähtegewirr.»Ha!«

«Haben Sie was gefunden?«erkundigte sich André gespannt.

«Ja. Ist 'n reines Kondensatorproblem. Liegt an der hohen Luftfeuchtigkeit. Wegen so was hatten wir diese Woche sicher schon hundert Anrufe. Der Kondensator ist kaputt. Dabrauchen wir 'n neuen.«

«O Gott! Dauert das lang?«

«Nein. Wir haben einen im Auto.«

«Bitte, beeilen Sie sich!«flehte André.»Mr. Pope kommtbald nach Hause.«

«Immer mit der Ruhe«, sagte AI.»Das haben wir gleich.«

Die drei Männer kehrten in die Küche zurück.»Ich… ich muß mich jetzt um die Salatsoße kümmern«, verkündete André.»Finden Sie den Weg auf den Dachboden auch allein?«

AI hobbegütigend die Hand.»Nur keine Aufregung, Meister. Sie machen Ihren Job, und wir machen unsern, okay?«

«Ja. Danke. Vielen Dank.«

Andrébeobachtete, wie diebeiden Monteure zu ihrem Kombi gingen und mit zwei großen Leinentaschen zurückkamen.»Wenn Sie wasbrauchen«, sagte er,»dann rufen Sie mich.«

«In Ordnung.«

Die Monteure stiegen die Treppe hinauf, und André verschwand in seiner Küche.

Auf dem Speicher öffneten Ralph und AI ihre Leinentaschen und förderten einen kleinen Camping‑Klappstuhl zutage, dazu einen Drillbohrer, ein Stullenpaket, zwei DosenBier, ein Zeiss‑Nachtglas und zwei lebende Hamster, denen ein dreiviertel Milligramm Acetylpromazin injiziert worden war.

Diebeiden Männer machten sich ans Werk.

«Ernestine wird mächtig stolz auf mich sein«, gluckste Al.

Zunächst war er strikt dagegen gewesen.

«Dubist nicht ganz dicht, Frau. Mit Perry Pope mach ich keinen Scheiß. Der sorgt dafür, daß ich ewig und drei Tage eingebuchtet werde. Nein, also echt nicht.«

«Wegen dem laß dir keine grauen Haare wachsen. Wenn das gelaufen ist, ist er weg vom Fenster, glaub's mir.«

Sie lagen nackt auf dem Wasserbett in Ernestines Wohnung.

«Wieso willst du da voll drauf einsteigen, meine Süße?«fragte AI.

«Weil er 'nblöder Zipfel ist.«

«He, die Welt ist voll vonblöden Zipfeln, aber deswegen

kannst du nicht dein Leben lang rumrennen und jedem in die Eier treten.«

«Also gut. Ich mach's für 'ne Freundin.«

«Für Tracy?«

«Richtig.«

AI mochte Tracy. Sie hatten an dem Tag, an dem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, alle gemeinsam zu Abend gegessen.

«Sie ist 'ne Klassefrau«, räumte AI ein.»Aber warum sollen wir den Kopf für sie hinhalten?«

«Weil — wenn wir ihr nicht helfen, dann muß sie jemand nehmen, der nicht halbso gut ist wie du, und wenn sie geschnappt wird, knasten sie sie wieder ein.«

AI setzte sich auf undblickte Ernestine neugierig an.»Ist dir das so wichtig?«

«Ja, Honey.«

Sie würde es ihm niebegreiflich machen können, aber die Wahrheit war einfach die: Ernestine konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Tracy wieder im Gefängnis saß undBigBertha ausgeliefert war. Es ging Ernestine dabei nicht nur um Tracy, sondern auch um sich selbst. Sie hatte sich zu TracysBeschützerin aufgeschwungen, und wennBigBertha Hand an sie legte, war das eine Niederlage für Ernestine.

Also sagte sie lediglich:»Ja. Es ist mir echt wichtig, Honey. Machst du's?«

«Allein schaff ich das ums Verrecken nicht«, murmelte AI.

Und Ernestine wußte, daß sie gewonnen hatte. Sie knabberte sich zärtlich an Als langem, schlanken Körper nach unten, in Richtung Süden. Und sie murmelte:»Ist Ralph nicht vor 'n paar Tagen aus 'm Knast entlassen worden?«

Um 18 Uhr 30 kehrten diebeiden Männer verschwitzt und verdreckt in Andrés Küche zurück.»Ist es jetzt repariert?«fragte André ängstlich.

«War 'ne verdammt verzinkte Sache«, teilte AI ihm mit.»Also, was Sie hier haben, das ist 'n Kondensator mit 'm Allstromsperrpunkt, und der…«

André fiel ihm ungeduldig ins Wort.»Schon gut, schon gut. Aber ist es jetzt repariert?«

«Klar. Alles inButter. In fünf Minuten läuft's wieder wie geschmiert.«

«Wunderbar! Die Rechnung legen Siebitte auf den Küchentisch, und…«

Ralph schüttelte den Kopf.»Die kriegen Sie in den nächsten Tagen von der Firma zugeschickt.«

«Tausend Dank. Au revoir!«

Andrébeobachtete, wie diebeiden Männer durch die Hintertür verschwanden, ihre Leinentaschen in der Hand. Als sie außer Sicht waren, gingen sie ums Haus herum, auf den Hof, und öffneten den Kasten mit dem Außenkondensator der Klimaanlage. Ralph hielt die Taschenlampe, und AI verband die Leitungen wieder miteinander, die er vor knapp drei Stunden unterbrochen hatte. Die Klimaanlage sprang sofort wieder an.

AI schriebsich die Telefonnummer von dem Firmenschildchen ab, das am Kondensator hing. Als er kurze Zeit später die Nummer anwählte und sich der automatische Anrufbeantworter der Eskimo Air‑Conditioning Company meldete, sagte AI:»Hierbei Perry Pope, Charles Street 42. Unsere Klimaanlage funktioniert jetzt wieder. Schönen Tag noch.«

Der allwöchentliche Pokerabend am Freitagbei Perry Pope war ein Ereignis, dem dieBeteiligten stets freudig entgegenblickten. Es war immer dieselbe kleine Gruppe: Anthony Orsatti, Joe Romano, Richter Henry Lawrence, ein Stadtrat, ein Senator — und natürlich der Gastgeber. Die Einsätze waren hoch, das Essen war köstlich, und die

Gesellschaft, die sich an diesen Abenden zu versammeln pflegte, verkörperte geballte Macht.

Perry Pope zog sich in seinem Schlafzimmer um, legte eine weiße Seidenhose und ein dazu passendes Sporthemd an. Er summte vergnügt vor sich hin und dachte an denbevorstehenden Abend. Seit einiger Zeit hatte er eine unglaubliche Glückssträhnebeim Pokern. Man könnte auch sagen, daß mein ganzes Leben eine Glückssträhne ist, dachte er.

Wenn jemand in New Orleans eine juristische Gefälligkeitbrauchte, ging er zu Perry Pope. Seine Macht verdankte er den gutenBeziehungen, die er zu Orsatti unterhielt. Man kannte ihn als den» Arrangeur«, und tatsächlich konnte er alles richten — vom Strafzettel über eine Anzeige wegen Drogenhandelsbis hin zur Mordanklage. Das Leben war einfach herrlich.

Anthony Orsattibrachte einen neuen Gast mit.»Joe Romano spielt nicht mehr mit«, erklärte er.»Aber Kommissar Newhouse kennt ihr ja auch alle.«

Die Männer schüttelten sich reihum die Hand.

«Die Drinks stehen auf dem Sideboard, meine Herren«, verkündete Perry Pope.»Essen gibt's später. Ja, wollen wir dann mal?«

Die Männer nahmen ihre gewohnten Plätze am grünen Spieltisch ein. Orsatti deutete auf Joe Romanos leeren Stuhl und sagte zu Kommissar Newhouse:»Da sitzen Sie jetzt, Mel.«

Während einer der Männer die Karten aufdeckte, verteilte Pope die Pokerchips. Er erklärte Kommissar Newhouse:»Die schwarzen Chips sind fünf Dollar wert, die roten zehn, dieblauen fünfzig und die weißen hundert. Jeder kauft erst einmal Chips für fünfhundert Dollar. Wir steigern die Einsätze dreimal. Der Kartengeberbestimmt, was gespielt wird.«

«Mir soll's recht sein«, sagte der Kommissar.

Anthony Orsatti war übler Laune.»Los, fangen wir an. «Seine Stimme war ein ersticktes Flüstern. Kein gutes Zeichen.

Orsattibrütete schwarze Gedanken: Ich war zu Joe Romano wie ein Vater. Ich habihm vertraut, ich habihn zu meiner rechten Hand gemacht. Und das Schwein hat mich austricksen wollen. Wenn mich diese hysterische französische Tante nicht angerufen hätte, hätte er's vielleicht auch geschafft. Na, jetzt schafft er's jedenfalls nicht mehr. Nicht da, wo er ist. Er hat sich ja für so schlau gehalten. Dann soll er mal versuchen, ober die Fischebescheißen kann.

«Tony, spielst du oder paßt du?«

Orsatti konzentrierte sich wieder auf das Spiel. An diesem Tisch waren ungeheure Summe gewonnen und verloren worden. Es regte Anthony Orsatti immer auf, wenn er verlor, und das hatte nichts mit Geld zu tun. Er konnte einfach nicht verlieren. Er hielt sich für den geborenen Gewinner. Nur Leute dieses Schlagesbrachten es zu einer solchen Position wie er. In den letzten sechs Wochen hatte Perry Pope eine irrwitzige Glückssträhnebeim Pokern gehabt, und Anthony Orsatti war fest entschlossen, ihr heute ein Ende zu machen.

Aber wie er's auch anstellte — er verlor. Er erhöhte die Einsätze, spielte äußerst gewagt, versuchte mit allen Mitteln, seine Verluste wieder hereinzuholen. Als sie gegen 24 Uhr aufhörten, um sich mit einem Imbiß zu stärken, hatte Orsatti 50.000 Dollar verloren. Und der strahlende Gewinner hieß Perry Pope.

Das Essen war vorzüglich. Normalerweise ließ sich Orsatti den Imbiß gut schmecken, aber heute war er ungeduldig, wollte möglichstbald weiterspielen.

«Du ißt ja gar nichts, Tony«, sagte Perry Pope.

«Ich habkeinen Hunger. «Orsatti griff nach der silbernen Kanne zu seiner Rechten, goß sich Kaffee in eine Porzellantasse und nahm wieder am Spieltisch Platz. Er sah den anderenbeim Essen zu und hatte nur den Wunsch, daß

sie sichbeeilen sollten. Erbrannte darauf, sein Geld zurückzugewinnen. Als er seinen Kaffee umrührte, fiel irgend etwas in seine Tasse. Angewidert fischte er es mit dem Löffel heraus undbetrachtete es. Schien ein Stück Putz zu sein. Erblickte zur Decke empor, und nun traf einBrocken seine Stirn. Plötzlichbemerkte er auch ein huschendes Geräusch über sich.

«Was ist denn da oben los, verdammt noch mal?«fragte Anthony Orsatti.

Perry Pope war gerade dabei, Kommissar Newhouse eine lustige Geschichte zu erzählen.»Verzeihung… was hast du gesagt, Tony?«

Das Geräusch war jetzt deutlicher vernehmbar. Kleine Stücke Putzbegannen auf den grünen Filz des Spieltisches zu rieseln.

«Hört sich so an, als hätten Sie Mäuse im Haus«, sagte der Senator.

«In diesem Haus gibt es keine Mäuse«, erwiderte Perry Pope empört.

«Aber irgendwas hast du hier, das ist sicher«, knurrte Orsatti.

Ein größeres Stück Putz fiel auf den Spieltisch.

«Ich lasse André mal nachsehen«, sagte Pope.»Wenn wir jetzt alle fertig gegessen haben, könnten wir ja weiterspielen, okay?«

Anthony Orsatti starrte zu dem kleinen Loch in der Decke empor, das sich direkt über seinem Kopfbefand.

«Moment. Erst gehen wir nach oben und schauen, was da ist.«

«Warum, Tony? André kann doch…«

Orsatti warbereits aufgestanden und schritt auf die Treppe zu. Die anderenblickten sich an. Dann eilten sie ihm nach.

«Wahrscheinlich hat sich ein Eichhörnchen in den Speicher verirrt«, vermutete Perry Pope.»Um diese Jahreszeit sind die hier überall. Es versteckt wohl seine Nüsse für den Winter. «Er

lachte über seinen kleinen Scherz.

Orsatti stieß die Speichertür auf, und Perry Pope knipste das Licht an. Sie sahen flüchtig zwei Hamster, die hektisch durch den Raum sausten.

«Heiliger Gott!«sagte Perry Pope.»Ich habRatten im Haus!«

Anthony Orsatti hörte nicht hin. Er stierte in den Speicher, in dessen Mitte ein Campingstuhl mit einem Stullenpaket und zwei offenenBierdosen stand. Gleich daneben auf demBoden lag ein Feldstecher.

Orsatti tat ein paar Schritte in den Raum, griff sich die Gegenstände undbetrachtete sie gründlich der Reihe nach. Dann kniete er auf dem staubigenBoden nieder, entfernte den kleinen, hölzernen Pfropfen von dem Guckloch, das in die Decke gebohrt worden war, und lugte durch das Guckloch. Direkt unter ihmbefand sich der Spieltisch. Er war deutlich zu erkennen.

Perry Pope stand wie vom Donner gerührt in der Mitte des Speichers.»Wer hat denn diesen ganzen Plunder hier raufgebracht, verdammt noch mal? Ich werde André die Hölle heiß machen!«

Orsatti erhobsich langsam und wischte den Staubvon seiner Hose.

Perry Popeblickte auf denBoden.»Sieh dir das an!«rief er.»Die haben ein Loch in die Decke gemacht. Also, diese Handwerker sind wirklich der letzte Dreck.«

Er ging in die Hocke und warf einenBlick durch das Loch. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er stand wieder auf undblickte wild in die Runde. Die Männer starrten ihn schweigend an.

«He!«sagte Perry Pope.»Ihr denkt doch nicht etwa, daß ich…? Also, nun aber, ihr kennt mich doch, Leute. Ich habe nichts damit zu tun. Ich würde euch doch nie im Lebenbemogeln. Herrgott, wir sind ja schließlich Freunde!«Er führte

ruckartig die rechte Hand zum Mund undbegann wie rasend an seinen Fingernägeln zu knabbern.

Orsatti tätschelte ihm den Arm.»Nur ruhigBlut, mein Junge. «Seine Stimme war fast unhörbar.

Perry Pope kaute verzweifelt auf dembloßen Fleisch seines rechten Daumens herum.

14

«Zwei sind schon k. o., Tracy«, gluckste Ernestine Littlechap.»Wie man hört, arbeitet dein Freund Perry Pope nicht mehr als Rechtsverdreher. Er hatte 'nbösen Unfall.«

Tracy und Ernestine saßen in einem kleinen Straßencafé in der Nähe der Royal Street, tranken Milchkaffee und aßen Croissants.

Ernestine kicherte in den höchsten Tönen.»Dubist echt schlau. Willst du nicht mit mir 'n Geschäft aufmachen?«

«Nein danke, Ernestine. Ich habe andere Pläne.«

Ernestine fragte interessiert:»Wer ist denn der nächste?«

«Richter Henry Lawrence.«

Henry Lawrence hatte seine Karriere als Kleinstadtanwalt in Leesville/Louisianabegonnen. Erbesaß wenig Talent zur Juristerei, aber er hatte zwei wichtige Eigenschaften: Er sah eindrucksvoll aus und er war moralisch flexibel. Seine Philosophie lautete, daß das Gesetz eine dünne Gerte sei, die denBedürfnissen seiner Mandanten gemäß zurechtgebogen werden müsse. Und so nahm es nicht wunder, daß Henry Lawrences Kanzlei, als er nach New Orleans übersiedelte, binnen kurzem dank einer ganz speziellen Klientel zu florierenbegann. Zunächstbefaßte er sich nur mit minder schweren Vergehen und mit Verkehrsstrafsachen, ging dann allmählich zu schweren Vergehen und Kapitalverbrechen über, und als er den Sprung in die renommierten Anwaltsverbände geschafft hatte, war er ein Meister in derBeeinflussung von Geschworenen, Verunglimpfung von Zeugen undBestechung aller Personen, die für» seinen «Fall von Nutzen sein konnten. Kurz, er war der rechte Mann für Anthony Orsatti, und die

Wege derbeiden mußten sich einfach kreuzen. Es war eine Ehe, die im Mafia‑Himmel geschlossen wurde. Lawrence entwickelte sich zum Sprachrohr von Orsattis Organisation, und als die Zeit günstig war, sorgte Orsatti dafür, daß er zum Richter ernannt wurde.

«Ich weiß nicht, wie du den Lawrence drankriegen willst«, sagte Ernestine.»Er ist reich und mächtig und unangreifbar.«

«Er ist reich und mächtig, ja, aber nicht unangreifbar«, korrigierte Tracy ihre Freundin.

Sie hattebereits einen Plan ausgearbeitet, doch als sie imBüro von Richter Lawrence anrief, merkte sie, daß sie ihre Strategie würde ändern müssen.

«Ich möchtebitte mit Richter Lawrence sprechen.«

Eine Sekretärin sagte:»Tut mir leid. Richter Lawrence ist nicht da.«

«Wann kommt er denn zurück?«fragte Tracy.

«Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

«Es ist sehr wichtig. Ist er morgen wieder da?«

«Nein. Er ist verreist.«

«Oh. Kann ich ihn irgendwo erreichen?«

«Leider nicht. Er ist außer Landes.«

Tracy achtete sorgsam darauf, daß man keine Enttäuschung aus ihrer Stimme heraushörte.»Aha. Darf ich fragen, wo er sich aufhält?«

«In Europa. Erbesucht ein internationales Symposion.«

«Das ist ja ein Jammer«, sagte Tracy.

«Wer spricht da, bitte?«

Tracy überlegteblitzschnell.»Mein Name ist Elizabeth Dastin. Ichbin die Vorsitzende der Sektion Süd der American Trial Lawyers' Association. Unser Verband veranstaltet am Zwanzigsten des Monats sein jährliches Festbankett in New Orleans. Das ist immer mit einer Ehrung verbunden, und wir habenbeschlossen, Richter Henry Lawrence zum Mann des

Jahres zu ernennen.«

«Sehr schön«, sagte die Sekretärin,»aber ich fürchte, bis dahin wird er noch nicht zurück sein.«

«Ach, das ist aber schade. Wir haben uns alle schon so sehr auf eine seinerberühmten Reden gefreut. Er ist von unserem Preiskomitee einstimmig gewählt worden.«

«Es wird ihm leid tun, das zu versäumen.«

«Ja, das glaube ich auch. Sie wissen sicher, was für eine große Ehre das ist. Einige der prominentesten Richter dieses Landes sind in der Vergangenheit von uns zum Mann des Jahres ernannt worden… Augenblick mal. Ich habe eine Idee. Meinen Sie, daß Richter Lawrence für uns eine kurze Rede aufBand sprechen könnte… ein paar Dankesworte vielleicht?«

«Das… das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Er hat massenweise Termine, und…«

«Ich darf noch hinzufügen, daß das Fernsehen und die Pressebundesweit in aller Ausführlichkeit darüberberichten werden.«

Schweigen. Richter Lawrences Sekretärin wußte, wie gern sich ihr Chef von den Medien hätscheln ließ. Soweit sie es überblickte, diente die Reise, auf der er sich zur Zeitbefand, hauptsächlich diesem Zweck.

Sie sagte:»Vielleicht kommt er doch dazu, ein paar Worte für Sie aufBand zu sprechen. Ich könnte ihn zumindest fragen.«

«Oh, das wäre wunderbar«, antwortete Tracybegeistert.»Damit wäre der Abend gerettet.«

«Soll Richter Lawrence über irgend etwasBestimmtes sprechen?«

«Ja. Wir stellen uns folgende Thematik vor…«Tracy zögerte.»Das ist leider etwas kompliziert. Es wärebesser, wenn ich es ihm direkt erklären könnte.«

Wieder Schweigen. Die Sekretärin war in der Zwickmühle. Einerseits hatte sie Weisung, die Reiseroute ihres Chefs nicht

zu verraten. Andererseits sah es ihm ähnlich, daß er sie mitBeschimpfungen überschütten würde, wenn ihm eine so wichtige Ehrung entging.

Sie sagte:»Eigentlichbin ich nichtbefugt, Informationen zu geben. Aber wenn ich in diesem Fall eine Ausnahme mache, ist ihm das sicher recht. Sie können ihn in Moskau erreichen, im Hotel Rossija. Da ist er die nächsten fünf Tage, und danach…«

«Wunderbar. Ich werde sofort Kontakt zu ihm aufnehmen. Vielen herzlichen Dank.«

«Ich habe zu danken, Miß Dastin.«

Die Telegramme waren an Richter Henry Lawrence, Hotel Rossija, Moskau, gerichtet. Das erste lautete folgendermaßen:

NÄCHSTES AUSSERORDENTLICHES FORTBILDENDES TREFFEN

DER RICHTER NUNMEHR ARRANGIERT.

TEILT UNS MIT, WIEVIEL ZIMMER, DA DIESEBESTELLT WERDEN

MÜSSEN.

BORIS

Das zweite Telegramm traf tags darauf ein:

RAT ERBETENBETREFFEND REISEPLÄNE.

FLUGZEUG DER SCHWESTER SICHER, WENN AUCH

VERSPÄTET EINGETROFFEN.

PASS VERLOREN UND GELD.

SCHWESTER WIRD DEMNÄCHST UNTERGEBRACHT IN SEHR

SCHÖNEM SCHWEIZER HOTEL.

DURCH DIEBANK ERSTKLASSIGES HAUS.

BORIS

Das dritte Telegramm lautete:

PASS FÜR SCHWESTERBESCHAFFT ÜBER AMERIKANISCHE

BOTSCHAFT.

NEUE VISA NICHT EINGETROFFEN.

INFORMATIONEN LEIDER NICHT VERFÜGBAR ÜBER DIE

AMERIKANISCHEBOTSCHAFT.

RUSSISCHES KONSULAT MÖCHTE SCHWESTER AUSBOOTEN.

BORIS

Das KGBwartete ab, obweitere Telegramme kamen. Dies war nicht der Fall, und Richter Henry Lawrence wurde verhaftet.

Das Verhör dauerte zehn Tage und zehn Nächte.

«An wen haben Sie die Informationen weitergeleitet?«

«Was für Informationen? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

«Von den Plänen. Wer hat Ihnen die Pläne gegeben?«

«Was für Pläne?«

«Die von unserem Atom‑U — Boot.«

«Sie sind nicht rechtbei Verstand. Was weiß ich denn von sowjetischen Atom‑U — Booten?«

«Das wollen wir ja gerade herausfinden. Mit wem hatten Sie diese geheimen Treffen?«

«Was für geheime Treffen? Ich habe keine Geheimnisse.«

«Na schön. Dann verraten Sie uns vielleicht, werBoris ist.«

«Boris?«

«Der Mann, der Geld auf Ihr Schweizer Konto eingezahlt hat.«

«Was für ein Schweizer Konto?«

Die Leute vom Geheimdienst waren wütend.»Sie sind ein starrköpfiger Idiot«, sagten sie zu Richter Henry Lawrence.»Wir werden an Ihnen ein Exempel statuieren, um all die anderen amerikanischen Spione abzuschrecken, die die UdSSR unterminieren wollen.«

Als es dem amerikanischenBotschafter gestattet wurde,

seinen Landsmann zubesuchen, hatte Richter Henry Lawrence fünfzehn Pfund abgenommen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann ihn seine Häscher zum letzten Mal hatten schlafen lassen, und er war nur noch ein Wrack.

«Warum machen die das mit mir?«jammerte der Richter.»Ichbin amerikanischer Staatsbürger. Ichbin Richter. Holen Sie mich hier raus, um Gottes willen!«

«Ich tue, was ich kann«, versicherte derBotschafter. Lawrences Aussehen schockierte ihn. Er hatte Lawrence und die anderen Mitglieder der Juristendelegationbegrüßt, als sie vor zwei Wochen in der Sowjetunion eingetroffen waren. Der Mann, dem derBotschafter damals die Hand geschüttelt hatte, besaß keinerlei Ähnlichkeit mit der erbärmlichen, verängstigten Kreatur, die ihm jetzt gegenübersaß.

Verflucht, was führen die Russen diesmal im Schild? fragte sich derBotschafter. Der Richter ist ebensowenig ein Spion wie ich. Dann dachte er sarkastisch: Na, da hätte ich mir vielleicht einbesseresBeispiel einfallen lassen sollen.

DerBotschafter forderte ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Politbüros, und als ihm dies verweigert wurde, beschied er sich mit einem der Minister.

«Ich möchte hiermit in aller Form protestieren«, sagte derBotschafter aufgebracht.»Es ist unverzeihlich, wie Ihr Land Richter Henry Lawrencebehandelt. Und es ist lächerlich, einen Mann von seinem Format der Spionage zubezichtigen.«

«Wenn Sie jetzt fertig sind«, entgegnete der Minister kühl,»dann schauen Sie sich das mal an, bitte.«

Er überreichte demBotschafter Fotokopien der Telegramme.

DerBotschafter las sie undblickte verwirrt auf.»Na, und? Die sind doch völlig harmlos?!«

«Wirklich? Dann lesen Sie siebitte noch einmal. Dechiffriert. «Der Minister gabdemBotschafter einen weiteren Satz Fotokopien. Jedes vierte Wort war ganz oder teilweise unterstrichen.

NÄCHSTES AUSSERORDENTLICHES FORTBILDENDES TREFFEN

DER RICHTER NUNMEHR ARRANGIERT.

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BORIS

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Ich werd verrückt, dachte derBotschafter.

Der Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Der Gefangenebliebverstocktbis zuletzt undbestritt hartnäckig, daß sein Aufenthalt in der Sowjetunion Spionagezwecken diente. Die Anklage stellte ihm ein mildes Urteil in Aussicht, wenn er offenbarte, wer seine Auftraggeber waren, und Richter Lawrence hätte es nur zu gern offenbart, doch das konnte er leider nicht.

Am Tag nach dem Prozeß wurde in der Prawda mit ein paar Zeilen gemeldet, daß ein fragwürdiger Gast aus Amerika,

Richter Henry Lawrence, der Spionage überführt und zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden sei.

Die amerikanischen Geheimdienste standen, was den Fall Lawrencebetraf, vor einem Rätsel. Gerüchte kursiertenbei der CIA, dem FBI, dem Secret Service und im Finanzministerium.

«Von uns ist er nicht«, sagte die CIA.»Wahrscheinlich hat er fürs Finanzministerium gearbeitet.«

Das Finanzministerium stellte jede Kenntnis von der Affäre in Abrede.»Nein, nichts da. Das ist nicht unserBier. Vermutlich wildert das verdammte FBI mal wieder in fremden Revieren.«

«Nie von ihm gehört«, hieß esbeim FBI.»Der ist wohl vom Secret Service oder von der Defense Intelligence Agency.«

Die Defense Intelligence Agency, die ebenso im dunkeln tappte wie die anderen Geheimdienste, ließ schlau verlauten:»Kein Kommentar. «Und alle waren sicher, daß die Konkurrenz Richter Henry Lawrence ins Ausland geschickt hatte.

«Hut abvor dem Mann«, sagte der Chef der CIA.»Der ist zäh. Er hat nicht gestanden, und er hat keine Namen genannt. Ich wollte, wir hätten mehr Leute wie ihn.«

Es lief alles nicht so, wie es sollte, und Anthony Orsatti wußte nicht, warum. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Pech. Erst Joe Romanos Verrat, dann die Sache mit Perry Pope, und nun war auch noch der Richter fort, in irgendeineblödsinnige Spionageaffäre verwickelt… Auf diese Männer hatte der Capo gebaut, ohne sie hatte seine MaschineBetriebsstörungen.

Joe Romano war der große Organisator der Familie gewesen, und Orsatti hatte niemanden gefunden, der seine Nachfolge antreten konnte. Die Geschäfte wurden schludrig geführt, und plötzlichbeschwerten sich Leute, die es nie gewagt hatten, den Mund aufzumachen. Man munkelte, Tony

Orsatti werde alt, er könne seine Leute nicht mehr disziplinieren, seine Organisation zerfalle.

Den letzten Stoß versetzte ihm ein Anruf aus New Jersey.

«Wir haben gehört, du hast Schwierigkeiten, Tony. Wir würden dir gern helfen.«

«Quatsch, ich habkeine Schwierigkeiten«, erwiderte Orsatti aufgebracht.»Sicher, ich hatte in letzter Zeit 'n paar kleine Probleme, aber jetzt ist alles wieder okay.«

«Wir haben da was anderes gehört. Es heißt, daß deine Stadt außer Rand undBand ist, daß niemand sie unter Kontrolle hat.«

«Ich habsie unter Kontrolle.«

«Aber es könnte ja sein, daß es dir zuviel wird. Vielleichtbist du überarbeitet. Vielleichtbrauchst du 'nbißchen Ruhe.«

«Das ist meine Stadt. Die laß ich mir nicht wegnehmen.«»He, Tony, wer hat denn was von Wegnehmen gesagt? Wir wollen dirbloß unter die Arme greifen. Die Familien hier im Osten haben sich zusammengesetzt, und wir habenbeschlossen, daß wir dir 'n paar Leute schicken. Die sollen dir eine kleine Hilfe sein. Da ist doch nichts dabei unter alten Freunden, oder?«

Orsatti lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Es war nur eins dabei: Aus der kleinen Hilfe würde eine große Hilfe werden und aus dem Schneeball eine Lawine.

Ernestine hatte zum Abendessen Fischsuppe gemacht, und die Suppe köchelte auf dem Herd, während Tracy und sie auf AI warteten. Die Septemberhitze ging allen Leuten auf die Nerven, und als AI schließlich in die kleine Wohnung trat, schrie Ernestine:»Wo warst du denn, verdammt noch mal? Die Suppe ist fast sauer geworden, und ichbin's schon lang!«

Aber AI war in einer solchen Hochstimmung, daß er sich von Ernestines Schimpferei nichtbeeindrucken ließ.»Ich habmich umgehört, Frau. Und jetzt paßt mal auf, was ich rausgekriegt

habe. «Er wandte sich Tracy zu.»Die Mafia tritt Orsatti auf die Zehen. Die Familie aus New Jersey kommt hierher und übernimmt die Stadt. «Er verzog das Gesicht zu einembreiten Grinsen.»Du hast ihn erledigt, den alten Drecksack!«Erblickte Tracy in die Augen, und sein Grinsen verschwand.»Bist du da nicht glücklich, Tracy?«

Was für ein seltsames Wort, dachte Tracy. Glücklich. Sie hatte vergessen, was esbedeutete. Sie fragte sich, obsie je wieder glücklich sein, obsie je wieder normale Gefühle empfinden würde. Seit langer, langer Zeit hatte sie nur an Rache gedacht — Rache für das, was man ihrer Mutter und ihr selbst angetan hatte. Jetzt war das Werk fast abgeschlossen, und Tracy spürte nichts als eine innere Leere.

Am nächsten Morgen ging Tracy in einBlumengeschäft.»Ich möchte, daß Sie etwas an Anthony Orsatti liefern. Einen Grabkranz mit weißen Nelken. Dazu einebreite Kranzschleife. Auf der Schleife soll >Ruhe in Frieden< stehen. «Tracy schriebeinBegleitkärtchen: Von Doris Whitneys Tochter.

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