Krabat Otfried Preußler

Das erste Jahr

Die Mühle im Koselbruch

Es war in der Zeit zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag. Krabat, ein Junge von vierzehn Jahren damals, hatte sich mit zwei anderen wendischen Betteljungen zusammengetan, und obgleich Seine allerdurchlauchtigste Gnaden, der Kurfürst von Sachsen, das Betteln und Vagabundieren in Höchstderoselben Landen bei Strafe verboten hatten (aber die Richter und sonstigen Amtspersonen nahmen es glücklicherweise nicht übermäßig genau damit), zogen sie als Dreikönige in der Gegend von Hoyerswerda von Dorf zu Dorf: Strohkränze um die Mützen waren die Königskronen; und einer von ihnen, der lustige kleine Lobosch aus Maukendorf, machte den Mohrenkönig und schmierte sich jeden Morgen mit Ofenruß voll. Stolz trug er ihnen den Bethlehemstern voran, den Krabat an einen Stecken genagelt hatte.

Wenn sie auf einen Hof kamen, nahmen sie Lobosch in die Mitte und sangen: »Hosianna Davidssohn!« - das heißt: Krabat bewegte nur stumm die Lippen, weil er gerade im Stimmbruch war. Dafür sangen die anderen Hoheiten um so lauter, da glich sich das wieder aus.

Viele Bauern hatten auf Neujahr ein Schwein geschlachtet, sie beschenkten die Herren Könige aus dem Morgenland reichlich mit Wurst und Speck. Anderswo gab es Äpfel, Nüsse und Backpflaumen, Honigbrot manchmal und Schmalzküchlein, Anisplätzchen und Zimtsterne. »Das Jahr fängt gut an!« meinte Lobosch am Abend des dritten Tages, »so dürfte es bis Silvester weitergehen!« Da nickten die beiden anderen Majestäten gemessen und seufzten: »Von uns aus - gern!«

Die folgende Nacht verbrachten sie in der Schmiede von Petershain auf dem Heuboden; dort geschah es, daß Krabat zum erstenmal jenen seltsamen Traum hatte.

Elf Raben saßen auf einer Stange und blickten ihn an. Er sah, daß ein Platz auf der Stange frei war, am linken Ende. Dann hörte er eine Stimme. Die Stimme klang heiser, sie schien aus den Lüften zu kommen, von fernher, und rief ihn bei seinem Namen. Er traute sich nicht zu antworten. »Krabat!« erscholl es zum zweitenmal - und ein drittesmal: »Krabat!« Dann sagte die Stimme: »Komm nach Schwarzkollm in die Mühle, es wird nicht zu deinem Schaden sein!« Hierauf erhoben die Raben sich von der Stange und krächzten: »Gehorche der Stimme des Meisters, gehorche ihr!«

Davon erwachte Krabat. »Was man nicht alles zusammenträumt!« dachte er, wälzte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Anderntags zog er mit seinen Gefährten weiter, und wenn ihm die Raben einfielen, lachte er.

Doch der Traum wiederholte sich in der Nacht darauf. Abermals rief ihn die Stimme beim Namen, und abermals krächzten die Raben: »Gehorche ihr!« Das gab Krabat zu denken. Er fragte am anderen Morgen den Bauern, bei dem sie genächtigt hatten, ob er ein Dorf kenne, das Schwarzkollm heiße oder so ähnlich.

Der Bauer entsann sich, den Namen gehört zu haben.

»Schwarzkollm ...«, überlegte er. »Ja doch - im Hoyerswerdaer Forst, an der Straße nach Leippe: da gibt es ein Dorf, das so heißt.«

Das nächstemal übernachteten die Dreikönige in Groß-Partwitz. Auch hier träumte Krabat den Traum von den Raben und von der Stimme, die aus den Lüften zu kommen schien; und es spielte sich alles genauso ab wie beim ersten und zweiten Mal. Da beschloß er, der Stimme zu folgen. Im Morgengrauen, als die Gefährten noch schliefen, stahl er sich aus der Scheune. Am Hoftor begegnete er der Magd, die zum Brunnen ging. »Grüß mir die beiden«, trug er ihr auf, »ich hab wegmüssen.«

Von Dorf zu Dorf fragte Krabat sich weiter. Der Wind trieb ihm Schneekörner ins Gesicht, alle paar Schritte mußte er stehenbleiben und sich die Augen wischen. Im Hoyerswerdaer Forst verlief er sich, brauchte zwei volle Stunden, bis er die Straße nach Leippe wiederfand. So kam es, daß er erst gegen Abend sein Ziel erreichte.

Schwarzkollm war ein Dorf wie die anderen Heidedörfer: Häuser und Scheunen in langer Zeile zu beiden Seiten der Straße, tief eingeschneit; Rauchfahnen über den Dächern, dampfende Misthaufen, Rindergebrüll. Auf dem Ententeich liefen mit lautem Gejohle die Kinder Schlittschuh.

Vergebens hielt Krabat Ausschau nach einer Mühle. Ein alter Mann, der ein Bündel Reisig trug, kam die Straße herauf: den fragte er.

»Wir haben im Dorf keine Mühle«, erhielt er zur Antwort.

»Und in der Nachbarschaft?«

»Wenn du die meinst...« Der Alte deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Im Koselbruch hinten, am Schwarzen Wasser, da gibt es eine. Aber...« Er unterbrach sich, als habe er schon zuviel gesagt.

Krabat dankte ihm für die Auskunft, er wandte sich in die Richtung, die ihm der Alte gewiesen hatte. Nach wenigen Schritten zupfte ihn wer am Ärmel; als er sich umblickte, war es der Mann mit dem Reisigbündel.

»Was gibt's?« fragte Krabat.

Der Alte trat näher, sagte mit ängstlicher Miene: »Ich möchte dich warnen, Junge. Meide den Koselbruch und die Mühle am Schwarzen Wasser, es ist nicht geheuer dort...«

Einen Augenblick zögerte Krabat, dann ließ er den Alten stehen und ging seines Weges, zum Dorf hinaus. Es wurde rasch finster, er mußte achtgeben, daß er den Pfad nicht verlor, ihn fröstelte. Wenn er den Kopf wandte, sah er dort, von woher er kam, Lichter aufschimmern: hier eines, da eines.

Ob es nicht klüger war umzukehren?

»Ach was«, brummte Krabat und klappte den Kragen hoch. »Bin ich ein kleiner Junge? Ansehen kostet nichts.«

Krabat tappte ein Stück durch den Wald wie ein Blinder im Nebel, dann stieß er auf eine Lichtung. Als er sich anschickte, unter den Bäumen hervorzutreten, riß das Gewölk auf, der Mond kam zum Vorschein, alles war plötzlich in kaltes Licht getaucht.

Jetzt sah Krabat die Mühle.

Da lag sie vor ihm, in den Schnee geduckt, dunkel, bedrohlich, ein mächtiges, böses Tier, das auf Beute lauert.

»Niemand zwingt mich dazu, daß ich hingehe«, dachte Krabat. Dann schalt er sich einen Hasenfuß, nahm seinen Mut zusammen und trat aus dem Waldesschatten ins Freie. Beherzt schritt er auf die Mühle zu, fand die Haustür verschlossen und klopfte.

Er klopfte einmal, er klopfte zweimal: nichts rührte sich drinnen. Kein Hund schlug an, keine Treppe knarrte, kein Schlüsselbund rasselte - nichts.

Krabat klopfte ein drittesmal, daß ihn die Knöchel schmerzten.

Wieder blieb alles still in der Mühle. Da drückte er probehalber die Klinke nieder: die Tür ließ sich öffnen, sie war nicht verriegelt, er trat in den Hausflur ein.

Grabesstille empfing ihn und tiefe Finsternis. Hinten jedoch, am Ende des Ganges, etwas wie schwacher Lichtschein. Der Schimmer von einem Schimmer bloß.

»Wo Licht ist, werden auch Leute sein«, sagte sich Krabat.

Die Arme vorgestreckt, tastete er sich weiter. Das Licht drang, er sah es im Näherkommen, durch einen Spalt in der Tür, die den Gang an der Rückseite abschloß. Neugier ergriff ihn, auf Zehenspitzen schlich er sich zu der Ritze und spähte hindurch.

Sein Blick fiel in eine schwarze, vom Schein einer einzigen Kerze erhellte Kammer. Die Kerze war rot. Sie klebte auf einem Totenschädel, der lag auf dem Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. Hinter dem Tisch saß ein massiger, dunkelgekleideter Mann, sehr bleich im Gesicht, wie mit Kalk bestächen; ein schwarzes Pflaster bedeckte sein linkes Auge. Vor ihm auf dem Tisch lag ein dickes, in Leder eingebundenes Buch, das an einer Kette hing: darin las er.

Nun hob er den Kopf und starrte herüber, als habe er Krabat hinter dem Türspalt ausgemacht. Der Blick ging dem Jungen durch Mark und Bein. Das Auge begann ihn zu jucken, es tränte, das Bild in der Kammer verwischte sich.

Krabat rieb sich das Auge - da merkte er, wie sich ihm eine eiskalte Hand auf die Schulter legte, von hinten, er spürte die Kälte durch Rock und Hemd hindurch. Gleichzeitig hörte er jemand mit heiserer Stimme auf wendisch sagen:

»Da bist du ja!«

Krabat zuckte zusammen, die Stimme kannte er. Als er sich umwandte, stand er dem Mann gegenüber - dem Mann mit der Augenklappe.

Wie kam der auf einmal hierher? Durch die Tür war er jedenfalls nicht gekommen.

Der Mann hielt ein Kerzenlicht in der Hand. Er musterte Krabat schweigend, dann schob er das Kinn vor und sagte:

»Ich bin hier der Meister. Du kannst bei mir Lehrjunge werden, ich brauche einen. Du magst doch?«

»Ich mag«, hörte Krabat sich antworten. Seine Stimme klang fremd, als gehörte sie gar nicht ihm.

»Und was soll ich dich lehren? Das Müllern - oder auch alles andere?« wollte der Meister wissen.

»Das andere auch«, sagte Krabat.

Da hielt ihm der Müller die linke Hand hin.

»Schlag ein!«

In dem Augenblick, da sie den Handschlag vollzogen, erhob sich ein dumpfes Rumoren und Tosen im Haus. Es schien aus der Tiefe der Erde zu kommen. Der Fußboden schwankte, die Wände fingen zu zittern an, Balken und Pfosten erbebten.

Krabat schrie auf, wollte weglaufen: weg, bloß weg von hier! - doch der Meister vertrat ihm den Weg.

»Die Mühle!« rief er, die Hände zum Trichter geformt. »Nun mahlt sie wieder!«

Elf und einer

Der Meister bedeutete Krabat, er möge mitkommen. Wortlos leuchtete er dem Jungen über die steile Holztreppe auf den Dachboden, wo die Mühlknappen ihren Schlafraum hatten. Krabat erkannte im Schein der Kerze zwölf niedrige Pritschen mit Strohsäcken, sechs auf der einen Seite des Mittelganges, sechs auf der anderen; neben jeder ein Spind und ein Hocker aus Fichtenholz. Auf den Strohsäcken lagen zerknüllte Decken, im Gang ein paar umgeworfene Schemel, auch Hemden und Fußlappen da und dort. Dem Anschein nach waren die Mühlknappen überstürzt aus den Betten geholt worden, an die Arbeit.

Ein einziger Schlafplatz war unberührt, der Meister deutete auf das Kleiderbündel am Fußende. »Deine Sachen!« Dann machte er kehrt und entfernte sich mit dem Licht.

Nun stand Krabat allein in der Finsternis. Langsam begann er sich auszuziehen. Als er die Mütze vom Kopf nahm, berührte er mit den Fingerspitzen den Strohkranz: Ach richtig, noch gestern war er ja ein Dreikönig gewesen - wie weit lag das hinter ihm.

Auch der Dachboden hallte vom Poltern und Stampfen der Mühle wider. Ein Glück für den Jungen, daß er zum Umfallen müde war. Kaum lag er auf seinem Strohsack, da schlief er schon. Wie ein Klotz schlief er, schlief und schlief - bis ein Lichtstrahl ihn weckte.

Krabat setzte sich auf und erstarrte vor Schreck.

Es standen elf weiße Gestalten an seinem Lager, die blickten im Schein einer Stallaterne auf ihn herunter: elf weiße Gestalten mit weißen Gesichtern und weißen Händen.

»Wer seid ihr?« fragte der Junge ängstlich.

»Das, was auch du bald sein wirst«, gab eins der Gespenster zur Antwort.

»Aber wir tun dir nichts«, fügte ein zweites hinzu. »Wir sind hier die Mühlknappen.«

»Elf seid ihr?«

»Du bist der zwölfte. Wie heißt du denn?«

»Krabat. - Und du?«

»Ich bin Tonda, der Altgesell. Dies ist Michal, dies Merten, dies Juro ...« Tonda nannte der Reihe nach ihre Namen; dann meinte er, daß es genug sei für heute. »Schlaf weiter, Krabat, du wirst deine Kräfte noch brauchen können auf dieser Mühle.«

Die Müllerburschen krochen auf ihre Pritschen, der letzte pustete die Laterne aus - gute Nacht, und schon schnarchten sie.

Zum Frühstück versammelten sich die Mühlknappen in der Gesindestube. Sie saßen zu zwölft um den langen Holztisch, es gab eine fette Hafergrütze, je vier der Gesellen aßen aus einer Schüssel. Krabat war hungrig, er machte sich über die Grütze her wie ein Scheunendrescher. Hielten Mittagessen und Abendbrot, was das Frühstück versprach, dann ließ es sich auf der Mühle leben.

Tonda, der Altgesell, war ein stattlicher Bursche mit dichtem, eisgrauem Haar; doch schien er noch keine dreißig zu sein, dem Gesicht nach. Ein großer Ernst ging von Tonda aus, genauer: von seinen Augen. Krabat faßte vom ersten Tag an Vertrauen zu ihm; seine Gelassenheit und die freundliche Art, wie er ihn behandelte, nahmen ihn für ihn ein.

»Ich hoffe, wir haben dich heute nacht nicht zu sehr erschreckt«, wandte Tonda sich an den Jungen.

»Nicht allzu sehr«, sagte Krabat.

Besah er sich die Gespenster bei Tageslicht, waren es Burschen wie tausend andere. Alle elf sprachen wendisch und waren um einige Jahre älter als Krabat. Wenn sie ihn anblickten, so geschah das nicht ohne Mitleid, wie er zu spüren meinte. Das wunderte ihn, doch er dachte sich weiter nichts dabei.

Was ihm zu denken gab, waren die Kleider, die er am Ende der Pritsche gefunden hatte: getragene Sachen zwar, doch sie paßten ihm auf den Leib wie für ihn geschneidert. Er fragte die Burschen, woher sie das Zeug denn hätten und wem es zuvor gehört habe; aber er hatte die Frage kaum ausgesprochen, da ließen die Müllergesellen die Löffel sinken und blickten ihn traurig an.

»Hab ich was Dummes gesagt?« fragte Krabat.

»Nein, nein«, sagte Tonda. »Die Sachen... Sie stammen von deinem Vorgänger.«

»Und?« wollte Krabat wissen. »Warum ist er nicht mehr da? Hat er ausgelernt?«

»Ja, der hat - ausgelernt«, sagte Tonda.

In diesem Augenblick flog die Tür auf. Der Meister trat ein, er war zornig, die Mühlknappen duckten sich. »Schwätzt mir nicht!« fuhr er sie an; und den Blick seines einen Auges auf Krabat gerichtet, fügte er barsch hinzu: »Wer viel fragt, der viel irrt. - Wiederhole das!«

Krabat stammelte: »Wer viel fragt, der viel irrt...«

»Schreib dir das hinter die Ohren!«

Der Meister verließ die Gesindestube - krach! fiel die Tür hinter ihm ins Schloß.

Die Burschen begannen aufs neue draufloszulöffeln, doch Krabat war plötzlich satt. Ratlos starrte er auf die Tischplatte, keiner beachtete ihn.

Oder ja?

Als er aufblickte, schaute Tonda zu ihm herüber und nickte ihm zu - kaum merklich zwar, doch der Junge war dankbar dafür. Es war gut, einen Freund zu haben in dieser Mühle, das spürte er.

Nach dem Frühstück gingen die Mühlknappen an die Arbeit, Krabat verließ mit den anderen die Gesindestube. Im Flur stand der Meister, er winkte ihm mit der Hand, sagte: »Mitkommen!« Krabat folgte dem Müller ins Freie. Die Sonne schien, es war windstill und kalt, an den Bäumen hing Rauhreif.

Der Meister führte ihn hinter die Mühle, dort war eine Tür in der Rückwand des Hauses, die öffnete er. Dann betraten sie miteinander die Mehlkammer, einen niedrigen Raum mit zwei winzigen Fensterchen, blind von Mehlstaub.

Mehlstaub auch auf dem Fußboden, an den Wänden und fingerdick auf dem eichenen Wiegebalken, der unter der Decke hing.

»Ausfegen!« sagte der Meister. Er zeigte auf einen Besen neben der Tür, überließ dann den Jungen sich selbst und ging fort.

Krabat machte sich an die Arbeit. Nach wenigen Besenstrichen war er von einer dichten Staubwolke eingehüllt, einer Wolke aus Mehlstaub.

»So geht das nicht«, überlegte er. »Wenn ich bis hinten durch bin, liegt vorn wieder alles voll. Ich werde ein Fenster öffnen...«

Die Fenster waren von außen zugenagelt, die Tür verriegelt. Da konnte er rütteln und mit den Fäusten dagegenschlagen, soviel er wollte: es half nichts, er war gefangen hier.

Krabat fing an zu schwitzen. Der Mehlstaub verkleisterte ihm das Haar und die Wimpern, er kitzelte in der Nase, er kratzte im Hals. Es war wie ein böser Traum, der kein Ende nahm: Mehlstaub und wieder Mehlstaub in dichten Schwaden, wie Nebel, wie Schneegestöber.

Krabats Atem ging mühsam, er stieß mit der Stirne gegen den Wiegebalken, ihn schwindelte. Sollte er aufgeben?

Doch was würde der Meister sagen, wenn er jetzt einfach den Besen weglegte? Krabat wollte sich's nicht verscherzen mit ihm, nicht zuletzt, weil er Angst hatte um das gute Essen. So zwang er sich weiterzu kehren: von vorne nach hinten, von hinten nach vorn, ohne Unterlaß, Stunde um Stunde.

Bis endlich, nach einer halben Ewigkeit, jemand kam und die Tür aufriß: Tonda.

»Komm raus!« rief er. »Mittag!

Das ließ sich der Junge nicht zweimal sagen, er torkelte an die Luft, holte keuchend Atem. Der Altgesell warf einen Blick in die Mehlkammer, dann erklärte er achselzuckend: »Laß gut sein, Krabat - keinem ergeht es am Anfang besser.«

Er murmelte ein paar unverständliche Worte, er schrieb mit der Hand etwas in die Luft. Da erhob sich der Staub in der Kammer, als bliese aus allen Fugen und Ritzen der Wind hervor. Eine Rauchfahne, weiß, stob zur Tür hinaus - über Krabats Kopf weg, dem Walde zu.

Die Kammer war leergefegt. Blank war sie, bis auf das letzte Stäubchen. Dem Jungen weiteten sich vor Staunen die Augen.

»Wie macht man das?« fragte er.

Tonda blieb ihm die Antwort schuldig, er meinte: »Laß uns ins Haus gehen, Krabat, die Suppe wird kalt!«

Kein Honiglecken

Für Krabat begann eine harte Zeit, der Meister hetzte ihn unbarmherzig zur Arbeit. »Wo steckst du, Krabat? Da sind ein paar Säcke Korn auf den Speicher zu schleppen!« und: »Krabat, komm her! Das Gedreide da, auf dem Schüttboden - schaufle es um, aber richtig von Grund auf, daß es nicht auskeimt!« oder: »Das Mehl, das du gestern gesiebt hast, Krabat, ist voller Spelzen! Du wirst es dir nach dem Abendbrot hernehmen, und bevor es nicht ohne Makel ist, gehst du mir nicht zu Bett!«

Die Mühle im Koselbruch mahlte Tag für Tag, werktags und sonntags, vom frühen Morgen an bis zum Einbruch der Dunkelheit. Nur einmal die Woche, am Freitag, machten die Mühlknappen früher Feierabend als sonst, und samstags begannen sie mit der Arbeit zwei Stunden später.

Wenn Krabat nicht Korn schleppte oder Mehl siebte, mußte er Holz spalten, Schnee räumen, Wasser zur Küche tragen, die Pferde striegeln, Mist aus dem Kuhstall karren - kurzum, es gab immer genug zu tun für ihn;

und des Abends, wenn er dann auf dem Strohsack lag, war er wie gerädert. Das Kreuz tat ihm weh, die Haut an den Schultern war durchgescheuert, Arme und Beine schmerzten ihn, daß es kaum zu ertragen war.

Krabat bewunderte seine Mitgesellen. Das schwere Tagewerk auf der Mühle schien denen nichts auszumachen, keiner ermüdete, keiner klagte, keiner geriet bei der Arbeit in Schweiß oder außer Atem.

Eines Morgens war Krabat damit beschäftigt, den Zugang zum Brunnen freizuschaufeln. Vergangene Nacht über hatte es unablässig geschneit, der Wind hatte Wege und Stege zugeweht. Krabat mußte die Zähne zusammenbeißen, bei jedem Schaufelwurf spürte er einen stechenden Schmerz im Kreuz. Da kam Tonda zu ihm heraus. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie allein waren, legte er ihm die Hand auf die Schulter.

»Nicht aufgeben, Krabat...«

Da war es dem Jungen, als fließe ihm neue Kraft zu. Die Schmerzen waren wie weggeblasen, er packte die Schaufel und hätte mit Feuereifer drauflosgeschippt, wäre Tonda ihm nicht in den Arm gefallen.

»Der Meister darf es nicht merken«, bat er ihn, »und auch Lyschko nicht!«

Lyschko, ein zaundürrer, langer Bursche mit spitzer Nase und scheelem Blick, hatte Krabat vom ersten Tag an nicht übermäßig gefallen: ein Schnüffler, so schien es, ein Ohrenspitzer und Um-die-Ecken- Schleicher, vor dem man sich keinen Augenblick sicher wußte.

»Ist gut«, sagte Krabat und gab sich beim Weiterschaufeln den Anschein, als ob es ihn große Mühe und Überwindung kostete. Bald danach kam, wie zufällig, Lyschko des Weges. »Na, Krabat, wie schmeckt die Arbeit?« »Wie wird sie schon schmecken!« knurrte der Junge. »Friß einen Hundedreck, Lyschko - dann weißt du es.«

Von nun an kam Tonda öfters zu Krabat und legte ihm heimlich die Hand auf. Dann spürte der Junge, wie frische Kraft ihn durchdrang, und die Arbeit, so schwer sie auch sein mochte, ging ihm für eine Weile leicht von der Hand.

Der Meister und Lyschko erfuhren von alledem nichts - und ebensowenig die anderen Müllerburschen: nicht Michal und Merten, die beiden Vettern, von denen der eine so bärenstark war und gutmütig wie der andere; nicht Andrusch, der pockennarbige Spaßvogel, und nicht Hanzo, den sie den Bullen nannten mit seinem Stiernacken und dem kurzgeschorenen Haar; auch Petar nicht, der sich am Feierabend mit Löffelschnitzen die Zeit vertrieb, und nicht Staschko, der Tausendsassa, der flink wie ein Wiesel war und geschickt wie der kleine Affe, den Krabat vor Jahren in Königswartha auf dem Jahrmarkt bestaunt hatte. Kito, der immer mit einer Miene herumlief, als liege ihm ein Pfund Schusternägel im Magen, und Kubo, der Schweigsame, merkten auch nichts davon - und erst recht nicht, versteht sich, der dumme Juro.

Juro, ein stämmiger Bursche mit kurzen Beinen und flachem, von Sommersprossen gesprenkeltem Mondgesicht, war nächst Tonda am längsten im Dienst hier. Zum Müllern taugte er wenig, da er, wie Andrusch zu spötteln pflegte, »zu dumm war, um Kleie und Mehl auseinanderzuhalten«; und daß er nicht längst aus Versehen ins Mahlwerk gestolpert und zwischen die Steine geraten sei: das verdanke er nur dem Umstand, daß Dummheit und Glück ja mit Vorliebe Hand in Hand gingen.

Solche Reden war Juro gewöhnt. Er ließ sich von Andrusch geduldig hänseln; er zog ohne Widerrede den Kopf ein, wenn Kito ihm einer Nichtigkeit halber mit Schlägen drohte; und wenn ihm, was häufig vorkam, die Mühlknappen einen Schabernack spielten, ließ er sich's grinsend gefallen, als wollte er sagen: »Was habt ihr denn - daß ich der dumme Juro bin, weiß ich sowieso.«

Bloß für die Hausarbeit war er nicht zu dumm. Da jemand auch diese Dinge erledigen mußte, waren es alle zufrieden, daß Juro sie ihnen abnahm: das Kochen und Spülen, das Brotbacken und das Heizen, das Fußbodenschrubben und Treppenscheuern, das Staubwischen, Wäschewaschen und Bügeln und alles andere, was es in Küche und Haus zu tun gab. Die Hühner, die Gänse und Schweine versorgte er obendrein.

Wie Juro mit seinen vielen Pflichten zu Rande kam, war dem Jungen ein Rätsel. Die Mitgesellen nahmen dies alles für selbstverständlich, und vollends der Meister behandelte Juro, als ob er der letzte Dreck sei. Krabat fand das nicht richtig, und einmal - da hatte er eine Ladung Holz in die Küche gebracht, und zum Dank steckte Juro ihm, nicht zum erstenmal übrigens, einen Wurstzipfel in die Rocktasche -: einmal sprach er ihn rundheraus darauf an.

»Ich versteh dich nicht, daß du dir alles gefallen läßt.«

»Ich?« fragte Juro verwundert.

»Ja - du!« sagte Krabat. »Der Meister springt mit dir um, daß es eine Schande ist, und die Burschen verspotten dich.«

»Tonda nicht«, wandte Juro ein. »Und du auch nicht.«

»Was ändert das!« widersprach ihm Krabat. »Ich wüßte mir schon zu helfen, wenn ich an deiner Stelle wäre. Ich würde mich wehren, verstehst du, mir nichts mehr gefallen lassen - von Kito nicht, und von Andrusch nicht, und von keinem anderen!«

»Hm«, meinte Juro, sich im Genick kratzend. »Du vielleicht, Krabat - du könntest das... Aber wenn man ein Dummkopf ist?«

»Dann lauf weg!« rief der Junge. »Lauf weg hier - und such dir woanders was, wo du's besser hast!«

»Weglaufen?« Juro wirkte für einen Augenblick gar nicht dumm, nur enttäuscht und müde. »Versuch das mal, Krabat, hier wegzulaufen!«

»Ich hab keinen Grund dazu.«

»Nein«, brummte Juro, »gewiß nicht - und hoffen wir, daß du nie einen haben wirst...«

Er steckte ihm einen Kanten Brot in die andere Rocktasche, winkte ab,

als der Junge ihm danken wollte, und schob ihn zur Tür hinaus: dümmlich grinsend, wie man's von ihm gewohnt war.

Krabat hob Brot und Wurstzipfel bis zum Ende des Tages auf. Bald nach dem Abendessen, während es sich die Müllerburschen in der Gesindestube bequem machten, Petar sein Schnitzzeug hervorholte und die anderen anfingen, sich mit Geschichtenerzählen die Zeit zu vertreiben, entfernte der Junge sich aus der Runde und stieg auf den Dachboden, wo er sich gähnend auf seinen Strohsack warf. Er verzehrte das Brot und die Wurst; und während er auf dem Rücken lag und es sich schmecken ließ, mußte er unwillkürlich an Juro denken - und an das Gespräch, das sie in der Küche geführt hatten.

»Weglaufen?« ging es ihm durch den Kopf. »Wovor denn? Die Arbeit, gewiß, ist kein Honiglecken - und hätte ich Tondas Hilfe nicht, stünde es schlimm um mich. Aber das Essen ist gut und reichlich, ich habe ein Dach überm Kopf - und ich weiß, wenn ich morgens aufstehe, daß mein Schlafplatz mir für den Abend sicher ist: warm und trocken und leidlich weich, ohne Wanzen und Flöhe. Ist das nicht mehr, als ein Betteljunge sich durfte träumen lassen?«

Wege im Traum

Schon einmal war Krabat weggelaufen: bald nach dem Tod seiner Eltern, die letztes Jahr an den Pocken gestorben waren; da hatte ihn der Herr Pastor zu sich genommen, um, wie er sagte, ihn nicht verludern zu lassen - und nichts gegen den Herrn Pastor und seine Frau, die sich immer schon einen Jungen ins Haus gewünscht hatte. Aber für jemand wie Krabat, der seine Jahre in einer lausigen kleinen Hütte verbracht hat, im Hirtenhäusel von Eutrich - für so jemand war es schwer, sich bei Pfarrers einzuleben: von morgens bis abends brav zu sein, nicht zu schimpfen und nicht zu raufen, in weißen Hemden umherzugehen, den Hals gewaschen, das Haar gekämmt, niemals barfuß, mit reinen Händen und saubergekratzten Fingernägeln - und obendrein auch noch deutsch zu sprechen die ganze Zeit, hochdeutsch!

Krabat hatte versucht, was in seinen Kräften stand, eine Woche lang, eine zweite; dann war er den Pfarrersleuten davongelaufen und unter die Betteljungen gegangen. Nicht ausgeschlossen, daß er es auch auf der Mühle im Koselbruch nicht auf ewig aushielt.

»Aber«, beschloß er, sich nach dem letzten Bissen die Lippen leckend, halb schon im Einschlafen, »wenn ich hier ausreiße, muß es Sommer sein ... Eh' die Wiesen nicht blühen, das Korn auf den Feldern nicht stäubt und die Fische im Mühlenweiher nicht schnalzen, bringt mich hier keiner weg...«

Es ist Sommer, die Wiesen blühen, das Korn stäubt, im Mühlenweiher schnalzen die Fische. Krabat hat Streit mit dem Meister gehabt: er hat sich, statt Säcke zu schleppen, im Schatten der Mühle ins Gras gelegt und ist eingeschlafen; der Meister hat ihn dabei ertappt und ihm eins mit dem Knotenstock übergezogen.

»Dir werd ich's austreiben, Bürschlein - am hellichten Tag zu faulenzen!«

Braucht Krabat sich das gefallen zu lassen?

Im Winter vielleicht, als der Eiswind über die Heide fauchte, da hätte er kuschen müssen. Der Meister hat wohl vergessen, daß Sommer ist!

Krabats Entschluß steht fest. Keinen Tag länger bleibt er in dieser Mühle! Er stiehlt sich ins Haus, holt vom Dachboden Rock und Mütze, dann schleicht er davon. Niemand sieht ihn. Der Meister hat sich in seine Stube zurückgezogen, die Fenster sind wegen der Hitze mit Tüchern verhängt; die Mühlknappen arbeiten auf dem Speicher und an den Mahlgängen; selbst Lyschko hat keine Zeit, sich um Krabat zu scheren. Und dennoch fühlt sich der Junge heimlich beobachtet.

Wie er sich umblickt, bemerkt er, daß auf dem Dach des Holzschuppens jemand sitzt und ihn anstarrt: ein struppiger schwarzer Kater, fremd hier - und einäugig.

Krabat bückt sich, er wirft einen Stein nach ihm, scheucht ihn fort.

Dann eilt er im Schutz der Weidenbüsche zum Mühlenweiher. Zufällig sieht er, daß nahe dem Ufer ein feister Karpfen im Wasser steht: einäugig glotzt er zu Krabat empor.

Dem Jungen wird unbehaglich, er hebt einen Stein auf, er schleudert ihn nach dem Fisch. Der Karpfen taucht weg, in die grüne Tiefe hinab.

Nun folgt Krabat dem Schwarzen Wasser bis zu der Stelle im Koselbruch, die sie den Wüsten Plan nennen; dort verweilt er für ein paar Augenblicke an Tondas Grab. Er erinnert sich dunkel, daß sie den Freund eines Wintertages hier draußen begraben mußten.

Er denkt an den Toten - und plötzlich, es trifft ihn so unerwartet, daß ihm das Herz stockt: ein heiseres Krächzen. Auf einer verkrüppelten Föhre am Rand des Planes hockt reglos ein fetter Rabe. Sein Blick ist auf Krabat gerichtet - auch ihm fehlt, der Junge sieht es mit Schaudern, das linke Auge.

Krabat weiß nun, woran er ist. Er besinnt sich nicht lange, er rennt davon: rennt, was die Sohlen halten, am Schwarzen Wasser entlang, bachaufwärts.

Wie er das erstemal anhalten muß, weil er außer Atem ist, schlängelt sich eine Natter durchs Heidekraut, richtet sich zischelnd auf, blickt ihn an - sie ist einäugig! Einäugig ist auch der Fuchs, der ihm aus dem Dickicht entgegenspäht.

Krabat rennt und verschnauft eine Weile, er rennt und verschnauft. Gegen Abend erreicht er das obere Ende des Koselbruchs. Wenn er ins Freie hinaustritt, so hofft er, wird er dem Zugriff des Meisters entronnen sein. Flüchtig taucht er die Hände ins Wasser, netzt Stirn und Schläfen. Dann steckt er das Hemd in die Hosen, es ist ihm beim Laufen herausgerutscht, zieht den Gürtel stramm, bringt die letzten paar Schritte hinter sich - und erschrickt:

Statt, wie erhofft, auf die freie Heide, tritt er auf eine Lichtung hinaus; und mitten auf dieser Lichtung, friedlich im Abendschein, liegt die Mühle.

Der Meister erwartet ihn vor der Haustür. »Na, Krabat«, begrüßt er ihn spöttisch. »Ich wollte schon nach dir suchen lassen.«

Krabat ist wütend, er kann sich das Mißgeschick nicht erklären. Anderntags läuft er wieder weg, diesmal in aller Frühe, vor Tau und Tag - in entgegengesetzter Richtung, zum Wald hinaus, über Felder und Wiesen, durch Dörfer und Weiler. Er springt über Wasserläufe, er watet durch einen Sumpf, ohne Rast, ohne Aufenthalt. Raben, Nattern und Füchse beachtet er nicht; keinen Fisch blickt er an, keine Katze, kein Huhn, keinen Enterich. »Mögen sie einäugig sein oder zweiäugig - oder von mir aus blind«, denkt er. »Diesmal lasse ich mich nicht irremachen!«

Trotzdem steht er am Ende des langen Tages abermals vor der Mühle im Koselbruch. Heut sind es die Mühlknappen, die ihn empfangen: Lyschko mit hämischen Reden, die anderen schweigend und eher mitleidig. Krabat ist der Verzweiflung nahe. Er weiß, daß er aufgeben sollte; aber er will es nicht wahrhaben, er versucht es ein drittes Mal, diese Nacht noch.

Das Weglaufen aus der Mühle fällt ihm nicht schwer - und dann immer dem Nordstern nach! Mag er auch straucheln, mag er sich in der Finsternis Beulen und Schrammen holen: Hauptsache, daß ihn niemand sieht, daß ihn keiner behexen kann...

Unweit von ihm schreit ein Käuzchen, dann streicht eine Eule vorbei; wenig später entdeckt er im Sternenlicht einen alten Uhu: zum Greifen nahe sitzt er auf einem Ast und beobachtet ihn - mit dem rechten Auge, das linke fehlt ihm.

Krabat läuft weiter, er fällt über Wurzeln, er stolpert in einen Wassergraben. Es wundert ihn kaum noch, daß er bei Tagesanbruch zum drittenmal vor der Mühle steht.

Im Haus ist zu dieser Stunde noch alles still, nur Juro rumort in der Küche herum, er hantiert am Herd. Krabat hört ihn und geht hinein.

»Du hast recht gehabt, Juro - man kann hier nicht weglaufen.«

Juro gibt ihm zu trinken, dann meint er: »Du solltest dich erst mal waschen, Krabat.« Er hilft ihm aus seinem nassen, mit Blut und Erde beschmutzten Hemd, er füllt ihm ein Schaff mit Wasser und sagt dann - ernsthaft und ohne sein übliches blödes Grinsen sagt er es: »Was du allein nicht geschafft hast, Krabat - das wäre vielleicht zu schaffen, wenn zwei sich zusammentun. Wollen wir beiden es miteinander versuchen, das nächste Mal?«

Krabat erwachte vom Lärm der Mühlknappen, als sie die Treppe heraufkamen und zu Bett gingen. Deutlich spürte er noch den Wurstgeschmack auf den Lippen: er konnte nicht lange geschlafen haben, auch wenn es zwei Tage und Nächte waren, die er im Traum durchlebt hatte.

Anderntags in der Frühe ergab es sich, daß er für einige Augenblicke mit Juro allein war.

»Ich habe von dir geträumt«, sagte Krabat» »Du hast mir im Traum etwas vorgeschlagen.«

»Ich?« meinte Juro. »Dann wird es ein schöner Blödsinn gewesen sein, Krabat. Am besten, du spuckst darauf!«

Der mit der Hahnenfeder

Die Mühle im Koselbruch hatte sieben Mahlgänge. Sechs wurden ständig benützt, der siebente nie; deshalb nannten sie ihn den Toten Gang. Er befand sich im hinteren Teil der Mahlstube. Anfangs war Krabat der Meinung gewesen, es müsse da wohl ein Zapfen im Kammrad gebrochen, die Antriebswelle verkeilt oder sonstwas am Laufwerk schadhaft sein - da entdeckte er eines Morgens beim Ausfegen, daß auf den Bodenbrettern unter dem Auslauf des Toten Ganges ein wenig Mehl lag. Bei näherem Hinsehen fanden sich auch im Mahlkasten Spuren von frischem Mehl, als habe man ihn nach der Arbeit nicht gründlich genug von außen abgeklopft.

War vergangene Nacht auf dem Toten Mahlgang gemahlen worden? Dann mußte es heimlich geschehen sein, während alles schlief. Oder hatten nicht alle geschlafen in dieser Nacht, tief und fest wie der Junge selbst?

Ihm fiel ein, daß die Mühlknappen heute mit grauen Gesichtern zum Frühstück erschienen waren, hohl um die Augen, und mancher verstohlen gähnend; jetzt kam ihm das reichlich verdächtig vor.

Neugierig stieg er die hölzernen Staffeln zur Bühne hinauf, von der aus das Mahlgut sackweise in die trichterförmige Schütte gekippt wird, aus der es dann über den Rüttelschuh zwischen die Steine läuft. Beim Einkippen läßt es sich nie vermeiden, daß Körner danebenfallen - nur lag kein Getreide unter der Schütte, wie Krabat erwartet hatte. Was da verstreut auf der Bühne umherlag und auf den ersten Blick aussah wie Kieselsteine: beim zweiten zeigte sich's, daß es Zähne waren - Zähne und Knochensplitter.

Entsetzen packte den Jungen, er wollte schreien und brachte doch keinen Laut aus der Kehle.

Plötzlich stand Tonda hinter ihm. Krabat mußte ihn überhört haben.

Nun ergriff er die Hand des Jungen. »Was suchst du da oben, Krabat?

Komm runter, bevor dich der Meister erwischt - und vergiß, was du hier gesehen hast. Hörst du mich, Krabat - vergiß es!«

Dann führte er ihn die Staffeln hinab; und kaum daß der Junge die Dielen der Mahlstube unter den Füßen spürte, war alles, was er an diesem Morgen erlebt hatte, in ihm ausgelöscht.

In der zweiten Hälfte des Monats Februar setzte starker Frost ein. Sie mußten nun jeden Morgen das Eis vor der Schleuse aufhacken. Über Nacht, wenn das Mühlrad stillstand, gefror in den Schaufelkehlen das Wasser zu dicken Krusten: auch sie galt es loszuschlagen, bevor sie das Mahlwerk anließen.

Am gefährlichsten war das Grundeis, das im Gerinne emporwuchs. Um zu verhindern, daß es das Mühlrad lahmlegte, mußten von Zeit zu Zeit zwei Gesellen hinabsteigen und es lospickeln - eine Arbeit, um die sich keiner besonders riß.

Tonda achtete streng darauf, daß sich niemand drückte. Als aber die Reihe an Krabat kam, stieg er selbst ins Gerinne hinab - weil das nichts für den Jungen sei, wie er sagte, der könnte dabei zu Schaden kommen.

Die anderen waren einverstanden, bloß Kito maulte wie immer, und Lyschko erklärte: »Zu Schaden kommen kann jeder, wenn er nicht aufpaßt.«

Ob es nun Zufall war oder nicht: eben jetzt kam der dumme Juro vorbei, einen Eimer voll Schweinefutter in jeder Hand; als er auf Lyschkos Höhe war, strauchelte er und beschwappte ihn über und über mit Schweinefraß. Lyschko fluchte, und Juro beteuerte händeringend, er könnte sich ohrfeigen für sein Mißgeschick.

»Wenn ich mir vorstelle«, sagte er, »wie du stinken wirst in den nächsten Tagen - und ich bin schuld daran ... Oj-jojojoj, Lyschko, oj-jojojoj! Sei mir nicht böse, ich bitte dich vielmals, es tut mir ja auch für die armen Schweinchen leid!«

Krabat fuhr jetzt mit Tonda und anderen Burschen häufig zum Holzfällen in den Wald hinaus. Wenn sie dick eingemummt auf dem Schlitten saßen, die Morgengrütze im Bauch und die Pelzmütze tief in die Stirn gedrückt, war ihm so wohl zumute bei allem Frost, daß er meinte, es könnte selbst einem jungen Bären nicht wohler sein.

Das Holz, das sie schlugen, wurde an Ort und Stelle entästet, geschält, auf die richtige Länge geschnitten und aufgestapelt, schön locker, mit Querhölzern zwischen den einzelnen Lagen, damit es gut durchlüften konnte, bevor es im kommenden Winter zur Mühle geschafft wurde, um zu Balken behauen oder auf Bretter und Bohlen geschnitten zu werden.

So verstrich Woche um Woche, ohne daß sich in Krabats Leben viel Neues ereignet hätte. Manches, was ringsum vorging, gab ihm zu denken. Befremdlich war, unter anderem, daß sich nie Mahlgäste auf der Mühle einfanden. Wurde sie von den Bauern aus der Umgebung gemieden? Trotzdem liefen die Mahlgänge Tag für Tag, wurde Korn in die Schütten gekippt, wurden Gerste und Hafer geschrotet und Buchweizen.

Ob sich das Mehl und der Schrot, die am Tag aus den Mahlkästen in die Säcke rannen, bei Nacht in Getreide zurückverwandelten? Krabat hielt es durchaus für möglich.

Am Ende der ersten Märzwoche schlug das Wetter um. Westwind kam auf, schob den Himmel mit grauem Gewölk voll. »Wird Schnee geben«, brummte Kito, »ich spür's in den Knochen.« Es schneite auch wirklich ein wenig, in dicken, wäßrigen Flocken; dann klatschten die ersten Tropfen dazwischen, der Schnee ging in Regen über, das prasselte nur so fort.

»Weißt du was?« meinte Andrusch zu Kito. »Du solltest dir einen Laubfrosch halten, auf deine Knochen ist kein Verlaß mehr.«

Ein scheußliches Wetter war das! Regengüsse, vom Sturm gepeitscht, und der Schnee und das Eis schmolzen drunter hin, daß der Mühlenweiher bedrohlich anschwoll. Sie mußten hinaus in die Nässe, die Schleuse dichtmachen, sie mit Pfosten abstützen.

Ob das Stauwehr den Fluten standhielt?

»Wenn das so weitergeht, dauert es keine drei Tage, dann saufen wir mit der Mühle ab«, dachte Krabat.

Am Abend des sechsten Tages hatte sich's ausgeregnet, die Wolkendecke riß auf, dann erglühte für wenige Augenblicke der schwarze, von Nässe triefende Wald in den Strahlen der Abendsonne.

Nachts darauf wurde Krabat von einem Traum erschreckt: Feuer war in der Mühle ausgebrochen. Die Mühlknappen stoben von ihren Strohsäcken hoch, rannten polternd die Treppe hinunter; er selbst aber, Krabat, lag wie ein Holzklotz auf seiner Pritsche, unfähig, sich vom Fleck zu rühren.

Schon knisterten im Gebälk die Flammen, schon sprühten die ersten Funken ihm ins Gesicht - da fuhr er mit einem Aufschrei empor.

Er rieb sich die Augen, er gähnte, er blickte umher. Da - mit einemmal stutzte er, glaubte nicht recht zu sehen. Wo waren die Müllerburschen?

Die Strohsäcke leer und verlassen - in Eile verlassen, dem Anschein nach: hastig zurückgeschlagene Decken, zerknüllte Leintücher. Hier eine Wolljacke auf dem Fußboden, dort eine Mütze, ein Halstuch, ein Gürtel - deutlich zu sehen alles, im Widerschein eines zuckenden roten Lichts vor dem Giebelfenster...

Brannte es in der Mühle wirklich?

Krabat, hellwach nun mit einem Schlag, riß das Fenster auf. Sich hinausbeugend sah er, daß auf dem Vorplatz der Mühle ein Fuhrwerk stand, schwer beladen, mit praller, vom Regen geschwärzter Plane, sechs Rösser davorgespannt, rabenschwarz alle sechs. Auf dem Kutschbock saß einer mit hochgeschlagenem Mantelkragen, den Hut in die Stirn gezogen, nachtschwarz auch er.

Nur die Hahnenfeder, die er am Hut trug - die Feder war hell und rot. Gleich einer Flamme loderte sie im Wind: bald auf züngelnd, jäh und grell, bald sich duckend, als ob sie verlöschen wollte. Ihr Schein reichte hin, um den Vorplatz in flackerndes Licht zu tauchen.

Die Mühlknappen hasteten zwischen Haus und Planwagen hin und her, luden Säcke ab, schleppten sie in die Mahlstube, kamen aufs neue herbeigerannt. Stumm ging das alles vonstatten, in fiebernder Eile. Kein Zuruf, kein Fluch, nur das Keuchen der Müllerburschen - und dann und wann ließ der Fuhrmann die Peitsche knallen, knapp über ihren Köpfen, daß sie den Luftzug zu spüren bekamen: das spornte zu doppeltem Eifer an.

Eifer bezeugte sogar der Meister. Er, der sonst nie einen Handgriff tat in der Mühle, der nie einen Finger krümmte: heut nacht war er mit dabei. Er schuftete mit den anderen um die Wette, als ob er's bezahlt kriegte.

Zwischendurch setzte er einmal kurz mit der Arbeit aus und verschwand in der Dunkelheit - nicht zum Verschnaufen, wie Krabat argwöhnte, sondern er rannte zum Mühlenweiher hinauf, und nachdem er die Stützpfosten weggeräumt hatte, zog er die Schleuse.

Das Wasser schoß in den Mühlgraben ein, kam herangebraust und ergoß sich mit Schwall und Prall ins Gerinne. Ächzend begann sich das Rad zu drehen; es dauerte eine Weile, bis es in Fahrt kam, dann lief es ganz munter weiter. Nun hätten mit dumpfem Gepolter die Mahlgänge einsetzen müssen, aber nur einer lief an - und der eine mit einem Geräusch, das dem Jungen fremd war. Es schien aus dem hintersten Winkel der Mühle zu kommen, ein lärmendes Rattern und Schnarren, von häßlichem Quietschen begleitet, das bald in ein hohles, die Ohren marterndes Jaulen überging.

Krabat entsann sich des Toten Ganges, er spürte, wie ihm die Gänsehaut über den Rücken lief.

Einstweilen war unten die Arbeit weitergegangen. Der Planwagen wurde entladen, dann hatten die Mühlknappen eine Weile Pause - aber nicht lange, da ging es von neuem los mit der Plackerei, wenn auch diesmal die Säcke vom Haus zum Fuhrwerk zu schleppen waren. Was immer sie vorher enthalten hatten: nun wurde es in gemahlenem Zustand zurückgebracht.

Krabat wollte die Säcke zählen, aber er nickte darüber ein. Beim ersten Hahnenschrei weckte ihn das Gerumpel von Wagenrädern. Der Fremde, das sah er gerade noch, fuhr mit Peitschengeknall durch die nassen Wiesen davon, auf den Wald zu - und seltsam: der schwerbeladene Planwagen hinterließ keine Spur im Gras.

Einen Augenblick später wurde die Schleuse geschlossen, das Mühlrad lief aus. Krabat huschte an seinen Platz zurück und zog sich die Decke über den Kopf. Die Müllerburschen kamen die Treppe heraufgewankt, müde und abgerackert. Wortlos nahmen sie ihre Schlafplätze ein, nur Kito murmelte etwas von dreimal verfluchten Neumondnächten und höllischer Schinderei.

Am Morgen kam Krabat vor Müdigkeit kaum vom Strohsack hoch, ihm brummte der Schädel, er hatte ein flaues Gefühl im Bauch. Beim Frühstück musterte er die Müllerburschen: sie waren verschlafen und übernächtig. Mürrisch würgten sie ihre Grütze hinunter. Selbst Andrusch war nicht zum Spaßmachen aufgelegt; finster stierte er in die Schüssel und gab keinen Laut von sich.

Nach dem Essen nahm Tonda den Jungen beiseite.

»Du hast eine schlechte Nacht gehabt?«

»Wie man's nimmt«, sagte Krabat. »Ich brauchte ja nicht zu schuften, ich hab euch bloß zugeschaut. Aber ihr! - Warum habt ihr mich nicht geweckt, als der Fremde vorfuhr? Ihr wolltet es wohl vor mir geheimhalten - wie so vieles, was auf der Mühle vorgeht, von dem ich nichts wissen soll. Bloß: ich bin ja nicht blind und nicht taub - und vor allem nicht mit der Mütze gepocht, das schon gar nicht!«

»Niemand behauptet das«, wandte Tonda ein.

»Aber ihr tut so!« rief Krabat. »Ihr spielt Blindekuh mit mir - warum macht ihr nicht endlich Schluß damit?«

»Alles braucht seine vorgeschriebene Zeit«, sagte Tonda ruhig. »Bald wirst du erfahren, welche Bewandtnis es mit dem Meister und dieser Mühle hat. Der Tag und die Stunde sind näher, als du vermutest: bis dahin gedulde dich.«

Husch, auf die Stange!

Karfreitag, am frühen Abend, über dem Koselbruch hing ein fahler, aufgedunsener Mond. Die Mühlknappen saßen in der Gesindestube beisammen, Krabat lag müde auf seiner Pritsche und wollte schlafen. Auch heute hatten sie arbeiten müssen. Wie gut, daß es endlich Abend geworden war, daß er nun seine Ruhe hatte ...

Mit einemmal hörte er seinen Namen rufen, wie damals im Traum, in der Schmiede von Petershain - nur daß die Stimme, die heisere, die aus den Lüften zu kommen schien, ihm jetzt nicht mehr fremd war.

Er setzte sich auf und lauschte, zum zweitenmal rief es: »Krabat!« Da griff er nach seinen Kleidern und zog sich an.

Als er fertig war, rief ihn der Meister zum drittenmal.

Krabat beeilte sich, tappte zur Bodentür, öffnete. Licht drang von unten herauf, im Hausflur hörte er Stimmen, das Klappern von Holzschuhen. Unruhe überkam ihn, er zögerte, hielt den Atem an - doch dann gab er sich einen Ruck, und drei Stufen auf einmal nehmend, lief er hinunter.

Am Ende des Flures standen die elf Gesellen. Die Tür zu der Schwarzen Kammer stand offen, der Meister saß hinter dem Tisch. Wie damals, bei Krabats Ankunft, lag wieder das dicke, in Leder eingebundene Buch vor ihm; es fehlte auch nicht der Totenkopf mit der brennenden roten Kerze; nur daß der Meister jetzt nicht mehr bleich im Gesicht war, das hatte sich in der Zwischenzeit längst gegeben.

»Tritt näher, Krabat!«

Der Junge trat vor, an die Schwelle der Schwarzen Kammer. Er war nicht mehr müde, er spürte auch keine Benommenheit mehr im Kopf und kein Herzklopfen.

Eine Weile betrachtete ihn der Meister, dann hob er die Linke und wandte sich den Gesellen zu, die im Flur standen.

»Husch, auf die Stange!«

Mit Krächzen und Flügelschlagen strichen elf Raben an Krabat vorbei, durch die Kammertür. Als er sich umschaute, waren die Müllerburschen verschwunden. Die Raben ließen sich in der hinteren linken Ecke des Raumes auf einer Stange nieder und blickten ihn an.

Der Meister erhob sich, sein Schatten fiel auf den Jungen.

»Seit einem Vierteljahr«, sagte er, »bist du nun auf der Mühle, Krabat. Die Probezeit ist bestanden, du bist kein gewöhnlicher Lehrjunge mehr - du sollst fortan mein Schüler sein.«

Damit trat er auf Krabat zu und berührte ihn mit der linken Hand an der linken Schulter. Ein Schauder durchrieselte Krabat, er spürte, wie er zu schrumpfen anfing: sein Leib wurde klein und kleiner, es wuchsen ihm Rabenfedern, ein Schnabel und Krallen. Zu Füßen des Meisters hockte er auf der Schwelle, er wagte nicht aufzublicken.

Der Müller besah ihn sich eine Zeitlang, dann klatschte er in die Hände, rief: »Husch!« Krabat, der Rabe Krabat, breitete folgsam die Schwingen aus und erhob sich zum Flug. Ungelenk flatternd, durchmaß er die Kammer, umschwirrte den Tisch, streifte Buch und Totenschädel. Dann ließ er sich bei den anderen Raben nieder und krallte sich an der Stange fest.

Der Meister belehrte ihn: »Du mußt wissen, Krabat, daß du in einer Schwarzen Schule bist. Man lernt hier nicht Lesen und Schreiben und Rechnen - hier lernt man die Kunst der Künste. Das Buch, das da angekettet vor mir auf dem Tisch liegt, ist der Koraktor, der Höllenzwang. Wie du siehst, hat es schwarze Seiten, die Schrift ist weiß. Es enthält alle Zaubersprüche der Welt. Ich allein darf sie lesen, weil ich der Meister bin. Euch aber, dir und den anderen Schülern, ist es verboten, darin zu lesen, das merke dir! Und versuche nicht, mich zu hintergehen, das würde dir schlecht bekommen! Du hast mich verstanden, Krabat?«

»Verstanden«, krächzte der Junge, erstaunt, daß er sprechen konnte: mit heiserer Stimme zwar, aber deutlich, und ohne daß es ihn im geringsten anstrengte.

Krabat hatte von solchen Schwarzen Schulen schon munkeln hören: es gab, wie es hieß, deren mehrere in der Lausitz; aber er hatte das immer für Schauermärlein gehalten, wie man sie in den Rockenstuben erzählt, beim Spinnen und Federnschleißen. Und nun war er selber in eine von diesen Schulen geraten, die zwar als Mühle galt; doch es schien sich, zumindest im näheren Umkreis, herumgesprochen zu haben, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zuging: was sonst hätte wohl die Leute vom Koselbruch ferngehalten?

Dem Jungen blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Meister hatte sich wieder hinter den Tisch gesetzt und fing an, einen Abschnitt aus dem Koraktor vorzulesen: langsam, in singendem Tonfall, wobei er sich steif in den Hüften vor und zurück wiegte, vor und zurück.

»Dies ist die Kunst, einen Brunnen versiegen zu machen, daß er von einem Tag auf den andern kein Wasser gibt«, las er vor. »Zum ersten versieh dich mit vier auf dem Ofen gedörrten Pflöcken von Birkenholz, dritthalb Spannen lang jeder, gut einen Daumen dick und am unteren Ende im Dreikant zugespitzt; zum andern verpflocke den Brunnen des Nachts zwischen zwölf und eins mit besagten Hölzern, indem du ein jegliches sieben Schuh von der Mitte des Brunnens entfernt in den Boden treibst, jedes in einer anderen Himmelsrichtung, beginnend bei Mitternacht und im Abend endend; zum dritten und letzten, nachdem du dies alles schweigend verrichtet hast, sollst du den Brunnen dreimal umschreiten und sprechen, was hier geschrieben steht...«

Nun folgte, vom Meister verlesen, der Zauberspruch: eine Folge von unverständlichen Wörtern, wohllautend alle und dennoch mit einem dunklen, Unheil beschwörenden Unterton, der dem Jungen noch lange im Ohr blieb - selbst dann, als der Meister nach kurzem Verweilen von vorn begann.

»Dies ist die Kunst, einen Brunnen versiegen zu machen...«

Dreimal im ganzen verlas er den Text und die Zauberformel, immer im gleichen Singsang, wobei er sich in den Hüften vor und zurück wiegte.

Nach dem drittenmal schloß er das Buch. Eine Zeitlang verharrte er nun in Schweigen, dann wandte er sich den Raben zu.

»Ich habe euch«, sagte er, wieder mit seiner gewohnten Stimme, »ein neues Stück der Geheimen Künste gelehrt; laßt hören, was ihr davon behalten habt. Du da - fang an!«

Er deutete mit dem Finger auf einen der Raben und hieß ihn, den Text und den Zauberspruch wiederholen.

»Dies ist die Kunst ... einen Brunnen versiegen zu machen, daß er... von einem Tag auf den andern kein Wasser gibt...«

Der Müller bestimmte bald diesen Raben, bald jenen und fragte ihn ab. Zwar nannte er keinen der zwölf beim Namen, doch an der Art, wie sie sprachen, vermochte der Junge sie auseinanderzuhalten; Tonda sprach selbst als Rabe gelassen und wohlbedacht, Kito mit einem unüberhörbaren Ton der Verdrossenheit in der Stimme, und Andrusch war mit dem Schnabel genauso hurtig wie mit der Zunge, während sich Juro beim Wiederholen schwer tat und häufig steckenblieb - kurz, es gab keinen im ganzen Schwärm, den Krabat nicht bald erkannt hätte.

»Dies ist die Kunst, einen Brunnen versiegen zu machen...«

Wieder und immer wieder der Text aus dem Höllenzwang mit dem Zauberspruch: bald geläufig, bald stockend, ein fünftes, ein neuntes, ein elftes Mal.

»Und jetzt du!« - damit wandte der Meister sich an den Jungen.

Krabat begann zu zittern, er stammelte: »Dies ist die Kunst... - ist die Kunst, einen... - einen Brunnen...«

Hier brach er ab und verstummte. Er wußte nicht weiter, beim besten Willen nicht. Würde der Meister ihn strafen?

Der Meister blieb ruhig.

»Ein nächstesmal, Krabat, solltest du mehr auf die Worte achten als auf die Stimmen«, sagte er. »Überdies mußt du wissen, daß niemand in dieser Schule zum Lernen gezwungen wird. Prägst du dir ein, was ich aus dem Koraktor vorlese, ist es zu deinem Nutzen - andernfalls schadest du nur dir selber, bedenke das.«

Hiermit schloß er die Unterweisung, die Tür tat sich auf, die Raben entschwirrten. Im Hausflur nahmen sie Menschengestalt an. Auch Krabat wurde, er wußte nicht wie und von wem, zurückverwandelt - und während er hinter den Müllerburschen die Bodenstiege hinauftappte, kam er sich vor wie nach einem wirren Traum.

Das Mal der Geheimen Bruderschaft

Am folgenden Tag, dem Karsamstag, brauchten die Mühlknappen nicht zu arbeiten, was die meisten von ihnen zum Anlaß nahmen, sich nach dem Frühstück wieder aufs Ohr zu legen.

»Auch du«, sagte Tonda zu Krabat, »solltest hinaufgehen und auf Vorrat schlafen.«

»Auf Vorrat - wieso?«

»Du wirst es erfahren. Leg dich jetzt hin und versuch zu schlafen, so lang du kannst.«

»Schön«, maulte Krabat, »ich geh ja schon... Und entschuldige, daß ich gefragt habe ...«

Auf dem Dachboden hatte jemand das Giebelfenster mit einem Tuch verhängt, das war gut so, da schlief es sich rascher ein. Krabat legte sich auf die rechte Seite, den Rücken zum Fenster, den Kopf in die Arme geschmiegt. So lag er und schlief, bis Juro ihn wecken kam.

»Aufstehen, Krabat, das Essen steht auf dem Tisch!«

»Was - schon Mittag?«

Juro zog lachend das Tuch vom Fenster weg.

»Mittag ist gut!« rief er. »Draußen geht bald die Sonne unter!«

An diesem Tag gab es für die Mühlknappen Mittag- und Abendessen in einem, besonders fett und besonders reichlich, fast schon ein Festmahl.

»Eßt euch nur tüchtig satt!« mahnte Tonda. »Ihr wißt ja, es muß eine Weile vorhalten!«

Nach dem Essen, bei Anbruch der Osternacht, kam der Meister zu ihnen in die Gesindestube und schickte die Burschen aus, sich »das Mal zu holen«.

Sie bildeten einen Kreis um ihn, dann begann er sie auszuzählen, wie Kinder es tun, wenn sie Schwarzer Mann spielen oder Der-Fuchs-geht-um. Mit Worten, die fremd und bedrohlich klangen, zählte der Meister je einmal von rechts nach links und von links nach rechts. Beim erstenmal traf es Staschko, beim zweitenmal Andrusch. Schweigend verließen die beiden den Kreis und entfernten sich, während der Meister aufs neue zu zählen anfing. Jetzt waren es Merten und Hanzo, die gehen mußten, dann Lyschko und Petar - zum Schluß blieben Krabat und Tonda übrig.

Ein letztesmal wiederholte der Meister die dunklen Worte, langsam und feierlich; dann entließ er die beiden mit einer Handbewegung und wandte sich ab.

Tonda bedeutete Krabat, daß er ihm folgen möge. Schweigend verließen auch sie die Mühle, schweigend gingen sie miteinander zum Holzschuppen.

»Warte hier einen Augenblick!« Tonda holte zwei Wolldecken aus dem Schuppen. Eine davon gab er Krabat, dann schlug er den Weg nach Schwarzkollm ein, am Mühlenweiher vorbei, durch den vorderen Koselbruch.

Als sie den Wald betraten, brach vollends die Nacht herein. Krabat bemühte sich, dicht hinter Tonda zu bleiben. Ihm fiel ein, daß er hier schon einmal gegangen war, in entgegengesetzter Richtung, einsam zur Winterszeit. Und das sollte kaum weiter zurückliegen als ein Vierteljahr? Nicht zu fassen!

»Schwarzkollm«, sagte Tonda nach einer Weile.

Sie sahen die Lichter des Dorfes zwischen den Stämmen aufschimmern, hielten sich aber von jetzt an nach rechts, auf die freie Heide hinaus. Der Pfad war nun sandig und trocken, er führte an einzelnen dürftigen Bäumen vorbei durch Gebüsch und Kusseln. Der Himmel hier draußen war hoch und weit, voller Sternenglanz.

»Wohin gehen wir?« wollte Krabat wissen.

»Zum Mordkreuz«, sagte der Altgesell.

Wenig später gewahrten sie in der Heide den Widerschein eines Feuers, das auf dem Grund einer Sandkuhle brannte. Wer mochte es wohl entfacht haben?

»Hirten«, sagte sich Krabat, »sind das gewiß nicht, so früh im Jahr; dann schon eher Zigeuner oder ein wandernder Rastelbinder mit seinem Kram.«

Tonda war stehengeblieben.

»Sie sind uns zuvorgekommen beim Mordkreuz - laß uns zu Bäumels Tod gehen.«

Ohne ein Wort der Erklärung machte er kehrt. Sie mußten den Pfad, auf dem sie gekommen waren, zurückstapfen bis zum Wald; dort bogen sie dann zur Rechten auf einen Feldweg ein, der führte sie an Schwarzkollm vorbei und mündete jenseits des Ortes auf eine Fahrstraße, die sich am gegenüberliegenden Waldrand dahinzog.

»Gleich sind wir da«, meinte Tonda.

Der Mond war inzwischen aufgegangen und leuchtete ihnen. Sie folgten der Straße bis an die nächste Biegung, wo sich im Schatten der Föhren ein mannshohes Holzkreuz fand, stark verwittert schon, ohne Inschrift und Schmuck.

»Bäumels Tod«, sagte Tonda. »Vor vielen Jahren ist hier ein Mann namens Bäumel ums Leben gekommen: beim Holzfällen, wie man sagt - genau weiß das heute niemand mehr.«

»Und wir?« fragte Krabat. »Weshalb sind wir hier?«

»Weil der Meister es so verlangt«, sagte Tonda. »Wir müssen - wie alle - die Osternacht unter freiem Himmel verbringen, je zwei miteinander an einer Stelle, wo jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist.«

»Und was nun?« fragte Krabat weiter.

»Wir zünden ein Feuer an«, sagte Tonda. »Dann wachen wir unter dem Kreuz, bis der Morgen graut - und bei Anbruch des Tages werden wir uns mit dem Mal versehen: einer den anderen.«

Sie hielten das Feuer mit Absicht niedrig, um in Schwarzkollm kein Aufsehen zu erregen. Jeder in seine Decke eingehüllt, saßen sie unter dem Holzkreuz und wachten. Ab und zu fragte Tonda den Jungen, ob er nicht friere, oder er hieß ihn ein paar von den dürren Ästen ins Feuer schieben, die sie am Waldrand gesammelt hatten. Später verstummte er mehr und mehr; da versuchte es Krabat von sich aus mit einem Gespräch.

»Du - Tonda?«

»Was gibt's?«

»Ist das immer so in der Schwarzen Schule? Der Meister liest einen Abschnitt aus dem Koraktor vor, und dann heißt es: Sieh zu, wie du ihn im Kopf behältst...«

»Ja«, sagte Tonda.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß man auf die Art zaubern lernt.«

»Doch«, sagte Tonda.

»Ob ich den Meister erzürnt habe, weil ich unaufmerksam gewesen bin?«

»Nein«, sagte Tonda.

»Ich will mich in Zukunft zusammennehmen und aufpassen, daß ich mir alles merke. Glaubst du, ich schaffe es?«

»Doch«, sagte Tonda.

Er schien nicht besonders darauf erpicht zu sein, sich mit Krabat zu unterhalten. Den Rücken gegen das Kreuz gelehnt, saß er aufrecht da, reglos, den Blick in die Ferne gerichtet, über das Dorf hinaus auf die mondhelle Heide. Von jetzt an sagte er überhaupt nichts mehr. Als Krabat ihn leise beim Namen rief, gab er ihm keine Antwort: ein Toter hätte nicht tiefer schweigen, nicht starrer blicken können.

Mit der Zeit wurde Tondas Verhalten dem Jungen unheimlich. Er entsann sich, davon gehört zu haben, daß manche Leute sich auf die Kunst verstanden, »aus sich hinauszugehen«, indem sie aus ihrem Körper ausschlüpften wie ein Schmetterling aus der Puppe und ihn als leere Hülle zurückließen, während ihr wahres Ich seiner Wege ging, unsichtbar, auf geheimen Pfaden einem geheimen Ziel nach. War Tonda aus sich hinausgegangen? Konnte es sein, daß er hier am Feuer saß und in Wirklichkeit ganz woanders war?

»Ich muß wachbleiben«, nahm sich Krabat vor.

Er stützte sich bald auf den rechten Ellbogen, bald auf den linken; er sorgte dafür, daß das Feuer gleichmäßig weiterbrannte; er machte sich an den Ästen zu schaffen, brach handliche Stücke zurecht und schichtete sie zu kunstvollen kleinen Stapeln auf. So verrannen die Stunden. Die Sterne zogen am Himmel weiter, die Schatten der Häuser und Bäume wanderten unterm Mond hin und wandelten langsam ihre Gestalt dabei.

Plötzlich, so schien es, kehrte das Leben in Tonda zurück. Sich zu Krabat herüberneigend, zeigte er in die Runde.

»Die Glocken... Hörst du?«

Seit dem Gründonnerstag waren die Glocken verstummt gewesen; jetzt, um die Mitte der Osternacht, fingen sie allerorten wieder zu tönen an. Von den benachbarten Kirchdörfern klang ihr Geläut nach Schwarzkollm herüber: gedämpft zwar, ein dunkles Gebrause nur, das Gesumm eines Bienenschwarmes - und doch war die Heide und waren das Dorf und die Felder und Wiesen erfüllt davon bis zum fernsten Hügelrand.

Fast zugleich mit den fernen Glocken hob in Schwarzkollm eine Mädchenstimme zu singen an, jubelnd sang sie ein altes Osterlied. Krabat kannte es, hatte es selber als Kind in der Kirche mitgesungen; aber es war ihm, als hörte er's heute zum erstenmal.

»Erstanden ist

Der heilig Christ,

Halleluja,

Halleluja!«

Nun fiel eine Gruppe von zwölf oder fünfzehn weiteren Mädchen ein, die sangen die Strophe im Chor zu Ende. Dann stimmte das eine Mädchen die nächste an - und so sangen sie weiter, das eine abwechselnd mit den anderen, Lied um Lied.

Krabat kannte das von daheim. In der Osternacht pflegten die Mädchen singend die Dorfstraße auf und ab zu ziehen, von Mitternacht bis zum Morgengrauen. Sie gingen zu dreien und vieren nebeneinander in dichten Reihen, und eine von ihnen, das wußte er, war die Kantorka: sie, mit der schönsten und reinsten Stimme von allen, ging in der ersten Reihe und durfte vorsingen - sie allein.

Die Glocken tönten von ferne, die Mädchen sangen, und Krabat, am Feuer unter dem Holzkreuz sitzend, traute sich kaum zu atmen. Er lauschte nur - lauschte zum Dorf hinüber und war wie verzaubert.

Tonda schob einen Ast in die Glut.

»Ich hatte ein Mädchen lieb«, sagte er. »Worschula war ihr Name. Nun liegt sie seit einem halben Jahr auf dem Friedhof von Seidewinkel: ich hab ihr kein Glück gebracht. - Du mußt wissen, daß keiner von uns auf der Mühle den Mädchen Glück bringt. Ich weiß nicht, woran das liegt, und ich will dir auch keine Angst machen. Solltest du aber jemals ein Mädchen liebhaben, Krabat, dann laß dir's nicht anmerken. Sorge dafür, daß der Meister es nicht erfährt - und auch Lyschko nicht, der ihm alles zuträgt.«

»Haben der Meister und Lyschko damit zu tun, daß dein Mädchen gestorben ist?« fragte Krabat.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tonda. »Ich weiß nur, daß Worschula noch am Leben wäre, hätte ich ihren Namen für mich behalten. Ich habe das erst erfahren, als es zu spät war. Du aber, Krabat - du weißt es nun, und du weißt es rechtzeitig: Gib, wenn du je ein Mädchen hast, ihren Namen nicht preis auf der Mühle! Um nichts auf der Welt laß ihn dir entlocken. Von niemand, hörst du! Im Wachen nicht und im Schlaf nicht - damit du euch nicht ins Unglück bringst.«

»Da sei unbesorgt«, sagte Krabat. »Ich mache mir nichts aus Mädchen und kann mir nicht vorstellen, wie sich das ändern sollte.«

Bei Tagesanbruch verstummten die Glocken und der Gesang im Dorf. Tonda schnitt mit dem Messer zwei Holzspäne aus dem Kreuz, die steckten sie in die Glut und ließen sie an den Enden ankohlen.

»Was ein Drudenfuß ist«, fragte Tonda, »das weißt du wohl?«

»Nein«, sagte Krabat.

»Sieh her!«

Mit der Fingerspitze zeichnete Tonda eine Figur in den Sand: einen Stern mit fünf Zacken, gebildet aus ebenso vielen geraden Linien, deren jede sich mit zwei anderen überschnitt, so daß sich das Ganze in einem Zug zeichnen ließ.

»Dies ist das Mal«, sagte Tonda. »Versuche es nachzuziehen!«

»Das kann nicht so schwer sein«, meinte der Junge. »Du hast es erst so gemacht ... und dann so ... und dann so ...«

Beim drittenmal glückte es Krabat, den Drudenfuß fehlerlos in den Sand zu zeichnen.

»Gut«, sagte Tonda, wobei er ihm einen der beiden Holzspäne in die Hand drückte. »Knie dich ans Feuer und zeichne mir über die Glut weg das Mal auf die Stirne. Ich werde dir vorsprechen, was du zu sagen hast...«

Krabat tat, wie der Altgesell ihn geheißen hatte. Während die beiden sich gegenseitig den Drudenfuß auf die Stirn schrieben, sprach er ihm langsam nach:

»Ich zeichne dich, Bruder, Mit Kohle vom Holzkreuz, Ich zeichne dich Mit dem Mal der Geheimen Bruderschaft.«

Dann tauschten sie miteinander den Osterkuß linksherum, scharrten Sand auf die Feuerstelle, verstreuten das übrige Holz und traten den Heimweg an.

Wieder schlug Tonda den Pfad durch die Felder ein, außen am Dorf entlang, auf den von Morgennebeln verschleierten Wald zu - da tauchten vor ihnen die Umrisse schattenhafter Gestalten im Frühlicht auf. Lautlos, in langer Reihe kamen die Mädchen des Dorfes ihnen entgegen: dunkle Tücher um Kopf und Schultern, jede mit einem irdenen Wasserkrug.

»Komm«, sagte Tonda leise zu Krabat, »sie haben das Osterwasser geholt, wir wollen sie nicht erschrecken...«

Sie duckten sich in den Schatten der nächsten Hecke und ließen die Mädchen vorüberziehen.

Das Osterwasser, der Junge wußte es, mußte man schweigend am Ostermorgen vor Sonnenaufgang aus einer Quelle schöpfen und schweigend nach Hause tragen. Wenn man sich darin wusch, erwarb man sich Schönheit und Glück für ein ganzes Jahr - so wenigstens sagten die Mädchen.

Und außerdem konnte man, wenn man das Osterwasser ins Dorf trug, ohne sich dabei umzuschauen, dem künftigen Liebsten begegnen: das sagten die Mädchen auch - und wer weiß, was davon zu halten war.

Gedenke, daß ich der Meister bin

Der Meister hatte ein Ochsenjoch vor der geöffneten Haustür angebracht, in Schulterhöhe war es mit beiden Enden am Türstock festgenagelt. Als die Burschen zurückkamen, mußten sie einzeln darunter hindurchgehen mit den Worten: »Ich beuge mich unter das Joch der Geheimen Bruderschaft.«

Im Hausflur erwartete sie der Meister. Jedem von ihnen versetzte er einen Backenstreich auf die rechte Wange, wobei er ihm zurief: »Gedenke, daß du ein Schüler bist!«

Dann schlug er ihn auf die linke Wange und fügte hinzu: »Gedenke, daß ich der Meister bin!«

Nun mußte der Knappe sich dreimal tief vor dem Müller verneigen und ihm geloben: »Ich werde dir, Meister, in allen Dingen gehorsam sein, jetzt und immerdar.«

Auch Tonda und Krabat wurden auf diese Weise empfangen. Noch ahnte der Junge nicht, daß er dem Meister von nun an verfallen war,

ausgeliefert mit Leib und Seele, auf Tod und Leben, mit Haut und Haar. Er gesellte sich zu den anderen Mühlknappen, die im hinteren Teil des Ganges standen und auf die Morgengrütze zu warten schienen - alle, wie Tonda und er, mit dem Drudenfuß auf der Stirn.

Es fehlten noch Petar und Lyschko.

Auch sie tauchten bald an der Haustür auf, und nachdem sie sich unter das Joch gebeugt, die Backenstreiche empfangen und das Gelöbnis abgelegt hatten, lief mit Lärm und Gepolter die Mühle an.

»Los!« rief der Meister den Knappen zu. »An die Arbeit!«

Da warfen die Müllerburschen die Röcke ab; sich im Laufen die Hemdsärmel aufkrempelnd, rannten sie in die Mahlstube, schleppten Getreide herzu und begannen draufloszumahlen, vom Meister durch Zuruf und ungeduldiges Fuchteln in Trab gehalten.

»Und dies«, dachte Krabat, »nennt sich nun Ostersonntag! Die Nacht nicht geschlafen, kein Frühstück im Bauch - aber schuften müssen für drei!«

Selbst Tonda geriet mit der Zeit außer Atem und fing zu schwitzen an. Schwitzen mußten sie alle an diesem Morgen, das troff von der Stirn und den Schläfen, das rann in den Nacken, das strömte den Buckel hinunter, daß ihnen die Hemden am Leib klebten und die Hosen dazu.

»Wie lange noch soll das so weitergehen?« fragte sich Krabat.

Verbissene Mienen, wohin er schaut. Alles hechelt und stöhnt, alles trieft und dampft. Und die Drudenfüße auf ihren Stirnen verwischen sich mehr und mehr, lösen sich auf im Schweiß, werden langsam ausgelöscht.

Dann geschieht etwas Unerwartetes.

Krabat, mit einem Sack Weizen beladen, quält sich die Staffeln zur Bühne hinauf. Es kostet ihn seine letzte Kraft, seinen ganzen Willen. Gleich wird er straucheln, gleich unter der Last zusammenbrechen - da plötzlich ist es mit aller Mühsal vorbei: Der Krampf in den Beinen ist weg, die Kreuzschmerzen haben aufgehört, auch beim Atmen hat er nun keine Beschwerden mehr.

»Tonda!« ruft er. »Sieh her!«

Mit einem Satz ist er auf der Bühne, dann kippt er den Sack von der Schulter, erwischt ihn an beiden Enden - und schwenkt ihn, bevor er ihn in die Schütte leert, unter lautem Juchhe-Geschrei in der Luft herum, als sei er mit Bettfedern statt mit Getreide angefüllt.

Die Mühlknappen sind wie ausgewechselt, sie recken die Arme, sie lachen, sie schlagen sich auf die Schenkel. Selbst Kito, der alte Sauertopf, macht keine Ausnahme.

Krabat will auf den Speicher eilen, den nächsten Sack holen. »Halt!« ruft der Altgesell, »dageblieben, es reicht schon!« Sie lassen den Weizen durchlaufen, dann hält Tonda das Mahlwerk an. »Schluß für heute!«

Ein Knirschen, ein letztes Klappern, das Mühlrad läuft aus, die Mehlkästen werden abgeklopft.

»Brüder!« ruft Staschko. »Nun laßt uns feiern!«

Auf einmal ist Wein da, in großen Kannen, und Juro schleppt Osterküchlein herbei: in Schmalz gebacken, goldbraun und süß, mit Quark gefüllt oder mit Zwetschgenmus.

»Eßt, Brüder, eßt - und vergeßt den Wein nicht!«

Sie essen, sie trinken, sie lassen sich's wohl sein. Später fängt Andrusch zu singen an, laut und ausgelassen. Da kauen sie ihre Küchlein hinunter und spülen mit Rotwein nach. Dann stellen sie sich im Kreis auf, sie haken sich unter und stampfen den Takt dazu.

»Der Müllscher saß Vorm Mühlentor,

Klabuster, klabaster,

Klabumm!

Da trat ein schmucker Knapp' hervor!

Klabuster, klabaster,

Ein Knapp' hervor - Klabuster, klabaster,

Klabumm!«

Das »Klabuster-klabaster« sangen die Burschen gemeinsam im Chor, danach stimmte Hanzo die nächste Strophe an - und so sangen sie reihum weiter und tanzten im Kreis herum, bald nach links, bald nach rechts, bald zur Mitte und bald von der Mitte weg.

Zuletzt, wie sich das für den Lehrjungen ziemte, kam Krabat dran. Da schloß er die Augen und sang den Beschluß des Liedes:

»Der Knappe aber War nicht dumm,

Klabuster, klabaster,

Klabumm!

Er drehte dem Müllscher Den Kragen um:

Klabuster, klabaster,

Den Kragen um - Klabuster, klabaster,

Klabumm!«

Nun hörten sie auf zu tanzen und fingen aufs neue zu trinken an. Kubo, der sonst so Schweigsame, nahm den Jungen beiseite, er klopfte ihm auf die Schulter.

»Du hast eine schöne Stimme, Krabat - an dir ist ein Kantor verlorengegangen.«

»An mir?« fragte Krabat - und jetzt erst, als Kubo davon gesprochen hatte, merkte er, was geschehen war: daß er nun wieder singen konnte, mit dunklerer Stimme zwar, aber fest und sicher und ohne das lästige Kratzen im Hals, das ihn seit Anfang des letzten Winters geplagt hatte.

Am Ostermontag nahmen die Müllerburschen ihre gewohnte Arbeit auf. Weiter ging es im alten Trott - nur daß Krabat sich nicht mehr zu schinden brauchte wie früher. Was immer der Meister von ihm verlangte: jetzt ging es dem Jungen mit Leichtigkeit von der Hand. Die Zeiten, in denen er Abend für Abend halb tot vor Erschöpfung auf seine Pritsche gefallen war, schienen ausgestanden. Krabat nahm die Veränderung dankbar hin. Er konnte sich denken, wie es dazu gekommen war. Als er mit Tonda das nächstemal unter vier Augen zusammentraf, sprach er ihn darauf an.

»Du hast recht«, sagte Tonda. »Solang wir den Drudenfuß auf der Stirn trugen, haben wir schuften müssen wie Ochsen - bis zu dem Augenblick, da auch der letzte sich ihn heruntergeschwitzt hatte. Dafür wird uns die Arbeit von nun an leicht sein, sofern wir sie zwischen Morgen und Abend verrichten, das ganze Jahr lang.«

»Und zwischendurch?« fragte Krabat. »Ich meine: nach Feierabend?«

»Dann nicht«, sagte Tonda. »Dann liegt es bei uns allein, wie wir damit fertig werden. Aber ich kann dich beruhigen, Krabat! Erstens geschieht es nicht allzu oft, daß wir nachts aus den Federn müssen - und zweitens läßt sich auch das ertragen.«

Über die Osternacht und von Tondas Kummer mit seinem Mädchen sprachen sie nie mehr, auch andeutungsweise nicht. Und doch glaubte Krabat zu wissen, wo Tonda gewesen war, als er wie tot am Feuer gesessen und in die Ferne gestarrt hatte. Immer wenn Krabat an die Geschichte mit Worschula dachte, fiel ihm sogleich die Kantorka ein: vielmehr ihre Stimme, wie er sie damals gehört hatte, von Schwarzkollm herüber, um Mitternacht. Das befremdete ihn, und er hätte sie gern vergessen, doch es gelang ihm nicht.

Einmal die Woche, am Freitag, versammelten sich die Mühlknappen nach dem Abendbrot vor der Schwarzen Kammer, verwandelten sich in Raben, auch Krabat erlernte das bald, und ließen sich auf der Stange nieder. Der Meister las ihnen jeweils einen bestimmten Abschnitt aus dem Koraktor vor, dreimal im ganzen, den mußten sie wiederholen - gleichgültig, was und wieviel sie davon behalten hatten: in diesem Punkt war der Meister nicht kleinlich.

Krabat war eifrig darum bemüht, sich alles, was sie der Meister lehrte, zu merken: den Wetterbann und den Hagelzauber, das Festmachen und den Umgang mit Freikugeln, das Sich-Unsichtbarmachen, die Kunst des Aus-sich-Hinausgehens und was sonst an der Reihe war. Tagsüber bei der Arbeit und nachts vor dem Einschlafen wiederholte er unermüdlich die Texte und Formeln, um sie sich einzuprägen.

Denn Krabat hatte inzwischen begriffen: Wer in der Kunst der Künste bewandert war, der gewann über andere Menschen Macht; und Macht zu gewinnen - soviel, wie der Meister besaß, wenn nicht mehr -, das erschien ihm als hohes Ziel, dafür lernte und lernte und lernte er.

Es war in der zweiten Woche nach Ostern, da wurden die Mühlknappen eines Nachts aus den Betten geholt. Der Meister stand in der Tür des Schlafraums, ein Licht in der Hand.

»Es gibt Arbeit, der Herr Gevatter kommt, tummelt euch, tummelt euch!«

Krabat fand in der Aufregung seine Schuhe nicht, barfuß lief er den anderen nach, vor die Mühle hinaus.

Es war Neumond, die Nacht war so schwarz, daß die Mühlknappen nicht die Hand vor den Augen sahen. Jemand trat Krabat im allgemeinen Gedränge mit seinen Holzschuhen auf die Zehen.

»He!« rief der Junge. »Kannst du nicht aufpassen, Trampeltier!«

Da verschloß eine Hand ihm den Mund. »Kein Wort mehr!« flüsterte Tonda.

Dem Jungen fiel auf, daß keiner der Burschen gesprochen hatte, seit sie geweckt worden waren. Sie blieben auch weiter stumm, für den Rest der Nacht; Krabat desgleichen.

Er konnte sich denken, welcherart Arbeit ihnen bevorstand.

Bald schon, mit lodernder Hahnenfeder am Hut, kam der Fremde auf seinem Fuhrwerk dahergerasselt. Die Burschen stürzten zum Wagen, sie rissen die schwarze Plane auf und begannen die Säcke ins Haus zu schleppen - zum Toten Gang in der hintersten Ecke der Mahlstube.

Es war alles wie vor vier Wochen, als Krabat die Burschen durchs Giebelfenster beobachtet hatte, nur daß der Meister sich diesmal neben dem Fremden aufs Sitzbrett des Wagens schwang. Heute war er es, der mit der Peitsche knallte: knapp über ihre Köpfe weg, daß die Burschen sich duckten, wenn sie den Luftzug spürten.

Krabat hatte schon fast vergessen, wie schwer man zu schleppen hatte an solch einem vollen Sack, und wie rasch man dabei außer Atem kam. »Gedenke, daß du ein Schüler bist!«

Die Worte des Meisters: je länger er darauf herumkaute, desto weniger schmeckten sie ihm.

Die Peitsche knallte, die Burschen rannten, das Mühlrad lief an, und das Rattern und Jaulen des Toten Ganges erfüllte das Haus. Was enthielten die Säcke wohl? Krabat warf einen Blick in die Schütte. Im spärlichen Licht der Laterne, die unter der Decke schaukelte, war nicht viel zu erkennen. Waren es Roßäpfel, die er hineinkippte, waren es Föhrenzapfen? Es konnten auch Steine sein, runde, schmutzverkrustete Steine...

Dem Jungen blieb keine Zeit zu genauerem Hinsehen, schon kam Lyschko herangekeucht mit dem nächsten Sack. Krabat den Ellbogen in die Rippen stoßend, drängte er ihn beiseite.

Michal und Merten hatten am Auslauf des Mahlkastens Posten gefaßt, sie füllten das fertig vermahlene Gut in die leeren Säcke ab und verschnürten sie. Nun ging alles wie damals weiter. Beim ersten Hahnenschrei war die Fuhre aufs neue vollgepackt, war die Plane geschlossen und festgezurrt. Der Fremde griff nach der Peitsche - und hussa! preschte er mit dem Wagen los: so schnell, daß der Meister gerade noch abspringen konnte, ohne den Hals zu brechen.

»Komm!« sagte Tonda zu Krabat.

Während die anderen Burschen im Haus verschwanden, gingen die beiden zum Weiher hinauf, um die Schleuse zu schließen. Sie hörten, wie unten das Mühlrad auslief und alles still wurde; nur der Hahn krähte, und die Hühner gackerten.

»Kommt er oft?« fragte Krabat und deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo das Gefährt im Nebel verschwunden war.

»Jede Neumondnacht«, sagte Tonda.

»Du weißt, wer er ist?«

»Nur der Meister weiß das. Er nennt ihn den Herrn Gevatter - und fürchtet ihn.«

Langsam gingen sie durch die taufeuchten Wiesen zur Mühle hinab.

»Etwas versteh ich nicht«, meinte Krabat, bevor sie das Haus betraten. »Das letztemal hat der Meister mitgearbeitet, als der Fremde hier war - und heute?«

»Damals«, sagte der Altgesell, »mußte er einspringen und das Dutzend vollmachen. Aber seit Ostern sind wir ja wieder vollzählig in der Schwarzen Schule - jetzt kann er sich's leisten, daß er die Neumondnächte mit Peitschenknallen verbringt.«

Ochsenblaschke aus Kamenz

Manchmal schickte der Meister die Mühlknappen paarweise oder in kleinen Gruppen mit Aufträgen über Land, um ihnen Gelegenheit zu verschaffen, die in der Schwarzen Schule erworbenen Kenntnisse anzuwenden.

Eines Morgens kam Tonda zu Krabat und meinte: »Heut muß ich mit Andrusch nach Wittichenau auf den Viehmarkt. Wenn du mitkommen magst - der Meister ist einverstanden.«

»Fein«, sagte Krabat. »Das ist mal was anderes als die ewige Müllerei!«

Sie schlugen den Waldweg ein, der bei den Neudorfer Teichhäusern auf die Landstraße mündet. Es war ein schöner, sonniger Julitag. In den Zweigen ratschten die Häher, ein Specht ließ sein Klopfen hören,

Schwärme von Bienen und Hummeln erfüllten die Himbeersträucher mit ihrem Gesumm.

Krabat merkte, daß Tonda und Andrusch Gesichter machten, als ginge es auf die Kirmes. Das konnte nicht nur am schönen Wetter liegen. Andrusch war ja auch sonst ein lustiger Vogel und immer gut aufgelegt; aber daß Tonda vergnügt vor sich hinpfiff, kam selten vor. Zwischendurch

knallte er mit dem Ochsenziemer.

»Du übst das wohl«, meinte Krabat, »damit du es auf dem Heimweg kannst?«

»Auf dem Heimweg?«

»Ich denke, wir sollen in Wittichenau einen Ochsen kaufen.«

»Im Gegenteil«, meinte Tonda.

In diesem Augenblick machte es hinter dem Jungen »Muh!« Als er sich umdrehte, stand da, wo eben noch Andrusch gestanden hatte, ein feister Ochse, rotbunt, mit glattem Fell, der ihn freundlich anglotzte.

»He!« sagte Krabat und rieb sich die Augen.

Tonda war plötzlich auch weg. An seinem Platz stand ein altes wendisches Bäuerlein, Bastschuhe an den Füßen, die Leinenhosen vom Knöchel aufwärts mit Riemen verschnürt, einen Strick um den Kittel, die Mütze speckig, den Pelzrand kahlgewetzt.

»He!« sagte Krabat zum zweitenmal; da klopfte ihm wer auf die Schulter und lachte.

Als Krabat herumfuhr, erblickte er Andrusch wieder.

»Wo bist du gewesen, Andrusch? Und wo ist der Ochs hin, der eben noch da stand, wo du jetzt stehst?«

»Muh!« sagte Andrusch mit Ochsenstimme.

»Und Tonda?«

Vor Krabats Augen verwandelte sich der Bauer in Tonda zurück.

»Ach - so ist das?« meinte der Junge.

»Ja«, sagte Tonda, »so ist das. Wir werden mit Andrusch Staat machen auf dem Viehmarkt.«

»Du willst ihn - verkaufen?«

»Der Meister wünscht es so.«

»Und wenn Andrusch geschlachtet wird?«

»Keine Bange!« versicherte Tonda. »Verkaufen wir Andrusch, so brauchen wir nur den Kopfstrick zurückzubehalten, an dem wir ihn führen: dann kann er sich jederzeit weiterverwandeln, in welche Gestalt auch immer.«

»Und wenn wir den Strick aus der Hand geben?«

»Untersteht euch!« rief Andrusch. »Dann müßte ich für den Rest meiner Tage ein Ochse bleiben und Heu und Stroh fressen - haltet euch das vor Augen und macht mich nicht unglücklich!«

Tonda und Krabat erregten mit ihrem Ochsen in Wittichenau auf dem Viehmarkt Aufsehen und Bewunderung. Die Viehhändler kamen von allen Seiten herbeigeeilt und umringten sie. Auch, ein paar Bürger und einige Bauersleute, die ihre Schweine und Rinder bereits versilbert hatten, drängten heran. Solch einen fetten Ochsen gab es nicht alle Tage: da hieß es zugreifen, ehe ein anderer einem das schöne Tier vor der Nase wegschnappte!

»Was kostet der Bursche?«

Die Viehhändler sprachen von allen Seiten auf Tonda ein, lautstark rückten sie ihm aufs Leder. Der Krause-Fleischer aus Hoyerswerda bot fünfzehn Gulden für Andrusch, der krumme Leuschner aus Königsbrück sechzehn.

Tonda schüttelte zu den Angeboten den Kopf. »Bißchen wenig«, erklärte er.

Bißchen wenig? Er sei wohl nicht recht im Koppe! Ob er sie denn für dumm halte.

Dumm oder nicht, meinte Tonda, das müßten die Herren selber am allerbesten wissen.

»Schön«, sagte Krause aus Hoyerswerda, »ich geb dir achtzehn.«

»Für achtzehn behalt ich ihn lieber selbst«, brummte Tonda. Er gab ihn auch Leuschnern aus Königsbrück nicht für neunzehn und Neubauers Gustav aus Senftenberg nicht für zwanzig.

»Dann laß dich mitsamt deinem Ochsen einkümmeln!« schimpfte der Krause-Fleischer; und Leuschner tippte sich an die Stirn und rief: »Blöd müßt ich sein, mich zu ruinieren! Ich biete dir zweiundzwanzig, und dies ist mein letztes Wort.«

Es schien so, als habe der Handel sich festgefahren. Da schob sich, bei jedem Schritt wie ein Walroß schnaufend, ein unförmig dicker Mann durch die Menge. Sein Froschgesicht mit den runden Glupschaugen glänzte von Schweiß. Er trug einen grünen, mit Silberknöpfen besetzten Frack, eine protzige Uhrkette über der roten Samtweste, und am Gürtel, gut sichtbar für jedermann, eine pralle Geldbörse.

Ochsenblaschke aus Kamenz war einer der reichsten und wohl der gerissenste aller Viehhändler weit und breit. Er schob Leuschnern und Neubauers Gustav beiseite, dann rief er mit seiner lauten, polternden Stimme:

»Wie kommt denn, zum Kuckuck, der fette Ochs an den dürren Bauern? Ich nehm ihn für fünfundzwanzig.«

Tonda kratzte sich hinterm Ohr. »Bißchen wenig, Herr...«

»Bißchen wenig? Na hör mal!«

Blaschke zog eine große silberne Schnupftabaksdose hervor, ließ den Deckel aufschnappen, hielt sie Tonda hin. »Prise gefällig?« Erst schnupfte er selber, dann ließ er den alten Wenden schnupfen.

»Haptschi - daß es wahr ist!«

»Zum Wohlsein, Herr!«

Ochsenblaschke schneuzte sich in ein großes kariertes Taschentuch. »Also siebenundzwanzig, in Teufelsnamen - und her mit ihm!«

»Bißchen wenig, Herr.«

Blaschke lief rot an.

»He - wofür hältst du mich? Siebenundzwanzig für deinen Ochsen, und keinen Hosenknopp drüber, so wahr ich der Ochsenblaschke aus Kamenz bin!«

»Dreißig, Herr«, sagte Tonda. »Für dreißig bekommt Ihr ihn.«

»Das ist Wucher!« rief Blaschke. »Willst du mich auf den Hund bringen?« Er verdrehte die Augen, er rang die Hände. »Hast du kein Herz im Leib? Bist du blind und taub für die Not eines armen Handelsmannes? Laß dich erweichen, Alter, und gib mir den Ochsen für achtundzwanzig!«

Tonda blieb ungerührt.

»Dreißig - und basta! Der Ochs ist ein Prachtstück, den geb ich nicht unterm Preis her. Ihr ahnt nicht, wie schwer ich mich von ihm trenne. Müßte ich meinen eigenen Sohn verkaufen, das könnte nicht schlimmer sein.«

Ochsenblaschke sah ein, daß er hier nicht weiterkam. Aber der Ochs war ein kapitaler Bursche. Wozu also Zeit verschwenden mit diesem wendischen Dickschädel?

»Gib ihn schon her, in Dreiteufelsnamen!« rief er. »Ich hab meinen weichen Tag heut, da laß ich mich um den Finger wickeln, das ist mein Nachteil. Und alles nur, weil ich ein Herz für die armen Leute habe. Die Hand drauf - und topp!«

»Topp!« sagte Tonda.

Dann nahm er die Mütze herunter und ließ sich von Blaschke die dreißig Gulden hineinzählen, Stück für Stück.

»Hast du mitgezählt?«

»Hab ich.«

»Dann her mit dir, Wendensohn!«

Ochsenblaschke nahm Andrusch beim Strick und wollte ihn wegzerren; Tonda jedoch hielt den Dicken am Ärmel zurück.

»Was gibt's?« fragte Blaschke.

»Nu ja«, sagte Tonda und tat verlegen. »Bloß eine Kleinigkeit.«

»Nämlich?«

»Wenn der Herr Blaschke so gut war und möcht mir den Kopfstrick dalassen, tat ich's ihm danken...«

»Den Kopfstrick?«

»Zum Andenken. Weil der Herr Blaschke doch wissen sollte, wie schwer ich mich von dem Ochsen trenne. Ich geb ihm auch einen Ersatz dafür, dem Herrn Blaschke - damit er ihn wegführen kann, meinen armen Ochsen, der ja nun ihm gehört...«

Tonda löste den Strick, den er um die Hüften trug. Blaschke erlaubte ihm achselzuckend, ihn gegen den Kopfstrick des Ochsen auszutauschen. Dann rückte der Händler mit Andrusch ab; und kaum war er um die nächste Ecke, da fing er zu schmunzeln an — denn er hatte zwar dreißig Gulden für Andrusch bezahlt, und das war ein gesunder Preis: doch in Dresden, da sollte es ihm nicht schwerfallen, diesen Staatsochsen für das Doppelte an den Mann zu bringen, vielleicht auch für mehr.

Am Waldrand hinter den Teichhäusern ließen sich Tonda und Krabat im Gras nieder, um auf Andrusch zu warten. Sie hatten in Wittichenau ein Stück Speck und ein Brot gekauft, davon aßen sie nun.

»Du warst gut!« sagte Krabat zu Tonda. »Du hättest dich sehen müssen, wie du dem Dicken die Goldstücke aus der Nase gezogen hast: Bißchen wenig, Herr, bißchen wenig... Ein Glück nur, daß du zur rechten Zeit an den Kopfstrick gedacht hast; den hätte ich glatt vergessen.«

»Alles Gewohnheit«, versicherte Tonda leichthin.

Sie hoben ein Stück von dem Brot und vom Speck für Andrusch auf, wickelten beides in Krabats Kittel ein und beschlossen, sich eine Weile langzulegen. Satt, wie sie waren, und müde vom weiten Weg auf der Landstraße, schliefen sie tief und fest - bis ein »Muh!« sie weckte und Andrusch vor ihnen stand: wieder in Menschengestalt und, soweit sich das sehen ließ, wohlbehalten an Leib und Gliedern.

»He, ihr da - es hat schon mal welche gegeben, die haben sich krumm und dumm geschlafen! Habt ihr nicht wenigstens ein Stück Brot für mich?«

»Brot und Speck«, sagte Tonda. »Setz dich zu uns her, Bruder, und laß dir's schmecken! Wie ist es dir denn ergangen mit Ochsenblaschke?«

»Wie wird es mir schon ergangen sein!« brummte Andrusch. »Daß es für einen Ochsen bei dieser Hitze kein reines Vergnügen ist, meilenweit über Land zu trotten und Staub zu schlucken, versteht sich ja wohl von selbst - noch dazu, wenn man's nicht gewöhnt ist. Jedenfalls bin ich nicht böse gewesen, als Blaschke im Oßlinger Kretscham einkehrte. >Gucke da!< ruft der Kretschmer, wie er uns kommen sieht, >der Herr Vetter aus Kamenz! Wie geht's denn, wie steht's noch immer?< - >Gehen tut's leidlich<, sagt Blaschke, >wenn bloß der Durst nicht so groß war bei dieser Hitze !< - >Dem können wir abhelfen!< meint der Kretschmer. >Komm in die Schankstube an den Herrentisch! Bier ist genug im Keller, das schaffst du in sieben Wochen nicht - nicht einmal du schaffst das!< - >Und der Ochs?< fragt der Dicke, >mein Dreißigguldenochse ?< - >Den bringen wir in den Stall, er soll Wasser und Futter haben, soviel er mag!< - Ochsenfutter, versteht sich ...«

Andrusch spießte ein großes Stück Speck aufs Messer und schnupperte dran, bevor er es in den Mund schob und fortfuhr:

»Sie haben mich in den Stall gebracht, der Kretschmer von Oßling hat nach der Stallmagd gerufen.

>He, Kathel - versorg mir den Ochsen vom Kamenzer Vetter gut, daß er uns nicht vom Fleisch fällt!< - >Schon rechts sagt die Kathel und stopft mir auch gleich einen Arm voll Heu in die Raufe. Da reicht es mir mit dem Ochsenleben, und ohne mich lang zu besinnen, sag ich, mit Menschenworten sag ich es: >Heu und Stroh könnt ihr selber fressen - ich mag einen Schweinebraten mit Knödeln und Kraut und ein schönes Bier dazu!<«

»Ach du grüne Sieben!« rief Krabat. »Und weiter?«

»Nu ja«, sagte Andrusch. »Die drei sind vor Schreck auf den Hintern gefallen und haben um Hilfe geschrien, als ob sie am Spieße steckten. Da. habe ich sie zum Abschied noch einmal angemuht - und dann bin ich als Schwälbchen zur Stalltür hinausgesegelt, tschieptschiep, das war alles.«

»Und Blaschke?«

»Hol ihn der Teufel samt seinem Viehhandel!« Andrusch griff nach dem Ochsenziemer, und wie zur Bekräftigung knallte er wild drauflos. »Ich bin froh, daß ich wieder da bin mit meiner Pockennase!«

»Ich auch«, sagte Tonda. »Du hast deine Sache gut gemacht - und Krabat, denke ich, wird eine Menge dabei gelernt haben.«

»Ja!« rief der Junge. »Ich weiß nun, wie spaßig es ist, wenn man zaubern kann!«

»Spaßig?« Der Altgesell wurde ernst. »Du magst recht haben - spaßig ist es zuweilen auch.«

Feldmusik

Der polnischen Krone wegen führte der Kurfürst von Sachsen seit Jahren Krieg mit dem Schwedenkönig; und da man zum Kriegführen außer Geld und Kanonen vor allem Soldaten braucht, ließ er im Lande fleißig die Trommel rühren und Truppen anwerben. Es gab Burschen genug, die freiwillig zu den Fahnen liefen, besonders am Anfang des Krieges; bei anderen mußten die Werber nachhelfen, sei es mit Branntwein, sei es mit Stockschlägen. Doch was tat man nicht alles im Dienst eines glorreichen Regimentes, zumal es für jeden Rekruten, den man ihm zuführte, ein besonderes Kopfgeld gab.

Ein Trupp Werber, bestehend aus einem Leutnant vom Dresdener Fußregiment, einem Schnauzbart von Korporal, zwei Gefreiten und einem Tambour, der seine Trommel wie einen Buckelkorb auf dem Rücken trug - ein Trupp Werber verirrte sich eines Abends im Frühherbst auch in den Koselbruch. Es dunkelte schon, der Meister war über Land geritten, auf drei, vier Tage, die Mühlknappen lümmelten in der Gesindestube herum und gedachten den Rest des Tages mit Faulenzen zuzubringen: da klopfte es an der Tür, und als Tonda hinausging, stand draußen der Leutnant mit seinen Soldaten: Man sei Offizier Seiner Durchlaucht des allergnädigsten Kurfürsten, und man habe den Weg verloren, weshalb man in dieser verdammten Mühle Quartier zu nehmen sich resolviert habe für die Nacht - ob das klar sei?

»Gewiß, Euer Gnaden. Ein Platz auf dem Heuboden findet sich allemal für Euch.«

»Auf dem Heuboden?« schnauzte der Korporal. »Er ist wohl nicht recht bei Trost, Kerl! Das beste Bett in der Mühle für Seine Gnaden, potz Schlapperment - und der Schinder holt Ihn, wenn meines um ein Haar schlechter ist! Hunger haben wir außerdem. Also aufgetischt, was die Küche hergibt, und Bier oder Wein dazu, das ist einerlei, wenn's nur ausreicht - und ausreichen muß es, sonst schlag ich Ihm eigenhändig die Knochen im Leib entzwei! Vorwärts, und sput Er sich, oder die Pestilenz soll Ihm in den Balg fahren!«

Tonda pfiff durch die Zähne, leicht nur und kurz, doch die Mühlknappen in der Stube hörten ihn. Als der Altgesell mit den Werbern die Stube betrat, war sie leer.

»Belieben die Herren Soldaten nur Platz zu nehmen, das Essen kommt gleich!«

Während die ungebetenen Gäste sich's in der Gesindestube behaglich machten, die Halsbinden lockerten und die Gamaschen aufknöpften, steckten die Mühlknappen in der Küche die Köpfe zusammen, um zu beratschlagen.

»Diese bezopften Affen!« rief Andrusch. »Was glauben die eigentlich, wer sie sind!«

Er hatte schon einen Plan parat. Alle Burschen, selbst Tonda, erklärten sich unter großem Hallo damit einverstanden. In Eile richteten Andrusch und Staschko mit Michals und Mertens Hilfe die Speisen her: drei Schüsseln voll Kleie und Sägemehl, mit ranzigem Leinöl zu einem Brei verrührt und mit Tabakskrümeln gewürzt. Juro lief in den Schweinestall und kam mit zwei angeschimmelten Broten unter dem Arm zurück. Krabat und Hanzo füllten fünf Bierkrüge mit dem brackigen Traufwasser aus der Regentonne.

Als alles bereit war, ging Tonda zu den Soldaten hinein und meldete, daß das Essen fertig sei. Wenn Seine Gnaden gestatten, werde er auftragen lassen.

Dann schnalzte er mit den Fingern; und dies war ein Fingerschnalzen besonderer Art, wie sich noch herausstellen sollte.

Zunächst ließ der Altgesell die drei Schüsseln herbeibringen. »Hier, wenn's gefällig ist, eine Nudelsuppe mit Rindfleisch und Hühnerklein - da eine Schüssel Grünkohl mit Kuttelfleck - dort ein Gemüse von weißen Bohnen, gerösteten Zwiebeln und Speckgrieben ...«

Der Leutnant schnupperte an den Speisen, ihm fiel die Wahl schwer.

»Recht brav, was Er uns da auftischt. Laß Er mich mal die Suppe versuchen, fürs erste!«

Auch Schinken sei da und Rauchfleisch, fuhr Tonda fort, auf die schimmligen Brote zeigend, die Juro auf einer Platte hereintrug.

»Fehlt aber noch das Wichtigste!« mahnte der Korporal. »Rauchfleisch macht durstig - und Durst will gelöscht sein, solang er jung ist, potz Krätze- und-Cholera-auf-den-Hals!«

Auf Tondas Wink kamen Hanzo und Krabat, Petar, Lyschko und Kubo hereinmarschiert, jeder mit einem Bierkrug voll Traufwasser.

»In Respekt, Euer Gnaden - auf Dero Gesundheit!« Der Korporal leerte seinen Krug auf das Wohl des Leutnants, dann wischte er sich den Schnauzbart und rülpste. »Nicht schlecht, das Gesöff - meiner Seele, nicht schlecht, das Zeug! - Selbstgebraut?«

»Nein«, sagte Tonda. »Vom Bräuhof in Traufersdorf, mit Verlaub.«

Es wurde ein lustiger Abend. Die Werber aßen und tranken für zehn, und die Mühlknappen lachten sich eins, denn sie sahen ja, was die Herren Soldaten in Wirklichkeit zu verspeisen beliebten, ohne es im geringsten zu ahnen.

Die Regentonne war groß. Das Traufwasser reichte hin, um die Bierkrüge wieder und wieder aufzufüllen. Allmählich begannen sich die Gesichter der Gäste zu röten. Der Tambour, ein Junge in Krabats Alter, kippte beim fünften Krug wie ein Mehlsack vornüber; er schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte, daß es sich anhörte wie ein Paukenschlag, und begann zu schnarchen. Die anderen tranken fleißig weiter - und mitten im schönsten Gelage entsann sich der Leutnant beim Anblick der Müllerburschen des Kopfgeldes, das ihm für jeden der Fahne zugeführten Rekruten winkte.

»Wie wäre es«, rief er, den Bierkrug schwenkend, »wenn ihr die Müllerei an den Nagel hängtet und Kriegsdienst nähmet? Als Mühlenknecht ist man ein Nichts, ein Niemand, ein Haufen Dreck. Als Soldat aber...«

»Als Soldat«, fiel der Korporal ein und hieb mit der Faust auf den Tisch, daß der Tambour aufquäkte, »als Soldat hat man gute Zeiten bei festem Sold unter fröhlichen Kameraden. Und bei den Bürgersleuten, insonderheit bei den Mädchens und jungen Witwen, da ist man wer, wenn man zweifarben Tuch trägt - und Nickelknöppe am Rock - und Gamaschen, bis übers Knie herauf!«

»Und der Krieg?« wollte Tonda wissen.

»Der Krieg?« rief der Leutnant. »Der Krieg ist für einen Soldaten das beste, was er sich wünschen kann. Wenn er das Herz auf dem rechten Fleck und ein bißchen Glück hat, wird es ihm weder an Ruhm noch an Beute fehlen. Er kriegt einen Orden, man macht ihn für seine Heldentaten zum Korporal oder gar zum Wachtmeister. ..«

»Und manch einer«, trumpfte der Korporal auf, »manch einer hat es im Krieg vom gemeinen Mann bis zum Offizier gebracht, ja zu Generalsehren! Fressen will ich mich lassen und hinterher wieder ausspucken, wenn dies nicht alles die reinste und lauterste Wahrheit ist!«

»Darum fackelt nicht lang!« rief der Leutnant. »Seid brave Burschen und folgt uns zum Regiment! Ich nehme euch als Rekruten an, wie ihr seid - auf Handschlag!«

»Auf Handschlag!« Der Altgesell schlug in die dargebotene Rechte des Leutnants ein. Michal, Merten und alle übrigen taten desgleichen.

Der Leutnant strahlte. Der Korporal, nicht ganz sicher mehr auf den Beinen, wankte reihum und griff ihnen nach den Schneidezähnen.

»Mal sehen, verdammt noch eins, ob die Dinger festsitzen! Die Vorderzähne, das weiß man ja, müssen bei einem Soldaten in Ordnung sein, sonst könnte er keine Patronen abbeißen im Gefecht und nicht auf die Feinde des allerdurchlauchtigsten Kurfürsten schießen, wie man es ihn gelehrt hat und wie er's der Fahne schuldig ist.«

Aber da fehlte nichts. Nur bei Andrusch war sich der Korporal im Zweifel. Ein Ruck und ein Gegendruck mit dem Daumen: da war es geschehen.

»Himmelfixtürken!« Der Korporal hatte Andrusch zwei Zähne herausgebrochen. »Was denkt Er sich, Lausekerl? Will Er mit Seinem Altweibergebiß Soldat werden? Scher Er sich weg da, Er Zahnkrüppel, sonst vergeß ich mich!«

Andrusch blieb ruhig und freundlich. »Wenn es gestattet ist«, sagte er, »das sind meine Zähne, die möcht ich wiederhaben.«

»Er kann sie sich an den Hut stecken!« knurrte der Korporal.

»An den Hut?« meinte Andrusch, als ob er nicht recht gehört habe. »Nicht doch!«

Er ließ sich die Zähne geben und spuckte darauf, dann setzte er sie sich ein, an die alte Stelle.

»Nun werden sie fester sitzen als vorher. Belieben der Herr, sich zu überzeugen?«

Die Burschen grinsten, dem Korporal schwoll die Zornesader. Der Leutnant indessen, des Kopfgeldes eingedenk, mochte auf Andrusch ungern verzichten, er drängte:

»Nu - zieh Er schon!«

Der Korporal, obzwar widerstrebend, parierte Order und faßte nach Andruschs Zähnen. Doch seltsam: wie stark er auch daran ruckte und rüttelte, diesmal gaben sie nicht um ein Jota nach - selbst dann nicht, als er versuchte, sie mit dem Stiel seiner Stummelpfeife herauszubrechen.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« stieß er keuchend hervor.

»Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen! Aber je nun, mir soll's gleich sein. Ob diese Pockennase Soldat werden darf oder nicht, hab nicht ich zu entscheiden, das muß Euer Gnaden tun...«

Der Leutnant kratzte sich hinterm Ohr. Auch er hatte viel getrunken, auch ihm kam die Sache spanisch vor. »Wollen den Fall überschlafen«, meinte er. »Vor dem Abmarsch werden wir uns den Burschen noch einmal vorknöpfen.« Dann verlangte er schlafenzugehen.

»Sehr wohl«, sagte Tonda. »Ich habe für Euer Gnaden das Bett richten lassen, worin sonst der Meister schläft, und für den Herrn Korporal einen Platz in der Gästestube. Wohin aber mit den Herren Gefreiten und dem Herrn Tambour?«

»D-da mach Er sich keine Umstände!« lallte der Korporal. »D-die sollen ins Heu kriechen, d-das ist allemal gut genug für d-die!«

Am anderen Morgen erwachte der Leutnant in einer Kiste voll Runkelrüben, die hinter dem Haus stand; der Korporal aber fand sich im Sautrog wieder. Da hoben die beiden gewaltig zu schimpfen an und zu donnerwettern. Die Müllerburschen kamen herbeigestürzt, alle zwölfe, und taten ganz unschuldig.

Was denn, wie denn, man habe die Herren doch gestern abend gebührend zu Bett gebracht. Ob sie mondsüchtig seien? Das sehe nach Schlafwandelei aus, zumindest aber, bescheidentlich anzumerken, nach einem gewaltigen Bierrausch. Ein Glück, daß die Herren sich, während sie in der Mühle umhertappten, keine Beulen und Schrammen geholt hätten, wenn nicht Schlimmeres! Doch man wisse ja aus Erfahrung, daß Kinder, Narren und Saufköppe ihren besonderen Schutzengel hätten.

»Maul halten!« schnauzte der Korporal. »Verschwindet jetzt, fertiggemacht zum Abmarsch! Und Er da, der Pockennasige, laß Er sich an die Zähne fassen!«

Da Andruschs Zähne der Probe standhielten, brauchte der Leutnant sich kein Gewissen daraus zu machen, als er entschied, daß der Bursche tauglich sei.

Nach dem Frühstück rückten die Werber mit den Rekruten ab. Sie marschierten nach Kamenz, zum Musterplatz ihres Regiments: an der Spitze der Leutnant, vom Tambour gefolgt, dann die Müllerburschen in Reih und Glied, dann die beiden Gefreiten und schließlich, am Ende des Zuges, der Korporal. Die Mühlknappen waren bei guter Laune, ihren Begleitern schien minder wohl zu sein. Je länger der Weg, desto bleicher und käsiger wurden sie im Gesicht, desto häufiger mußte der eine oder der andere in den Büschen am Wegrand verschwinden. Krabat, mit Staschko im letzten Glied marschierend, hörte, wie einer der beiden Gefreiten dem anderen klagte:

»Bei Gott, Kamerad, es ist mir, als hätte ich zehn Pfund Kleister gefressen - so scheußlich liegt mir's im Magen!«

Krabat wechselte einen belustigten Blick mit Staschko. »Das kommt davon«, dachte er, »wenn man Sägespäne für Nudeln in sich hineinschlingt, verschimmeltes Brot für Rauchfleisch und Tabakskrümel für Majoran!«

Am Nachmittag ließ sie der Leutnant am Rand eines Birkenwäldchens noch einmal rasten.

»Wir haben von hier eine Viertelmeile bis Kamenz«, sagte er. »Wer verschwinden muß, der verschwinde, denn dies ist die letzte Gelegenheit. - Korporal!«

»Euer Gnaden?«

»Laß Er die Kerls ihre Sachen in Ordnung bringen, und halt Er sie an, daß sie nicht aus der Reihe tanzen, wenn's in die Stadt geht - und daß sie brav Schritt halten, akkurat mit dem Trommelschlag!«

Nach kurzem Aufenthalt setzte der Trupp sich erneut in Marsch, diesmal mit Trommelklang und Trompetenschall.

Mit - Trompetenschall?

Andrusch hatte die Rechte zu einem Trichter geformt an die Lippen gesetzt, und nun blies er aus vollen Backen den schwedischen Grenadiermarsch, wie ihn der beste Hornist auf dem prächtigsten aller Hörner nicht trefflicher hätte blasen können.

Den anderen Burschen gefiel das. Auch sie fingen lautstark zu musizieren an: Tonda, Staschko und Krabat bliesen Posaune, Michal, Merten und Hanzo das Flügelhorn; die übrigen teilten sich in die kleinen und großen Trompeten, und Juro spielte das Bombardon. Obgleich sie, wie Andrusch, nur auf den Händen bliesen, klang es, als käme da eine ganze königlich schwedische Regimentsmusik anmarschiert.

»Aufhören!« wollte der Leutnant schreien, und »Aufhören, Lausekerls, aufhören!« setzte der Korporal zu brüllen an. Doch sie brachten kein Wort heraus, und sie konnten auch nicht, wie sie gern gewollt hätten, mit dem Krückstock dazwischenfahren. Sie mußten an ihren Plätzen bleiben und mitmarschieren, der eine voraus und der andere hinterdrein - da half alles nichts, auch kein Fluch und kein Stoßgebet.

Mit Trompeten und Hörnerklang ging es nach Kamenz hinein, zum Gaudium aller Soldaten und Bürgersleute, denen sie auf der Straße begegneten. Kinder kamen herbeigelaufen und riefen Hurra, in den Häusern wurden die Fenster geöffnet, die Kamenzer Jungfern winkten ihnen und warfen Kußhände.

Unter klingendem Spiel zogen Tonda und seine Mitgesellen samt der Eskorte etliche Male rund um den Rathausplatz, dessen Ränder sich rasch mit Zuschauern füllten, bis schließlich, vom Klang der verhaßten schwedischen Feldmusik in Alarm versetzt, Herr Christian Leberecht Fürchtegott Edler von Landtschaden-Pummerstorff auf den Plan trat, Obrist Seiner allerdurchlauchtigsten Gnaden des sächsischen Kurfürsten Fußregiments zu Dresden, ein alter, in langen Dienstjahren etwas dicklich gewordener Haudegen.

Herr von Landtschaden-Pummerstorff kam, von drei Stabsoffizieren und mehreren Ordonnanzen gefolgt, auf den Marktplatz gestapft. Ob des närrischen Schauspieles, das sich ihm darbot, wollte er seiner Entrüstung mit einem Schwall der erlesensten Flüche Luft machen - da verschlug's ihm die Sprache.

Denn Andrusch, kaum daß er den Herrn Obristen erspäht hatte, stimmte mit seinen Gefährten den Defiliermarsch der schwedischen Reiterei an - was, wie vorauszusehen, den Alten als wackeren kurfürstlich sächsischen Fußsoldaten in Weißglut brachte. Zudem war es eine Weise, zu der es sich besser traben ließ als marschieren, weshalb sich die Müllerburschen und ihre Begleiter sogleich in Trab setzten, was recht possierlich aussah, nur in den Augen des Herrn Obristen nicht.

Sprachlos vor Zorn, und nach Luft schnappend wie ein Karpfen im Netz, mußte Landtschaden-Pummerstorff zusehen, wie auf dem Kamenzer Marktplatz ein Dutzend Rekruten zu den Klängen eines noch dazu feindlichen Kavalleriemarsches Hoppe-Hoppe-Reiter machte. Was aber, zum Satan, war in den sie eskortierenden Leutnant gefahren, daß er den Schlingeln auf seinem Säbel voransprengte, den er sich wie ein Steckenpferd zwischen die Beine geklemmt hatte! Angesichts dieses höchst würdelosen Verhaltens eines kursächsischen Offiziers fiel es kaum ins Gewicht, daß sich auch dessen Leute einschließlich Tambour und Korporal nicht entblödeten, bei der Hopserei mitzumachen.

»Eskadron - halt!« kommandierte Tonda, nachdem sie den Marsch zu Ende geblasen hatten. Dann bauten die Müllerburschen sich vor dem Obristen auf, schwenkten zum Gruß die Mützen und grinsten ihn an.

Herr von Landtschaden-Pummerstorff trat auf sie zu und begann zu brüllen wie zwölf Korporale gleichzeitig:

»Wer, zum Teufel, hat euch ins Hirn geschissen, verdammtes Lausepack, daß ihr euch untersteht, einen solchen Affentanz aufzuführen, bei hellem Tag und vor allen Leuten! Wer seid ihr denn, Lumpenkerls, daß ihr die Stirn habt, mich anzugrinsen! Aber ich sage euch — ich, der Obrist dieses glorreichen Regimentes, das sich in siebenunddreißig Schlachten und einhundertneunundfünfzig Scharmützeln mit Ruhm bedeckt hat -, ich sage euch, daß ich gesonnen bin, euch die Narrens-Possen von Grund auf auszutreiben! Ich werde euch dem Profos übergeben, ich lasse euch durch die Spieße jagen, ich ...«

»Schluß!« sagte Tonda und schnitt ihm das Wort ab. »Ich denke, daß Ihr Euch den Profos und die Spieße sparen könnt. Wir zwölf nämlich, die wir da vor Euch stehen, eignen uns ohnehin nicht für das Soldatenleben. Tröpfe wie der da« - er deutete auf den Leutnant - »und Schwartenhälse wie er - damit zeigte er auf den Korporal -»mögen sich bei der Armee ja ganz wohl befinden, solang man sie nicht zusammenschießt. Wir aber, meine Freunde und ich, sind von anderem Holz gemacht: wir pfeifen auf Euer ganzes Brimborium samt dem allerdurchlauchtigsten Kurfürsten, dem Ihr das gern bestellen könnt, wenn Ihr mögt!«

Dann verwandelten sich die Müllerburschen in Raben und schwangen sich in die Lüfte. Krächzend zogen sie eine Schleife über dem Rathausplatz; und zum Abschied bedeckten sie Hut und Schultern des Herrn Obristen - wenngleich nicht gerade mit Ruhm.

Das Andenken

In der zweiten Oktoberhälfte war es noch einmal sonnig und warm geworden, fast wie im Spätsommer. Sie nutzten die schönen Tage, um ein paar Fuder Torf zu holen, Juro spannte die Ochsen ein, Staschko und Krabat beluden das Fuhrwerk mit Brettern und Holzbohlen, auch zwei Schubkarren packten sie auf. Dann kam Tonda hinzu, und sie fuhren los.

Der Torfstich lag draußen, im oberen Teil des Koselbruchs, jenseits des Schwarzen Wassers. Krabat hatte im Sommer mit einigen anderen dort gearbeitet, während der heißesten Zeit des Jahres. Im Umgang mit Stechscheit und Torfmesser ungeübt, hatte er Michal und Merten geholfen, die schwarzen, fettig glänzenden Torfziegel aus der Kuhle herauszukarren und aufzuschlichten.

Die Sonne schien, in den Wassertümpeln am Wegrand spiegelten sich die Birken. Das Gras auf den Hügeln im Moor war vergilbt, das Heidekraut längst verblüht. Im Gesträuch hingen rote Beeren, spärlich, wie Blutstropfen da und dort. Und zuweilen, von Zweig zu Zweig gespannt, glitzerte silbrig das späte Netz einer Spinne auf.

Krabat dachte an früher zurück, an die Kinderjahre in Eutrich: Wie sie an solchen Herbsttagen Klaubholz gesammelt hatten im Wald und Föhrenzapfen. Und manchmal hatten sie im Oktober noch Pilze gefunden, Hallimasch, Reizker und Täublinge. - Ob es auch diesmal noch Pilze gab? Warm genug war es ja ...

Auf der Höhe des Torfplatzes angekommen, hielt Juro die Ochsen an. »Abladen, wir sind da!«

Sie legten an einer schmalen Stelle die Bohlen über das Schwarze Wasser und pflockten sie fest. Dann fügten sie Brett um Brett aneinander, der Länge nach, daß sie eine Bahn ergaben, und Staschko schob Holzknüttel unter, damit sie nicht durchhingen oder an moorigen Stellen absackten. Aber die Strecke vom Steg bis zum Torfplatz war länger, als sie geschätzt hatten. Juro erbot sich, die fehlenden Bretter zu holen, doch Staschko erklärte, daß das nicht nötig sei. Er brach einen Zweig von der nächsten Birke, dann schritt er die Karrenbahn ab, wobei er im Takt eines Zauberspruchs mit dem Zweig auf die Bretter einschlug. Da fingen sie an, sich zu strecken und schoben sich bis zum Torfplatz vor.

Krabat war überwältigt. »Ich frage mich«, rief er, »weshalb wir denn überhaupt noch arbeiten, wo sich doch alles zaubern läßt, was wir mit unseren Händen verrichten müssen!«

»Gewiß«, sagte Tonda. »Aber was meinst du, wie bald dir ein solches Leben zum Hals heraushinge! Ohne Arbeit: das ist auf die Dauer nichts - außer, du willst über kurz oder lang vor die Hunde gehen.«

Am Rand des Torfplatzes stand ein Bretterschuppen, dort waren die trockenen Torfziegel aus dem Vorjahr gelagert. Die Burschen brachten sie schubkarrenweise zum Wagen, wo Juro sie auf das Fuhrwerk umpackte. War es beladen, dann kletterte er aufs Sitzbrett, rief: »Wüüüh!«, und die Ochsen zockelten los, gemächlich der Mühle zu.

Die Zeit bis zu Juros Rückkehr verwendeten Tonda, Staschko und Krabat darauf, den im Sommer gestochenen Torf in den Schuppen zu bringen und einzuschlichten. Sie brauchten sich nicht zu beeilen damit, und das brachte den Jungen auf einen Gedanken.

Er fragte den Altgesellen und Staschko, ob sie es ihm erlauben würden, für kurze Zeit wegzugehen.

»Wohin?«

»In die Pilze. Ihr braucht nur zu pfeifen, dann komme ich gleich zurück.«

»Wenn du glaubst, daß du welche findest...«

Tonda war einverstanden und Staschko auch.

»Hoffentlich«, rief er, »hast du ein langes Messer mit!«

»Wenn ich eins hätte, würde ich's mitnehmen«, meinte Krabat.

»Dann leih ich dir meines«, sagte der Altgesell. »Da - und verlier es nicht!«

Er zeigte ihm, wie sich das Messer mit einem Druck auf die Schalen des Griffes öffnen ließ. Die Klinge schnappte heraus, sie war schwärzlich verfärbt, als ob Tonda sie über den Docht einer brennenden Kerze gehalten hätte.

»Jetzt du!« Damit schloß er das Messer wieder und gab es dem Jungen. »Laß sehen, ob du damit zurechtkommst!«

Als Krabat die Klinge aufschnappen ließ, war sie blank und unverfärbt.

»Hast du was?« fragte Staschko.

»N-nein«, sagte Krabat. Er mußte sich wohl getäuscht haben.

»Dann aber los!« drängte Tonda. »Sonst riechen die Herren Pilze Lunte und nehmen Reißaus vor dir.«

Vier Tage brachten sie auf dem Torfplatz zu, viermal ging Krabat zum Pilzesuchen. Er fand aber nichts, mit Ausnahme einiger überständiger Birkenpilze, die braun und zäh waren.

»Mach dir nichts draus«, sagte Staschko. »So spät im Jahr kannst du nicht verlangen, daß du was findest - es sei denn, du hättest ein bißchen nachgeholfen ...«

Er sprach eine Zauberformel, er drehte sich siebenmal um sich selber, die Arme vom Körper abgespreizt - da entsprossen dem Torfplatz wohl an die siebzig Pilze. Gleich Maulwürfen stießen sie aus dem Boden, Kappe an Kappe, nach Art eines Hexenringes zum Kreis gereiht: Steinpilze, Rotkappen, Braunkappen, Birkenpilze und Blaupilze, einer so kernig und frisch wie der andere.

»Oh!« staunte Krabat. »Den Zauber mußt du mich lehren, Staschko!«

Er zückte das Messer, er wollte sich auf die Pilze stürzen, um sie zu ernten. Sie aber, ehe er sie berühren konnte, schrumpften zusammen und schlüpften zurück in den Boden, flink, wie an Fäden hinabgezogen.

»Halt!« rief der Junge. »Halt doch!«

Da waren die Pilze schon weg, und weg blieben sie.

»Mach dir nichts draus«, sagte Staschko abermals. »Solche herbeigezauberten Pilze sind gallenbitter, an denen verdirbst du dir bloß den Magen! Vergangenes Jahr hat nicht viel gefehlt, und ich wäre krepiert daran.«

Am Abend des vierten Tages fuhr Staschko mit Juro heim, auf der letzten Torffuhre, während Tonda und Krabat zu Fuß nach der Mühle zurückkehrten, einen kürzeren Pfad wählend, der sie quer durch das Moor führte. Über den Torfkuhlen und den Tümpeln brauten die ersten Nebel.

Der Junge war froh, als sie endlich auf festen Boden kamen, das war in der Nähe des Wüsten Planes.

Von jetzt an konnten sie nebeneinander gehen. Es war eine Gegend, die von den Müllerburschen gemieden wurde; aus welchen Gründen, war Krabat unbekannt. Er entsann sich des Traumes von seiner Flucht. War da nicht etwas mit Tonda gewesen - mit einer Stelle hier draußen, wo sie den Altgesellen begraben hatten?

Doch Tonda, gottlob, ging an seiner Seite, er lebte.

»Ich möchte dir etwas schenken, Krabat.« Der Altgesell zog sein Klappmesser aus der Tasche. »Zum Andenken.«

»Wirst du uns denn verlassen?« fragte der Junge.

»Vielleicht«, sagte Tonda.

»Aber der Meister! Ich kann mir nicht denken, daß er dich ziehen läßt.«

»Manches geschieht, was sich mancher nicht denken kann«, sagte Tonda.

»So darfst du nicht sprechen!« rief Krabat. »Bleib mir zuliebe! Ich kann es mir auf der Mühle nicht vorstellen ohne dich.«

»Manches im Leben«, sagte der Altgesell, »kann sich mancher nicht vorstellen, Krabat. Man muß damit fertig werden.«

Der Wüste Plan war ein freies Geviert, kaum größer als eine Tenne, an dessen Rändern verkrüppelte Föhren wuchsen. Der Junge erkannte im Dämmerlicht eine Reihe von länglichen flachen Hügeln: wie Gräber auf einem aufgelassenen Friedhof, von Heidekraut überwuchert, ungepflegt, ohne Kreuz und Stein - wessen Gräber wohl?

Tonda war stehengeblieben.

»Nimm schon«, sagte er, Krabat das Messer reichend, und Krabat begriff, daß er sich nicht weigern durfte.

»Es hat«, sagte Tonda, »eine besondere Eigenschaft, die du kennen mußt. Sollte dir je Gefahr drohen - ernste Gefahr -, dann verfärbt sich die Klinge, sobald du sie aufklappst.«

»Wird sie dann - schwarz?« fragte Krabat.

»Ja«, sagte Tonda. »Als ob du sie über den Docht einer brennenden Kerze gehalten hättest.«

Ohne Pastor und Kreuz

Auf den schönen Herbst kam ein früher Winter. Zwei Wochen nach Allerheiligen schneite es zu, und das endgültig. Krabat mußte nun wieder Schnee räumen und die Zufahrt zur Mühle freihalten. Trotzdem kam in der nächsten Neumondnacht der Gevatter mit seinem Fuhrwerk quer über die verschneite Wiese herangeprescht. Ohne steckenzubleiben und ohne daß das Gefährt eine Spur hinterließ.

Dem Jungen machte der Winter nichts aus, zumal es bei allem Schnee nicht besonders kalt war; aber den anderen Müllerburschen schien er sich aufs Gemüt zu legen: von Woche zu Woche wurden sie mürrischer, und je näher das Jahresende heranrückte, desto schwieriger war es, mit ihnen auszukommen. Sie waren empfindlich wie rohe Eier und reizbar wie Truthähne. Beim nichtigsten Anlaß gerieten sie aneinander, selbst Andrusch machte in diesem Punkt keine Ausnahme.

Krabat erfuhr das, als er ihm einmal mit einem Schneeball die Mütze vom Kopf warf, aus Spaß nur, weil es ihn in den Fingern gejuckt hatte. Da ging Andrusch sofort auf ihn los, und er hätte den Jungen zusammengeschlagen wie nichts, wenn nicht Tonda dazwischengetreten wäre und sie getrennt hätte.

»Ist doch wahr!« schimpfte Andrusch. »Kaum hat er ein bißchen Flaum am Kinn, dieser Milchbart, da muß er schon frech werden! Aber warte, ein nächstesmal sollst du Haare lassen, daß du dich umschaust!«

Im Gegensatz zu den anderen Burschen war Tonda besonnen und freundlich geblieben wie eh und je, nur daß er dem Jungen um eine Spur trauriger vorkam als sonst, auch wenn er bemüht war, es keinen merken zu lassen.

»Vielleicht ist ihm bange nach seinem Mädchen«, vermutete Krabat - und wieder, obgleich er es nicht gewollt hatte, kam ihm die Kantorka in den Sinn. Seit langem hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er fand, es war besser, wenn er sie überhaupt vergaß. Aber wie das anstellen?

Weihnachten kam, für die Mühlknappen waren es Tage wie alle anderen. Lahm und verdrossen gingen sie ihrer Arbeit nach. Krabat wollte sie aufmuntern, holte im Wald ein paar Tannenzweige und schmückte den Tisch damit. Als die Burschen zum Essen kamen, wurden sie zornig.

»Was soll das?« rief Staschko. »Fort mit dem Plunder, weg damit!«

»Weg damit!« rief es von allen Seiten, selbst Michal und Merten fingen zu schimpfen an.

»Wer das Zeug in die Stube gebracht hat«, verlangte Kito, »der soll es auch wieder hinausschaffen!«

»Und zwar schnell!« drohte Hanzo, »sonst schlag ich ihm alle Zähne ein!«

Krabat versuchte sie zu beschwichtigen, wollte ein Wort der Erklärung sagen, doch Petar ließ ihn nicht ausreden.

»Weg damit!« fuhr er ihm über den Mund. »Oder muß man dir mit dem Knüppel kommen!«

Da fügte sich Krabat dem Willen der Burschen, aber es wurmte ihn. Was, zum Kuckuck, hatte er falsch gemacht? Oder maß er dem Zwischenfall mehr Bedeutung bei, als ihm zukam? Es gab ja in letzter Zeit ständig Verdruß auf der Mühle und Streiterei hin und her, wegen nichts und wieder nichts. Außerdem war er, das durfte er nicht vergessen, der Lehrjunge hier - und als Lehrjunge mußte man eben was einstecken dann und wann. Seltsam nur, daß er das früher niemals zu spüren bekommen hatte. Erst jetzt, seit es Winter geworden war, hackten sie alle auf ihm herum. Sollte das für den Rest der Lehrzeit so weitergehen - zwei volle Jahre noch?

Bei Gelegenheit fragte Krabat den Altgesellen, was mit den Burschen los sei.

»Was haben die?«

»Angst«, meinte Tonda und blickte an ihm vorbei.

»Angst wovor?« wollte Krabat wissen.

»Ich darf nicht darüber sprechen«, sagte der Altgesell. »Früh genug wirst du es erfahren.«

»Und du?« fragte Krabat. »Du, Tonda, hast keine Angst?«

»Mehr als du ahnst«, sagte Tonda mit einem Achselzucken.

Am Silvesterabend gingen sie früher als sonst zu Bett. Der Meister hatte sich während des ganzen Tages nicht blicken lassen. Vielleicht saß er in der Schwarzen Kammer und hatte sich eingeschlossen, wie er das manchmal tat - oder er war mit dem Pferdeschlitten über Land gefahren. Niemand vermißte ihn, keiner sprach von ihm.

Wortlos verkrochen die Burschen sich nach dem Abendbrot auf die Strohsäcke. »Gute Nacht«, sagte Krabat wie jeden Abend, weil es sich für den Lehrjungen so gehörte.

Heute schienen ihm die Gesellen das übelzunehmen. »Halt's Maul!« fauchte Petar, und Lyschko warf einen Schuh nach ihm.

»Öha!« rief Krabat, vom Strohsack hochschnellend. »Immer sachte! Man wird doch wohl gute Nacht sagen dürfen...«

Ein zweiter Schuh kam geflogen, er streifte ihn an der Schulter; den dritten fing Tonda ab.

»Laßt den Jungen in Frieden!« gebot er. »Auch diese Nacht wird vorübergehen.«

Dann wandte er sich an Krabat.

»Du solltest dich hinlegen, Junge, und still sein.«

Krabat gehorchte. Er ließ es geschehen, daß Tonda ihn zudeckte und ihm die Hand auf die Stirn legte.

»Schlaf du nun, Krabat - und komm gut hinüber ins neue Jahr!«

Für gewöhnlich schlief Krabat die Nächte durch bis zum nächsten Morgen, es sei denn, man weckte ihn. Heute erwachte er gegen Mitternacht ganz von selber. Es wunderte ihn, daß das Licht in der Lampe brannte und daß auch die anderen Burschen wach waren - alle, soweit er es übersehen konnte.

Sie lagen auf ihren Pritschen und schienen auf etwas zu warten. Kaum daß sie atmeten, kaum daß sich einer zu rühren wagte.

Im Haus war es totenstill - so still, daß der Junge sich vorkam, als sei er taub geworden.

Aber er war nicht taub, denn mit einemmal hörte er dann den Schrei - und das Poltern im Hausflur - und wie die Gesellen aufstöhnten: halb entsetzt, halb befreit.

War ein Unglück geschehen?

Wer war es, der da geschrien hatte in höchster Todesnot?

Krabat besann sich nicht lange. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Er rannte zur Bodentür, wollte sie aufreißen, wollte die Treppe hinuntereilen, um nachzusehen.

Die Tür war von draußen verriegelt. Sie ließ sich nicht öffnen, so wild er auch daran rüttelte.

Jemand legte ihm dann den Arm um die Schulter und sprach ihn an. Es war Juro, der dumme Juro, Krabat erkannte ihn an der Stimme.

»Komm«, sagte Juro. »Leg dich jetzt wieder auf deinen Strohsack.«

»Aber der Schrei!« keuchte Krabat. »Der Aufschrei vorhin!«

»Meinst du«, erwiderte Juro, »wir hätten ihn nicht gehört?«

Damit führte er Krabat an seinen Platz zurück.

Die Mühlknappen hockten auf ihren Pritschen. Schweigend, mit großen Augen starrten sie Krabat an. Nein - nicht Krabat! Sie starrten an ihm vorbei, auf den Schlafplatz des Altgesellen.

»Ist - Tonda nicht da?« fragte Krabat.

»Nein«, sagte Juro. »Leg dich jetzt wieder hin und versuch zu schlafen. Und heul nicht, hörst du! Mit Heulen macht man nichts ungeschehen.«

Am Neujahrsmorgen fanden sie Tonda. Mit dem Gesicht nach unten lag er am Fuß der Bodenstiege. Die Mühlknappen schienen nicht überrascht zu sein; nur Krabat vermochte es nicht zu fassen, daß Tonda tot war. Schluchzend warf er sich über ihn, rief ihn beim Namen und bettelte:

»Sag doch was, Tonda, sag doch was!«

Er griff nach der Hand des Toten. Gestern noch hatte er sie gespürt, auf der Stirn, vor dem Einschlafen. Jetzt war sie starr und kalt. Und sehr fremd war sie ihm geworden, sehr fremd.

»Steh auf«, sagte Michal. »Wir können ihn hier nicht liegen lassen.«

Er und sein Vetter Merten trugen den Toten in die Gesindestube und legten ihn auf ein Brett.

»Wie ist es dazu gekommen?« fragte der Junge.

Michal zögerte mit der Antwort.

»Er hat sich«, sagte er stockend, »den Hals gebrochen.«

»Dann ist er wohl - auf der Treppe fehlgetreten - im Finstern ...«

»Kann sein«, sagte Michal.

Er drückte dem Toten die Augen zu, schob ihm ein Bündel Stroh in den Nacken, das Juro geholt hatte.

Tondas Gesicht war fahl. »Wie aus Wachs«, dachte Krabat. Er konnte nicht hinsehen, ohne daß ihm die Tränen kamen. Andrusch und Staschko brachten ihn in den Schlafraum.

»Laß uns hierbleiben«, meinten sie. »Unten stünden wir bloß im Weg herum.«

Krabat hockte sich auf den Rand der Pritsche. Er fragte, was nun mit Tonda geschehen werde.

»Was eben so geschieht«, sagte Andrusch. »Juro versorgt ihn, der tut so was nicht zum erstenmal - und dann werden wir ihn begraben.«

»Wann?«

»Heute nachmittag, denke ich.«

»Ohne den Meister?«

»Den brauchen wir nicht dazu«, sagte Staschko barsch.

Am Nachmittag trugen sie Tonda in einem Fichtensarg aus der Mühle, hinaus in den Koselbruch, auf den Wüsten Plan. Das Grab war schon vorbereitet, die Wände der Grube waren mit Rauhreif bedeckt, der Aushub zugeschneit.

Sie begruben den Toten hastig und ohne Umstände. Ohne Pastor und Kreuz, ohne Kerzen und Klagelied. Keinen Augenblick länger als nötig verweilten die Burschen am Grabe.

Krabat allein blieb zurück.

Er wollte für Tonda ein Vaterunser beten, aber es war ihm entfallen: so oft er auch anfing, er brachte es nicht zusammen. Auf wendisch nicht, und auf deutsch erst recht nicht.

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