Der Meister blieb während der nächsten Tage verschwunden, in dieser Zeit stand die Mühle still. Die Mühlknappen lungerten auf den Pritschen herum, sie hockten am warmen Ofen. Sie aßen wenig und sprachen nicht viel, besonders nicht über Tondas Tod. Als habe es einen Altgesellen, der Tonda hieß, auf der Mühle im Koselbruch nie gegeben.
Am Ende der Pritsche, die ihm gehört hatte, lagen Tondas Kleider, sauber gefaltet und aufeinandergeschichtet: die Hosen, das Hemd und der Kittel, der Leibgurt, das Schurztuch und oben darauf die Mütze. Juro hatte die Sachen am Abend des Neujahrstages heraufgebracht, und die Burschen bemühten sich, so zu tun, als gelänge es ihnen, darüber hinwegzusehen. Krabat war traurig, er fühlte sich gottverlassen und elend. Daß Tonda ums Leben gekommen war, konnte kein Zufall gewesen sein: das wurde ihm mehr und mehr zur Gewißheit, je länger er sich darüber Gedanken machte. Es mußte da etwas geben, wovon er nichts wußte, was die Gesellen vor ihm geheimhielten. Worin bestand das Geheimnis? Warum hatte Tonda es ihm nicht anvertraut?
Fragen und wieder Fragen, die sich dem Jungen aufdrängten. Hätte er wenigstens etwas zu tun gehabt! Das Herumlungern machte ihn noch ganz krank.
Juro allein war in diesen Tagen beschäftigt wie immer. Er heizte die Öfen, er kochte, er sorgte dafür, daß das Essen rechtzeitig auf den Tisch kam, obgleich die Gesellen das meiste davon in den Schüsseln ließen. Es mag wohl am Morgen des vierten Tages gewesen sein, daß er den Jungen im Hausflur ansprach.
»Magst du mir einen Gefallen tun, Krabat? Du könntest mir ein paar Späne schneiden.«
»Ist recht«, sagte Krabat und folgte ihm in die Küche.
Neben dem Herd lag ein Bündel Kienholz bereit, zum Aufspanen. Juro ging an den Schrank, um ein Messer zu holen, doch Krabat erklärte, er habe sein eigenes bei der Hand.
»Um so besser! Dann los - und gib acht, daß du dich nicht schneidest!«
Krabat machte sich an die Arbeit. Es war ihm, als ginge von Tondas Messer eine lebendige Kraft aus. Nachdenklich wog er es in der Hand. Zum erstenmal seit der Neujahrsnacht faßte er wieder Mut, zum erstenmal spürte er neue Zuversicht.
Juro war unbemerkt neben ihn getreten und schaute ihm über die Schulter.
»Dein Messer«, meinte er - »damit kannst du dich sehen lassen ...«
»Ein Andenken«, sagte der Junge.
»Von einem Mädchen wohl?«
»Nein«, sagte Krabat. »Von einem Freund, wie es keinen mehr geben wird auf der Welt.«
»Das weißt du bestimmt?« fragte Juro.
»Das«, sagte Krabat, »weiß ich für Zeit und Ewigkeit.«
Am Morgen nach Tondas Begräbnis waren die Mühlknappen übereingekommen, daß Hanzo von nun an die Stelle des Altgesellen bekleiden sollte, und Hanzo erklärte sich damit einverstanden.
Der Meister blieb außer Haus bis zum Vorabend des Dreikönigstages. Sie lagen schon auf den Pritschen, und Krabat wollte gerade das Licht ausblasen, da öffnete sich die Bodentür. Der Meister erschien auf der Schwelle, sehr bleich, wie mit Kalk bestrichen. Er warf einen Blick in die Runde. Daß Tonda nicht da war, schien er zu übersehen; wenigstens ließ er es sich nicht anmerken.
»An die Arbeit!« befahl er. Dann machte er kehrt und verschwand für den Rest der Nacht.
In die Müllerburschen kam Leben. Sie schlugen die Decken zurück, sprangen hoch von den Strohsäcken, zogen hastig die Kleider über.
»Los!« drängte Hanzo. »Der Meister wird uns sonst ungeduldig, ihr kennt ihn ja!«
Petar und Staschko rannten zum Mühlenweiher, die Schleuse öffnen. Die anderen stolperten in die Mahlstube, schütteten Korn auf und ließen die Mühle anlaufen. Als sie in Fahrt kam, mit Ächzen und Stampfen und dumpfem Gedröhne, wurde es den Gesellen leicht ums Herz.
»Sie mahlt wieder!« dachte Krabat. »Die Zeit geht weiter...«
Um Mitternacht waren sie mit der Arbeit fertig. Als sie den Schlafraum betraten, sahen sie, daß auf der Pritsche, die Tonda gehört hatte, jemand lag: ein schmächtiges blasses Bürschlein mit schmalen Schultern und rotem Schöpf. Sie umringten den Schläfer und weckten ihn - so, wie sie Krabat geweckt hatten, damals, vor einem Jahr. Und wie Krabat vor ihnen erschrocken war, so erschrak nun der Rotschopf beim Anblick der elf Gespenster an seinem Bett.
»Keine Angst!« sagte Michal. »Wir sind hier die Müllerburschen, vor uns brauchst du nicht zu zittern. - Wie heißt du denn?«
»Witko. - Und du?«
»Ich bin Michal - und dies hier ist Hanzo, der Altgesell. Dies ist mein Vetter Merten - dies Juro...«
Am anderen Morgen, als Witko zum Frühstück kam, trug er Tondas Kleider. Sie paßten ihm, wie für ihn gemacht. Er schien sich nichts weiter dabei zu denken und fragte auch nicht, wem sie vorher gehört hatten. Das war gut so, das machte die Sache für Krabat erträglicher.
Am Abend - der neue Lehrjunge hatte sich tagsüber in der Mehlkammer abgerackert und war schon zu Bett gegangen - am Abend befahl der Müller die Burschen und Krabat zu sich in die Meisterstube. Bekleidet mit einem schwarzen Mantel, saß er in seinem Armstuhl: zwei brennende Kerzen vor sich auf dem Tisch, zwischen denen ein Handbeil lag - und sein Dreispitz, der gleichfalls von schwarzer Farbe war.
»Ich habe euch«, sagte er, als die Gesellen sich in der Stube versammelt hatten, »zu mir beschieden, wie es die Mühlenordnung verlangt. Ist ein Lehrjunge unter euch? Der mag vortreten!«
Krabat verstand nicht gleich, daß der Meister ihn meinte. Petar versetzte ihm einen Rippenstoß, da besann er sich und trat vor.
»Deinen Namen!«
»Ich heiße Krabat.«
»Wer bürgt dafür?«
»Ich«, sagte Hanzo, an Krabats Seite tretend. »Ich bürge für diesen Jungen und seinen Namen.«
»Einer ist keiner«, versetzte der Meister.
»Das wohl«, ließ sich Michal vernehmen, wobei er an Krabats andere Seite trat. »Zwei aber sind ein Paar, und ein Paar ist ausreichend für die Zeugenschaft. Darum verbürge auch ich mich für diesen Jungen und seinen Namen.«
Zwischen dem Meister und den Gesellen an Krabats Seite entspann sich ein Wechselgespräch, das nach festen Regeln verlief und in festen Formeln. Der Meister fragte die beiden, ob, wo und wann der Lehrjunge Krabat das Müllerhandwerk erlernt habe, und sie versicherten ihm, daß der Junge in allen Künsten und Handgriffen hinlänglich unterwiesen sei.
»Dafür bürgt ihr mir?«
»Dafür bürgen wir«, sagten Hanzo und Michal.
»Wohlan denn, so wollen wir diesen Lehrjungen Krabat nach Mühlenordnung und Zunftgebrauch freisprechen!«
Freisprechen? Krabat glaubte nicht recht zu hören. War seine Lehrzeit denn abgelaufen - jetzt, nach dem ersten Jahr schon?
Der Meister erhob sich, er setzte den Dreispitz auf. Dann ergriff er das Handbeil und trat auf den Jungen zu. Indem er ihn mit der Schneide des Beiles am Scheitel und an den Schultern berührte, rief er:
»Von Zunft wegen, Krabat! Ich, als dein Lehrherr und Meister, spreche dich hiermit, in Gegenwart der versammelten Mühlknappen, deines bisherigen Standes als Lehrjunge los und ledig. Fortan sollst du ein Geselle unter Gesellen sein und als Knappe gehalten werden nach Mühlenbrauch.« Damit drückte er Krabat das Beil in die Hand, das im Gürtel zu tragen ein Vorrecht der freigesprochenen Burschen war; dann entließ er ihn mit den anderen aus der Stube.
Krabat war überrascht und verwirrt, damit hatte er nicht gerechnet. Als letzter verließ er den Raum und zog hinter sich die Tür zu. Da wurde ihm unversehens ein Mehlsack über den Kopf gestülpt, dann packte ihn wer bei den Schultern und wer an den Beinen.
»Ab mit ihm, in die Mahlstube!«
Das war Andrusch, der da gerufen hatte. Krabat versuchte sich freizustrampeln - vergebens! Lachend und lärmend schleppten die Burschen ihn in die Mahlstube, warfen ihn auf die Mehlkiste und begannen ihn durchzuwalken. »Ein Lehrjunge ist er gewesen!« rief Andrusch. »Nun laßt ihn uns zwischen die Steine nehmen, ihr Brüder - ein Mühlknappe muß ohne Spelz und Makel sein!«
Sie kneteten Krabat wie einen Brotteig durch; sie rollten ihn auf der Mehlkiste hin und her, daß ihm schwindlig wurde; sie knufften und pufften ihn mit den Fäusten - und einer hieb ihm ein paarmal mit aller Gewalt auf den Schädel, bis Hanzo dazwischenfuhr: »Aufhören, Lyschko! Wir wollen ihn freimüllern, aber nicht totschlagen!«
Als sie von Krabat abließen, kam er sich vor, als sei er tatsächlich durch eine Mühle gedreht worden. Petar zog ihm den Sack herunter, und Staschko streute ihm eine Handvoll Mehl auf den Kopf.
»Er ist durchgemahlen!« verkündete Andrusch. »Ich danke euch, Brüder! Nun ist er ein Knappe von Schrot und Korn geworden, dessen sich keiner von uns zu schämen braucht.«
»Hoch!« riefen Petar und Staschko, die hier mit Andrusch das große Wort führten. »Hoch mit ihm!« Abermals wurde Krabat an Armen und Beinen gepackt, die Mühlknappen warfen ihn in die Höhe und fingen ihn auf. Das taten sie dreimal hintereinander, dann schickten sie Juro um Wein in den Keller, und Krabat mußte ihnen reihum Bescheid trinken.
»Deine Gesundheit, Bruder - zum Wohlsein!«
»Zum Wohlsein, Bruder!«
Während die anderen weitertranken, setzte sich Krabat abseits auf einen Stapel von leeren Säcken. War es ein Wunder, daß ihm der Schädel brummte - nach allem, was er an diesem Abend erlebt hatte?
Später kam Michal und setzte sich neben ihn.
»Du scheinst mit gewissen Dingen nicht klarzukommen.«
»Nein«, sagte Krabat. »Wie konnte der Meister mich freisprechen! Ist meine Lehrzeit denn schon zu Ende?«
»Das erste Jahr auf der Mühle im Koselbruch gilt für drei«, meinte Michal. »Es sollte dir nicht entgangen sein, daß du seit deiner Ankunft älter geworden bist, Krabat - genau um drei Jahre.«
»Aber das ist nicht möglich!«
»Doch«, sagte Michal. »Auf dieser Mühle sind noch ganz andere Dinge möglich - das solltest du mittlerweile gemerkt haben.«
Wie der Winter begonnen hatte, so blieb er auch: schneereich und mild. Das Eis vor der Schleuse, am Wehr und im Mühlgraben machte den Burschen wenig zu schaffen in diesem Jahr. Rasch war es weggepickelt, und manchmal fror eine halbe Woche lang nichts mehr nach. Dafür schneite es oft und reichlich - zum Kummer des neuen Lehrjungen, der mit Schneeräumen kaum noch nachkam.
Wenn Krabat sich diesen Witko betrachtete - dürr, wie er war, und rotznasig -, wurde ihm klar, daß wohl stimmen mußte, was Michal gesagt hatte von den drei Jahren, um die er inzwischen älter geworden war - und daß er es eigentlich längst hätte merken müssen, von selber: an seiner Stimme, an seinem Körper, an seinen Kräften und weil ihm seit Anfang des Winters um Kinn und Wangen ein leichter Flaum sproß, nicht weiter ins Auge fallend, und doch, wenn man mit den Fingern darüber hinstrich, deutlich zu spüren.
An Tonda dachte er immer wieder in diesen Wochen, er fehlte ihm überall, und es schmerzte ihn, daß er sein Grab nicht besuchen konnte. Er hatte es zweimal versucht und war beide Male nicht weit gekommen: es lag zuviel Schnee im Koselbruch, darin war er steckengeblieben, nach wenigen hundert Schritten schon. Trotzdem blieb er entschlossen, bei nächster Gelegenheit einen dritten Versuch zu wagen - da kam ihm ein Traum zuvor.
Es ist Frühling, der Schnee ist dahingeschmolzen, der Wind hat ihn auf getilgt. Krabat geht durch den Koselbruch, es ist Nacht und Tag. Der Mond steht am Himmel, die Sonne scheint. Bald muß Krabat beim Wüsten Plan sein - da sieht er im Nebel eine Gestalt auf sich zukommen. Nein, sie entfernt sich. Er glaubt, daß es Tonda ist.
»Tonda!« ruft er, »bleib stehen! Ich bin es - Krabat!«
Es ist ihm, als zögere die Gestalt einen Augenblick. Wie er dann weitergeht, setzt auch sie ihren Weg fort.
»Bleib stehen, Tonda!«
Krabat beginnt zu laufen. Er rennt was er kann. Der Abstand verringert sich.
»Tonda!« ruft er.
Nun ist er auf wenige Schritte herangekommen - da steht er vor einem Graben. Der Graben ist breit und tief, kein Steg führt hinüber, kein Balken liegt in der Nähe, auf dem er ihn überqueren könnte.
Drüben steht Tonda, er kehrt ihm den Rücken zu.
»Warum fliehst du mich, Tonda?«
»Ich fliehe dich nicht. Du mußt wissen, daß ich am anderen Ufer bin. Bleib du auf deinem.«
»Wende mir wenigstens das Gesicht zu!«
»Ich kann nicht zurückblicken, Krabat, ich darf es nicht. Doch ich höre und werde dir antworten, dreimal im ganzen. Nun frage mich, was zu fragen ist.«
Was ist zu fragen? Krabat braucht nicht darüber nachzudenken.
»Wer, Tonda, hat deinen Tod verschuldet?«
»Am meisten ich selbst.«
»Und wer noch?«
»Du wirst es erfahren, Krabat, wenn du die Augen offenhältst. Nun die letzte Frage.«
Krabat besinnt sich. Es gäbe noch viel, was er wissen möchte ...
»Ich bin sehr allein«, sagt er. »Seit du weg bist, habe ich keinen Freund mehr. Wem kann ich mich anvertrauen, was rätst du mir?«
Tonda blickt ihn nicht an, auch jetzt nicht.
»Geh heim«, sagt er, »und vertraue dem ersten besten, der dich beim Namen ruft: auf ihn wird Verlaß sein. - Und noch eins, bevor ich gehe, ein Letztes! Daß du mein Grab besuchst, ist nicht wichtig. Ich weiß, daß du an mich denkst - das ist wichtiger.«
Langsam hebt Tonda die Hand zum Gruße. Dann löst er sich auf in den Nebeln - und ohne den Kopf zu wenden, entschwindet er.
»Tonda!« ruft Krabat ihm nach. »Geh nicht fort, Tonda! Geh nicht fort von mir!«
Er schreit es aus tiefster Seele - und plötzlich hört er, wie jemand »Krabat!« ruft. - »Aufwachen, Krabat, aufwachen!«
Michal und Juro standen an Krabats Pritsche, sie beugten sich über ihn. Krabat wußte nicht, ob er noch träumte oder schon wach war.
»Wer hat mich gerufen?« fragte er.
»Wir«, sagte Juro. »Du hättest dich hören müssen, wie du im Schlaf geschrien hast!«
»Ich?« fragte Krabat.
»Es war zum Erbarmen.« Michal faßte nach seiner Hand. »Hast du Fieber?«
»Nein«, sagte Krabat. »Ich hatte bloß - einen Traum ...« Und dann fügte er hastig hinzu: »Wer von euch hat meinen Namen zuerst gerufen? Sagt mir's, ich muß es wissen!«
Michal und Juro erklärten sich überfragt, darauf hätten sie nicht geachtet.
»Aber ein nächstesmal«, meinte Juro, »werden wir an den Knöpfen abzählen, wer dich wecken darf - damit's hinterher keinen Zweifel gibt.«
Für Krabat stand fest, daß es Michal gewesen sein mußte, der ihn als erster gerufen hatte. Juro, gewiß, war ein braver Bursche, gutmütig durch und durch, aber eben ein Dummkopf. Tonda konnte nur Michal gemeint haben, als sie im Traum miteinander gesprochen hatten. Von nun an wandte sich Krabat an ihn, wann immer er Rat oder Antwort auf eine Frage brauchte.
Michal enttäuschte ihn nie, bereitwillig gab er ihm Auskunft in allen Dingen. Nur einmal, als Krabat die Rede auf Tonda brachte, wies er ihn ab.
»Die Toten sind tot«, sagte Michal. »Sie werden nicht wieder lebendig, wenn man von ihnen spricht.«
Michal war Tonda in manchem ähnlich. Krabat vermutete, daß er dem neuen Lehrjungen heimlich Beistand leistete, da er ihn hin und wieder bei Witko stehen und mit ihm sprechen sah - so wie Tonda vergangenen Winter zuweilen mit Krabat gesprochen und ihm geholfen hatte.
Auch Juro nahm sich auf seine Weise des Neuen an, indem er ihn ständig zum Essen nötigte. »Iß du nur, Jungchen, iß du nur, was du runterkriegst, daß du groß und stark wirst und Speck auf die Rippen bekommst!«
In der Woche nach Lichtmeß begannen sie mit der Waldarbeit.
Sechs Burschen, darunter Krabat, sollten die Stämme, die sie im Vorjahr geschlagen und draußen gelagert hatten, zur Mühle schaffen. Das war bei dem hohen Schnee keine leichte Sache. Um sich zum Holzplatz durchzuschaufeln, brauchten sie eine volle Woche - und dies, obgleich Michal und Merten dabei waren, die sich gewaltig ins Zeug legten.
Andrusch zeigte für solchen Eifer wenig Verständnis. Er tat nur gerade das Allernötigste, um sich warmzuhalten.
»Wer bei der Arbeit friert, ist ein Esel«, erklärte er, »und wer schwitzt - ein Hornochse.«
Um die Mittagszeit war es an diesen Februartagen so warm, daß die Burschen sich nasse Füße holten im Wald. Wenn sie abends nach Hause kamen, mußten sie reichlich Talg auf die Stiefel schmieren, der wurde dann mit den Handballen eingewalkt, um das Leder geschmeidig zu halten, sonst wäre es über Nacht, wenn die Stiefel zum Trocknen über dem Ofen hingen, steinhart geworden.
Alle verrichteten diese lästige Arbeit selbst - bis auf Lyschko, der sich an Witko hielt und ihn zwang, sie ihm abzunehmen. Als Michal das merkte, stellte er Lyschko in Gegenwart aller Burschen dafür zur Rede.
Auf Lyschko machte das wenig Eindruck.
»Was ist schon dabei?« erklärte er leichthin. »Die Stiefel sind naß gewesen - und Lehrjungen sind dazu da, daß sie arbeiten.«
»Nicht für dich!« sagte Michal.
»Ach was!« widersprach ihm Lyschko. »Du steckst deine Nase in Dinge, die dich nichts angehen. Bist du hier etwa der Altgesell?«
»Nein«, mußte Michal einräumen. »Aber ich schätze, daß Hanzo es mir nicht übelnimmt, wenn ich dir trotzdem sage, daß du dir deine Stiefel in Zukunft selber walken sollst, Lyschko. Sonst könnte es sein, daß du Ärger bekommst - und kein Mensch soll mir nachsagen dürfen, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Wer bald darauf Ärger bekam, war nicht Lyschko.
Am Abend des nächsten Freitages, als die Burschen in Rabengestalt in der Schwarzen Kammer hockten, eröffnete ihnen der Meister, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß einer von ihnen dem neuen Lehrjungen heimlich zur Hand gehe und ihm verbotenerweise die Arbeit erleichtere: das verdiene, bestraft zu werden. Dann wandte er sich an Michal.
»Wie kommst du dazu, dem Jungen zu helfen - antworte!«
»Weil er mir leid tut, Meister. Die Arbeit, die du ihm zumutest, ist zu schwer für ihn.«
»Findest du?«
»Ja«, sagte Michal.
»Dann höre mir jetzt gut zu!«
Der Müller war aufgesprungen, er stützte sich mit den Händen auf den Koraktor, den Oberkörper weit vorgebeugt.
»Was ich wem zumute oder nicht, geht dich einen Dreck an! Hast du vergessen, daß ich der Meister bin? Was ich anschaffe, schaffe ich an, damit basta! Ich werde dir eine Lektion erteilen, an die du dein Lebtag denken sollst! - Raus da, ihr andern!«
Er jagte die Mühlknappen aus der Kammer und schloß sich mit Michal ein.
Die Burschen trollten sich voller Sorge zu Bett. Sie hörten die halbe Nacht lang ein gräßliches Kreischen und Krächzen im Haus - dann kam Michal die Bodenstiege heraufgewankt, bleich und verstört.
»Was hat er mit dir gemacht?« wollte Merten wissen.
Erschöpft winkte Michal ab.
»Laßt mich, ich bitte euch!«
Die Burschen konnten sich denken, wer Michal dem Meister verraten hatte. Anderntags hielten sie in der Mehlkammer eine Beratung ab und beschlossen, es Lyschko heimzuzahlen.
»Wir werden ihn«, sagte Andrusch, »heut nacht von der Pritsche holen und ihm das Fell gerben!«
»Jeder mit einem Knüttel!« rief Merten.
»Und hinterher«, knurrte Hanzo, »bekommt er die Haare geschoren und Stiefelfett ins Gesicht geschmiert - und dann Ruß drüber!«
Michal saß in der Ecke und schwieg.
»Sag du auch was!« rief Staschko. »Schließlich bist du es, den er beim Meister vergeigt hat!«
»Gut«, meinte Michal, »ich werde euch etwas sagen.«
Er wartete, bis sie still waren, dann begann er zu sprechen. Mit ruhiger Stimme sprach er, wie Tonda an seiner Stelle gesprochen hätte.
»Was Lyschko getan hat«, sagte er, »war eine Lumperei. Aber was ihr da vorhabt, ist nicht viel besser. Im Zorn legt man seine Worte nicht auf die Goldwaage - gut. Doch nun habt ihr euch Luft gemacht, nun soll Schluß sein. Erspart es mir, daß ich mich für euch schämen muß!«
Die Müllerburschen verprügelten Lyschko nicht: sie mieden ihn während der nächsten Zeit. Keiner sprach mit ihm, keiner gab Antwort, wenn Lyschko ihn etwas fragte. Den Brei und die Suppe setzte ihm Juro in einem besonderen Napf vor, »weil du von niemand verlangen kannst, daß er mit einem Haderlumpen aus einer Schüssel ißt«. Krabat fand das in Ordnung. Wer seine Mitgesellen beim Meister anschwärzte, der verdiente es, daß sie ihm ihre Verachtung zu spüren gaben.
Neumonds, wenn der Gevatter mit seinem Mahlgut vorfuhr, mußte der Müller jetzt wieder mithalten bei der Arbeit. Er tat es mit großem Eifer, als gelte es, den Gesellen zu zeigen, was Zupacken heißt - oder war es ihm mehr um den Herrn Gevatter zu tun?
Übrigens war der Meister im Spätwinter viel unterwegs, bald zu Roß, bald im Pferdeschlitten. Die Burschen machten sich wenig Gedanken darüber, von welcher Art die Geschäfte sein mochten, die ihn dazu veranlaßten. Was sie nichts anging, brauchten sie nicht zu wissen; und was sie nicht wußten, tat ihnen auch nicht weh.
Eines Abends um den Josephitag, der Schnee war geschmolzen, es regnete stark, und die Mühlknappen wußten es zu schätzen, daß sie im Trocknen saßen bei diesem Sauwetter: eines Abends verlangte der Meister plitz-platz nach der Reisekutsche, er müsse in einer wichtigen Sache weg, es sei eilig!
Krabat half Petar die beiden Braunen anschirren, nahm, als sie fertig waren, das Handpferd am Zügel und sagte: »Wüh!«
Während Petar ins Haus rannte, um dem Meister zu melden, die Kutsche sei fahrbereit, führte Krabat Gespann und Wagen hinaus auf den Vorplatz. Er hatte sich eine Pferdedecke über den Kopf gezogen, des Regens halber, und hatte auch für den Meister vorsorglich ein paar Decken bereitgelegt, denn es war eine leichte Kutsche mit einem Wagenschlag, der in Fahrtrichtung offenstand.
Von Petar mit einem Windlicht gefolgt, kam der Meister herbeigestapft. Er trug einen weiten Mantel und seinen schwarzen Dreispitz. Sporen klirrten an seinen Stiefeln, ein Degen wippte unter dem Manteltuch.
»Verrückt!« dachte Krabat, während der Müller sich auf dem Kutschbock zurechtsetzte. »Muß das sein, daß er ausfährt bei diesem Hundewetter?«
Der Meister hatte sich in die Decken eingewickelt, nun fragte er beiläufig:
»Magst du mitkommen?«
»Ich?«
»Weil du wissen wolltest, weshalb ich ausfahre.«
Krabats Neugier war stärker als alle Scheu vor dem Regen, im Nu saß er neben dem Müller oben.
»Nun zeig, ob du fahren kannst!« Damit reichte der Meister ihm Peitsche und Zügel. »Wir müssen in einer Stunde in Dresden sein!«
»Dresden? In einer Stunde?« Krabat hatte sich wohl verhört.
»Los, fahr schon!«
Sie rumpelten auf dem holprigen Waldweg dahin. Es war finster, als ginge es durch ein Ofenrohr.
»Schneller!« drängte der Meister. »Kannst du nicht schneller fahren!«
»Dann werden wir umschmeißen, Meister...«
»Unsinn! gib her!«
Von jetzt an kutschierte der Müller selbst. Und wie er kutschierte: mit Windeseile zum Wald hinaus, auf die Kamenzer Landstraße. Krabat klammerte sich am Sitz fest, er mußte die Sohlen gegen das Fußbrett stemmen. Regen peitschte ihm ins Gesicht, der Fahrtwind wehte ihn fast vom Wagen.
Nebel war aufgekommen, sie rasten hinein, er umfing sie in dichten Schwaden. Nicht lange, da tauchten sie mit den Köpfen darüber hinaus - und dann weiter und weiter, bis er den Braunen gerade noch zu den Fesseln reichte.
Es hatte zu regnen aufgehört, der Mond schien, Nebelschleier bedeckten den Boden, silberweiß, eine weite Fläche, wie zugeschneit. Fuhren sie über Wiesen? Kein Hufschlag zu hören, kein Poltern von Wagenrädern. Das Rütteln und Schütteln der Kutsche hatte seit einer Weile aufgehört. Krabat hatte den Eindruck, als ob sie auf einem Teppich dahinrollten, wie auf Schnee, wie auf Daunen. Herrlich griffen die Pferde aus, weich und federnd. Es war eine Lust, so dahinzujagen unter dem Mond auf der weiten Heide.
Plötzlich ein Ruck, daß der Wagen in allen Fugen krachte! Ein Baumstrunk? Ein Prellstein? Was tun, wenn die Deichsel gebrochen war, eines der Räder womöglich ...
»Ich werde mal nachsehen!«
Krabat steht schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett - da packt ihn der Meister und reißt ihn zurück.
»Bleib sitzen!«
Er deutet nach unten, der Nebel ist aufgerissen.
Krabat traut seinen Augen nicht. In der Tiefe ein Dachfirst, ein Friedhof: Kreuze und Grabhügel werfen Schatten im Licht des Mondes.
»Wir hängen am Kamenzer Kirchturm fest«, sagt der Meister. »Gib acht, daß du nicht vom Wagen fällst!«
Er reißt an den Zügeln, er knallt mit der Peitsche.
»Vorwärts!«
Ein zweiter Ruck - und die Kutsche ist wieder flott.
Ohne weiteren Zwischenfall setzten sie ihre Reise fort, lautlos und schnell durch die Lüfte, auf weißen, im Mondlicht schimmernden Wolken dahin.
»Und ich«, dachte Krabat - »ich hab sie für Nebel gehalten in meinem Unverstand ...«
Von der Hofkirche schlug es halb zehn, als der Meister und Krabat in Dresden ankamen. Krachend setzte die Kutsche auf dem mit Steinen gepflasterten Vorplatz des Schlosses auf. Ein Stallknecht stürzte herbei und ergriff die Zügel.
»Wie immer, Herr?«
»Dumme Frage!«
Der Meister warf ihm ein Geldstück zu. Dann sprang er vom Wagen und forderte Krabat auf, ihm ins Schloß zu folgen. Sie eilten die Freitreppe zum Portal hinauf.
Oben stellte sich ihnen ein Offizier in den Weg, baumlang, mit breiter Seidenschärpe, auf seinem Brustschild spiegelte sich der Mond.
»Parole?«
Der Meister, statt ihm zu antworten, schob ihn beiseite. Der Offizier griff zum Degen, er wollte blankziehen - es gelang ihm nicht. Mit einem Fingerschnalzen hatte der Meister ihn festgebannt: starr und steif stand er da, der Lange, die Augen weit aufgerissen, die Rechte am Degenknauf.
»Komm!« rief der Meister. »Der Kerl muß hier neu sein!«
Sie hasteten eine marmorne Innentreppe hinauf, durch Gänge und Säle, an Spiegelwänden entlang und an Fensterfronten mit schweren, goldgemusterten Vorhängen. Den Türstehern und Lakaien, denen sie unterwegs begegneten, schien der Meister bekannt zu sein. Keiner vertrat ihm den Weg, keiner hielt ihn mit Fragen auf. Stumm traten alle zur Seite, verbeugten sich, ließen Krabat und ihn passieren.
Seit sie im Schloß waren, glaubte Krabat zu träumen. Er war überwältigt von all der Pracht hier, von Glanz und Herrlichkeit - und er kam sich in seinem Mühlenkittel unsagbar schäbig vor.
»Ob die Lakaien mich auslachen?« dachte er. »Ob die Türsteher hinter meinem Rücken die Nase rümpfen?«
Er fühlte sich unsicher werden, er kam ins Stolpern. Was denn - das war ja ein Degen, der ihm da zwischen die Füße geraten war... Wessen Degen, zum Kuckuck! Ein Blick in den nächsten Spiegel machte ihn stutzen, es ging über seinen Verstand: Er trug einen schwarzen, mit Silberknöpfen besetzten Waffenrock, hohe Lederstiefel dazu und, wahrhaftig, ein Wehrgehänge mit einem Stoßdegen! War das ein Dreispitz auf seinem Kopf? Seit wann trug er eine Perücke, weißgepudert, mit einem Haarbeutel hinten dran?
»Meister!« wollte er rufen. »Was soll das?«
Er kam nicht dazu, weil sie plötzlich in einen von Kerzen erleuchteten Vorsaal gelangten, wo mehrere Herren herumstanden, Hauptleute und Obristen, auch Hofbeamte dazwischen, mit Stern und Ordensband.
Ein Kammerherr trat auf den Meister zu.
»Daß Ihr nur endlich da seid, der Kurfürst erwartet Euch schon!« - und auf Krabat deutend: »Ihr seid nicht allein gekommen?«
»Mein Junker«, sagte der Meister. »Er mag hier warten.«
Der Kammerherr winkte einem der Hauptleute. »Nehmt Euch des Junkers an, Herr!«
Der Hauptmann zog Krabat am Ärmel zu einem Tischchen in einer der Fensternischen.
»Wein oder Schokolade, mein Lieber?«
Krabat entschied sich für ein Glas Rotwein. Während er mit dem Hauptmann anstieß, begab sich der Meister in die Gemächer des Kurfürsten.
»Hoffentlich«, meinte der Hauptmann, »gelingt es ihm!«
»Was?« fragte Krabat.
»Das solltet Ihr wissen, Junker! Ist Euer Herr nicht seit vielen Wochen bemüht, seine Durchlaucht zu überzeugen, daß Dero Ratgeber, die zum Friedensschluß mit den Schweden mahnen, Schafsköpfe sind und zum Teufel gejagt gehören?«
»Doch, doch«, sagte Krabat rasch, obgleich er von alledem keine Ahnung hatte.
Die Herren Obristen und Hauptleute, die sie umstanden, lachten und tranken ihm zu.
»Auf den Krieg mit den Schweden!« riefen sie. »Daß der Kurfürst beschließen möge, ihn fortzuführen! Auf Sieg oder Niederlage - bloß fortführen muß er den Schwedenkrieg!«
Gegen Mitternacht kam der Meister zurück. Der Kurfürst geleitete ihn zur Schwelle des Vorsaals. »Wir danken Euch«, sagte er. »Euer Rat ist Uns wert und teuer, das wißt Ihr - und wenn es auch eine Zeitlang gebraucht hat, bis wir Uns Euren Gründen und Argumenten nicht länger verschließen konnten: nun ist die Entscheidung gefallen, der Krieg geht weiter!«
Die Herren im Vorsaal rasselten mit den Säbeln, sie schwenkten die Hüte.
»Vivat Augustus!« riefen sie. »Ruhm und Ehre dem Kurfürsten - Tod den Schweden!«
Der Kurfürst von Sachsen, ein schwerer, fleischiger Mann von hünenhafter Gestalt mit dem Kreuz eines Grobschmieds und Fäusten, die jedem Schiffsknecht zur Ehre gereicht hätten, dankte den Herren mit einer Handbewegung. Dann wandte er sich dem Meister zu, sagte ihm ein paar Worte, die bei dem Lärm, der im Vorsaal herrschte, von niemand verstanden wurden und die wohl auch schwerlich für anderer Leute Ohren bestimmt waren - damit entließ er ihn.
Während die Herren von Hof und Armee im Vorsaal zurückblieben, folgte Krabat dem Meister hinaus. Sie verließen das Schloß auf dem gleichen Wege, auf dem sie gekommen waren: an Fensterfronten und Spiegelwänden entlang, durch Säle und Gänge, die marmorne Innentreppe hinab zum Portal - und hinaus auf die Freitreppe, wo noch immer der baumlange Offizier stand, die Augen weit aufgerissen, die Rechte am Degenknauf, steif und starr wie ein Zinnsoldat.
»Mach ihn los, Krabat«, sagte der Meister.
Das kostete Krabat nicht mehr als ein Fingerschnalzen, wie er es in der Schwarzen Schule gelernt hatte. »Ab mit Ihm!« kommandierte er. »Rrrechtsum - kehrt!«
Der Offizier zog den Degen, er salutierte mit blanker Klinge. Dann machte er die befohlene Kehrtwendung und marschierte davon.
Auf dem Schloßplatz stand schon die Kutsche für sie bereit. Der Stallknecht meldete, daß er die Braunen versorgt habe, wie befohlen.
»Das will ich Ihm auch geraten haben!« sagte der Meister. Dann stiegen sie auf, und erst jetzt merkte Krabat, daß er sich wieder in seinen gewohnten Kleidern befand. Recht so - was hätte er auf der Mühle denn anfangen sollen mit Dreispitz, Degen und Waffenrock?
Sie rumpelten über die steinerne Eibbrücke. Als sie zur Stadt hinaus waren und die Höhen am anderen Ufer des Stromes erreicht hatten, lenkte der Meister die Kutsche auf freies Feld. Dort erhoben die Pferde sich wieder vom Boden, und weiter ging es, in luftiger Höhe heimzu.
Der Mond stand im Westen, recht tief schon, er mußte bald untergehen. Krabat hing schweigend seinen Gedanken nach. Er blickte hinab auf die Dörfer und kleinen Städte, die sie im Flug überquerten, auf Felder und Wald, auf Teiche und Wasserläufe - und auf die Heide mit ihren Mooren und flachen Sandkuhlen. Friedliches Land da unten, dunkel und still.
»Woran denkst du?« wollte der Meister wissen.
»Ich denke darüber nach«, sagte Krabat, »wie weit man es bringen kann mit der Schwarzen Kunst - und daß sie ein Mittel ist, das einem selbst über Fürsten und Könige Macht verleiht.«
Ostern war diesmal spät im Jahr, es fiel in die zweite Aprilhälfte. Am Abend des Karfreitags wurde Witko in die Schwarze Schule aufgenommen. Nie zuvor hatte Krabat einen so dürren und struppigen Raben gesehen wie ihn; auch glaubte er, einen rötlichen Schimmer auf seinem Gefieder wahrzunehmen, aber das bildete er sich vielleicht nur ein.
Den Karsamstag verbrachten die Müllerburschen, indem sie auf Vorrat schliefen. Am späten Nachmittag tischte Juro ihnen gewaltig zu essen auf. »Haltet euch nur dazu«, mahnte Hanzo, »ihr wißt ja, es muß eine Weile vorhalten!«
Lyschko durfte zum erstenmal wieder aus der gemeinsamen Schüssel essen: bei Anbruch der Osternacht mußte aller Streit, den es unter den Müllerburschen gegeben hatte, begraben sein - das verlangte die Regel.
Ums Dunkelwerden schickte der Meister die Knappen aus, sich das Mal zu holen. Alles vollzog sich genau wie im Jahr zuvor. Wieder wurden die Burschen vom Meister ausgezählt, wieder gingen sie paarweise aus der Mühle. Krabat kam diesmal mit Juro zusammen.
»Wohin?« fragte Juro, nachdem sie sich Decken geholt hatten.
»Wenn es dir recht ist: zu Bäumels Tod.«
»Ist gut«, meinte Juro, »wenn du den Weg nur weißt. Auf mich ist bei Nacht kein Verlaß, da muß ich schon froh sein, wenn ich vom Haus in den Stall finde, ohne mich zu verlaufen.«
»Ich gehe voraus«, sagte Krabat. »Sieh zu, daß du in der Dunkelheit nicht abhanden kommst!«
Den Weg, den sie gehen mußten, war Krabat erst einmal gegangen, mit Tonda damals. Den Koselbruch zu durchqueren war ja nicht schwer.
Erst draußen, jenseits des Waldes konnte es schwierig werden, wenn es den Feldweg zu finden galt, der an Schwarzkollm vorbeiführte. »Schlimmstenfalls«, sagte sich Krabat, »müssen wir querfeldein laufen ...«
- aber da fehlte nichts.
Trotz der Finsternis stießen sie wie von selbst auf den Pfad. Die Lichter des Dorfes zur Linken, gingen sie durch die Felder, erreichten nach einer Weile die Fahrstraße jenseits des Ortes und folgten ihr bis zur nächsten Biegung.
»Hier müßte es sein«, sagte Krabat.
Sie tasteten sich am Waldrand von Föhre zu Föhre. Krabat war froh, als er endlich den kantigen Stamm des Holzkreuzes mit den Fingern berührte.
»Zu mir her, Juro!«
Eilends kam Juro herbeigestolpert.
»Wie du das bloß geschafft hast, Krabat - das soll dir mal einer nachmachen!«
Er kramte in seinen Taschen nach Stahl und Feuerstein, dann setzten sie eine Handvoll Reisig in Brand. Beim Schein des Feuerchens klaubten sie auf dem Waldboden Rindenstücke und dürre Äste zusammen.
»Das Nachschüren übernehme ich«, sagte Juro. »Mit Feuer und Holz kann ich umgehen, dazu reicht es gerade noch.«
Krabat hüllte sich in die Decke und setzte sich unter das Kreuz. Wie Tonda vor einem Jahr hier gesessen hatte, saß heute er da: aufrecht, mit angezogenen Knien, den Rücken gegen den Stamm gelehnt.
Juro vertrieb sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Dann und wann sagte Krabat »ja« dazu, oder »ach« oder »sieh mal an!« Er sagte es auf gut Glück, ohne richtig hinzuhören. Mehr brauchte es nicht, um Juro zufriedenzustellen. Eifrig erzählte er weiter, von dem und jenem, was ihm gerade einfiel. Es schien ihm nichts auszumachen, daß Krabat kaum bei der Sache war.
Krabat dachte an Tonda - und dachte zugleich an die Kantorka. Ohne daß er es wollte, war sie ihm eingefallen. Er freute sich auf den Augenblick, da er sie würde singen hören, vom Dorf herüber um Mitternacht.
Und wenn er sie nicht hörte? Wenn ein anderes Mädchen vorsang in diesem Jahr?
Bei dem Versuch, sich die Stimme der Kantorka vorzustellen, machte er die Entdeckung, daß ihm das nicht mehr möglich war: daß sie weg war aus seinem Gedächtnis, verschwunden, ausgelöscht. Oder kam ihm das nur so vor?
Das war schmerzlich für ihn; und der Schmerz, den er da empfand, war von einer besonderen Art, die ihm neu war: als sei er an einer Stelle getroffen worden, von der er bislang nicht gewußt hatte, daß es sie gab.
Er versuchte, darüber hinwegzukommen, indem er sich sagte: »Ich habe mir nie was aus Mädchen gemacht, und so will ich es auch in Zukunft halten. Was hätte ich denn davon? Es würde mir eines Tages doch nur wie Tonda ergehen. Dann säße ich da - und das Herz ist mir schwer von Kummer. Und nachts, wenn mein Blick auf die mondhelle Heide fällt, gehe ich manchmal aus mir hinaus und suche den Ort auf, wo die, der ich Unglück gebracht habe, unterm Rasen liegt...«
Die Kunst des Aus-sich-Hinausgehens hatte Krabat inzwischen erlernt. Sie gehörte zu jenen wenigen Künsten, die anzuwenden der Meister die Burschen gewarnt hatte - »weil es leicht sein kann, daß jemand, der seinen Körper verlassen hat, nicht mehr hineinfindet«. Denn das hatte der Meister den Mühlknappen eingeschärft: aus sich hinausgehen konnte man erst nach Einbruch der Dunkelheit - und zurückkehren nur vor Anbruch des neuen Tages.
Wer sich versäumte und länger ausblieb, für den gab es kein Zurück mehr. Sein Körper blieb ihm verschlossen und wurde für tot begraben, während er selbst dann umherirren mußte, ruhelos zwischen Tod und Leben, unfähig, sich zu zeigen, zu sprechen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen - und darin lag die besondere Qual dieses Zustandes: noch der windigste Poltergeist konnte ja wenigstens klopfen, mit Töpfen klappern und Holzscheiter gegen die Wand schmeißen.
»Nein«, dachte Krabat, »ich werde mich hüten, aus mir hinauszugehen - was immer mich auch verlocken sollte.«
Juro war still geworden, er hockte am Feuer und rührte sich kaum. Wenn er nicht ab und zu einen Ast in die Glut geschoben, ein Rindenstück nachgeschürt hätte: Krabat wäre versucht gewesen zu glauben, er sei ihm davongeschlafen.
So wurde es Mitternacht.
Wieder tönten von ferne die Osterglocken, und abermals hob in Schwarzkollm eine Mädchenstimme zu singen an - die Stimme, die Krabat kannte, auf die er gewartet, nach der er vergebens in seinem Gedächtnis gesucht hatte.
Jetzt aber, da er sie hörte, fand er es unbegreiflich, wie er sie hatte vergessen können.
»Erstanden ist
Der heilig Christ»
Halleluja,
Halleluja!«
Krabat lauscht dem Gesang der Mädchen im Dorf, wie die Stimmen sich abwechseln, erst die eine und dann die andern, und während die anderen singen, wartet er schon darauf, daß die eine sie wieder ablöst.
»Was für Haar sie wohl hat, die Kantorka?« muß er denken. »Braun vielleicht - oder schwarz - oder weizenfarben?«
Das möchte er wissen. Er möchte das Mädchen sehen, das er da singen hört, es verlangt ihn danach.
»Wenn ich aus mir hinausginge?« denkt er. »Für wenige Augenblicke nur - bloß so lang, um ihr ins Gesicht zu schauen ...«
Schon spricht er die Formel, schon spürt er, wie er sich loslöst als seinem Körper, wie er sich ausatmet, m die schwarze Nacht hinaus.
Er wirft einen Blick auf das Feuer zurück: auf Juro, der dahockt, als werde er jeden Augenblick einschlafen - auf sich selbst, wie er aufrecht sitzend am Kreuz lehnt, nicht tot, nicht lebendig. Alles, was Krabats Leben ausmacht, ist nun hier draußen, ist außerhalb. Frei ist es, leicht und unbeschwert - und sehr wach, sehr viel wacher mit allen Sinnen, als er es je gewesen ist.
Noch zögert er, seinen Körper allein zu lassen. Es gilt da, ein letztes Band zu lösen. Das fällt ihm nicht leicht, weil er weiß, daß es eine Trennung für immer sein kann. Trotzdem wendet er sich vom Anblick des Burschen am Feuer, der seinen Namen trägt, ab - und begibt sich ins Dorf.
Niemand hört Krabat, niemand vermag ihn zu sehen. Er selbst aber hört und sieht alles mit einer Deutlichkeit, die ihn staunen macht.
Singend ziehen die Mädchen mit ihren Laternen und Osterkerzen die Dorfstraße auf und ab, in der Abendmahlstracht, die schwarz ist, vom Schuh bis zum Häubchen - mit Ausnahme eines weißen Stirnbandes über dem in der Mitte gescheitelten, straff nach hinten gekämmten Haar.
Krabat verhält sich, wie Krabat sich auch verhalten hätte, wäre er sichtbar gewesen: Er gesellt sich den Dorfburschen zu, die in Gruppen zu beiden Seiten der Straße stehen, die Mädchen beobachtend. Scherzworte fallen und Zurufe.
»Könnt ihr nicht lauter singen - man hört euch kaum!«
»Aufpassen mit den Lichtern - daß ihr euch nicht die Nasen daran verbrennt!«
»Mögt ihr nicht herkommen und euch ein bißchen wärmen lassen - ihr seid ja ganz blaugefroren!«
Die Mädchen tun so, als seien die Burschen am Straßenrand nicht vorhanden für sie. Dies ist ihre Nacht, sie gehört ihnen ganz allein. Ruhig ziehen sie ihres Weges und singen, straßauf, straßab.
Später gehen sie dann in eines der Bauernhäuser zum Aufwärmen. Die Burschen versuchen nachzudrängen, der Hausvater weist sie ab. Da eilen sie an die Stubenfenster und spähen hinein. Die Mädchen umringen den Ofen, die Bäuerin reicht ihnen Osterküchlein und heiße Milch. Mehr sehen die Burschen nicht, denn gleich ist der Hausvater wieder zur Stelle, diesmal mit einem Stecken.
»Ksch!« macht er, wie man lästige Kater fortscheucht. »Weg da, ihr Kerle - oder es setzt was!«
Die Burschen verziehen sich maulend; auch Krabat folgt ihnen, der es gar nicht nötig hätte. In der Nachbarschaft warten sie, bis die Mädchen das Haus verlassen und weiterziehen.
Krabat weiß ja nun, daß die Kantorka helles Haar hat. Schmal ist sie und von hohem Wuchs, und sie hat eine stolze Art, wie sie geht und den Kopf hält. Eigentlich könnte er längst zu Juro ans Feuer zurückkehren, und das sollte er wohl.
Doch bisher ist es so gewesen, daß er die Kantorka nur aus der Ferne beobachtet hat, vom Straßenrand, und nun will er ihr in die Augen sehen.
Krabat wird eins mit dem Kerzenlicht, das die Kantorka vor sich herträgt. Nun ist er ihr nahe - so nah, wie er nie zuvor einem Mädchen gewesen ist. Er blickt in ein junges Gesicht, das sehr schön ist im strengen Rahmen von Stirnband und Häubchen. Die Augen sind groß und sanft, sie blicken auf ihn hernieder und sehen ihn nicht - oder doch?
Er weiß, daß es höchste Zeit ist, ans Feuer zurückzukehren. Aber die Augen des Mädchens, die hellen Augen im Kranz der Wimpern, halten ihn fest, er kommt nicht mehr los davon. Die Stimme der Kantorka hört er nur noch von fern, sie ist ihm jetzt nicht mehr wichtig, seit er ihr in die Augen sieht.
Krabat weiß, daß es auf den Morgen zugeht: er kann sich nicht trennen. Er weiß, daß sein Leben verspielt ist, wenn er sich nicht zur rechten Zeit losmacht und heimkehrt: er weiß es - und schafft es nicht.
Bis ein plötzlicher, greller Schmerz ihn durchzuckt, der wie Feuer brennt und ihn jäh hinwegreißt.
Krabat fand sich am Waldrand wieder, bei Juro. Auf seinem Handrücken lag ein glühendes Stückchen Holz, rasch schüttelte er es ab.
»O Krabat!« rief Juro, »das habe ich nicht gewollt! Du bist mir auf einmal so merkwürdig vorgekommen, so anders als sonst - da hab ich dir ins Gesicht geleuchtet, mit diesem Span da. Wer konnte denn wissen, daß dir die Glut auf die Hand fällt ... Zeig her, ob es schlimm ist!«
»Es geht«, sagte Krabat.
Er spuckte auf die verbrannte Stelle. Wie dankbar er Juro war für sein Ungeschick, durfte er ihm nicht zeigen. Ohne sein Zündeln säße er jetzt nicht hier, gewiß nicht. Der Schmerz auf dem Handrücken hatte bewirkt, daß Krabat sich in Gedankenschnelle mit seinem Körper vereinigt hatte - um keine Minute zu früh.
»Es tagt«, sagte Krabat, »wir wollen die Späne schneiden.«
Sie schnitten die Späne, sie steckten sie in die Glut.
»Ich zeichne dich, Bruder,
Mit Kohle vom Holzkreuz -
Ich zeichne dich
Mit dem Mal der Geheimen
Bruderschaft.«
Auf dem Heimweg zur Mühle begegneten sie den Mädchen mit ihren Wasserkrügen. Einen Augenblick überlegte Krabat, ob er die Kantorka ansprechen sollte. Aber dann ließ er es bleiben: weil Juro dabei war - und weil er die Kantorka nicht erschrecken wollte.
Und wieder das Ochsenjoch vor der Tür, und die Backenstreiche, und das Gelöbnis, dem Meister in allen Dingen gehorsam zu bleiben. Krabat war schlecht bei der Sache. Die Augen der Kantorka gingen ihm nach: und doch hatten sie nur in das Licht einer Osterkerze geblickt, ohne Krabat zu sehen.
»Ein nächstesmal will ich ihr sichtbar vor Augen treten«, nahm er sich vor. »Sie soll wissen, daß ich es bin, den sie anblickt.«
Die letzten Burschen waren zurückgekommen, das Wasser schoß ins Gerinne, die Mühle lief an. Der Meister scheuchte die zwölf in die Mahlstube, an die Arbeit.
Krabat verrichtete, was zu tun war, in dem Gefühl, es sei gar nicht er selbst, der da Säcke vom Speicher herzuschleppte, Korn in die Schütte kippte (es fiel eine Menge daneben heut) und allmählich ins Schwitzen kam. Die Stimme des Meisters hörte er wie durch Wände, sie ging ihn nichts an. Ein paarmal geschah es, daß er mit einem der Mitgesellen zusammenstieß, ungewollt, weil er mit seinen Gedanken weit weg war. Einmal rutschte er auf den untersten Staffeln zur Bühne aus und schlug sich das Knie auf; er spürte nicht viel davon, ruckte den Sack, der ihm von der Schulter zu gleiten drohte, ins Gleichgewicht und stieg weiter.
Er schuftete wie ein Roß. Daß die Füße ihm schwer wurden mit der Zeit; daß die Schweißtropfen von ihm wegspritzten, wenn er sich schüttelte; daß er sich quälen und schinden mußte mit den verdammten Maltersäcken: es machte ihm wenig aus, das betraf ihn nicht sonderlich. Alles, was auf der Mühle vorging an diesem Morgen, war Sache des einen Krabat, der unterm Holzkreuz gesessen hatte die Nacht lang; den anderen, der in Schwarzkollm gewesen war, ließ das gleichgültig, der war fremd hier, er hatte mit alledem nichts zu schaffen, verstand es nicht.
Diesmal war Witko es, der als erster aufjauchzte und das Zeichen zum großen Jubel gab.
Verwundert hielt Krabat inne, dann spuckte er in die Hände und wollte sich auf den nächsten Sack stürzen. Juro versetzte ihm einen Rippenstoß.
»Aufhören, Krabat!«
Der Stoß hatte gut gesessen, genau an der Stelle unter der linken Achsel, wo es am meisten weh tat. Für eine Weile blieb Krabat die Luft weg; dann sagte er, und es waren nun wieder beide Krabats in einem, die sich da mit gepreßter Stimme vernehmen ließen:
»He, Juro, ich ... soll dir wohl eins auf ... die Nase geben, du ... Blödsack!«
Sie lachten, sie tranken, sie aßen die fetten, goldgelben Osterküchlein - und später tanzten sie.
»Rumm-widi-bumm,
Das Rad läuft um,
Der Müllscher ist alt,
Er ist krumm und dumm!
Und da es ging In die Maienzeit,
Da hat er ein junges Weib gefreit - Schön fest rundherum,
Und das Rad, das läuft um,
Und der Müllscher ist krumm Und dumm.«
Sie tanzten und sangen, und Witko krähte die Lieder hinaus, als wollte er alle mit seiner grellen, blechernen Stimme in Grund und Boden singen.
Später wandte sich Staschko an Andrusch und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, ihnen was zu erzählen: vom Pumphutt vielleicht.
»Ist recht«, sagte Andrusch. »Reicht mal den Wein herüber!«
Er tat einen langen Zug aus der Kanne, bevor er mit seiner Geschichte anfing.
»Also«, begann er, »der Pumphutt ist eines Tages nach Schleife gekommen, zum Obermüller, und der war ein Geizkragen, wie ihr wissen müßt, daß es zum Himmel gestunken hat. - Aber da fällt mir gerade ein, daß Witko vielleicht überhaupt nicht weiß, wer der Pumphutt ist...«
Witko wußte es nicht, wie sich zeigte, und Krabat auch nicht.
»Dann muß ich das wohl vorausschicken.«
Andrusch versprach den Gesellen, sich kurz zu fassen.
»Pumphutt«, sagte er, »ist ein wendischer Mühlknappe wie wir auch, aus der Gegend von Spohla, glaub ich. Dürr ist er, lang ist er - und so alt, daß niemand es mit Bestimmtheit sagen kann. Wenn ihr ihn aber sehen würdet, dann möchtet ihr denken, daß er so um die vierzig ist und nicht älter. Im linken Ohrläppchen trägt er ein goldenes Ringel, ganz klein und schmal, daß es kaum zu sehen ist, wenn's nicht zufällig in der Sonne aufblinkt. Dafür ist sein Hut um so größer, mit breiter Krempe und spitzem Kegel. Von diesem Hut hat er seinen Namen, der Pumphutt, daran erkennt man ihn - oder auch nicht, wie ihr hören werdet ... Habt ihr mich?«
Krabat und Witko nickten.
»Nun müßt ihr von Pumphutt noch wissen, daß er ein Zauberer ist - der größte vielleicht, den es je in der Lausitz gegeben hat, und das will was heißen. Wir alle, wie wir da sitzen, verstehen nicht halb soviel von der Kunst, wie Pumphutt im kleinen Finger hat. Trotzdem ist er sein Lebtag ein einfacher Müllerbursche geblieben. Meister zu werden, hat er wohl keine Lust gehabt - und was Höheres, Amtmann vielleicht oder Richter oder bei Hof was: dazu schon gar nicht. Obgleich er das leicht hätte werden können, wenn er gewollt hätte, aber das will er nicht. Und warum nicht? Weil er ein freier Bursch ist und bleiben will, einer, der sommers von Mühle zu Mühle zieht, wie es ihm paßt, keinen über sich, keinen unter sich - so gefällt ihm das, und so würde mir's auch gefallen, wenn ich's mir aussuchen könnte, verdammt noch mal!«
Die Mühlknappen pflichteten Andrusch bei. Ein Leben zu führen wie Pumphutt, sein eigener Herr sein, nach niemandes Pfeife zu tanzen brauchen, das wäre nach ihrem Geschmack gewesen: heute, da sie dem Meister aufs neue geschworen hatten und für ein weiteres Jahr auf der Mühle im Koselbruch festsaßen, mehr denn je.
»Nun aber die Geschichte, Andrusch!« rief Hanzo.
»Recht hast du, Bruder - die Vorrede, denk ich, ist lang genug gewesen! Gebt mir noch mal den Krug rüber, dann hört zu ...«
»Damals«, erzählte Andrusch, »ist Pumphutt also nach Schleife gekommen, zum Obermüller, der, wie ich schon gesagt hab, ein Geizkragen sondersgleichen gewesen ist. Die Butter aufs Brot hat den Mann gereut, und das Salz in die Suppe. Drum hat er auch ständig Ärger gehabt mit den Mühlknappen, weil ihm keiner hat bleiben wollen. Viel Arbeit bei schlechtem Fraß, das verträgt sich nicht lange, das weiß man ja.
Damals kommt Pumphutt also vor diese Mühle und fragt nach Arbeit. >Arbeit genug<, sagt der Obermüller, der sich ja eigentlich hätte denken können, wer da vor ihm stand mit seinem spitzen Hut und dem Ring im Ohr. Aber das ist es ja eben, daß jeder, der es mit Pumphutt zu tun kriegt, erst hinterher merkt, daß er's gleich hätte merken müssen. Der Obermüller in Schleife merkt auch nichts davon, und Pumphutt verdingt sich ihm auf drei Wochen zur Aushilfe.
Es sind noch zwei andere Knappen da und ein Lehrjunge, dürr wie die Zaunstecken alle drei, mit geschwollenen Beinen vom vielen Wassersaufen. Denn Wasser gibt es genug in der Obermühle, das ist aber auch das einzige, was der Müllscher ihnen nicht zumißt. Mit Brot sind sie knapp gehalten, mit Grütze noch knapper, und Fleisch oder Speck gibt es überhaupt nicht, nur Käse manchmal, und hie und da einen halben Hering. Sie arbeiten recht und schlecht, die drei, weil sie arme Teufel sind, und der Müllscher hat ein Papier von ihnen, daß sie ihm Geld schulden, deshalb können sie ihm nicht weglaufen.
Pumphutt schaut sich das eine Weile an. Er hört, wie der Lehrjunge jeden Abend vor Hunger flennt, bis er einschläft. Er sieht, wie den beiden Gesellen, wenn sie sich morgens am Brunnen waschen, die Sonne durch ihre Bäuche durchscheint, so dünn sind sie.
Eines Mittags dann, wie sie bei Tisch sitzen, es ist laut in der Stube, die Mühle läuft weiter, sie haben zuvor einen Posten Buchweizen aufgeschüttet, der unterdessen geschrotet wird - eines Mittags kommt nun der Meister zu ihnen herein, wie sie gerade die Suppe löffeln, ein wäßriges, fades Zeug, mit Brennesseln drin und Melde und fünf, sechs Kümmelkörnern, es können auch sieben gewesen sein. Das ist für Pumphutt der Augenblick, um sich den Müllscher vorzunehmen.
>He, Meester!< ruft er und zeigt in die Suppenschüssel. >Ich hab mir das jetzt zwei Wochen lang angesehen, was du den Leuten auf deiner Mühle vorsetzt. Meinst du nicht, daß es bissei dürftig ist auf die Dauer? Koste doch mal davon!< - und er hält ihm den Löffel hin.
Der Müller tut so, als habe er bei dem Lärm, den die Mühle macht, nicht verstehen können, was Pumphutt gesagt hat. Er zeigt mit den Fingern auf seine Ohren, er schüttelt den Kopf und grinst dazu.
Aber das Grinsen vergeht ihm bald. Pumphutt, der ja nun eben mehr kann als Brot essen, haut mit der flachen Hand auf den Tisch - und im Augenblick, klapp! steht die Mühle still, und zwar ganz, ohne daß was nachklappert oder ausrumpelt. Nur das Wasser braust durchs Gerinne und klatscht an die Radschaufeln: daran, daß jemand die Schleuse heruntergeleiert hat, kann es also nicht liegen. Es muß sich da was im Laufwerk verkeilt haben, wenn es nur nicht das Kammrad ist oder die Mühlenwelle! Der Obermüller von Schleife, wie er den ersten Schreck überwunden hat, kriegt das große Zappeln. >Schnell!< ruft er, >schnell!< ruft er. Junge, du machst die Schleuse dicht - und wir anderen gehen nachsehen, was mit der Mühle los ist! Rasch, rasch aber, kommt schon!<
>Das braucht's nicht<, sagt Pumphutt in aller Seelenruhe, und diesmal ist er es, der grinst.
>Wie das?< fragt der Meister.
>Weil ich es bin, der die Mühle zum Stehen gebracht hat.<
>Du?<
>Ich bin Pumphutt.<
Ein Sonnenstrahl, wie bestellt, fällt durchs Stubenfenster herein, und es blitzt ein gewisser Goldring auf, in einem gewissen Ohrläppchen.
>Du bist Pumphutt?<
Dem Müllscher wird's butterweich in den Knien. Er weiß ja, wie Pumphutt mit Meistern umspringt, die ihre Knappen darben lassen und kujonieren. >Mein Gott!< denkt er, >daß ich es nicht gemerkt habe, als er um Arbeit gefragt hat! Bin ich denn blind gewesen die ganze Zeit über?<
Pumphutt schickt ihn hinaus, nach Papier und Tinte. Dann schreibt er ihm vor, was die Müllerburschen von nun an zu kriegen haben:
>Für jeden ein halbes Pfund Brot am Tag, gut gewogen.
Früh eine dicke Grütze von Weizenschrot oder Hirse, auch Buchweizen darf es sein oder Graupen, in Milch gekocht, sonn- und feiertags Zucker dran.
Zweimal die Woche zu Mittag Fleisch und Gemüse, bis jeder satt ist;
die anderen Tage Erbsenbrei oder Bohnen mit Speck oder aufgebratene Knödel oder nach Gutdünken eine andere nahrhafte Speise, ausreichend in der Menge, mit allem Gewürz, was darangehört ...<
So schreibt er und schreibt, eine ganze Liste voll. Haargenau legt er fest, was der Obermüller in Schleife den Burschen in Zukunft zu geben hat.
>Unterschreib das mit deinem Namen<, sagt Pumphutt, wie er mit seiner Liste fertig ist, >und dann schwöre mir, daß du dich daran halten wirst!<
Der Müller weiß, daß ihm keine Wahl bleibt. Er setzt also seinen Namen darunter und schwört.
Da nimmt Pumphutt den Bann von der Mühle: klapp! mit der Hand auf den Tisch - und schon läuft das wieder. Die Liste gibt er dem einen der beiden Gesellen zur Aufbewahrung; dann sagt er zum Müllscher, und diesmal versteht ihn der trotz des Mühlenlärms ausgezeichnet:
>Damit wir uns recht verstehen, Meester: Was du beschworen hast, ist beschworene Sache. Wenn ich jetzt weiterziehe, dann hüte dich, deinen Schwur zu brechen, sonst ...< Klapp! stand die Mühle schon wieder still, ohne Nachplempern, ohne Ausrumpeln, daß es den Müllscher vor Schreck gerissen hat. -
>Aber dann<, hat der Pumphutt gesagt, >dann ist Feierabend für immer, dann bringt dir kein Mensch den Krempel wieder zum Laufen, merk dir das!< - hat's gesagt, hat gemacht, daß die Mühle weitergelaufen ist, und ist weggegangen.
Seither haben die Mühlknappen, wie man hört, auf der Obermühle in Schleife ein gutes Leben. Sie kriegen, was ihnen zukommt, keiner braucht Hunger zu leiden, und Wasserbeine haben sie auch nicht mehr.«
Den Burschen gefiel, was Andrusch ihnen von Pumphutt erzählt hatte. »Weiter!« verlangten sie. »Mehr von ihm! Trink noch was - und laß hören!«
Andrusch setzte die Kanne an, um sich die Gurgel zu schmieren, und weiter ging es von Pumphutt: wie er's den Meistern gegeben hatte, in Bautzen und Sohrau, in Rumburg und Schluckenau - sich zum Spaß und den dortigen Müllerburschen zum Nutzen.
Krabat mußte an ihren eigenen Meister denken, die Reise nach Dresden zum Kurfürsten fiel ihm ein - und er fragte sich, wie es wohl ausgehen würde, wenn Pumphutt durch Zufall einmal an ihren Meister geriete: welcher von beiden dem anderen überlegen wäre, falls es auf eine Kraftprobe zwischen ihnen hinausliefe.
Nach Ostern fingen sie damit an, alles Holzwerk zu überholen, das auf der Mühle vorhanden war. Staschko, als der geschickteste von den Burschen, hatte vom Meister den Auftrag dazu bekommen; Kito und Krabat waren ihm als Gehilfen zugeteilt. Von der Mehlkammer bis zum Dach hinauf sahen sie alles nach, was aus Holz war; und wo es sich zeigte, daß etwas schadhaft geworden war, daß ein Pfosten zu brechen drohte, ein Trittbrett sich aus den Zapfen gelöst hatte, in den Bohlen der Zwischenböden der Wurm war, wurde es von den dreien ausgewechselt oder auf andere Weise instand gesetzt, sei es durch Stützen, sei es durch einen Unterzug. An der Schalung des Mühlgrabens gab es manches zu flicken, das Wehr mußte frisch verzimmert werden, der Bau eines neuen Wasserrades stand ihnen auch ins Haus.
Staschko und seine Gehilfen verrichteten nahezu alles mit ihren Handbeilen, wie sich's für Müllerburschen, die auf sich hielten, von selbst verstand. Zur Säge griffen sie erst, wenn es unbedingt sein mußte, und auch dann nur ungern.
Krabat war froh, daß er eine Arbeit hatte, die es ihm kaum erlaubte,
»an andere Dinge« zu denken, das heißt: an die Kantorka. Trotzdem dachte er oft genug an sie, und er fürchtete manchmal, die anderen müßten ihm diese Gedanken anmerken. Lyschko zumindest hatte schon Lunte gerochen; er fragte ihn eines Tages, was mit ihm los sei.
»Mit mir?« fragte Krabat. »Wieso?«
»Weil du in letzter Zeit kaum noch hinhörst, wenn man dir etwas sagt. Ich kannte mal einen, der Kummer mit einem Mädchen hatte - bei dem war das ähnlich.«
»Und ich«, sagte Krabat so ruhig und unbefangen, wie er nur konnte - »ich kannte mal einen, der hörte das Gras wachsen, wie er meinte; es war aber bloß das Stroh, das in seinem Schädel geknistert hat.«
In der Schwarzen Schule gab Krabat sich große Mühe, bald stand er den meisten Mitgesellen in den Geheimen Wissenschaften um nichts mehr nach. Nur Hanzo und Merten waren ihm noch überlegen - und Michal vor allem, der sich seit Anfang des Jahres zum Meisterschüler herausgemausert und alle Burschen weit überflügelt hatte.
Der Müller fand sichtbar Gefallen an Krabats Eifer; er lobte ihn häufig und spornte ihn an, darin fortzufahren. »Ich sehe schon«, sagte er eines Freitagabends im Mai nach dem Unterricht, »daß du es in den Geheimen Künsten zu etwas bringen wirst. Wie ich dich einschätze, hast du wie selten einer das Zeug dazu. Meinst du, ich hätte dich sonst an den Hof des Kurfürsten mitgenommen?«
Krabat war stolz darauf, daß der Meister mit ihm zufrieden war. Nur schade, daß er nicht öfter Gelegenheit hatte, die in der Zauberlehre erworbenen Kenntnisse anzuwenden!
»Dem können wir abhelfen«, sagte der Meister, als habe er Krabat denken hören. »Morgen gehst du mit Juro nach Wittichenau auf den Markt und verkaufst ihn für fünfzig Gulden als Rappenhengst. Aber paß auf, daß der Dummkopf dir keinen Ärger macht!«
Anderntags wanderte Krabat mit Juro nach Wittichenau. Er dachte an Ochsenblaschke aus Kamenz und pfiff sich eins. Der Pferdehandel versprach eine lustige Sache zu werden. Um so befremdlicher fand er es, als er merkte, daß Juro bekümmert war und den Kopf immer tiefer hängen ließ.
»Was hast du?«
»Wieso?«
»Weil du dreinschaust, als ob es zum Galgen ginge.«
»Was wird es schon sein«, meinte Juro und schneuzte sich mit zwei Fingern die Nase. »Ich schaff das nicht, Krabat - ich hab mich noch nie in ein Pferd verwandelt.«
»Es kann nicht so schwer sein, Juro, ich werde dir dabei helfen.«
»Was nützt mir das?« Juro war stehengeblieben, er blickte ihn traurig an. »Wir werden mich in ein Roß verwandeln, na schön, du wirst mich für fünfzig Gulden verkaufen - und damit ist die Geschichte ausgestanden. Für dich, Krabat, aber nicht für mich! Und warum nicht? Ganz einfach! Wie komme ich aus der Pferdehaut wieder raus, ohne deine Hilfe? Ich glaub fast, der Meister hat mir das eingebrockt, um mich loszuwerden.«
»Bah!« sagte Krabat, »was faselst du da zusammen!«
»Doch, doch«, widersprach ihm Juro. »Ich schaff das nicht, ich bin viel zu blöd dazu.«
Wie er so dastand, mit hängenden Ohren und trauriger Nase, bot er ein Bild des Jammers.
»Und - wenn wir die Rollen tauschen?« schlug Krabat vor. »Hauptsache, daß er sein Geld kriegt: dann kann es dem Meister egal sein, wer von uns wen verkauft.«
Juro war glücklich.
»Daß du das für mich tun willst, Bruder!«
»Laß gut sein«, erwiderte Krabat. »Versprich mir, mit niemand darüber zu reden - das andere soll uns nicht schwerfallen, denke ich.«
Pfeifend marschierten sie ihres Weges, bis sie die Dächer von Wittichenau erblickten. Da bogen sie von der Landstraße ab, hinter eine Feldscheune. »Dies ist ein guter Platz«, sagte Krabat, »da sieht uns keiner, wenn ich mich in das Roß verwandle. Du weißt ja, daß du mich keinesfalls unter fünfzig Gulden verkaufen darfst. Und bevor du mich aus der Hand gibst, nimm mir den Halfter ab: sonst muß ich zeitlebens ein Gaul bleiben - und da wüßte ich mir was Besseres!«
»Keine Angst«, sagte Juro, »ich werde mich schon in acht nehmen! Wenn ich auch dumm bin - so dumm bin ich doch nicht.«
»Schön«, sagte Krabat. »Das soll ein Wort sein.«
Er murmelte einen Zauberspruch und verwandelte sich in ein schwarzes Roß, das war prächtig gesattelt und aufgezäumt.
»Donnerwetter!« rief Juro. »Du bist ja das reinste Paradepferd!«
Die Roßhändler auf dem Wittichenauer Markt rissen Mund und Augen auf, als sie den Hengst erblickten, und kamen herbeigelaufen.
»Was kostet er?«
»Fünfzig Taler.«
Nicht lang, und ein Bautzener Roßkamm war drauf und dran, den geforderten Preis zu zahlen. Da mischte sich, eben als Juro »Topp!« rufen wollte, ein fremder Herr in den Handel. Er trug eine polnische Mütze und einen roten, mit Silberkordeln verschnürten Reitrock: ein abgedankter Obrist vielleicht - oder sonst eine Standesperson.
»Er steht im Begriff, ein schlechtes Geschäft zu machen«, belehrte er Juro mit heiserer Stimme. »Sein Hengst ist weit mehr wert als fünfzig Gulden - ich biete Ihm hundert!«
Der Händler aus Bautzen war wütend. Was mußte ihm dieser verrückte Mensch in die Quere kommen! Wer war er denn überhaupt? Niemand kannte den Fremden, der wie ein Edelmann aussah und keiner war - bis auf Krabat.
Krabat hatte ihn gleich erkannt, an dem Pflaster über dem linken Auge und an der Stimme. Er blähte die Nüstern, er tänzelte hin und her. Wenn er Juro bloß hätte warnen können! Doch Juro schien von der Unruhe, die über Krabat gekommen war, nichts zu merken. Offenbar dachte er nur an die hundert Gulden.
»Was zaudert Er?« drängte der Fremde. Er zog einen Beutel, er warf ihn dem Burschen hin. Juro verbeugte sich.
»Tausend Dank, Herr!«
Im nächsten Augenblick griff der Fremde zu. Er entriß dem verblüfften Juro die Zügel - ein Satz, und schon saß er auf Krabats Rücken. Er stieß ihm die Sporen mit solcher Gewalt in die Flanken, daß Krabat sich wiehernd aufbäumte.
»Reitet mir nicht davon, Herr!« rief Juro. »Der Halfter! Ihr müßt mir den Halfter lassen!«
»Nichts da!« Der Fremde brach in Gelächter aus, nun erkannte selbst Juro ihn.
Mit der Reitpeitsche drosch der Meister auf Krabat ein.
»Vorwärts!« Und ohne sich weiter um Juro zu scheren, stob er davon.
Armer Krabat! Der Meister jagte ihn kreuz und quer durch die Heide, er hetzte ihn über Stock und Stein, über Hecken und Wassergräben, durch Dornengestrüpp und Morast.
»Dich werd ich lehren, wie man pariert!« Wenn Krabat nachließ, zog ihm der Müller die Peitsche über. Er gab ihm die Sporen, daß es den Burschen schmerzte, als ob sich ihm glühende Nägel ins Fleisch bohrten.
Krabat versuchte den Meister abzuschütteln, er bockte, er riß an den Zügeln, er sperrte sich.
»Bock du nur!« rief der Meister. »Mich kriegst du nicht runter!«
Mit Peitsche und Sporen machte er Krabat mürbe. Ein letzter Versuch, sich dem Reiter zu widersetzen, schlug fehl. Da gab Krabat den Kampf verloren und fügte sich. Schweiß troff ihm aus der Mähne und Schaum vom Maul. Er dampfte am ganzen Körper, er keuchte, er zitterte. Blut floß aus seinen Flanken, er spürte es warm an der Innenseite der Schenkel hinabrinnen.
»Brav so!«
Der Meister versammelte Krabat, dann ließ er ihn antraben. Rechtsgalopp, Linksgalopp, wieder in leichten Trab zurück, eine Weile im Schritt - und dann halt.
»Das hättest du einfacher haben können.« Der Müller schwang sich vom Roß, er löste den Halfter. »Nun mach, daß du wieder ein Mensch wirst!«
Krabat verwandelte sich zurück; die Striemen, die Risse, die Wunden und blauen Flecke blieben ihm.
»Nimm sie als Strafe für deinen Ungehorsam! Wenn ich dir einen Auftrag gebe, hast du ihn auszuführen - so, wie es dir befohlen ist, und nicht anders. Ein nächstesmal kommst du mir nicht so glimpflich weg, merk dir das!«
Der Meister ließ keinen Zweifel, daß es ihm tödlich ernst war mit seinen Worten.
»Und noch eins!« Nun hob er die Stimme ein wenig. »Es hindert dich niemand daran, dich an Juro schadlos zu halten - da!«
Er drückte dem Burschen die Reitpeitsche in die Hand. Dann wandte er sich zum Gehen, und wenige Schritte später erhob er sich in die Lüfte: ein Habicht, der raschen Fluges davonstob.
Humpelnd trat Krabat den Heimweg an. Alle paar Schritte mußte er stehenbleiben. Bleigewichte hingen an seinen Füßen. Alle Knochen im Leib taten weh, alle Muskeln schmerzten ihn. Als er die Wittichenauer Straße erreicht hatte, ließ er sich in den Schatten des nächsten Baumes fallen und rastete. Wenn die Kantorka ihn jetzt sähe - was würde sie sagen?
Nach einer Weile kam Juro des Weges getrottet, kleinlaut, mit schlechtem Gewissen.
»He, Juro!«
Der Dummkopf erschrak, als Krabat ihn anrief.
»Du bist das?«
»Ja«, sagte Krabat. »Ich bin das.«
Juro wich einen Schritt zurück. Er deutete mit der einen Hand auf die Reitpeitsche, während er sich die andere vors Gesicht hielt.
»Du wirst mich verprügeln, ja?«
»Das sollte ich wohl«, meinte Krabat. »Der Meister erwartet es jedenfalls.«
»Dann schnell!« sagte Juro. »Ich hab meine Tracht verdient, das ist wahr - und da hätte ich's hinter mir.«
Krabat blies sich das Haar aus der Stirn.
»Ob das Fell mir dann schneller heilte - was meinst du?«
»Aber der Meister!«
»Er hat es mir nicht befohlen«, erwiderte Krabat. »Es war bloß ein Rat von ihm. Komm her, Juro, setz dich zu mir ins Gras!«
»Wie du meinst«, sagte Juro.
Er zog aus der Tasche ein Holzstück, oder was immer es war, damit zeichnete er einen Kreis um die Stelle, an der sie rasteten; dann versah er den Kreis mit drei Kreuzen und einem Drudenfuß.
»Was tust du da?« wollte Krabat wissen.
»Ach - nichts«, sagte Juro ausweichend. »Bloß ein Schutz gegen Mücken und Schmeißfliegen, weißt du... Ich laß mich nicht gerne piesacken. - Zeig mal den Rücken her!« Damit streifte er Krabat das Hemd hoch. »O weh, hat der Meister dich zugerichtet!«
Er pfiff durch die Zähne, er kramte in seinen Taschen.
»Ich hätte da eine Salbe, die trage ich stets bei mir, das Rezept stammt von meiner Großmutter - soll ich dich damit einschmieren?«
»Wenn es was nützt ...«, meinte Krabat, und Juro versicherte:
»Schaden tut es auf keinen Fall.«
Vorsichtig strich er Krabat die Salbe auf. Sie war angenehm kühl und machte die Schmerzen rasch abklingen. Krabat hatte den Eindruck, als wüchse ihm eine neue Haut.
»Daß es so was gibt!« rief er überrascht.
»Meine Großmutter«, meinte Juro, »war eben eine kluge Frau. Wir sind überhaupt eine kluge Familie, Krabat - mich ausgenommen. Wenn ich mir vorstelle, daß du durch meine Blödheit ein Gaul hättest bleiben müssen für alle Zeiten ...« Er schüttelte sich und verdrehte die Augen.
»Hör auf!« bat ihn Krabat. »Du siehst ja, wir haben Glück gehabt.«
Einträchtig wanderten sie miteinander heimzu. Als sie den Koselbruch fast durchquert hatten, kurz vor der Mühle, fing Juro zu hinken an.
»Du mußt mithumpeln, Krabat!«
»Wieso?«
»Weil der Meister nichts von der Salbe zu wissen braucht. Niemand braucht das zu wissen.«
»Und du?« fragte Krabat. »Warum hinkst du auch?«
»Weil ich Prügel von dir bezogen habe, verrgiß das nicht!«
Ende Juni begannen sie mit dem Bau des Wasserrades. Krabat half Staschko das alte Mühlrad vermessen. Das neue mußte in allen Teilen die gleichen Maße haben, weil sie es, wenn es fertig war, auf die vorhandene Mühlenwelle aufsetzen wollten. Hinter dem Pferdestall, zwischen Scheune und Schuppen, hatten sie ihren Zimmerplatz. Dort verbrachten sie nun die Tage damit, alles Nötige herzurichten, die Sprossen und Speichen, die Teilstücke für den Radkranz, die Streben und Schaufelbretter, wie Staschko es ihnen aufriß und anschaffte.
»Alles muß stimmen!« schärfte er den Gehilfen ein. »Damit wir beim Radhub nicht zum Gespött werden!«
An den Abenden war es jetzt lange hell, da saßen die Müllerburschen bei schönem Wetter oft vor der Mühle im Freien, und Andrusch spielte auf seiner Maultrommel.
Gern wäre Krabat um diese Zeit einmal nach Schwarzkollm gegangen. Kann sein, daß die Kantorka vor dem Haus gesessen und ihm gewinkt hätte, seinen Gruß erwidernd, wenn er vorüberschlenderte. Oder war sie vielleicht mit den anderen Mädchen beisammen, und sangen sie wieder?
An manchen Abenden, wenn der Wind von Schwarzkollm kam, glaubte er den Gesang in der Ferne hören zu können; aber das war ja wohl nicht gut möglich, über den Wald herüber.
Wenn er nur einen Vorwand gefunden hätte, um wegzukommen: einen vernünftigen, unverfänglichen Grund, der selbst Lyschkos Mißtrauen nicht geweckt hätte! Möglich, daß sich ihm eines Tages ein solcher Vorwand von selbst bot, ohne daß er damit Verdacht erregte - und ohne die Kantorka in Gefahr zu bringen.
Im Grunde genommen wußte er ja nicht viel von ihr. Wie sie aussah: das wohl. Wie sie ging und den Kopf hielt, und wie ihre Stimme klang, das wußte er nun so sicher, als ob er's von jeher gewußt hätte; und er wußte auch, daß sich die Kantorka nie wieder würde wegdenken lassen aus seinem Leben - so wenig, wie Tonda sich daraus wegdenken ließ.
Dabei kannte er nicht einmal ihren Namen.
Er fragte sich hin und wieder danach, und es machte ihm Freude, ihr einen auszusuchen: Milenka ... Raduschka... Duschenka wäre ein Name, der zu ihr passen könnte.
»Gut«, dachte Krabat, »daß ich nicht weiß, wie sie wirklich heißt. Wenn ich den Namen nicht kenne, kann ich ihn auch nicht preisgeben: wachend nicht und im Schlaf nicht, wie Tonda mir's auf die Seele gebunden hat, damals vor tausend Jahren, als wir am Feuer saßen in jener Osternacht - er und ich.«
Tondas Grab hatte Krabat noch immer nicht aufgesucht. Einmal in diesen Wochen, als er beim ersten Morgengrauen erwachte, stahl er sich aus der Mühle und lief in den Koselbruch. Tautropfen hingen an jedem Grashalm, in allen Zweigen. Wo Krabat gegangen war, hinterließ er im Gras eine dunkle Spur.
Bei Sonnenaufgang stand er am unteren Ende des Wüsten Planes, unweit der Stelle, wo sie zum erstenmal festen Boden erreicht hatten, als er mit Tonda vom Torfstich herübergekommen war. Unterwegs hatte Krabat am Rand eines Moortümpels ein paar Kuckucksblumen gepflückt, um sie Tonda aufs Grab zu legen.
Nun sah er die Reihe der flachen, länglichen Hügel vor sich in der Morgensonne: einer war wie die anderen, ohne Kennzeichen, ohne Unterschied. Hatten sie Tonda am linken Ende der Reihe begraben oder am rechten? Die Abstände zwischen den Hügeln waren nicht gleichmäßig. Möglich, daß Tondas Grabstelle irgendwo zwischendrin lag.
Krabat war ratlos. In seiner Erinnerung gab es nichts, was ihm Anhalt geboten hätte. Alles war weiß gewesen ringsum, als sie Tonda begraben hatten, eingeebnet vom Schnee.
»Es soll wohl nicht sein«, dachte Krabat.
Langsam schritt er die Reihe hinauf und legte auf jeden Hügel eine der Kuckucksblumen. Zum Schluß blieb ihm eine übrig. Er drehte den Stengel zwischen den Fingern, betrachtete sie und sagte:
»Dem nächsten, den wir hier draußen begraben werden...«
Dann ließ er die Blume fallen - und jetzt erst, während der kurzen Zeit, die sie brauchte, bis sie den Boden berührte, wurde ihm klar, was er da gesagt hatte. Krabat erschrak, doch das Wort ließ sich nicht zurücknehmen, und die Blume lag da, wo sie lag: am oberen Ende der Reihe, zwischen dem Hügel, der sich am weitesten rechts befand, und dem Waldrand.
Daheim in der Mühle schien niemand gemerkt zu haben, wo Krabat gewesen war; und doch hatte einer ihn heimlich beobachtet: Michal. Am Abend nahm er sich Krabat unter vier Augen vor.
»Die Toten sind tot«, sagte Michal. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich sage dir's noch einmal. Wer auf der Mühle im Koselbruch stirbt, wird vergessen, als ob es ihn nie gegeben habe: nur so läßt sich's für die anderen weiterleben - und weitergelebt muß werden. Versprich mir, daß du dich daran halten wirst!«
»Ich verspreche es.«
Krabat nickte - doch während er nickte, wußte er, daß er etwas versprach, was zu halten er weder gewillt noch imstande war.
Die Arbeit am neuen Wasserrad dauerte, alles in allem, gute drei Wochen. Sie verwendeten keinen einzigen Nagel dabei. Die Teile wurden genau aufeinander eingepaßt und verzapft; später dann, wenn sie das Rad zu Wasser gebracht hatten, würden die Zapfen aufquellen: das hielt besser als jeder Leim.
Ein letztesmal überzeugte sich Staschko davon, daß die Maße stimmten und nichts mehr fehlte; dann ging er zum Meister, um ihm zu melden, das Rad sei fertig.
Der Meister bestimmte den nächsten Mittwoch zum Tag des Radhubs. Nun hätte er Botschaft an alle Müller im Umkreis senden und sie mit ihren Knappen auf diesen Tag zu sich einladen müssen, wie es der Brauch war. Aber der Müller im Koselbruch hielt nichts von solchen Bräuchen, ihm konnten die Nachbarmüller gestohlen bleiben, er meinte: »Was soll uns das fremde Volk auf der Mühle? Den Radhub schaffen wir auch allein.«
Für Staschko, Krabat und Kito blieb bis zum Mittwoch genug zu tun. Das alte Wasserrad mußte samt dem Gerinne mit einem starken Balkengerüst überzimmert werden; es war ihre Aufgabe, für das Seilzeug zu sorgen, für Winde und Flaschenzug; auch Traghölzer waren herzurichten, Rollen und Hebebäume und sonstiges Schirrholz.
Am Dienstagabend durchflochten die Müllerburschen die Speichen des neuen Rades mit einem Laubgebinde, und Staschko steckte zum Schluß ein paar Blumen hinein. Er war stolz auf sein Werk, das sollten die anderen ruhig merken.
Den Mittwoch begannen sie damit, daß Juro ihnen zum Frühstück Speckkuchen auftischte. »Weil ich mir denke: Wenn ihr was Gutes im Bauch habt, werdet ihr besser zupacken. Also eßt euch schön satt - aber überfreßt euch nicht!«
Nach dem Frühstück gingen sie auf den Zimmerplatz, wo der Meister sie schon erwartete. Wie Staschko es ihnen anschaffte, schoben sie nun die Traghölzer unter dem Rad hindurch, je drei auf der einen Seite der Nabe und drei auf der anderen.
»Fertig?« rief Staschko.
»Fertig!« riefen der Müller und die Gesellen.
»Auf gutes Gelingen also! Heeebt - an!«
Sie schleppten das Rad auf den Traghölzern an den Mühlgraben, wo sie es neben dem Balkengerüst auf der Wiese ablegten. »Langsam!« rief Staschko. »Schön sachte, damit es nicht aus den Fugen geht!«
Michal und Merten erkletterten das Gerüst, sie hängten die Mühlenwelle mit Hilfe des Flaschenzuges und einiger Seile hinter dem alten Wasserrad an den Querbalken auf. Nun konnten die Burschen mit ihren Stangen und Hebebäumen das Mühlrad über das vordere Ende der Welle herabwuchten, aus dem Gerinne heben und wegtragen.
Das neue Wasserrad wurde hochgestellt, ans Gerinne gebracht und aufrecht hinabgelassen, so weit, bis die Nabe auf gleicher Höhe war wie die Mühlenwelle. Nun galt es, das Rad mit dem Nabenring auf die Welle zu schieben. Staschko schwitzte vor Aufregung. Er war ins Gerinne hinabgestiegen, mit Andrusch zusammen; von dort aus erteilte er seine Befehle.
»Links etwas nachlassen - und dann langsam kommen... Jetzt rechts eine Handbreit tiefer... Und aufpassen, daß ihr es nicht verkantet!«
Alles war gut verlaufen bisher - da schlug Andrusch die Hände über dem Kopf zusammen und stieß einen Fluch aus. »Sieh hin!« rief er Staschko zu. »Was für Murks ihr gemacht habt!« Er deutete auf das Nabenloch. »Da kriegst du zur Not einen Besenstiel durch, aber niemals die Mühlenwelle!«
Staschko erschrak, kriegte rote Ohren. Er hatte doch alles sorgfältig und genau vermessen - und trotzdem war nun das Loch in der Nabe zu klein geraten: so klein, daß selbst Juro es hätte merken müssen, allein nach dem Augenmaß.
»Das ... kann ich mir ... nicht erklären ...«, stammelte Staschko.
»Nein?« fragte Andrusch.
»Nein«, sagte Staschko.
»Ich schon!« meinte Andrusch grinsend.
Die anderen hatten längst gemerkt, daß er bloß seinen Scherz trieb mit Staschko. Nun schnippte er mit den Fingern — und augenblicklich war alles wieder in Ordnung: das Nabenloch hatte die richtige Größe, und als sie das Rad auf die Welle setzten, paßte es haarscharf darauf.
Staschko verübelte Andrusch den Schabernack nicht; er war froh, daß der schwierigste Teil des Radhubes überstanden war. Was noch zu tun blieb, war demgegenüber ein Kinderspiel. Sie brachten die Mühlenwelle in die gewöhnliche Lage zurück und entfernten das Seilzeug. Dann wurde das Rad auf der Welle festgekeilt und verzapft. Ein paar Handgriffe noch, ein paarmal daran herumgeklopft - fertig.
Der Müller hatte beim Radhub geholfen wie alle anderen. Nun erstieg er das Balkengerüst, und Juro mußte ihm Wein bringen. Aufrecht überm Gerinne stehend, schwenkte der Meister die Kanne. Dann trank er den Knappen Bescheid zu, den Rest goß er auf das bekränzte Rad hinab.
»Erst Wein - und dann Wasser!« rief er. »Lassen wir's anlaufen!«
Da öffnete Hanzo die Schleuse, und unter dem Jubel der Müllerburschen setzte das neue Mühlrad sich in Bewegung.
Nach getaner Arbeit trugen die Knappen den langen Tisch und die Bänke aus der Gesindestube auf den Vorplatz der Mühle, und Lyschko schleppte mit Witkos Hilfe den Lehnstuhl des Meisters herbei, den stellten sie an der Stirnseite obenan. Dann wuschen sie sich im Mühlenweiher, und während die Burschen sich feinmachten, frische Hemden und saubere Kittel anzogen, traf Juro in der Küche die letzten Vorbereitungen für das Festmahl.
Zur Feier des Radhubes gab es Braten und Wein. Sie tafelten unter freiem Himmel bis weit in den Abend. Der Meister war redselig und bei bester Laune. Er lobte Staschko und dessen Gehilfen für ihre Arbeit und hatte sogar für den dummen Juro ein gutes Wort übrig: daß der Braten vortrefflich sei und der Wein ein Labsal. Er sang mit den Burschen, er spaßte mit ihnen, er forderte sie zum Trinken auf und trank selber am meisten.
»Lustig!« rief er, »nur lustig, Burschen! Der Neid könnte einen zwacken, wenn man euch sieht - ihr wißt nicht, wie gut ihr's habt!«
»Wir?« fragte Andrusch, sich an den Kopf fassend. »Hört ihr das, Brüder und Mitgesellen - der Meister beneidet uns!«
»Weil ihr jung seid.«
Der Meister war ernst geworden, aber er blieb es nicht lange; er fing zu erzählen an: von der Zeit, als er selbst noch ein Müllerbursche gewesen war, etwa in Krabats Alter.
»Ich hatte da einen guten Freund, wie ihr wissen müßt - der hieß Jirko. Wir haben zusammen gelernt, auf der Mühle in Commerau. Später sind wir dann miteinander losgezogen, auf Wanderschaft, kreuz und quer durch die Lausitz, ins Schlesische auch, und nach Böhmen hinüber. Wenn wir zu einem Müller gekommen sind, haben wir immer gefragt, ob er Arbeit für zwei hat, denn einzeln hätten wir nicht erst angefangen, der Jirko und ich. Gemeinsam war's besser und lustiger. Jirko hat immer dafür gesorgt, daß wir was zu lachen hatten. Und arbeiten hat er können - für drei, wenn es sein mußte. Und die Mädchen sind hinter uns her gewesen, das glaubt ihr nicht!«
Der Meister war ins Erzählen gekommen. Ab und an unterbrach er sich, um zu trinken, dann nahm er den Faden auf und erzählte weiter: Wie Jirko und er eines Tages in eine Schwarze Schule geraten waren, wie sie in sieben Jahren das Zaubern erlernt und nach Ablauf der Lehrzeit aufs neue begonnen hatten, im Lande umherzuwandern.
»Einmal«, erzählte der Meister, »sind wir auf einer Mühle im Dienst gewesen, unweit von Coswig, da ist eines Tages der Kurfürst mit einer Jagdgesellschaft vorbeigekommen, die haben da Rast gemacht, auf der Wiese hinter dem Mühlenweiher, im Schatten der Bäume.
Wir Müllerburschen, auch Jirko und ich, haben hinter den Büschen gestanden und ihnen zugeschaut, wie sie getafelt haben. Zwei Diener hatten ein Tischtuch ins Gras gebreitet, da lagerten nun der Kurfürst und seine Jagdgäste außen herum und aßen von silbernen Tellern, was ihnen die Diener vorsetzten: Wachtelpastetchen mit Trüffeln, und Wildbret, und dreierlei Wein dazu - und zum Nachtisch gab's Zuckerzeug, alles auf Packpferden mitgeführt, in mächtigen Tragkörben.
Wie nun der Kurfürst, auch er noch ein junger Mann damals - wie er mit seinen Damen und Herren zu Ende gespeist hat, stößt er zum Zeichen, daß er nun satt und zufrieden ist, einen lauten Rülpser aus. Dann meint er, es sei ihm nach dieser Mahlzeit im Freien so wohl zumute, daß er sich stark fühle wie zwölf Ochsen. Und wie er uns Burschen hinter den Büschen stehen und glotzen sieht, schreit er uns zu, daß ihm jemand ein Hufeisen bringen soll, aber rasch, sonst zerreißt es ihn noch vor Kraft!
Nun wußten wir ja, daß der Kurfürst es angeblich fertigbrachte, ein Hufeisen mit den Fäusten entzweizubrechen, kricks-kracks in der Mitte durch. Wir konnten uns also denken, wozu er das Eisen haben wollte, und Jirko lief in die Mühle und holte ihm eins aus dem Pferdestall.
>Hier, Euer Allerdurchlauchtigste Gnaden!<
Der Kurfürst packte das Eisen an beiden Enden. Die Jägerburschen, die mit den Pferden und Hunden ein wenig abseits lagerten, waren schon aufgesprungen, sie spitzten die Lippen und setzten die Hörner an - und im Augenblick, wie der Kurfürst das Hufeisen auseinanderbricht, fangen sie an zu blasen, aus voller Lunge, die Backen aufgeplustert wie Orgelbälge. Unterm Geschmetter der Jagdhörner hält der Kurfürst die beiden Hälften des Hufeisens in die Höhe und zeigt sie herum. Dann fragt er die Herren der Jagdgesellschaft, ob einer von ihnen imstande sei, ihm das nachzumachen.
Alle verneinen das, nur unsern Jirko sticht wieder einmal der Hafer. Er tritt vor den Kurfürsten hin und behauptet: >Ich kann, mit Verlaub, was viel Besseres - nämlich das Hufeisen wieder ganzmachen.<
>Das<, meint der Kurfürst, >kann jeder Grobschmied.<
>Mit Blasbalg und Schmiedefeuer<, räumt Jirko ein - >doch schwerlich mit bloßen Händen!<
Er wartet nicht ab, was der Kurfürst erwidert. Er nimmt ihm die beiden Teile des Hufeisens einfach weg. Dann preßt er sie mit den Bruchstellen gegeneinander und spricht eine Formel.
>Zu Gnaden!< sagt er.
Der Kurfürst reißt ihm das Hufeisen aus der Hand, er beguckt sich's von allen Seiten: das Eisen ist heil und ganz, wie aus einem Guß.
>Ach was!< knurrt der Kurfürst. >Er kann Uns nicht weismachen, daß das hält!<
Zum zweitenmal will er das Hufeisen auseinanderbrechen, das kann ja nicht schwer sein, denkt er. Aber da hat er die Rechnung ohne den Jirko gemacht! Er zerrt und zerrt an dem Eisen, daß ihm die Adern am Hals hervortreten, fingerdick. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn, die Augen drohen ihm aus dem Kopf zu fallen. Zuerst wird er rot im Gesicht wie ein Puter, dann veilchenfarben und schließlich dunkelblau. Seine Lippen sind weiß vor Anstrengung, weiß und schmal wie zwei Kreidestriche.
Dann, plötzlich, läßt der Herr Kurfürst das Eisen fallen. Quittengelb ist er nun vor Zorn.
>Die Pferde!< befiehlt er, >wir reiten!< Er ist aber kaum in den Sattel gekommen, so schwach ist er auf den Beinen gewesen, der Allerdurchlauchtigste. Und um die Mühle dort, in der Nähe von Coswig, hat er seitdem einen großen Bogen gemacht.«
Der Meister trank, und der Meister erzählte: aus seiner Burschenzeit und von Jirko, vor allem von ihm. Bis Michal ihn fragte, was denn aus diesem Jirko geworden sei; da war es schon spät, und die Sterne standen am Himmel, und hinter dem Giebel des Pferdestalls kam der Mond herauf.
»Aus Jirko?« Der Meister umfaßte mit beiden Händen den Weinkrug. - »Den hab ich umgebracht.«
Die Burschen riß es von ihren Bänken hoch.
»Ja«, wiederholte der Meister. »Ich hab ihn umgebracht - und ich werde euch eines Tages erzählen, wie es dazu gekommen ist. Jetzt aber bin ich durstig - drum Wein her, Wein her!«
Der Meister betrank sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, bis er in seinen Lehnstuhl zurückfiel, starr wie ein Toter.
Es grauste die Burschen bei seinem Anblick. Sie brachten es nicht über sich, ihn ins Haus zu tragen, und ließen ihn draußen sitzen, bis er am anderen Morgen von selbst erwachte und sich zu Bett schlich.
Bisweilen geschah es, daß wandernde Müllerburschen zur Mühle im Koselbruch kamen und, wie es Brauch und ihr gutes Recht war, den Müller um Wegzehrung und Quartier baten. Damit hatten sie aber beim Meister am Schwarzen Wasser kein Glück; denn obgleich er dazu verpflichtet gewesen wäre, den reisenden Knappen für einen Tag Kost und Herberge für die Nacht zu gewähren, hielt er sich nicht an den Zunftgebrauch, sondern wies sie mit höhnischen Reden ab. Er wolle mit Tagedieben und streunendem Pack nichts zu tun haben, fuhr er sie an, für derlei Gesindel habe er weder Brot im Kasten noch Brei im Topf: sie sollten sich auf der Stelle zum Kuckuck scheren, sonst werde er sie mit Hunden bis nach Schwarzkollm hetzen.
Dies genügte zumeist, um die Wandergesellen loszuwerden. Falls aber einer aufmuckte, wußte der Müller es einzurichten, daß sich der arme Teufel sogleich von Hunden gehetzt glaubte, wild mit dem Wanderstecken um sich schlug und schreiend das Weite suchte.
»Wir brauchen hier keine Schnüffler«, pflegte der Meister zu sagen, »und unnütze Fresser auch nicht.«
Im Hochsommer war es, an einem schwülen, bleiernen Tag. Dunstschleier hingen über dem Koselbruch, die Luft war so zäh, daß das Atmen schwerfiel. Vom Mühlgraben ging ein strenger Geruch aus, nach Algen und Faulschlamm: bald würde es ein Gewitter geben.
Krabat hatte sich's nach dem Mittagessen im Schatten der Weidenbüsche am Ufer des Mühlenweihers bequem gemacht. Die Hände im Nacken verschränkt, lag er rücklings im Gras und kaute auf einem Halm. Er war matt und schläfrig, ihm fielen die Augen zu.
Mitten im Eindösen hörte er jemand mit lautem Gepfeife des Weges kommen. Als er die Augen öffnete, stand ein Wanderbursche vor ihm.
Der Fremde, ein langer und dürrer, schon etwas älterer Mensch von zigeunerhaft dunkler Hautfarbe, trug einen hohen, merkwürdig spitzen Hut und im linken Ohrläppchen einen schmalen Goldring. Sonst war er wie alle wandernden Müllerburschen gekleidet, mit weiten Leinenhosen, ein Handbeil im Gürtel, das Reisebündel am Riemen über der linken Schulter. »Zum Gruß, Bruder!« rief er.
»Zum Gruß«, sagte Krabat gähnend. »Woher, wohin?«
»Von dorther nach dahin«, meinte der Fremde. »Bring mich zu deinem Müller!«
»Der sitzt in der Meisterstube«, erwiderte Krabat träge. »Gleich links, wenn du in den Flur kommst, die erste Tür: sie ist nicht zu verfehlen.«
Der Fremde betrachtete Krabat mit spöttischem Lächeln.
»Tu, was ich sage, Bruder, und führe mich hin zu ihm!«
Krabat spürte, daß eine gewaltige Kraft von dem Fremden ausging. Sie zwang ihn, sich zu erheben und ihm den Weg zu weisen, wie er's von ihm verlangt hatte.
Der Müller saß in der Meisterstube, am oberen Ende des Tisches. Unwillig blickte er auf, als Krabat den fremden Burschen hereinführte; den aber schien das nicht weiter anzufechten.
»Mit Gunst!« rief er, seinen Hut lüpfend. »Ich entbiete dir, Meister, den Gruß und erheische nach Zunftgebrauch Wegzehrung und Quartier für die Nacht.«
Der Meister wies ihm mit seinen üblichen Redensarten die Tür, der Fremde scherte sich nicht darum.
»Das mit den Hunden«, sagte er, »kannst du dir sparen - ich weiß, daß du keine hast. Du erlaubst doch?«
Er setzte sich ohne weitere Umstände auf den Stuhl, der am unteren Ende des Tisches stand. Krabat begriff die Welt nicht mehr. Wie konnte der Meister sich das gefallen lassen! Er hätte doch aufspringen, hätte den Fremden davonjagen müssen, ihn notfalls zur Mühle hinausprügeln ... Warum tat er nichts?
Wortlos saßen die beiden Männer sich gegenüber und starrten sich über den Tisch weg an, voller Ingrimm, als wollten sie jeden Augenblick mit gezücktem Messer dem anderen an die Kehle.
Draußen grollte der erste Donner: weit weg noch, ein dumpfes Gemurmel, kaum wahrnehmbar.
Da kam Hanzo zur Tür herein, dann Michal, dann Merten. Ein Müllerbursch um den andern betrat die Meisterstube, bis alle versammelt waren. Sie hätten mit einemmal das Verlangen gehabt, nach dem Meister zu sehen, sagten sie später - ganz zufällig hatte es jeden gepackt und hierher geführt...
Das Gewitter kam näher, ein Windstoß machte die Fenster klirren, ein Blitz zuckte auf. Der Fremde spitzte die Lippen, dann spuckte er auf den Tisch. An der Stelle, wohin er gespuckt hatte, saß eine rote Maus.
»Jetzt, Müller, spuck du dagegen an!«
Der Meister spie eine schwarze Maus auf den Tisch, sie war einäugig wie er selbst. Die Mäuse umkreisten einander auf flinken Pfoten, eine versuchte die andere in den Schwanz zu beißen: die rote die schwarze, die schwarze die rote. Schon setzte die schwarze zum Biß an - da schnalzte der fremde Bursch mit den Fingern.
Dort, wo die rote Maus sich geduckt hatte, duckte sich nun ein roter Kater, zum Sprung bereit. Augenblicklich verwandelte auch die schwarze Maus sich in einen Kater, schwarz und einäugig. Fauchend, mit drohend gezückten Krallen gingen die zwei aufeinander los. Tatzenhieb, Biß und Tatzenhieb!
Der rote Kater hatte es auf das eine Auge des schwarzen abgesehen. Kreischend stürzte er auf ihn zu. Es fehlte nicht viel, da hätte er ihm das Auge ausgekratzt.
Diesmal war es der Meister, der mit den Fingern schnalzte. Da saß an der Stelle des schwarzen Katers plötzlich ein schwarzer Gockel. Flügelschlagend, mit Schnabel und Klauen wütend um sich hackend, griff er an, daß der rote Kater entsetzt zurückwich - aber nicht weit, denn nun schnalzte der Müllerbursch mit den Fingern.
Zwei Hähne, ein schwarzer, ein roter, standen sich auf dem Tisch gegenüber, den Kamm geschwollen, die Federn gesträubt.
Draußen ging das Gewitter nieder, die Mühlknappen achteten nicht darauf. Zwischen den Gockeln entbrannte ein wilder Kampf. Jäh aufflatternd, prallten sie gegeneinander. Es hagelte Schnabelhiebe und Sporenschläge auf beiden Seiten, sie setzten sich mit den Flügeln zur Wehr, daß die Federn stoben, sie schrien, sie kreischten.
Schließlich gelang es dem roten Gockel, sich auf den Rücken des schwarzen zu schwingen. Er krallte sich im Gefieder des Gegners fest, er rupfte ihn unbarmherzig, er hackte in blinder Wut mit dem Schnabel zu - bis der Schwarze die Flucht ergriff.
Der rote Gockel verfolgte ihn durch die halbe Mühle, er jagte ihn in den Koselbruch.
Ein letzter, gewaltiger Blitz flammte auf, dann ein Donner wie tausend Paukenschläge - und Stille für diesmal, und nur noch der Regen, der vor den Fenstern niederrauschte.
»Du hast«, sprach der fremde Bursche, »den Zweikampf verloren, Müller am Schwarzen Wasser. Nun rasch, ich bin hungrig - trag mir zu essen auf und vergiß auch den Wein nicht!«
Der Meister, kalkweiß im Gesicht, erhob sich aus seinem Sessel. Eigenhändig trug er dem fremden Wandergesellen Brot und Schinken auf, Rauchfleisch und Käse, Gurken und Essigzwiebeln. Dann brachte er aus dem Keller einen Krug Rotwein herauf.
»Zu sauer«, meinte der Fremde, nachdem er davon gekostet hatte.
»Hol mir was aus dem kleinen Faß, das rechts hinten im Eck steht! Du hast es dir für besondere Anlässe aufgehoben - dies ist ein besonderer Anlaß.«
Der Meister fügte sich zähneknirschend. Er hatte den Zweikampf verloren, er mußte kuschen.
Der Fremde verzehrte in aller Ruhe das Mahl, der Meister und die Gesellen schauten ihm dabei zu. Sie standen wie angewurzelt an ihren Plätzen und kamen mit ihren Blicken nicht los von ihm. Endlich schob er den Teller weg, wischte sich mit dem Ärmel die Lippen und meinte:
»Ah, das hat gut geschmeckt - und schön reichlich ist's auch gewesen ... Zum Wohlsein, Brüder!« Er schwenkte den Becher und trank den Gesellen zu. »Du aber«, riet er dem Meister, »solltest in Zukunft genauer hinsehen, ehe du einem Fremden die Tür weist - das laß dir von Pumphutt gesagt sein!«
Damit erhob er sich, griff nach Handbeil und Reisebündel und ging aus der Mühle. Krabat und die Gesellen drängten ihm nach, den Meister allein zurücklassend.
Draußen hatte sich das Gewitter verzogen, die Sonne stand über dem dampfenden Koselbruch, die Luft schmeckte frisch wie Brunnenwasser.
Pumphutt ging seines Weges, ohne sich umzublicken. Quer durch die nassen Wiesen schritt er dem Wald zu und pfiff sich eins. Ein paarmal blinkte sein goldener Ohrring auf in der Sonne.
»Hab ich's euch nicht gesagt?« meinte Andrusch. »Wer es mit Pumphutt zu tun kriegt, merkt immer erst hinterher, daß es ihm besser bekommen wäre, hätte er's gleich gemerkt...«
Drei Tage und Nächte lang schloß der Müller sich in der Schwarzen Kammer ein. Die Mühlknappen schlichen auf Zehenspitzen durchs Haus.
Sie waren dabeigewesen, als Pumphutt den Meister im Zauberkampf überwunden hatte; sie konnten sich ausrechnen, daß ihnen schlechte Zeiten bevorstanden.
Am Abend des vierten Tages war es soweit. Der Meister erschien unterm Abendbrot in der Gesindestube und holte sie von den Schüsseln weg. »An die Arbeit!« Er mußte getrunken haben, sie rochen es gegen den Wind. Hohlwangig stand er vor ihnen, bleich wie der Tod, das Gesicht voll Bartstoppeln.
»Seid ihr noch nicht in der Mahlstube, muß ich euch Beine machen? Los, laßt die Mühle anlaufen, schüttet Korn auf! Wir mahlen auf allen Gängen - und wehe euch, wenn mir einer trödelt!«
Die ganze Nacht lang mußten die Burschen sich in der Mühle abrackern. Unbarmherzig trieb sie der Meister zur Eile an. Schreiend und fluchend jagte er sie umher, stieß Verwünschungen aus, drohte Strafen an, ließ sie kaum zur Besinnung kommen. Es gab keine Pause während der ganzen Nacht, keinen Augenblick zum Verschnaufen.
Als endlich der Morgen graute, waren die Burschen zum Umfallen müde. Sie kamen sich vor, als habe man ihnen die Knochen im Leib mit Knüppeln zerschlagen, und keiner, der nicht nach Atem rang. Der Meister schickte sie auf die Pritschen, sie sollten sich ausruhen.
Tagsüber ließ er sie völlig in Frieden, aber am Abend fing alles wieder von vorne an. So ging das nun Nacht für Nacht. Wenn es dunkelte, trieb der Meister sie in die Mahlstube, und dann mußten sie schuften, beschimpft und verhöhnt und herumgehetzt bis zum Morgengrauen des neuen Tages.
Nur in den Nächten von Freitag auf Samstag brauchten sie nicht zu arbeiten, weil der Unterricht an den Freitagabenden weiterhin stattfand.
Bloß waren die Burschen so müde, daß sie sich, wenn sie in Rabengestalt auf der Stange hockten, kaum wachzuhalten vermochten, und manche schliefen sogar vor Erschöpfung ein.
Der Meister scherte sich nicht darum. Was und wieviel sie lernten, war ihre Sache. Nur einmal, als Witko im Schlaf von der Stange plumpste, konnte er nicht umhin, ihn zu tadeln.
Von allen Burschen war Witko am schlimmsten dran, weil er noch im Wachsen war. Ihm setzte die nächtliche Arbeit am meisten zu. Michal und Merten versuchten zwar, sich des Jungen anzunehmen; auch Hanzo,
Krabat und Staschko gingen ihm, wo es sich machen ließ, bei der Arbeit zur Hand - doch der Meister war überall, und dem Blick seines einen Auges entging nur wenig.
Von Pumphutt war niemals die Rede. Trotzdem wußten die Burschen, daß sie der Meister bestrafte, weil sie bei seiner Niederlage zugegen gewesen waren.
So ging das nun wochenlang bis zur ersten Neumondnacht im September. Der mit der Hahnenfeder kam vorgefahren wie immer, die Burschen machten sich an die Arbeit, der Meister erklomm den Kutschbock. Er griff sich die Peitsche, er ließ sie schnalzen. Schweigend rannten die Knappen mit ihren Säcken vom Wagen zur Mahlstube, kippten das Zeug in die Schütte des Toten Ganges und eilten zurück zum Wagen. Alles lief ab, wie es stets in den Neumondnächten zu laufen pflegte, um einiges mühsamer freilich - und später dann, um die Wende der zweiten Morgenstunde, geschah es, daß Witko nicht weiterkonnte. Beladen mit einem der letzten Säcke, begann er zu torkeln und brach zusammen, auf halbem Weg zwischen Fuhrwerk und Mahlstube. Keuchend lag er im Gras, das Gesicht nach unten. Michal drehte ihn auf den Rücken, er riß ihm das Hemd auf.
»Heda!« Der Meister war aufgesprungen. »Was soll das!«
»Da fragst du noch?« Michal, sich aufrichtend, brach das sonst in den Neumondnächten gewahrte Schweigen. »Wochenlang hast du uns Nacht für Nacht schuften lassen - wie soll das der Junge durchhalten?«
»Kusch!« rief der Meister. Er schlug mit der Peitsche nach Michal, die Schwippe ringelte sich um dessen Hals.
»Laß das bleiben!«
Zum erstenmal hörte Krabat den Fremden sprechen. Es war eine Stimme wie glühende Kohlen und klirrender Frost in einem. Er spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinablief, während er gleichzeitig das Gefühl hatte, mitten in einem lichterloh brennenden Feuer zu stehen.
Der mit der Hahnenfeder bedeutete Michal mit einer Handbewegung, Witko beiseite zu schaffen; dann nahm er dem Meister die Peitsche weg und stieß ihn vom Wagen.
Anstelle des Jungen, den Michal zu Bett brachte, mußte der Müller nun für den Rest der Nacht mit den Burschen arbeiten, wie er's sonst nur in der Zeit zwischen Neujahr und Ostern zu tun gezwungen war - und die Mühlknappen gönnten ihm das.
Vom nächsten Tag an hatten die Burschen Ruhe. Nur der Striemen an Michals Hals erinnerte noch daran, daß der Meister sie wochenlang Nacht für Nacht kujoniert hatte. Neuerdings durften sie wieder bei Tageslicht ihrer Arbeit nachgehen, was ihnen wenig Mühe verursachte, und am Feierabend war Schluß. Da konnten sie tun und lassen, was ihnen gefiel: Maultrommel spielen, Geschichten erzählen und Löffel schnitzen. Alles war, wie es früher gewesen war. Die Blasen an ihren Händen trockneten ein, die wunden Stellen auf Brust und Rücken waren bald abgeheilt. Nun lernten sie wieder eifrig und mit Gewinn, wenn der Müller ihnen am Freitagabend aus dem Koraktor vorlas; und wenn er sie abfragte, war es zumeist nur Juro, der steckenblieb und nicht weiterwußte - aber das war ja die alte Leier mit ihm.
Ein paar Tage nach Michaeli ergab es sich dann, daß Petar und Krabat vom Meister nach Hoyerswerda geschickt wurden, um ein Faß Salz zu holen und allerlei Küchenkram. Der Müller ließ niemals einen der Burschen einzeln weg. Galt es auswärts was zu erledigen, schickte er mindestens zwei gemeinsam aus, und er mochte wohl seine Gründe haben dafür - oder seine Vorschriften.
Im Morgengrauen fuhren die beiden los, auf dem Leiterwagen, die Braunen vorgespannt. Es war neblig im Koselbruch. Als sie den Wald hinter sich hatten, ging die Sonne auf, der Nebel zerfloß am Boden.
Schwarzkollm lag vor ihnen.
Krabat hoffte darauf, die Kantorka sehen zu können. Während sie durch das Dorf fuhren, hielt er Ausschau nach ihr - vergebens. Bei den Mädchen, die schwatzend mit ihren Wassereimern am unteren Brunnen standen, befand sie sich nicht, und am oberen Brunnen auch nicht. Auch sonst war sie nirgends zu sehen an diesem Morgen.
Krabat war traurig, er hätte sie gern einmal wiedergesehen, es war ja schon lange her seit der Osternacht.
»Ob ich am Nachmittag Glück habe, wenn wir heimfahren?« dachte er. Vielleicht war es besser, wenn er sich keine Hoffnung machte: dann brauchte er hinterher nicht enttäuscht zu sein.
Am Nachmittag, als sie mit ihrem Faß Salz und dem anderen Krimskrams von Hoyerswerda zurückfuhren, fügte sich's aber doch, daß sein Wunsch in Erfüllung ging. Da stand sie, umgeben von einer gackernden Hühnerschar, unweit des unteren Dorfbrunnens, eine Strohschüssel in der Hand, und streute den Hühnern Futter hin.
»Putt-putt-putt! Putt-putt-putt!«
Krabat erkannte sie auf den ersten Blick. Er nickte ihr im Vorbeifahren zu, ganz beiläufig, da ja Petar nichts merken durfte. Die Kantorka nickte ebenso beiläufig wieder zurück, freundlich zwar, wie man Fremden zunickt: aber die Hühner, die sie zu füttern hatte, waren ihr zehnmal wichtiger. Unter dem Hühnervolk tat sich ein schöner, rotbunter Gockel hervor, der eifrig zu ihren Füßen die Körner aufpickte: den beneidete Krabat in diesem Augenblick sehr, und wäre es möglich gewesen, so hätte er auf der Stelle mit ihm getauscht.
Der Herbst zog sich diesmal lang hin, unwirtlich, kühl und grau, mit viel Nebel und Regen. Sie nutzten die wenigen Tage, an denen es halbwegs trocken war, um den Wintertorf einzufahren. Die übrige Zeit verbrachten sie in der Mühle, in Scheune und Stall, auf dem Schüttboden oder im Schuppen. Jeder war froh, wenn er eine Arbeit hatte, bei der er nicht in den Regen hinaus mußte.
Witko war seit dem Frühjahr beträchtlich gewachsen, doch weiterhin dürr geblieben.
»Wir sollten ihm einen Ziegelstein auf den Kopf legen«, meinte Andrusch, »sonst wächst er uns noch davon!« Und Staschko schlug vor, ihn zu mästen wie eine Martinsgans, »weil er Speck auf die Rippen braucht und mehr Fleisch an den Hintern, damit er nicht aussieht wie eine Krautscheuche!«
Neuerdings zeigte sich, auch bei Witko an Kinn und Oberlippe der erste Flaum: fuchsrot, versteht sich. Witko schenkte dem allen keine Beachtung, Krabat dafür um so mehr. Er konnte an Witko beobachten, wie es war, wenn ein Junge in einem Jahr um das Dreifache älter wurde.
Der erste Schnee fiel in diesem Jahre in der Andreasnacht, reichlich spät also. Wieder kam nun die große Unruhe über die Mühlknappen auf der Mühle im Koselbruch, wieder wurden sie wortkarg und unverträglich. Beim nichtigsten Anlaß brachen sie Streit vom Zaun. Die Tage, an denen nicht mindestens einer im Zorn mit den Fäusten auf einen anderen losging, wurden von Woche zu Woche seltener.
Krabat erinnerte sich des Gespräches mit Tonda, das sie im Vorjahr um diese Zeit geführt hatten: War den Burschen auch diesmal die Angst in die Knochen gefahren, weil einem von ihnen der Tod bevorstand?
Daß der Gedanke ihm nicht schon früher gekommen war! Immerhin kannte er ja den Wüsten Plan und die Zeile der flachen Hügel: sieben waren es oder acht - oder mehr noch, er hatte sie nicht gezählt. Nun verstand er die Angst der Burschen, nun teilte er sie. Jeder von ihnen, mit Ausnahme Witkos vielleicht, konnte in diesem Jahr an der Reihe sein. Aber wer? Und warum nur? Krabat getraute sich keinen der Mitgesellen danach zu fragen, auch Michal nicht.
Öfter als sonst zog er Tondas Messer hervor, ließ es aufschnappen, prüfte die Klinge. Die Klinge war blank, und sie blieb es auch. Er also, Krabat, schien außer Gefahr zu sein - aber schon morgen konnte sich das geändert haben.
Im Holzschuppen stand ein Sarg bereit. Krabat entdeckte ihn zufällig, als er am Tag vor dem Heiligen Abend um Holz ging. Der Sarg war mit einem Stück Wagenplane zugedeckt. Krabat hätte ihn kaum beachtet, wäre er nicht im Vorbeigehen mit dem Schienbein dagegengestoßen.
Wer hatte den Sarg gezimmert? Seit wann stand er hier bereit - und für wen wohl?
Die Frage ließ Krabat nicht los. Sie beschäftigte ihn für den Rest des Tages, bis in den Traum hinein.
Krabat hat einen Sarg gefunden, im Holzschuppen: einen Fichtensarg, der mit einem Stück Wagenplane bedeckt ist. Vorsichtig öffnet Krabat den Sarg und wirft einen Blick hinein - er ist leer.
Da beschließt er, den Sarg zu zerschlagen. Er findet es unerträglich, daß er da steht und auf jemand wartet, der Sarg.
Mit dem Handbeil macht Krabat sich an die Arbeit. Er trennt die Bretter, er spaltet sie auf, von oben bis unten, so oft es geht. Dann zerhackt er sie noch zu handlichen kleinen Scheitern, die will er in einen Korb packen, um sie Juro zu bringen, der soll sie ins Feuer schüren.
Wie er sich aber umschaut nach einem Korb, macht es klapp! - und der Sarg hat sich wieder zusammengesetzt, er ist heil und ganz.
Da geht Krabat zum zweitenmal mit dem Beil auf ihn los und macht Kleinholz daraus. Doch kaum ist er damit fertig, da macht es klapp! - und der Sarg ist ganz.
Krabat versucht es ein drittesmal, voller Wut nun. Er hackt und hackt, daß die Späne fliegen, bis alles zu einem Haufen winziger Splitter zerdroschen ist - aber was nützt es ihm? Klapp! steht der Sarg wieder da, ohne Riß und Schramme: er wartet auf den, der ihm sicher ist.
Vom Grauen gepackt, rennt Krabat hinaus in den Koselbruch. Schnee fällt in dichtem Gestöber und nimmt ihm die Sicht. Krabat weiß nicht, wohin er rennt. Er hat Angst, daß der Sarg ihn verfolgen könnte. Nach einiger Zeit bleibt er stehen und horcht zurück.
Kein Klappern auf hölzernen Füßen - kein hohles Gepolter, wie er's befürchtet hat ... Dafür wenige Schritte vor ihm: ein Knirschen und Scharren, als grabe da jemand im Sand, und der Sand scheint gefroren zu sein.
Krabat folgt dem Geräusch, er gelangt auf den Wüsten Plan. Im Schneetreiben nimmt er eine Gestalt wahr, die eine Grube aushebt, mit Hacke und Schaufel, am oberen Ende der Hügelreihe, nahe dem Waldrand - dort, wo im Sommer die überzählige Kuckucksblume zu Boden gefallen ist. Krabat glaubt die Gestalt zu kennen. Er weiß, daß er einen der Müllerburschen vor sich hat - welchen, vermag er im Schneegestöber nicht auszumachen.
»He!« will er rufen. »Wer bist du?«
Die Stimme versagt ihm, er bringt keinen Ton hervor. Und es ist ihm nicht möglich, einen Schritt weiterzugehen. Er steht an dem Platz, wo er steht. Die Füße sind festgefroren am Boden, er kriegt sie nicht frei.
»Verflucht!« denkt er. »Bin ich lahm geworden? - Ich muß die paar Schritte gehen... ich muß ... ich muß ...«
Der Schweiß bricht ihm aus, er nimmt seine letzte Kraft zusammen. Die Füße gehorchen ihm nicht. Er kann tun, was er will: er kommt nicht vom Boden weg. Und es schneit, und es schneit - und es schneit ihn allmählich ein ...
Krabat erwachte in Schweiß gebadet. Er warf die Decke weg, riß sich das dampfende Hemd vom Leibe. Dann trat er ans Bodenfenster und blickte hinaus.
Der Weihnachtsmorgen war angebrochen, es hatte geschneit in der heiligen Nacht - und er sah eine frische Fußspur, die führte zum Koselbruch.
Als er zum Brunnen ging, um sich zu waschen, kam Michal des Weges: mit Hacke und Schaufel. Gebückt ging er, schleppenden Schrittes, fahl im Gesicht. Als Krabat ihn ansprechen wollte, winkte er ab. Sie verstanden sich, ohne daß zwischen ihnen ein Wort fiel.
Seither war Michal wie umgewandelt. Er schloß sich von Krabat und allen anderen ab, selbst von Merten. Wie eine Wand stand es zwischen ihnen und ihm, als sei er schon weit entrückt.
So kam der Silvesterabend heran. Der Meister war seit dem Morgen verschwunden, er zeigte sich nicht. Die Nacht brach herein, die Mühlknappen gingen zu Bett.
Krabat, obgleich er beschlossen hatte, sich wach zu halten, schlief ein wie die anderen auch. Um Mitternacht wurde er wach und begann zu lauschen.
Ein dumpfes Gepolter im Haus - und ein Schrei - und dann Stille.
Merten, der Bär mit den breiten Schultern, begann wie ein Kind zu schluchzen.
Krabat zog sich die Decke über die Ohren, verkrallte die Finger im Strohsack und wünschte sich, tot zu sein.
Am Neujahrsmorgen fanden sie Michal. Er lag in der Mehlkammer auf dem Boden, der Wiegebalken war von der Decke gefallen, er hatte ihm das Genick zerschlagen. Sie legten ihn auf ein Brett und trugen ihn in die Gesindestube, dort nahmen sie Abschied von ihm.
Juro versorgte ihn, zog ihm die Kleider aus, wusch ihn und bettete ihn in den Fichtensarg, ein Strohbündel unterm Nacken. Am Nachmittag trugen sie ihn hinaus auf den Wüsten Plan. Sie senkten ihn in die Grube am oberen Ende der Hügelreihe, nahe dem Waldrand.
Hastig begruben sie ihn, keinen Augenblick länger als nötig verweilten die Burschen an seinem Grab.
Merten allein blieb zurück.