Der Meister blieb während der nächsten Tage verschwunden, in dieser Zeit stand die Mühle still. Die Mühlknappen lungerten auf den Pritschen herum, sie hockten am warmen Ofen. Hatte es einen Gesellen, der Michal hieß, auf der Mühle im Koselbruch je gegeben? Selbst Merten sprach nicht von ihm, von früh bis spät saß er da und schwieg. Ein einziges Mal nur, am Abend des Neujahrstages, als Juro die Kleider des Toten gebracht und am Fußende der verwaisten Pritsche niedergelegt hatte, war er aus der Starre erwacht. Er war in die Scheune gelaufen und hatte sich bis zum anderen Morgen im Heu verkrochen. Seither verhielt er sich völlig teilnahmslos, sah nichts und hörte nichts, sagte und tat nichts - er saß bloß da.
Krabats Gedanken kreisten in diesen Tagen stets um die gleiche quälende Frage. Tonda und Michal, das schien auf der Hand zu liegen, hatten nicht zufällig sterben müssen, beide in der Silvesternacht. Welches Spiel wurde da gespielt - und von wem und nach welchen Regeln?
Der Müller blieb außer Haus bis zum Vorabend des Dreikönigstages. Witko wollte gerade das Licht ausblasen, da öffnete sich die Bodentür. Der Meister erschien auf der Schwelle, bleich im Gesicht, wie mit Kalk bestrichen. Er warf einen Blick in die Runde. Daß Michal fehlte, schien er zu übersehen. »Geht an die Arbeit!« befahl er, dann machte er kehrt und verschwand für den Rest der Nacht.
Hastig zogen die Burschen sich an, sie drängten zur Treppe. Petar und Staschko rannten zum Mühlenweiher die Schleuse öffnen. Die anderen stolperten in die Mahlstube, schütteten Korn auf und ließen die Mühle anlaufen. Stampfend und dröhnend kam sie in Fahrt, den Gesellen wurde es leicht ums Herz.
»Sie mahlt wieder!« dachte Krabat. »Die Zeit geht weiter...«
Um Mitternacht waren sie mit der Arbeit fertig. Als sie den Schlafraum betraten, sahen sie, daß auf der Pritsche, die Michal gehört hatte, jemand lag: ein Junge von vierzehn Jahren etwa, recht klein für sein Alter, das fiel ihnen auf - und er hatte ein schwarzes Gesicht, der Knirps, aber rote Ohren. Die Burschen umringten ihn voller Neugier, und Krabat, der die Laterne trug, richtete ihren Strahl auf ihn. Da erwachte der Kleine, und als er die elf Gespenster an seinem Lager stehen sah, kriegte er's mit der Angst. Krabat glaubte den Jungen zu kennen - woher nur?
»Vor uns brauchst du nicht zu zittern«, sprach er ihn an. »Wir sind hier die Müllerburschen. - Wie heißt du denn?«
»Lobosch. - Und du?«
»Ich bin Krabat. Und dies hier...«
Der Knirps mit dem schwarzen Gesicht unterbrach ihn.
»Krabat? - Ich kannte mal einen, der Krabat hieß«
»Aber?«
»Der müßte jünger sein.«
Jetzt ging Krabat ein Licht auf.
»Dann bist du der kleine Lobosch aus Maukendorf!« rief er. »Und schwarz bist du, weil du den Mohrenkönig gemacht hast.«
»Ja«, sagte Lobosch, »heuer zum letztenmal. Denn nun bin ich hier Lehrjunge auf der Mühle.«
Das sagte er voller Stolz, und die Mühlknappen dachten sich ihr's dabei.
Am anderen Morgen, als Lobosch zum Frühstück kam, trug er Michals Kleider. Er hatte versucht, sich den Ofenruß wegzuschrubben - es war ihm nicht ganz geglückt: in den Augenwinkeln und um die Nase war ihm ein Rest von Mohrenfarbe geblieben.
»Was tut's!« meinte Andrusch. »Nach einem halben Tag in der Mehlkammer gibt sich das.«
Der Kleine war hungrig, er machte sich über die Grütze her wie ein Scheunendrescher. Krabat, Andrusch und Staschko aßen mit ihm aus der gleichen Schüssel. Es wunderte sie, wieviel er vertrug.
»Wenn du so arbeitest, wie du ißt«, meinte Staschko, »dann können wir andern uns auf die faule Haut legen!«
Lobosch blickte ihn fragend an.
»Soll ich weniger essen?«
»Iß du nur!« sagte Krabat. »Du wirst deine Kräfte noch brauchen können! Wer bei uns Hunger leidet, ist selber schuld daran.«
Lobosch, statt weiterzulöffeln, legte den Kopf schief und musterte Krabat aus schmalen Augen.
»Du könntest sein großer Bruder sein.«
»Wessen Bruder?«
»Na, von dem anderen Krabat! Du weißt ja, ich kannte einen.«
»Der damals im Stimmbruch gewesen ist, wie? Und der euch dann in Groß-Partwitz sitzengelassen hat.«
»Woher weißt du das?« fragte Lobosch verblüfft - dann griff er sich an die Stirn. »Da siehst du mal«, rief er, »wie man sich täuschen kann! Damals dachte ich: anderthalb Jahre vielleicht, höchstens zwei bist du älter als ich ...«
»Es sind fünf«, sagte Krabat.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Der Meister trat ein, die Mühlknappen duckten sich.
»Heda!« Er ging auf den neuen Lehrjungen zu. »Du redest ein bißchen viel für den Anfang, gewöhn dir das ab!« Dann wandte er sich an Krabat, Staschko und Andrusch. »Er soll seine Grütze essen, aber nicht schwatzen. Sorgt dafür, daß er's lernt!«
Der Meister verließ die Gesindestube, er schlug hinter sich die Tür zu.
Lobosch schien plötzlich satt zu sein. Er legte den Löffel weg, zog die Schultern hoch, senkte für eine Weile den Kopf.
Als er aufblickte, nickte Krabat ihm über den Tisch weg zu, kaum merklich zwar - doch der Junge, so schien es, hatte den Wink verstanden: er wußte nun, daß er einen Freund hatte auf der Mühle im Koselbruch.
Auch Lobosch kam um den Vormittag in der Mehlkammer nicht herum. Nach dem Frühstück hieß ihn der Meister mitkommen.
»Soll er es besser haben als wir?« meinte Lyschko. »Das bissei Mehlstaub wird ihn nicht umbringen.«
Krabat erwiderte nichts darauf. Er dachte an Tonda, er dachte an Michal. Wollte er Lobosch helfen, dann durfte er Lyschko nicht mißtrauisch machen, auch nicht mit Kleinigkeiten.
Vorerst konnte er nichts für Lobosch tun. Der Knirps mußte zusehen, wie er den Vormittag hinter sich brachte: besenschwingend im Mehlgestöber, die Wimpern verkleistert, die Nase zugepappt. Da half alles nichts, damit mußte er fertig werden, das ließ sich nicht ändern.
Krabat konnte es kaum erwarten, bis Juro die Burschen zu Tisch rief. Während die anderen in die Stube drängten, lief er zur Mehlkammer, löste den Riegel und riß die Tür auf. »Rauskommen - Mittag!«
Lobosch hockte in einer Ecke, mit angewinkelten Knien, den Kopf in die Hände gestützt. Als Krabat ihn anrief, schreckte er hoch; dann kam er, den Besen hinter sich herschleifend, langsam zur Tür. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück.
»Ich hab's nicht geschafft«, gab er kleinlaut zu. »Da hab ich nach einer Weile aufgehört und mich hingesetzt. Ob der Meister mich aus dem Dienst jagt - was meinst du?«
»Er wird keinen Grund haben«, sagte Krabat.
Er sprach eine Zauberformel, er zeichnete mit der linken Hand einen Drudenfuß in die Luft. Da erhob sich der Staub in der Kammer, als bliese aus allen Fugen und Ritzen der Wind hervor. Eine Rauchfahne, weiß, stob zur Tür hinaus - über Loboschs Kopf weg, dem Wald zu.
Die Kammer war leergefegt, bis auf das letzte Stäubchen. Dem Jungen weiteten sich die Augen. »Wie macht man das?«
Krabat blieb ihm die Antwort schuldig.
»Versprich mir«, sagte er, »daß du es keiner Menschenseele erzählen wirst. - Und nun laß uns ins Haus gehen, Lobosch, sonst wird uns die Suppe kalt.«
Am Abend, nachdem sich der neue Lehrjunge schlafen gelegt hatte, ließ der Müller die Burschen und Witko zu sich rufen, in die Meisterstube - und so, wie sie am Dreikönigsabend des vorigen Jahres mit Krabat verfahren waren, verfuhren sie nun mit Witko nach Mühlenordnung und Zunftgebrauch. Hanzo und Petar standen dem Meister in Witkos Namen Rede und Antwort, dann wurde der Rotschopf freigesprochen. Der Meister berührte ihn mit der Schneide des Handbeils am Scheitel und an den Schultern. »Von Zunft wegen, Witko ...«
Andrusch hatte im Flur einen leeren Mehlsack bereitgelegt, den stülpten sie Witko über, sobald sie vom Meister entlassen waren, und schleppten den frischgebackenen Mühlknappen in die Mahlstube, um ihn freizumüllern.
»Macht's gnädig mit ihm!« mahnte Hanzo. »Vergeßt nicht, wie dürr er ist!«
»Dürr oder nicht«, widersprach ihm Andrusch, »ein Müllerbursch ist keine Schneiderseele: er muß was vertragen können! Zugepackt, Brüder, bringen wir's hinter uns!«
Sie walkten und kneteten Witko durch, wie es Brauch und Übung war, doch gebot ihnen Andrusch weit früher Einhalt, als er's bei Krabat getan hatte.
Petar zog Witko den Sack herunter, Staschko streute ihm Mehl auf den Kopf: er war durchgemahlen. Dann packten sie ihn und warfen ihn dreimal hoch.
Hinterher mußte er ihnen Bescheid trinken.
»Deine Gesundheit, Bruder - zum Wohlsein!«
»Zum Wohlsein, Bruder!«
Der Wein war an diesem Dreikönigsabend nicht schlechter als sonst. Trotzdem vermochten die Burschen heute nicht froh zu werden, daran war Merten schuld. Schweigend hatte er tagsüber seine Arbeit verrichtet, schweigend die Mahlzeiten eingenommen, schweigend danebengestanden, als Witko gewalkt worden war; nun saß er auf einer Mehlkiste, unbeteiligt und starr, wie zu Stein geworden - und nichts gab es, nichts, was ihn hätte bewegen können, sein Schweigen zu brechen.
»He!« sagte Lyschko. »Du tust ja, als hätte dir jemand das Kraut verschüttet!« Lachend hielt er ihm einen gefüllten Becher hin. »Sauf dich voll, Merten - bloß verschon uns mit deiner Karfreitagsmiene!«
Merten erhob sich. Ohne ein Wort zu verlieren, trat er auf Lyschko zu und schlug ihm den Wein aus der Hand. Dann standen die beiden sich gegenüber, Auge in Auge. Lyschko begann zu schwitzen, die Burschen hielten den Atem an.
Es war still in der Mahlstube, still wie im Grab.
Da hörten sie draußen, vom Gang her, ein leises Tappen, das zögernd näher kam. Alle, auch Merten und Lyschko, blickten zur Tür - und Krabat, der ihr am nächsten war, öffnete.
Auf der Schwelle stand Lobosch, barfuß, im Hemd, eine Decke übergeworfen.
»Du bist es, Mohrenkönig?«
»Ja - ich«, sagte Lobosch. »Ich fürchte mich, so allein auf dem Dachboden. Wollt ihr nicht schlafen kommen?«
Dieser Lobosch! Vom ersten Tag an hatten ihn alle gern. Selbst Merten war freundlich zu ihm, wenngleich er ihm seine Freundlichkeit ohne Worte erwies: durch ein Kopfnicken allenfalls, einen Blick, eine Handbewegung.
Den anderen gegenüber schloß Merten sich weiter ab. Er tat seine Arbeit, er fügte sich in den Ablauf des Tages ein, er bockte nicht, widersetzte sich keiner Anweisung, sei es vom Meister, sei es vom Altgesellen: aber er sprach nicht. Mit niemandem und zu keiner Zeit. Selbst an den Freitagabenden, wenn der Meister sie aus dem Koraktor abfragte, wahrte Merten das Schweigen, das er sich seit dem Neujahrstag auferlegt hatte. Der Meister nahm es gelassen hin. »Ihr wißt ja«, erklärte er den Gesellen, »daß es euch freisteht, ob und wie weit ihr euch um die Geheimen Wissenschaften bemühen wollt - mir ist das einerlei!«
Krabat machte sich Sorgen um Merten. Er hatte den Eindruck, daß er versuchen sollte, mit ihm zu reden. An einem der nächsten Tage ergab es sich, daß er mit Petar und ihm auf den Schüttboden mußte, Getreide umschaufeln. Sie hatten kaum richtig angefangen, als Hanzo heraufkam und Petar wegholte, in den Pferdestall.
»Macht hier einstweilen alleine weiter! Sobald unten einer frei wird, schicke ich ihn herauf.«
»Schon recht«, meinte Krabat.
Er wartete, bis sich Hanzo mit Petar entfernt und die Tür hinter sich geschlossen hatte; dann stellte er seine Kornschaufel in die Ecke, und Merten die Hand auf die Schulter legend, meinte er:
»Weißt du, was Michal zu mir gesagt hat?«
Merten wandte ihm das Gesicht zu und blickte ihn an.
»Die Toten sind tot«, sagte Krabat. »Er hat es mir zweimal gesagt, und beim zweitenmal hat er hinzugefügt: Wer auf der Mühle im Koselbruch stirbt, wird vergessen, als ob es ihn nie gegeben habe; nur dann läßt sich's für die anderen weiterleben - und weitergelebt muß werden.«
Merten hatte ihm ruhig zugehört. Nun griff er nach Krabats Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag. Schweigend streifte er sie herunter, dann fuhr er in seiner Arbeit fort.
Krabat wußte sich keinen Rat mit Merten. Wie sollte er sich verhalten? Tonda hätte ihm sicherlich raten können, auch Michal vielleicht. Jetzt war Krabat auf sich allein gestellt, und das war nicht einfach.
Ein Glück, daß er Lobosch hatte!
Dem Kleinen erging es um kein Haar besser als allen Lehrjungen vor ihm. Er hätte die erste Zeit auf der Mühle kaum durchgestanden, wenn Krabat ihm nicht geholfen hätte: und Krabat half ihm.
Er wußte es einzurichten, daß er von Zeit zu Zeit bei der Arbeit mit ihm zusammentraf - nicht zu oft, und als habe der reine Zufall ihn hergeführt. Er blieb bei ihm stehen, sie wechselten ein paar Worte, er legte dem Jungen die Hand auf und flößte ihm Kraft ein: nach Tondas Beispiel, und wie er es eines Freitagabends gelernt hatte. »Aber laß dir nichts anmerken!« hatte er Lobosch eingeschärft. »Achte darauf, daß der Meister es nicht erfährt - und auch Lyschko nicht, der ihm alles zuträgt.«
»Ist es verboten, daß du mir hilfst?« hatte Lobosch gefragt. »Was geschieht, wenn dir jemand draufkommt?«
»Das«, hatte Krabat geantwortet, »braucht dich nicht zu bekümmern. Hauptsache: du verrätst dich nicht!«
Lobosch, so klein er war, hatte augenblicklich begriffen, worauf es ankam. Er spielte mit viel Geschick seine Rolle, von der nur sie beide wußten, daß er den anderen etwas vortäuschte, was in Wirklichkeit halb so schlimm war. Er ächzte und stöhnte bei jedem Handgriff zum Gotterbarmen. Kein Abend, an dem er sich nicht vom Tisch weg auf seine Pritsche verzog, kaum fähig, die Bodentreppe hinaufzukriechen; kein Morgen, an dem er nicht schon beim Frühstück so müde aussah, als werde er gleich vom Stuhl fallen.
Er war aber nicht nur ein heller Kopf und ein ausgezeichneter Schauspieler: das erwies sich zwei Wochen später, als Krabat dazukam, wie Lobosch sich hinter der Mühle damit herumplagte, einen Eishaufen wegzupickeln.
»Ich möchte dich etwas fragen«, begann der Kleine. »Wirst du mir antworten?«
»Wenn ich kann ...«, meinte Krabat.
»Du hilfst mir nun, seit ich hier auf der Mühle bin«, sagte Lobosch,
»und hilfst mir, obgleich es der Meister nicht wissen darf, weil du sonst Ärger bekommen würdest - das stimmt doch, das kann man sich an zwei Fingern ausrechnen ...«
»Ist es das«, unterbrach ihn Krabat, »wonach du mich fragen wolltest?«
»Nein«, sagte Lobosch, »die Frage kommt erst noch.«
»Und sie lautet?«
»Sage mir, wie ich dir deine Hilfe danken kann.«
»Danken?« erwiderte Krabat und wollte abwinken - da besann er sich anders. »Ich werde dir«, sagte er, »eines Tages von meinen Freunden erzählen, von Tonda und Michal, die beide tot sind. Wenn du mir zuhörst dabei, ist es Dank genug.«
Gegen Ende des Monats Januar setzte Tauwetter ein, so heftig wie unerwartet. Gestern noch hatte es Stein und Bein gefroren im Koselbruch; heute blies seit den frühen Morgenstunden der Westwind ums Haus, viel zu warm für die Jahreszeit. Und die Sonne schien, und der Schnee schmolz in wenigen Tagen zusammen, daß es zum Staunen war. Hie und da nur, in einem Graben, in einer Mulde, in einer Wagenspur hielten sich ein paar schäbige graue Reste - aber was zählten sie gegenüber dem Braun der Wiesen, dem Schwarz der Maulwurfshügel, dem ersten Schimmer von Grün unterm welken Gras.
»Ein Wetter«, meinten die Mühlknappen - »wie zu Ostern!«
Der warme Westwind setzte den Burschen mit jedem Tag stärker zu.
Er machte sie müde und fahrig, oder wie Andrusch sich ausdrückte: »wie besoffen«.
Sie schliefen unruhig während dieser Zeit, träumten wirres Zeug durcheinander und redeten laut im Schlaf. Zwischendurch lagen sie lange wach und wälzten sich auf den Strohsäcken hin und her. Nur Merten bewegte sich nie, der lag reglos auf seiner Pritsche und sprach selbst im Schlaf nicht.
Krabat dachte in diesen Tagen viel an die Kantorka. Er hatte sich vorgenommen, zu Ostern mit ihr zu sprechen. Bis dahin, das wußte er, hatte es gute Weile. Dennoch beschäftigte der Gedanke ihn, wo er ging und stand.
Er war in den letzten Nächten zwei-, dreimal im Traum unterwegs gewesen zur Kantorka, hatte sie aber nie erreicht, weil ihm jedesmal etwas dazwischengekommen war - etwas, woran er sich hinterher nicht erinnern konnte.
Was war es gewesen? Was hatte ihn aufgehalten?
Der Anfang des Traumes war ihm in aller Deutlichkeit gegenwärtig. Da war er in einem günstigen Augenblick aus der Mühle weggelaufen, von keinem gesehen, von niemand bemerkt. Er schlug nicht den üblichen Weg nach Schwarzkollm ein: er wählte den Pfad durch das Moor, den Tonda ihn einst geführt hatte, als sie vom Torfstich nach Hause gegangen waren. Bis hierher war alles klar, und dann wußte er nicht mehr weiter. Das quälte ihn.
Während er eines Nachts auf der Pritsche lag, wachgeworden vom Heulen des Windes, grübelte er aufs neue darüber nach. Hartnäckig wiederholte er in Gedanken den Anfang des Traumes ein drittes, ein viertes, ein sechstes Mal: bis er darüber einschlief - und diesmal gelang es ihm endlich, den Traum zu Ende zu träumen.
Krabat ist aus der Mühle weggelaufen. In einem günstigen Augenblick hat er sich aus dem Haus gestohlen, von keinem gesehen, von niemand bemerkt. Er will nach Schwarzkollm, zur Kantorka, doch er schlägt nicht den üblichen Weg ein: er wählt jenen Pfad durch das Moor, den Tonda ihn einst geführt hat, wie sie vom Torfstich nach Hause gegangen sind.
Draußen im Moor wird er plötzlich unsicher. Nebel ist aufgekommen, der nimmt ihm die Sicht. Zögernd tastet sich Krabat weiter, auf schwankendem Boden.
Hat er den Pfad verloren?
Er merkt, wie das Moor sich festsaugt an seinen Sohlen, wie er mit jedem Schritt tiefer einsinkt darin: bis zum Rist ... zu den Knöcheln dann ... bald bis zur halben Wade. Er muß in ein Moorloch geraten sein. Je mehr er sich anstrengt, zurückzufinden auf festes Land, desto rascher versinkt er.
Kalt wie der Tod ist das Moor, eine zähe, klebrige schwarze Masse. Er spürt, wie es ihm die Knie umschließt, dann die Oberschenkel, die Hüften: bald wird es um ihn geschehen sein.
Da beginnt er, solange die Brust noch frei ist, um Hilfe zu schreien. Er weiß, daß es wenig Sinn hat. Wer soll ihn hier draußen hören? Trotzdem schreit er und schreit, was die Lunge hergibt.
»Hilfe!« schreit er. »Rettet mich, ich versinke, rettet mich!«
Der Nebel ist dichter geworden. So kommt es, daß Krabat die beiden Gestalten erst wahrnimmt, wie sie schon bis auf wenige Schritte heran sind. Er glaubt zu erkennen, daß Tonda und Michal da auf ihn zukommen.
»Halt!« ruft er. »Stehenbleiben - da ist ein Moorloch!«
Die beiden Gestalten im Nebel verschmelzen zu einer einzigen, das ist seltsam. Die eine Gestalt nun, zu der sich die beiden vereinigt haben, wirft ihm ein Seil zu, an dessen vorderem Ende ein Querholz befestigt ist. Krabat greift danach, klammert sich an dem Querholz fest - dann spürt er, wie die Gestalt ihn am Seil aus dem Moor herauszieht auf festen Grund.
Das geht schneller, als Krabat gedacht hat. Nun steht er vor seinem Retter und will ihm danken.
»Laß gut sein«, sagt Juro - und jetzt erst merkt Krabat, daß er es ist, der ihm herausgeholfen hat. »Wenn du wieder mal nach Schwarzkollm willst, solltest du lieber fliegen.«
»Fliegen?« fragt Krabat. »Wie meinst du das?«
»Nun - wie man eben auf Flügeln fliegt.«
Das ist alles, was Juro antwortet, dann verschluckt ihn der Nebel.
»Fliegen ...« denkt Krabat. »Auf Flügeln fliegen...« Es wundert ihn, daß er nicht selber auf den Gedanken gekommen ist.
Er verwandelt sich augenblicklich in einen Raben, wie er das jeden Freitag tut, breitet die Fittiche und erhebt sich vom Boden. Mit ein paar Flügelschlägen schwingt er sich über den Nebel empor und hält auf Schwarzkollm zu.
Im Dorf scheint die Sonne. Zu seinen Füßen sieht er die Kantorka, wie sie am unteren Brunnen steht, eine Strohschüssel in der Hand, und die Hühner füttert - da streift ihn ein Schatten, der Schrei eines Habichts gellt ihm ins Ohr. Dann hört er ein Sausen, ein Pfeifen, im letzten Augenblick dreht er im scharfen Winkel nach rechts ab.
Um Haaresbreite verfehlt ihn der Habicht, er stößt ins Leere.
Krabat weiß, daß es um sein Leben geht. Pfeilschnell, die Flügel angelegt, stürzt er sich in die Tiefe. Neben der Kantorka landet er, mitten im auseinanderstiebenden Hühnervolk. Auf dem Erdboden nimmt er Menschengestalt an, nun ist er in Sicherheit.
Blinzelnd schaut er zum Himmel empor. Der Habicht ist weg, ist verschwunden, vielleicht hat er abgedreht.
Da steht plötzlich der Meister am Brunnen, zornig streckt er die Linke nach Krabat aus.
»Mitkommen!« herrscht er ihn an.
»Warum?« fragt die Kantorka.
»Weil er mir gehört!«
»Nein«, sagt sie, nur dieses eine Wort - und das sagt sie auf eine Weise, bei der es kein Wenn und Aber gibt.
Sie legt Krabat den Arm um die Schulter, dann hüllt sie ihn in ihr wollenes Umtuch ein. Weich und warm ist es, wie ein Schutzmantel. »Komm«, sagt sie. »Komm jetzt.«
Und ohne sich umzublicken, gehen sie miteinander weg.
Am anderen Morgen stellte es sich heraus, daß Merten verschwunden war. Sein Schlafplatz war aufgeräumt, die Decke lag sauber zusammengefaltet am Fußende, Arbeitskittel und Schürze hingen im Spind, unterm Schemel standen die Holzschuhe. Niemand hatte gesehen, wie Merten gegangen war. Sie bemerkten sein Fehlen erst, als er nicht zu Tisch kam. Da wurden sie stutzig und suchten ihn in der ganzen Mühle, aber sie konnten ihn nirgends finden.
»Er hat sich davongemacht«, sagte Lyschko, »wir müssen's dem Meister melden!«
Hanzo vertrat ihm den Weg.
»Das ist Sache des Altgesellen - falls dir das neu sein sollte.«
Alle erwarteten, daß der Müller die Nachricht von Mertens Verschwinden mit einem Zornesausbruch quittieren würde, mit Flüchen, Geschrei und Verwünschungen. Nichts dergleichen geschah.
Er habe vielmehr, so berichtete Hanzo den Burschen beim Mittagessen, die Sache nicht weiter ernst genommen.
»Der Merten spinnt eben« - das sei alles gewesen, was er dazu gesagt habe; und die Frage des Altgesellen, was nun zu tun sei, habe er mit den Worten beantwortet: »Laß mal - der kommt von alleine wieder!« Und dies, so berichtete Hanzo weiter, habe der Meister mit einem Augenzwinkern gesagt, das sei schlimmer gewesen als tausend Flüche.
»Da ist es mir inwendig kalt geworden, daß ich gemeint hab, ich muß auf der Stelle zu Eis erstarren. Wenn das bloß gut geht mit Merten!«
»Ach was!« meinte Lyschko. »Wer aus der Mühle wegläuft, muß wissen, was er sich einbrockt. Außerdem kann er schon was vertragen, der Merten mit seinem breiten Buckel.«
»Findest du?« fragte Juro.
»Und ob!« sagte Lyschko.
Er schlug zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch: da schwappte es ihm aus der Suppenschüssel entgegen - platsch! ins Gesicht, daß er aufjaulte, denn die Suppe war seimig und kochend heiß.
»Wer war das?« rief Lyschko, sich Augen und Wangen abwischend. »Wer von euch?«
Einer der Burschen mußte es wohl gewesen sein, der es Lyschko auf diese Weise besorgt hatte, das war klar. Bloß Juro in seiner Einfalt schien an nichts Böses zu denken, ihm tat es leid um die gute Suppe.
»Ein nächstesmal«, meinte er, »solltest du nicht auf den Tisch hauen, Lyschko - wenigstens nicht so stark!«
Mit Merten kam es, wie Krabat befürchtet hatte: am Abend, bei Einbruch der Dunkelheit war er wieder da. Stumm stand er auf der Schwelle, den Kopf gesenkt.
Der Meister empfing ihn in Gegenwart der Gesellen. Er schalt ihn nicht, er verspottete ihn. Wie ihm der kleine Ausflug bekommen sei? Ob es ihm auf den Dörfern denn nicht gefallen habe, weil er so früh schon zurückkehre - oder was sonst ihn zur Umkehr bewogen habe?
»Magst du es mir nicht sagen, Merten? Ich merke seit Wochen, daß du das Maul nicht auftust. Aber ich zwinge dich nicht zu sprechen - es ist mir auch einerlei, ob du wieder wegläufst. Versuch es doch ruhig! Versuch es, sooft du magst! Nur solltest du dir nichts vormachen, Merten. Was keiner bisher geschafft hat, das schaffst du auch nicht.«
Merten zuckte mit keiner Miene.
»Verstell dich nur«, sagte der Meister. »Tu nur, als ob es dich kalt ließe, daß dir die Flucht mißglückt ist! Wir alle, ich und die elf da«, er deutete auf die Müllerburschen und Lobosch, »wir wissen es besser. Verschwinde jetzt!«
Merten verkroch sich auf seine Pritsche.
Den Burschen mit Ausnahme Lyschkos war elend zumute an diesem Abend.
»Wir sollten ihm auszureden versuchen, daß er ein zweitesmal wegläuft«, schlug Hanzo vor.
»Dann versuch es doch!« meinte Staschko. »Ich kann mir nicht denken, daß es viel nützen wird.«
»Nein«, sagte Krabat. »Er läßt sich da nicht hineinreden, fürchte ich.«
In der Nacht schlug das Wetter um. Als sie am Morgen vors Haus traten, war es windstill und bitterkalt draußen. Eis auf den Fensterscheiben, Eis an den Rändern des Brunnentroges. Die Pfützen ringsum waren zugefroren, die Maulwurfshügel zu festen Klumpen geworden, der Boden war knochenhart.
»Schlecht für die Saat«, meinte Petar. »Kein Schnee - und der Frost jetzt: da wird eine Menge auswintern auf den Feldern.«
Krabat war froh, als Merten sich mit den andern zum Frühstück einfand und gierig über die Grütze herfiel: er hatte wohl einiges nachzuholen von gestern. Dann gingen sie an die Arbeit, und keinem fiel auf, daß Merten sich abermals aus der Mühle davonstahl, diesmal bei hellem Tageslicht.
Erst mittags, als sie zu Tisch kamen, merkten sie, daß er wieder verschwunden war.
Zwei Tage und Nächte blieb Merten weg, das war länger, als je ein Ausreißer es geschafft hatte, und sie hofften ihn schon über alle Berge - da kam er am Morgen des dritten Tages über die Wiesen herangewankt, auf die Mühle zu: blaugefroren und müde, mit einem Gesicht, das zum Fürchten war.
Krabat und Staschko nahmen ihn an der Tür in Empfang, sie führten ihn in die Stube. Petar zog ihm den einen Schuh aus, Kito den anderen. Hanzo ließ sich von Juro in einer Schüssel eiskaltes Wasser bringen, dann steckte er Mertens erstarrte Füße hinein und begann sie zu reiben.
»Wir müssen ihn schleunigst zu Bett bringen«, sagte er. »Hoffentlich hat er sich nicht den Hund geholt!«
Während die Burschen um Merten bemüht waren, ging die Tür auf. Der Meister betrat die Stube, er sah ihnen eine Zeitlang zu. Diesmal sparte er sich den Spott. Er wartete, bis sie Merten hinaufbringen wollten, da sagte er:
»Auf ein Wort noch, bevor ihr ihn wegschafft...«, und näher an Merten herantretend, meinte er: »Zweimal, finde ich, sollte genug sein, Merten. Es gibt keinen Weg für dich, der hier wegführt - mir kommst du nicht aus!«
Merten wählte noch diesen Morgen den dritten und, wie er meinte, den endgültig letzten Weg.
Davon ahnten die Burschen nichts. Sie hatten ihn in den Schlafraum gebracht, ihm was Heißes zu trinken eingeflößt, ihn zu Bett gelegt und in Decken gepackt. Hanzo war oben geblieben und hatte so lang auf der Nachbarpritsche gesessen und ihn beobachtet, bis er davon überzeugt war, Merten sei eingeschlafen und brauche ihn nicht mehr: da war er dann auch hinuntergegangen, um mit den anderen in der Mühle zu arbeiten.
Krabat und Staschko waren seit einigen Tagen damit beschäftigt, die Mühlsteine nachzuschärfen. Vier Mahlgänge hatten sie überholt, der fünfte war heute dran. Sie wollten gerade die Zargen lösen, um an die Steine heranzukommen - da wurde die Tür zur Mahlstube aufgerissen, und Lobosch stürzte herein: schneeweiß im Gesicht, die Augen von Angst geweitet.
Er fuchtelte mit den Armen, er schrie - und er schien, wie es aussah, immer das gleiche zu schreien. Die Mühlknappen konnten ihn erst verstehen, als Hanzo das Mahlwerk anhielt: da wurde es still in der Mühle, nur Lobosch war jetzt zu hören.
»Er hat sich erhängt!« rief er. »Merten hat sich erhängt! In der Scheune! Kommt schnell, kommt schnell!«
Er führte sie an den Ort, wo er Merten gefunden hatte: von einem Balken im hintersten Winkel der Scheune hing er herab, einen Kälberstrick um den Hals.
»Wir müssen ihn abschneiden!« Staschko merkte als erster, daß Merten noch lebte. »Wir müssen ihn abschneiden!«
Andrusch, Hanzo, Petar und Krabat: wer von den Burschen ein Messer hatte, klappte es auf. Doch keinem gelang es, an Merten heranzukommen. Er war wie von einem Bannkreis umgeben. Drei Schritte waren das äußerste, was sie schafften: dann kamen sie keinen Zollbreit weiter, als klebten sie mit den Sohlen an Fliegenleim.
Krabat faßte die Spitze des Messers mit Daumen und Zeigefinger, er zielte, er warf es - und traf den Strick.
Er traf ihn, aber das Messer fiel kraftlos zu Boden.
Da lachte jemand.
Der Meister war in die Scheune gekommen. Er blickte die Burschen an, als wären sie nichts als ein Haufen Dreck. Er bückte sich nach dem Messer.
Ein Schnitt - und ein dumpfer Aufschlag.
Schlaff wie ein Sack voll Lumpen fiel der Erhängte zu Boden. Da lag er nun, lag dem Meister zu Füßen und röchelte.
»Stümper!«
Der Meister sagte es voller Abscheu, dann ließ er das Messer fallen, und spuckte vor Merten aus.
Sie fühlten sich alle angespuckt, alle - und das, was der Meister sagte, sie spürten es, galt ihnen insgesamt, ohne Ausnahme.
»Wer auf der Mühle stirbt, das bestimme ich!« rief er. »Ich allein!«
Dann ging er hinaus, und nun war es an ihnen, sich Mertens anzunehmen. Hanzo löste die Schlinge von seinem Hals, Petar und Staschko trugen ihn in die Schlafkammer.
Krabat hob Tondas Messer vom Boden auf, und bevor er es in die Tasche schob, rieb er die Schalen des Griffes mit einem Strohwisch ab.
Merten war krank, er blieb es für lange Zeit. Anfangs hatte er hohes Fieber, sein Hals war verschwollen, er litt unter Atemnot. Während der ersten Tage brachte er keinen Bissen hinunter; später gelang es ihm dann und wann, einen Löffel Suppe zu schlucken.
Hanzo hatte die Burschen so eingeteilt, daß tagsüber ständig jemand in Mertens Nähe war und ihn nicht aus den Augen ließ. Auch Nachtwache hielten sie eine Zeitlang bei ihm, weil sie fürchteten, daß er im Fieber versuchen könnte, sich abermals etwas anzutun. Bei klarem Verstande, da waren sich alle einig, würde selbst Merten nicht mehr zum Strick greifen oder sich sonstwie ums Leben zu bringen trachten: der Müller hatte ja keinen Zweifel daran gelassen, daß dies kein Weg war, um aus dem Koselbruch wegzukommen.
»Wer auf der Mühle stirbt, das bestimme ich!«
Die Worte des Meisters hatten sich Krabat tief eingeprägt. Kamen sie nicht der Antwort auf jene Frage gleich, die er sich nach der letzten Silvesternacht immer wieder gestellt hatte: wen die Schuld traf an Tondas und Michals Tod?
Noch war es, bei Licht besehen, nicht mehr als ein erster Anhalt, der sich ihm da geboten hatte: nicht mehr - aber auch nicht weniger.
Jedenfalls würde er eines Tages, wenn alles geklärt war, den Meister zur Rechenschaft ziehen müssen, das schien ihm so gut wie sicher. Bis dahin durfte er sich nichts anmerken lassen. Er mußte den Harmlosen spielen, den Braven, Gehorsamen, der von nichts eine Ahnung hatte - und mußte doch jetzt schon darauf bedacht sein, sich auf die Stunde der Abrechnung vorzubereiten, indem er sich den Geheimen Wissenschaften mit doppeltem Eifer widmete.
Kein Schnee fiel in diesen Februartagen, aber der Frost hielt mit unverminderter Strenge an. Nun mußten die Mühlknappen wieder allmorgendlich ins Gerinne steigen, das Grundeis vom Boden loszuhacken. Bei jeder Gelegenheit schimpften sie auf die Lausekälte, die dem zur Unzeit eingetretenen Osterwetter gefolgt war.
An einem der nächsten Tage geschah es, daß um die Mittagszeit sich drei Männer vom Wald her der Mühle näherten. Einer von ihnen war kräftig und hochgewachsen, ein Mensch in den besten Jahren, wie man so sagt; die zwei anderen waren Greise, weißbärtig und verhutzelt.
Lobosch war es, der sie als erster bemerkte. Er hatte die Augen ja überall, nichts entging ihm so leicht. »Wir kriegen Besuch!« rief er den Gesellen zu, die gerade zu Tisch gehen wollten.
Nun sahen auch sie den Mann mit den beiden Alten. Sie kamen den Weg von Schwarzkollm herüber, bäurisch gekleidet, in Hirtenmäntel gehüllt, die Wintermützen tief in die Stirn gezogen.
Seit Krabat im Koselbruch lebte, hatte kein Bauer aus den benachbarten Dörfern sich jemals zu ihnen heraus verirrt. Sie aber, diese drei da, hielten geradenwegs auf die Mühle zu und begehrten Einlaß.
Hanzo öffnete ihnen die Haustür, die Burschen drängten sich voller Neugier im Flur.
»Was wollt ihr?«
»Den Müller sprechen.«
»Der Müller bin ich.«
Von den Mühlknappen unbemerkt, war der Meister aus seiner Stube hervorgetreten, er schritt auf die Männer zu. »Was gibt es?«
Der Hochgewachsene nahm die Mütze vom Kopf.
»Wir sind aus Schwarzkollm«, begann er. »Ich bin der Scholta dort - und dies hier sind unsere Ältesten. Wir entbieten dir unsern Gruß - und wir möchten dich bitten, Müller im Koselbruch, daß du uns anhörst. Es ist nämlich, weil da ... Aber ich denke, daß es dich kaum überraschen wird, wenn...«
Der Meister schnitt ihm mit herrischer Geste das Wort ab.
»Zur Sache! Was führt euch heraus zu mir - ohne Umschweif!«
»Wir möchten dich bitten«, sagte der Scholta, »daß du uns hilfst.«
»Wie das?«
»Der Frost - und kein Schnee auf den Feldern ...« Der Scholta drehte an seiner Mütze herum. »Die Wintersaat wird verderben, wenn es nicht schneit in den nächsten Tagen ...«
»Was geht mich das an?«
»Wir wollten dich bitten, Müller, daß du es schneien läßt.«
»Schneien? Wie kommt ihr darauf?«
»Wir wissen, daß du das machen kannst«, sagte der Scholta, »machen, daß Schnee fällt.«
»Wir wollen es nicht umsonst«, beteuerte einer der beiden Alten. »Wir zahlen dir zwei Schock Eier dafür - und fünf Gänse und sieben Hühner.«
»Aber«, sagte der andere, »du mußt machen, daß Schnee fällt. Sonst ist es um unsere Ernte geschehen im nächsten Jahr, und dann müssen wir Hunger leiden...«
»Wir - und die Kinder«, fügte der Scholta hinzu. »Erbarme dich, Müller am Schwarzen Wasser, und mach, daß ein Schnee kommt!«
Der Meister strich sich das Kinn mit dem Daumennagel.
»Ich habe euch viele Jahre nicht zu Gesicht bekommen. Jetzt aber, wo ihr mich braucht, seid ihr plötzlich da.«
»Du bist unsre letzte Hoffnung«, sagte der Scholta. »Wenn du uns keinen Schnee schickst, sind wir verloren. Das kannst du nicht machen, Müller, daß du uns deine Hilfe verweigerst! Wir bitten dich kniefällig wie den lieben Herrgott!«
Die drei knieten vor dem Meister nieder, sie senkten die Köpfe und schlugen sich an die Brust.
»Erhöre uns!« baten sie ihn. »Erhöre uns!«
»Nichts da!« Der Meister blieb unerbittlich. »Schert euch nach Hause, was kümmert mich eure Wintersaat! Ich hier - und die da«, er wies auf die Burschen, »wir werden nicht Hunger zu leiden brauchen, wir nicht! Dafür sorge ich schon, und das notfalls auch ohne Schnee. Ihr aber, Bauernpack, bleibt mir vom Halse mit euren Eiern und euerm Federvieh! Meinetwegen krepiert, das ist eure Sache! Ich denke nicht dran, einen Finger für euch zu rühren, für euch und für eure Brut! Das könnt ihr im Ernst nicht erwarten!«
»Und ihr da?« Der Scholta wandte sich an die Müllerburschen. »Wollt ihr uns auch nicht helfen, ihr Herren Mühlknappen? Tut es, um Gottes Barmherzigkeit willen, tut es für unsere armen Kinder, wir werden es euch zu danken wissen!«
»Der Kerl ist verrückt«, sagte Lyschko. »Ich werde die Hunde loslassen - hussa!«
Er pfiff auf zwei Fingern, gellend, daß es den Burschen durch Mark und Bein ging. Hundegebell erhob sich, vielstimmig, wütend, ein einziges Kläffen und Jaulen.
Der Scholta sprang auf, ließ die Mütze fallen. »Kommt!« rief er. »Sie zerfetzen uns! Laufen wir, laufen wir!«
Er und die beiden Alten rafften die Hirtenmäntel, sie rannten zur Mühle hinaus, überquerten die Wiesen, verschwanden im Walde, woher sie gekommen waren.
»Gut gemacht!« sagte der Meister. »Gut gemacht, Lyschko!« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Die drei sind wir los - und ich wette, sie kommen so bald nicht wieder.«
Krabat war wütend, der Scholta und seine Begleiter taten ihm leid. Was hatten sie denn verbrochen, daß ihnen der Müller die Hilfe verweigert hatte? Es hätte ihn weiter nichts gekostet, als im Koraktor nachzuschlagen und ein paar Worte zu sprechen - die Worte, auf die es ankam in diesem Fall, und die Krabat nicht kannte.
Wie man es schneien läßt, hatte der Meister die Burschen noch nicht gelehrt.
Das war schade, sonst hätte sich Krabat nicht lang besonnen, er hätte den Bauern auf eigene Faust geholfen. Auch Petar hätte das wohl versucht und Hanzo und mancher andere.
Einzig Lyschko hatte sich über die Abfuhr gefreut, die der Müller den Bauern erteilt hatte. Er war stolz darauf, daß ihm das Kunststück geglückt war, sie glauben zu machen, daß sie von Hunden gehetzt würden.
Indessen blieb seine Schadenfreude nicht ungetrübt. In der folgenden Nacht schrak Lyschko mit lautem Wehgeschrei aus dem Schlaf hoch, und als ihn die Burschen fragten, was denn zum Donnerwetter in ihn gefahren sei, klagte er ihnen, vor Angst mit den Zähnen klappernd: ein Rudel von wütenden schwarzen Metzgerhunden habe ihn angefallen im Traum und zerfleischen wollen.
»Ach nein?« sagte Juro teilnahmsvoll. »Was für ein Glück, daß du nur geträumt hast!«
In dieser Nacht träumte Lyschko noch fünfmal den Traum von den Metzgerhunden, und fünfmal schreckte er heulend auf, daß die Burschen von seinem Geschrei erwachten. Da wurde es ihnen zuviel, und sie warfen ihn aus der Schlafkammer.
»Nimm deine Decke, Lyschko - und ab in die Scheune! Dort kannst du von Hunden träumen, soviel du magst, und dich heiser schreien vor Angst: wenn wir's nur nicht zu hören brauchen!«
Am nächsten Morgen, die Burschen mußten sich erst die Augen reiben, bevor sie es glaubten: am nächsten Morgen war alles weiß draußen. Schnee war gefallen während der Nacht, und es schneite noch immer weiter, in großen, flauschigen Flocken, bis in den halben Vormittag. Nun konnten die Bauern zufrieden sein, in Schwarzkollm und den übrigen Dörfern rings um den Koselbruch. Hatte der Meister sich anders besonnen und ihnen doch geholfen?
»Vielleicht hat Pumphutt die Hand im Spiel gehabt«, meinte Juro. »Die Bauern könnten ihn ja getroffen haben. Ich denke, der hätte nicht nein gesagt.«
»Pumphutt?« pflichteten ihm die Burschen bei. »Pumphutt gewiß nicht!«
Doch Pumphutt konnte es nicht gewesen sein. Um die Mittagszeit nämlich, und wieder war Lobosch es, der sie kommen sah: um die Mittagszeit kamen der Scholta und seine Ältesten aus Schwarzkollm auf dem Pferdeschlitten zur Mühle gefahren und brachten dem Meister, was sie ihm für die Hilfe schuldig zu sein glaubten: sieben Hühner, fünf Gänse und zwei Schock Eier.
»Wir danken dir, Müller im Koselbruch«, sagte der Scholta, sich tief vor dem Meister verneigend, »wir danken dir, weil du dich unserer Kinder erbarmt hast. Du weißt, daß wir keine reichen Leute sind. Nimm, was wir dir hier bringen, als Zeichen des Dankes - den Lohn mag der Himmel dazutun!«
Der Meister hatte ihm mit verdrossener Miene zugehört. Nun sagte er, und die Mühlknappen merkten, wie sehr er sich dazu zwingen mußte, ruhig zu bleiben:
»Wer euch geholfen hat, weiß ich nicht - ich bin es jedenfalls nicht gewesen, damit es da keinen Zweifel gibt. Packt euer Zeug auf den Schlitten und schert euch zum Henker!«
Damit ließ er die Bauern stehen und ging in die Schwarze Kammer. Die Mühlknappen hörten, wie er von innen den Riegel vorschob.
Der Scholta und seine Begleiter standen mit ihren Geschenken da, als hätte es ihnen das Korn verhagelt.
»Kommt!« sagte Juro und half ihnen aufladen. »Fahrt jetzt zurück nach Schwarzkollm - und wenn ihr zu Hause seid, trinkt einen scharfen Schnaps oder zwei und vergeßt das alles!«
Krabat blickte dem Schlitten mit den drei Männern nach, bis er im Wald verschwunden war. Eine Zeitlang blieb noch das Schellengeläut zu hören, der Peitschenknall und die Stimme des Scholta, der »Hüah-hüah!« schrie und die Pferde zur Eile antrieb.
Der Schnee schmolz, das Frühjahr kam, Krabat lernte wie ein Besessener. Die Mitgesellen hatte er längst überflügelt. Der Meister lobte ihn, zeigte sich höchst zufrieden mit seinen Fortschritten in der Schwarzen Kunst. Er schien nicht zu ahnen, daß Krabat nur lernte und lernte und weiterlernte, um für den Tag des Kampfes gerüstet zu sein, für die Stunde der Abrechnung.
Am Sonntag Lätare war es, daß Merten zum erstenmal wieder aufstand. Er setzte sich hinter dem Holzschuppen in die Sonne. Bleich war er, mager geworden, fast durchsichtig. Und er hatte, das zeigte sich nun,
einen schiefen Hals behalten. Immerhin sprach er jetzt wieder das Allernötigste: »Ja« und »nein« und »gib her« oder »laß das!«
Am Karfreitag nahmen sie Lobosch in die Schwarze Schule auf. Wie staunte der Kleine, als er vom Meister in einen Raben verwandelt wurde! Fröhlich schwirrte er durch die Kammer, er streifte mit seinen Flügelspitzen den Totenkopf und das Zauberbuch. Dreimal mußte der Meister »ksch!« machen - dann erst ließ sich der Knirps auf der Stange nieder: ein spannenlanger, drolliger schwarzer Vogel mit munteren Äuglein und aufgeplusterten Federn.
»Dies ist die Kunst, in Gedanken zu einem anderen Menschen zu sprechen, daß er die Worte hören kann und versteht, als kämen sie aus ihm selbst...«
Den Müllerburschen fiel es an diesem Abend nicht leicht, dem Meister zu folgen, weil Lobosch sie ständig ablenkte. Es war lustig, ihm zuzusehen: wie er die Augen verdrehte, den Hals verrenkte und mit den Flügeln schlug. Mochte der Müller doch aus dem Koraktor vorlesen, was er wollte!
Krabat ließ sich kein Wort entgehen.
Er hatte begriffen, wie wichtig die neue Lektion war - für ihn und die Kantorka. Silbe für Silbe prägte er sich die Formel ein. Vor dem Einschlafen dann, auf der Pritsche, sprach er sie so oft nach, bis er sicher war, daß er sie nie mehr vergessen würde.
Am Ostersamstag, bei Einbruch der Dunkelheit, schickte der Meister die Mühlknappen wieder aus, sich das Mal zu holen. Beim Abzählen blieben Krabat und Lobosch als letzte übrig, der Müller entließ sie mit seinem Schwarzen Segen.
Krabat hatte im Holzschuppen Decken bereitgelegt, zwei für jeden, weil es sich gegen Abend eingetrübt hatte und nach Regen roch. Da sie die Mühle als letzte verlassen hatten, drängte er Lobosch zur Eile. Er hielt es für möglich, daß schon zwei andere Burschen zu Bäumels Tod unterwegs sein könnten - eine Befürchtung, die grundlos gewesen war, wie sich herausstellte, als sie zum Holzkreuz kamen.
Am Waldrand klaubten sie Rindenstücke und Äste auf, sie entfachten ein kleines Feuer. Krabat erklärte dem Jungen, weshalb sie hier draußen säßen, an dieser Stelle, und daß sie nun miteinander die Osternacht wachend am Feuer verbringen müßten.
Lobosch hüllte sich fröstelnd in seine Decken, er meinte: bloß gut, daß er nicht allein hier zu sitzen brauchte, sonst könnte es sein, daß er sterben würde vor Angst, und dann müßte womöglich ein weiteres Holzkreuz an dieser Stätte errichtet werden, wenn auch ein kleineres ...
Später sprachen sie von der Schwarzen Schule und von den Regeln, nach denen der Unterricht in der Zauberkunst sich vollzog. Dann schwiegen sie eine Weile; und schließlich kam Krabat auf Tonda und Michal zu sprechen.
»Ich habe dir ja schon angekündigt, daß ich dir eines Tages von ihnen erzählen würde.«
Während er Lobosch von seinen Freunden berichtete, wurde ihm klar, daß er selber inzwischen an Tondas Stelle gerückt war - zumindest was diesen Jungen anging, der ihm da gegenübersaß, auf der anderen Seite des Feuers.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, Lobosch von Michals und Tondas Ende nichts zu erzählen, nichts Näheres jedenfalls; doch je länger er von den beiden sprach, auch von Worschula, die auf dem Friedhof von Seidewinkel begraben lag, und daß Tonda behauptet habe, die Mühlknappen aus dem Koselbruch brächten den Mädchen Unheil - je länger er sprach, desto selbstverständlicher fand er es, daß der Junge ein Recht darauf habe, auch das zu erfahren, womit er ihn anfangs hatte verschonen wollen.
So kam es, daß Krabat ihm alles erzählte, was zu erzählen war. Nur vom Geheimnis der Messerklinge erwähnte er nichts, um die Zauberkraft, die ihr innewohnte, nicht zu gefährden.
»Du weißt«, fragte Lobosch, »wer schuld ist an Tondas und Michals Tod?«
»Ich ahne es«, sagte Krabat. »Und wenn mein Verdacht sich bestätigt, werde ich abrechnen.«
Gegen Mitternacht setzte leichter Regen ein. Lobosch zog sich die Decke über den Kopf.
»Tu das nicht!« sagte Krabat. »Dann wirst du die Glocken nicht hören können und den Gesang im Dorf.«
Wenig später vernahmen sie, wie in der Ferne die Osterglocken zu läuten anhoben, und sie hörten die Stimme der Kantorka von Schwarzkollm herüber: die Stimme der Kantorka und, im Wechsel mit ihr, die anderen Mädchen.
»Klingt schön«, sagte Lobosch nach einer Weile. »Um das zu hören, kann man sich ruhig naßregnen lassen.«
Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Lobosch hatte verstanden, daß Krabat nicht reden und nicht gestört sein wollte. Es fiel ihm nicht schwer, sich danach zu richten. Was er von Tonda und Michal erfahren hatte, reichte für mehr als für eine halbe Nacht, um darüber nachzudenken.
Die Mädchen sangen, die Glocken läuteten. Daß es nach einer Weile wieder zu regnen aufhörte: Krabat merkte es nicht. Für ihn gab es weder Regen zu dieser Stunde noch Wind, weder Wärme noch Kälte, kein Licht und kein Dunkel: für ihn gab es nur die Kantorka jetzt, ihre Stimme - und die Erinnerung daran, wie ihre Augen geleuchtet hatten im Schein der Osterkerze.
Diesmal war Krabat entschlossen, nicht wieder aus sich hinauszugehen. Hatte der Meister sie nicht die Kunst gelehrt, in Gedanken zu einem anderen Menschen zu sprechen, »daß er die Worte hören kann und versteht, als kämen sie aus ihm selbst«?
Gegen Morgen sprach Krabat die neue Formel. Er richtete alle Kraft, die in seinem Herzen war, auf die Kantorka: bis er zu spüren glaubte, nun habe er sie erreicht - und da sprach er zu ihr.
»Es bittet dich jemand, Kantorka, daß du ihn anhörst«, sprach er. »Du kennst ihn nicht, er aber kennt dich seit langem. Wenn du an diesem Morgen das Osterwasser geschöpft hast, dann richte es auf dem Heimweg ein, daß du hinter den anderen Mädchen zurückbleibst. Allein mußt du gehen mit deinem Wasserkrug, weil der Jemand dich treffen will - und er mag nicht, daß es vor aller Augen geschieht, weil es nur dich etwas angeht, und ihn, und sonst niemanden auf der Welt.«
Dreimal beschwor er sie, stets mit den gleichen Worten. Dann graute der Morgen herauf, der Gesang und die Glocken verstummten. Nun wurde es Zeit, daß er Lobosch den Drudenfuß ziehen lehrte und daß sie sich mit dem Mal versahen, einer den anderen, mit den Spänen vom Holzkreuz, die Krabat mit Tondas Messer vom Stamm geschnitten und in der Glut hatte ankohlen lassen.
Krabat hatte es auf dem Heimweg so eilig, als sei er vom Ehrgeiz besessen, daß sie die ersten sein müßten, die in der Mühle eintrafen. Lobosch vermochte auf seinen kurzen Beinen kaum Schritt zu halten.
Kurz vor dem Koselbruch, bei den ersten Büschen, blieb Krabat stehen. Er kramte in seinen Taschen, dann griff er sich an den Kopf und sagte: »Ich hab es beim Holzkreuz liegen lassen ...«
»Was?« fragte Lobosch.
»Das Messer.«
»Das du von Tonda bekommen hast?« -
»Ja - von Tonda.«
Der Junge wußte, daß Tondas Messer das einzige Andenken war, das Krabat von ihm besaß.
»Dann müssen wir umkehren«, sagte er, »und es holen!«
»Nein«, widersprach ihm Krabat und hoffte, daß Lobosch den Schwindel nicht merken werde. »Laß mich allein zurücklaufen, das geht schneller. Du kannst dich einstweilen unter die Büsche setzen und auf mich warten.«
»Meinst du?« Der Knirps unterdrückte ein Gähnen.
»Ich meine es, wie ich's gesagt habe.«
Während Lobosch sich unter den Sträuchern ins feuchte Gras setzte, eilte Krabat zurück an die Stelle, wo, wie er wußte, die Mädchen vorbeikommen mußten, wenn sie das Osterwasser nach Hause trugen: dort schlug er sich in die Hecken.
Nicht lange, da kamen die Mädchen mit ihren Wasserkrügen und zogen in langer Reihe an ihm vorüber. Die Kantorka, Krabat sah es, war nicht dabei. Sie hatte ihn also gehört, und sie hatte verstanden, worum er sie aus der Ferne gebeten hatte.
Als dann die Mädchen verschwunden waren, sah er sie kommen. Allein kam sie, fest in ihr wollenes Umtuch gehüllt. Da trat er hervor und ging auf sie zu.
»Ich bin Krabat, ein Mühlknappe aus dem Koselbruch«, sagte er. »Fürchte dich nicht vor mir.«
Die Kantorka blickte ihm ins Gesicht, ganz ruhig, als habe sie ihn erwartet.
»Ich kenne dich«, sagte sie, »denn ich habe von dir geträumt. Von dir und von einem Menschen, der Böses mit dir im Sinn hatte - aber wir haben uns nicht geschert um ihn, du und ich. Seither hab ich darauf gewartet, daß ich dich treffen würde: und jetzt bist du also da.«
»Ich bin da«, sagte Krabat. »Aber ich kann nicht lang bleiben - sie warten auf mich in der Mühle.«
»Auch ich muß nach Hause«, sagte die Kantorka. »Ob wir uns wiedersehen?«
Dann tauchte sie einen Zipfel des Umtuches in den Krug mit dem Osterwasser - und ohne ein Wort zu sagen, wischte sie Krabat den Drudenfuß von der Stirn: ganz sachte und ohne Eile, wie selbstverständlich.
Da war es dem Burschen, als habe sie einen Makel von ihm genommen. Und Krabat war ihr unendlich dankbar: daß es sie gab und daß sie ihm gegenüberstand und ihn anblickte.
Lobosch war unter den Büschen am Waldrand eingeschlafen. Als Krabat ihn weckte, machte er große Augen und fragte: »Hast du es?«
»Was?«
»Das Messer!«
»Ach ja«, sagte Krabat.
Er zeigte ihm Tondas Messer und ließ die Klinge herausschnappen: sie war schwarz.
»Du solltest sie abschmirgeln«, meinte Lobosch. »Und gründlich einfetten - möglichst mit Hundefett.«
»Ja«, sagte Krabat. »Das sollte ich wohl.«
Dann eilten sie heimwärts und trafen auf halbem Wege mit Witko und Juro zusammen, die waren beim Mordkreuz gewesen und hatten sich auch verspätet.
»Na«, meinte Juro, »ob wir es vor dem Regen schaffen?« Bei diesen Worten blickte er Krabat an, als vermißte er etwas an ihm.
Der Drudenfuß!
Krabat erschrak. Wenn er ohne das Mal in die Mühle zurückkehrte, mußte der Meister Verdacht schöpfen, unausweichlich. Dann konnte es schlimm werden für sie beide, auch für die Kantorka. Krabat wühlte in seinen Taschen nach einem Stück Kohle - aber da war keins, das wußte er.
»Kommt!« drängte Juro, »bevor wir eins auf den Hut kriegen! Laufen wir, laufen wir!«
In dem Augenblick, da die Burschen den Wald verließen und auf die Mühle zurannten, brach das Wetter los. Ein Windstoß riß Witko und Krabat die Mützen vom Kopf, ein Schlagregen klatschte nieder, daß Lobosch aufkreischte. Pudelnaß kamen alle vier in der Mühle an.
Der Meister erwartete sie voll Ungeduld. Sie beugten sich unter das Ochsenjoch, sie empfingen die Backenstreiche.
»Wo habt ihr das Mal, zum Henker?«
»Das Mal?« sagte Juro, »da ist es«, und zeigte auf seine Stirn.
»Da ist nichts!« rief der Meister.
»Dann hat der verdammte Regen es weggewaschen ...«
Der Müller zögerte einen Augenblick, schien zu überlegen. »Lyschko!« befahl er dann. »Hol mir vom Herd ein Stück Holzkohle - aber eil dich!« Mit groben Strichen schrieb er den vieren den Drudenfuß über die Nasenwurzel, das brannte wie Feuer auf ihrer Haut. »An die Arbeit!«
Sie mußten an diesem Morgen länger und härter schuften als sonst; es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis auch die vier sich das Mal von der Stirn geschwitzt hatten. Dann aber war es soweit, auch diesmal - und Lobosch, der kleine Lobosch, vermochte mit einem Mal, einen vollen Maltersack über dem Kopf zu schwenken.
»Juchhe!« rief er. »Seht nur, wie leicht mir die Arbeit geworden ist!
Seht nur, zu was für Kräften ich da gekommen bin!«
Die Müllerburschen verbrachten den Rest des Tages bei Osterküchlein und Wein, mit Gesang und Tanz. Es wurden Geschichten erzählt, auch vom Pumphutt, und Andrusch, als er schon ziemlich betrunken war, hielt eine Rede, des Inhalts, daß alle Mühlknappen brave Burschen seien, und alle Meister gehörten zum Teufel gejagt, in die tiefste Hölle. »Darauf laßt uns anstoßen!« rief er. »Oder ist jemand anderer Meinung hier?«
»Nein!« riefen alle und hoben die Becher; nur Staschko beteuerte lauthals, er sei dagegen.
»Zum Teufel gejagt werden?« schrie er. »Der Satan soll selber kommen und sich die Meister holen! Er soll ihnen, jedem einzeln, den Kragen umdrehen - krrrks! - das ist meine Meinung!«
»Recht hast du, Bruderherz!« Andrusch umarmte ihn. »Recht hast du! Hol der Teufel die Müllscher alle - und unsern als ersten!«
Krabat hatte sich einen Platz in der Ecke gesucht, nahe genug bei den andern, daß keiner ihm nachsagen konnte, er habe sich absondern wollen; und doch saß er mehr für sich hier, am Rand des Trubels, und während die Burschen sangen und lachten und große Reden führten, dachte er an die Kantorka: wie sie ihm diesen Morgen begegnet war, auf dem Heimweg, und wie sie beisammengestanden und miteinander gesprochen hatten.
An jedes Wort wußte Krabat sich zu erinnern, an jede Bewegung, an jeden Blick von ihr - und er hätte noch Stunden in seiner Ecke zubringen und an sie denken können, ohne daß er gemerkt hätte, wie die Zeit verrann, hätte nicht Lobosch sich neben ihn auf die Bank gesetzt und ihn angestoßen.
»Ich muß dich was fragen ...«
»Ja?« sagte Krabat, bemüht, sich nicht ungehalten zu zeigen.
Lobosch war voller Sorge. »Was Andrusch da eben gesagt hat - und Staschko! Wenn das dem Meister zu Ohren kommt...«
»Ach«, meinte Krabat. »Das sind doch bloß dumme Sprüche, merkst du das nicht?«
»Und der Müller?« erwiderte Lobosch. »Wenn Lyschko ihm das erzählt ... Stell dir vor, was er mit den beiden anstellt!«
»Nichts wird er mit den beiden anstellen, gar nichts.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!« rief Lobosch. »Das läßt der sich nie gefallen!«
»Heut schon«, sagte Krabat. »Heut dürfen wir auf den Meister schimpfen und ihm die Pest und die Cholera auf den Hals wünschen - oder sogar den Satan, wie du gehört hast: das nimmt er uns heut nicht übel, im Gegenteil.«
»Nein?« fragte Lobosch.
»Wer einmal im Jahr seinem Ärger Luft machen darf«, sagte Krabat, »der schafft es, sich während der übrigen Zeit um so besser in alles zu fügen, was man ihm abverlangt - und das ist, wie du merken wirst, auf der Mühle im Koselbruch eine ganze Menge.«
Krabat war nicht mehr der Krabat von früher. Während der folgenden Tage und Wochen lebte er hinter Sonne und Mond. Er tat, was zu tun war, er sprach mit den Burschen, er antwortete ihnen auf Fragen - aber in Wahrheit war er weit weg von allem, was auf der Mühle vorging: er war bei der Kantorka, und die Kantorka war bei ihm, und die Welt wurde immer heller ringsum, immer grüner mit jedem Tag.
Nie zuvor hatte Krabat darauf geachtet, wie vielerlei Grün es gab, hundert Arten von Grasgrün, von Birken- und Weidengrün, Moosgrün dazwischen, bisweilen mit einem Stich ins Bläuliche, junges, flammendes Grün an den Ufern des Mühlenweihers, an jeder Hecke, an jedem Beerenstrauch - und das dunkle, verhaltene Altgrün der Föhren im Koselbruch, düster zu mancher Stunde, bedrohlich dann und fast schwarz, doch mitunter, zumal gegen Abend, aufleuchtend wie mit Gold gefirnißt.
Ein paarmal in diesen Wochen, nicht allzu häufig zwar, träumte Krabat auch nachts von der Kantorka. Es war in den Grundzügen immer der gleiche Traum:
Sie gingen gemeinsam durch einen Wald oder einen Garten mit alten Bäumen, sommerlich warm war es, und die Kantorka trug einen hellen Kittel. Während sie unter den Bäumen dahingingen, legte ihr Krabat den Arm um die Schulter. Sie neigte den Kopf herüber, daß er ihr Haar an der Wange spürte. Das Kopftuch war ihr ein Stück in den Nacken gerutscht, und er wünschte sich, daß sie stehenbleiben und sich ihm zuwenden würde, weil er ihr dann ins Gesicht hätte schauen können. Zugleich aber wußte er, daß es besser war, wenn sie es nicht tat: dann konnte auch niemand anderer sie erkennen, der etwa die Macht hatte, seine Träume mitzuträumen.
Den Mitgesellen blieb nicht verborgen, daß etwas mit Krabat geschehen war, was ihn von Grund auf verändert hatte - und abermals war es Lyschko, der den Versuch unternahm, bei ihm auf den Busch zu klopfen. Es war in der Woche nach Pfingsten. Krabat und Staschko waren von Hanzo beauftragt worden, einen der Mühlsteine nachzuschärfen. Sie hatten ihn neben der Tür zur Mahlstube aufgebockt und vertieften mit ihren Schlageisen die von der Mitte des Steines nach außen führenden Rillen. Sorgfältig setzten sie Schlag an Schlag, daß es scharfe Kanten gab. Staschko war zwischendurch weggegangen, er mußte sein stumpf gewordenes Eisen schleifen, das dauerte seine Zeit. Da kam Lyschko des Weges, mit einem Bund leerer Mehlsäcke unterm Arm. Krabat bemerkte ihn erst, als er bei ihm stehenblieb und ihn ansprach: Lyschko schlich immer auf leisen Sohlen umher, selbst dann, wenn es gar nicht nötig gewesen wäre.
»Na?« fragte er augenzwinkernd. »Wie heißt sie denn? Ist sie blond oder braun oder schwarzhaarig?«
»Wer?« fragte Krabat zurück.
»Na - die«, meinte Lyschko, »an die du in letzter Zeit immer denkst. Oder glaubst du vielleicht, wir sind blind und merken nicht, daß dir eine den Kopf verdreht hat - im Traum vielleicht oder so ... Ich weiß da ein gutes Mittel, um dir zu helfen, daß du sie treffen könntest: man hat da ja seine Erfahrungen, weißt du ...«
Er spähte nach allen Seiten, dann neigte er sich zu Krabat herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Du brauchtest mir nur ihren Namen zu sagen - dann könnte ich alles Weitere leicht in die Wege leiten...«
»Hör auf!« sagte Krabat. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Du hältst mich mit deinen Albernheiten bloß von der Arbeit ab.«
In der folgenden Nacht träumte Krabat aufs neue den Traum von der Kantorka, den er nun schon kannte. Wieder gingen sie unter Bäumen dahin, und wieder war es ein warmer Sommertag; nur kamen sie diesmal zu einer Wiese, die mitten im Wald lag, und als sie hinaustraten, um die Lichtung zu überqueren - da streifte sie, kaum daß sie ein paar Schritte gegangen waren, ein Schatten. Krabat warf seine Jacke der Kantorka über den Kopf. »Schnell weg hier - er darf dein Gesicht nicht sehen!« Er zerrte das Mädchen zurück in den Schutz der Bäume. Der Schrei eines Habichts traf ihn, gellend und schrill, als sei ihm ein Messer ins Herz gefahren: davon erwachte er. -
Den Abend darauf wurde Krabat zum Meister gerufen. Er hatte kein gutes Gefühl, als er vor ihm stand und den Blick seines einen Auges auf sich gerichtet sah.
»Ich habe mit dir zu reden.« Der Müller saß wie ein Richter in seinem Lehnstuhl, die Arme verschränkt, mit steinerner Miene. »Du weißt«, fuhr er fort, »daß ich viel von dir halte, Krabat, und daß du es in den Geheimen Wissenschaften zu etwas bringen kannst, was nicht jedem von deinen Mitgesellen erreichbar ist. Dennoch sind mir in letzter Zeit Zweifel gekommen, ob ich dir trauen kann. Du hast Heimlichkeiten vor mir, du verbirgst mir etwas. Ob es nicht klüger wäre, wenn du mir Rede und Antwort stündest, freiwillig, ohne daß ich gezwungen wäre, dir nachzuspüren? Sage mir offen, worum es sich handelt - dann wollen wir überlegen, was wir gemeinsam zu deinem Besten tun können: noch ist Zeit dazu.«
Krabat zögerte keinen Augenblick mit der Antwort.
»Ich habe dir nichts zu sagen, Meister.«
»Wirklich nicht?«
»Nein«, sagte Krabat mit fester Stimme.
»Dann geh - und beklag dich nicht, wenn du Ärger bekommst!«
Draußen im Flur stand Juro, er schien dort auf Krabat gewartet zu haben. Nun zog er ihn in die Küche und schloß hinter sich die Tür zu.
»Ich hab da was, Krabat ...«
Er drückte ihm einen Gegenstand in die Hand: eine kleine, vertrocknete Wurzel an einer Schlinge aus dreifach gedrilltem Bindfaden.
»Nimm das - und häng es dir um den Hals, sonst träumst du dich noch um Kopf und Kragen.«
Der Meister war in den nächsten Tagen auffallend freundlich zu Krabat. Er zog ihn den Mitgesellen bei jeder Gelegenheit vor und lobte ihn für die selbstverständlichsten Dinge, als ob er ihm zeigen wollte, daß er entschlossen sei, ihm nichts nachzutragen - bis er ihm eines Abends, das war gegen Ende der zweiten Woche nach Pfingsten, im Hausflur begegnete, während die anderen schon beim Nachtmahl saßen.
»Es kommt mir nicht ungelegen, daß ich dich treffe«, sagte er. »Manchmal, das weißt du ja, gibt es Zeiten, in denen man schlechte Laune hat - und dann läßt man sich dazu hinreißen, Dinge zu sagen, die blanker Unsinn sind. Kurz und gut: das Gespräch, das wir unlängst in meiner Stube geführt haben, du erinnerst dich, war ein dummes Gespräch. Und ein überflüssiges obendrein - findest du das nicht auch?«
Der Meister wartete Krabats Antwort nicht ab.
»Es sollte mir leidtun«, fuhr er im gleichen Atemzug fort, »wenn du alles, was ich an jenem Abend gesprochen habe, für bare Münze nähmest! Ich weiß ja, daß du ein braver Bursch bist, mein bester Schüler seit langem, auch zuverlässig wie selten einer - na, du verstehst mich wohl.«
Krabat fühlte sich unbehaglich: Was wollte der Müller von ihm?
»Um nicht länger herumzureden«, sagte der Meister. »Ich möchte dich nicht im Zweifel darüber lassen, wie ich in Wirklichkeit von dir denke. Was ich bisher keinem anderen meiner Schüler gewährt habe, dir gewähre ich's: Nächsten Sonntag erlasse ich dir die Arbeit, ich gebe dir einen freien Tag. Du kannst ausgehen, wenn du magst und wohin es dir paßt - nach Maukendorf oder Schwarzkollm oder Seidewinkel, das soll mir gleich sein. Und wenn du bis Montagmorgen zurück bist, genügt mir das.«
»Ausgehen?« fragte Krabat. »Was hätte ich wohl in Maukendorf oder sonstwo verloren?«
»Nun, es gibt Schenken und Wirtshäuser auf den Dörfern, wo du dir einen guten Tag machen könntest - und es gibt Mädchen, mit denen man tanzen kann ...«
»Nein«, sagte Krabat. »Mir steht nicht der Sinn danach. Soll ich es besser haben als meine Mitgesellen?«
»Das sollst du«, erklärte der Meister. »Ich sehe nicht ein, weshalb ich dich nicht belohnen sollte für deinen Fleiß und die Ausdauer, die du beim Studium der Geheimen Wissenschaften in weitaus größerem Maß an den Tag legst als jeder andere.«
Am Morgen des nächsten Sonntags, als sich die Burschen zur Arbeit rüsteten, schickte auch Krabat sich an, ein Gleiches zu tun. Da kam Hanzo und nahm ihn beiseite.
»Ich weiß nicht, was los ist«, sagte er, »aber der Meister hat dir für heute frei gegeben. Ich soll dich daran erinnern, daß er dich auf der Mühle vor morgen früh nicht mehr sehen will - alles weitere wüßtest du.«
»Ja«, brummte Krabat, »ich weiß schon.«
Er zog seinen guten Rock an, und während die anderen Burschen arbeiten mußten wie jeden Sonntag, verließ er das Haus.
Hinter dem Holzschuppen setzte er sich ins Gras, um zu überlegen.
Der Meister hatte ihm eine Falle gestellt, das war klar, und nun hieß es sich vorsehen, daß er ihm nicht hineintappte. Eines schien jedenfalls sicher zu sein: daß er überall hingehen durfte, nur nach Schwarzkollm nicht. Am liebsten wäre er einfach hier sitzengeblieben, hinter dem Holzschuppen in der Sonne, und hätte den Tag verfaulenzt. Aber das hätte zu sehr danach ausgesehen, als ob er die Absicht des Meisters durchschaut habe. »Dann also - auf nach Maukendorf!« dachte er. »Und um Schwarzkollm herum einen großen Bogen!«
Aber vielleicht war das auch falsch? Vielleicht war es klüger, wenn er Schwarzkollm nicht aussparte, sondern mitten hindurchging - weil das der kürzeste Weg war nach Maukendorf.
Freilich: der Kantorka durfte er in Schwarzkollm nicht begegnen, dem galt es vorzubeugen.
»Kantorka!« bat er das Mädchen, nachdem er die Formel gesprochen hatte. »Ich muß dich um etwas bitten heute - ich, Krabat, bin es, der darum bittet. Du darfst diesen Tag keinen Schritt aus dem Hause gehen, was auch geschehen möge. Und sieh auch nicht aus dem Fenster, versprich mir das!«
Krabat vertraute darauf, daß die Kantorka seine Bitte befolgen werde. Da bog, als er eben aufbrechen wollte, Juro mit einem leeren Holzkorb ums Haus.
»Na, Krabat - du scheinst es ja nicht besonders eilig zu haben, hier wegzukommen. Darf ich mich eine Weile zu dir ins Gras setzen, ja?«
Wie damals, nach dem mißglückten Pferdehandel, kramte er ein Stück Holz aus der Tasche und zeichnete einen Kreis um die Stelle, an der sie saßen, den er mit einem Drudenfuß und drei Kreuzen versah.
»Du wirst dir wohl denken können, daß das mit Mücken und Schmeißfliegen nichts zu tun hat«, meinte er augenzwinkernd.
Krabat gestand ihm, er habe schon damals gewisse Zweifel gehabt. »Du bewirkst damit, daß der Meister uns weder sehen noch hören kann, wenn wir hier sitzen und reden: nicht aus der Nähe und nicht aus der Ferne - so ist es doch?«
»Nein«, sagte Juro. »Er könnte uns sehen und hören, aber er wird es nicht tun, weil er uns vergessen hat: das ist es, was der Kreis bewirkt. Solang wir uns darin aufhalten, denkt der Meister an alles mögliche - bloß nicht an dich und mich.«
»Nicht dumm«, sagte Krabat, »nicht dumm ...« Und plötzlich, als sei da ein Stichwort gefallen, durchzuckte ihn ein Gedanke. Betroffen blickte er Juro an. »Du bist es also«, sagte er, »dem die Bauern den Schnee zu verdanken hatten - und Lyschko die Metzgerhunde! Du bist nicht der Dummkopf, für den wir dich alle halten, nicht wahr - du verstellst dich bloß!«
»Und wenn es so wäre?« erwiderte Juro. »Ich will nicht bestreiten, daß ich nicht ganz so blöd bin, wie alle meinen. Du aber, nimm mir's nicht übel, Krabat, bist dümmer, als du dir's träumen läßt.«
»Ich?«
»Weil du immer noch nicht gemerkt hast, was hier gespielt wird, auf dieser verfluchten Mühle! Sonst wüßtest du deinen Eifer zu zügeln, nach außenhin wenigstens - oder bist du dir nicht im klaren, in welcher Gefahr du lebst?«
»Doch«, sagte Krabat. »Ich ahne es.«
»Nichts ahnst du!« widersprach ihm Juro.
Er riß einen Grashalm ab und zerknüllte ihn zwischen den Fingern.
»Ich werde dir etwas sagen, Krabat - ich, der ich all die Jahre hindurch den Dummen gespielt habe. Wenn du so weitermachst, wirst du auf dieser Mühle der nächste sein, der dran glauben muß. Michal und Tonda und alle andern, die draußen verscharrt liegen auf dem Wüsten Plan: alle haben den gleichen Fehler begangen wie du. Sie haben zu viel gelernt in der Schwarzen Schule und haben's den Meister merken lassen. - Du weißt ja, daß jedes Jahr in der Neujahrsnacht einer von uns für ihn sterben muß.«
»Für den Meister?«
»Für ihn«, sagte Juro. »Er hat einen Pakt mit dem ... nun, mit dem Herrn Gevatter. Alljährlich muß er ihm einen von seinen Schülern zum Opfer bringen, sonst ist er selber dran.«
»Woher weißt du das?«
»Man hat Augen im Kopf, und man macht sich Gedanken über die Dinge, die einem auffallen. Außerdem habe ich's im Koraktor gelesen.«
»Du?«
»Ich bin dumm, wie du weißt - oder sagen wir: wie der Meister und alle glauben. Deshalb nimmt man mich nicht für voll, deshalb bin ich gerade gut genug für die Hausarbeit. Ich muß putzen und schrubben und Staub wischen - auch in der Schwarzen Kammer zuweilen, wo der Koraktor liegt, angekettet am Tisch und für niemand zugänglich, der darin lesen könnte. Das wäre nicht gut für den Meister, weil manches darin verzeichnet steht, was ihm schaden könnte, wenn einer von uns es erführe.«
»Du aber«, sagte Krabat, »du kannst lesen!«
»Ja«, sagte Juro. »Und du bist der erste und einzige, dem ich es anvertraue. Es gibt einen Weg, um dem Meister das Handwerk zu legen: nur einen! Wenn du ein Mädchen kennst, das dich lieb hat - das könnte dich retten. Falls sie den Meister bittet, dich freizugeben, und falls sie die vorgeschriebene Probe besteht.«
»Die - Probe?«
»Davon ein andermal, wenn wir mehr Zeit haben«, sagte Juro. »Vorläufig brauchst du nur dies zu wissen: Hüte dich, daß der Meister erfährt, wer das Mädchen ist - sonst ergeht dir's wie Tonda.«
»Sprichst du von Worschula?«
»Ja«, sagte Juro. »Der Meister hat ihren Namen zu früh erfahren, er hat sie mit Träumen gepeinigt, das gibt es, bis sie aus lauter Verzweiflung ins Wasser gegangen ist.«
Er riß abermals einen Grashalm ab und zerknüllte ihn.
»Tonda hat sie am Morgen danach gefunden. Er hat sie nach Hause getragen zu ihren Eltern, dort hat er sie auf der Schwelle niedergelegt. Seitdem hat er eisgraues Haar gehabt, seine Kraft war gebrochen, das Ende kennst du.«
Krabat stellte sich vor, daß er eines Morgens die Kantorka finden könnte, ertrunken, mit Wasserpflanzen im Haar.
»Was rätst du mir?« fragte er.
»Was ich dir rate?« Juro riß einen dritten Grashalm ab. »Geh jetzt nach Maukendorf oder sonstwohin - und versuche, den Meister irrezuführen, so gut du kannst.«
Krabat blickte nicht rechts und links, als er durch Schwarzkollm ging. Die Kantorka hielt sich verborgen. Wer weiß, was sie ihren Leuten erzählt hatte, um ihnen klarzumachen, weshalb sie im Hause blieb.
In der Scholtisei kehrte Krabat zu einer kurzen Rast ein, er aß ein Stück Schwarzbrot mit Rauchfleisch und trank einen doppelten Korn hinterher. Dann wanderte er nach Maukendorf weiter, setzte sich in der Schenke an einen Tisch und verlangte Bier.
Am Abend tanzte er mit den Mädchen, er redete dummes Zeug mit ihnen, verdrehte ihnen die Köpfe und fing mit den Burschen Streit an.
»Heda - verschwinde hier!«
Als sie böse wurden und ihn hinauswerfen wollten, schnippte er mit den Fingern: da blieben sie stehen wie angewurzelt und konnten sich nicht mehr rühren.
»Ihr Hammel!« rief Krabat. »Das könnte euch wohl so passen, mich auf den Kopf zu hauen. Besorgt euch das lieber gegenseitig!«
Da brach auf dem Tanzboden ein Tumult los, wie Maukendorf ihn noch nie erlebt hatte.
Krüge flogen und Stühle krachten. Die Burschen rauften, als hätten sie den Verstand verloren. Blindlings droschen sie aufeinander ein.
Der Wirt rang die Hände, die Mädchen kreischten, die Musikanten retteten sich durchs Fenster ins Freie.
»Brav so!« feuerte Krabat die Burschen an. »Brav so! Haut euch nur tüchtig die Hucke voll! Immer drauf, immer feste drauf!«
Wo er den Sonntag verbracht habe, wollte der Meister am anderen Morgen von Krabat wissen, und wie ihm der Ausgang bekommen sei.
»Ach«, meinte Krabat mit einem Achselzucken, »ganz gut soweit.« Dann berichtete er dem Meister von dem Besuch in Maukendorf, von der Tanzerei und dem Streit mit den Dorfburschen. Das sei alles recht lustig gewesen; aber es hätte um vieles lustiger sein können, hätte er einen Kumpan aus der Mühle dabei gehabt: Staschko vielleicht oder Andrusch, doch wäre ihm ebenso jeder andere recht gewesen.
»Auch Lyschko, zum Beispiel?«
»Der nicht«, sagte Krabat auf die Gefahr hin, daß es der Meister ihm übelnahm.
»Und warum nicht?«
»Ich kann ihn nicht ausstehen«, sagte Krabat.
»Du auch nicht?« Der Meister lachte. »Dann sind wir uns über Lyschko einig. Da staunst du wohl?«
»Ja«, sagte Krabat. »Das überrascht mich.«
Der Meister betrachtete ihn von unten bis oben: wohlwollend, wie es den Anschein hatte, wenn auch nicht ohne Spott.
»Das ist es, was mir an dir gefällt, Krabat - daß du ehrlich bist und mir in allen Dingen offen die Meinung sagst.«
Krabat vermied es, den Meister anzusehen. Er wußte nicht, ob es ihm ernst war mit seinen Worten: sie konnten auch als verborgene Drohung gemeint sein. Jedenfalls war er froh, als der Müller das Thema wechselte.
»Was aber nun das andere angeht, worüber wir vorhin gesprochen haben, so merke dir eines, Krabat: Du selber kannst sonntags von jetzt an ausgehen, wann du magst, und du kannst auch daheim bleiben, wenn es dir lieber ist. Dies aber ist ein Vorrecht, das ich nur dir, meinem Meisterschüler, gewähre — und damit basta!«
Krabat brannte darauf, sich heimlich mit Juro zu treffen; Juro hingegen mied ihn, seit sie am Sonntag hinter dem Holzschuppen miteinander gesprochen hatten. Gern wäre Krabat wenigstens in Gedanken mit ihm in Verbindung getreten, doch innerhalb der Geheimen Bruderschaft wirkte der Zauber nicht.
Als sie endlich allein in der Küche zusammentrafen, gab Juro ihm zu verstehen, daß Krabat sich einige Tage gedulden möge »wegen des Messers, das du mir unlängst zum Schleifen gegeben hast. Wenn es fertig ist, werde ich kommen und es dir bringen: Ich habe dich nicht vergessen.«
»Ist gut«, sagte Krabat. Er hatte verstanden, was Juro gemeint hatte.
Es verstrich eine halbe Woche, dann mußte der Meister wieder einmal über Land reiten, für zwei Tage, vielleicht auch auf drei, wie er vor dem Aufbruch verlauten ließ.
In der folgenden Nacht wurde Krabat von Juro geweckt.
»Komm in die Küche - dort wollen wir miteinander reden.«
»Und die da?« Krabat deutete auf die Mitgesellen.
»Die schlafen so tief und fest, daß kein Blitz und kein Donner sie aufweckt«, versicherte Juro. »Dafür ist vorgesorgt.«
In der Küche zog Juro um Tisch und Stühle den Zauberkreis mit dem Drudenfuß und den Kreuzen. Er zündete eine Kerze an, die stellte er zwischen sich und Krabat.
»Ich habe dich warten lassen«, begann er. »Aus Vorsicht, verstehst du. Niemand darf ahnen, daß wir uns heimlich treffen. Ich habe dir letzten Sonntag verschiedenes anvertraut, und du wirst dir darüber inzwischen Gedanken gemacht haben.«
»Ja«, sagte Krabat. »Du wolltest mir einen Weg zeigen, wie ich mich vor dem Meister retten kann - und zugleich ist das, wenn ich dich recht verstanden habe, ein Weg, wie ich Tonda und Michal rächen könnte.«
»So ist es«, bestätigte Juro. »Wenn ein Mädchen dich lieb hat, kann sie am letzten Abend des Jahres zum Meister kommen, dich freizubitten. Besteht sie die Probe, die er ihr abverlangt, dann ist er es, der in der Neujahrsnacht sterben muß.«
»Und die Probe ist schwer?« fragte Krabat.
»Das Mädchen muß zeigen, daß sie dich kennt«, sagte Juro. »Sie muß dich herausfinden unter den Mitgesellen und sagen: Das ist er.«
»Und dann?«
»Das ist alles, was der Koraktor vorschreibt - und wenn du es liest oder hörst, wirst du meinen, das sei ein Kinderspiel.«
Krabat mußte ihm beipflichten - falls die Sache nicht, wie er einschränkte, einen Haken habe; er denke an einen geheimen Zusatz im Zauberbuch, beispielsweise, oder an einen versteckten Doppelsinn, den die Anweisung des Koraktors enthalten könnte: man müßte den Wortlaut kennen ...
»Der Wortlaut«, versicherte Juro, »ist klar und eindeutig. Aber der Meister versteht sich darauf, ihn auf seine besondere Weise auszulegen.« Er griff nach der Lichtputzschere und stutzte den blakenden Docht der Kerze herunter.
»Vor Jahren, als ich noch ziemlich neu war im Koselbruch, hat es ein Mitgeselle von uns, ein gewisser Janko, drauf ankommen lassen. Sein Mädchen ist pünktlich am letzten Abend des Jahres erschienen und hat ihn beim Müller freigebeten. >Gut<, hat der Meister gesagt, >wenn du Janko herausfindest, ist er frei und du kannst ihn dir mitnehmen, wie es geschrieben steht.< Dann hat er sie in die Schwarze Kammer geführt, wo wir zwölf auf der Stange saßen, in Rabengestalt. Er hatte uns alle gezwungen, den Schnabel unter den linken Flügel zu stecken. Da hockten wir nun, und das Mädchen war außerstande, herauszufinden, wer von uns Janko sei.
>Nun?< hat der Meister gefragt.
>Ist es der hier, am rechten Ende der Reihe - oder ist's jener dort in der Mitte oder ein anderer? Überlege es dir in Ruhe, du weißt ja, was davon abhängt.< Das wüßte sie, hat das Mädchen gesagt. Und dann hat sie nach einigem Zögern auf einen von uns gezeigt, auf gut Glück - und es hat sich herausgestellt, daß es Kito war.«
»Und?« fragte Krabat.
»Sie haben den Neujahrsmorgen nicht mehr erlebt, Janko nicht und das Mädchen auch nicht.«
»Und seither?«
»Nur Tonda hat es noch einmal wagen wollen, mit Worschulas Hilfe - aber das weißt du ja.«
Wieder blakte die Kerze, und abermals stutzte Juro den Docht zurück.
»Eines begreife ich nicht«, sagte Krabat nach langem Schweigen. »Warum hat kein anderer je versucht, diesen Weg zu gehen?«
»Die meisten«, erwiderte Juro, »kennen ihn nicht - und die wenigen, die Bescheid wissen, hoffen von Jahr zu Jahr, daß sie ungeschoren davonkommen: Wir sind zwölf, und es trifft ja nur einen in jeder Silvesternacht. Außerdem ist da noch was im Spiel, was du wissen solltest. Gesetzt, daß ein Mädchen die Probe besteht und der Meister wird überwunden, dann ist es im Augenblick seines Todes um alles geschehen, was er uns je gelehrt hat: dann sind wir mit einem Schlag weiter nichts als gewöhnliche Müllerburschen - und aus ist's mit aller Zauberei.«
»Wäre das nicht der Fall, wenn der Meister auf andere Weise zu Tode käme?«
»Nein«, sagte Juro. »Und dies ist ein weiterer Grund für die wenigen Eingeweihten, alljährlich den Tod eines Mitgesellen in Kauf zu nehmen.«
»Und du?« fragte Krabat. »Du selber hast auch nichts dagegen getan?«
»Weil ich mich nicht getraut habe«, sagte Juro. »Und weil ich kein Mädchen hab, das mich freibitten käme.«
Er spielte mit beiden Händen am Kerzenleuchter, indem er ihn auf der Tischplatte hin und her drehte, langsam und prüfend, als wollte er etwas Bestimmtes dabei herausfinden, das für ihn wichtig war.
»Daß wir uns recht verstehen«, meinte er schließlich. »Noch brauchst du dich nicht zu entscheiden, Krabat, nicht endgültig. Doch wir sollten schon jetzt damit anfangen, alles zu tun, was in unserer Kraft steht, um vorzusorgen, daß du dem Mädchen die Probe notfalls erleichtern kannst.«
»Aber das kann ich doch!« sagte Krabat. »Ich werde ihr in Gedanken das Nötige zu verstehen geben - das geht doch, das haben wir ja gelernt!«
»Das geht nicht«, widersprach ihm Juro.
»Nein?«
»Weil der Meister die Macht hat, das zu verhindern. Er hat es bei Janko getan - und er wird es auch diesmal tun, da besteht kein Zweifel.«
»Was dann?« fragte Krabat.
»Du mußt«, sagte Juro, »im Lauf des Sommers und Herbstes dahin zu kommen trachten, daß du imstande bist, dich dem Willen des Meisters zu widersetzen. Wenn wir in Rabengestalt auf der Stange hocken, und er gebietet uns: >Steckt die Schnäbel unter den linken Flügel!< - dann mußt du es fertigbringen, daß du als einziger deinen Schnabel unter den rechten steckst. Du verstehst mich. Indem du dich bei der Probe anders verhältst als wir übrigen, gibst du dich zu erkennen: das Mädchen weiß dann, auf welchen Raben es zeigen muß, und die Sache hat sich.«
»Was können wir also tun?« meinte Krabat.
»Du wirst deinen Willen üben.«
»Sonst nichts?«
»Das ist mehr als genug, wie du merken wirst. Wollen wir anfangen?« Krabat war einverstanden.
»Nehmen wir an«, meinte Juro, »daß ich der Meister bin. Wenn ich dir einen Befehl gebe, wirst du versuchen, das Gegenteil dessen zu tun, was ich sage. Statt also, falls ich es dir befehlen sollte, etwas von rechts nach links zu rücken, rückst du's von links nach rechts. Wenn du aufstehen sollst, bleibst du sitzen. Verlange ich, daß du mir ins Gesicht schaust, dann blickst du weg. Ist das klar?«
»Das ist klar«, sagte Krabat.
»Gut, dann beginnen wir.«
Juro deutete auf den Kerzenleuchter, der zwischen ihnen stand.
»Nimm ihn«, gebot er, »und rücke ihn näher zu dir heran!«
Krabat streckte die Hand nach dem Leuchter aus, in der festen Absicht, ihn von sich wegzuschieben, auf Juro zu - doch da stieß er auf Widerstand. Eine Kraft, die der Kraft seines eigenen Willens entgegenwirkte, griff nach ihm aus, und er war einen Augenblick wie gelähmt davon. Dann entbrannte ein stummer Zweikampf. Hier Juros Befehl - und da Krabat, der sich ihm widersetzen wollte, auf Biegen und Brechen.
Noch war er entschlossen, den Leuchter wegzuschieben. »Weg von mir!« dachte er. »Weg damit, weg damit!«
Doch er merkte, wie Juros Wille allmählich von seinem Willen Besitz ergriff, wie er ihn langsam auslöschte.
»Wie du - befiehlst«, hörte Krabat sich schließlich sagen.
Dann zog er den Leuchter gehorsam zu sich heran. Wie ausgehöhlt kam er sich vor. Wenn ihm jemand gesagt hätte, daß er jetzt tot sei, er hätte es ihm geglaubt.
»Nicht verzweifeln!«
Aus weiter Ferne hörte er Juros Stimme. Dann spürte er, wie sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, und abermals, diesmal ganz nahe, hörte er Juro sprechen:
»Vergiß nicht, daß es ein erster Versuch war, Krabat.«
Von jetzt an verbrachten sie alle Nächte, in denen der Müller sich außer Haus befand, in der Küche. Krabat übte dann unter Juros Anleitung, seinen eigenen Willen gegen den Willen des Freundes durchzusetzen: ein schweres Stück Arbeit für beide, und oft genug sah es aus, als ob Krabat verzagen wollte, »weil ich es doch nicht schaffe - und wenn ich schon sterben muß, will ich wenigstens nicht dran schuld sein, daß auch das Mädchen umkommt, verstehst du das?«
»Ja«, sagte Juro dann, »das verstehe ich, Krabat - aber noch ist ja das Mädchen nicht eingeweiht. Vorläufig brauchst du dir keine Gedanken darüber zu machen, ob du dich so oder so entscheiden wirst. Wichtiger ist, daß wir weiterkommen. Wenn du den Mut nicht verlierst und nicht aufgibst, dann sollst du mal sehen, wie gut wir das bis zum Ende des Jahres hinkriegen, glaub mir das!«
Wieder, zum wievielten Mal wohl, ging es von neuem los mit der Plackerei - und allmählich, im Lauf des Spätsommers, stellten sich hin und wieder die ersten Erfolge ein.
Hatte der Meister Verdacht geschöpft? War er Krabat und Juro, mit Lyschkos Hilfe vielleicht, auf die Spur gekommen?
An einem der ersten Septemberabende lud er die Müllerburschen zu einem Umtrunk ein, und nachdem sie sich um den großen Tisch in der Meisterstube versammelt hatten und jedem der Becher gefüllt war, brachte er unerwartet »ein Wohl auf die Freundschaft!« aus. Juro und Krabat blickten sich über den Tisch weg betroffen an.
»Trinkt aus!« rief der Meister. »Trinkt alle aus!« Dann ließ er von Lobosch aufs neue die Becher füllen und sagte:
»Ich habe euch im vergangenen Sommer von Jirko erzählt, meinem besten Freund. Und ich habe euch nicht verschwiegen, ich hätte ihn eines Tages umgebracht. Wie es dazu gekommen ist, sollt ihr nun erfahren ... Es war in den Jahren des großen Türkenkrieges, Jirko und ich hatten damals für einige Zeit aus der Lausitz verschwinden müssen, wir hatten uns voneinander getrennt. Ich ließ mich beim Heer des Kaisers anwerben, wo ich als Musketier diente, während Jirko sich, was ich nicht ahnen konnte, dem türkischen Sultan als Zaubermeister verdingt hatte.
Kaiserlicher Befehlshaber war der Marschall von Sachsen. Er hatte uns weit nach Ungarn hineingeführt, wo wir seit Wochen dem türkischen Heer gegenüberlagen, Freund und Feind in befestigten Lagern verschanzt. Vom Krieg war nicht viel zu spüren, außer daß sich die beiderseitigen Streifscharen dann und wann ein Scharmützel lieferten und die Kanonen sich auf verschiedene Punkte im Vorfeld einschossen. Eines Morgens stellte sich dann heraus, daß die Türken sich nächtlicherweile des Marschalls von Sachsen bemächtigt und ihn entführt hatten, offensichtlich mit Hilfe von Zauberei. Bald darauf kam ein Unterhändler vor unsere Schanzen geritten: Der Marschall befinde sich als Gefangener in des Sultans Hand; man werde ihn freilassen, falls unser Heer sich binnen sechs Tagen aus Ungarn zurückziehe, widrigenfalls er am Morgen des siebenten Tages erdrosselt werde. Da war die Bestürzung groß, und weil ich nicht wußte, daß Jirko im türkischen Lager war, machte ich mich erbötig, den Marschall zurückzuholen.«
Der Meister leerte den Becher auf einen Zug, winkte Lobosch heran, hieß ihn nachschenken und fuhr fort:
»Obgleich unser Hauptmann mich für verrückt erklärte, meldete er die Sache dem Herrn Obristen weiter, der führte mich einem General vor, und dieser begab sich mit mir zum Herzog von Leuchtenberg, der anstelle des Marschalls den Oberbefehl übernommen hatte. Zunächst wollte auch der Herzog mir keinen Glauben schenken; da ließ ich die Offiziere des Stabes vor seinen Augen zu Papageien werden, den General aber, der mich ihm vorgeführt hatte, zu einem Goldfasan. Mehr brauchte es nicht, um den Herzog zu überzeugen. Er hieß mich die Herren schleunigst zurückverwandeln und sagte mir für den Fall, daß es mir gelingen sollte, den Marschall herauszuholen, eine Belohnung von tausend Dukaten zu. Dann ließ er mir seine eigenen Reitpferde vorführen, und ich durfte mir eines aussuchen.«
Abermals brach der Meister in seiner Erzählung ab, um zu trinken, und abermals mußte ihm Lobosch den Becher füllen, bevor er weitersprach.
»Ich könnte nun einfach in meiner Geschichte fortfahren«, sagte er, »doch mir ist etwas Besseres eingefallen. Den Rest sollt ihr selbst erleben: Krabat wird meinen eigenen Part übernehmen, die Rolle des zauberkundigen Musketiers, der den Marschall von Sachsen befreien will - und nun brauchen wir noch den Jirko ...«
Er blickte von einem Burschen zum ändern, er musterte Hanzo, er musterte Andrusch und Staschko. Zuletzt blieb der Blick seines Auges auf Juro haften.
»Du vielleicht ...«, meinte er. »Du wirst Jirko sein, wenn du magst.«
»Ist gut«, sagte Juro gleichgültig. »Einer muß das wohl machen.«
Krabat ließ sich von seinem Grinsen nicht täuschen. Beiden war klar, daß der Meister sie prüfen wollte. Nun hieß es sich vorsehen, daß sie sich nicht verrieten.
Der Müller zerbröselte eine Prise getrockneter Kräuter über der Kerzenflamme; ein schwerer, betäubender Duft verbreitete sich im Raum, den Mühlknappen wurden die Lider schwer.
»Schließt nun die Augen!« gebot der Meister. »Dann werdet ihr sehen, was sich in Ungarn begeben hat. Juro und Krabat jedoch werden handeln - wie Jirko und ich es getan haben, damals im großen Türkenkrieg ...«
Krabat spürte, wie bleierne Müdigkeit ihn befiel, wie er langsam einschlief. Die Stimme des Meisters klang fern und eintönig:
»Juro, der Zaubermeister des Sultans, befindet sich bei den Türken, er hat auf den Halbmond geschworen ... Und Krabat, der Musketier Krabat in weißen Gamaschen und blauem Waffenrock, steht zur Rechten des Herzogs von Leuchtenberg und betrachtet die Pferde, die man ihm vorführt ...«
Krabat, der Musketier Krabat in weißen Gamaschen und blauem Waffenrock, steht zur Rechten des Herzogs von Leuchtenberg und betrachtet die Pferde, die man ihm vorführt. Am besten gefällt ihm ein Rappe mit einem winzigen weißen Mal auf der Stirn, es ähnelt von fern einem Drudenfuß.
»Gebt mir den da!« verlangt er.
Der Herzog läßt ihm den Rappen satteln und aufzäumen. Krabat lädt seine Büchse, er hängt sie sich über die Schulter und schwingt sich aufs Pferd. Er umrundet in leichtem Trab den Paradeplatz, dann gibt er dem Roß die Sporen und sprengt im Galopp auf den Herzog und dessen Gefolge zu, daß es aussieht, als wollte er sie in Grund und Boden reiten. Die Herren stieben entsetzt auseinander - doch Krabat fegt über ihre weißgepuderten Köpfe hinweg, und zur allgemeinen Verwunderung trägt der Rappe ihn steil in die Lüfte empor. Nicht genug damit! Roß und Reiter beginnen sich im Davonjagen zu verflüchtigen, mehr und mehr, bis sie aller Augen entschwunden sind - selbst den Blicken des Herrn Generalfeldzeugmeisters Graf Gallas, der über das schärfste Fernrohr der kaiserlichen Armee verfügt.
Krabat reitet in schwindelnder Höhe dahin, wie andere Leute über ein ebenes Feld reiten. Bald erspäht er am Rande eines zerschossenen Dorfes die ersten Türken. Er sieht ihre bunten Turbane in der Sonne leuchten, er sieht die Geschütze hinter den Schanzkörben aufgefahren, er sieht, wie die Streifscharen zwischen den Feldwachen hin und her reiten. Er selbst und sein Roß aber sind für niemand sichtbar. Die Pferde der Türken blähen vor Angst die Nüstern, die Hunde beginnen zu jaulen und klemmen den Schwanz ein.
Über dem türkischen Heerlager weht die grüne Fahne des Propheten im Wind. Krabat lenkt seinen Rappen zur Erde, behutsam läßt er ihn aufsetzen. Unweit des Prunkzeltes, das der Sultan bewohnt, entdeckt er ein etwas kleineres Zelt, das von einigen zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Janitscharen bewacht wird.
Den Rappen am Zügel, geht er hinein - und richtig hockt da auf einem Feldstuhl, den Kopf in die Hände gestützt, der große Kriegsheld und Türkenfresser aus Dresden. Krabat macht, daß er sichtbar wird, räuspert sich, tritt auf den Marschall zu - und erschrickt.
Der Feldherr trägt eine schwarze Lederklappe über dem linken Auge!
»Was gibt's?« krächzt er Krabat mit rabenhaft heiserer Stimme an. »Steht Er in türkischen Diensten? Wie kommt Er zu mir ins Zelt?«
»Gehorsamst zu melden«, sagt Krabat. »Ich habe Befehl, Exzellenz da herauszuholen. Mein Roß steht bereit.«
Jetzt nimmt auch der Rappe wieder Gestalt an.
»Wenn Exzellenz nichts dagegen haben ...«, meint Krabat.
Er schwingt sich aufs Roß und bedeutet dem Marschall, hinter ihm aufzusitzen. Dann preschen sie aus dem Zelt hervor.
Die Janitscharen sind so verdutzt, daß sie keinen Finger rühren. Unentwegt »Platz da!« rufend, stürmt Krabat mit dem befreiten Marschall die Lagergasse hinunter. Bei ihrem Anblick lassen sogar die nubischen Garden des Sultans die Spieße und Säbel fallen.
»Hussa!« schreit Krabat und »Festhalten, Exzellenz!«
Niemand wagt es, sich ihnen entgegenzustellen. Schon sind sie am Ausgang des Lagers, schon draußen im freien Feld. Nun läßt Krabat den Rappen sich in die Lüfte erheben, und jetzt erst beginnen die Türken auf sie zu feuern, aus allen Rohren, das pfitscht und pfatscht nur so.
Krabat ist guter Dinge, er fürchtet die türkischen Kugeln nicht.
»Wenn die Burschen uns treffen wollten, müßten sie mit was Goldenem nach uns schießen«, belehrt er den Marschall. »Kugeln aus Eisen und Blei tun uns keinen Schaden - und Pfeile auch nicht.«
Die Schüsse verhallen, das Feuer wird eingestellt. Da hören die beiden Reiter ein Rauschen und Brausen vom Lager der Türken her, das rasch näher kommt. Krabat darf sich nicht umdrehen, während sie durch die Luft reiten; deshalb bittet er seinen Begleiter zurückzublicken.
Der Marschall berichtet von einem riesigen schwarzen Adler, der sie verfolge. »Er stößt aus der Höhe herab, die Sonne im Rücken, den Schnabel auf uns gerichtet!«
Krabat spricht eine Zauberformel: da türmen sich zwischen dem Adler und ihnen gewaltige Wolken auf, grau und dicht, ein Gebirge von Nebeln.
Der Adler durchstößt es.
»Da!« krächzt der Marschall. »Er setzt zum Sturz an!«
Krabat hat längst begriffen, was für ein Adler das ist, der sie da verfolgt; es wundert ihn nicht im mindesten, daß er sie anruft.
»Kehrt um!« ruft der Adler, »oder ihr seid des Todes!«
Er ruft es mit einer Stimme, die Krabat kennt. Woher kennt er sie? Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen! Auf seinen Wink hin erhebt sich ein Sturm, der den Adler zurückwirft, ihn wegfegen müßte vom Himmel wie einen Flederwisch - aber weit gefehlt: der Adler des Sultans ist jedem Orkan gewachsen.
»Kehrt um!« ruft er. »Gebt euch geschlagen, bevor es zu spät ist!«
»Die Stimme!« denkt Krabat. Nun hat er sie wiedererkannt: Es ist Juros Stimme, die Stimme des Freundes, mit dem er gemeinsam als Müllerbursche gedient hat, vor vielen Jahren im Koselbruch.
»Der Adler!« berichtet der Marschall. »Gleich hat er uns eingeholt!« Plötzlich weiß Krabat auch wieder, wem diese Stimme gehört, die ihm da ins Ohr krächzt: »Sein Feuerrohr, Musketier! Warum schießt Er das Ungeheuer nicht einfach ab?«
»Weil ich nichts Goldenes hab, um damit zu schießen.«
Krabat ist froh, denn das stimmt sogar. Doch der Marschall von Sachsen, oder wer immer da hinter ihm sitzt - der Marschall reißt einen seiner goldenen Knöpfe vom Waffenrock.
»Steck Er ihn in die Flinte - und schieß Er schon!«
Juro, der Adler Juro, ist nur noch wenige Flügelschläge von ihnen entfernt. Krabat denkt nicht im Traum daran, ihn zu töten. Er gibt sich den Anschein, als ob er den goldenen Knopf in den Lauf seiner Büchse stecke: in Wirklichkeit läßt er ihn aus der Hand gleiten.
»Schieß Er doch!« drängt der Marschall. »Schieß Er doch!«
Ohne den Kopf zu wenden, drückt Krabat die Flinte auf den Verfolger ab, über die linke Schulter weg: blind, wie er weiß, nur mit Pulver geladen, ohne den Goldknopf im Lauf.
Der Schuß kracht - und plötzlich ein gellender Todesschrei: »Krabat! Kra-baa-aaht!«
Krabat erschrickt, läßt die Flinte fallen; dann schlägt er die Hände vor das Gesicht und weint.
»Krabat!« gellt es ihm in den Ohren. »Kra-baa-aaht!«
Krabat fuhr stöhnend hoch. Wie kam es, daß er mit einem Mal hier am Tisch saß - mit Andrusch und Petar und Merten und allen anderen? Wie sie ihn anstarrten, bleich und verschreckt - und wie jeder sofort den Blick senkte, wenn er merkte, daß Krabat zu ihm herübersah!
Der Meister saß wie ein Toter an seinem Platz, weit zurückgelehnt, schweigend, als lauschte er in die Ferne.
Auch Juro rührte sich nicht. Er lag mit dem Oberkörper über dem Tisch, das Gesicht nach unten, die Arme von sich gespreizt: Adlerschwingen vor wenigen Augenblicken noch, rauschende Fittiche. Neben Juro ein umgeworfener Becher. Ein Fleck auf der Tischplatte, dunkelrot: Wein oder Blut?
Lobosch warf sich mit einem Aufschluchzen über Juro hin. »Er ist tot, er ist tot!« rief er. »Krabat, du hast ihn umgebracht!«
Krabat spürte ein Würgen im Hals, er riß sich mit beiden Händen das Hemd auf.
Da sah er, wie Juro den einen Arm bewegte - und dann den anderen. Langsam, so schien es, kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Er stützte sich auf die Hände, er hob das Gesicht - einen kreisrunden roten Fleck auf der Stirn, zwei Finger breit über der Nasenwurzel.
»Juro!« Der kleine Lobosch packte ihn bei den Schultern. »Du lebst ja noch, Juro - du lebst ja!«
»Was dachtest du denn?« meinte Juro. »Wir haben die Sache doch nur gespielt. Bloß: der Schädel brummt mir von Krabats Schuß, das nächste Mal mag ein anderer diesen Jirko machen, mir reicht's, ich geh schlafen.«
Die Mühlknappen lachten erleichtert auf, und Andrusch sprach aus, was sie alle dachten: »Geh du nur schlafen, Bruder, geh du nur! Hauptsache, daß du es überstanden hast!«
Krabat saß wie versteinert am Tisch. Der Schuß und der Schrei - und der fröhliche Trubel auf einmal: wie reimte sich das zusammen?
»Aufhören!« fuhr der Meister dazwischen. »Aufhören, ich ertrag das nicht, setzt euch nieder und schweigt!« Er war aufgesprungen, er stützte sich mit der einen Hand auf den Tisch, mit der anderen hielt er den Becher umspannt, als wollte er ihn zermalmen. »Was ihr gesehen habt«, rief er,
»es ist nur ein Alptraum gewesen, aus dem man erwacht - und dann hat sich das ... Ich aber hab die Geschichte mit Jirko nicht geträumt, damals in Ungarn: Ich hab ihn erschossen! Ich hab meinen Freund getötet, ihn töten müssen - wie Krabat es auch getan hat, wie jeder von euch es an meiner Stelle getan hätte, jeder!«
Er hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher tanzten, er griff nach dem Weinkrug und trank daraus, ungestüm, gierig. Dann warf er den Krug an die Wand und schrie: »Geht jetzt! Hinaus mit euch, alle hinaus da! Ich will allein sein - allein - allein!«
Auch Krabat wollte allein sein, er schlich aus der Mühle. Es war eine mondlose, aber sternklare Nacht. Er schritt durch die feuchten Wiesen zum Mühlenweiher - und als er hinabblickte auf das schwarze Wasser, aus dem ihm die Sterne entgegenfunkelten, spürte er das Verlangen, ein Bad zu nehmen. Er streifte die Kleider ab, glitt in den Weiher und schwamm ein paar Stöße vom Ufer weg.
Das Wasser war kalt, er bekam einen klaren Kopf davon: den konnte er brauchen nach allem, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Ein Dutzendmal tauchte er unter und wieder auf, dann kehrte er prustend und zähneklappernd ans Ufer zurück.
Dort stand Juro mit einer Decke.
»Du wirst dich erkälten, Krabat! Komm raus da, was soll denn das!«
Er half Krabat an Land, schlug ihn in die Decke ein, wollte ihn trockenreiben.
Krabat machte sich los von ihm.
»Ich versteh das nicht, Juro«, sagte er. »Ich versteh das nicht - daß ich auf dich geschossen habe.«
»Du hast nicht auf mich geschossen, Krabat - nicht mit dem Goldknopf.«
»Das weißt du?«
»Ich hatte es kommen sehen, ich kenn dich doch.« Juro versetzte ihm einen Rippenstoß. »So ein Todesschrei mag sich gräßlich anhören, aber er kostet nichts.«
»Und der Fleck auf der Stirn?« fragte Krabat.
»Ach - der!« meinte Juro lachend. »Vergiß nicht, daß ich ein wenig in den Geheimen Wissenschaften bewandert bin: so weit reicht es beim dummen Juro gerade noch.«
Krabat hatte im Sommer ein paarmal von seinem Vorrecht Gebrauch gemacht und war über Sonntag ausgegangen: weniger zum Vergnügen als wegen des Meisters, damit er ihm keinen Anlaß zu weiterem Argwohn bot. Dennoch wurde er den Verdacht nicht los, daß der Müller es nach wie vor darauf anlegte, ihn aufs Eis zu führen.
Seit er auf Juro geschossen hatte, waren drei Wochen vergangen, in denen der Meister kaum ein paar Worte mit Krabat gewechselt hatte; dann sagte er eines Abends zu ihm - und er sagte es beiläufig, wie man von nebensächlichen Dingen zu sprechen pflegt:
»Nächsten Sonntag wirst du wohl nach Schwarzkollm gehen - oder?«
»Wie das?« fragte Krabat.
»Am Sonntag ist Kirmes drüben - ich könnte mir denken, daß das ein Grund wäre hinzugehen.«
»Mal sehn«, meinte Krabat. »Du weißt ja, ich mache mir nichts daraus, unter Leute zu kommen, wenn keiner von uns dabei ist.«
Hinterher fragte er Juro um Rat, was er tun solle.
»Hingehen«, sagte Juro. »Was sonst?«
»Das ist viel verlangt«, meinte Krabat.
»Es steht ja auch allerhand auf dem Spiel«, sagte Juro. »Außerdem wäre das eine gute Gelegenheit, mit dem Mädchen zu sprechen.«
Krabat war überrascht.
»Du weißt, daß sie aus Schwarzkollm ist?«
»Seit wir am Osterfeuer gesessen haben. Es war ja nicht schwer zu erraten.«
»Dann kennst du sie?«
»Nein«, sagte Juro. »Ich will sie auch gar nicht kennen. Was ich nicht weiß, kann niemand aus mir herausbringen.«
»Wie aber«, fragte Krabat, »soll es dem Meister verborgen bleiben, wenn wir uns treffen?«
»Du weißt ja«, erwiderte Juro, »wie man den Kreis zieht.« Er griff in die Tasche, er drückte ihm das Stück Holz in die Hand. »Nimm es - und triff dich mit deinem Mädchen und sprich mit ihr!«
Am Samstag ging Krabat früh zu Bett. Er wollte allein sein, er wollte noch einmal in Ruhe abwägen, ob er sich mit der Kantorka treffen sollte. Konnte er wagen, sie jetzt schon in alles einzuweihen?
Bei den nächtlichen Übungen war es Krabat in letzter Zeit immer öfter gelungen, sich Juros Befehlen zu widersetzen. Manchmal war sogar Juro es, der als erster ins Schwitzen kam. Das habe nicht viel zu sagen, meinte er zwar, und Krabat dürfe nur ja nicht den Fehler machen, den Meister zu unterschätzen - aber aufs ganze gesehen stand es nicht schlecht für sie.
Krabats Zuversicht war von Mal zu Mal größer geworden. Pumphutt hatte den Müller ja auch besiegt: warum sollte es ihm verwehrt sein? Er zählte auf Juros Hilfe - und auf die Kantorka.
Aber das war es ja eben, worüber sich Krabat noch immer im Zweifel war: Ob er die Kantorka denn hineinziehen durfte in die Geschichte. Wer gab ihm das Recht dazu? War sein Leben es wert, das ihre aufs Spiel zu setzen?
Krabat war unschlüssig. Einerseits mußte er Juro beipflichten: die Gelegenheit, sich zu treffen, war günstig - wer weiß, wann sie wiederkehrte. Wenn nur das andere nicht gewesen wäre, die Ungewißheit, ob er der Kantorka morgen schon alles erzählen sollte - wo er doch mit sich selber noch nicht im reinen war.
»Und wenn ich ihr«, ging es ihm durch den Kopf, »nur so viel erzähle, daß sie im ganzen Bescheid weiß, worum es geht - doch den Tag und die Stunde der Prüfung verschweige ich ...?«
Krabat empfand ein Gefühl der Erleichterung.
»Das bedeutet für sie, daß sie ihre Entscheidung nicht Hals über Kopf zu treffen braucht - und für mich, daß ich Aufschub gewinne, den Fortgang der Dinge abzuwarten: notfalls bis ganz zuletzt.«
Die Mitgesellen beneideten Krabat, als er am Sonntag nach Tisch erklärte, der Müller habe ihm für den Rest des Tages Urlaub gegeben, weil in Schwarzkollm heut Kirmes sei.
»Kirmes!« rief Lobosch. »Wenn ich das Wort bloß höre! Dann sehe ich Riesenbleche voll Streuselkuchen vor mir und Berge von süßen Kolatschen! Bringst du mir wenigstens was zum Kosten mit?«
»Aber ja«, wollte Krabat sagen; doch Lyschko kam ihm mit der Bemerkung zuvor, was Lobosch sich da wohl einbilde: Ob er denn glaube, daß Krabat nichts Besseres vorhabe in Schwarzkollm, als an Kuchen zu denken.
»Nein!« widersprach ihm Lobosch. »Was Besseres gibt es auf keiner Kirmes!« Das sagte er so bestimmt, daß alle darüber lachen mußten.
Krabat ließ sich von Juro eines der Brottücher geben, worin sie die Vesper mitnahmen, wenn sie zur Waldarbeit gingen oder zum Torfplatz; das faltete er zusammen und schob es sich unter die Mütze, dann meinte er:
»Abwarten, Lobosch, was für dich übrigbleibt ...«
Krabat schlenderte aus dem Haus, er durchquerte den vorderen Koselbruch und schlug jenseits des Waldes den Feldweg ein, der um Schwarzkollm herumführte. An der Stelle, wo er am Ostermorgen der Kantorka gegenübergetreten war, zog er den Zauberkreis, darin ließ er sich nieder.
Die Sonne schien, es war angenehm warm für die Jahreszeit. Kirmeswetter, mit einem Wort. Krabat blickte zum Dorf hinüber.
Die Obstbäume in den Gärten waren schon abgeerntet, ein Dutzend vergessener Äpfel leuchtete gelb und rot aus dem welken Laub hervor.
Halblaut sprach er die Formel, dann wandte er alle Gedanken dem Mädchen zu.
»Es sitzt jemand hier im Grase«, ließ er die Kantorka wissen, »der mit dir sprechen muß. Mach dich auf eine Weile frei für ihn, er verspricht dir auch, daß es nicht lange dauern soll. Niemand darf merken, wohin du gehst und mit wem du dich triffst: darum bittet er dich - und er hofft, daß du kommen kannst.«
Eine Weile, das wußte er, würde er warten müssen. Er legte sich auf den Rücken, die Arme im Nacken verschränkt, um nochmals zu überdenken, was er der Kantorka sagen wollte. Der Himmel war hoch und von klarem Blau, wie er's nur im Herbst ist - und während er so hinaufblickte, wurden Krabat die Lider schwer.
Als er aufwachte, saß die Kantorka neben ihm auf dem Rasen. Er konnte sich nicht erklären, weshalb sie auf einmal hier war. Da saß sie, geduldig wartend, in ihrem gefältelten Sonntagsrock, ein buntes, mit Blumen bedrucktes Seidentuch um die Schultern, das Haar unter einem spitzenbesetzten Häubchen aus weißem Leinen.
»Kantorka«, fragte er, »bist du schon lange da? Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Weil ich Zeit habe«, sagte sie. »Und ich dachte mir, daß es besser ist, wenn du von selber aufwachst.«
Er stützte sich auf den rechten Ellbogen.
»Lang ist es her«, begann er, »daß wir uns nicht gesehen haben.«
»Ja, das ist lang her.« Die Kantorka zupfte an ihrem Tuch. »Nur im Traum bist du manchmal bei mir gewesen. Wir sind unter Bäumen dahingegangen, entsinnst du dich?«
Krabat lachte ein wenig.
»Ja, unter Bäumen«, sagte er. »Es war Sommer - und warm war es - und du hast einen hellen Kittel getragen ... Das weiß ich, als wäre es gestern gewesen.«
»Und ich weiß es auch.«
Die Kantorka nickte, sie wandte ihm das Gesicht zu.
»Was ist es, weshalb du mich sprechen wolltest?«
»Ach«, meinte Krabat, »ich hätte es fast vergessen. - Du könntest mir, wenn du wolltest, das Leben retten ...«
»Das Leben?« fragte sie.
»Ja«, sagte Krabat.
»Und wie?«
»Das ist rasch erzählt.«
Er berichtete ihr, in welche Gefahr er gekommen sei und wie sie ihm helfen könnte: vorausgesetzt, daß sie ihn unter den Raben herausfand.
»Das sollte nicht schwer sein - mit deiner Hilfe«, meinte sie.
»Schwer oder nicht«, hielt ihr Krabat entgegen. »Wenn du dir nur im klaren bist, daß auch dein eigenes Leben verwirkt ist, falls du die Probe nicht bestehst.«
Die Kantorka zögerte keinen Augenblick.
»Dein Leben«, sagte sie, »ist mir das meine wert. Wann soll ich zum Müller gehen, dich freizubitten?«
»Dies«, meinte Krabat, »vermag ich dir heute noch nicht zu sagen. Ich werde dir Botschaft senden, wenn es soweit ist, notfalls durch einen Freund.«
Dann bat er sie, ihm das Haus zu beschreiben, in dem sie wohnte. Sie tat es und fragte ihn, ob er ein Messer zur Hand habe.
»Da«, sagte Krabat.
Er reichte ihr Tondas Messer. Die Klinge war schwarz, wie in letzter Zeit immer - doch jetzt, als die Kantorka es in Händen hielt, wurde das Messer blank.
Sie löste das Häubchen, sie schnitt eine Locke aus ihrem Haar: daraus drehte sie einen schmalen Ring, den sie Krabat gab.
»Er soll unser Zeichen sein«, sagte sie. »Wenn dein Freund ihn mir bringt, bin ich sicher, daß alles, was er mir sagt, von dir kommt.«
»Ich danke dir.«
Krabat steckte den Ring von Haar in die Brusttasche seines Kittels.
»Du mußt nun zurückgehen nach Schwarzkollm, und ich werde nachkommen«, sagte er. »Und wir dürfen uns auf der Kirmes nicht kennen - vergiß das nicht!«
»Heißt >sich nicht kennen<: >nicht miteinander tanzen« fragte die Kantorka.
»Eigentlich nicht«, meinte Krabat. »Es darf aber nicht zu oft sein, das wirst du verstehen.«
»Ja, das verstehe ich.«
Damit erhob sich die Kantorka, streifte die Falten an ihrem Rock glatt und ging nach Schwarzkollm zurück, wo inzwischen die Musikanten bereits mit der Kirmesmusik begonnen hatten.
Vor der Scholtisei waren Tische und Bänke aufgestellt, im Geviert um den Tanzplatz, wo sich die jungen Leute schon fleißig drehten, als Krabat hinzukam. Die Alten saßen behäbig an ihren Plätzen und schauten den Burschen und Mädchen zu: pfeiferauchend die Männer hinter dem Bierkrug, fast schmächtig wirkend im braunen und blauen Sonntagszeug neben den Weibern, die sich in ihrer Festtracht wie bunte Glucken ausnahmen und sich bei Kirmeskuchen und Honigmilch über das junge Volk auf der Tanzfläche unterhielten: Wer da zu welcher paßte, und welche zu welchem weniger oder gar nicht, und ob man denn schon gehört habe, dieser und jene würden bald heiraten, wohingegen es zwischen der Jüngsten vom Grobschmied und Bartoschs Franto so gut wie aus sei.
Die Musikanten auf ihrem Podest an der Hauswand - vier aufrecht stehende leere Fässer dienten als Unterbau für die Plattform, die aus den waagrecht übereinandergelegten Flügeln des Scheunentores bestand, das der Scholta zu diesem Zweck hatte herschaffen lassen -, die Musikanten spielten auf Fideln und Klarinetten zum Tanz auf, die Baßgeige nicht zu vergessen mit ihrem Schrumm-Schrumm. Und setzten sie einmal die Instrumente ab, um sich mit Bier zu laben, was ja ihr gutes Recht war - gleich rief es von allen Seiten:,
»He, ihr dort oben! Seid ihr zum Spielen oder zum Saufen da?«
Krabat mischte sich unter die jungen Leute. Er tanzte mit allen Mädchen, wahllos und ausgelassen, wie es gerade kam, bald mit dieser und bald mit jener.
Auch mit der Kantorka tanzte er dann und wann. Er tanzte mit ihr wie mit allen, wenngleich es ihm schwerfiel, sie andern Burschen zu überlassen.
Die Kantorka hatte begriffen, daß sie sich nicht verraten durften. Sie redeten miteinander, was man beim Tanz so redet, Unsinn und Albernheiten. Nur ihre Augen meinten es ernst mit Krabat; aber das merkte nur er allein - und weil er es merkte, vermied er es, wenn es ging, ihrem Blick zu begegnen.
So kam es, daß selbst die Bauernweiber an ihren Tischen keinen Verdacht schöpften; auch die Alte, die auf dem linken Auge erblindet war (Krabat entdeckte sie jetzt erst), machte da keine Ausnahme.
Dennoch zog Krabat es vor, von jetzt an die Kantorka nicht mehr zum Tanz zu holen.
Es dauerte ohnehin nicht mehr lang, bis der Abend hereinbrach. Die Bauern und ihre Frauen gingen nach Hause, die Burschen und Mädchen begaben sich mit den Spielleuten in die Scheune: dort tanzten sie auf der Tenne weiter.
Krabat blieb draußen. Er hielt es für klüger, jetzt heimzugehen, zurück in den Koselbruch. Die Kantorka würde es schon verstehen, wenn er sie nun allein ließ.
Er lüpfte zum Abschied die Mütze: da spürte er etwas Warmes auf seinem Kopf, etwas Weiches.
»Lobosch!« entsann er sich.
Krabat knüpfte die Zipfel des Brottuches kreuzweise übereinander. Dann stopfte er an den verlassenen Tischen Streuselkuchen hinein und Kolatschen, bis es prall und voll war.
Je näher der Winter kam, desto langsamer, so erschien es Krabat, verstrich die Zeit. Von Mitte November an hatte er manchen Tag das Gefühl, als ginge es überhaupt nicht weiter.
Zuweilen, wenn niemand sonst in der Nähe war, überzeugte er sich davon, daß der Ring von Haar, den die Kantorka ihm gegeben hatte, noch da war. Sobald er ihn in der Brusttasche seines Kittels berührte, erfüllte ihn eine große Zuversicht. »Alles wird gutgehen«, glaubte er dann zu wissen. »Alles wird gutgehen.«
In letzter Zeit kam es selten vor, daß der Meister sich über Nacht außer Haus begab. Ahnte er, daß Gefahr im Verzug war - daß hinter seinem Rücken sich etwas anspann, wovor er sich hüten mußte?
Krabat und Juro nützten die wenigen Nächte, um unermüdlich in ihren Übungen fortzufahren. Krabat schaffte es immer öfter, sich Juro zu widersetzen.
Als sie sich wieder einmal am Küchentisch gegenübersaßen, geschah es, daß er den Ring von Haar aus der Tasche zog. Ohne sich etwas dabei zu denken, steckte er ihn an den kleinen Finger der linken Hand. Beim nächsten Befehl, den ihm Juro erteilte, tat Krabat sofort das Gegenteil: das gelang ihm so rasch und mühelos, daß es zum Staunen war.
»He!« meinte Juro. »Das war ja, als ob deine Kraft sich auf einmal verdoppelt hätte - wie reimst du dir das zusammen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Krabat. »Ob es ein Zufall war?«
»Laß uns nachdenken!« Juro blickte ihn prüfend an. »Es muß etwas geben, was dir zu dieser unerwarteten Stärke verhelfen hat.«
»Aber was?« überlegte Krabat. »Der Ring wird es kaum gewesen sein...«
»Welcher Ring?« fragte Juro.
»Der Ring von Haar da. Das Mädchen hat ihn mir mitgegeben, am Kirmessonntag. Ich hab ihn mir vorhin angesteckt - doch was sollte der Ring wohl mit meinen Kräften zu tun haben?«
»Sag das nicht!« widersprach ihm Juro. »Wir werden es ausprobieren, dann wissen wir's.«
Sie erprobten den Ring, und es zeigte sich bald, daß es keinen Zweifel gab: Wenn Krabat ihn an den Finger steckte, wurde er spielend mit Juro fertig - und wenn er ihn abzog, war alles wie sonst.
»Die Sache ist klar«, meinte Juro. »Mit Hilfe des Ringes wirst du dem Meister auf jeden Fall überlegen sein.«
»Aber wie geht das zu?« fragte Krabat. »Glaubst du denn, daß das Mädchen zaubern kann?«
»Anders als wir«, sagte Juro. »Es gibt eine Art von Zauberei, die man mühsam erlernen muß: das ist die, wie sie im Koraktor steht, Zeichen für Zeichen und Formel um Formel. Und dann gibt es eine, die wächst einem aus der Tiefe des Herzens zu: aus der Sorge um jemanden, den man lieb hat. Ich weiß, daß das schwer zu begreifen ist - aber du solltest darauf vertrauen, Krabat.«
Am Morgen danach, als Hanzo die Burschen weckte und sie zum Brunnen gingen, sahen sie, daß es während der Nacht geschneit hatte. Weiß war die Welt geworden, und wiederum überkam sie bei diesem Anblick die große Unruhe.
Krabat wußte ja nun Bescheid. Es gab auf der Mühle nur einen, der es sich nicht erklären konnte: Lobosch, der während der Zeit seines Hierseins nur wenig gewachsen und trotzdem inzwischen aus einem Jungen von vierzehn Jahren zu einem Burschen von nahezu siebzehn geworden war.
Eines Morgens, nachdem er im Spaß einen Schneeball nach Andrusch geworfen hatte und Andrusch ihm an den Kragen wollte, was Krabat durch sein Dazwischentreten verhinderte - eines Morgens erkundigte Lobosch sich, was denn um Himmels willen in seine Mitgesellen gefahren sei.
»Angst«, sagte Krabat mit einem Achselzucken.
»Angst?« fragte Lobosch. »Wovor?«
»Sei froh«, meinte Krabat ausweichend, »daß es dir noch verborgen ist. Früh genug wirst du es erfahren.«
»Und du?« wollte Lobosch wissen. »Du, Krabat, hast keine Angst?«
»Mehr als du ahnst«, sagte Krabat. »Und nicht nur um mich allein.«
In der Woche vor Weihnachten fuhr noch einmal der Herr Gevatter im Koselbruch vor. Die Mühlknappen stürzten hinaus, um die Säcke abzuladen. Der Fremde blieb nicht wie sonst auf dem Kutschbock sitzen: in dieser Neumondnacht stieg er vom Wagen, und hinkend begab er sich mit dem Meister ins Haus. Sie sahen die Hahnenfeder hinter den Scheiben flackern, als loderte in der Stube Feuer. Hanzo ließ Fackeln holen. Schweigend luden die Burschen das Mahlgut vom Wagen und schleppten es in die Mahlstube. Sie beschickten den Toten Gang damit, ließen das Mehl in die leeren Säcke laufen und packten sie wieder aufs Fuhrwerk.
Im Morgengrauen kehrte der Fremde zum Wagen zurück, allein, und bestieg den Bock. Bevor er davonfuhr, wandte er sich den Burschen zu.
»Wer ist Krabat?«
Glühende Kohlen und klirrender Frost in einem.
»Ich«, sagte Krabat mit einem Würgen im Hals und trat vor.
Der Fuhrmann betrachtete ihn und nickte. »Ist gut.« Dann schwang er die Peitsche und rumpelte mit dem Wagen davon.
Der Müller verbarg sich drei Tage und Nächte lang in der Schwarzen Kammer.
Am Abend des vierten Tages, das war einen Tag vor dem Weihnachtsfest, ließ er Krabat rufen. »Ich habe«, begann er, »mit dir zu reden. Es dürfte dir, wie ich meine, kaum überraschend kommen. Noch steht es dir frei, wie du dich entscheidest - ob für oder gegen mich.«
Krabat versuchte, den Ahnungslosen zu spielen.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Der Meister schenkte ihm keinen Glauben. »Vergiß nicht, daß ich dich besser kenne, als es dir lieb sein mag. Mancher hat sich im Lauf der Jahre schon gegen mich aufgelehnt: Tonda zum Beispiel und Michal, um nur die beiden zu nennen. Dummköpfe, Schwarmgeister! Dir aber, Krabat, hätte ich zugetraut, daß du klüger bist. Willst du mein Nachfolger werden, hier auf der Mühle? Du hättest das Zeug dazu!«
»Gehst du weg?« fragte Krabat.
»Ich habe es satt hier.« Der Meister lockerte sich den Kragen. »Es lockt mich, ein freier Mann zu werden. In zwei, drei Jahren könntest du meine Nachfolge antreten und die Schule fortführen. Wenn du zusagst, gehört dir alles, was ich zurücklasse, auch der Koraktor.«
»Und du?« fragte Krabat.
»Ich werde mich an den Hof begeben. Als Staatsminister, als Feldherr, als Kanzler der Krone von Polen vielleicht - je nachdem, was mir Spaß macht. Die Herren werden mich fürchten, die Damen mir um den Bart gehen, weil ich reich und von Einfluß bin. Jede Tür steht mir offen, man sucht meinen Rat, meine Fürsprache. Wer es wagt, sich mir nicht zu fügen, den schaffe ich mir vom Hals, denn ich kann ja zaubern und werde mich meiner Macht zu bedienen wissen, das darfst du mir glauben, Krabat!«
Er war in die Hitze gekommen, sein Auge glühte, das Blut war ihm zu Gesicht gestiegen. »Auch du«, fuhr er ruhiger werdend fort, »kannst es ähnlich halten. Nach zwölf oder fünfzehn Jahren, in denen du auf der Mühle im Koselbruch Meister gewesen bist, suchst du dir unter den Mühlknappen einen Nachfolger aus, übergibst ihm den ganzen Kram - und bist frei für ein Leben in Pracht und Herrlichkeit.«
Krabat bemühte sich, seinen klaren Kopf zu behalten. Er zwang sich, an Tonda und Michal zu denken. Hatte er nicht gelobt, sie zu rächen - sie und die anderen auf dem Wüsten Plan, Worschula nicht zu vergessen, und Merten auch nicht, der zwar noch lebte mit seinem schiefen Hals: aber was für ein Leben war das?
»Tonda«, hielt er dem Meister entgegen, »ist tot, und Michal ist auch tot. Wer sagt mir denn, daß ich nicht der nächste bin?«
»Das verspreche ich dir.« Der Müller hielt ihm die linke Hand hin.
»Mein Wort darauf - und zugleich das des Herrn Gevatters, der mich zu diesem Versprechen ermächtigt hat, eigens und ausdrücklich.«
Krabat schlug in die dargebotene Hand nicht ein.
»Wenn es mich nicht trifft«, fragte er - »trifft es dann einen andern?«
Der Meister bewegte die Hand, als gelte es, etwas vom Tisch zu wischen. »Einen«, erklärte er, »trifft es immer. Wir könnten von nun an gemeinsam darüber befinden, wer an die Reihe kommt. Nehmen wir einen, um den es nicht schade ist - Lyschko zum Beispiel.«
»Ich kann ihn nicht ausstehen«, sagte Krabat. »Aber auch er ist mein Mitgeselle, und daß ich mich schuldig mache an seinem Tod - oder mitschuldig, aber da sehe ich wenig Unterschied: dazu wirst du mich niemals bringen, Müller im Koselbruch!«
Krabat war aufgesprungen, voll Abscheu schrie er den Meister an: »Mach du zu deinem Nachfolger, wen du magst! Ich will nichts zu schaffen haben damit, ich will gehen!«
Der Meister blieb ruhig. »Du gehst, wenn ich dir's erlaube. Setz dich auf deinen Stuhl und hör zu, bis ich fertig bin.«
Es fiel Krabat nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen, sich jetzt schon auf eine Kraftprobe mit dem Meister einzulassen - trotzdem gehorchte er.
»Daß dich mein Vorschlag verwirrt hat«, sagte der Müller, »kann ich dir nachfühlen. Darum will ich dir Zeit geben, alles in Ruhe zu überdenken.«
»Wozu?« fragte Krabat. »Es bleibt dabei, daß ich nein sage.«
»Schade.« Der Meister betrachtete Krabat kopfschüttelnd. »Wenn du auf meinen Vorschlag nicht eingehst, wirst du wohl sterben müssen. Du weißt, daß im Schuppen ein Sarg bereitsteht.«
»Für wen?« sagte Krabat. »Das wird sich noch zeigen müssen.«
Der Meister verzog keine Miene. »Ist dir bekannt, was die Folge wäre, wenn eintreten würde, worauf du zu hoffen scheinst?«
»Ja«, sagte Krabat. »Ich könnte dann nicht mehr zaubern.«
»Und?« gab der Meister ihm zu bedenken. »Du wärest bereit, das in Kauf zu nehmen?«
Er schien einen Augenblick nachzudenken, dann lehnte er sich im Sessel zurück und sagte: »Nun gut - ich gewähre dir eine Frist von acht Tagen. In dieser Zeit, dafür sorge ich, wirst du Gelegenheit haben zu lernen, wie es sich lebt, wenn man nicht mehr zaubern kann. Alles und jedes, was du im Lauf der Jahre bei mir gelernt hast - von dieser Stunde an soll es aus und vergessen sein! Heute in einer Woche, am Vorabend des Silvestertages, werde ich dich ein letztes Mal fragen, ob du mein Nachfolger werden magst: dann wird es sich ja herausstellen, ob du auf deiner Antwort beharren willst.«
Das war eine harte Woche für Krabat, er fühlte sich in die Zeit seines Anfanges auf der Mühle zurückversetzt. Jeder Maltersack, der fünf Metzen wog, wog fünf Metzen, die wollten geschleppt sein: vom Speicher zur Mahlstube, von der Mahlstube auf den Speicher. Krabat blieb nichts erspart, seit er nicht mehr zaubern konnte: kein Schweißtropfen, keine Schwiele.
Abends sank er erschöpft auf den Strohsack. Er konnte nicht einschlafen, viele Stunden nicht. Wer zaubern kann, braucht nur die Augen zu schließen, er spricht eine Formel, dann schläft er schon, tief und fest, und so lang, wie er sich das vornimmt.
»Mag sein«, dachte Krabat, »daß ich die Fähigkeit, mich in Schlaf zu versetzen, am meisten von allem vermissen werde.«
Wenn er nach langem Wachliegen endlich einschlief, quälten ihn böse Träume: die kamen gewiß nicht von ungefähr. Er konnte sich an zwei Fingern ausrechnen, wer sie ihn träumen ließ.
Krabat, in abgerissenen Kleidern, plagt sich mit einem Karren voll Steine ab, den er mühsam bei glühender Sommerhitze an einem Strick über Land zieht. Es dürstet ihn, seine Kehle ist ausgedörrt. Nirgends ein Brunnen, und nirgends ein Baum, der ihm Schatten spendet.
Verdammter Karren!
Er muß ihn zu Ochsenblaschke nach Kamenz bringen, für einen Hungerlohn. Doch der Mensch muß von etwas leben, und seit er den Unfall hatte - in Gerbisdorf war das, da ist er ins Mahlwerk geraten, das hat ihm den rechten Arm bis zum Ellbogen abgequetscht: seither muß Krabat froh sein um jede Arbeit, die jemand wie Ochsenblaschke ihm zukommen läßt.
Und so schleppt er sich mit dem Karren voll Steine dahin, und er hört, wie er denkt - mit der heiseren Stimme des Meisters hört er sich denken: »Wie behagt dir das Leben als Krüppel, Krabat? Du hättest es einfacher haben können und besser, wenn du auf mich gehört hättest, als ich dich fragte, ob du mein Nachfolger werden wolltest im Koselbruch! Würdest du, wenn du heute die Wahl hättest, wieder nein sagen?«
Nacht für Nacht träumte Krabat, daß ihn ein ähnliches Schicksal ereilt habe. Er war alt oder krank, er saß unschuldig hinter Kerkermauern, man hatte ihn zur Armee gepreßt, er lag auf den Tod verwundet in einem Kornfeld und mußte zusehen, wie sich die niedergebrochenen Halme röteten von dem Blut, das aus seinen Wunden rann. Und am Schluß dieser Träume hörte er jedesmal, wie er sich mit der Stimme des Meisters fragte: »Würdest du wieder nein sagen, Krabat, wenn ich dich vor die Wahl stellte, ob du mein Nachfolger werden willst auf der Mühle im Koselbruch?«
Der Meister erschien ihm nur einmal leibhaftig im Traum, das geschah in der letzten Nacht vor Ablauf der Frist, die er ihm gesetzt hatte.
Juro zuliebe hat Krabat sich in ein Pferd verwandelt. Der Meister, gekleidet als polnischer Edelmann, hat ihn für hundert Gulden in Wittichenau auf dem Markt erstanden samt Sattel und Halfter: nun ist ihm der Rappe ausgeliefert.
Erbarmungslos jagt der Meister ihn kreuz und quer durch die Heide, es geht über Stock und Stein, über Hecken und Wassergräben, durch Dornengestrüpp und Morast.
»Gedenke, daß ich der Meister bin!«
Blindlings zieht ihm der Müller die Peitsche über, er stößt ihm die Sporen ins Fleisch. Blut fließt aus Krabats Flanken, er spürt, wie es warm an der Innenseite der Schenkel hinabrinnt.
»Dir werd ich's zeigen!«
Linksgalopp, Rechtsgalopp - und dann stracks auf das nächste Dorf zu. Ein Ruck an den Zügeln, sie halten vor einer Schmiede.
»He, Grobschmied - wo steckt Er, zum Teufel!«
Der Schmied kommt herbeigerannt, wischt sich am Schurzfell die Hände ab, fragt, was der Herr befehle. Der Meister springt aus dem Sattel. »Beschlag Er mir«, sagt er, »den Rappen mit glühenden Eisen.«
Der Schmied glaubt nicht recht zu hören.
»Mit - glühenden Eisen, Herr?«
»Muß man Ihm alles zweimal sagen? Ich soll Ihm wohl Beine machen!«
»Barto!« Der Schmied ruft nach seinem Lehrjungen. »Nimm die Zügel und halte dem gnädigen Herrn das Pferd!«
Der Schmiedejunge, ein sommersprossiger Knirps, könnte Loboschs Bruder sein.
»Nimm Er die schwersten Eisen«, verlangt der Müller, »die Er auf Vorrat hat! Zeig Er mir Seine Auswahl!«
Der Schmied führt ihn in die Werkstatt, während der Junge den Rappen festhält und ihm auf wendisch zuspricht: »Ruhig, mein Pferdchen, ruhig - du zitterst ja.«
Krabat reibt seinen Kopf an der Schulter des Jungen. »Wenn ich den Halfter los wäre«, denkt er, »dann könnte ich den Versuch machen, mich zu retten ...«
Der Junge merkt, daß der Rappe wund ist, am linken Ohr hat der Riemen ihn aufgescheuert.
»Warte mal«, sagt er, »da muß ich die Schnalle ein wenig lockern, das haben wir gleich.«
Er lockert die Schnalle, dann nimmt er dem Rappen den Halfter ab.
Krabat, sobald er des Halfters ledig ist, wird zum Raben. Krächzend erhebt er sich in die Lüfte und hält auf Schwarzkollm zu.
Im Dorf scheint die Sonne. Zu seinen Füßen sieht er die Kantorka, wie sie unweit des Brunnens steht, eine Strohschüssel in der Hand, und die Hühner füttert - da streift ihn ein Schatten, der Schrei eines Habichts gellt ihm ins Ohr. »Der Meister!« durchzuckt es Krabat.
Pfeilschnell, die Flügel angelegt, stürzt er sich in den Brunnen und nimmt die Gestalt eines Fisches an. Ist er gerettet? Zu spät wird ihm klar, daß er sich gefangen hat, daß es keinen Ausweg gibt.
»Kantorka!« denkt er mit aller Inbrunst, deren er fähig ist. »Hilf mir heraus da!«
Das Mädchen taucht ihre Hand in den Brunnen hinab, da wird Krabat zu einem schmalen Goldreif an ihrem Finger: so kehrt er zurück an die Oberwelt.
Am Brunnen steht, wie vom Himmel gefallen, ein polnisch gekleideter Edelmann, einäugig ist er, er trägt einen roten, silberverschnürten Reitrock mit schwarzen Tressen.
»Kann Sie mir sagen, Jungfer, woher Sie den feinen Ring hat? Laß Sie ihn mich mal sehen ...«
Schon streckt er die Hand nach dem Ring aus, schon greift er danach.
Krabat verwandelt sich in ein Gerstenkorn. Er entgleitet der Kantorka, fällt in die Strohschüssel.
Mit dem nächsten Wurf streut das Mädchen ihn unter das Hühnervolk.
Der Rotrock ist plötzlich verschwunden. Ein pechschwarzer fremder Gockel, einäugig, pickt nach den Körnern - doch Krabat ist schneller als er: seinen Vorteil wahrnehmend, wird er zu einem Fuchs. Blitzschnell stürzt er sich auf den Schwarzen und beißt ihm den Hals durch.
Es knirscht wie von Häcksel und Stroh zwischen seinen Zähnen. Wie Stroh knirscht es zwischen Krabats Zähnen, wie Häckerling.
Als Krabat erwachte, war er in Schweiß gebadet. Er hatte sich in den Strohsack verbissen, er keuchte, es dauerte eine Weile, bis er zur Ruhe kam.
Daß er den Meister im Traum überwunden hatte, nahm er als gutes Omen. Von jetzt an war er sich seiner Sache vollkommen sicher. Die Tage des Meisters, das glaubte er nun zu wissen, waren gezählt. Er, Krabat, würde dem Treiben des Müllers ein Ende setzen: ihm war es bestimmt, seine Macht zu brechen.
Am Abend begab er sich in die Meisterstube. »Es bleibt dabei!« rief er. »Mach du zu deinem Nachfolger, wen du magst. Ich, Krabat, weigere mich,
auf dein Angebot einzugehen.«
Der Meister nahm seine Worte gelassen hin. »Geh in den Holzschuppen«, sagte er, »und versieh dich mit Hacke und Spaten. Im Koselbruch gibt es ein Grab zu schaufeln - das soll deine letzte Arbeit sein.«
Krabat erwiderte nichts darauf, machte kehrt und verließ die Stube. Als er zum Schuppen kam, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten.
»Ich habe auf dich gewartet, Krabat. Soll ich dem Mädchen Bescheid sagen?«
Krabat zog aus der Brusttasche seines Kittels den Ring von Haar hervor. »Sage ihr«, bat er Juro, »daß ich ihr Botschaft sende durch dich. Und sie möge sich morgen, am letzten Abend des Jahres, beim Müller einfinden und mich freibitten, wie es besprochen ist.«
Er beschrieb ihm das Haus, wo sie wohnte.
»Wenn du ihr«, fuhr er fort, »den Ring zeigst, wird sie daraus ersehen, daß du in meinem Auftrag kommst. Und vergiß nicht, sie wissen zu lassen, daß es ihr freisteht, ob sie den Gang in den Koselbruch antreten will.
Wenn sie kommt, ist es gut - und wenn nicht, ist es auch gut: dann soll es mir gleichgültig sein, was mit mir geschieht.«
Er gab Juro den Ring und umarmte ihn.
»Du versprichst mir, es recht zu machen? Und daß du die Kantorka nicht überreden wirst, etwas zu tun, was sie lieber nicht täte?«
»Das verspreche ich«, sagte Juro.
Ein Rabe, im Schnabel den Ring von Haar, trat den Flug nach Schwarzkollm an. Krabat ging in den Schuppen. Stand da ein Sarg in der Ecke? Er schulterte Hacke und Spaten, dann stapfte er durch den Schnee in den Koselbruch, bis er zum Wüsten Plan kam.
Er fand eine Stelle, die sich als dunkles Geviert von der weißen Umgebung abhob.
War sie für ihn bestimmt - oder war es das Grab des Meisters, den sie bezeichnete?
»Morgen um diese Zeit«, dachte Krabat, den Spaten ansetzend, »wird das alles entschieden sein.«
Anderntags nach dem Frühstück nahm Juro den Freund beiseite und gab ihm den Ring zurück. Er habe das Mädchen gesprochen, alles sei abgemacht.
Gegen Abend, es wollte schon dunkeln, fand sich die Kantorka auf der Mühle ein, in der Abendmahlstracht mit dem weißen Stirnband. Hanzo empfing sie und fragte nach ihrem Begehr, sie verlangte den Müller zu sprechen.
»Der Müller bin ich.«
Die Burschen beiseite schiebend, trat ihr der Meister entgegen, in schwarzem Mantel und Dreispitz, bleich im Gesicht, wie mit Kalk bestrichen. »Was willst du?«
Die Kantorka blickte ihn furchtlos an.
»Gib mir«, begehrte sie, »meinen Burschen heraus!«
»Deinen Burschen?« Der Müller lachte. Es hörte sich an wie ein böses Meckern, ein Bocksgelächter. »Ich kenne ihn nicht.«
»Es ist Krabat«, sagte die Kantorka, »den ich liebhabe.«
»Krabat?« Der Meister versuchte sie einzuschüchtern. »Kennst du ihn überhaupt? Bist du fähig, ihn unter den Burschen herauszufinden?«
»Ich kenne ihn«, sagte die Kantorka.
»Das kann jede sagen!«
Der Meister wandte sich den Gesellen zu.
»Geht in die Schwarze Kammer und stellt euch in einer Reihe auf, nebeneinander, und rührt euch nicht!«
Krabat erwartete, daß sie sich nun in Raben verwandeln müßten. Er stand zwischen Andrusch und Staschko.
»Bleibt, wo ihr seid - und daß keiner mir einen Mucks macht! Auch du nicht, Krabat! Beim ersten Laut, den ich von dir höre, stirbt sie!«
Der Meister zog aus der Manteltasche ein schwarzes Tuch, das band er der Kantorka vor die Augen, dann führte er sie herein.
»Wenn du mir deinen Burschen zeigen kannst, darfst du ihn mitnehmen.«
Krabat erschrak, damit hatte er nicht gerechnet. Wie sollte er nun dem Mädchen helfen? Da nützte ihm auch der Ring von Haar nichts!
Die Kantorka schritt die Reihe der Burschen ab, einmal und zweimal. Krabat vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten. Sein Leben, das spürte er, war verwirkt. Und das Leben der Kantorka!
Angst übermannte ihn - Angst, wie er nie zuvor sie gespürt hatte. »Ich bin schuld, daß sie sterben muß«, ging es ihm durch den Kopf. »Ich bin schuld daran ...«
Da geschah es.
Die Kantorka, dreimal war sie die Reihe der Burschen entlanggeschritten, streckte die Hand aus und zeigte auf Krabat.
»Der ist es«, sagte sie.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Damit war alles entschieden.
Sie knüpfte das Tuch von den Augen, dann trat sie auf Krabat zu.
»Du bist frei.«
Der Meister taumelte gegen die Wand zurück. Die Burschen standen an ihren Plätzen, zu Eis erstarrt.
»Holt eure Sachen vom Boden - und geht nach Schwarzkollm!« sagte Juro. »Ihr könnt in der Scholtisei auf dem Heuboden übernachten.«
Da schlichen die Mühlknappen aus der Kammer.
Der Meister, sie wußten es alle, würde den Neujahrstag nicht erleben. Um Mitternacht mußte er sterben, dann würde die Mühle in Flammen aufgehen.
Merten mit seinem schiefen Hals drückte Krabat die Hand. »Nun sind Michal und Tonda gerächt — und die anderen auch.«
Krabat war außerstande, ein Wort zu sagen: er war wie versteinert. Da legte die Kantorka ihm den Arm um die Schulter und hüllte ihn in ihr wollenes Umtuch ein. Warm war es, weich und warm, wie ein Schutzmantel.
»Gehen wir, Krabat.«
Er ließ sich von ihr aus der Mühle führen, sie führte ihn durch den Koselbruch nach Schwarzkollm hinüber.
»Wie hast du mich«, fragte er, als sie die Lichter des Dorfes zwischen den Stämmen aufblinken sahen, hier eines, da eins - »wie hast du mich unter den Mitgesellen herausgefunden?«
»Ich habe gespürt, daß du Angst hattest«, sagte sie, »Angst um mich: daran habe ich dich erkannt.«
Während sie auf die Häuser zuschritten, fing es zu schneien an, leicht und in feinen Flocken, wie Mehl, das aus einem großen Sieb auf sie niederfiel.