Teil 1

1

Der Mann, der in der Nähe des Fensters stand, stank förmlich nach Angst. Er befand sich einige Schritte entfernt von den Glasscheiben und versuchte sich dazu zu zwingen, seine Furcht vor der Höhe zu überwinden und näher an das Turmfenster heranzutreten, um auf den weit unter ihm liegenden Boden hinabzublicken.

Danjin tat das jeden Tag. Auraya wollte ihn nicht daran hindern. Es kostete ihn großen Mut, sich seiner Angst zu stellen. Das Problem lag nur darin, dass sie seine Gedanken lesen und daher seine Furcht fühlen konnte. Dieser Umstand lenkte sie von den Fragen ab, auf die sie sich zu konzentrieren versuchte – im Augenblick handelte es sich dabei um einen weitschweifigen, langweiligen Brief eines Kaufmanns, der ein Anliegen an die Weißen hatte; er wünschte den Erlass eines Gesetzes, das es ihm als Einzigem gestattete, mit den Siyee Handel zu treiben.

Als Danjin sich vom Fenster abwandte, stellte er fest, dass sie ihn beobachtete, und runzelte die Stirn.

»Nein, du hast nichts von dem versäumt, was ich gesagt habe«, erklärte sie.

Er lächelte erleichtert. Es war ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden, Gedanken zu lesen. Die Gedanken anderer waren so leicht wahrzunehmen, dass sie sich konzentrieren musste, um sie auszublenden. Infolgedessen empfand sie den normalen Gesprächsfluss als zermürbend schwerfällig. Sie wusste, was jemand sagen würde, noch bevor er es aussprach, und sie musste sich dazu zwingen, mit einer Erwiderung auf die Gedanken des anderen zu warten. Es war unhöflich, eine Frage zu beantworten, bevor der Sprecher Gelegenheit hatte, sie zu stellen.

In Danjins Gegenwart war es ihr jedoch möglich, sich zu entspannen. Ihr Ratgeber akzeptierte, dass das Gedankenlesen zu ihr gehörte, und er war nicht gekränkt, wenn sie auf seine Gedanken reagierte, als hätte er sie laut ausgesprochen. Auraya war sehr dankbar für sein Verständnis.

Danjin ging zu einem Stuhl hinüber und setzte sich. Er blickte auf den Brief in ihren Händen hinab. »Bist du fertig?«, fragte er.

»Nein.« Sie wandte sich wieder dem Schreiben zu und zwang sich weiterzulesen. Als sie das Ende des Briefes erreichte hatte, sah sie wieder zu Danjin auf. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, und sie lächelte, als sie erkannte, in welche Richtung seine Gedanken gewandert waren.

Ich kann nicht glauben, dass schon ein Jahr vergangen ist, überlegte er. Ein Jahr, seit ich zum Ratgeber der Weißen geworden bin. Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, leuchteten seine Augen auf.

»Wie wirst du das Ende deines ersten Jahres als Weiße morgen feiern?«, fragte er.

»Ich nehme an, wir werden zum Essen zusammenkommen«, erwiderte Auraya. »Und wir werden uns auch im Altar treffen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht werden die Götter dir persönlich gratulieren.«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht. Vielleicht werden wir Weißen aber auch unter uns sein.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Juran wird wahrscheinlich auf die Ereignisse des Jahres zurückblicken wollen.«

»Dann hat er aber eine Menge zu tun.«

»Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Ich hoffe, dass nicht jedes Jahr meines Lebens als Weiße so aufregend sein wird. Zuerst die somreyanische Allianz, dann meine Zeit in Si, dann der Krieg. Ich hätte nichts dagegen, andere Länder zu besuchen oder nach Somrey und Si zurückzukehren, aber es wäre mir lieber, wenn ich nie wieder in den Krieg ziehen müsste.«

Er verzog zustimmend das Gesicht. »Ich wünschte, ich könnte mit Gewissheit sagen, dass ein weiterer Krieg zu meinen Lebzeiten unwahrscheinlich ist.« Aber das kann ich nicht, beendete er seinen Satz schweigend.

Sie nickte. »Mir geht es genauso.« Wir können nur darauf vertrauen, dass die Götter einen guten Grund hatten, uns zu befehlen, die pentadrianischen Zauberer am Leben zu lassen. Nachdem ihr stärkster Zauberer tot ist, sind die Pentadrianer schwächer als die Zirkler – für den Augenblick. Sie brauchen nur einen Ersatz für ihn zu finden, um abermals zu einer Bedrohung für Nordithania zu werden.

Früher einmal hätte sie sich deswegen keine Sorgen gemacht. So mächtige Zauberer wie die Anführer der Pentadrianer wurden nicht häufig geboren – vielleicht einer in hundert Jahren. Dass fünf solcher Zauberer innerhalb einer Generation in Südithania an die Macht gekommen waren, war außergewöhnlich. Die Weißen konnten es nicht riskieren zu hoffen, dass abermals hundert Jahre verstreichen würden, bevor die Pentadrianer einen Zauberer fanden, der stark genug war, um Kuar zu ersetzen.

Wir hätten die vier Überlebenden töten sollen, dachte Auraya. Aber die Schlacht war vorüber gewesen. Es hätte wie Mord gewirkt. Ich muss zugeben, dass es mir lieber wäre, wenn wir Weißen mehr für unsere Barmherzigkeit bekannt wären als für Skrupellosigkeit. Vielleicht ist das ja auch die Absicht der Götter.

Sie blickte auf den Ring an ihrer Hand hinab. Durch diesen Ring verstärkten die Götter ihre natürliche magische Kraft und verliehen ihr Gaben, die nur wenige Zauberer je besessen hatten. Es war ein schlichter weißer Ring – nichts Außergewöhnliches -, und ihre Hand sah genauso aus wie vor einem Jahr. Viele Jahre würden verstreichen, bevor offenbar wurde, dass sie nicht um einen einzigen Tag gealtert war, seit sie den Schmuck übergestreift hatte.

Die anderen Weißen lebten schon weit länger. Juran war vor über hundert Jahren der Erste gewesen, den die Götter erwählt hatten. Er hatte jeden einzelnen Menschen, den er vor seiner Erwählung gekannt hatte, alt werden und sterben sehen. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, was für ein Gefühl das sein musste.

Dyara war die Nächste gewesen, dann waren in Abständen von jeweils fünfundzwanzig Jahren Mairae und Rian hinzugekommen. Selbst Rian war schon so lange ein Unsterblicher, dass die Menschen, die ihn vor seiner Erwählung gekannt hatten, inzwischen bemerkt haben mussten, dass er seither nicht um einen einzigen Tag gealtert war.

»Ich habe Gerüchte gehört, nach denen der sennonische Kaiser seinen Bündnisvertrag mit den Pentadrianern nur wenige Stunden nach ihrer Niederlage zerrissen haben soll«, sagte Danjin. »Weißt du, ob das der Wahrheit entspricht?«

Auraya blickte zu ihm auf und kicherte. »Dann breitet sich das Gerücht also aus. Wir sind uns noch nicht sicher, ob es wahr ist. Der Kaiser hat nach der Unterzeichnung des Vertrags all unsere Priester und Priesterinnen aus Sennon fortgeschickt, daher war keiner von ihnen dort, um zu bezeugen, ob er ihn zerrissen hat oder nicht.«

»Anscheinend war ein Traumweber dort«, sagte Danjin. »Hast du in letzter Zeit einmal mit Traumweberratgeberin Raeli gesprochen?«

»Nicht mehr, seit wir zurückgekehrt sind.« Seit dem Krieg hatte sie, wann immer die Rede auf die Traumweber kam, das Gefühl, als berühre jemand eine verheilende Wunde. Bei solchen Gelegenheiten wandten sich ihre Gedanken stets Leiard zu.

Eine Flut von Erinnerungen schlug über ihr zusammen, und sie wandte den Blick ab. Einige dieser Erinnerungen zeigten den weißhaarigen, bärtigen Mann, der in dem Wald in der Nähe ihres Heimatdorfs gelebt hatte – den Mann, der sie so vieles über Heilmittel, die Welt und die Magie gelehrt hatte. Andere Erinnerungen stammten aus jüngerer Zeit und galten dem Mann, den sie – dem allgemeinen Vorurteil der Zirkler gegen ihre vermeintlichen Widersacher zum Trotz – zu ihrem Ratgeber in Angelegenheiten der Traumweber ernannt hatte. Dann neckte ihr Geist sie mit Erinnerungen an intimere Augenblicke: die Nacht vor ihrem Aufbruch nach Si, als sie ein Liebespaar geworden waren, die Traumvernetzungen, in denen sie einander ihr Begehren übermittelt hatten, und die heimlichen Treffen in seinem Zelt, als sie beide getrennt in die Schlacht gezogen waren – sie, um zu kämpfen, er, um die Verwundeten zu heilen.

Und schließlich überlief sie ein Frösteln, als ihr ein Bild des Bordelllagers in den Sinn kam. Sie hatte Leiard dort gefunden, nachdem Juran ihre Affäre entdeckt und ihn fortgeschickt hatte. Sie konnte ihn noch immer vor ihrem inneren Auge sehen, von oben betrachtet, während die Zelte von goldenem Morgenlicht überhaucht waren.

Der Gedanke, den sie von ihm aufgefangen hatte, wiederholte sich in ihren eigenen Gedanken. Es ist nicht so, dass ich Auraya nicht für attraktiv oder klug oder freundlich halten würde. Sie ist nur all diesen Ärger einfach nicht wert.

Er hatte in gewisser Weise recht gehabt. Ihre Affäre würde unweigerlich einen Skandal nach sich ziehen, wenn sie öffentlich bekannt würde. Es war selbstsüchtig, ihrem eigenen Vergnügen nachzujagen, wenn es bedeutete, dass andere dafür würden leiden müssen.

Dieses Wissen hatte den Schock nicht gemildert, dass sie an diesem Tag in seinen Gedanken keine Liebe, kein Bedauern gefunden hatte. Die Liebe, die sie so viele Male bei ihm gespürt und für die sie so viel riskiert hatte, war gestorben, allzu leicht getötet von Furcht. Ich sollte Juran dafür dankbar sein, sagte sie sich. Wenn Leiard seine Liebe so leicht der Furcht zu opfern bereit war, dann hätte ohnehin irgendjemand oder irgendetwas diese Liebe früher oder später getötet. Wer eine Weiße liebt, muss stärker sein. Beim nächsten Mal werde ich mir keinen so schwachen Mann aussuchen, und je eher ich Leiard vergesse, umso eher werde ich jemanden finden, der… der

Was? Sie schüttelte den Kopf. Es war noch zu früh, um an einen neuen Geliebten zu denken. Wenn sie sich wieder verliebte, würden ihre Gefühle sie dann abermals zu verantwortungslosen, schändlichen Taten hinreißen? Nein, sie sollte sich besser mit ihrer Arbeit beschäftigen.

Danjin beobachtete sie geduldig, und mit seinem Verdacht, worüber sie nachdenken mochte, kam er der Wahrheit nur allzu nahe. Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen.

»Hast du mit Raeli gesprochen?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Wir haben ein- oder zweimal ein paar Worte gewechselt, aber nicht zu diesem Thema. Möchtest du, dass ich sie danach befrage?«

»Ja, aber nicht vor dem morgigen Treffen am Altar. Wir werden gewiss über Sennon reden, und die anderen Weißen werden die Wahrheit vielleicht bereits kennen.« Sie blickte noch einmal auf den Brief des Kaufmanns hinab. »Ich werde vorschlagen, dass wir Priester und Priesterinnen nach Si schicken.«

Danjin wirkte nicht überrascht. »Als zusätzlichen Schutz?«

»Ja. Die Siyee haben während des Krieges schreckliche Verluste erlitten. Selbst mit ihren neuen Jagdgeschirren werden sie niemals in der Lage sein, Invasoren zurückzuschlagen. Wir sollten zumindest sicherstellen, dass sie sich sofort mit uns in Verbindung setzen können, falls sie unsere Hilfe benötigen.«

Der Gedanke an die Siyee erfüllte sie mit einer anderen Art von Sehnsucht und Schmerz. Die Monate, die sie in Si verbracht hatte, waren allzu kurz gewesen. Sie wünschte, sie hätte einen Grund, dorthin zurückzukehren. Neben der aufrichtigen, unkomplizierten Lebensart der Siyee erschienen ihr die Ansprüche und Sorgen ihres eigenen Volkes lächerlich oder unnötig schäbig und selbstsüchtig.

Doch ihr Platz war hier. Die Götter mochten ihr die Gabe des Flugs gegeben haben, so dass sie über die Berge reisen und die Siyee überreden konnte, ein Bündnis mit den Weißen zu schließen, aber das bedeutete nicht, dass sie ein Volk dem anderen vorziehen durfte.

Dennoch darf ich auch die Siyee nicht im Stich lassen. Ich habe sie in den Krieg und in den Tod geführt. Ich muss dafür sorgen, dass sie wegen ihres Bündnisses mit uns nicht noch mehr Verluste erleiden.

»Der größte Teil ihres Landes ist für Landgeher fast unpassierbar«, bemerkte Danjin. »Das wird das Fortkommen von Eindringlingen verlangsamen und ihnen Zeit geben, Hilfe zu rufen.«

Sie lächelte über seine Verwendung des Ausdrucks der Siyee für gewöhnliche Menschen. »Vergiss die Zauberin nicht, die im vergangenen Jahr in Si eingedrungen ist, und diese grausamen Vögel, die sie hält. Selbst Zauberer von geringer Stärke könnten eine Menge Schaden anrichten, wenn sie unbemerkt ins Land gelangten.«

»Trotzdem, wenn die Pentadrianer uns abermals angreifen wollten, würden sie sich gewiss nicht mit Si abgeben.«

»Si ist dasjenige unserer verbündeten Länder, das dem südlichen Kontinent am nächsten liegt. Es gibt keine Priester dort, und die wenigen Siyee, die Gaben besitzen, verfügen nur über eine geringe Ausbildung. Sie sind unser schwächster Verbündeter.«

Danjin blickte nachdenklich drein, dann nickte er. »Es ist nicht so, als könnte Jarime nicht einige Priester und Priesterinnen erübrigen. Aber auf jeden Fall sollten unerschrockene junge Leute, die du nach Si schickst, auch gute Heiler sein. Du willst dir die Dankbarkeit der Siyee gewiss erhalten. In zwanzig Jahren werden sich die älteren Siyee noch immer daran erinnern, dass du König Berro gezwungen hast, die torenischen Siedler aus ihrem Land zu entfernen. Die jüngeren Siyee werden die Bedeutung dieser Tat nicht verstehen – oder sie werden sich einreden, dass sie es auch ohne dich geschafft hätten. Es wäre durchaus möglich, dass sie sich das jetzt schon einreden.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

»Vorstellbar wäre es. Die Menschen können sich alles einreden, wenn sie einen Schuldigen suchen.«

Sie zuckte zusammen. Einen Schuldigen. Die Trauer hatte einige Leute dazu getrieben, die Schuld am Tod geliebter Menschen während des Krieges bei den Weißen oder sogar bei den Göttern zu suchen. Ihre Fähigkeit, die Trauer anderer zu spüren, war ein weiterer Nachteil ihrer Gabe, Gedanken zu lesen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als betrauere jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt den Verlust eines Verwandten oder Freundes.

Dann waren da noch die Überlebenden. Sie war nicht die Einzige, die von unwillkommenen Erinnerungen an den Krieg gequält wurde. Jeder, der gekämpft hatte, hatte schreckliche Dinge gesehen, und nicht alle Menschen konnten vergessen. Auraya schauderte bei dem Gedanken an die Alpträume, die sie seit der Schlacht gequält hatten. In diesen Träumen ging sie endlos über ein Schlachtfeld, und die verstümmelten Leichen von Männern und Frauen flehten um Hilfe oder schrien ihre Anklagen heraus.

Wir müssen alles tun, um einen weiteren Krieg zu vermeiden, ging es ihr durch den Kopf. Oder wir müssen eine bessere Möglichkeit finden, uns zu verteidigen. Wir Weißen verfügen über große magische Stärke. Gewiss können wir einen Weg finden, eine Schlacht zu bestreiten, ohne dass so viele Menschen sterben müssen.

Aber selbst wenn sie einen solchen Weg fanden, würde er ihnen vielleicht nichts nutzen, falls die Götter der Feinde real waren. Sie dachte an einen Morgen einige Tage vor der Schlacht zurück, als sie beobachtet hatte, wie die pentadrianische Armee die Minen verließ. Ihr Anführer hatte eine leuchtende Gestalt heraufbeschworen. Sie hätte das Bild als Illusion abtun können, hätten ihre Sinne ihr nicht gesagt, dass diese Gestalt über ungeheure magische Macht verfügte.

Die Zirkler hatten immer geglaubt, dass die Pentadrianer falschen Göttern folgten. Dass der Zirkel der Fünf aus den einzig wahren Göttern zusammengesetzt war, die den Krieg der Götter überlebt hatten. Wenn sie einen realen Gott gesehen hatte, wie war das dann möglich?

Die Weißen hatten nach der Schlacht die Götter befragt. Chaia hatte es durchaus für denkbar gehalten, dass sich seit dem Krieg neue Götter erhoben hatten. Er und die anderen Götter gingen dieser Frage derzeit nach.

Seither hatte sie die verschiedenen Möglichkeiten viele Male mit den anderen Weißen erörtert. Rian widerstrebte es, zu akzeptieren, dass neue Götter geboren worden sein könnten. Obwohl er normalerweise so leidenschaftlich und zuversichtlich war, brachte ihn die Aussicht auf neue Götter aus der Fassung und machte ihn wütend. Auraya verstand langsam, was hinter seiner Einstellung steckte: Für ihn mussten die Götter eine unbezwingbare Kraft in der Welt darstellen. Eine Kraft, die immer gleich blieb und auf die er sich verlassen konnte.

Mairae dagegen war unbesorgt. Die Vorstellung, dass es neue Götter auf der Welt geben könnte, beunruhigte sie nicht. »Wir dienen unseren fünf Göttern, das ist alles, was zählt«, hatte sie einmal gesagt.

Juran und Dyara waren nicht davon überzeugt, dass der »Gott«, den Auraya gesehen hatte, real war. Dennoch waren sie besorgter als Mairae. Wie Juran erklärt hatte, wären reale Götter eine große Bedrohung für Nordithania. Seiner Meinung nach hatten die Pentadrianer behauptet, dass ihre falschen Götter sie in den Krieg geschickt hätten, um sich auf diese Weise den Gehorsam ihres Volkes zu sichern. Jetzt war es möglich, dass diese Götter real waren und dass sie die Pentadrianer ermutigt oder ihnen vielleicht sogar befohlen hatten, in zirklische Länder einzufallen.

In einem Punkt waren sie sich alle einig: Wenn einer der pentadrianischen Götter tatsächlich existierte, existierten die übrigen wahrscheinlich ebenfalls. Kein Gott würde seinen Anhängern gestatten, neben ihm noch falschen Göttern zu dienen.

Auraya runzelte die Stirn. Ich bin davon überzeugt, dass das, was ich gesehen habe, ein realer Gott war, daher muss ich davon ausgehen, dass es fünf neue Götter auf dieser Welt gibt. Aber das ist doch gewiss

»Auraya?«

Sie zuckte zusammen und blickte zu Danjin auf. »Ja?«

»Hast du überhaupt etwas von dem gehört, was ich gerade gesagt habe?«

Sie verzog das Gesicht. »Nein. Entschuldige.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du brauchst dich bei mir nicht zu entschuldigen. Was immer dich so gründlich ablenken kann, muss wichtig sein.«

»Ja, aber es ist nichts, was mich nicht schon tausend Mal zuvor abgelenkt hätte. Was hast du gesagt?«

Danjin breitete die Hände aus und machte sich geduldig daran, noch einmal zu wiederholen, was er ihr erzählt hatte.


Emerahl saß reglos da.

Aus allen Richtungen drangen die Laute des nächtlichen Waldes auf sie ein: das Rascheln von Blättern, das Zirpen von Vögeln, das Knacken von Zweigen… Und irgendwo, nicht allzu weit entfernt, war das schwache Geräusch von Tritten zu hören.

Als es näher kam, straffte sie sich. Ein Schatten glitt in das Licht der Sterne.

Was ist das? Etwas Essbares, hoffe ich. Komm näher, kleine Kreatur

Das Etwas befand sich auf ihrer windabgewandten Seite, aber das sollte keine Rolle spielen. Sie hatte sich mit einer magischen Barriere umgeben, so dass die Gerüche, die sie verströmte, nicht nach außen dringen konnten.

Und davon gibt es mehr als genug, dachte sie kläglich. Nach einem Monat des Reisens und ohne Kleider zum Wechseln würde jeder übel riechen. Wie Rozea lachen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Die Favoritin ihres Hurenhauses schläft, bedeckt mit Schlamm und Dreck, auf hartem Boden, und ihr einziger Gefährte ist ein verrückter Traumweber.

Sie dachte an Mirar, der einige hundert Schritte hinter ihr am Feuer saß. Wahrscheinlich brabbelte er wieder vor sich hin und stritt mit der anderen Identität in seinem Kopf.

Dann kam die Kreatur in Sicht, und alle Gedanken an Mirar waren vergessen.

Ein Breem!, durchzuckte es sie. Ein wohlschmeckendes, fettes kleines Breem!

Sie sandte einen Strahl Magie aus, der das Tier auf der Stelle tötete. Dann stand sie auf, hob das kleine Geschöpf auf und traf alle Vorbereitungen, um es später garen zu können. Sie häutete es, weidete es aus und suchte sich schließlich einen guten Bratstock. Als alle Vorarbeiten erledigt waren, ging sie mit erwartungsvoll knurrendem Magen zurück zu ihrem Lagerfeuer.

Mirar saß genau so da, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er starrte in die Flammen, und seine Lippen bewegten sich. Er bemerkte nicht, dass sie näher gekommen war. Sie wählte ihre Schritte mit großer Vorsicht, weil sie hoffte, ein wenig von seinen Worten hören zu können, bevor er ihrer gewahr wurde und in Schweigen verfiel.

»… wirklich nicht wichtig, ob sie dir vergibt oder nicht. Du darfst sie nicht wiedersehen.«

»Es ist wichtig. Es könnte für unsere Leute wichtig sein.«

»Vielleicht. Aber was willst du sagen? Dass du in jener Nacht nicht du selbst warst?«

»Es ist die Wahrheit.«

»Sie wird dir nicht glauben. Sie wusste, dass ich in dir existierte, aber sie hat nie genug mitbekommen, um zu begreifen, was das bedeutete. Wenn ihr zusammen wart, habe ich mich zurückgehalten. Meinst du, ich hätte das aus reinem Anstand getan?«

Er schwieg eine Weile.

»Sie«, dachte Emerahl. Wer ist »sie«? Eine Frau, der er Unrecht getan hat, wenn dieses Gerede von Vergebung etwas zu bedeuten hat. War diese Frau der Quell all seiner Schwierigkeiten, oder ist sie nur für einen Teil davon verantwortlich? Sie lächelte. Typisch Mirar.

Sie wartete, aber er blieb still. Ihr Magen rumorte. Er blickte auf, und sie trat vor, als sei sie gerade erst gekommen.

»Eine erfolgreiche Jagd«, erklärte sie ihm und hielt das Breem hoch.

»Das ist den Tieren gegenüber wohl kaum gerecht«, sagte er. »Gegen eine große Zauberin antreten zu müssen.«

Sie zuckte die Achseln. »Es wäre nicht gerechter, wenn ich einen Bogen hätte und eine gute Schützin wäre. Was hast du getan?«

»Ich habe darüber nachgedacht, wie schön es wäre, wenn es keine Götter gäbe.« Er stieß einen sehnsüchtigen Seufzer aus. »Welchen Sinn hat es, ein mächtiger, unsterblicher Zauberer zu sein, wenn man nichts Nützliches tun kann, weil man stets befürchten muss, ihre Aufmerksamkeit zu erregen?«

Sie machte sich daran, das Breem über das Feuer zu hängen. »Was würdest du denn gern Nützliches tun, das ihre Aufmerksamkeit erregen würde?«

Er zuckte die Achseln. »Einfach nur… irgendetwas, das nützlich wäre.«

»Nützlich für wen?«

»Für andere Menschen«, erwiderte er mit einem Hauch von Entrüstung. »Dinge wie… wie das Freiräumen einer Straße nach einem Erdrutsch. Dinge wie das Heilen.«

»Du würdest nichts für dich selbst tun?«

Er rümpfte die Nase. »Gelegentlich. Es könnte notwendig werden, mich zu schützen.«

Emerahl lächelte. »Das wäre möglich.« Als sie sich davon überzeugt hatte, dass das Breem in der richtigen Position über den Flammen hing, hockte sie sich auf den Boden. »Es wird immer Götter geben, Mirar. Wir haben es in der letzten Zeit lediglich geschafft, ihnen in die Quere zu kommen.«

Mirar lachte verbittert auf. »Ich bin ihnen in die Quere gekommen. Ich habe sie provoziert. Ich habe versucht, sie daran zu hindern, Menschen zu betrügen und die Macht an sich zu reißen, indem ich die Wahrheit über sie verbreitet habe. Aber du und die anderen…« Er schüttelte den Kopf. »Ihr habt nichts getan. Nichts, außer eure Macht zu genießen. Dafür haben sie uns den Namen ›Wilde‹ gegeben und ihre Lakaien ausgesandt, uns zu töten.«

Sie zuckte die Achseln. »Die Götter haben uns immer im Zaum gehalten. Du kannst nach wie vor andere Menschen heilen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.«

Er hörte nicht zu. »Es ist so, als wäre man in einer Kiste gefangen. Ich möchte hinaus ins Freie und meine Glieder recken!«

»Wenn du das tust, sei so freundlich und tu es weit entfernt von mir. Es gefällt mir immer noch, am Leben zu sein.« Sie blickte auf. »Bist du dir sicher, dass die Siyee unser Feuer nicht sehen werden?«

»Ganz sicher«, erwiderte er. »Es ist gefährlich, in mondlosen Nächten in diesen engen Schluchten der Berge zu fliegen. Sie sehen gut, aber nicht so gut.«

Emerahl drehte das aufgespießte Breem über dem Feuer und sah dann Mirar an. Er lehnte an einem Baumstamm. Das gelbe Licht des Feuers betonte die kantigen Umrisse seines Kinns und ließ seine blauen Augen hellgrün schimmern.

Als er sich zu ihr umwandte und ihren Blick erwiderte, durchzuckte sie eine erregende Mischung aus Schmerz und Glück. Sie hatte geglaubt, dass sie ihn nie wiedersehen würde, und jetzt saß er dort, lebendig und…

… nicht ganz er selbst. Sie wandte den Blick ab und dachte an die Gelegenheiten, bei denen sie versucht hatte, ihm Fragen zu stellen. Er konnte ihr nicht erzählen, wie es kam, dass er noch lebte. Er hatte keine Erinnerung an das Ereignis, das ihn hätte töten sollen, obwohl er davon gehört hatte. Dies machte seine Behauptungen, er trage noch eine zweite Persönlichkeit in sich – Leiard -, glaubwürdiger. Leiard vermutete, dass er eine Annäherung an Mirars Persönlichkeit in seinem Geist trug, gebildet aus der großen Anzahl von Netzerinnerungen an den toten Anführer der Traumweber.

Aber dies ist Mirars Körper, dachte sie. Oh, er ist viel dünner als früher, und sein weißes Haar lässt ihn erheblich älter aussehen, aber seine Augen sind dieselben.

Mirar glaubte, dass sein Körper sein eigener war, konnte aber nicht erklären, warum es sich so verhielt. Leiard dagegen hielt es für einen bloßen Zufall, dass er Mirar ähnelte. Wenn Leiard die Kontrolle hatte, bewegte er sich vollkommen anders als Mirar, und Emerahl fragte sich, wie es ihr überhaupt gelungen war, ihn wiederzuerkennen. Erst wenn Mirar die Kontrolle übernahm, war sie wirklich davon überzeugt, dass es sein Körper war.

Also hatte sie Leiard nach den Netzerinnerungen gefragt. Wenn das, was er sagte, die Wahrheit war, wie hatte sich das Ganze dann entwickelt? Wie war er zu einer so großen Anzahl von Mirars Netzerinnerungen gekommen? War es möglich, dass Leiard oder jemand, mit dem Leiard sich vernetzt hatte, Mirars Netzerinnerungen von vielen, vielen Traumwebern gesammelt hatte?

Leiard konnte nicht mehr sagen, von wem er die Erinnerungen hatte. Tatsächlich erwies sich sein Gedächtnis als ebenso unzuverlässig wie das von Mirar. Es war, als hätten die beiden jeweils eine halbe Vergangenheit, obwohl keine der beiden Hälften die Lücken in der jeweils anderen zu füllen vermochte.

Sie hatte sowohl Leiard als auch Mirar nach dem Turmtraum gefragt, der sie seit Monaten verfolgte und der ihr, wie sie vermutete, Mirars Tod zeigte. Keiner der beiden Männer hatte den Traum erkannt, obwohl es Emerahl schien, als verursache er Mirar Unbehagen.

Es war ungemein ärgerlich. Sie war sich nicht sicher, was Mirar von ihr wollte. Als sie ihn auf dem Schlachtfeld entdeckt hatte, hatte er die Verletzten geheilt, geradeso wie alle anderen Traumweber es taten, aber offenkundig war diese Tarnung nicht ausreichend gewesen, sonst hätte er sie nicht gebeten, ihn fortzubringen. Allerdings hatte er nicht gesagt, wohin sie ihn bringen sollte. Diese Entscheidung hatte er ihr überlassen.

Da sie wusste, dass er dazu neigte, sich Ärger mit den Göttern einzuhandeln, hatte sie ihn an den sichersten und entlegensten Ort gebracht, den sie kannte. Schon bald darauf hatte sie Leiard entdeckt. Er schien ihre Gesellschaft nur deshalb zu akzeptieren, weil er keine andere Wahl hatte. Sie konnte die Gefühle beider Männer wahrnehmen. Die Erkenntnis, dass Mirars Geist offen und leicht zu lesen war, war ein Schock für sie gewesen. Erst mit einiger Verzögerung hatte sie sich daran erinnert, dass Mirar seine Gedanken niemals so gut hatte verbergen können wie sie selbst. Es war eine Fähigkeit, die zu erwerben Zeit und die Hilfe eines Gedankenlesers erforderte, und wie alle Gaben musste man sie stets üben, oder der Geist verlernte sie.

Das bedeutete, dass die Götter seine Gedanken lesen würden, wenn sie zufällig in seine Richtung schauten, und durch ihn würden sie sie sehen. Mirar wusste, wer sie war.

Natürlich würden sie eigentlich keinen Grund haben, diesen halbverrückten Traumweber überhaupt zu beachten. Eines wusste sie über die Götter: Auch sie konnten niemals an mehr als einem Ort zugleich sein. Entfernungen konnten sie binnen eines Augenblicks überwinden, aber ihre Aufmerksamkeit galt stets nur einem Punkt. Da sie so viele Dinge beschäftigten, waren die Chancen, dass sie Mirar bemerkten, gering.

Und wenn sie ihn bemerkten, für wen würden sie diese Person halten? Für Leiard oder für Mirar? Mirar hatte ihr etwas über die Götter erzählt, das sie zuvor nicht gewusst hatte. Sie konnten die körperliche Welt nur durch die Augen von Sterblichen sehen. Nach hundert Jahren lebten keine Sterblichen mehr, die Mirar schon früher begegnet waren, daher würde niemand ihn erkennen. Selbst jene Traumweber, die von ihren Vorgängern Netzerinnerungen an Mirar hatten, würden ihn jetzt nicht wiedererkennen. Die Erinnerung an die äußere Erscheinung war individuell verschieden.

Die einzigen Menschen, die ihn noch erkennen konnten, waren Unsterbliche: sie, andere Wilde und Juran von den Weißen. Doch der Mirar, den sie kannten, hatte viel gesünder ausgesehen als dieser Mann. Sein Haar war blond gewesen und sorgfältig frisiert. Er hatte glatte Haut und mehr Fleisch auf den Knochen gehabt. Als sie einmal eine Bemerkung über seine Veränderung gemacht hatte, hatte er gelacht und sich selbst beschrieben, wie er zwei Jahre zuvor ausgesehen hatte. Er hatte langes weißes Haar und einen Bart getragen und war noch magerer gewesen als jetzt.

Er machte sich größere Sorgen, dass man ihn als Leiard erkennen könnte, obwohl er den Grund dafür nicht nennen wollte. Anscheinend besaß Leiard eine ebenso große Begabung wie Mirar, sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Der Marsch durch die Berge von Si war schwierig und langwierig, aber nicht unmöglich für Menschen, die über solch starke Gaben verfügten wie sie. Falls sie verfolgt wurden, mussten ihre Verfolger inzwischen weit zurückgefallen sein.

Mirar gähnte. »Wie lange dauert es noch?«

»Das lässt sich nicht sagen«, erwiderte sie. Sie hatte sich geweigert, ihm zu erklären, wohin sie gingen. Wenn er es gewusst hätte, hätten die Götter es möglicherweise in seinen Gedanken lesen und jemanden vorausschicken können, der sie abfing.

Ein Lächeln zuckte um seine Lippen. »Ich meinte, wie lange dauert es noch, bis das Breem gar ist?«

Sie lachte leise. »Wer’s glaubt! Du hast bisher jeden Abend gefragt, wie lange wir noch unterwegs sein werden.«

»Das ist wahr.« Er lächelte. »Also, wie lange noch?«

»Eine Stunde«, antwortete sie und deutete mit dem Kopf auf das Breem.

»Warum garst du es nicht mit Magie?«

»Das Fleisch schmeckt besser, wenn man es langsam gart, und außerdem bin ich zu müde, um mich zu konzentrieren.« Sie musterte ihn kritisch. Er sah erschöpft aus. »Schlaf jetzt ein wenig. Ich wecke dich, wenn das Essen fertig ist.«

Sein Nicken war kaum wahrnehmbar. Sie erhob sich und machte sich auf die Suche nach frischem Feuerholz. Morgen würden sie ihr Ziel erreichen. Morgen würden sie sich endlich vor den Blicken der Götter verstecken können.

Und dann?

Sie seufzte. Dann werde ich versuchen herauszufinden, was in seinem verworrenen Geist eigentlich vorgeht.

2

Die sind ja wunderschön«, sagte Teiti, als sie zum nächsten Marktstand weiterging.

Imi blickte zu den Lampen auf. Eine jede war aus einer riesigen Muschel gemacht, in die winzige Löcher gestoßen worden waren, so dass die Flamme im Innern der Lampe tausende kleiner nadelgroßer Lichtstrahlen aussandte. Sie waren sehr hübsch, aber nicht kostbar genug für ihren Vater. Nur etwas Seltenes würde ihn zufriedenstellen. Sie rümpfte die Nase und wandte den Blick ab.

Teiti verlor kein Wort mehr über die Lampen. Ihre Tante war lange genug Imis Beschützerin gewesen, um zu wissen, dass der Versuch, sie von der Schönheit eines Gegenstands zu überzeugen, genau das Gegenteil bewirken würde. Sie schlenderten zum nächsten Marktstand weiter. Dort standen dicht an dicht Schalen, die bis zum Rand mit Pulvern aller Farben gefüllt waren, während in anderen Gefäßen getrocknete Korallen und Algen zur Schau gestellt wurden, kostbare Steine, getrocknete oder konservierte Meerestiere und Pflanzen, die über und unter dem Wasser wuchsen.

»Sieh nur«, rief Teiti. »Amma! Das ist sehr selten. Dufthersteller machen daraus wunderbare Essenzen.«

Der Verkäufer, ein dicker Mann mit fettiger Haut, verbeugte sich vor Imi. »Hallo, kleine Prinzessin. Hat das Amma eure Aufmerksamkeit erregt?«, fragte er strahlend. »Es sind die getrockneten Tränen des Riesenfischs. Sehr selten. Möchtest du einmal daran riechen?«

»Nein.« Imi schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir schon früher Amma gezeigt.«

»Natürlich.« Er verbeugte sich, während Imi sich abwandte. Teiti wirkte enttäuscht, sagte jedoch nichts. Als sie an mehreren weiteren Marktbuden vorbeikamen, stieß Imi schließlich einen Seufzer aus.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich hier irgendetwas finden werde«, jammerte sie. »Die seltensten und kostbarsten Dinge sind ohnehin direkt an meinen Vater gegangen, und er lässt bereits die besten Handwerker der Stadt für sich arbeiten.«

»Alles, was du ihm schenkst, wird kostbar sein«, erwiderte Teiti. »Selbst wenn es nur eine Handvoll Sand wäre, wäre sie ihm teuer.«

Imi runzelte ungeduldig die Stirn. »Ich weiß, aber dies ist sein vierzigster Ersttag. Das ist etwas ganz Besonderes. Ich muss etwas für ihn finden, das besser ist als alles, was er je bekommen hat. Ich wünschte…«

Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Ich wünschte, er hätte zugestimmt, mit den Landgehern Handel zu treiben. Dann könnte ich etwas für ihn finden, das er noch nie zuvor gesehen hat.

Das war etwas, von dem sie eigentlich nichts hätte wissen dürfen. An dem Tag, an dem die Landgeherzauberin in die Stadt gekommen war, war Imi in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen. Sie hatte Teiti rausgeschickt, damit ihre Tante herausfand, was vorging – aber das war nicht der einzige Grund gewesen. Imi hatte außerdem etwas tun wollen, bei dem sie nicht gesehen werden durfte.

Hinter einer alten, geschnitzten Vertäfelung in ihrem Zimmer befand sich ein schmaler Tunnel, der gerade so breit war, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Er war ursprünglich versperrt gewesen, aber sie hatte den Durchgang schon vor langer Zeit geöffnet. Am Ende des Gangs befand sich ein geheimer, mit Rohren gesäumter Raum. Wenn sie ein Ohr an eines der Rohre legte, konnte sie hören, was am anderen Ende gesprochen wurde. Ihr Vater hatte ihr einmal davon erzählt und ihr auch erklärt, dass er auf diesem Weg die Geheimnisse der Leute in Erfahrung bringe.

An dem Tag, an dem die Landgeherin in die Stadt gekommen war, war Imi durch den Tunnel gekrochen, um herauszufinden, was die Wachen in solche Aufregung versetzt hatte. Sie hatte gehört, wie diese Frau ihren Vater fragte, ob Landgeher und Elai nicht vielleicht Freunde werden könnten. Ihr Volk würde die Plünderer vertreiben, die die Elai seit so langer Zeit töteten und beraubten und sie dazu zwangen, in der unterirdischen Stadt zu leben. Als Gegenleistung sollten die Elai dem Volk der Zauberin helfen, falls dieses jemals Hilfe benötigte. Außerdem würden sie viele Dinge tauschen. Ihr Volk würde Sachen von den Elai kaufen, und die Elai konnten Dinge von ihrem Volk kaufen. Es klang nach einem guten Vorschlag, aber ihr Vater hatte abgelehnt. Er hielt alle Landgeher für vertrauensunwürdige Lügner, Diebe und Mörder.

Sie können nicht alle so sein, dachte Imi. Oder?

Wenn sie es waren, dann musste das Festland ein furchtbarer Ort sein, an dem jeder jeden bestahl und ständig Leute ermordet wurden. Vielleicht war es tatsächlich so, denn die Landgeher besaßen viele wertvolle Dinge, um die man kämpfen konnte.

Imi schüttelte den Kopf. »Lass uns zurückkehren.«

Ihre Tante nickte. »Vielleicht finden wir beim nächsten Mal etwas Besonderes.«

»Vielleicht«, erwiderte Imi zweifelnd.

»Du hast immer noch über einen Monat Zeit, um ein Geschenk für ihn auszusuchen.«

Der Markt lag in der Nähe des Mundes, des großen Sees, durch den man in die Unterwasserstadt gelangte. Als die große, dunkle, mit Wasser gefüllte Höhle in Sicht kam, stieg eine heftige Sehnsucht in Imi auf. Sie hatte sich nur wenige Male in ihrem Leben aus der Stadt hinausgewagt, und dann auch immer nur mit vielen Wachen. Das war das Problem, wenn man eine Prinzessin war. Ohne Eskorte konnte man nirgendwo hingehen.

Sie hatte schon lange gelernt, die bewaffneten Wachen, die ihr und Teiti auf Schritt und Tritt folgten, zu vergessen. Sie verstanden sich gut darauf, sich unauffällig zu bewegen, und sie kamen ihr nicht in die Quere.

Unauffällig. Imi lächelte. Es war ein neues Wort, das sie kürzlich gelernt hatte. Sie murmelte es leise vor sich hin.

Sie traten vom Marktplatz in den Hauptfluss. Es war im Grunde kein richtiger Fluss, da er kein Wasser führte, aber alle Straßen in der Stadt trugen die Namen von Flüssen, Strömen, Bächen oder Rinnsalen. Die größeren öffentlichen Höhlen wurden Teiche genannt – manchmal auch Pfützen, falls sich jemand über die betreffende Gegend lustig machen wollte.

Der Hauptfluss war die breiteste Durchgangsstraße der Stadt und führte direkt zum Palast. Imi hatte es noch nie erlebt, dass der Hauptfluss verlassen gewesen wäre, nicht einmal spät nachts. Irgendjemand war immer dort unterwegs, und sei es auch nur ein Höfling, der aus dem Palast kam, oder die Nachtwachen, die an den Palasttoren patrouillierten.

Heute wimmelte es auf dem Hauptfluss nur so von Leuten. Zwei der Wachen, die ihr folgten, traten vor, um sicherzustellen, dass die Leute ihr aus dem Weg gingen. Der Lärm der vielen Stimmen und der Gesänge der Musikanten war ohrenbetäubend.

Sie fing eine Melodie auf und hielt inne. Es war ein neues Lied, das den Titel »Die Weiße Dame« trug, und sie war davon überzeugt, dass darin die Landgeherin besungen wurde, die ihren Vater aufgesucht hatte. Ihr Vater hatte es jedem im Palast untersagt, das Lied zu spielen. Teiti hielt Imi am Arm fest und zog sie weiter.

»Mach den Wachen ihre Arbeit nicht noch schwerer«, bemerkte sie leise.

Imi erhob keine Einwände. Ich darf ohnehin kein allzu großes Interesse an dem Lied zeigen, damit niemand errät, dass ich über die Landgeherin Bescheid weiß.

Am Ende des Hauptflusses angekommen, stieß Teiti einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie sich von der Menge entfernten und durch die Tore in die Stille des Palastteichs traten. Ein Wachmann kam auf Imi zu und verbeugte sich.

»Der König wünscht dich zu sehen, Prinzessin«, sagte der Mann formell. »Im Thronsaal.«

»Vielen Dank«, erwiderte Imi und brachte es fertig, ihre Aufregung zu unterdrücken. Ihr Vater wollte mitten am Tag mit ihr reden! Normalerweise hatte er tagsüber niemals Zeit für sie. Es musste sich um etwas Wichtiges handeln.

Teiti nahm Imis Zurückhaltung mit einem anerkennenden Lächeln zur Kenntnis. Sie gingen in einem würdevollen, aber zermürbend langsamen Tempo den Hauptstrom des Palastes hinunter. Die Wachen, an denen sie vorbeikamen, nickten ihnen höflich zu. Der Strom war voller Männer und Frauen, die darauf warteten, zum König vorgelassen zu werden. Sie alle verneigten sich, als Teiti und Imi an ihnen vorüber zu den offenen Doppeltüren des Thronsaals schritten.

Als Imi in den gewaltigen Raum trat, sah sie ihren Vater auf seinem Thron sitzen. Er stützte sich auf die Armlehne und sprach mit einem von drei Männern, die auf vor dem Thron aufgestellten Hockern saßen. Sie erkannte den Ratgeber ihres Vaters, den Haushofmeister des Palastes und den Obersten Kleidermacher. Ihr Vater blickte auf, lächelte strahlend und breitete die Arme aus.

»Imi! Komm her und umarme deinen Vater.«

Sie grinste, warf alle Etikette über Bord und rannte quer durch den Raum. Als sie in seine Arme sprang, zog er sie fest an sich, und sie konnte die Vibration seines Lachens tief in seiner Brust spüren.

Er ließ sie los, und sie setzte sich auf seinen Schoß.

»Ich habe eine wichtige Frage an dich«, erklärte er.

Sie nickte und setzte eine ernste Miene auf. »Ja, Vater?«

»An welcher Art von Unterhaltung möchtest du dich bei unserem Fest erfreuen?«

Sie strahlte. »Ich möchte Tänzer sehen! Und Akrobaten!«

»Selbstverständlich«, sagte er. »Was noch? Fällt dir nicht vielleicht etwas ganz Besonderes ein?«

Sie dachte gründlich nach. »Fliegende Menschen!«

Er zog die Augenbrauen hoch und sah seinen Ratgeber an. »Denkst du, dass sich vielleicht einige Siyee bereitfinden würden, an dem Fest teilzunehmen?«

Imi hüpfte vor Aufregung auf und ab. »Würden sie das tun? Würden sie das wirklich tun?«

Der Ratgeber lächelte. »Ich werde sie fragen, aber ich kann nichts versprechen. Vielleicht würde es ihnen nicht gefallen, sich unter der Erde aufzuhalten, wo sie den Himmel nicht sehen können, und außerdem können sie in kleinen Räumen nicht fliegen. Sie brauchen Platz.«

»Wir könnten sie in unserer größten, höchsten Höhle auftreten lassen«, schlug Imi vor. »Und wir könnten die Decke blau streichen wie den Himmel.«

In den Augen ihres Vaters leuchtete Interesse auf. »Das wäre in der Tat ein beachtlicher Anblick.« Er lächelte sie an, und sie suchte nach weiteren Ideen, die ihm vielleicht Freude bereiten würden.

»Feuerschlucker!«, rief sie aus.

Er zuckte zusammen; wahrscheinlich erinnerte er sich an den Unfall, der sich einige Jahre zuvor ereignet hatte, als ein übermäßig nervöser neuer Feuerschlucker sich mit brennendem Öl übergossen hatte.

»Ja«, sagte er. »Ist das alles?«

Sie dachte kurz nach, dann lächelte sie. »Eine Schatzsuche für die Kinder.«

»Bist du dafür nicht langsam schon zu alt?«

»Noch nicht… nicht, wenn wir die Schatzsuche draußen veranstalten.«

Missbilligung trat in die Züge ihres Vaters. »Nein, Imi. Das ist zu gefährlich.«

»Aber wir könnten Wachen mitnehmen und irgendwo hingehen, wo…«

»Nein.«

Sie zog einen Schmollmund und wandte den Blick ab. So gefährlich war es draußen doch gewiss nicht. Nach allem, was sie in dem Raum mit den Rohren mit angehört hatte, entsprach es keineswegs der Wahrheit, dass ständig Plünderer um die Inseln kreisten. Es gingen jeden Tag Leute hinaus, um Essen oder Handelswaren zu sammeln. Wann immer jemand getötet wurde, geschah es auf den äußeren Inseln oder gänzlich abseits aller Inseln.

»Noch etwas?«, fragte er. Sie konnte die falsche Begeisterung in seiner Stimme hören. Sie spürte es immer, wenn sein Lächeln unecht war, weil sich die Falten um seine Augen dann nicht vertieften.

»Nein«, erwiderte sie. »Bloß jede Menge Geschenke.«

Die Falten erschienen. »Natürlich«, sagte er. »So, und da ich mich jetzt um all deine Vorschläge kümmern muss, habe ich noch viel zu tun. Geh zurück zu Teiti.«

Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Wange, rutschte von seinem Schoß und lief zu Teiti zurück. Ihre Tante lächelte, griff nach ihrer Hand und führte sie aus dem Raum.

In dem Strom draußen stand eine große Gruppe von Kaufleuten. Als sie vorbeiging, hörte sie die Männer miteinander tuscheln.

»… warte jetzt seit drei Tagen!«

»Es ist seit drei Generationen in meiner Familie. Sie können nicht…«

»… noch nie so riesige Seeglocken gesehen. So groß wie Fäuste!«

Seeglocken? Imi verlangsamte ihren Schritt und tat so, als wische sie sich etwas von den Kleidern.

»Aber die Landgeher haben sie entdeckt. Sie bewachen sie Tag und Nacht.«

»Könnten wir nicht vielleicht eine Ablenkung arrangieren? Dann könnten wir…«

An dieser Stelle wurde das Gespräch so leise, dass sie es nicht mehr verfolgen konnte, da sie sich von den Sprechern entfernte. Ihr Herz schlug sehr schnell. Seeglocken so groß wie Fäuste? Ihr Vater liebte Seeglocken. Ob sie vielleicht einen dieser Kaufleute bitten konnte, ihr eine solche Seeglocke zu beschaffen? Sie runzelte die Stirn. Es klang so, als planten sie einen einzigen großen Ausflug aus der Stadt, um eine Unmenge Glocken zu sammeln. Wenn sie das taten, würde man überall Glocken von der Größe von Fäusten kaufen können. Dann wären sie gewöhnlich und langweilig.

Es sei denn, ich könnte jemanden dazu bewegen, sich hinauszuschleichen und mir eine Glocke zu holen, bevor die Kaufleute dort hinkommen. Sie lächelte. Ja! Ich muss nur noch herausfinden, wo es diese Seeglocken zu finden gibt.

Was ihr ein Leichtes sein würde. Heute Nacht würde sie einen Ausflug in den Raum mit den Rohren machen. Auraya, kommst du?, fragte Juran.

Beim Klang der Stimme in ihren Gedanken zuckte Auraya zusammen. Sie ließ die Schriftrolle fallen, die sie gelesen hatte – einen faszinierenden Bericht über einen Seemann, den ein Mitglied des Meeresvolks vor dem Ertrinken gerettet hatte -, und sprang von ihrem Stuhl auf. Ihre plötzliche Bewegung erschreckte ihren Veez. Er quiekte, lief die Rückenlehne des Stuhls hinauf, auf dem er geschlafen hatte, und huschte über die Wand davon.

»Entschuldige, Unfug«, sagte sie, trat vor die Wand und streckte eine Hand nach dem Tier aus. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Er starrte sie anklagend an, die Füße fest gegen die Wand gestemmt. »Owaya Angst machen. Owaya böse.«

»Es tut mir leid. Komm herunter, damit ich dich kraulen kann.«

Er blieb außerhalb ihrer Reichweite hocken, und seine Schnurrhaare zitterten jetzt, wie sie es immer taten, wenn er sich bemühte, seinem Namen Ehre zu machen.

Owaya jagen Unfug, sagte ein leises Stimmchen in ihre Gedanken hinein. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Unfug. Ich…«

Auraya?, rief Juran.

Ja. Ich komme. Wo seid ihr?

Am Fuß des Turms.

Ich werde gleich dort sein.

Sie seufzte und ließ Unfug an der Wand hocken. Nachdem sie einen Kelch auf den Rand der Schriftrolle gestellt hatte, damit sie nicht vom Tisch geweht wurde, ging sie zum Fenster hinüber, entriegelte es und drückte es auf.

Als sie sich konzentrierte, wurde sie sich mit allen Sinnen der Welt um sich herum bewusst. Sie zog Magie in sich hinein und gab ihrem Körper den Befehl, seine Lage leicht zu verändern. Ein wenig höher, dann hinaus. Einen Augenblick später schwebte sie draußen vor dem Fenster, mit nichts als Luft unter ihren Füßen. Sie verlagerte ihre Position abermals, dann drehte sie sich um und schloss das Fenster.

Unter ihr lag der Tempelbezirk. Von oben betrachtet, sah es beinahe so aus, als stünde einer ihrer Füße auf dem runden Dach der Kuppel und der andere auf dem achteckigen Gebäude, das als die Fünf Häuser bekannt war und das den Priestern als Quartier diente. Abgesehen von dem Weißen Turm hinter ihr, bestand der Rest des Tempelbezirks aus sorgfältig gepflegten und in Kreismustern angeordneten Gärten, da der Kreis das Symbol der Götter war. Vor ihr und zu ihrer Rechten spiegelte sich der Himmel in einem der vielen Arme des Jarime, der sich behäbig meerwärts wälzte.

Sie ließ sich langsam hinabsinken. Wenn sie sich auf diese Weise bewegte, kam es ihr nicht so vor, als flöge sie überhaupt. Sie bezeichnete es nur deshalb als Fliegen, weil ihr kein anderes Wort einfiel, mit dem sie ihr Tun hätte beschreiben können.

Außerdem hatte sie ein neues Bewusstsein für die Welt und ihre Magie gewonnen. Während der letzten Augenblicke der Schlacht, als sie mehr Macht als je zuvor in sich hineingezogen hatte, hatte sie die Magie auf eine Art und Weise spüren können, wie ihr das zuvor noch nie möglich gewesen war. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie die Magie überall um sich herum wahrnehmen.

Sowohl Zirkler als auch Traumweber waren sich darin einig, dass die ganze Welt von Magie erfüllt war. Alle lebenden Wesen konnten diese Magie in gewisser Weise in sich hineinziehen und in die körperliche Welt aussenden. Die verschiedenen Möglichkeiten, diese Magie zu nutzen, wurden Gaben genannt und mussten erlernt werden, genauso wie jede körperliche Fähigkeit erlernt werden musste. Die meisten lebenden Wesen, die Menschen eingeschlossen, konnten nur wenig Magie in sich hineinziehen und verfügten daher über begrenzte Gaben. Einige jedoch waren stärker und talentierter. Wenn es sich um Menschen handelte, wurden sie als Zauberer bezeichnet.

Ich war schon eine ungewöhnlich mächtige Zauberin, noch bevor die Götter mir zusätzliche Macht verliehen haben, um mich zu einer Weißen zu machen, rief sie sich ins Gedächtnis und blickte auf den Ring an ihrem Finger hinab. Ich wüsste gern, welche Art von Leben ich in den Zeiten geführt hätte, bevor es zirklische Priester und Priesterinnen gab.

Sie dachte gern, dass sie ihre Gaben genutzt hätte, um Menschen zu helfen, dass sie nicht bestechlich und grausam geworden wäre, im Gegensatz zu so vielen mächtigen Zauberern der Vergangenheit. Zauberer wie die Wilden, die mächtig genug waren, um Unsterblichkeit zu erlangen, hatten eher die Neigung entwickelt, ihre Macht und ihre Position zu missbrauchen.

Vielleicht war es Menschen einfach nicht bestimmt, über so viel Macht zu gebieten. Vielleicht machte der Umstand, dass sie eine körperliche Gestalt besaßen, sie verletzlich. Die wahren Götter waren nicht verdorben. Sie besaßen keine körperliche Gestalt, sondern waren Wesen aus reiner Magie und existierten in der Magie, die allem innewohnte.

Plötzlich blieb Auraya stehen.

Ich kann diese Magie spüren. Bedeutet das, dass ich imstande sein werde, die Götter zu spüren?

Diese Möglichkeit war gleichzeitig erregend und beunruhigend. Sie senkte den Blick. Der Boden war nicht mehr allzu weit unter ihr. Sie ließ sich hinabsinken, bis sie sich beinahe auf der Höhe des Turmeingangs befand, dann drosselte sie ihr Tempo für eine sanfte Landung.

Als sie durch die Bogengänge blickte, entdeckte sie die anderen Weißen in der Halle. Mairae sah sie und lächelte. Sofort folgten auch die anderen Weißen Mairaes Blick. Jurans Miene wurde weicher, als er Auraya bemerkte. Er kam auf sie zu, und die anderen folgten ihm.

»Hast du einen kleinen frühmorgendlichen Ausflug um den Turm unternommen?«, fragte er und bedeutete ihr, dass sie auf dem Weg zur Kuppel neben ihm hergehen solle.

»Nein«, antwortete Auraya. »Ich muss gestehen, dass ich die Zeit vergessen habe.«

»Du hast sie vergessen?«, entfuhr es Mairae. »Dein einjähriges Jubiläum?«

»Nein, das nicht«, erwiderte Auraya kichernd. »Nur die Zeit. Danjin hat mir eine faszinierende Schriftrolle über die Elai gebracht.« Sie wandte sich zu Juran um. »Werde ich dorthin zurückkehren, um ihnen ein zweites Mal ein Bündnis mit uns anzubieten?«

Juran lächelte. »Das werden wir im Altar besprechen.«

Die Priester und Priesterinnen, die auf dem Gelände unterwegs waren, hielten inne, um sie zu beobachten. Auraya hatte sich an ihre Neugier und ihre Bewunderung gewöhnt. Sie hatte gelernt, diese Dinge als Teil ihrer Rolle zu akzeptieren, und sie brachten sie nicht länger in Verlegenheit.

Bedeutet das, dass ich eitel und verwöhnt bin?, überlegte sie. Dies ist keine leichte Aufgabe. Ich arbeite hart, und das nicht zu meinem eigenen Nutzen. Ich diene den Göttern genau wie die anderen Priester, aber ich besitze zufällig größere Gaben und verstehe mich gut auf das, was ich tue. Und ich bin immer noch in der Lage, Fehler zu machen. Leiards Gesicht blitzte in ihren Gedanken auf, und der gewohnte Stich des Schmerzes folgte. Sie drängte beide Regungen energisch beiseite.

Sie gingen unter einem der breiten Bogen der Kuppel hindurch und ließen das sanfte Morgenlicht hinter sich. Die Dunkelheit im Innern nahm langsam Gestalt an, während Aurayas Augen sich daran gewöhnten. In der Mitte des hohen Gebäudes stand auf einem Podest der Altar.

Die fünf dreieckigen Wände des Gebildes klappten wie die Blätter einer sich öffnenden Blüte herunter. Juran ging über eins der Dreiecke in die Mitte, wo ein Tisch und fünf Stühle auf sie warteten. Die anderen Weißen folgten. Während sie ihre Plätze einnahmen, schloss sich die metallene Blüte wieder.

Auraya betrachtete jeden einzelnen ihrer Gefährten. Juran holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, die rituellen Worte zu sprechen. Dyara saß vollkommen gelassen da. Rian runzelte die Stirn; er hatte seit dem Krieg nicht mehr allzu glücklich gewirkt. Mairae hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trommelte mit den Fingern einer Hand lautlos auf ihren Arm.

»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann Juran. »Einmal mehr danken wir euch für den Frieden, den ihr Ithania geschenkt habt, und für die Gaben, die es uns ermöglicht haben, diesen Frieden zu bewahren. Wir danken euch für eure Weisheit und eure Leitung.«

»Wir danken euch«, murmelte Auraya zusammen mit den anderen. Dann konzentrierte sie sich auf die Magie um sich herum. Falls die Götter in der Nähe waren, so konnte sie sie nicht spüren.

»Heute liegt Aurayas Auserwählung genau ein Jahr zurück, und es ist ein weiteres Jahr, in dem wir Übrigen euch gedient haben. Wir wollen auf die Ereignisse dieses Jahres zurückblicken und erwägen, welche Maßnahmen in nächster Zeit zu treffen sind. Wenn unsere Pläne von euren abweichen, so bitte ich euch, uns eure Wünsche bekanntzumachen.«

»Leitet uns«, sagten die anderen leise.

Juran blickte kurz in die Runde. »Viele kleine, friedliche Bündnisse und ein großer Krieg«, fuhr er fort. »Das ist eine Möglichkeit, die Ereignisse des Jahres zusammenzufassen.« Auraya konnte ein schiefes Lächeln nicht unterdrücken. »Lasst uns zuerst auf die Länder zu sprechen kommen, die unserer Heimat am nächsten liegen.« Er wandte sich an Dyara. »Wie steht es in Genria und Toren?«

Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich sehr gut. König Berro hat sich in letzter Zeit bemerkenswert anständig benommen. König Guire ist so vernünftig wie eh und je. Sie haben den Anteil des jeweils anderen im Krieg gewürdigt und einander für die Fähigkeiten ihrer Kämpfer gepriesen.« Sie verdrehte die Augen. »Ich rechne jederzeit damit, dass diese Art männlichen Imponiergehabes verebbt und sie wieder zu streiten beginnen.«

Juran kicherte und sah Auraya an. »Wie geht es den Siyee?«

Sie verzog das Gesicht. »Ich habe nichts mehr von ihnen gehört, seit sie das Schlachtfeld verlassen haben.« Sie hielt inne. »Es wäre so viel einfacher, mit ihnen in Verbindung zu treten, wenn wir dort Priester hätten. Ich habe ihnen versprochen, dass wir ihnen welche schicken würden, als Heiler und als Lehrer.«

Juran runzelte die Stirn. »Es ist eine schwierige Reise.«

»Ja«, pflichtete Auraya ihm bei. »Ich bin davon überzeugt, dass wir einige junge Priester finden werden, die die Strapazen auf sich zu nehmen bereit sind, um eine Gelegenheit zu bekommen, an einem Ort zu leben, den nur wenige Landgeher je zu Gesicht bekommen werden. Wir könnten außerdem den Entdecker, der unseren ersten Bündnisvorschlag nach Si gebracht hat, als Führer in Dienst nehmen.«

»Ja. Triff alle notwendigen Vorbereitungen dafür, Auraya. Und erkundige dich, ob es unter den Siyee welche gibt, die Interesse daran hätten, hierherzukommen, um der Priesterschaft beizutreten.« Als Nächstes wandte er sich an Rian. »Was ist mit den Dunwegern?«

»Die sind im Augenblick hochzufrieden«, antwortete er. »Nichts bereitet einer Kriegerkultur größere Freude als die Gelegenheit, an einer solch gewaltigen Schlacht teilzunehmen. Sie sind beinahe enttäuscht, dass der Krieg vorüber ist.«

Juran lächelte schief. »Was ist mit den Fallen im Pass?«

»Die Dunweger sind noch immer damit beschäftigt, sie zu entfernen.«

»Wie lange wird es noch dauern?«

»Einige Wochen.«

Mairae lächelte, als Juran den Blick auf sie richtete.

»Keine Klagen von den Somreyanern. Sie sind vor einer Woche aufgebrochen, wie du weißt, und sollten heute oder morgen Arbeem erreichen.«

Juran nickte. »Dann bleiben also nur noch die Sennoner.« Zu Aurayas Überraschung sah er Dyara an. Die Frau kümmerte sich bereits um die Belange zweier Länder, Toren und Genria. Gewiss würde sie nicht noch ein drittes Land übernehmen – erst recht nicht, nachdem dieses Land mit den Pentadrianern paktiert hatte und Verhandlungen schwierig und zeitaufwendig sein würden.

»Der Kaiser persönlich hat Botschaften geschickt, in denen er eine ›neue Ära der Freundschaft‹ vorschlägt«, sagte Dyara, und ihre missbilligende Miene ließ keinen Zweifel daran, was sie von diesem Ansinnen hielt. »Den Gerüchten zufolge hat er den Bündnisvertrag mit den Pentadrianern zerrissen.«

»Gut«, erwiderte Juran zufrieden. »Ermutige ihn, aber zeige dich nicht allzu eifrig.« Er sah Rian und Mairae an. »Da Somrey und Dunwegen euch keine allzu große Mühe machen, möchte ich, dass ihr euch zusammen mit Dyara um Sennon kümmert. Ich bezweifle, dass wir den Kaiser in allzu naher Zukunft zu einem Bündnis mit uns werden überreden können. Er weiß, dass er sein Land mit einer solchen Entscheidung zum ersten Angriffsziel der Pentadrianer machen würde, sollten sie uns abermals den Krieg erklären. Stellt fest, wie viel ihr von ihm bekommen könnt, solange er sich noch schuldig fühlt, weil er sich auf die gegnerische Seite geschlagen hat.«

Dyara, Rian und Mairae kümmern sich gemeinsam um Sennon, dachte Auraya. Was ist mit mir? Die Siyee bereiten uns keine Probleme… Aber natürlich. Es gibt noch ein anderes Land, mit dem wir uns gern verbünden würden.

Juran wandte sich zu ihr um. Sie lächelte.

»Die Elai?«

»Nein«, antwortete er. »Für dich habe ich eine andere Aufgabe, aber darüber werden wir später reden. Lasst uns jetzt über Belange sprechen, die uns über unsere Gestade hinausführen. Was sollen wir tun, um einen Angriff der Pentadrianer in der Zukunft zu verhindern?«

Die anderen tauschten Blicke.

»Was können wir tun?«, fragte Rian. »Wir haben ihnen gestattet, in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie am stärksten sind.«

»Das haben wir allerdings getan«, erwiderte Juran. »Welche Möglichkeiten lässt uns das jetzt noch offen? Wir können untätig bleiben und hoffen, dass sie ihre Stärke nicht zurückgewinnen und uns abermals angreifen werden, oder wir können darauf hinarbeiten, einen solchen Angriff zu vermeiden.«

Dyara runzelte die Stirn. »Schlägst du ein Bündnis vor? Damit würden sich die Pentadrianer niemals einverstanden erklären. Sie betrachten uns als Heiden.«

»In diesem Punkt irren sie, und das ist eine Schwäche, die wir ausnutzen können.« Juran verschränkte die Finger. »Unsere Götter sind real. Vielleicht würden die Pentadrianer ihre falschen Götter aufgeben, wenn sie das wüssten.«

»Wie sollen wir sie davon überzeugen?«, hakte Rian nach. »Würden die Götter ihre Macht demonstrieren, wenn wir sie darum bäten?«

»Solange wir nicht von ihnen verlangen, jedes Mal in Erscheinung zu treten, wenn wir einem Pentadrianer begegnen«, erwiderte Juran.

Dyara schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Würden die Pentadrianer es glauben oder zu dem Schluss kommen, dass wir eine Illusion heraufbeschworen haben?«

Auraya lachte leise. »Geradeso wie ihr beide, du und Juran, zu dem Schluss gekommen seid, der pentadrianische Gott, den ich gesehen habe, müsse eine Illusion sein?«, fragte sie leichthin.

Dyara runzelte die Stirn, aber Juran blickte nachdenklich drein. »Vielleicht hätte diese Erscheinung auch uns überzeugt, wenn wir in diesem Moment dort gewesen wären.«

»Falls ihre Götter real sind, werden wir sie davon überzeugen müssen, dass unsere Götter besser sind«, warf Mairae ein.

Juran nickte. »Ja. Fürs Erste müssen wir die Pentadrianer dazu bringen, ihre Meinung über uns zu ändern. Wir müssen sie nicht nur davon überzeugen, dass unsere Götter real sind, sondern auch davon, dass es besser ist, unsere Freundschaft zu suchen, als uns zu überfallen. Wir müssen beweisen, dass alles, was sie an uns verabscheuen, auf Unwahrheiten beruht. Sie halten uns für Heiden; wir beweisen, dass sie unrecht haben. Sie denken, wir ließen andere Religionen nicht gelten…« Sein Blick wanderte zu Auraya hinüber. »Wir beweisen ihnen, dass sie unrecht haben.«

Auraya blinzelte überrascht, aber Juran gab keine weitere Erklärung ab. Er beugte sich vor und faltete die Hände. »Ich möchte, dass ihr alle sorgfältig darüber nachdenkt.« Er sah sie der Reihe nach an. »Findet heraus, was sie an uns so sehr verabscheuen. Macht ihnen klar, dass es für sie von Nutzen wäre, unsere Freundschaft zu suchen. Wir wollen keine weitere Invasion, und wonach mir am wenigsten der Sinn steht, wäre die Eroberung des südlichen Kontinents und die Mühe, versuchen zu müssen, diese Länder zu regieren.«

»Wenn es Informationen sind, die wir brauchen, sollten wir unser Netz von Spionen verbessern«, sagte Rian.

»Ja«, stimmte Juran ihm zu. »Tu das.«

Er wandte sich an Auraya. »Jetzt zu deiner Aufgabe.«

Sie richtete sich höher auf. »Ja?«

»Die Pentadrianer glauben, dass wir andere Religionen nicht dulden. Ich möchte, dass du deine Arbeit mit den Traumwebern fortsetzt. Ihre Fähigkeiten als Heiler haben mich nach der Schlacht sehr beeindruckt. Viele der Heilerpriester haben ebenfalls Bewunderung für ihr Tun ausgedrückt. Sie haben, wie ich weiß, allein durch die Beobachtung der Traumweber viel gelernt. Die Menschen in dieser Stadt könnten großen Nutzen aus einer Zusammenarbeit von Traumwebern und Zirklern ziehen. Ich möchte, dass du eine Einrichtung ins Leben rufst, in der Traumweber und Heilerpriester zusammenarbeiten.«

Auraya starrte ihn an und fragte sich, ob er wusste, dass dies genau das war, was sie selbst sich bereits vorgenommen hatte. Waren seine Beweggründe tatsächlich so nobel, wie seine Worte es vermuten ließen? War ihm klar, welche Wirkung eine solche Entscheidung auf die Traumweber haben könnte?

Die fortgesetzte Existenz der Traumweber war an ihre einzigartigen Fähigkeiten als Heiler gebunden. Trotz des allgemeinen Misstrauens und der Intoleranz suchten die Menschen ihre Hilfe, weil die Traumweber bessere Heiler waren als die Zirkler. Die meisten Männer und Frauen, die dem Orden der Traumweber beitraten, taten es, um ebendiese Kenntnisse der Heilkunst zu bewahren.

Und indem sie sich zu diesem Schritt entschlossen, verwirkten sie ihre Seelen. Die Götter nahmen die Seelen der Toten, die ihnen im Leben nicht gehuldigt hatten, nicht in ihrer Mitte auf. Wenn die Zirkler ebenso viel über die Heilkunst wüssten wie die Traumweber, würden weniger Menschen ihrem Orden beitreten, und es würden weniger Seelen verloren gehen.

Der Preis dafür war die Schwächung und vielleicht sogar die Vernichtung eines Ordens, den Auraya bewunderte. Andererseits erschien ihr dieser Preis jetzt nicht mehr gar so hoch zu sein. Die Rettung von Seelen war wichtiger als die Erhaltung eines heidnischen Kults. Außerdem würden auch die Lebenden daraus einen Nutzen ziehen. Es gab mehr zirklische Priester und Priesterinnen als Traumweber. Sie könnten mehr Leben retten.

Dennoch war es ungewöhnlich, dass Juran ihr vorschlug, Zirkler und Traumweber zur Zusammenarbeit zu ermutigen. Schließlich hatte er auf Geheiß der Götter Mirar getötet. Wie weit würde seine Toleranz ihren Fähigkeiten gegenüber gehen?

»Hast du die Absicht, die Fähigkeiten, die diese Heiler von den Traumwebern erlernen sollen, irgendwie zu begrenzen?«, fragte sie. »Was ist mit all den Fähigkeiten, die auf Gedankenheilung fußen – mit Traum- und Gedankenvernetzungen?«

Juran runzelte die Stirn; diese Vorstellung bereitete ihm offenkundig Unbehagen. »Fang mit den praktischen Dingen an, die sich auf den Körper beschränken. Wenn diese mit Träumen verbundenen Fähigkeiten sich als nützlich erweisen, werden wir die Möglichkeit erwägen, sie ebenfalls zu übernehmen.«

Sie nickte. »Ich werde gleich morgen die entsprechenden Vorkehrungen treffen.«

Juran sah sie gedankenvoll an, dann richtete er sich auf und holte tief Atem. »Gibt es noch andere Themen, die wir erörtern müssen?«

Eine lange Pause folgte. Die vier Weißen schüttelten den Kopf.

»Dann wäre das alles für heute«, erklärte Juran.

»Du hast dich also dagegen entschieden, die Götter zu rufen?«, fragte Dyara.

Juran schüttelte den Kopf. »Wenn sie herausgefunden hätten, dass die Götter der Pentadrianer real sind, wären sie erschienen, um es uns mitzuteilen.«

Mairae zuckte die Achseln und stand auf. Die fünf Wände des Altars senkten sich langsam. Sie lächelte. »Wenn sie mit uns hätten reden wollen, wären die Wände geschlossen geblieben.«

Als die Weißen sich erhoben und den Altar verließen, konzentrierte sich Auraya auf die Magie um sich herum. Sie konnte keine Spur von den Göttern entdecken – zumindest nichts, was sie hätte spüren können. Das Einzige, was sie wahrnahm, war ein schwacher Hauch von Magie, wo die Wände auf den Boden des Altars trafen.

»Auraya«, sagte Dyara.

Sie sah die ältere Weiße an. »Ja?«

»Hast du die Absicht, reiten zu lernen?«

»Reiten?«, wiederholte Auraya überrascht. Sie dachte an die Träger – die großen weißen Reyna, die die anderen Weißen ritten. Ihre wenigen Versuche in der Vergangenheit, gewöhnliche Reyna zu reiten, waren höchst peinlich gewesen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit den Trägern besser zurechtkommen würde. »Hm… nein. Das ist für mich nicht notwendig.«

Dyara nickte. »Das ist wahr. Aber wir haben einen Träger für dich züchten lassen, daher kann ich nur annehmen, dass die Götter trotz deiner Fähigkeit zu fliegen die Absicht hatten, dich reiten zu sehen.«

»Es ist möglich, dass sie mich, lange bevor der Träger gezüchtet wurde, auserwählt haben«, erwiderte Auraya langsam. »Bevor sie wussten, dass sie jemanden auswählen würden, der nicht reiten konnte. Das könnte der Grund sein, warum sie mir die Fähigkeit des Fliegens geschenkt haben.«

Dyara blickte nachdenklich drein. »Zum Ausgleich?«

»Ja.«

Sie hörten ein Lachen von Mairae. »Vielleicht haben sie es mit dem Ausgleich ja ein wenig übertrieben.«

Juran kicherte und lächelte Auraya an. »Nur ein klein wenig, aber dafür sind wir ungeheuer dankbar.«

3

Zu dieser Zeit des Jahres, bei dem trockenen, windigen Wetter, sahen alle Gegenstände aus der Ferne betrachtet geisterhaft aus – falls man sie überhaupt sehen konnte. Als Reivan die Promenade erreichte, kam das Sanktuarium vollends in Sicht. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie blieb stehen, um ihre schwere Tasche mit einem Seufzer der Erleichterung abzusetzen.

Der große Gebäudekomplex bedeckte den gesamten Hang eines Hügels am Rand der Stadt Glymma. Zuerst kam eine breite Treppe, die zu einer Fassade von Bogen führte, und durch diese Bogen gelangte man in eine riesige Halle. Hinter diesem Gebäude erhoben sich weitere, und ein jedes wirkte in der staubigen Luft ein wenig verschwommener. Es war schwer zu sagen, ob die Gebäude miteinander verbunden waren oder nicht. Von vorn betrachtet war das Sanktuarium ein unübersichtliches Durcheinander von Mauern, Fenstern, Balkonen und Türmen.

An der entferntesten Stelle brannte eine Flamme, die durch den Staub in der Luft gedämpft wirkte. Dies war die Flamme des Sanktuariums, entzündet von den Sterblichen, zu denen die Götter vor hundert Jahren zum ersten Mal gesprochen hatten. Seither brannte sie Tag und Nacht, geschürt von den ergebensten Götterdienern.

Wie kann ich mir anmaßen zu glauben, ich hätte einen Platz unter ihnen verdient?, fragte sie sich.

Weil Imenja es glaubt, gab sie sich selbst die Antwort. In der Nacht, nachdem die Armee die Minen verlassen hatte, hatte Imenja Reivan während einer Zusammenkunft der Stimmen und ihrer Ratgeber zu sich gerufen, um die vor ihnen liegende Reise zu besprechen. Reivan hatte darauf gewartet, dass Imenja ihr einen Auftrag gab oder ihr eine Frage stellte, aber keines von beidem geschah. Erst nach der Zusammenkunft, als sie schlaflos und verwirrt unter dem Nachthimmel gelegen hatte, war ihr klar geworden, dass Imenja sie lediglich hatte die Versammlung beobachten lassen wollen.

Während der restlichen Reise hatte Imenja dafür gesorgt, dass Reivan sich stets in ihrer Nähe aufhielt. Manchmal bat sie Reivan um ihre Meinung, dann wieder schien sie sich lediglich unterhalten zu wollen. Bei letzteren Gelegenheiten fiel es Reivan leicht zu vergessen, dass sie zu einer der Stimmen der Götter sprach. Als Imenja das Gehabe der strengen, mächtigen Anführerin abstreifte, offenbarte sie trockenen Humor und aufrichtiges Mitgefühl, beides Dinge, die Reivan sehr anziehend fand.

Ich mag sie, dachte Reivan. Sie respektiert mich. Ich habe seit Jahren mit der Verachtung der Denker leben müssen. Sie haben mir immer die langweiligsten und niedersten Arbeiten gegeben, weil sie befürchteten, eine Frau könnte sich ihnen als ebenbürtig erweisen. Vermutlich glauben sie, dass sie mich, wenn sie mich in Armut halten, dazu zwingen werden, jemanden zu heiraten und Kinder zu bekommen, damit ich ihnen nicht länger lästig sein kann. Grauer hat mich gewiss nur deshalb weggeschickt, um Karten von den Minen anzufertigen, weil er mich aus den Augen haben wollte.

Jetzt war der frühere Anführer der Denker tot. Hitte, sein Nachfolger, hatte kein einziges Wort mit ihr gewechselt, seit sie die Armee aus den Minen geführt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er sich darüber ärgerte, dass sie es war und nicht er, der den Weg ins Freie gefunden hatte, oder ob sich sein Verdruss darauf zurückführen ließ, dass er von Imenjas Versprechen, sie zu einer Götterdienerin zu machen, erfahren hatte.

Wahrscheinlich beides, dachte sie trocken. Meinetwegen kann er schmollen, so lange er mag. Und das Gleiche gilt für alle anderen. Wenn sie mich besser behandelt hätten – so, als sei ich es wert, dass man mir zuhört -, hätte ich ihnen von dem Windtunnel erzählt und nicht Imenja. Wir hätten die Armee als Gruppe aus den Minen geführt, und wir alle hätten uns die Rettung der Armee als Verdienst anrechnen können. Sie lächelte. Imenja hätte die Wahrheit ohnehin gesehen. Sie weiß, dass ich die Armee gerettet habe. Sie weiß, dass ich würdig bin, den Göttern zu dienen.

Reivan nahm ihre Tasche in die andere Hand und machte sich auf den Weg zum Sanktuarium. Sie ging die Treppe hinauf und blieb dann noch einmal stehen, um neben einem der Bogen Atem zu schöpfen. Die Promenade war für diese Tageszeit ungewöhnlich still.

Sie vermutete, dass die Bürger von Glymma zu Hause waren und um jene trauerten, die nicht zurückgekehrt waren. Vor ihrem inneren Auge sah sie noch einmal die Ankunft der Armee in der Stadt am vorigen Tag. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, aber nur einige wenige gedämpfte Jubelrufe hatten sie begrüßt.

Die Armee war erheblich kleiner gewesen als die, die vor einigen Monaten in den Krieg gezogen war. Obwohl die Schlacht die meisten Opfer gekostet hatte, waren auch viele Sklaven, Soldaten und Götterdiener während der Durchquerung der sennonischen Wüste an Durst und Erschöpfung gestorben. Das Fehlen der Handelskarawanen, die zuvor Essen und Wasser feilgeboten hatten, war sehr auffällig gewesen. Die Führer, die der sennonische Botschafter ihnen für die erste Durchquerung der Wüste zur Verfügung gestellt hatte, waren nicht zurückgekehrt, und einzig die Karten der Denker, die sich glücklicherweise nicht unter denen befunden hatten, die mit Grauer verloren gegangen waren, hatten sie zum Wasser geführt.

Reivan hatte sich gefragt, ob die Menschen, die die Armee begrüßten, wütend auf die Götterstimmen sein würden, weil sie ihre Angehörigen in den Krieg geführt hatten. Andererseits mochte sich ihr Zorn auch gegen die Götter selbst richten, die die Niederlage zugelassen hatten. Doch jeder Zorn, den sie empfinden mochten, wurde durch den Anblick des Sargs gedämpft, den die vier Stimmen mit Hilfe von Magie zwischen sich trugen. Auch sie hatten einen Verlust erlitten.

Während Reivan sich jetzt umschaute, stellte sie sich vor, wie die Rückkehr der Armee von hier aus ausgesehen haben musste. Die Armee war in strenger Formation marschiert: der höchste Rang – die Ergebenen Diener der Götter – vorn, gewöhnliche Götterdiener dahinter und dann die zu Einheiten aufgestellten Soldaten. Die Sklaven waren an einer Seite gegangen, und die Denker hatten am Fuß der Treppen gestanden. Die Stimmen hatten etwa von der Stelle aus, an der sie jetzt stand, das Wort an die Menge gerichtet.

Imenjas Ansprache war ihr im Gedächtnis haften geblieben.

»Volk von Glymma, ich danke euch für euer warmes Willkommen. Wir sind weit gereist und haben im Dienst der Götter eine große Schlacht ausgefochten. Unsere Verluste sind auch die euren, ebenso wie unsere Siege. Denn obwohl wir diese Schlacht nicht gewonnen haben, haben wir sie doch nur überaus knapp verloren. So ebenbürtig waren die Armeen der Pentadrianer und der Zirkler einander, dass einzig der Zufall über den Sieg entschieden hat. Diesmal hat der Wind den Zirklern das Glück zugeweht. Beim nächsten Mal könnte er es ebenso gut in unsere Richtung tragen.« Sie hatte die Arme gehoben und die Hände zu Fäusten geballt. »Wir wissen, dass wir ebenso mächtig sind wie sie. Und schon bald werden wir mächtiger sein als sie!«

Die Menge, die ihre Rolle kannte, hatte gejubelt, aber dem Jubel hatte die Begeisterung gefehlt.

»Wir haben die Namen von Sheyr, Hrun, Alor, Ranah und Sraal in die ganze Welt getragen! Die Namen der wahren Götter. Die Feinde der Zirkler werden hierherkommen. Zu uns. Sie werden nach Glymma kommen. Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!«, schrien die Bürger halbherzig.

»Jene, die den wahren Göttern folgen wollen, werden hierherkommen. Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!« Die Stimmen waren jetzt lauter.

»Wohin werden sie kommen?«

»Nach Glymma!« Endlich lag ein wenig Nachdruck in der Erwiderung.

Imenja hatte die Arme sinken lassen. »Wir haben viel verloren. Wir haben Väter und Söhne verloren. Wir haben Ehemänner und Ehefrauen verloren. Wir haben Mütter und Töchter verloren, Schwestern und Brüder, Freunde und Gefährten, Lehrer und Anführer. Wir haben unseren Anführer verloren, die Erste Stimme der Götter, Kuar.« Sie neigte den Kopf. »Kuars Stimme ist verstummt. Lasst uns jetzt schweigen, um all jenen unseren Respekt zu zollen, die für die Götter gestorben sind.«

Reivan hatte einen Kloß in der Kehle gehabt. Imenjas Gesicht war von Trauer gezeichnet gewesen, und Reivan hatte gewusst, dass diese Trauer echt war. Sie hatte sie während des vergangenen Monats viele Male in Imenjas Augen gesehen und in ihrer Stimme gehört.

Das Schweigen hatte sich unerträglich in die Länge gezogen. Dann hatte Imenja zu guter Letzt den Kopf gehoben und der Menge gedankt. Sie hatte den Menschen mitgeteilt, dass nach einem Trauermonat eine neue Erste Stimme gewählt werden würde. Die Stimmen und die Götterdiener waren in den Tempel gegangen, die Soldaten waren aufgebrochen, und die Menge hatte sich zerstreut. Reivan war in das kleine Zimmer am Stadtrand zurückgekehrt, das sie gemietet hatte. Imenja hatte ihr einen Tag freigegeben, um ihre Angelegenheiten zu regeln, bevor sie in das Sanktuarium kommen sollte, um ihre Ausbildung als Götterdienerin zu beginnen.

Und jetzt bin ich hier, dachte sie, als sie sich umdrehte, um durch einen der Bogengänge zu treten.

Auch in der großen Halle herrschte ungewöhnliche Stille. Nur wenige Götterdiener waren zugegen; sie standen in kleinen Gruppen von drei oder vier Personen beieinander. Die schwarzgewandeten Rücken schienen jede Störung zu verbieten. Sie blieb stehen und wartete. Eigentlich sollten Götterdiener alle Besucher bei ihrer Ankunft begrüßen, ob sie nun aus den höchsten oder den niedersten Schichten der Gesellschaft stammten.

Keiner der Götterdiener trat an sie heran, obwohl sie aus den Augenwinkeln sah, dass ein oder zwei von ihnen sie beobachteten, wann immer sie nicht in ihre Richtung schaute. Während die Zeit verstrich, verlor sie nach und nach alles Selbstvertrauen. Bin ich zur falschen Zeit gekommen? Imenja hat gesagt, ich solle mich heute hier einfinden. Sollte ich auf die Götterdiener zugehen? Wäre das ein Verstoß gegen das Protokoll oder etwas in der Art?

Zu guter Letzt löste sich einer der Männer von seinen Gefährten und kam auf sie zugeschlendert.

»In Zeiten der Trauer kommen Besucher nicht hierher«, beschied er ihr. »Es sei denn, die Angelegenheit wäre drängend und wichtig. Gibt es etwas, das du von uns brauchst?«

»Ah.« Sie brachte ein entschuldigendes Lächeln zustande. »Das wusste ich nicht. Aber wie dem auch sei, die Zweite Stimme hat mir aufgetragen, mich heute Morgen hier einzufinden.«

»Zu welchem Zweck?«

»Um meine Ausbildung als Götterdienerin zu beginnen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich verstehe.« Er zeigte auf die andere Seite der Halle, wo parallel zum Eingang eine weitere Reihe von Bogengängen verlief. »Du musst den Hof überqueren und durch den Flur gehen. Die Novizenquartiere der Götterdiener liegen auf der rechten Seite.«

Sie bedankte sich bei ihm, dann verließ sie die Halle. Der Innenhof war groß und wurde von einem sternförmigen Springbrunnen in der Mitte beherrscht. Sie ging darum herum zu einem breiten Eingang auf der gegenüberliegenden Seite. Der Flur dahinter führte aufwärts, und an einigen Stellen waren ein oder zwei Treppenstufen eingelassen, die den Anstieg erleichterten. Immer wieder kamen ihr Götterdiener entgegen. Sie war erst wenige Schritte gegangen, als eine Frau in mittleren Jahren sie mit argwöhnischer Miene aufhielt.

»Wohin willst du?«, fragte sie streng.

»Ins Novizenquartier der Götterdiener. Ich bin hier, um meine Ausbildung zu beginnen.«

Die Frau zog die Augenbrauen in die Höhe. »Name?«

»Reivan Riedschneider.«

Irgendwie brachte sie es fertig, ihre Augenbrauen noch höher zu ziehen. »Aha. Folge mir.«

Die Götterdienerin führte sie zu einer Tür auf der linken Seite des Flurs. Reivan zögerte kurz, dann zuckte sie die Achseln und folgte der Frau. Sie schritten durch einen langen, schmalen Gang, vorbei an vielen Türen. Schließlich blieb die Frau vor einer Tür stehen und klopfte an.

Die Tür wurde geöffnet. In dem Raum saß hinter einem Schreibtisch eine Ergebene Götterdienerin. Die Frau blickte auf, und als sie Reivan sah, runzelte sie die Stirn. Eine Hand legte sich auf Reivans Schulter und schob sie hinein.

»Reivan Riedschneider.« Die Stimme ihrer Führerin troff vor Missbilligung. »Sie ist hier, um den Göttern zu dienen.«

Als Reivan noch einmal kurz über ihre Schulter blickte, stellte sie fest, dass in den Zügen der Götterdienerin tiefe Abneigung lag, dann wurde die Tür auch schon geschlossen. Sie wandte sich wieder der Ergebenen zu und fing Unwillen von ihr auf, der jedoch schnell unterdrückt wurde.

»Du bist also gekommen«, sagte die Frau. »Was bringt dich auf die Idee, du könntest eine Götterdienerin werden, obwohl du keine übernatürlichen Fähigkeiten besitzt?«

Reivan blinzelte überrascht. Sehr direkt, dachte sie. Ich schätze, die Antwort »Weil Imenja gesagt hat, ich könnte es« wird diese Frau wohl kaum überzeugen.

»Ich hoffe, dass ich den Göttern auf andere Art und Weise dienen kann«, erwiderte sie.

Die Frau nickte langsam. »Dann musst du beweisen, dass das möglich ist. Ich bin die Ergebene Götterdienerin Drevva, die Ausbildungsmeisterin.« Sie erhob sich und kam um den Schreibtisch herum. »Du wirst die gleiche Ausbildung durchlaufen und dich den gleichen Prüfungen unterziehen, die von allen anderen hoffnungsvollen Anfängern bestanden werden müssen. Außerdem wirst du in den gleichen Quartieren leben. Und nun komm mit mir.«

Sie führte Reivan aus dem Raum und weiter den Flur hinunter. Nachdem sie einige Male von dem Hauptgang abgezweigt waren, wurden die Flure noch schmaler. Schließlich blieb Drevva vor einer Tür stehen und öffnete sie.

Als Reivan hineinspähte, verließ sie beinahe aller Mut. Der Raum war kaum größer als das Bett, das er enthielt. Es roch nach Staub und Fäulnis. Auf dem Boden lagen in dicken Schichten Sand und Staub.

»Du erlaubst deinen Dienernovizen, unter solchen Bedingungen zu leben?«, fragte sie spontan. »Die Götterdiener, die mich großgezogen haben, hätten mir für solche Nachlässigkeit die Peitsche zu schmecken gegeben.«

»Wenn das Zimmer dir nicht gefällt, such dir einen Domestiken, der es putzt«, entgegnete Drevva. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging davon, blieb dann jedoch noch einmal stehen und drehte sich um. »Komm morgen beim Läuten der Frühglocke zu mir, dann werde ich alles Notwendige in die Wege leiten, damit ein Götterdiener dich den ersten Prüfungen unterziehen kann.« Sie senkte den Blick auf Reivans Tasche. »Was ist das?«

»Meine Sachen.«

»Nämlich?«

Reivan zuckte die Achseln. »Kleider, Musikinstrumente, Bücher…« Sie dachte an die Bücher, die sie am vergangenen Tag verkauft hatte, und ein Stich des Bedauerns durchzuckte sie. Sie hatte bezweifelt, dass man es im Sanktuarium gern sehen würde, wenn sie eine kleine Bibliothek mitbrachte.

Drevva kam zurück und nahm Reivan die Tasche ab. »Götterdiener behalten keine persönlichen Besitztümer. Du wirst hier im Sanktuarium alles bekommen, was du benötigst. Kleider werden dir zur Verfügung gestellt werden, und wenn es dir gelingt, als Dienernovizin aufgenommen zu werden, wirst du nicht mehr benötigen als die Roben.«

»Aber…«

Die Frau brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. »Aber was?«

»Aber was ist, wenn ich die Prüfungen nicht bestehe?«, fragte Reivan.

Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen der Frau. »Ich werde deine Tasche in meinem Zimmer aufbewahren. Wenn du fortgehst, wirst du sie zurückbekommen.«

Wenn du fortgehst. Reivan sah der Frau nach, dann seufzte sie und machte sich auf die Suche nach einem Domestiken. Ihre Suche führte sie weit fort von ihrem Zimmer, und erst als sie endlich einen Domestiken fand, der einen Flur fegte, wurde ihr klar, dass sie die Quartiere der Götterdiener erreicht hatte.

»Ich brauche jemanden, der mein Zimmer putzt«, erklärte sie dem Mann.

Er sah sie mürrisch an. »Alle Domestiken sind damit beschäftigt, die Zimmer der toten Götterdiener auszuräumen«, erwiderte er und kehrte ihr dann den Rücken zu.

Sie hätte das Zimmer selbst sauber gemacht, aber aus Drevvas Reaktion ließ sich klar entnehmen, dass Götterdiener solche Arbeiten als unter ihrer Würde erachteten. Wenn sie sich als unbefähigter Neuankömmling wie ein Domestik benahm, würde sie auch wie ein solcher behandelt werden, vermutete Reivan.

Die Domestiken behaupteten weiterhin beharrlich, ihre anderen Aufgaben seien drängender. Schließlich folgte sie einem Domestikenkind in ein Badezimmer, wo sie es so lange bedrängte, bis es sich bereiterklärte, ihr Zimmer zu putzen und das Bettzeug zu wechseln. Sie hatte leichte Gewissensbisse deswegen, wusste aber aufgrund ihrer Lektüre der Philosophen und berühmten Heiler, dass man leicht an Körper und Geist krank wurde, wenn man in einem schmutzigen Quartier schlief.

Diese Arbeit verschlang den Rest des Tages. Als der Junge fertig war, war es bereits spät, und Reivan hatte Hunger. Sie machte sich auf die Suche nach etwas zu essen. Als sie Kochgerüche wahrnahm, folgte Reivan ihnen in eine große Halle, in der etliche Götterdiener saßen. Nur ein leises Murmeln war zu hören, und sie kam zu dem Schluss, dass es eine allgemeine Regel gegen Lärm geben musste. Als sie eintrat, runzelten mehrere Götterdiener die Stirn über diese Störung. Sie schaute sich um und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass an einem der Tische junge Männer und Frauen in schlichter Kleidung saßen. Dies mussten die anderen Neulinge sein. Sie setzte sich auf einen leeren Stuhl, woraufhin die anderen am Tisch sie neugierig ansahen, auch wenn sie kein Wort sagten.

Ein Domestik stellte lieblos eine Schale dünner Suppe vor sie hin. Sie bemerkte mit einiger Enttäuschung, dass in dem Korb in der Mitte des Tisches nur einige wenige Brotkrumen verblieben waren. Als sie mit dem Essen fertig war, begegnete sie dem Blick des jungen Mannes neben ihr.

»Gibt es eine Regel, die das Reden verbietet?«

Er nickte. »Nur solange wir in Trauer sind.«

An einem Ende des Raums saßen mehrere Ergebene an einem langen Tisch. Sie besah sich jeden einzelnen von ihnen, so gut sie konnte. In einem Monat würden Götterdiener aus allen Teilen der Welt einen der Ergebenen zum neuen Anführer der Pentadrianer wählen. Auch Drevva saß an dem Tisch. Die Frau schaute zu Reivan hinüber, dann wandte sie den Blick wieder ab.

Das ist kaum der Empfang, auf den ich gehofft hatte, dachte Reivan. Diese Götterdiener sind so kalt, dass neben ihnen selbst die Denker geduldig, gütig und freundlich erscheinen.

Es waren mehrere Plätze am Tisch frei geblieben. Ein Schaudern überlief Reivan, als ihr der Grund dafür aufging. Die Ergebenen, denen diese Plätze gehörten, waren wahrscheinlich tot, gefallen im Krieg.

Vielleicht ist das der Grund, warum im Sanktuarium alle so unfreundlich sind, überlegte sie. Die Niederlage und der Verlust ihrer Gefährten haben sie so verdrossen und unzugänglich gemacht.

Sie konnte kaum erwarten, dass sie sich ihr gegenüber herzlich und freundlich zeigen würden, während sie um verlorene Freunde und Kollegen trauerten.

Eine Glocke zeigte das Ende der Mahlzeit an, und Reivan folgte den Neulingen zurück in ihre Quartiere.

Mirar hielt sich mit der linken Hand an einem Felsvorsprung fest und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Beine. Er beugte das linke Knie und suchte nach einer guten Stelle, um die Spitze seines rechten Stiefels in den Felsen zu klemmen. Er fand festen Halt und verlagerte vorsichtig das Gewicht auf den rechten Fuß.

»Wir sind fast da!«, rief Emerahl, und ihre Stimme war unerwartet nah.

Er hielt inne und blickte hinab. Seine Füße befanden sich fast auf gleicher Höhe wie ihr Kopf. Sie lächelte.

Sie ist so schön, ging es ihm durch den Kopf. Dieser Gedanke gehörte jedoch Leiard. Das Gleiche galt für das schwache Aufflammen von Schuldgefühlen, dass er eine andere Frau als Auraya anziehend finden konnte.

Sie ist schön, beschied er Leiard. Es spricht nichts dagegen, diesen Umstand zu würdigen.

Und du tust das nicht?, fragte Leiard.

Oh doch. Aber ich kenne sie nun schon so lange, dass sie mich nicht mehr verwirrt.

Ihr seid Freunde, stellte Leiard fest.

In gewisser Weise. Wir sind miteinander… vertraut geworden. Wir haben beiderseitige Interessen.

Aber ihr wart einmal Liebende.

Für kurze Zeit.

Leiard verfiel in Schweigen. Mirar schüttelte den Kopf. Es war eine eigenartige Situation, mit Emerahl zusammen zu sein. So als stelle man zwei Freunde einander vor, zwei Freunde, über die er dem jeweils anderen schon alles erzählt hatte, was er über ihn wusste. Was Emerahl gegenüber ein wenig ungerecht war.

Aber es war schön, sie mit neuen Augen zu sehen.

Es verunsicherte Mirar jedoch ein wenig, mit Leiard zu reden. Er holte tief Luft, leerte seinen Geist und konzentrierte sich dann auf den Abstieg. Erst als er beide Füße fest auf dem Boden hatte, entspannte er sich wieder.

Emerahl band ihn von dem Sicherungsseil los, dann ließ sie das eine Ende des Seils sinken und zog an dem anderen, bis es durch das Gewirr von Pflanzen zu ihren Füßen glitt. Sie rollte es schnell und mit geschickten Griffen ein, schlang es sich über die Schulter und ging dann am Fuß der Schlucht weiter. Mirar schulterte sein Bündel und folgte ihr.

Sie verfügten mittlerweile beide über einiges Geschick, was das Klettern betraf. Er konnte inzwischen nicht mehr zählen, wie viele Felswände sie erklommen hatten. Dies war ein für Si typisches Gelände. Die Berge waren steil und schroff, zerrissen und voller senkrechter Felshänge. Sie sahen so aus, als hätte jemand gewaltige Lehmhügel auf die Welt geworfen, um dann mit riesenhaften Messern wiederholt hineinzustechen. Der unbewachsene Grund war durch Felsbrocken und Geröll fast unpassierbar. Wo die Talsohlen bewachsen waren, kam man etwas besser voran. Dort mussten sie sich lediglich einen Weg durch das dichte Unterholz des Waldes bahnen.

Kein menschliches Wesen hatte in dieser Landschaft Spuren hinterlassen – nicht einmal die Siyee, die es nicht schätzten, in solcher Nähe von Landgehersiedlungen zu leben. Gelegentlich kamen Tiere hierher, und sie hatten schmale, gewundene Pfade durch das Gehölz ausgetreten. Trotzdem kamen sie nur langsam voran. Er und Emerahl waren seit einem Monat unterwegs, hatten sich bisher jedoch nicht weit in den nördlichen Teil von Si hineingewagt. Vor der Erschaffung der Siyee war dieser Teil Ithanias als die Wildnis bekannt gewesen.

Und den Göttern zufolge werden Emerahl und ich ganz ähnlich eingestuft, überlegte Mirar. Man nennt uns die »Wilden«. Ob sie damit wohl andeuten wollen, dass wir ungezähmt sind? Unzivilisiert? Vielleicht sogar barbarisch?

Wohl eher zügellos, chaotisch, gewalttätig, gefährlich, warf Leiard ein.

Nichts von alledem entspricht der Wahrheit, erwiderte Mirar. Zu ihrer Zeit hatten er und Emerahl für große magische Fähigkeiten gestanden. Seine Traumweber hatten einer chaotischen Welt Ordnung gegeben. Sie waren friedlich, gewaltlos und gewiss nicht gefährlich gewesen. Emerahl war weithin für ihre Heilkunst und Weisheit berühmt gewesen.

Das Wort »Wilde« hatte noch eine weitere Bedeutung. Es konnte sich um eine willkürliche Kraft handeln, die die Pläne der Götter entweder zum Wohl oder zum Schaden der Menschen vereiteln konnte.

Dies ist vielleicht der wahre Grund, warum die Götter uns diesen Namen gegeben haben, dachte Mirar. Das Vereiteln der Pläne der Götter scheint mir ein würdiger Grund zu sein, überhaupt zu existieren. Das Problem ist, ich habe keine Ahnung, wie ihre Pläne aussehen, wie soll ich sie da vereiteln?

Die Schlucht war inzwischen breiter geworden. Er konnte das Geräusch von Wasser hören. Unmengen von Wasser. Sie mussten sich einem Fluss nähern. Emerahls Schritte waren jetzt leicht und federnd. Er sah sie in das Sonnenlicht vor ihnen eintauchen und mit einem Lächeln nach links abbiegen.

Irgendetwas freut sie, so viel steht fest, ging es ihm durch den Kopf. Er beschleunigte seine Schritte und holte sie bald darauf ein. Sie stand am Rand eines Abgrunds, an dem die Schlucht ein jähes Ende fand. Als er ihrem Blick folgte, sah er, was ihr dieses Lächeln entlockt hatte.

Ein Wasserfall. Weit über dem Wasserfall neigten sich zwei steile Hänge einander zu und leiteten den Fluss zu einem Klippenrand. Das Wasser ergoss sich in einen breiten, tiefen See, bevor es mit einem fröhlichen Gluckern durch ein felsiges Flussbett, das sich unter ihnen dahinschlängelte, strömte und schließlich nach rechts abfloss. Über dem Wasserfall stieg Nebel auf, so dass die Luft feuchtigkeitsgeschwängert war.

»Wie hübsch«, bemerkte er.

Emerahl sah ihn von der Seite an. »Ja, nicht wahr? Lass uns einen Baum suchen, um den wir unser Seil schlingen können.«

Einige Minuten später waren sie beide hinabgestiegen, nachdem sie ihre Bündel mit Magie vorausgeschickt hatten. Emerahl überquerte den Fluss, indem sie von einem Stein zum nächsten sprang. Als sie auf den Wasserfall zuging, zögerte Mirar kurz, bevor er ihr folgte. Nachdem sie einen Monat lang durch dieses unwirkliche Land gewandert waren und viele prachtvolle Landschaften gesehen hatten, verspürte er nicht die geringste Neigung, einen Wasserfall zu erkunden. Ihm wäre es lieber gewesen, früher ans Ziel zu gelangen und sich gründlich ausruhen zu können.

Emerahl ging immer dichter an den Wasserfall heran. Das Rauschen dröhnte in seinen Ohren. Als sie die glatten Steinbrocken neben dem Wasserfall hinunterkletterte, blieb er stehen, um sie zu beobachten. Schließlich drehte sie sich um und winkte ihn mit einem Lächeln zu sich.

Achselzuckend folgte er ihr. Als er dicht neben ihr stand, grinste sie ihn an. Dann sah er, was sie entdeckt hatte. Hinter dem Wasserfall befand sich eine Höhle.

Emerahl ging hinein. Ein Anflug von Neugier trieb auch ihn weiter voran. Die Wände der Höhle glitzerten feucht. Die Höhle war größer, als er erwartet hatte, und der hintere Teil lag in Dunkelheit verborgen.

Er drehte sich noch einmal zu der Wand aus Wasser um. Die stetige, monotone Bewegung hatte etwas Hypnotisches.

»Mirar.«

Er riss sich von dem Anblick los und wandte sich zu Emerahl um. Sie hatte ein Licht geschaffen, und er stellte fest, dass sein erster Eindruck falsch gewesen war. Die Höhle hatte überhaupt keine hintere Wand. Sie war der Anfang eines Tunnels.

Seine Neugier wuchs, und er trat neben Emerahl.

»Kennst du diese Höhle?«, fragte er.

»Ich bin schon früher hier gewesen.«

»Ist dies unser Ziel?«

»Das könnte es sein. Zumindest könnte es ein guter Ort sein, um hier die Nacht zu verbringen. Und nun keine Fragen mehr.«

Ihre letzten Worte klangen sehr energisch. Er lächelte über ihren Tonfall, dann traten sie nebeneinander in den Tunnel.

Aus reiner Gewohnheit zählte er seine Schritte. Er war bis dreihundert gekommen, als sie eine weitere große Höhle erreichten. Emerahl versteifte sich, und ihre Schritte wurden langsamer, als lausche sie auf etwas.

Dann lächelte sie. Sie beschleunigte das Tempo jedoch nicht, sondern ging gemessen weiter. In der Mitte der Höhle angekommen, drehte sie sich zu ihm um.

»Hast du es gespürt?«

Er runzelte die Stirn. »Was soll ich gespürt haben?«

Sie nahm seinen Arm und zog ihn etwa zehn Schritte weit zurück, dann blieb sie stehen. »Versuche, eine deiner Gaben zu benutzen. Mach dir ein Licht wie meines.«

Er griff nach seiner Magie. Nichts geschah. Er versuchte es abermals, doch ohne Erfolg. Erschrocken sah er sie an. »Was…?«

»Es ist ein Leerer Raum. Ein Ort auf der Welt, an dem es keine Magie gibt.«

»Aber wie ist das möglich?«

»Das weiß ich nicht.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn sanft in die Mitte der Höhle zurück. Widerstrebend gab er nach. Ihr Lichtfunke schwebte noch immer über ihnen.

»Wie bringst du das dann zuwege?«

»Ich habe die Magie dafür in mich hineingezogen, bevor wir in den Leeren Raum getreten sind«, antwortete sie. »Jetzt versuche es noch einmal.«

Er griff nach Magie, spürte, wie sie ihn durchströmte, und leitete sie nach außen ab, um sein eigenes Licht zu formen.

»Gut«, sagte sie nickend. »Es ist noch immer genauso wie früher. In der Mitte der Höhle gibt es Magie, die jedoch von einem Leeren Raum umgeben ist. Die Götter, die Wesen aus Magie sind, können den Leeren Raum nicht durchqueren, daher können sie dich hier nicht sehen. Es sei denn, sie blickten durch die Augen eines Menschen, der außerhalb des Leeren Raums steht.«

Er drehte sich langsam um. Jetzt, da sie ihn auf den Leeren Raum aufmerksam gemacht hatte, konnte er ihn mühelos wahrnehmen. Er ging auf die andere Seite hinüber.

»Geh nicht weg!«, warnte ihn Emerahl. »Komm zurück. Jetzt, da du weißt, was es mit diesem Ort auf sich hat, darfst du ihn nicht verlassen. Wenn die Götter uns beobachten, könnten sie deine Gedanken lesen und… und…« Eine steile Sorgenfalte erschien auf ihrer Stirn.

Er kehrte an ihre Seite zurück. »Wenn sie mich bei meiner Ankunft beobachtet haben, wissen sie ohnehin, wo ich bin.«

Sie musterte ihn eindringlich. »Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie dich beobachtet haben?«

Er verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Es ist möglich. Ich weiß es nicht…«

»Du darfst trotzdem nicht fortgehen. Wenn sie nicht wissen, was für ein Ort dies ist, wäre es mir lieber, sie würden es auch nicht erfahren.«

»Hast du die Absicht, mich für immer hier festzuhalten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur so lange, wie ich brauche, um dich zu lehren, deine Gedanken vor ihnen zu verbergen.«

Er musterte sie versonnen. Er hatte diese Fähigkeit vor langer Zeit gelernt, sie jedoch wieder vergessen, als er das Gedächtnis verlor. Es war schwierig, sie ohne die Hilfe eines Menschen, der Gedanken und Gefühle auffangen konnte, neu zu erlernen. Aber dies war tatsächlich ein guter Zeitpunkt, es zu versuchen.

»Und dann?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Du hast mich gebeten, dich fortzubringen, aber du hast nicht gesagt, warum oder wohin. Ich habe vermutet, dass du dich in Sicherheit bringen wolltest, und ich habe dich an den sichersten Ort gebracht, den ich kenne.« Sie lächelte schief. »Außerdem vermute ich, dass du einige Dinge in deinem Geist in Ordnung bringen musst. Wenn du dabei Hilfe brauchst, werde ich alles tun, was ich kann.«

Er sah sich in der Höhle um. Sie war nicht die behagliche Hütte inmitten des Waldes, auf die er gehofft hatte, aber der Leere Raum entschädigte ihn dafür. Sie würde genügen müssen. Er streifte die Riemen seines Bündels von den Schultern und setzte sich auf den harten Steinboden.

»Dann sollten wir uns hier besser häuslich einrichten.«

4

Es war Nacht. Es war immer Nacht.

Ein schauriges Licht lag über der Szene. Sie konnte seine Quelle nicht sehen, aber es ließ die Gesichter um sie herum noch unheimlicher erscheinen.

Ihr Weg wurde von einem Leichnam versperrt. Sie stieg darüber hinweg und ging weiter.

Ich suche nach etwas. Wonach suche ich?

Sie dachte gründlich nach.

Nach einem Ausweg. Einem Ende des Schlachtfelds. Nach einer Fluchtmöglichkeit. Weil

Sie fing aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf, und ihr Herz begann vor Furcht zu rasen. Sie wollte nicht hinsehen, tat es aber dennoch. Alles war still.

Ein weiterer Leichnam versperrte ihr den Weg: ein Priester, dessen Kopf und Oberkörper versengt und geschwärzt waren. Widerstrebend stieg sie über ihn hinweg.

Schau nicht nach unten.

Unter ihr bewegte sich etwas. Ihr Blick wurde hinabgezogen. Der Priester starrte zu ihr empor, und sie erstarrte vor Entsetzen. Er grinste sie an, doch bevor sie weitergehen konnte, packte seine versengte Hand sie am Knöchel.

Owaya!

Der drängende, unerwartete Ruf in ihren Gedanken ließ sie zusammenzucken. Sie schlug die Augen auf und sah die Decke ihres Schlafzimmers. Ihr Herz hämmerte, ihre Haut war heiß und feucht, ihr Magen krampfte sich zusammen.

»Owaya Angst machen?«

Eine kleine Gestalt sprang auf das Bett. Da das Mondlicht den Veez von hinten beschien, konnte sie den unverkennbaren flauschigen Schwanz und die kleinen Ohren des Tieres besorgt zucken sehen.

»Unfug«, flüsterte sie.

»Owaya Angst?«

Sie zog sich auf den Ellbogen hoch. »Nur ein Traum. Es ist schon vorbei.«

Ob er verstand oder nicht, konnte sie nicht erraten. Hatten Veez eine Vorstellung von Träumen? Sie hatte ihn im Schlaf zucken sehen und murmeln hören, daher wusste sie, dass auch er träumte.

Er huschte über das Bett und rollte sich neben ihren Beinen zusammen. Der Druck seines kleinen Körpers an ihrem hatte etwas Tröstliches. Sie legte sich wieder hin, blickte zur Decke auf und seufzte.

Wie lange werde ich diese Alpträume noch haben? Monate? Jahre?

Sie war auf eine vage Weise enttäuscht von sich selbst und von den Göttern. Die Zugehörigkeit zu den Weißen musste doch bedeuten, dass sie keine schlimmen Träume zu ertragen brauchte, weil sie in einen Krieg gezogen war, um Nordithania und die Zirkler zu verteidigen… Obwohl die Gaben, die ihr die Götter geschenkt hatten, sie vor Alterung und Verletzungen bewahrten, schienen sie kein Schutz gegen Alpträume zu sein. Die Götter konnten doch nicht wollen, dass sie so litt?

Die Traumweber könnten mir helfen.

Sie seufzte abermals. Die Traumweber. Dies war nun wirklich ein Thema, das an ihr Gewissen rührte. Eines wusste sie mit Bestimmtheit: Wenn sie dafür sorgte, dass die Traumweber ihren Einfluss auf die Menschen verloren, indem sie Priester und Priesterinnen dazu ermutigte, sich ihre Heilkenntnisse anzueignen, dann war das eigentlich durchaus richtig. Sie würde die Seelen von Menschen retten, die sich anderenfalls von den Göttern abwenden würden. Aber diese Maßnahme erschien ihr einfach zu… zu heimlichtuerisch.

Nach der Zusammenkunft am Altar hatte sie entschieden, zunächst in Erfahrung zu bringen, ob es überhaupt Heilerpriester gab, die bereit waren, mit Traumwebern zusammenzuarbeiten. Diese Frage musste geklärt werden, bevor sie an Traumweberratgeberin Raeli herantrat. Sie redete sich ein, dass es ein kluger Schritt war – auf diese Weise konnte sie sich gleichzeitig erkundigen, ob jemand aus den Reihen der Priesterschaft bereit war, nach Si zu reisen -, aber sie wusste, dass sie lediglich den Augenblick hinauszögerte, da sie würde anfangen müssen, heimlichtuerisch zu sein.

Es hatten sich mehrere Freiwillige gemeldet. Auraya hatte mit Begeisterung für die Stellung in Si gerechnet, war dann aber doch angenehm überrascht gewesen von der Zahl der Priester, die sich für eine Zusammenarbeit mit den Traumwebern interessierten. Die Dinge, die sie nach der Schlacht mit angesehen hatten, hatten sie zutiefst beeindruckt. Viele von ihnen brannten darauf, von den Traumwebern zu lernen, obwohl diese Bereitschaft in einigen Fällen auf die Entschlossenheit zurückging, sich mit den Heiden zu messen, was Wissen und Geschick betraf, oder sie sogar noch zu übertreffen. Auraya glaubte nicht, dass dieses Interesse auf einen neu entdeckten Respekt für den Kult zurückzuführen war.

Sie hatte ihren Schritt weiter hinausgezögert, indem sie nach einem passenden Gebäude Ausschau hielt. Es musste ein Ort sein, an dem weder die Traumweber noch die Zirkler von vornherein größeren Einfluss hatten. Schließlich hatte sie ein leerstehendes Lagerhaus in Hafennähe gefunden, nicht allzu weit entfernt vom Armenviertel der Stadt. Sie brauchte nur noch dafür zu sorgen, dass das Gebäude gesäubert und entsprechend möbliert und ausgerüstet wurde, und zu entscheiden, welchen Namen es tragen sollte.

Zuvor brauchte sie jedoch noch eine Antwort von den Traumwebern. Da sie die Angelegenheit nicht länger vor sich herschieben konnte, hatte sie Raeli um ein Treffen gebeten.

Auraya drehte sich auf die Seite. Sie war jetzt hellwach und bezweifelte, dass sie in den nächsten Stunden wieder einschlafen würde. Ihr Herz hämmerte zwar nicht mehr, aber es schlug noch immer ein wenig zu schnell.

Sie dachte über die Frage nach, die sie Juran gestellt hatte. Was ist mit all den Fähigkeiten, die auf Gedankenheilung fußen – mit Traum- und Gedankenvernetzungen? Ihm gefiel die Vorstellung offenkundig nicht, dass Priester und Priesterinnen diese Fähigkeiten erlernen könnten, aber wenn die Zirkler die Traumweber ersetzen sollten, würden sie all ihre heidnischen Praktiken übernehmen müssen.

Sie seufzte. Ihre Alpträume waren ein nachdrücklicher Beweis dafür, wie wichtig es war, dass Priester und Priesterinnen die Fertigkeiten der Traumheilung erlernten. Sie konnte nachvollziehen, warum gewöhnliche Menschen die Hilfe eines Traumwebers suchten, um solchen Träumen Einhalt zu gebieten.

Vielleicht sollte auch ich einen Traumweber um Hilfe bitten. Meine Aufgabe ist es, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie harmlos sind. Was könnte sie besser überzeugen als das Wissen, dass ich ihre Fertigkeiten in der Traumheilung selbst in Anspruch genommen habe?

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Juran einer Weißen gestattete, einen Traumweber in ihren Geist einzulassen – er würde nicht einmal einem gewöhnlichen Priester oder einer Priesterin erlauben, ihre Gedanken zu erkunden und so die Geheimnisse der Weißen zu entdecken.

Wenn sie den Geist eines Traumwebers beobachtete, der an einem anderen Menschen eine Traumheilung vornahm, würde sie vielleicht lernen, worauf es dabei ankam… Und dann konnte sie dieses Wissen an einen der anderen Weißen weitergeben… und der Betreffende könnte…

Ihre Gedanken schweiften ab. Sie redete mit Mairae, aber das Gespräch ergab keinen Sinn. Die anderen Weißen lachten immer wieder und erklärten, dass sie sie nicht verstünden. Schließlich gab Auraya es auf und trat aus dem Fenster, um davonzufliegen, aber sie hatte keine echte Kontrolle über ihre Bewegungen. Der Wind trieb sie immer wieder seitwärts ab. Sie schwebte in eine Wolke hinein und wurde von kühlem Weiß umhüllt.

Aus diesem Weiß erschien eine leuchtende Gestalt. Auraya wurde leichter ums Herz. Chaia lächelte und kam näher. Sein Gesicht war so deutlich. Sie konnte jede Wimper erkennen.

Meine Träume sind nie so lebendig

Er beugte sich vor, um sie zu küssen.

… oder so interessant.

Seine Lippen legten sich auf ihre. Es war kein keuscher, freundschaftlicher Hauch von Magie. Sie spürte seine Berührung, als sei er real.

Plötzlich saß sie wieder aufrecht auf die Ellbogen gestützt im Bett. Ihr Herz hämmerte, aber nicht aus Furcht. Die letzten Reste des überschäumenden Glücks, das sie empfunden hatte, schmolzen dahin, und zurück blieb nur tiefe Beunruhigung.

Was denke ich da? Ihr Götter, ich hoffe, Chaia hat mich nicht beobachtet!

Sie versuchte, sich zu sammeln. Es war nicht beabsichtigt. Es war lediglich ein Traum. Ihre Träume vermochte sie nicht zu beherrschen. Ah, wenn ich es doch nur könnte!

Sie legte sich wieder hin und tätschelte Unfug, der schläfrig seinen Unwillen über ihre Bewegung kundgetan hatte.

Ein Traum, sagte sie sich. An einem Traum kann Chaia doch gewiss keinen Anstoß nehmen?

Dennoch dauerte es lange, bis sie wieder einschlief.


Es war nicht leicht, wach zu bleiben. Imi starrte zur Decke empor und zeichnete mit ihrem Blick die Abdrücke nach, die hunderte von Jahren zuvor von den Werkzeugen der Steinmetze dort hinterlassen worden waren.

Von der anderen Seite des Raums erklang leises Schnarchen.

Endlich!

Sie lächelte und stieg langsam aus dem Teich. Es gehörte zu Teitis Pflichten, nachts in ihrer Nähe zu bleiben, für den Fall, dass sie krank wurde oder Hilfe brauchte. Um Imi eine gewisse Ungestörtheit zu ermöglichen, wurde der Raum von Vorhängen unterteilt, durch die man jedoch jedes Geräusch hören konnte.

Was das betraf, so hatte sie schon vor Jahren etwas dagegen unternommen. Sie hatte sich bei ihrem Vater über das Schnarchen ihrer Tante beklagt und vorgeschlagen, um den Schlafteich der Gouvernante Wände bauen zu lassen. Er hatte sich damit einverstanden erklärt, aber sie vermutete, dass er das nur getan hatte, weil Teiti die erste Gouvernante war, die Imi gemocht hatte; er wollte sich die Mühe ersparen, eine neue Gouvernante finden zu müssen.

Neben Teitis Schlafteich war eine geschwungene Wand hochgezogen worden, die kurz vor der Wand des Raumes endete. Imi hatte ihrem Vater erklärt, dass sie sich ein vollständiges Zimmer einschließlich einer Tür wünsche, aber er hatte nur gelächelt und gefragt, wie Teiti Imi um Hilfe rufen hören sollte, wenn sie sie vollkommen aussperrte.

Imi hatte festgestellt, dass die geschwungene Wand die Geräusche im Raum immerhin so weit ausblendete, dass sie sich aus ihrem Zimmer stehlen konnte, ohne ihre Tante zu wecken. Ironischerweise hatte Teiti in jener Zeit noch nicht geschnarcht, sondern erst kürzlich damit begonnen. Jetzt hatte Imi zwei Gründe, für diese Wand dankbar zu sein.

Sie wischte sich einige Wassertröpfchen von der Haut, dann hielt sie inne, um auf Teitis Schnarchen zu lauschen. Früher am Tag hatte Imi ihre Tante zu mehreren Botengängen ausgesandt – Aufgaben, die einzig die Gouvernante der Prinzessin übernehmen durfte -, um Teiti zu ermüden. Wie sie gehofft hatte, hatte ihre Tante früh zu Bett gehen wollen und war schnell in einen tiefen Schlaf gefallen.

Das leise Schnaufen von Teitis Atem brach nicht ab. Imi ging zu einer Schnitzerei an der Wand hinüber. Sie schob eine Hand dahinter und ertastete den Riegel, mit dem sie verschlossen war. Nachdem sie ihn vorsichtig zur Seite gezogen hatte, schwang die Schnitzerei wie eine Tür nach außen auf und gab eine Öffnung in der Wand frei.

Auf dem Boden unter der Schnitzerei lag eine große Kiste. Sie trat auf den Deckel, dann stieg sie durch das Loch in der Wand. Auf der anderen Seite angekommen, drehte sie sich noch einmal um und schloss die kleine Pforte wieder.

In dem Tunnel herrschte absolute Dunkelheit. Imi bewegte sich auf allen vieren vorwärts, wobei ihr weniger der Mangel an Licht zusetzte als die Enge des Tunnels. Sie war im letzten Jahr ein ordentliches Stück gewachsen, und schon bald würde es ihr schwerfallen, sich in den kleinen Raum hineinzuzwängen.

Als sich der Klang ihres Atems kaum merklich veränderte, wusste sie, dass sie sich dem Ende des Tunnels näherte. Sie streckte die Hand aus und berührte eine harte Oberfläche. Nachdem sie sie kurz mit den Fingerspitzen abgetastet hatte, fand sie den Riegel und schob ihn auf.

Die Luke dahinter wurde sichtbar und ließ ein schwaches Licht hindurch. Sie kroch weiter, bis sie den Kopf heben konnte. Sie befand sich im Innern eines hölzernen Schranks. Einen Moment lang hielt sie inne, um zu lauschen, dann schob sie sich weiter vorwärts, so dass sie ein Auge an die Ritze zwischen den Schranktüren legen konnte. Der schmale Raum vor ihr war leer und düster. Ohne lange zu zögern, griff sie mit beiden Händen nach dem Rahmen der Luke, zog sich aus dem Tunnel, entriegelte die Schranktüren und trat hinaus.

Sie ging direkt auf die Tür des Raumes zu und spähte durch ein kleines Guckloch in der Mitte. Es lag ziemlich hoch oben, und sie war erst seit kurzer Zeit in der Lage, es zu benutzen. Zuvor war ihr nichts anderes übrig geblieben, als die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, um festzustellen, ob die Luft rein war.

Der Flur hinter der Tür war verlassen. Solchermaßen zufriedengestellt, drehte sie sich um, um den Raum zu betrachten. Die Wände zu beiden Seiten bestanden aus einer Unmenge an Rohren. Das Ende eines jeden Rohrs wölbte sich nach außen und war geformt wie ein Ohr. Ihr Vater hatte ihr vor langer Zeit erzählt, dass er ein Gerät besitze, welches es ihm ermögliche, die Gespräche anderer Leute zu belauschen. Diesen Raum hatte er ihr jedoch nie gezeigt: Sie hatte ihn selbst gefunden.

Was er ihr, Jahre zuvor, gezeigt hatte, war das Loch hinter der Schnitzerei in ihrem Zimmer. Er hatte ihr erklärt, dass sie sich dort verstecken solle, falls der Palast einmal von bösen Leuten angegriffen würde. Sie wusste nicht, ob er einen Angriff durch Landgeher oder durch böse Elai befürchtete. Die Landgeherplünderer, die die Elai in der Vergangenheit ausgeraubt und überfallen hatten, konnten nicht bis in die Stadt vordringen. Sie konnten nicht lange genug den Atem anhalten, um durch den Unterwassereingang zu schwimmen.

Wenn ihr Vater nicht gewollt hätte, dass sie diesen Raum entdeckte, überlegte sie, hätte er ihr auch den Tunnel hinter der Schnitzerei nicht gezeigt. Jetzt kam sie seit einigen Jahren im Abstand weniger Wochen hierher, um Gespräche innerhalb und außerhalb des Palastes zu belauschen.

Mit Hilfe dieser Apparatur hatte sie eine Menge über viele wichtige Personen erfahren, und sie hatte auch herausgefunden, dass die Leute in verschiedenen Teilen der Stadt ein sehr unterschiedliches Leben führten. Manchmal beneidete sie die Kinder, die sie belauschte. Manchmal aber auch nicht.

Obwohl sie wusste, dass ihr Vater diesen Raum benutzte, hatte er sie noch nie hier entdeckt. Außerdem konnte sie von Glück sagen, dass Teiti bisher nie aufgewacht war, ihr Verschwinden bemerkt oder sie dabei ertappt hatte, wie sie durch das Loch hinter der Schnitzerei kletterte.

Jetzt ging sie zu einem der Rohre hinüber und legte das Ohr daran. Die Stimmen, die durch den Schlauch wisperten, waren leise, aber schon bald passte sich ihr Gehör an, und sie konnte die einzelnen Worte verstehen.

»… ihn nicht heiraten, Mutter! Er ist mehr als zwanzig Jahre älter als ich!«

Das war die Stimme ihrer Cousine, Yiti. Hatte sie das falsche Rohr ausgewählt? Nein, sie stand eindeutig vor dem Rohr, das aus der Höhle des Juweliers kam. Sie legte das Ohr wieder an die Öffnung.

»Du wirst tun, was dein Vater dir befielt, Yiti«, erwiderte eine Frau gelassen. »Du wirst ihn heiraten und seine Kinder bekommen, und wenn er an den Folgen hohen Alters stirbt, wirst du noch jung genug sein, um Spaß zu haben. Jetzt schau dir das hier mal an. Ist es nicht hübsch?«

»Jung genug? Ich werde eine alte Vettel sein! Wer wird mich dann noch wollen?«

»Du wirst nicht älter sein, als ich es jetzt bin.«

»Ja. Eine alte Vettel, die nichts zu…«

Imi zog sich von dem Rohr zurück. Obwohl Yiti ihr leidtat, konnte sie nicht die ganze Nacht auf Mitgefühl verschwenden. Ihre Cousine und ihre Tante waren offensichtlich in die Höhle des Juweliers gegangen, um ein Geschenk für die Hochzeit zu kaufen.

Sie hatte es mit diesem Rohr zuerst versucht, weil die Höhle des Juweliers einer der Orte war, an dem die Kaufleute ihre Waren vielleicht anbieten würden. Es bestand eine gute Chance, dass sie über Seeglocken reden würden.

Aber die Kaufleute waren nicht dort. Sie dachte darüber nach, wo sie sie sonst noch suchen könnte. Vielleicht zu Hause. Sie ging zu einem Rohr hinüber, das aus dem Haus eines der Händler kam, und lauschte aufmerksam.

Nur Schweigen drang aus der Öffnung. Sie probierte es noch in einigen anderen Häusern und sogar im Hauptraum des Palastes, aber obwohl sie die Stimmen anderer Mitglieder der Familien der Händler oder ihrer Diener hörte, konnte sie von den Kaufleuten selbst keine Spur entdecken.

Enttäuscht wählte sie willkürlich einige weitere Rohre aus. Nachdem sie ungezählte Bruchstücke von Gesprächen belauscht hatte, erklang aus einem der Rohre ein Lachen, das dem eines Händlers sehr ähnelte. Es war ein gutes Lachen. Eines, das Menschen die Nervosität nahm. Was für einen Händler vermutlich sehr nützlich war, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Er würde wollen, dass die Menschen sich entspannten, denn entspannte Menschen kauften Dinge. Diesen Umstand hatte sie etliche Male bei ihrer Tante beobachtet. Wenn Teiti bei ihren Besuchen auf dem Markt ärgerlich oder unglücklich war, hatte sie kaum einen Blick für die Waren an den Verkaufsständen übrig. Wenn sie entspannt war, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie Imi etwas Schönes kaufte, bei weitem größer.

»… Wette?«

»Ja. Zehn.«

»Zwanzig.«

»Zwanzig, wie? Gehe mit!«

»Und du?«

Ein Seufzen. »Ich bin draußen.«

»Mitgegangen, ja? Umdrehen.«

Ein triumphierendes Kichern erklang gleichzeitig mit einem Stöhnen, dann hörte Imi das leise Klimpern von Corrie-Muscheln, die zusammengestrichen wurden. Sie erkannte die Stimmen der Kaufleute, die sie belauscht hatte, und dazu noch die einiger anderer Männer. Sie spielten Winkel, vermutete sie.

Während der nächsten Runden bezogen sich die Bemerkungen der Händler einzig auf ihr Spiel, dann machten sie eine Pause, um einen späten Imbiss zu sich zu nehmen und Drai zu trinken. Ihr Gespräch wandte sich ihren Familien zu. Imi wartete geduldig, bis die Rede auf ihr Gewerbe kam.

»Gili sagt, er habe vor drei Tagen hinter der Insel Xiti Plünderer gesehen.«

»Das waren keine Plünderer«, mischte sich eine raue Stimme ein. »Das waren Taucher.«

Mehrere der Kaufleute fluchten.

»Ich wusste doch, dass wir nicht hätten warten dürfen.«

»Es war ein Glücksspiel, ein Risiko, das wir eingehen mussten. Es dauert seine Zeit, bis Seeglocken so groß werden.«

»Und die Landgeher brauchen erheblich weniger Zeit, um sie zu stehlen.«

»Magere, bleichhäutige Diebe!«

Imis Herz setzte einen Schlag aus. Also befanden sich die Seeglocken irgendwo in der Nähe von Xiti …

»Stehlen?« Der Mann mit dem unbefangenen Lachen stieß ein freudloses Kichern aus. »Man kann es wohl kaum stehlen nennen, wenn es um etwas geht, das niemandem gehört. Niemandem gehört etwas, das er nicht verteidigen kann. Wir können ja nicht mal unsere eigenen Inseln verteidigen.«

»Huan hat uns als Volk des Meeres geschaffen. Alle Schätze des Meeres gehören uns.«

»Warum bestraft die Göttin diese Taucher dann nicht? Warum bestraft sie die Plünderer nicht? Wenn sie alle Schätze des Ozeans für uns bestimmt hätte, würde sie die Landgeher daran hindern, sie zu stehlen, oder sie würde uns die Fähigkeit schenken, diese Plünderer aufzuhalten.«

»Huan will, dass wir für uns selbst sorgen.«

»Woher weißt du das?«

»Entweder ist es ihr Wille, dass die Dinge so sind, wie sie sind, oder wir haben irgendeinen Fehler gemacht.«

Imi seufzte verärgert. Hört auf, von den Göttern zu reden!, dachte sie. Sprecht lieber wieder über die Seeglocken. Aber das Gespräch zerfiel jetzt in zwei verschiedene Diskussionen.

»Wir hätten niemals zulassen dürfen, dass ein so großer Teil unserer Kenntnisse der Metallurgie verloren geht. Oder wir sollten mit dem Festland Handel treiben und unsere Waren gegen Schwerter eintauschen.«

»… ein einzelner Schwimmer könnte Erfolg haben, wo eine Gruppe scheitern würde. Die Ernte war gering, aber besser als…«

»Welchen Sinn hätte das? Sie würden im Wasser ohnehin verrosten…«

»… gefährlich. Was ist, wenn…«

»… muss sie nur richtig pflegen. Man braucht…«

»… einen guten Zeitpunkt wählen. Die richtigen Wetterbedingungen… schwerer zu erkennen unter dem…«

»… Oberfläche mit etwas bestreichen, das eine Zersetzung verhindert. Die Landgeher…«

»… werde bei schlechtem Wetter nicht tauchen.«

Imi drehte sich der Kopf vor lauter Anstrengung, die verschiedenen Gespräche auseinanderzuhalten. Das Problem war, dass sie beide hören wollte. Die Diskussion der Händler darüber, wie ein einzelner Elai es schaffen könnte, einige der Seeglocken zu ernten, war ungeheuer spannend, aber das Interesse der anderen Kaufleute, mit Landgehern Handel zu treiben, faszinierte sie nicht minder.

Ein fernes Klopfen erregte ihre Aufmerksamkeit. Widerstrebend löste sie sich von dem Rohr, dann schnürte sich ihr plötzlich die Kehle zu, als ihr klar wurde, dass sie Schritte hören konnte, die langsam näher kamen. Sie sprang von dem Rohr weg und in den Schrank hinein. Gerade als sie den Riegel vorschob, hörte sie, wie die Haupttür geöffnet wurde. Sie erstarrte.

Als sie zwischen den Schranktüren hindurchspähte, überlief sie ein Schauder der Furcht, denn sie erkannte die breiten Schultern des Mannes, der jetzt zu den Rohren hinüberschlenderte. Gleichzeitig konnte sie nicht umhin, voller Zuneigung zu lächeln. Ihr Vater summte vor sich hin. Sie kannte das Lied; es war eine sehr beliebte neue Melodie von Idi, dem schönen, neuen Oberhaupt der Palastsänger.

Ihr Vater beugte sich vor, um an dem Rohr zu lauschen, das in die Höhle der Sänger führte. Imi beobachtete ihn mit rasendem Herzen. Er war nur wenige Schritte entfernt. Einzig die Schranktüren trennten sie voneinander.

Einen Moment später richtete er sich auf, strich sein Wams glatt und verließ dann breitbeinig den Raum.

Imi stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und drehte sich um. Sie umfasste den Rahmen der Luke und schob sich in den Tunnel. Erst als sie am anderen Ende angelangt war, hörte ihr Herz auf zu hämmern.

Lautlos schlüpfte sie aus dem Tunnel, schob die Schnitzerei wieder an Ort und Stelle und ging auf Zehenspitzen zurück zu ihrem Teich. Mit vorsichtigen Bewegungen, damit kein Spritzen zu hören war, ließ sie sich ins Wasser gleiten, das sie sogleich mit tröstlicher Kühle umhüllte.

Jetzt weiß ich, wo die Seeglocken sind, dachte sie. Ich brauche nur noch eine Möglichkeit zu finden, Teiti und meinen Wachen zu entkommen und mich aus der Stadt zu stehlen. Es gibt nur zwei Wege aus der Stadt hinaus: die Treppe zum Ausguck und den Hauptteich… Wann habe ich eigentlich beschlossen, selbst hinzuschwimmen, statt jemand anderen auszuschicken?

Erst am nächsten Morgen stellte sie sich die Frage, warum ihr Vater die Sänger belauscht hatte.

5

Das alte Lagerhaus war voller verlockender Düfte. Es roch nach hölzernen Schiffstruhen und Stroh, einer Vielzahl von Waren, die hier gelagert hatten, und einer salzigen Meeresbrise, die von den nur wenige Straßen entfernt gelegenen Docks herbeiwehte.

In einem Raum überlagerte das durchdringende Aroma von Hroomya, der Farbe, die einen intensiven Blauton hervorrief, alle übrigen Gerüche. In einem anderen herrschte der warme Duft von geöltem Leder vor. Ein weiterer Raum war wie von einem starken Parfüm getränkt, während der fleckige Boden des nächsten wie ein Weinhaus stank. Waren aus allen Ländern Nordithanias hatten hier ihre Duftspuren hinterlassen, von Orten, die Auraya nie zu Gesicht bekommen hatte.

Ein Klopfen riss sie aus ihrem Tagtraum. Als ihr bewusst wurde, dass sie den Flur weit hinuntergegangen war, wandte sie sich hastig um und ging zurück in die Halle, in der der ehemalige Besitzer seine Geschäfte mit den Kunden abgewickelt hatte. Bin ich wirklich bereit, das zu tun?

Sie holte tief Luft und zwang sich, auf die Haupttüren zuzugehen.

So bereit, wie ich es nur jemals sein werde, sagte sie sich. Ich kann lediglich versuchen, alle weniger angenehmen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten.

Als sie an den schweren Holztüren angelangt war, straffte sie die Schultern. Sie legte die Hände auf die Griffe und zog sie nach innen. Die Tür schwang mit einem befriedigend lauten Knarren auf. Auraya begrüßte die in Traumweberroben gekleidete Frau, die vor ihr stand.

Raeli, die Traumweberratgeberin der Weißen, warf Auraya einen wachsamen Blick zu. Sie hatte nie versucht, ihr Misstrauen den Weißen gegenüber zu verbergen, aber sie hatte sich immer zugänglich gezeigt. Auraya las in den Gedanken der Frau, dass dieser seltsame Treffpunkt sie gleichzeitig mit Neugier und Argwohn erfüllte.

»Komm herein, Traumweberratgeberin Raeli«, sagte Auraya und bedeutete der Frau, einzutreten.

»Ich danke dir, Auraya von den Weißen«, erwiderte Raeli. Dann schaute sie sich eingehend um, betrachtete die Halle des Lagerraums und den Flur, der davon abzweigte. »Warum hast du mich hierhergebracht?«

Auraya lachte leise. »Du kommst direkt zur Sache. Das gefällt mir an dir.«

Sie gab Raeli ein Zeichen, ihr zu folgen, dann ging sie langsam den Flur hinunter. »Jarime ist eine große Stadt, und sie wird immer größer. Bis jetzt mussten die Kranken, wenn sie die Hilfe der zirklischen Heiler benötigten, in den Tempel kommen oder jemanden dorthin schicken, um einen Heilerpriester zu holen.« Sie deutete auf die leeren Räume. »Für manche Menschen ist das ein weiter Weg. Daher werden wir dieses Gebäude in ein Hospiz verwandeln.«

Raeli dachte über diese Neuigkeit nach. Es ist eine gute Idee, ging es ihr durch den Kopf. Es wird langsam Zeit, dass die Zirkler sich besser um die Armen kümmern, die in diesem Bezirk leben. Die Entfernung zum Tempel ist ein Problem, das manche Menschen überwinden, indem sie stattdessen zu uns Traumwebern kommenWollen die Zirkler uns unsere Tradition stehlen? Warum hat Auraya mich hierhergebeten, um mir das zu sagen? Irgendwie müssen ihre Pläne mit den Traumwebern zusammenhängen. Plötzlich stieg Argwohn in ihr auf.

»Was willst du von uns?«, platzte sie heraus.

Auraya blieb am Eingang des Raums stehen, der nach Leder roch, und drehte sich zu der Traumweberin um. »Ich möchte deine Leute einladen, sich uns anzuschließen. Traumweber und Heilerpriester sollten zusammenarbeiten. Ich würde gern sagen, zum ersten Mal, aber es ist schon früher geschehen.«

Raeli runzelte die Stirn. »Wann?«

»Nach der Schlacht.«

Die Traumweberin sah Auraya durchdringend an. Sie geben also zu, dass wir nützlich waren, dachte sie. Es wäre schön gewesen, wenn sie uns gedankt hätten. Oder wenn wir irgendeine Art von Anerkennung für unsere Arbeit bekommen hätten… Aber ich nehme an, dies ist eine Anerkennung. Ihre Skepsis verebbte für einen Moment, und ein Hoffnungsfunke flammte in ihr auf.

Auraya wandte den Blick ab. »Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass es nicht funktioniert. Mehrere Heilerpriester haben sich erboten, hier mit euch zu arbeiten, aber vielleicht werden sie feststellen, dass sie weniger tolerant und offen sind, als sie glauben. Oder die Kranken, die hierherkommen, könnten eure Hilfe ausschlagen. Ich bezweifle, dass es uns gelingt, hundert Jahre alte Vorurteile binnen weniger Wochen, Monate oder sogar Jahre zu überwinden. Aber«, sie zuckte die Achseln, »wir können es versuchen.«

Die Traumweberin ging in den gegenüberliegenden Raum und rümpfte die Nase über den Geruch, der dort in der Luft lag.

»Ich kann nicht für meinen Orden sprechen. Das ist eine Entscheidung, die die Ältesten treffen müssen.«

»Natürlich.«

Raeli blickte zu Auraya hinüber. »Dieses Gebäude wird gründlich gereinigt werden müssen.«

Auraya lächelte kläglich. »Einige Räume befinden sich in einem schlimmeren Zustand als andere. Möchtest du dich ein wenig umsehen?« Sie las die Antwort in Raelis Gedanken. »Dann komm. Ich zeige dir das Haus – und erzähle dir von meinen Plänen für den Umbau. Ich würde gern deine Meinung darüber hören, auf welche Weise wir die Wasserversorgung verändern sollten.«

Auraya beschrieb der Traumweberin, wie man sowohl kaltes als auch erwärmtes Wasser durch Rohre in verschiedene Teile des Gebäudes leiten konnte. Jeder Raum würde mit einem Abflussrohr versehen werden, mit dessen Hilfe er sich leichter sauber halten lassen würde. Es gab eigene Räume für Operationen und Lagerräume für Medikamente und Instrumente. Raeli machte mit leiser Stimme einfache Vorschläge und dachte regelmäßig an ältere, erfahrenere Traumweber, die in dieser Situation die besseren Ratgeber wären.

Als sie jeden Raum erkundet hatten, kehrten sie in die Haupthalle zurück. Raeli war still und nachdenklich und überlegte, dass sie stets über den Titel eines Traumweberratgebers gelacht hatte, weil sie nicht geglaubt hatte, dass die Weißen jemals ihren Rat beachten würden. Dann blickte sie plötzlich zu Auraya auf.

»Hast du etwas von Leiard gehört?«

Auraya zuckte zusammen und sah Raeli überrascht an. »Nein«, zwang sie sich zu antworten. »Und du?«

Raeli schüttelte den Kopf. Auraya erspürte die Gedanken der Frau und begriff, dass Leiard nicht nur aus ihrem eigenen Leben verschwunden war. Kein Traumweber hatte ihn seit der Schlacht gesehen. Die Traumweberälteste, Arleej, machte sich Sorgen um ihn und hatte alle Traumweber gebeten, ihr Bericht zu erstatten, falls er gesehen werden sollte.

Ein Stich der Sorge und des Schuldgefühls durchzuckte sie. War er vor der Welt geflohen, weil er befürchtete, Juran oder die Götter könnten ihn dafür bestrafen, dass er es gewagt hatte, ihr Geliebter zu werden? Oder befolgte er lediglich Jurans Anweisungen? Aber Juran hatte gesagt, dass er Leiard lediglich befohlen habe, fortzugehen, nicht vollends zu verschwinden.

Er hat Leiard auch nicht befohlen, mit einer Hure zu schlafen, rief sie sich ins Gedächtnis. Sie ging auf den Flur zu, und Raeli folgte ihr. Er muss gewusst haben, dass ich seine Gedanken lese, wenn ich ihm das nächste Mal begegne – wann immer das sein mag -, und dass ich bei dieser Gelegenheit von seiner Treulosigkeit erfahren werde.

Aber er war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Beziehung vorüber sei, also war er ihr im Grunde auch nicht untreu gewesen, ging es ihr durch den Kopf. Das wäre vielleicht noch verzeihlich gewesen, wenn wir uns längere Zeit nicht gesehen hätten, aber wir waren nur einen Tag voneinander getrennt. Sie unterdrückte ein Seufzen. Hör auf, darüber nachzudenken, befahl sie sich. Das führt nirgendwohin.

Auraya öffnete die Türen und trat hinaus ins Sonnenlicht. Zwei Plattans warteten vor dem Haus: der gemietete, der Raeli hierhergebracht hatte, und der weiß-goldene, mit dem Auraya gefahren war. Sie wandte sich zu Raeli um.

»Ich danke dir, dass du gekommen bist, Traumweberratgeberin Raeli.«

Raeli neigte leicht den Kopf. »Es war mir ein Vergnügen, Auraya von den Weißen. Ich werde deinen Vorschlag an Traumweberin Arleej weitergeben.«

Auraya nickte. Sie sah zu, wie Raeli in den Plattan stieg. Als der Wagen davonholperte, erinnerte sie sich plötzlich an ein bestimmtes Geräusch: an das Knarren einer Feder, wenn man eine Tierfalle aufstellte. Ich bin wie eine Jägerin, dachte sie. Ich weiß, dass ich meine Fallen zum Wohle anderer stelle, aber es gefällt mir nicht besonders. Emerahl hielt einen Eimer unter den Wasserfall und wartete, bis er gefüllt war. Obwohl sie das Gefäß nur an den Rand des Wasserfalls hielt, war die Gewalt, mit der das Wasser herabstürzte, so groß, dass ihr Arm davon schmerzte.

Sie hatte den größten Teil der vergangenen Tage darauf verwandt, die Höhle zu einem behaglichen Heim zu machen. Sie hatte einen kleinen Baum gefällt, ihn zerlegt und mehrere Holzstücke zusammengebunden, um zwei schlichte Betten und einen Wandschirm anzufertigen, hinter dem sie und Mirar ihre Notdurft verrichten konnten. Zur Entsorgung ihrer Hinterlassenschaften und für den Transport von Trinkwasser hatte sie aus dem Baumstamm auch mehrere hölzerne Eimer geschnitzt.

Da Mirar innerhalb des Leeren Raums bleiben musste, fiel es ihr zu, Wasser zu holen und Nahrung zu sammeln – aber das war eine Aufgabe, der sie mit Freuden nachkam. Der Wald war ein Ort der Fülle, mit essbaren Pflanzen, Tieren und Pilzen. Es hatte sich nur wenig verändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Ohne Magie und hunderte von Jahren gesammelten Wissens wäre das Leben hier schwieriger gewesen. Und gefährlicher.

Es gab ebenso viele giftige wie ungiftige Pflanzen im Wald. Emerahl hatte mehrere wunderschöne, giftige Insekten gesehen, aber sie lauerten in Nischen und Löchern, in die nur ein Narr die Hand schieben würde. Die größeren Raubtiere wie Leramer oder Worns hätten vielleicht ein Problem dargestellt, hätte sie nicht über Magie geboten, mit denen sie sie abwehren konnte. Sie wusste um die betörende Wirkung der Schlafrebe, die einen telepathischen Ruf benutzte, um Tiere dazu zu verlocken, sich auf ihren Teppich aus weichen Blättern zu betten, während sie sie langsam in einem Griff umschlang, der sie zu guter Letzt erstickte und verstümmelte. Emerahl war vor langer Zeit einem Pflanzenzüchter begegnet, der Reichtümer damit angehäuft hatte, eine schwächere Zwergvariante der Pflanze an vornehme Herren und Damen zu verkaufen, die Probleme mit dem Schlafen hatten.

Der Eimer war inzwischen übervoll. Sie umfasste den groben Seilgriff mit einer Hand und hob den zweiten Eimer auf. Dieser war mit der nachmittäglichen Ernte gefüllt. Mit beiden Eimern kehrte sie in den Tunnel zurück.

Als sie in die Höhle trat, sah sie, dass Mirar auf seinem Bett lag und zu der hohen Decke emporblickte. Eine Aura von Melancholie umgab ihn. Er wandte ihr den Kopf zu, dann richtete er sich langsam auf.

»Das Abendessen«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte. Er sagte nichts. Sie stellte die Eimer auf den Boden und betrachtete den großen, glatten Stein, den sie vor zwei Tagen in die Höhle gerollt hatte. Was früher einmal eine flache, natürliche Vertiefung in dem Stein gewesen war, war jetzt ein großer Hohlraum. »Danke.«

Er sah sie an, sagte jedoch nichts.

Leiard muss gerade die Kontrolle haben, befand sie. Es war nicht die Melancholie, die ihr das verriet. Auch Mirar neigte zu Niedergeschlagenheit, aber er hätte gewiss irgendeine witzige Bemerkung auf den Lippen gehabt, sobald sie erschienen war. Mirar war der bei weitem redseligere ihrer beiden Gefährten.

Sie goss ein wenig Wasser in die Vertiefung, dann machte sie sich daran, die Blätter in Streifen zu reißen.

»Die willst du doch nicht etwa kochen, oder?«

Sie blickte auf und stellte fest, dass er einen Pilz in ihrem Eimer zweifelnd beäugte.

»Nein.« Sie lächelte. »Ich werde sie später trocknen. Für meine neue Sammlung.«

»Deine Sammlung von…?«

»Medizinen. Heilmitteln. Dingen, die Freude schenken.«

»Ah.« Er zog die Brauen in die Höhe. Sie spürte zuerst Nachdenklichkeit bei ihm, dann Missbilligung. Letzteres war vermutlich auf die Erkenntnis zurückzuführen, was sie mit »Dingen, die Freude schenken« meinte.

Bei Gesprächen mit Leiard kam sie sich immer vor wie jemand, der einen alten Mann an Dinge erinnerte, die er vergessen hatte. Zweifellos hatte er Mirars Erinnerungen an sie angezapft, als sie geantwortet hatte, und erfahren, dass sie manchmal als Heilerin arbeitete und bisweilen Gebräue zur Unterhaltung reicher Adliger verkaufte. Er neigte ein wenig zu Vorurteilen.

Es war nicht leicht, sich mit Leiard zu unterhalten. Er konnte die Fragen, die sie normalerweise stellte, wenn sie etwas über jemanden wissen wollte, nicht beantworten. Fragen wie: »Wie lange bist du schon Traumweber? Wo wurdest du geboren? Eltern? Geschwister?«

Auch ihr Widerstreben zu glauben, er sei eine reale Person, hielt sie zurück. Er war vermutlich eine Verirrung der Natur – eine Persönlichkeit, die sich auf irgendeine Weise zu der Mirars hingezogen fühlte. Obwohl Mirar sich nicht daran erinnern konnte, wie oder warum dies geschehen war oder ob er diese Entwicklung willkommen geheißen hatte oder nicht, war er offenkundig nicht glücklich mit der Situation. Sie machte sich auch Sorgen, dass sie durch ihre Gespräche mit Leiard seine Identität stärken und damit seine Macht über Mirar vergrößern würde; andererseits bezweifelte sie, dass Leiard sich zurückziehen würde, wenn sie ihn einfach ignorierte.

Vielleicht muss ich auf eine Art und Weise mit ihm reden, die ihn schwächt. Ich könnte versuchen, ihn dazu zu bringen, an seiner Identität zu zweifeln. Dann würde Mirar vielleicht endgültig die Kontrolle gewinnen.

Aber was war, wenn sie sich irrte? Was, wenn Leiard die reale Person und Mirar nur ein Nachhall von Netzerinnerungen war – wie Leiard es glaubte? Gab es eine Möglichkeit, zu beweisen, wer der wahre Besitzer dieses Körpers war?

Sie hielt in der Arbeit inne und betrachtete die mit Wasser gefüllte Vertiefung in dem Stein. In der Oberfläche spiegelte sich Mirars Gesicht, aber der Ausdruck darauf gehörte einem anderen.

Mirar ist ein Wilder. Er besitzt Gaben, über die kein gewöhnlicher Zauberer verfügt. Die Fähigkeit, die Alterung seines Körpers zu verhindern. Die Fähigkeit, bis zur Perfektion zu heilen, ohne Narben zu hinterlassen. Wenn er diese Dinge noch immer tun kann, muss er Mirar sein.

Sie konnte ihn auf die Probe stellen. Einige Übungen zum Beweis, dass er ein Wilder war, würden ihren Zwecken vielleicht genügen.

Es sei denn, Leiard wäre ebenfalls ein Wilder.

Sie schüttelte den Kopf. Auch wenn das nicht unmöglich war, wäre es doch ein zu großer Zufall gewesen. Wie hoch standen die Chancen, dass ein neuer Wilder geboren wurde, der genauso aussah wie Mirar?

Es sei denn… es sei denn, er hatte nicht von Geburt an ausgesehen wie Mirar, sondern so viele Netzerinnerungen erworben, dass er sich seiner eigenen Identität nicht mehr sicher war und unbewusst begonnen hatte, seine Erscheinung zu verändern. Mirar hatte ihr erzählt, dass sein Aussehen sich während der letzten zwei Jahre erheblich verändert hätte.

Der Gedanke ließ sie schaudern. Miterleben zu müssen, wie die eigene Persönlichkeit langsam zu der eines anderen wurde …

Gleichzeitig erfüllte diese Möglichkeit sie mit eigensüchtigem Jubel. Kümmerte es sie wirklich, ob jemand, den sie nicht kannte, seine Identität verlor, wenn das bedeutete, dass sie Mirar zurückbekam?

Ich bin ein böses Weib, dachte sie.

Sie nahm den Pilz aus dem Eimer und legte ihn beiseite. Auf dem Boden des Gefäßes schwammen in dem etwa fingerbreit tiefen Wasser mehrere Süßwasser-Shrimmi, deren Fühler noch immer schwach zuckten. Emerahl zog ein wenig Magie in sich hinein und erhitzte das Wasser in der Vertiefung des Steins. Als es heftig kochte, griff sie nach den Shrimmi und warf sie, immer zwei gleichzeitig, in das Wasser. Sie stießen schrille Kreischlaute aus, als sie starben, aber es war ein schnellerer Tod als die Alternative, sie langsam an der Luft ersticken zu lassen.

Leiard wich leicht zurück, dann beugte er sich tiefer über den Stein. Sie spürte, dass seine Stimmung sich plötzlich aufhellte, und als er aufblickte und ihr zulächelte, wusste sie, dass Mirar zurück war.

»Hm. Das Essen sieht gut aus. Was gibt es zum Nachtisch?«

»Nichts.«

Er zog einen Schmollmund. »Ich rackere mich den ganzen Tag mit dem Kochgeschirr ab, und du kannst mir nicht mal ein paar Früchte oder etwas Honig suchen?«

»Ich könnte dir eine Handvoll Flammenbeeren holen. Ich habe gehört, dass sie recht süß sein sollen – auf der Zunge.«

Er verzog das Gesicht. »Nein, vielen Dank. Ich ziehe es vor, in seliger Unwissenheit zu leben, was meine Gedärme und deren Funktionsweise betrifft.«

Sie nahm die Shrimmi aus dem Wasser, dann gab sie die in Streifen gerissenen Blätter hinzu, die schnell zusammenschrumpften. Als sie zu ihrer Zufriedenheit gegart waren, griff sie nach zwei hölzernen Tellern und teilte das Mahl auf. Aus den Krügen in ihrer Nähe nahm sie etwas Salz und geröstete Nüsse und streute beides über das Gemüse – ein wenig Würze für das fade, aber nahrhafte Essen.

Mirar nahm seinen Teller entgegen und aß mit seiner üblichen Begeisterung. Dies war eine der wenigen Gewohnheiten, die er mit Leiard gemein hatte. Sie wussten beide gutes Essen zu schätzen. Emerahl lächelte. Einem Menschen, der sich nichts aus Essen machte, fehlte etwas Entscheidendes.

»Was hast du sonst noch getan, während ich fort war?«, fragte sie.

Er zuckte die Achseln. »Nachgedacht. Mit mir selbst geredet.« Er rümpfte die Nase. »Mit mir selbst gestritten.«

»Oh? Und wer hat gewonnen?«

»Ich, glaube ich.«

»Worüber hast du gestritten?«

Er schälte eine Shrimmi und warf ihre Schale in einen Eimer. »Über die Frage, wem dieser Körper gehört.«

»Zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Er gehört mir.« Er blickte an sich hinab. »Ich erkenne ihn wieder. Du erkennst ihn wieder. Deshalb muss es meiner sein.«

Sie lächelte. »Ich dachte, ich hätte heute eine Möglichkeit ersonnen, dies zu beweisen. Wenn du beweisen könntest, dass du ein Wilder bist, würdest du wissen, dass dein Körper dir gehört.«

Er kicherte. »Und?«

»Was ist, wenn Leiard ein neuer Wilder ist, der mit deinen Netzerinnerungen infiziert wurde, und du seine Kräfte genutzt hast, um seinen Körper so zu verändern, dass er wie dein eigener aussieht?«

»Infiziert?« Er blickte gekränkt drein. »Das ist keine schmeichelhafte Betrachtungsweise.«

»Nein«, stimmte sie ihm zu. Sie fing seinen Blick auf und hielt ihm stand.

Er schaute weg. »Es ist möglich. Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.«

Sie spürte seine Mutlosigkeit, und Mitleid stieg in ihr auf. Dann traf sie wie ein Blitz eine Erkenntnis. »Erinnerungen! Du musst die Erinnerungen zurückgewinnen, die du verloren hast, um zu wissen, wer du bist.«

Mirar wirkte mit einem Mal beklommen. »Wenn ich nicht mehr bin als eine Manifestation von Netzerinnerungen, wird nichts da sein, was ich zurückgewinnen könnte.«

Emerahl stand auf und begann, in der Höhle auf und ab zu gehen. »Ja, aber wenn es nicht so ist, wirst du Erinnerungen haben, die unmöglich Leiard gehören können.«

»Wie zum Beispiel?«

Sie holte tief Luft. »Erinnerungen wie den Turmtraum. Ich vermute, dass dieser Traum eine Erinnerung an deinen Tod ist.«

»Ein Todestraum soll beweisen, dass ich noch lebe?« Er lächelte schief. »Inwiefern würde das beweisen, dass dies mein Körper ist? Es könnte sich lediglich um eine weitere Netzerinnerung handeln. Ich könnte die Erfahrung einem anderen Traumweber geschickt haben, der sie seinerseits weitergegeben hat, bis sie Leiard erreichte.«

»Aber keiner von euch erinnert sich daran, diesen Traum gehabt zu haben.«

»Das ist wahr.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Trotzdem glaubst du, dass ich die Quelle des Traums bin.«

Sie setzte sich hin. »Der Traum ist immer stärker geworden, je näher ich dir kam. Wir sind jetzt weit entfernt von anderen Menschen, und trotzdem ist der Traum immer noch ausgesprochen lebendig. Ich träume ihn nur, wenn du ebenfalls schläfst.«

»Wie könnte ich einen Traum aussenden, von dem ich nicht einmal weiß, dass ich ihn habe?«, fragte er, obwohl sie seinem Tonfall entnahm, dass er die Antwort bereits kannte. Schließlich verstand er sich meisterlich auf Träume.

»Wir können uns an unsere Träume nicht immer erinnern«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Und dies ist ein Traum, an den du dich vielleicht nicht erinnern willst.«

»Wenn ich mich also dazu zwingen würde, mich an den Traum zu erinnern, würden mir vielleicht auch andere Dinge wieder einfallen. Wie zum Beispiel eine Erklärung dafür, warum sich in meinem Kopf eine andere Person befindet.«

»Das sollte für den Begründer des Traumweberkults nicht allzu schwierig sein.«

Er lachte leise. »Ich habe einen Ruf zu verteidigen.«

»Ja.« Sie hielt seinem Blick stand. »Einen Ruf, der während der letzten hundert Jahre nicht geringer geworden ist. Wenn du Mirar bist, werden die Götter nicht gerade einen Festtag ausrufen, um dich willkommen zu heißen. Es ist an der Zeit, dass ich dich lehre, wie du deine Gedanken verbergen kannst. Wollen wir jetzt sofort damit anfangen?«

Mirar nickte resigniert und schob seinen leeren Teller fort.


Die Traumweberälteste Arleej schenkte zwei Gläser Ahm ein, ging damit zu den Sesseln am Feuer und reichte eines davon an Meeran weiter. Der alte Traumweber nahm das Getränk dankbar entgegen und führte sein Glas an die Lippen.

Arleej nippte an dem Ahm und betrachtete ihren alten Freund forschend. Er hatte kein Wort über die Neuigkeiten verloren, sondern war nur zu einem Sessel gegangen und hatte sich hineinfallen lassen. Nachdem sie ihm gegenüber Platz genommen hatte, stellte sie ihr Glas beiseite.

»Also, was sollen wir deiner Meinung nach tun?«

Meeran drückte sich die Hände ans Gesicht. »Du fragst mich nach meiner Meinung? Eine solche Entscheidung kann ich nicht treffen.«

»Nein, natürlich nicht. Soweit ich mich erinnere, bist du nicht der Anführer der Traumweber.«

Er ließ die Hände sinken und bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Warum befolgst du dann immer meinen Rat?«

Sie kicherte. »Weil er immer gut ist.«

Er verzog das Gesicht. »Ich möchte dir zur Vorsicht raten, aber ein Teil von mir möchte auch, dass wir diese Gelegenheit beim Schopf packen, bevor sie sich als eine weitere Laune Aurayas entpuppt und sie einen anderen Zeitvertreib findet.«

Arleej runzelte die Stirn. Manchmal bedauerte sie es beinahe, dass sie Meeran von Leiards Affäre mit Auraya von den Weißen erzählt hatte. Diese Information hatte Auraya in seinem Ansehen sinken lassen. Seine Missbilligung erinnerte sie daran, dass sie sich nicht allzu sehr von dieser Weißen begeistern lassen sollte, die die Traumweber begünstigte. Als Meeran erklärt hatte, Auraya sei der Grund für Leiards Niedergang, war er von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt gewesen.

Obwohl Arleej nicht die leiseste Ahnung hatte, wo Leiard jetzt sein mochte. Er war nach der Schlacht verschwunden, und sie war nicht in der Lage gewesen, ihn durch Traumvernetzungen zu erreichen. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als Jayims Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie das bisher noch nicht bereut hatte. Der Junge erwies sich als ein tüchtiger und liebenswerter Schüler.

Ob Auraya nun der Grund für Leiards Verschwinden war oder nicht, es schien, als sei sie immer noch bestrebt, Frieden und Toleranz zwischen Zirklern und Traumwebern zu fördern. Dieses letzte Angebot – die Gründung eines Hospitals in Jarime, in dem Traumweber mit Heilerpriestern zusammenarbeiten sollten – war verblüffend und kam außerdem genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Zirkler hatten mit angesehen, wie viel Gutes die Traumweber für die Verwundeten auf dem Schlachtfeld hatten tun können. Die Heiden hatten ihren Wert für die Heilerpriester unter Beweis gestellt. Es war nur vernünftig, zu dem Schluss zu kommen, dass die Heilkunst der beste Weg zu Frieden und Toleranz zwischen den beiden Kulten sein würde.

»Aber wo liegt der Haken?«, fragte Arleej laut.

Meeran sah sie an und lächelte schief. »Der Haken?«

»Ja. Werden die Traumweber zu dem Schluss kommen, dass die Zirkler ein besseres Leben haben, und werden sie uns verlassen, um sich ihnen anzuschließen?«

Der alte Mann lachte leise. »Oder werden die Zirkler zu dem Schluss kommen, dass ihnen unsere Art zu leben lieber ist, so dass wir plötzlich zu viele neue Schüler zu unterrichten hätten?«

Sie griff nach ihrem Glas, nahm einen Schluck und stellte es dann wieder weg. »Wie nahe werden unsere Leute und ihre sich bei der Arbeit kommen? Wenn sie plötzlich zu der Auffassung gelangen, dass unsere Medizinen und Heilmethoden lohnend sind, werden sie sie dann übernehmen wollen?«

»Wahrscheinlich. Aber wir haben noch nie ein Geheimnis daraus gemacht.«

»Das ist wahr. Und ich bezweifle, dass ihr Interesse oder ihre Toleranz sich auf unsere Vernetzungsfähigkeiten erstrecken wird.«

Meeran rümpfte die Nase. »In weiten Teilen Nordithanias gibt es noch immer ein Gesetz gegen die Traumvernetzung. Die Traumweber sollten es unbedingt vermeiden, sich in irgendeiner Weise mit ihren Patienten zu vernetzen, solange Zirkler sie beobachten. Ich bezweifle, dass die Weiße die Absicht hat, uns zu gesetzeswidrigen Taten zu verleiten, damit man uns einsperren kann, aber wir sollten in diesen Dingen dennoch Vorsicht walten lassen.«

»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Für mich klingt das so, als würdest du mir raten, das Angebot anzunehmen.«

Er sah ihr in die Augen, dann wandte er den Blick wieder ab. Schließlich nickte er langsam. »Ja. Aber… besprich dich auch mit den anderen und lass dir ihre Zustimmung geben.«

»Das ist eine gute Idee. Wir werden darüber abstimmen. Ich werde mich heute Nacht mit den Anführern anderer Länder im Traum vernetzen.« Sie griff nach ihrem Glas und reichte es Meeran. »Ich werde einen klaren Kopf brauchen.«

Er nahm das Glas entgegen, trank jedoch nicht. Stattdessen sah er sie mit einem eigenartigen Ausdruck an.

»Ich habe das schreckliche Gefühl, dass wir einem Augenblick großer Veränderung gegenüberstehen. Entweder werden wir uns eine wunderbare Gelegenheit entgehen lassen, den Völkern Nordithanias unseren Wert zu beweisen, oder wir werden uns überflüssig machen.«

Arleej schüttelte den Kopf. »Selbst wenn die Zirkler uns an Heilkenntnissen übertreffen sollten, selbst wenn sie lernen würden, durch Träume und Gedankenvernetzungen zu heilen, werden sie niemals all das sein können, was wir sind. Jene, die die Wahrheit suchen, werden immer zu uns kommen.«

»Ja.« Er lächelte und hob sein Glas. »Auf die Netzerinnerungen.«

6

Auch nach einer Woche hatte sich die Stimmung der Götterdiener nicht gebessert. Reivan fragte sich mehrmals am Tag, ob ihre Kälte nur gegen sie gerichtet war. Alle Gespräche endeten, sobald sie in die Nähe kam. Wenn sie mit einer Frage oder einer Bitte an einen Götterdiener herantrat, wurde sie schnell und verächtlich abgefertigt. Wenn sie im Flur an zwei Götterdienern vorbeikam, geschah es manchmal, dass einer sich zu dem anderen vorbeugte und mit ihm tuschelte.

Sie sagte sich, dass sie einfach nicht an die Sitten und Gepflogenheiten hier gewöhnt war. Die Götterdiener in dem Kloster, in dem sie aufgewachsen war, waren zwar still und zurückhaltend gewesen, aber während der vergangenen Jahre hatte sie anregendere Gesellschaft genossen. Die Denker mochten sie nicht respektiert haben, aber sie hatte immer einige von ihnen in ein Gespräch verwickeln können – oder zumindest in eine Debatte. Sie war es gewohnt, unter temperamentvolleren, freundlicheren Menschen zu leben, das war alles.

Die Ergebene Drevva und die anderen Götterdiener, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten prüften, behandelten sie gerecht, erkannten ihre Stärken an und machten keinen allzu großen Wirbel um ihre Schwächen, nicht einmal um ihren offenkundigen Mangel an übernatürlichen Fähigkeiten. Die anderen hoffnungsvollen Neulinge des Sanktuariums waren auf eine Art und Weise höflich, wie junge Menschen sie jenen gegenüber an den Tag legten, die nicht im selben Alter waren.

Die Bäder des Sanktuariums entschädigten sie in hohem Maße für ihr enges, kleines Zimmer. Sauberkeit galt als unabdingbar für einen Diener der Götter, und man erwartete von allen Männern und Frauen, dass sie jeden Morgen eine Stunde in einer Wanne zubrachten und sich gründlich schrubbten. Solchermaßen erfrischt, zog Reivan die schlichten Kleider an, mit denen das Sanktuarium sie ausgestattet hatte, dann verließ sie den Raum. Als sie an einer Tür vorbeikam, fing sie Bruchstücke eines Gesprächs aus der in Dampf gehüllten Waschkammer dahinter auf.

»… Imenjas Schoßtier weihen.«

»Sie hat die Prüfungen bestanden? Ich dachte, sie sei unbefähigt.«

»Der Befehl kam direkt von der Zweiten Stimme. Ich soll sie durchwinken, solange sie die anderen Prüfungen besteht.«

Reivan erstarrte. Imenjas Schoßtier? Sie mussten von ihr sprechen. Keiner der anderen Neulinge hatte, soweit sie wusste, eine Beziehung zu Imenja.

»Ich verstehe es nicht«, fügte die erste Sprecherin hinzu. Erschrocken stellte Reivan fest, dass es sich um die Ergebene Drevva handelte. »Welchen Sinn hat es, sie zu einer Götterdienerin zu machen, wenn sie über keinerlei magische Fähigkeiten verfügt? Warum ernennt sie sie nicht einfach zu einer Ratgeberin?«

Reivans Magen krampfte sich zusammen.

»Ich habe gehört, dass sie das als Belohnung gefordert haben soll.«

»Was? Eine Weihe zur Götterdienerin ist nichts, was man verteilen kann wie Süßigkeiten an ein braves Kind!«

»Hmm«, erklang jetzt eine dritte Stimme. »Das verleidet sie mir noch mehr. Wenn es ihr bestimmt wäre, eine Götterdienerin zu sein, wäre sie mit größeren Fähigkeiten geboren worden.«

Der Klang näher kommender Schritte lenkte Reivans Aufmerksamkeit wieder auf ihre unmittelbare Umgebung. Ihr war klar, dass jeder, der sie vor der Tür herumlungern sah, sie verdächtigen würde, zu spionieren – und sie brauchte den Götterdienern wahrhaftig keine weiteren Gründe zu liefern, sie zu hassen. Also setzte sie ihren Weg fort.

Zurück in ihrem Zimmer, hockte sie sich auf die Bettkante und seufzte.

Also war mein Argwohn doch nicht übertrieben. Sie behandeln mich tatsächlich anders. Und es liegt daran, dass ich unbefähigt bin.

Was im Grunde keine Überraschung war. Die Tatsache, dass sie übernatürliche Fähigkeiten besaßen, machte die Götterdiener zu etwas Besonderem. Genauso, wie ihre Klugheit den Denkern ihren Platz in der Gesellschaft sicherte. Es war eine Ironie des Schicksals zu entdecken, dass die Götterdiener sich des Gefühls, anderen überlegen zu sein, ebenso unsicher waren wie die Denker und genau wie diese versuchten, es sich durch Ausgrenzung aller anderen zu erhalten.

Das ist ihre Schwäche, dachte sie. Allerdings keine Schwäche, die ich mir ohne weiteres zunutze machen könnte. Ich bin nicht hier, um die Götterdiener in irgendeinem Wettkampf zu übertreffen. Ich bin hier, um mich ihnen anzuschließen.

Die Schritte, die sie kurz zuvor im Flur gehört hatte, hielten vor ihrer Tür plötzlich inne, und sie sah, dass etwas unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Sie stand auf und bückte sich, um es aufzuheben.

Es war eine kleine Schriftrolle, leicht zerdrückt an der Stelle, an der sie unter der Tür hindurchgezwängt worden war. Sie lachte leise, als sie sah, dass das Schreiben an »Götterdienerin Reivan Riedschneider« adressiert war. Noch bin ich keine Götterdienerin, dachte sie erheitert.

Sie drehte die Schriftrolle um, und ihre Erheiterung löste sich in nichts auf, als sie das Siegel der Denker sah. Sie erbrach es, breitete die Schriftrolle aus und begann zu lesen.

Götterdienerin Reivan Riedschneider,

es ist uns zu Gehör gekommen, dass Du in das Sanktuarium eingetreten bist, in der Absicht, eine Götterdienerin zu werden. Da dies von Dir verlangt, dass Du Deine Zeit, Deine Fähigkeiten und Dein Leben zur Gänze den Göttern weihst, kannst Du die Bedingungen, die an eine Denkerin gestellt werden, selbstverständlich nicht mehr erfüllen. Niemand kann zwei Herren dienen. Deine Mitgliedschaft wurde Dir entzogen.

Erster Denker Hitte Sandreiter

Reivan stellte fest, dass ihr Herz raste. Sie murmelte einen Fluch. Wenn sie die Prüfungen nicht bestand und keine Götterdienerin wurde, würde sie, wenn sie das Sanktuarium verließ, kein Heim mehr besitzen, nur geringes Vermögen und keine gesetzlichen Möglichkeiten, sich mit etwas anderem als niederen Arbeiten ein Einkommen zu sichern. Sie riskierte ihre Zukunft – sogar ihr Leben – für Prüfungen, die sie unmöglich bestehen konnte.

Nein, dachte sie und holte tief Atem. Imenja hat ihr Wort gehalten. Sie hat Drevva befohlen, meinen Mangel an magischen Fähigkeiten zu ignorieren. Ich kann nur hoffen, dass ich die anderen Prüfungen bestanden habe.

Es klopfte an ihrer Tür. Sie schob den Brief unter ihre Matratze und ging durch den Raum, um die Tür zu öffnen. Im Flur stand die Ergebene Drevva, ein Bündel aus schwarzem Tuch in Händen.

»Zieh das an und komm in mein Zimmer«, befahl sie.

Reivan schloss die Tür und entfaltete das Bündel. Es war die Robe eines Götterdieners. Ihr Herz begann abermals heftiger zu schlagen, und ihre Hände zitterten, als sie die Robe hastig überstreifte. Dann strich sie den Stoff glatt und fragte sich, wie sie wohl darin aussehen mochte. Stand ihr das Gewand? Verlieh es ihr die Aura von Autorität, die sie in der Vergangenheit bei anderen Götterdienern bewundert hatte?

Allerdings gehörte noch kein Sternenanhänger der Dienerschaft dazu. Den würde sie bekommen, wenn sie ihr Noviziat beendete.

Ich habe noch immer so viel zu lernen, ging es ihr durch den Kopf. Sie werden es mir nicht leichtmachen, aber vielleicht ist es das Beste so. Es sollte nicht leicht sein, ein Götterdiener zu werden. Ich muss beweisen, dass ich dieser Ehre würdig bin.

Sie straffte sich. Und ich werde es beweisen. Und sei es auch nur, um Imenjas Entscheidung zu rechtfertigen.

Sie klammerte sich an dieses Gefühl der Entschlossenheit und verließ den Raum. Auch andere Neulinge, die ebenfalls in Schwarz gewandet waren, liefen aufgeregt durch den Flur und klopften an alle Türen ihrer Gefährten. Einer bemerkte sie und grinste. Sie erwiderte sein Lächeln.

Dieses Chaos formte sich schnell zu einer Reihe schwarzgewandeter Neulinge, die auf dem Weg zu Drevvas Zimmer waren. Die Ergebene erwartete sie vor ihrer Tür. Sie sah einen jeden von ihnen genau an, dann nickte sie.

»Es ist an der Zeit«, sagte sie. Mit diesen Worten drehte sie sich um und führte sie den Gang hinunter zum Hauptflur.

Während Reivan der Gruppe folgte, konnte sie nicht umhin, an Drevvas Worte im Badehaus zu denken. Sie fühlte sich ein wenig verraten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Reivan geglaubt, die Frau sei von allen Götterdienern, denen sie bisher begegnet war, diejenige, die ihr am wenigsten unfreundlich begegnete. Drevva hatte ihre wahren Gefühle gut zu verbergen gewusst.

Ihr Weg führte sie stetig hügelaufwärts. Das Untere Sanktuarium war ein Gewirr von Gebäuden, aber der Hauptweg durchschnitt sie in einer geraden Linie. Schließlich erreichten sie die weiß getünchten Mauern des Mittleren Sanktuariums. Drevva wies sie an, sich in einer Reihe vor einer schmalen Tür aufzustellen, durch die sie verschwand.

Einer nach dem anderen betraten die zukünftigen Novizen das Gebäude. Als Reivan nahe genug stand, um durch die Tür zu schauen, erhaschte sie einen Blick auf einen großen Raum mit schwarzen Wänden. Der Boden war mit schwarzen Fliesen bedeckt. Ihr Herz begann zu rasen.

Das ist der Sternensaal!

Sie war im Begriff, den Ort zu betreten, an dem die geheimsten Zeremonien abgehalten wurden. Den Ort, an dem die Stimmen mit den Göttern in Verbindung traten. In dem Raum konnte sie dunkelhäutige Dekkaner aus den Dschungeln des Südens sehen, hellhäutige, hochgewachsene Männer und Frauen der Wüstenvölker von Avven, daneben Leute aus Mur mit breiten Gesichtern und sandfarbenem Haar sowie einige Personen, die gemischten Blutlinien entstammen mussten. Alle trugen schwarze Roben. Alle würden bezeugen, wie sie zu einer Novizin gemacht wurde. Reivan ertappte sich dabei, dass sie an ihren Fingernägeln kaute – eine alte Angewohnheit aus Kindertagen -, und zwang sich, die Hände sinken zu lassen.

Der junge Mann vor ihr trat in den Raum. Jetzt, da sie einen ungehinderten Blick hatte, konnte Reivan den Sternensaal genauer erkennen. Er hatte fünf Wände, und ein in den Boden eingelassenes silbernes Band formte die Linien eines Sterns, dessen Spitzen bis in die Ecken des Raums reichten. In der Mitte stand eine vertraute Gestalt. Reivan wurde ein wenig leichter ums Herz.

Imenja.

Die Stimme streckte eine Hand nach dem jungen Mann aus, die Handinnenfläche nach oben gedreht, die Finger gespreizt, und sprach die rituellen Worte. Er legte nervös seine Hand auf ihre. Reivan hörte ihn etwas murmeln, dann kam Imenjas Antwort. Anschließend schlug die Stimme das Zeichen des Sterns über ihrer Brust, und der junge Mann folgte ihrem Beispiel. Er neigte den Kopf und eilte zu der Gruppe frisch geweihter Novizen hinüber.

Imenja blickte zu Reivan auf, lächelte und winkte sie heran.

Reivan holte tief Luft und trat, wie sie hoffte, mit würdevoller Anmut in den Raum. Als sie vor der Stimme stehen blieb, wurde Imenjas Lächeln breiter.

»Reivan von den Denkern«, sagte sie. »Wir verdanken dir viel, aber das ist nicht der Grund, warum du heute hier bist. Du stehst jetzt vor mir, weil du mehr als alles andere den Göttern dienen willst und weil du dich dieser Aufgabe als würdig erwiesen hast.« Sie streckte die Hand aus. »Schwörst du, den Göttern zu dienen und zu gehorchen und sie über alles andere zu stellen?«

Reivan drückte ihre Hand leicht auf Imenjas. »Ich schwöre es.«

»Dann wirst du von diesem Augenblick als Dienernovizin Reivan bekannt sein. Wir heißen dich in unserer Mitte willkommen.«

Sie lösten ihre Hände voneinander. Reivan nahm jedes Geräusch um sich herum wahr, jedes Schlurfen von Füßen, jedes unterdrückte Hüsteln von den umstehenden Götterdienern. Imenja schlug das Zeichen des Sterns. Reivans Hand bewegte sich durch die symbolische Geste, als besäße sie einen eigenen Willen. Dann neigte sie den Kopf und trat beiseite. Ihre Beine fühlten sich schwach und zittrig an, als sie zu den anderen neu ernannten Dienernovizen hinüberging.

»Heute haben sich acht junge Männer und Frauen dafür entschieden, ihr Leben den Göttern zu weihen«, sagte Imenja mit ruhiger Stimme. »Heißt sie willkommen. Unterrichtet sie. Helft ihnen, ihr Potenzial zu erkennen. Sie sind unsere Zukunft.«

Als sie aus dem Stern heraustrat, füllte sich der Raum mit Geräuschen. Die Götterdiener entfernten sich von der Wand, und ihre Sandalen scharrten über den Boden. Einige kamen auf die neuen Dienernovizen zu, die sie zu kennen schienen. Die Übrigen versammelten sich zu kleinen Gruppen, und ihre Stimmen hallten von den Wänden wider. Zu Reivans Entsetzen ging Imenja zur Tür hinüber und verschwand.

Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte, und als niemand auf sie zukam, um ihr Anweisungen zu geben, blieb sie stehen, wo sie war, und beobachtete die Menschen um sich herum. Niemand sah sie an. Ein Stich der Einsamkeit durchzuckte sie, eine Regung, die sie überraschte.

Da nun mehrere Götterdiener den Raum verließen, vermutete sie, dass sie ebenfalls davonschlüpfen konnte. Sie schlenderte auf den Ausgang zu und hoffte, dass man ihr Fortgehen nicht unhöflich finden würde.

»Dienernovizin Reivan.«

Die Stimme gehörte einem Mann, und sie war ihr fremd. Als Reivan sich umdrehte, sah sie einen recht attraktiven Ergebenen Götterdiener näher kommen. Es war Nekaun, einer der wenigen, deren Namen sie sich während des Krieges gemerkt hatte. Es ist immer einfacher, sich an die Namen gutaussehender Menschen zu erinnern, überlegte sie.

Er lächelte geduldig, während sie respektvoll das Zeichen des Sterns schlug. »Willkommen im Sanktuarium, Reivan«, sagte er. »Ich bin Nekaun.«

Sie neigte den Kopf. »Vielen Dank, Ergebener Götterdiener Nekaun.«

»Du wirst eine gute Götterdienerin abgeben.«

Sie konnte keinen Anflug von Verachtung in seiner Stimme wahrnehmen und brachte ein Lächeln zuwege, obwohl sie befürchtete, dass es eher wie eine Grimasse wirken musste. »Ich hoffe es.«

Eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Ich vermute, dass du das Gefühl hast, nicht hierher zu passen. Hab ich recht?«

Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.«

»Gib dir nicht allzu große Mühe, daran etwas zu ändern«, fuhr er fort. »Imenja hat dich nicht auserwählt, weil du wie alle anderen bist.«

Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, fand aber nicht die richtigen Worte. Nekaun lächelte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Bei den Göttern, aus der Nähe sieht er noch besser aus, dachte sie. Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte, aber es spielte auch keine Rolle, da er sich jetzt im Raum umblickte.

»So viel Geplapper. Weißt du, worüber sie reden?«

Sie schüttelte automatisch den Kopf, dann lächelte sie, als ihr aufging, dass sie es sehr wohl wusste. »Sie fragen sich, wer die nächste Erste Stimme sein wird?«

Er nickte. »Seit unserer Rückkehr haben sie nicht mehr aufgehört zu schwatzen. Es ist erst eine Woche her, und ich fürchte schon jetzt um meinen Verstand.« Er schüttelte den Kopf, aber in seinen Augen lag ein Glitzern, das seine gequälte Miene Lügen strafte.

»Ich nehme an, ihr alle werdet euch während der nächsten Wochen mächtig anstrengen, um den Rest von uns zu beeindrucken«, sagte sie kühn. Dann spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Flirte ich mit ihm?

»Bin ich so durchschaubar?« Er lachte leise. »Natürlich bin ich das, aber glaube nicht, ich hätte dich einzig und allein deshalb angesprochen, weil ich deine Gunst erringen will. Ich wünsche dir alles Gute, und ich werde deine Fortschritte mit Interesse beobachten.«

Seine Offenheit half ihr, sich ein wenig zu entspannen, obwohl sie sich nicht sicher war, warum. »Das ist gut so. Da ich nur eine Novizin bin, werde ich nicht wählen, und du kannst kaum hoffen, deine Beliebtheit im Sanktuarium zu steigern, indem du mich so offen willkommen heißt.«

Sofort bedauerte sie ihre Worte. Törichtes Mädchen. Wenn du noch lange davon sprichst, wie unbeliebt du bist, wird er zu dem Schluss kommen, dass du recht hast, und nie wieder mit dir reden.

Er lachte. »Ich denke, du unterschätzt deine Position. Oder du überschätzt die Macht der Eifersucht, eine Wahl zu beeinflussen. Imenja begünstigt dich. Wenn die anderen fertig sind, deswegen zu schmollen, werden sie sich daran erinnern, weshalb du hier bist. Wenn das geschieht, wirst du ein ganz neues Spektrum von Problemen überwinden müssen.«

Sie konnte ein bitteres Auflachen nicht unterdrücken. »Vielen Dank für die tröstlichen Worte.«

Er hob die Schultern. »Es war nur eine freundschaftliche Warnung. Dies ist nicht der Zeitpunkt, selbstzufrieden zu sein, Reivan. Wenn Imenja beabsichtigt, dich zu ihrer Vertrauten und Ratgeberin zu machen – was ich vermute -, wirst du mehr über das Sanktuarium lernen müssen als nur Gesetze und Theologie. Du wirst…« Sein Blick wanderte zu etwas hinter ihr hinüber. »Es war mir eine Freude, mit dir zu reden, Reivan. Ich hoffe, dass ich bald wieder einmal die Gelegenheit dazu haben werde.«

»Das hoffe ich auch«, murmelte sie. Als er davonging und Reivan sich umdrehte, sah sie einen anderen Ergebenen Diener Nekaun nachstarren.

Interessant. Ich frage mich, was das zu bedeuten hatte. Gehört dies zu den Dingen, die ich seiner Meinung nach neben Gesetzen und Theologie lernen sollte?

Zu ihrer Überraschung hatte seine Andeutung von inneren Spannungen im Sanktuarium ihre Neugier entfacht. Sie betrachtete die Gesichter um sich herum mit neuem Interesse. Es würde helfen, wenn sie die Namen dieser Menschen kannte.

Es wird Zeit, dass ich es herausfinde.


Mirar erwachte mit dem deutlichen Gefühl, dass es noch zu früh war, um aufzuwachen. Dann hörte er Emerahl scharf die Luft einsaugen, und plötzliche Unruhe vertrieb die letzten Überbleibsel des Schlafes. Er richtete sich auf, öffnete die Augen und schuf einen Lichtfunken.

Emerahl lag, auf einen Ellbogen gestützt, in ihrem Bett und drückte sich eine Hand auf die Brust, während sie ihre Atmung zu verlangsamen suchte. Sie warf ihm einen gequälten, anklagenden Blick zu.

»Der Traum?«, fragte er.

Sie nickte, dann setzte sie sich aufrecht hin und schwang die Beine über die Bettkante. »Und du?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Bist du dir sicher, dass ich derjenige bin, der den Traum aussendet?«

»Wir sind zur gleichen Zeit aufgewacht«, bemerkte sie.

»Wahrscheinlich deshalb, weil du mich geweckt hast.«

Sie funkelte ihn an. »Du nimmst diese Geschichte nicht ernst.«

Er trommelte mit den Fingern auf den Rahmen seines Bettes. »Ich habe keine Mühe, die Träume zu beherrschen, die mir bewusst sind. Ein vergessener Traum ist entweder von größter Bedeutung oder vollkommen bedeutungslos.« Er stützte die Ellbogen auf die Knie und bettete das Kinn auf die Fäuste. »Wenn ich mein eigener Patient wäre, würde ich mich im Traum mit ihm vernetzen. Ich würde ihn ermutigen, sich dem Traum zu stellen, indem ich ihn hineinführe, und wenn ich zuvor einige Teile davon selbst gesehen hätte, würde es das Ganze noch einfacher machen.«

»Du möchtest, dass ich mich mit dir vernetze?«

Er sah Emerahl an. In ihrer Stimme hatte ein winziger Anflug von Widerstreben gelegen. »Nur wenn du dich damit wohlfühlst.«

»Natürlich fühle ich mich damit wohl«, erwiderte sie. »Du hast mich oft genug gerettet. Es wird Zeit, dass ich dir meinerseits einen Gefallen tue.«

Er lächelte schief. »Das ist wahr. Erinnerst du dich noch daran, wie man eine Traumvernetzung durchführt?«

»Ja.« Sie schürzte die Lippen. »Ich bin allerdings ein wenig aus der Übung.«

»Wir werden es schon schaffen«, versicherte er ihr und legte sich wieder hin. »Ich werde mich im Traumzustand mit dir vernetzen. Sobald die Verbindung hergestellt ist, zeigst du mir ein wenig von dem, was du geträumt hast. Nicht alles. Deine Erinnerung sollte in meinem Gedächtnis etwas auslösen, das den ursprünglichen Traum zurückkehren lässt. Falls es überhaupt mein Traum ist.«

Er schloss die Augen. Emerahls Bett knarrte, als sie sich niederlegte. Für eine Weile wälzte sie sich hin und her. Irgendwann murmelte sie düster, dass sie wohl nicht würde einschlafen können, jetzt, wo es erforderlich war, doch dann wurde ihr Atem langsam tiefer und gleichmäßiger. Er ließ sich in eine Traumtrance sinken.

Der Geisteszustand, nach dem er strebte, schwankte zwischen ungehemmtem Träumen und bewusster Kontrolle. In diesem Zustand war er wie ein Kind, das an einem Bach mit einem Spielzeugboot spielte. Das Boot war sein Geist, und es fuhr, wo immer der Strom es hintrug, aber er konnte es mit sanften Bewegungen leiten oder indem er das Wasser aufrührte, obwohl er das Boot natürlich auch einfach aufnehmen konnte, falls es sich in eine unerwünschte Richtung bewegte.

Emerahl, rief er. Ein langes Schweigen folgte, dann berührte ein schläfriger Geist den seinen.

Mirar? Hm, ich bin eindeutig aus der Übung. Soll ich dir den Traum zeigen? fragte sie.

Lass dir Zeit, antwortete er. Es gibt keinen Grund zur Eile.

Statt sie zu beruhigen, lösten seine Worte eine Mischung aus Furcht und Erregung in ihr aus. Gedanken und Bilder blitzten auf, die sie nicht zurückdrängen konnte. Er sah eine Szene, die ihm, was die Einzelheiten betraf, unvertraut war, obwohl er sie im Zusammenhang durchaus verstand. Ein üppig ausgestatteter Raum. Schöne Frauen. Nicht ganz so gut aussehende Männer in prächtiger Kleidung, die die Frauen priesen.

Gleichzeitig spürte er ihr Verlangen, etwas vor ihm zu verbergen, damit er nicht von ihr enttäuscht war. Er hatte genug gesehen, um zu begreifen, worum es sich handelte, und ein Stich des Ärgers durchzuckte ihn. Sie hatte es also wieder getan. Sie hatte ihren Körper an Männer verkauft. Warum tat sie sich das an?

Dann regte sich in den Tiefen seines Geistes eine vertraute Persönlichkeit.

Sie ist eine Hure? Leiards Überraschung über diese Neuigkeit war mit Missbilligung durchmischt.

Sie ist es von Zeit zu Zeit gewesen, verteidigte Mirar Emerahl. Und immer aus Not.

Und du… du hast sie schon einmal vor diesem Leben gerettet?

Ja.

Mirar wurde bewusst, dass er sich von Emerahls Geist entfernt hatte. Er hatte die Traumtrance verlassen und war jetzt hellwach. Von der anderen Seite des Raums hörte er ein Seufzen, dann das Knarren des Bettes.

»Mirar?«, murmelte Emerahl.

Er holte tief Luft, richtete sich auf und schuf ein Licht. Sie saß mit hängenden Schultern auf der Bettkante. Einen Moment lang schaute sie auf, begegnete seinem Blick und drehte dann den Kopf weg.

»Du hast es wieder getan«, sagte er.

»Mir blieb nichts anderes übrig.« Sie seufzte. »Ich bin gejagt worden. Von Priestern.«

»Deshalb bist du eine Hure geworden? Von allen Möglichkeiten, die du hattest, musstest du eine so entwürdigende wählen…« Er schüttelte den Kopf. »Warum hast du mit deiner Fähigkeit, dein Alter zu verändern, ausgerechnet diesen Ausweg gewählt? Warum konntest du dich nicht in ein altes Weib verwandeln? Niemand hätte dich eines zweiten Blickes gewürdigt. Es muss doch einfacher sein, sich als alte Frau zu verstecken denn als schöne…«

»Sie haben nach einem alten Weib gesucht«, erklärte sie ihm. »Nach einer alten Heilerin. Ich konnte keine Heilmittel mehr verkaufen, aber irgendwie musste ich Geld verdienen.«

»Warum hast du dich dann nicht in ein Kind verwandelt? Niemand würde ein Kind verdächtigen, eine Zauberin zu sein, und die Leute hätten sich verpflichtet gefühlt, dir zu helfen.«

Sie breitete die Hände aus. »Die Verwandlung kostet mich mehr Kraft, als ich mir leisten kann. Das weißt du. Wenn ich so weit zurückgegangen wäre, wäre ich zu schwach gewesen, um mich zu schützen. Die Stadt war voller verzweifelter Kinder. Ich musste jemand sein, dem die Priester keine allzu große Aufmerksamkeit schenken würden. Jemand, dessen Gedanken sie nicht zu lesen versuchen würden.«

»Lesen?« Mirar runzelte die Stirn. »Priester können nicht Gedanken lesen. Das können nur die Weißen.«

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Einige von ihnen können es durchaus. Eins der Kinder, mit denen ich mich angefreundet habe, hat ein Gespräch zwischen ein paar Priestern belauscht, bei dem es um den Priester ging, der mich gejagt hat. Diese Männer sagten, er könne Gedanken lesen und suche nach einer Frau, deren Geist beschirmt sei. Das Kind hat nicht gelogen.«

Mirars Ärger schmolz. Wenn die Götter diese Fähigkeit den Weißen schenken konnten, warum dann nicht auch einem Priester, der Jagd auf eine Zauberin machte? Er seufzte. Das machte ihr Tun allerdings nicht weniger ärgerlich.

»Also bist du jung und schön geworden. Eine prächtige Methode, um zu vermeiden, Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.«

Sie starrte ihn an, und er sah, dass ihre Pupillen sich vor Zorn vergrößerten. »Willst du damit andeuten, ich hätte es aus Eitelkeit getan? Oder denkst du, ich sei habgierig und könne nicht genug von schönen Kleidern und Gold bekommen?«

Er hielt ihrem Blick stand. »Nein«, erwiderte er. »Ich denke, du hättest dieses Leben vermeiden können, wenn du es wirklich gewollt hättest. Hast du überhaupt etwas anderes versucht?«

Sie antwortete nicht. Ihr Gesichtsausdruck sagte ihm, dass sie es nicht getan hatte.

»Nein«, sagte er. »Du fühlst dich zu diesem Gewerbe hingezogen, obwohl du weißt, dass es dir schadet. Ich mache mir Sorgen um dich, Emerahl. Ich mache mir Sorgen, dass du ein ungesundes Verlangen hast, dir selbst wehzutun. Als … als müsstest du dich bestrafen, weil… vielleicht weil du dich selbst verachtest.«

Ihre Augen wurden schmal. »Wie kannst du es wagen! Du erzählst mir, es sei schädlich, und du missbilligst es, dass ich abermals dazu Zuflucht genommen habe, aber du hast nie gezögert, die Dienste einer Hure in Anspruch zu nehmen. Ich habe dich einmal damit prahlen hören, dass du in einem bestimmten Hurenhaus in Aime ein so guter Kunde warst, dass du jede dritte Nacht umsonst bekommen hast.«

Mirar straffte sich. »Ich bin nicht wie die üblichen Stammkunden dieser Häuser«, erwiderte er. »Ich bin… rücksichtsvoll.«

»Und deshalb ist es in deinem Fall etwas anderes?«

»Ja.«

»Inwiefern?«

»Andere Männer sind nicht so rücksichtsvoll. Sie können sehr brutal sein.«

»Und ich kann mich verteidigen.«

»Ich weiß, aber…«

»Aber was?«

Er breitete die Hände aus. »Du bist meine Freundin. Ich möchte dich nicht unglücklich wissen.«

»Ich finde das Leben als Hure nicht so schrecklich, wie du glaubst«, entgegnete sie. »Es ist nicht unbedingt das vergnüglichste Gewerbe, dem eine Frau nachgehen kann – obwohl es einigen Frauen durchaus gefällt -, aber es ist auch nicht das schlimmste. Wäre es dir lieber, ich säße bettelnd in der Gosse oder würde den ganzen Tag in einer schäbigen Spelunke arbeiten, um abends ein jämmerliches Stück Brot zu bekommen?«

»Ja«, erwiderte er achselzuckend.

Sie beugte sich vor. »Ich wüsste doch zu gern, was Leiard dazu sagt.« Sie sah ihm forschend in die Augen. »Wie denkst du darüber, Leiard?«

Er hatte keine Zeit zu protestieren. Indem sie Leiard direkt ansprach, befreite sie den anderen Geist. Mirar verlor die Kontrolle über seinen Körper, und er konnte nur noch zusehen.

»Ich denke, dass Mirar ein Heuchler ist«, erklärte Leiard gelassen.

Emerahl lächelte befriedigt. »Wirklich?«

»Ja. Er hat sich mehrfach selbst widersprochen. Er hat mir vor einigen Monaten erzählt, dass er nicht existieren wolle, aber jetzt hat es den Anschein, als sei das nicht die Wahrheit gewesen.«

Sie musterte ihn eindringlich. »Das hat er behauptet?«

»Ja. Du glaubst, dass er die reale Person ist und nicht ich. Und jetzt glaubt er das auch.«

Ihr Blick wurde unsicher. »Ich bin bereit, anzunehmen, dass das Gegenteil wahr sein könnte, Leiard, aber du musst es beweisen.«

»Und wenn ich es nicht beweisen kann? Würdest du mich opfern, um deinen Freund behalten zu können?«

Es dauerte lange, bis sie antwortete. »Wäre es dir lieber so?«

Leiard blickte zu Boden. »Ich bin mir nicht sicher.« Er lächelte flüchtig. »Es könnte anderen von Nutzen sein, wenn ich zu existieren aufhörte, aber ich habe festgestellt, dass ich den früheren Anführer meines Ordens nicht mag. Ich weiß nicht, ob es klug wäre, die Welt abermals mit seiner Existenz zu strafen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, dann überraschte sie sowohl Mirar als auch Leiard, indem sie in Gelächter ausbrach. »Es sieht so aus, als sei ich nicht die Einzige hier, die sich selbst hasst! Wirfst du deine eigenen Schatten über mich, Mirar?«

Mirar seufzte vor Erleichterung tief auf, als er die Kontrolle über seinen Körper zurückbekam. Emerahl warf ihm einen seltsamen Blick zu.

»Du bist wieder da?«

»Allerdings.«

»Man muss also nur eure Namen sagen, um den einen oder den anderen von euch hervorzulocken. Interessant.« Sie blickte auf. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«

Er zuckte die Achseln. »Du hast Leiard nicht allzu oft angesprochen. Dadurch hatte ich die meiste Zeit über die Kontrolle.«

»Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht alles erzählst?«

»Ich ziehe es vor, die Kontrolle zu haben.«

Ihre Augen wurden schmal. »Ist es dir so wichtig, dass du dafür den Geist eines anderen Menschen zerstören würdest?«

Er antwortete nicht. Er hatte ihr heute Abend bereits genug Gründe geliefert, ihm zu misstrauen. Sie würde ihm seine Antwort nicht glauben, und er war nicht sicher, ob er es selbst glaubte.

»Ich werde jetzt weiterschlafen«, erklärte sie. »Und ich möchte nicht gestört werden.«

Sie legte sich nieder und drehte sich auf die Seite. Ihr Rücken schien ein einziger Vorwurf zu sein.

»Emerahl.«

Sie antwortete nicht.

»Priester können nicht Gedanken lesen. Sie können sich mit Hilfe ihrer Ringe verständigen, aber mehr nicht. Du könntest einem mit ungewöhnlichen Gaben ausgestatteten Priester begegnet sein, oder die Götter könnten ihm diese Fähigkeit geschenkt haben, aber sobald du aus seiner Reichweite warst, hattest du keinen Grund mehr…«

»Schlaf weiter, Mirar.«

Er zuckte die Achseln, legte sich hin und hoffte, dass sie ihm bis zum Morgen verziehen haben würde.



7

Als der Plattan das Tempo erneut drosselte, stieß Danjin einen langen Seufzer aus.

»Man stelle sich vor, dass ich das Sommerfest früher genossen habe«, murmelte er. »Wie halten die Priester und Priesterinnen das nur aus?«

Auraya kicherte. »Wir rechnen damit, dass wir, um irgendwo hinzukommen, viermal so lange brauchen wie sonst. Bist du früher noch nie den Menschenmengen bei solchen Festen begegnet?«

»Nur zu Fuß«, antwortete er. »Die Straßen, in denen ich lebe, sind nicht mit feiernden Menschen überfüllt, und dort umringen sie auch nicht jeden Tempelplattan, der vorbeifährt.«

Sie lächelte. »Wir können uns kaum darüber beklagen, nicht, wenn sie die Absicht haben, etwas zu spenden.«

Das Klirren einer Münze in der Spendenschachtel des Plattans unterstrich ihre Worte.

Danjin seufzte abermals. »Darüber beklage ich mich ja auch nicht. Ich wünschte nur, sie würden ihre Spenden wie alle anderen auch beim Tempel abgeben, statt Tempelplattans aufzuhalten.«

»Sie sollen im Tempel spenden wie die Wohlhabenden und Wichtigen?«, fragte sie. »Arme Betrunkene sollen Schulter an Schulter mit reichen Betrunkenen stehen?«

Er rümpfte die Nase. »Das können wir wohl nicht zulassen.« Er hielt inne, dann leuchteten seine Augen auf. »Es sollte einen Spendentag für wohlhabende Spender geben und einen anderen für die Übrigen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir das täten, würde sich im Tempelbezirk eine so große Menschenmenge einfinden, dass man das Grundstück überhaupt nicht mehr verlassen könnte. Als die Menschen vor Jahren anfingen, ihr Geld in die Spendenschachteln der Plattans zu werfen, hatte das seinen Grund darin, dass es im Tempelbezirk einfach zu voll wurde. Jetzt wäre es noch schlimmer.« Sie zuckte die Achseln. »Betrunkene Festgäste haben schon immer ein spontanes Bedürfnis verspürt, uns Geld oder Geschenke zu geben. Es ist schwierig, sie davon abzubringen, und jeder Versuch in dieser Richtung führt im Allgemeinen zu einer noch längeren Verzögerung. Deshalb haben wir auch die Spendenschachteln an unseren Plattans anbringen lassen. Es ist die beste Lösung.«

»Aber was würden wir tun, wenn wir dringend irgendwohin müssten?«

»Ich würde das Verdeck öffnen und die Menschen bitten, die Straße freizumachen.«

»Würden sie das tun? Die Hälfte von ihnen ist so betrunken, dass sie kaum noch etwas mitbekommt.«

Sie lachte. »Ja, das ist wahr. Schließlich ist dies ein Festtag.« Sie schob den Vorhang ein Stück beiseite und spähte hinaus. »Es ist so ermutigend, so viele glückliche Menschen zu sehen. Das macht einem klar, dass nicht alle im Krieg gestorben sind und dass die Bewohner unserer Stadt wieder fröhlich sein können.«

Danjin ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. »Ja, du hast wahrscheinlich recht. So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Wahrscheinlich bin ich zu ungeduldig.«

Mit einem Mal beschleunigte der Plattan sein Tempo. Er bog um eine Ecke, und das Geräusch der in die Schachteln fallenden Münzen verebbte. Danjin hob an seiner Seite des Wagens den Vorhang ein wenig an.

»Endlich«, murmelte er. »Die Zivilisation hat uns wieder.«

Zu beiden Seiten der Allee standen die Villen reicher Leute. Die Straße zum Tempel war die einzige Durchgangsstraße der Stadt, in der die Wachen keine Festgäste duldeten. Stattdessen konnte man eine lange Reihe prächtig geschmückter Plattans sehen. Die Wohlhabenden verschmähten Spendenschachteln, denn sie zogen es vor, viel Aufhebens um ihren persönlichen Besuch im Tempel zu machen.

»Dort ist die Familie Tither«, sagte Danjin mit besorgtem Tonfall. »Sieh dir nur die Größe dieser Truhen an! Sie können es sich nicht leisten, so viel wegzugeben!«

Auraya blickte über seine Schulter. Sie streckte ihre Sinne aus und las die Gedanken des alten Ehepaares in dem Plattan der Tithers.

»Die erste Truhe ist voller Töpferwaren, in der zweiten befinden sich Decken und in der dritten Öl«, erklärte sie ihm. »Pa-Tither trägt außerdem eine bescheidene Summe Gold bei sich.«

»Ah.« Danjin atmete erleichtert auf. »Dann ist das alles nur Theater. Ich hoffe, es macht den Göttern nichts aus.«

Auraya lachte. »Natürlich nicht! Sie haben noch nie Geld von ihren Anhängern verlangt oder erwartet. Auf diese Idee sind die Menschen selbst gekommen. Wir haben ihnen gesagt, wie wir dazu stehen: Wenn sie den Göttern einen Teil ihres Einkommens opfern, heißt das noch lange nicht, dass ihnen nach ihrem Tod ein Platz an ihrer Seite gewiss ist, aber sie lassen sich nicht davon abbringen.«

»Nur für den Fall des Falles.« Danjin kicherte. »Aber wenn sie es nicht täten, geriete der Tempel in Schwierigkeiten. Wie sonst sollte man für die Ernährung, die Kleidung und die Unterbringung von Priestern aufkommen können – und obendrein noch Geld für wohltätige Zwecke erübrigen?«

»Wir würden eine andere Lösung finden.« Auraya zuckte die Achseln. »Diese Tradition hat noch andere Vorteile. Einer der Bauern in meinem Dorf spendet im Sommer den größten Teil seiner Einkünfte an den örtlichen Tempel, und wenn er das Geld im Winter benötigt, verlangt er das meiste wieder zurück. Er sagt, dass er sein Geld anderenfalls zu schnell ausgeben würde und dass es sein bester Schutz vor Räubern sei, seine Habe in die Obhut der Priester zu geben.«

»Weil Priester in der Regel über größere Gaben verfügen als jeder andere«, bemerkte Danjin.

Er wirkte jetzt entspannter, wie Auraya feststellte. Sie kamen gerade vom Hospital, das in einem der ärmeren Bezirke der Stadt lag. Als Mitglied der Oberklasse der Stadt hatte er allen Grund, sich dort unbehaglich zu fühlen. Wäre er allein gewesen, gekleidet wie er war, hätte man ihn wahrscheinlich ausgeraubt.

Zu dieser Zeit des Jahres hatte er doppelten Grund zur Vorsicht. Das Sommerfest wurde auch als das Fest der Diebe bezeichnet. Räuber und Taschendiebe übertölpelten die Anhänger der Götter, wann immer sie es konnten; sie lauerten ihnen auf, bevor sie ihre Spende abgeben konnten, oder brachen in ihre Häuser ein, um nach den Ersparnissen zu suchen, die vor dem Fest dort aufbewahrt wurden.

Im vergangenen Jahr hatte ein gewitzter junger Dieb ein Vermögen erworben, indem er unter die Tempelplattans kroch, ein Loch in den Boden der Spendenschachteln bohrte und die Münzen einsteckte. Seine anfänglichen Erfolge hatten ihn übermütig gemacht, und am letzten Tag des Festes, nachdem bereits Berichte über die Diebstähle in Umlauf gekommen waren, hatten aufgebrachte Gläubige ihn erwischt und zu Tode geprügelt.

»Wir können jetzt nicht mehr weit entfernt sein«, murmelte Danjin und spähte abermals durch einen Spalt zwischen den Vorhängen.

Auraya schloss die Augen und suchte nach den Gedanken der Menschen um sie herum. Aus dem Geist des Fahrers las sie, dass sie sich dem Tempeleingang näherten, dann fing sie leichten Ärger aus dem Wagen vor ihnen auf. Als sie näher hinschaute, erfuhr sie, dass die Frau darin Terena Würzer war, die Matriarchin einer der wohlhabendsten und mächtigsten Familien der Stadt. Es erheiterte Auraya und beunruhigte sie auch ein wenig, festzustellen, dass der Ärger der Frau sich gegen sie selbst richtete.

Fasziniert beobachtete sie, wie die Gedanken der Frau auf und ab wogten. Sie bemerkte es kaum, als Danjin ihr mitteilte, dass sie den Bogen durchfahren hatten und sich jetzt auf dem Gelände des Tempels befanden. Erst als der Plattan stehen blieb, löste sie sich aus ihrer Konzentration. Sie stiegen aus. In den gepflasterten Höfen vor dem Turm standen dicht an dicht etliche Plattans. Terena Würzer war noch nicht aus ihrem Wagen gestiegen. Auraya bedeutete Danjin, ihr zu folgen, dann eilte sie in den Turm.

Die riesige Halle war voller Priester, Priesterinnen und wohlhabender Familien, die miteinander schwatzten, nachdem sie ihre Spenden abgeliefert hatten. Wie immer beim Eintreten einer Weißen lief ein erregtes Raunen durch die Menge. Auraya ging mit schnellen Schritten auf den Raum zu, in dem die Spenden dargeboten wurden. Trotzdem trat ein Mann auf sie zu, offenkundig in der Absicht, sie anzusprechen. Zu ihrer Erleichterung versperrte ihm eine Priesterin den Weg.

Danjin folgte ihr voller unausgesprochener Fragen. Sie überlegte kurz, ob sie stehen bleiben sollte, um ihm zu erklären, was er wissen wollte, aber sie hatten zu wenig Zeit. Als sie sich ihrem Ziel näherte, blickte sie flüchtig in die Gedanken der Menschen im Spendenraum. Eine Familie hatte soeben ihren Beitrag abgeliefert und wollte gerade gehen. Auraya öffnete die Tür und trat ein.

Bei ihrer Ankunft senkte sich überraschtes Schweigen über den Raum. Ein Hohepriester und vier geringere Priester saßen vor einem langen, stabilen Tisch. Die Familie stand direkt an der Tür. Auraya lächelte und nickte allen zu.

»Bitte, macht weiter.«

»Pa-Glaser wollte gerade gehen, Auraya von den Weißen«, sagte der Hohepriester sanft und schlug das Zeichen des Kreises. »Nachdem er eine überaus großzügige Spende gemacht hat.«

»In der Tat, ich wollte mich verabschieden«, sagte der ältere Mann der Familie würdevoll. Er schlug mit beiden Händen das formelle Zeichen des Kreises, dann geleitete er seine Familie hinaus. Als die Tür sich hinter ihnen schloss, drehten die Priester sich zu Auraya um.

»Ich bin hier, um eine Besucherin zu beobachten«, erklärte sie und stellte sich vor eine der Wände.

Der Hohepriester nickte. Zwei der geringeren Priester standen auf, hoben die Truhen, die die Familie dagelassen hatte, mit Magie an und ließen sie durch eine Tür auf der anderen Seite des Raums schweben. Auraya wandte sich zu Danjin um. Er musste den Raum verlassen. Die Spenden mussten geheim bleiben.

»Du solltest besser dort drüben warten«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die Tür, durch die die Truhen abtransportiert worden waren. »Ich möchte, dass du zuhörst, wenn es sich einrichten lässt.«

Er neigte den Kopf und durchquerte den Raum, bevor er die Tür fest hinter sich zuzog. Auraya entnahm seinen Gedanken, dass er ein Ohr an den Türspalt gedrückt hatte.

Drei weitere Besucher kamen und gingen wieder, bevor Terena Würzer erschien. Das Gesicht der Frau war starr vor Missbilligung. Sie trat vor und ließ eine einzige kleine Schatulle auf den Tisch fallen, dann reckte sie das Kinn, ließ ihren Blick herrisch über die Priester wandern und öffnete den Mund, um die Ansprache zu beginnen, die sie sich zurechtgelegt hatte.

Als ihr Blick auf Auraya fiel, verwandelte sich der hochmütige Ausdruck ihrer Züge in Entsetzen.

Auraya lächelte und nickte höflich. Die Frau schluckte, wandte den Blick ab und tat einen Schritt rückwärts. Der Hohepriester beugte sich vor und öffnete die Schatulle. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber die anderen Priester zogen die Augenbrauen hoch. Eine einzige Goldmünze lag in der Schatulle.

Terenas Gedanken waren in Aufruhr. Die Ansprache, die sie geplant hatte, konnte sie jetzt natürlich nicht mehr halten. Aurayas Anwesenheit hatte sie daran erinnert, dass sie, wenn sie gegen das Werk einer Weißen protestierte, damit möglicherweise gegen den Willen der Götter protestierte. Ein kleiner innerer Kampf folgte, und der Grund zu schweigen trug mit knapper Not den Sieg über ihren Grund zu reden davon.

Auraya beobachtete das Geschehen, während die Priester ihre gewohnten Dankesworte sprachen. Terena murmelte die entsprechenden Antworten. Als das Ritual vorüber war, wandte sie sich zum Gehen.

Nicht so schnell, dachte Auraya.

»Ma-Würzer«, sagte sie mit bewusst sanfter, besorgter Stimme. »Ich konnte nicht umhin, deine Erregung bei deiner Ankunft zu spüren. Ich spüre auch, dass du die Absicht hattest, den Grund für diese Erregung mit den Priestern hier zu besprechen. Bitte, zögere nicht, deine Sorge in Worte zu kleiden. Ich möchte nicht, dass du einen Groll gegen uns hegst.«

Terena errötete und drehte sich widerstrebend um. Ihr Blick wanderte von einem Priester zum anderen und schließlich weiter zu Auraya. Als die Frau ihren Mut zusammennahm und ihren Ärger nicht länger zurückdrängte, empfand Auraya so etwas wie Bewunderung für sie.

»Ich hatte in der Tat die Absicht, meine Meinung zu sagen«, begann sie. »Ich habe meine Spende in diesem Jahr verringert, um so gegen dieses Traumweberhaus zu protestieren, das ihr bauen lasst. Unsere Söhne und Töchter sollten nicht mit diesen … diesen schmutzigen Heiden verkehren.«

Als die Priester sich erwartungsvoll zu Auraya umwandten, hätte ihr Eifer ihr beinahe ein Lachen entlockt. Dies musste das aufregendste Ereignis sein, das ihnen seit Tagen widerfahren war.

Sie trat vor, bis sie nur noch wenige Schritte von der Frau entfernt war. »Lasst uns allein«, befahl sie den Priestern. Sie erhoben sich und gingen langsam in den Raum, in dem die Spenden untergebracht waren, geeint durch ihre Enttäuschung. Sobald sie fort waren, ließ Terena sich ihre Furcht anmerken. Sie wich Aurayas Blick aus, und ihre Hände zitterten.

»Ich verstehe deine Sorge, Terena Würzer«, sagte Auraya besänftigend. »Wir haben die Zirkler seit langem ermutigt, Traumwebern aus dem Weg zu gehen. In der Vergangenheit war das notwendig, um den Einfluss der Traumweber zu verringern. Jetzt gibt es nur noch wenige Menschen, die ein solches Leben zu wählen bereit wären, und die Traumweber stellen keine Gefahr mehr für Zirkler dar, die den Göttern treu ergeben sind. Jene, die sich dennoch für dieses Leben entscheiden, sind häufig enttäuschte oder rebellische junge Leute. Wenn diese Menschen tatsächlich mit der Existenz als Traumweber liebäugeln, werden sie in das Hospital kommen, um sie aufzusuchen. Wenn sie das tun, werden sie auch Priester und Priesterinnen dort vorfinden. Sie werden erkennen, dass unsere Heiler es an Erfahrung und Stärke mit den Traumwebern aufnehmen können, wenn sie sie nicht sogar übertreffen. Wenn wir diesen jungen Leuten die Gelegenheit zu einem Vergleich geben, werden sie erkennen, dass die eine Existenz zur Erlösung ihrer Seele führt und die andere nicht.«

Die Frau musterte Auraya eindringlich. Wenn auch widerstrebend, musste sie einräumen, dass Aurayas Erklärung etwas für sich hatte. »Was ist mit jenen, die trotzdem Traumweber werden wollen?«

»Nachdem sie all das gesehen haben?« Auraya schüttelte bekümmert den Kopf. »Dann hätten sie ohnehin früher oder später zu den Traumwebern gefunden. Auf diese Weise können wir weiter daran arbeiten, sie zur Rückkehr zu bewegen. Wir werden sanft, aber beharrlich auf sie einwirken und ihnen keinen Grund liefern, uns zu hassen und sich uns zu widersetzen. Wenn sie sich dagegen der pentadrianischen Religion anschließen wollten…« Sie ließ den Satz in der Luft hängen. Manche Menschen hatten das unbezähmbare Bedürfnis, andere zu hassen. Es war besser, ihre Feindseligkeit gegen die Pentadrianer zu lenken als gegen die Traumweber.

Ma-Würzer senkte den Blick, dann nickte sie. »Das ist sehr weise.«

Auraya legte einen Finger an die Lippen. »Ebenso weise wäre es, wenn du dies für dich behalten würdest, Ma-Würzer.«

Die Frau nickte. »Ich verstehe. Ich danke dir dafür, dass … dass du meine Sorgen gelindert hast. Ich hoffe… ich hoffe, dass ich dich nicht gekränkt habe.«

»Ganz und gar nicht.« Auraya lächelte. »Vielleicht wirst du dich jetzt an dem Fest draußen erfreuen können.«

Terenas Mundwinkel zuckten zu einem schwachen Lächeln in die Höhe. »Ich denke, das werde ich. Noch einmal vielen Dank, Auraya von den Weißen.«

Sie schlug das formelle Zeichen des Kreises, dann ging sie mit stolz durchgedrückten Schultern zur Tür. Auraya von den Weißen hatte sich Terena Würzer anvertraut. Aber andererseits – warum sollte sie das nicht tun?

Als die Tür sich hinter der Frau schloss, lachte Auraya leise. Sie glaubte keinen Moment lang, dass Terena Würzer der Versuchung würde widerstehen können, das soeben Gehörte an einige enge, vertraute Freunde weiterzugeben. Binnen weniger Tage würde sich die Geschichte in der ganzen Stadt ausgebreitet haben.

Sie ging zum Nebeneingang des Raumes hinüber und klopfte an die Tür. Danjin trat mit undeutbarer Miene heraus. Aus seinen Gedanken entnahm sie, dass er den größten Teil des Gespräches mit angehört hatte.

Die Priester folgten, ein wenig verstimmt darüber, dass Danjin erlaubt worden war zu lauschen, obwohl sie gleichzeitig davon überzeugt waren, dass Auraya einen guten Grund für ihr Verhalten gehabt haben musste. Auraya bedankte sich bei ihnen, dann verließ sie den Raum.

»Willst du wirklich, dass die Leute das erfahren?«, murmelte Danjin, als sie um die Menge herumgingen und auf die kreisförmige Wand in der Mitte der Halle zustrebten.

»Gewöhnliche Zirkler werden das Hospital nur dann akzeptieren, wenn sie das Gefühl haben, dass es Vorteile für uns hat«, antwortete sie leise. »Schlichter Frieden und Toleranz sind nicht Grund genug. Ebenso wenig wie die Annahme, dass alles, was ich tue, die Billigung der Götter hat.«

»Was ist, wenn sie davon hören?«

»Die Traumweber?« Auraya lächelte grimmig. »Sie haben meinen Vorschlag bereits angenommen. Sie haben darüber abgestimmt und werden sich gewiss nicht die Mühe machen, wegen eines bloßen Gerüchts noch einmal abzustimmen. Ich hoffe, sie sind klug genug, um meine Lüge, wir seien als Heiler ebenso tüchtig wie sie, zu durchschauen und zu begreifen, dass wir unmöglich solche Absichten verfolgen können. Wenn es unser Ziel wäre zu beweisen, dass wir ihnen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen sind, würden wir dieses Hospital nicht einrichten.«

»Es sei denn, unsere Heiler würden ihnen eines Tages tatsächlich ebenbürtig werden. Glaubst du wirklich, dass sie diese Gefahr nicht erkennen und deinen wahren Plan erraten werden?«

Auraya verzog das Gesicht. »Sie werden sich sicher fühlen, solange wir nicht danach trachten, ihre Fähigkeiten der Traumheilung zu lernen. Bis wir das in einigen Jahren tun, werden sie sich des Erfolges unseres Unternehmens sicher sein, und die Gefahr wird lange in Vergessenheit geraten sein.«

Danjin zog die Augenbrauen hoch. »Ich hoffe, du hast recht.«

»Das hoffe ich auch.«

Sie hatten inzwischen die Wand in der Mitte der Halle erreicht. Sie lief um ein erhöhtes Podest mit einem Loch in der Mitte herum, durch das senkrecht große Ketten geführt waren. An der einen Seite wand sich eine Wendeltreppe nach oben, die Auraya jedoch ignorierte. Sie nickte dem Priester zu, der am Fuß der Treppe stand. Er schlug das Zeichen des Kreises.

Kurz darauf begannen die Ketten sich zu bewegen. Eine große Metallscheibe senkte sich langsam durch das Treppenhaus hinab. Als sie auf der gleichen Höhe wie die Decke war, kam der Rest eines großen Eisenkäfigs in Sicht. Die schwere Kette, an der der Käfig hing, reichte bis in die höchsten Stockwerke des Turms. Als der Käfig anhielt, trat der Priester vor und öffnete ihr und Danjin die Tür.

»Hast du irgendwelche Träume gehabt, die sich um das Hospital drehten?«, fragte Auraya Danjin, während der Käfig mit ihnen langsam in die Höhe stieg.

»Träume? Glaubst du, dass sie… dass sie versuchen würden, meinen Träumen deine Absichten zu entnehmen?« Er wirkte entsetzt. »Damit würden sie gegen ein Gesetz verstoßen!«

»Ich weiß. Also, hast du davon geträumt?«

Danjin schüttelte den Kopf.

»Ich muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie es versuchen könnten. Ich an ihrer Stelle würde es jedenfalls riskieren«, sagte sie. »Ich habe mit Juran darüber gesprochen und einen Vorschlag gemacht: Wenn wir einen Verbindungsring herstellen, um denjenigen zu ersetzen, den die Pentadrianer mitgenommen haben, weben wir auch einen Schild in das Material, der die Gedanken des Ringträgers abschirmt. Es muss natürlich ein Schild sein, der meinen Geist nicht aussperrt, sonst hätte es keinen Sinn, den Ring überhaupt anzufertigen.«

»Dann willst du also, dass ich diesen Ring trage?« Er war außerstande, sein Unbehagen zu verbergen.

Auraya unterdrückte ein Lächeln. Seit ihrer Rückkehr aus dem Krieg erfreute sich Danjin wieder eines herzlicheren ehelichen Einvernehmens mit seiner Gattin. Ihm war nicht bewusst, wie oft seine Gedanken in einen Tagtraum von ihr und den Freuden des Ehebettes hinüberglitten, und sie brachte es nicht übers Herz, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Verbindungsring nicht mehr preisgeben würde als das, was sie ohnehin bereits aus seinen Gedanken kannte.

»Ja, der Ring ist für dich bestimmt«, antwortete Auraya. »Obwohl es vielleicht von Zeit zu Zeit notwendig sein wird, dass du ihn an andere weitergibst.« Der Käfig verlangsamte sein Tempo und hielt an. Auraya öffnete die Tür, und sie traten hinaus. »Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf, Danjin.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich werde deine Privatsphäre respektieren.«

Er errötete und wandte hastig den Blick ab. Auraya lächelte, dann ging sie zu der Tür zu ihren Gemächern hinüber.


Emerahl konzentrierte sich auf Mirars Geist. Zuerst konnte sie nichts wahrnehmen, dann berührte ein Gefühl von Ungeduld und Unsicherheit ihre Sinne.

»Ich kann dich spüren«, sagte sie. »Du hast aus reiner Langeweile deinen Schild sinken lassen.«

Er stieß einen Seufzer aus und verdrehte die Augen. »Wie lange werden wir noch so weitermachen? Ich bekomme allmählich Hunger.«

»Du darfst den Schild nicht nur vorübergehend hochziehen. Du musst zu dem Punkt gelangen, an dem er die ganze Zeit über bestehen bleibt und du ihn unbewusst aufrechterhalten kannst. Jetzt versuche es noch einmal.«

Er stöhnte. »Können wir nicht zuerst essen?«

»Nein. Erst wenn ich nichts mehr von deinen Gefühlen wahrnehmen kann. Mach es noch einmal.«

Sie spürte Ärger, dann Verstocktheit, dann geschah etwas Eigenartiges. Einen Moment lang verblassten seine Gefühle, bis nichts mehr von ihnen übrig war, dann fing sie Verwirrung auf. Er hatte bisher lässig auf dem Bett gelegen, doch jetzt veränderte er seine Position und setzte sich aufrecht hin.

Mirar sitzt niemals so da, so… so symmetrisch, dachte sie. Er lümmelt sich immer auf seinem Platz herum. Als sie in seine Augen blickte, sah sie dort Wachsamkeit und Resignation.

»Leiard? Bist du das?«

»Ich bin es«, antwortete er ruhig.

»Wie?«

Er zog die Schultern hoch. »Ich glaube, er wollte nicht länger zugegen sein.«

»Er ist weggelaufen?« Unbezähmbare Heiterkeit stieg in ihr auf, und sie brach in Gelächter aus. »Mirar ist vor meinen Lektionen geflohen. Ha! Was für ein Feigling!«

Leiards Mundwinkel zuckten schwach, so dass es beinahe ein Lächeln war. Sie wurde wieder ernst und musterte ihn nachdenklich.

»Ich möchte nicht, dass du glaubst, ich fände keinen Gefallen an deiner Gesellschaft, Leiard, aber ich kann nicht zulassen, dass Mirar jedes Mal schwänzt, wenn er meinen Unterricht schwierig findet. Wir werden sicherstellen müssen, dass er das nicht noch einmal tut.«

Leiard zog die Augenbrauen hoch. »Wie willst du ihn denn davon abhalten?«

»Indem ich dich dazu bringe, mir von ihm zu erzählen. Erzähl mir Dinge, von denen er nicht wollen würde, dass ich sie höre. Was für Untaten hat er sich zum Beispiel in letzter Zeit geleistet?«

Als Leiards Miene sich verdüsterte, flackerte echtes Interesse in ihr auf. Offensichtlich gab es viel zu erzählen.

»Wenn ich darüber sprechen würde, müsste ich gleichzeitig meine eigene… Torheit preisgeben.«

Sie blinzelte überrascht. »Du? Eine Torheit? Du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der sich Dummheiten gestattet.«

»Doch, allerdings, und es wird ihm großes Vergnügen bereiten, mich davon sprechen zu hören, was dich deinem Ziel kaum näher bringen dürfte.«

Sie beugte sich fasziniert vor. »Dazu können wir später kommen.« Plötzlich erinnerte sie sich an das Gespräch, das sie belauscht hatte, kurz bevor sie in der Höhle angekommen waren. »Geht es um eine Frau?«

Leiard zuckte zusammen und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Er hat es dir erzählt.«

»Nein. Ich bin selbst eine Frau, vergiss das nicht. Wir spüren solche Dinge. Nichts verleitet einen Mann schneller zu einer Torheit als die Liebe. Vielleicht…« Sie ließ von ihrem schnippischen Tonfall ab. »Vielleicht ist das Ohr einer Frau mitfühlender für deine Geschichte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mirar einen guten Zuhörer abgibt.«

Leiard schnaubte leise. »Er war überhaupt nicht angetan.«

Mirar nicht angetan von einer Frau? Interessant. »Und wie lautet der Name dieser Frau?«

Der Traumweber blickte zu ihr auf. Sein gequälter Gesichtsausdruck war einer, den sie bei Mirar noch nie gesehen hatte, und er ließ ihn umso eigenartiger wirken. Er musterte sie lange Zeit, bevor er wieder zu sprechen begann.

»Du musst schwören, niemals mit irgendjemandem darüber zu sprechen.«

»Ich schwöre es«, erwiderte sie feierlich.

Er blickte auf seine Hände hinab, und ihre Anspannung wuchs, während sie darauf wartete, dass er von neuem das Wort ergriff.

Erzähl es mir!, dachte sie.

»Die Frau, die ich geliebt habe… die ich liebe…«, sagte er, und seine Stimme war sehr leise. »Es ist… Auraya von den Weißen.«

Auraya von den Weißen! Emerahl starrte ihn an. Ein kalter Schauer überlief sie, als hätte ihr jemand soeben eisiges Wasser über den Kopf gegossen. Der Schock machte ihr das Denken einen Moment lang unmöglich. Eine der Auserwählten der Götter! Kein Wunder, dass Mirar davon nicht angetan war!

Jetzt, da er den Namen preisgegeben hatte, war ein Damm gebrochen, und die ganze Geschichte sprudelte nur so aus ihm heraus: dass er Aurayas Freund und Lehrer gewesen war, als diese noch ein Kind war; dass er nach Jarime gereist war und die Frau, zu der sie geworden war, ihn verzaubert hatte; dass sie ihn zum Traumgeberratgeber der Weißen ernannt hatte. Zu guter Letzt sprach er auch von der Nacht der »Torheit«, bevor sie nach Si aufgebrochen war. Er erzählte ihr von seinem Rücktritt, um ihr Geheimnis zu wahren, von dem wachsenden Einfluss Mirars in seinem Geist und von der Gefahr schrecklicher Konsequenzen, sollte ihre Affäre entdeckt werden. Er offenbarte ihr auch, dass er nicht aufhören konnte, sie in ihren Träumen zu suchen, und er berichtete ihr schuldbewusst von der Wiederaufnahme ihrer Affäre, als Auraya sich der Armee angeschlossen hatte. Dann sprach er von Jurans Entdeckung ihrer Beziehung, von seiner Flucht und von Mirars Vorschlag, ihren gemeinsamen Körper zu übernehmen. Danach hatte er herausgefunden, dass Mirar sich in einem fahrenden Bordell versteckt hatte. Schließlich erzählte er ihr noch von der Traumvernetzung, durch die offenbar geworden war, dass Auraya ihn mit einer Prostituierten gesehen hatte und jetzt glaubte, er habe sie betrogen.

Am Ende seines Berichts angekommen, verfiel er in düsteres Schweigen.

»Ich verstehe«, sagte Emerahl, um überhaupt etwas zu sagen. Sie brauchte Zeit, um diese unglaubliche Geschichte zu überdenken.

»Mirar hatte recht«, erklärte er entschieden. »Ich habe meine Leute in Gefahr gebracht.«

Emerahl breitete die Hände aus. »Du warst verliebt.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Es ist Entschuldigung genug. Was ich nicht begreife, ist… Auraya muss Mirar in deinem Geist gesehen haben. Das hat sie doch sicher erschreckt.«

»Sie wusste, dass die Netzerinnerungen in meinem Geist sich in einer Persönlichkeit manifestiert hatten, mit der ich gelegentlich Zwiegespräche führte. Sie glaubte nicht, dass Mirar wahrhaft existierte. Sie hat nie miterlebt, dass er die Kontrolle übernahm.«

»Ich kann verstehen, dass sie das glauben wollte. Die Liebe bringt uns dazu, Dinge zu tolerieren, die wir normalerweise nicht ertragen könnten. Juran hätte es gewiss nicht akzeptiert.«

Leiard zuckte die Achseln. »Er hat es akzeptiert, aber vielleicht nur deshalb, weil ich ihm nützlich war und Mirar erst später offenbart hat, dass er imstande war, die Kontrolle zu übernehmen.«

Er hat Mirars Körper offenkundig nicht erkannt, dachte Emerahl. Ist Jurans Erinnerung im Laufe der letzten hundert Jahre so sehr verblasst? Hatte Mirar damals so anders ausgesehen, dass man ihn nicht wiedererkennen konnte? Sie schauderte, als ihr bewusst wurde, wie knapp Mirar einer Entdeckung entkommen war. Die Götter müssen in seinen Geist geschaut haben, vielleicht sogar mehrere Male, und doch haben sie ihn nicht erkannt. Oder… oder sie haben ihn erkannt, machen sich deswegen jedoch keine Sorgen, weil sie wissen, dass Leiard der wahre Besitzer seines Körpers ist.

Trotzdem hätten sie diese Affäre zwischen einer ihrer Auserwählten und einem Traumweber niemals gutgeheißen. Warum hatten sie sie zugelassen? Vielleicht fürchteten sie, Aurayas Vertrauen und Ergebenheit zu verlieren. Vielleicht erwarteten sie ja auch, dass Leiard ihre schlechte Meinung von den Traumwebern bestätigen würde. Wegen Leiards »Betrug« hasste Auraya jetzt möglicherweise alle Traumweber.

Emerahl runzelte die Stirn, als ihr ein anderer Gedanke kam. »Du sagst, sie hätte dich mit einer Prostituierten erwischt, aber Mirar hatte zu der Zeit die Kontrolle. Wenn sie euch in diesem Zustand noch nie beobachtet hatte, hätte sie dich doch gewiss nicht erkannt. Oder vielmehr hätte sie begriffen, dass er die Kontrolle hatte – nicht du.«

Er runzelte die Stirn. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Es ist… verwirrend.«

»Ja. Ihr müsst einander so ähnlich sein, dass sie euch beide als dieselbe Person erkennt«, sagte Emerahl langsam. »Wenn sie die Chance gehabt hätte, hätte sie vielleicht Unterschiede wahrgenommen, aber in diesem Moment muss sie über das, was du getan hattest, einfach zu schockiert gewesen sein. Vielleicht hat sie den Schluss gezogen, dass sie dich doch nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte.«

»Ich hätte niemals getan, was er getan hat«, verteidigte sich Leiard.

Emerahl musterte ihn nachdenklich. »Nein. In dieser Hinsicht bist du ganz anders als Mirar.«

»Warum magst du ihn, wenn er so abscheulich ist?«

Sie lachte. »Gerade deshalb mag ich ihn. Er ist ein Halunke, das lässt sich nicht leugnen. Aber auch wenn seine Moral ein wenig fragwürdig ist, ist er dennoch ein guter Mann.« Sie sah ihn mit schmalen Augen an. »Ich denke, das weißt du.«

Er wandte stirnrunzelnd den Blick ab. »Ich weiß, dass er früher… zurückhaltender war, wenn es um Frauen ging. Ich vermute, dass die Zeit ihn verändert hat. Er sucht nach körperlicher Erregung, um sich zu beweisen, dass er noch lebt. Dass er noch immer ein körperliches Wesen ist. Kein Gott.«

Sie sah ihn überrascht an, beunruhigt über das, was er da andeutete. Die Götter hatten Mirar bezichtigt, sich als Gott auszugeben. Jetzt glaubte Leiard, Mirars Verhalten sei darauf zurückzuführen, dass er sich immer wieder davon überzeugen musste, dass er kein Gott war.

»Ich glaube dir, wenn du sagst, dass dir nichts anderes übrigblieb, als dich dem Bordell anzuschließen«, fügte er hinzu. »Du hast die Priester für gefährlicher gehalten, als sie es in Wirklichkeit waren. Außerdem frage ich mich, ob du nicht vielleicht unwissentlich nach der gleichen Art von Selbstbestätigung suchst wie Mirar. Du suchst einen Beweis dafür, dass du ein körperliches Wesen bist und keine Göttin. Die Hurerei…«

»Mirar«, befahl sie. »Die Pause ist vorbei. Komm zurück.« Er erstarrte für einen Moment, dann entspannte er sich. Als sein Blick wieder scharf wurde, lächelte er sie verschlagen an.

»Ich bin ein Halunke, wie?«

Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass ihr Pulsschlag sich beschleunigte. Nein, das ist keine große Überraschung. Mirar war schon immer in der Lage, mein Blut in Wallung zu bringen. Anscheinend hat sich auch nach all dieser Zeit nichts daran geändert. Oder vielleicht ist es gerade deshalb so, weil so viel Zeit vergangen ist.

Sie konnte jedoch noch immer seine Gefühle wahrnehmen und erkennen, dass er nur kokettierte. Er versuchte, sie daran zu hindern, sich auf ihr eigentliches Ziel zu besinnen – die Lektionen im Abschirmen von Gedanken. Sie setzte eine ernste Miene auf.

»Genug des Geplauders«, sagte sie. »Ich habe nicht die Absicht, für immer in dieser Höhle zu bleiben. Wenn du also nicht hier festsitzen und alles an Insekten essen willst, was den Weg hierherfindet, solltest du dich besser wieder an die Arbeit machen.«

Er ließ die Schultern sinken. »Also gut.«



8

Die Treppe wollte kein Ende nehmen. Imis Beine schmerzten, aber sie heftete den Blick auf den Rücken ihres Vaters und zwang sich weiterzugehen, wobei sie die ganze Zeit über die Zähne zusammenbiss, um nicht laut loszujammern.

Er hat mich gewarnt, dachte sie. Er hat gesagt, es dauere Stunden, um zum Ausguck hinaufzuklettern. Dann muss man anschließend den ganzen Weg wieder hinuntergehen. Beim nächsten Mal werde ich nicht zu Fuß zurückgehen. Beim nächsten Mal werde ich schwimmen und durch den Mund heimkehren.

Die schweren Atemzüge der Erwachsenen hallten im Tunnel wider. Teiti sah so aus, als hätte sie Schmerzen. Die Wachen dagegen schienen sich gut zu unterhalten. Jene unter ihnen, die den König regelmäßig zum Ausguck begleiteten, waren an die körperliche Anstrengung gewöhnt. Die anderen, die normalerweise auf Imi aufpassten, freuten sich über die seltene Gelegenheit, einen Ort zu besuchen, den nur wenige sehen durften.

Teiti begann zu ächzen, wie sie es jedes Mal getan hatte, wenn sie im Begriff stand, eine Pause zu erbitten. Eine Mischung aus Ärger und Erleichterung stieg in Imi auf. Sie wollte keine Pause machen, sie wollte, dass die Treppe ein Ende nahm.

»Es dauert jetzt nicht mehr lange«, rief ihr Vater ihr über die Schulter zu.

Ihre Tante blieb stehen, dann zuckte sie die Achseln und ging weiter. Imis Herz begann erwartungsvoll zu klopfen. Die nächsten Minuten erschienen ihr länger als die Stunden, die sie hinter sich hatten. Schließlich hielt ihr Vater inne. Sie spähte um ihn herum und sah, dass sie eine glatte Mauer erreicht hatten.

Es gab keine Tür. Verwirrt schaute sie die anderen an. Sie blickten zu einer kleinen, in das Dach eingelassenen Falltür auf.

Ihr Vater ging zu einer Nische hinüber, die denen ähnelte, an denen sie auf dem Weg hinauf vorbeigekommen waren. In der Nische standen mehrere getöpferte Flaschen mit Wasser, die ihr Vater herumreichte. Imi spritzte sich ein wenig davon dankbar auf die Haut, dann trank sie. Das Wasser war abgestanden, aber hochwillkommen nach dem langen Marsch.

Sie blickte zu der Falltür auf und bemerkte die rostigen Eisenriegel. An einer Mauer in der Nähe lehnte ein schweres Holzstück. Sie vermutete, dass man es in die Riegel schieben würde, damit die Tür sich nicht öffnete, falls Plünderer den Tunnel entdeckten.

Auf ein Zeichen des Königs hin streckte ein Wachmann den Arm aus und klopfte an die Falltür. Sie registrierte das Muster – zwei schnelle Klopfer, denen drei langsame folgten, dann wieder zwei schnelle. Die Falltür wurde angehoben. Zwei bewaffnete Männer spähten zu ihnen herunter. Hinter ihnen konnte man das strahlende Blau des Himmels ausmachen.

Einer der Wächter trat beiseite und kehrte kurz darauf mit einer Leiter zurück, die er in den Tunnel hinabließ. Der König schickte zwei seiner Wachen voraus, dann stieg er ebenfalls empor. Als er oben angekommen war, blickte er auf Imi hinab, lächelte und winkte sie zu sich.

Sie stellte einen Fuß auf die erste Sprosse und kletterte hinauf. Ihre wunden Füße protestierten nach dem langen Marsch, aber Imi biss die Zähne zusammen und drängte den Schmerz zurück. Als sie oben angekommen war, fasste ihr Vater sie um die Taille und zog sie hoch. Sie stieß ein Lachen aus, in dem sich Überraschung und Freude mischten.

Ihr Vater schnalzte mit der Zunge. »Langsam wirst du mir ein wenig zu schwer«, sagte er und rieb sich den Rücken. Dann richtete er sich auf und schaute seufzend in die Ferne.

Imi betrachtete ihre Umgebung. Sie stand auf einer mit Erde gefüllten Vertiefung zwischen mehreren riesigen Felsbrocken. Die Felsen waren zu hoch, als dass sie darüber hätte hinwegschauen können. Sie sprang auf und ab und brachte es fertig, einen flüchtigen Blick auf das Meer und den Horizont zu erhaschen.

»Soll ich sie vielleicht hochheben, Majestät?«, erbot sich einer der stämmigeren Wachmänner des Königs.

Der König nickte. »Ja. Sofern du damit zurechtkommst.«

Der Wachmann lächelte Imi an. »Dreh dich um, Prinzessin.«

Sie tat, was er verlangte, und wurde im nächsten Moment von starken Händen hochgehoben. Der Mann setzte sie sich auf die Schulter und hielt sie fest.

Jetzt konnte sie mehr sehen als alle anderen. Sie konnte den Rand des Meeres erkennen, die Insel von Borra, die einen riesigen Ring in dem blauen Wasser formte, und den steilen Felshang der Insel, auf der sie stand, der sich bis zu einem Wald und dem weißen Strand erstreckte.

»Kann man von hier aus zum Strand kommen?«, fragte sie.

Ihr Vater lachte. »Ja, aber es wäre nicht leicht. Der Boden ist steil und der Stein glitschig. Dieser Gipfel besteht auf hundert Schritte zu beiden Seiten aus reinem, glattem Felsen. Um hinaufzugelangen, braucht man Seile und einen Maueranker.«

Imis Schultern sackten vor Enttäuschung ein wenig herunter. Ihr Plan, sich mit Bestechungen und Schmeicheleien des Nachts hier hinaufzuschleichen, um »die Sterne zu bewundern«, und dann davonzuschlüpfen und zum Strand zu laufen, würde sich nicht verwirklichen lassen. Gleichzeitig war sie auch erleichtert darüber. Es war ein langer Aufstieg gewesen, und selbst wenn sie hier das vorgefunden hätte, was sie sich vorgestellt hatte – einen sanften Hang zum Strand hinunter -, wäre sie zu müde gewesen, um zu laufen.

Ich werde mir einfach einen anderen Plan ausdenken müssen, befand sie.

Sie blieben eine halbe Stunde dort, während ihr Vater sie auf verschiedene Besonderheiten in der Landschaft aufmerksam machte. Bei der Erwähnung von Plünderern blickte Imi mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont hinüber. Sie lauschte den Wächtern, die ihr beschrieben, wie ein Schiff aussah, und prägte sich die Einzelheiten ein, für den Fall, dass sie auf dem Weg zu den Seeglocken einem Schiff begegnen würde.

Nach einer Weile fühlte ihre Haut sich unangenehm trocken an. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Teiti ihrem Vater verstohlen in die Rippen stieß, woraufhin er erklärte, dass es an der Zeit sei aufzubrechen. Sobald sie alle in den Tunnel hinabgestiegen und sich die Haut wieder befeuchtet hatten, bot der Wachmann an, der sie zuvor hochgehoben hatte, sie auf dem Rücken heimzutragen. Sie sah ihren Vater eifrig an. Er lächelte.

»Nur zu. Aber gib Acht, dass du dir den Kopf nicht an der Decke anschlägst.«

Sie stieg auf den Rücken des Wachmanns und bettete den Kopf auf seine Schulter, als sei sie müde. Und während ihr Vater, ihre Tante und die Wachen die Treppe hinuntergingen, schmiedete sie einen neuen Plan, um ihren Beschützern zu entfliehen und aus der Stadt zu gelangen. Die sanft geschwungenen Pfade der Tempelgärten waren tadellos gepflegt. Wann immer Auraya von ihrem Zimmer im Turm darauf hinabblickte, fühlte sie sich ein wenig abgestoßen von der streng durchgeplanten, wohlgeordneten Anlage der Gärten. Verglichen mit der natürlichen Wildheit des Waldes in der Nähe des Dorfs, in dem sie aufgewachsen war, oder dem prachtvollen Chaos, das im Land der Siyee herrschte, wirkten die sich überlappenden Kreise und die sorgfältig bemessenen Beete und Rabatten geradezu lächerlich.

Von unten betrachtet, hatte das gezähmte Regelmaß der Gärten jedoch etwas Beruhigendes. Man lief niemals Gefahr, dass sich Leramer oder Worns anschlichen oder dass man über Schlafreben stolperte. Nichts blieb liegen, um zu verwesen, so dass die Luft nach Blumen und Früchten duftete. Die Pfade boten einen hübschen Anblick nach dem anderen und führten stets dorthin, wo man hinwollte, ohne dass man sich versucht fühlte, über das gewissenhaft gestutzte Gras zu laufen.

Heute unternahm Auraya jedoch nicht zum Vergnügen einen Spaziergang. Sie und Juran strebten dem Heiligen Hain entgegen.

Sie kamen an einem der vielen Priester vorbei, die vor dem Hain Wache standen. Der Mann machte den Eindruck, als gönne er sich lediglich eine Pause auf einer steinernen Bank, um eine Schriftrolle zu lesen, aber Auraya wusste, dass seine Hauptaufgabe darin bestand, jedem den Zutritt zu verwehren, mit Ausnahme der wenigen Auserwählten, die den Hain pflegten – und der Weißen.

Der Priester machte das Zeichen des Kreises, und Juran nickte ihm zu. Der Pfad führte Auraya und Juran durch eine Lücke in einer Wand dicht an dicht wachsender Bäume, bevor er nach links abzweigte. Dort schlängelte er sich durch einen Hain aus Obstbäumen, die von weiteren Priestern und Priesterinnen gepflegt wurden. Zu guter Letzt gelangten sie zu einer Steinmauer.

In einer schmalen Öffnung in der Mauer war eine hölzerne Tür eingelassen, die nach innen aufschwang, als sie sie erreichten. Auraya schauderte, als sie hindurchtrat. Zwar hatte sie den Hain im vergangenen Jahr mehrfach besucht, aber immer noch erfüllte sie jedes Mal Ehrfurcht, wenn sie sich dort aufhielt.

Innerhalb der kreisförmigen Mauer wuchsen vier Bäume. Sie waren die einzigen Überlebenden von hunderten von Setzlingen, die man hundert Jahre zuvor hier gepflanzt hatte. Zwei standen dicht nebeneinander, und ihre Zweige hatten sich ineinander verschlungen. Ein weiterer war klein und verkümmert. Der vierte, dessen Zweige sich weit ausgebreitet hatten, schien dicht am Boden zu hocken.

Die Blätter und die Borke dieser Bäume waren so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten. Wenn man die Rinde genauer betrachtete, konnte man Risse in der Borke entdecken, durch die das weiße Holz schimmerte. Die dunkle Tönung des Stamms wurde durch die weißen Kiesel noch betont, die den Boden bedeckten und die anscheinend dazu dienten, die Feuchtigkeit in der Erde zu bewahren. Die Bäume hätten eigentlich ein kälteres Klima als das von Hania benötigt.

Die Farbe der Bäume war schon eigenartig genug, aber ihre Zweige waren noch seltsamer. Sie waren auf unheimliche und unnatürliche Weise gewachsen. Die meisten der kleineren Zweige wiesen scheibenartige Verdickungen auf, die manchmal durchlöchert waren. Die Zweige höher in der Krone waren entweder mit anderen zu becherförmigen Gebilden verwachsen oder wiesen ebenfalls scheibenförmige Verdickungen mit kleinen Löchern auf. Während Auraya hinaufblickte, ließ sich ein Vögelchen in einem der Becher nieder. Der Kopf eines Nestlings hob sich bis knapp über den Becherrand, und der Altvogel stopfte ihn mit einem frischen Fang.

»Hast du das gesehen?«, fragte ein Priester.

Auraya drehte sich um und sah einen Hohepriester im Gespräch mit einer jungen Priesterin. Die Frau, eine angehende Heilerin, nickte.

»Er ist so gewachsen, dass er die Form eines Nests angenommen hat«, sagte sie.

»Ja. Wenn du dort hinaufklettern und den Kopf hineinstecken würdest, würdest du feststellen, dass das Holz warm ist. Der Vogel hat das Holz nicht nur dazu ausgebildet, zu einem Nest zu wachsen, sondern es auch mit der Gabe ausgestattet, Magie in Wärme zu verwandeln.«

»Wie macht der Baum das?«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Vielleicht haben die Götter ihn so geschaffen.«

»Ich verstehe jetzt, warum man ihn den Willkommensbaum nennt«, erwiderte die Frau. »Zuerst fand ich, dass das ein seltsamer Name für einen so hässlichen Baum ist.«

Auraya lächelte. Es war tatsächlich ein hässlicher Baum, was jedoch nur an dem Verwendungszweck lag, dem die Menschen sein auf magische Weise formbares Holz zugeführt hatten. Als Juran Auraya das erste Mal hierhergebracht hatte, hatte sie zu ihrem Erstaunen erfahren, dass diese Bäume die Quelle der Priesterringe waren. Die Schwellungen an den Zweigen ließen sich ernten, und jeder Ring enthielt die Gabe, die es den Priestern möglich machte, sich miteinander in Verbindung zu setzen.

Die Willkommensbäume bargen großes Potenzial, sowohl für das Gute als auch für das Böse, aber als Juran ihr von den Ansprüchen dieser Pflanzen erzählte, hatte es sie erstaunt, dass die Zirkler überhaupt eine Verwendung für sie gefunden hatten. Die Bäume waren schwer am Leben zu erhalten. In den meisten zirklischen Tempeln wurden sie in Hainen gepflanzt, obwohl einzig der gut bewachte Hain in Jarime für die Gewinnung der Ringe von Priestern und Priesterinnen benutzt wurde. Die Leute, die die Bäume pflegten, hüteten das Geheimnis, wie man sie gesund erhielt.

Die Zweige mussten jeden Tag »ausgebildet« werden. Als Auraya bei der Erschaffung ihres ersten Verbindungsrings geholfen hatte, hatte sie den Hain jeden Tag am frühen Morgen aufsuchen und mindestens eine Stunde lang neben dem Baum sitzen müssen, an dem ihr Ring wuchs. Trotz all der Mühen, die die Erschaffung eines Rings kostete, verlor das Holz binnen weniger Jahre seine Qualität. Es wurden ständig Priesterringe angebaut, um jene zu ersetzen, die ihren Zweck nicht länger erfüllten. Außerdem wurden sie immer nur mit der simplen Gabe versehen, die es den Priestern ermöglichte, miteinander in Verbindung zu treten. Man konnte die Bäume auch mächtigere Gaben lehren, aber je mehr Magie diese Gaben erforderten, umso schneller verlor das Holz seine Funktion.

Die einzigen Ringe, die diesen Beschränkungen nicht unterworfen waren, waren die der Weißen. Sie waren spontan an dem kleineren Baum gewachsen, der sich ansonsten halsstarrig weigerte, sich von irgendeinem Willen als dem der Götter formen zu lassen.

Ein weiterer älterer Priester erschien neben Juran.

»Juran von den Weißen«, sagte er und schlug das Zeichen des Kreises. »Auraya von den Weißen. Seid ihr hier, um eure Aufgabe zu beginnen?«

»So ist es, Priester Sinar«, antwortete Juran. »Wo sollen wir anfangen?«

Der Priester führte sie zu dem größeren der einzeln wachsenden Bäume und deutete auf einen Zweig, der aus einem der Hauptäste spross. Auraya lächelte schief, als sie sich an einen ähnlichen Zweig erinnerte, den sie ein Jahr zuvor langsam hatte anschwellen und zu einem Ring werden sehen.

»Dies könnte eine geeignete Stelle sein«, sagte der alte Mann.

»So ist es, vielen Dank«, erwiderte Juran. Er sah Auraya an. »Wir werden vielleicht einige Minuten ungestört sein müssen, während wir uns an die Arbeit machen.«

Der Priester nickte. »Ich werde den Hain räumen lassen.«

Er eilte davon und geleitete die anderen Priester und Priesterinnen durch die Tür in der Steinmauer. Als der Hain sich geleert hatte, drehte Juran sich mit einem eigenartigen, gequälten Gesichtsausdruck zu Auraya um.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Wir müssen zuerst noch etwas besprechen.« Er hielt inne. »Wie… hast du mir verziehen?«

Sie blinzelte überrascht. »Verziehen? Was…? Ah.« Als ihr klar wurde, dass er von Leiard sprach, krampfte sich ihr Magen zusammen. »Das.«

»Ja. Das.« Er sah sie ernst an. »Ich hätte dir mehr Zeit gegeben, bevor ich das Thema zur Sprache bringe, aber Mairae hat darauf bestanden, dass wir darüber reden müssen, bevor du diesen Ring machst.« Er seufzte. »Vor einigen Jahren erlitt eine Priesterin, die hier Ringe erntete, eine schreckliche persönliche Tragödie. Jeder, der diese Ringe später trug, wurde sehr traurig, aber niemand begriff, was geschehen war, bis einige Priester und Priesterinnen sich das Leben nahmen und die Leute sich zu fragen begannen, warum sie das getan hatten.«

»Du hast Angst, das Gleiche könnte wieder geschehen«, sagte Auraya. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich platze nicht gerade vor Glück, Juran, aber ich bin auch nicht in selbstmörderischer Stimmung.«

»Also, wie fühlst du dich?«

»Ich habe dir verziehen.« Als sie das sagte, stieg eine Woge von Gefühlen in ihr auf, und sie begriff, dass es die Wahrheit war. »Es war das Beste so.«

»Mairae ist der Meinung, dass ich es falsch angefangen habe.« Er runzelte die Stirn. »Sie glaubt, es hätte nichts geschadet, euch diese… diese Beziehung zu gestatten, solange es nicht öffentlich bekannt geworden wäre.«

»Aber du bist anderer Meinung.«

Er zog die Schultern hoch. »Sie hat mich dazu gebracht, noch einmal darüber nachzudenken.«

Auraya atmete tief durch. Also wäre ich immer noch mit Leiard zusammen, wenn Mairae und Juran sich ein wenig Zeit genommen hätten, darüber nachzudenken. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, sich heimlich mit Leiard zu treffen, während alle Weißen von ihrer Affäre wussten. Es wäre überaus peinlich gewesen. Ich hätte in diesem Fall nicht herausgefunden, wie leicht Leiard für eine andere Frau entflammte, sobald er glaubte, er könne nicht mehr mit mir zusammen sein.

Sie seufzte. »Nein, ich bin froh, dass es sich so gefügt hat, Juran. Das macht viele Dinge einfacher. Dinge wie das Hospital.«

Er lächelte und nickte. Einen Moment lang blickten sie beide schweigend zu dem Baum auf, dann stieß Juran einen Seufzer aus.

»Also, wie wollen wir an deine Idee herangehen, einen Verbindungsring zu schaffen, der die Gedanken seines Trägers abschirmt?«


Der Fluss unter ihnen war wie ein Band aus Feuer, in dem sich die leuchtenden Farben des Abendhimmels spiegelten. Veece seufzte über den Schmerz in seinen Armen. Als er die Flügel neigte, um dem Wasser zu folgen, konnte er seine Gelenke knarren hören. Er brauchte eine Ruhepause, was den Jüngeren nicht gefallen würde. Sie würden sich Sorgen machen, dass sie bis zur folgenden Nacht nicht nach Hause kommen würden.

Obwohl sein alter Körper nicht mehr so beweglich und robust war wie ihrer, war er doch immer noch ihr Sprecher. Sie würden sich nicht beklagen, wenn er sich entschied zu landen, obwohl sie ihn vielleicht aufziehen würden. Das war das Vorrecht der Jugend. Schließlich würden auch sie eines Tages alt sein. Sollten sie sich doch jetzt damit unterhalten, andere aufzuziehen, bevor sie selbst zum Gegenstand des Spotts wurden.

Der Fluss fiel über einem kleinen Kliff ab. Veece spürte einen Anflug von Feuchtigkeit in der Luft, die über dem Wasserfall aufstieg. Vor sich konnte er einen kleineren Wasserfall ausmachen. Er flog darüber hinweg und kam zu dem Schluss, dass diese Stelle ihm gefiel. Wenn er sich von dem trockenen Felsen am Rand abstieß, konnte er sich wieder in die Luft schwingen, ohne sich der Strapaze aussetzen zu müssen, zuvor ein Stück zu rennen und mit den Flügeln zu schlagen.

Er kreiste kurz, dann führte er die anderen zurück zu der Stelle über dem Wasserfall. Bei der Landung ging ein unangenehmer Ruck durch seine Knochen, aber einen Moment später zahlte sich das vorübergehende Ungemach aus, denn der Schmerz in seinen Gliedern verebbte, sobald er die Arme sinken ließ.

»Wir werden die Nacht über hierbleiben«, erklärte er. Reet runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir dann ein wenig Nahrung sammeln«, sagte er und stolzierte in den Wald davon. Tyve eilte ihm nach und murmelte etwas von Feuerholz. Als Veece sich auf einen noch sonnenwarmen Stein setzte, hockte seine Nichte, Sizzi, sich neben ihn.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.

»Ein wenig steif«, antwortete er und rieb sich die Arme. »Ich muss mich nur ein bisschen recken.«

Sie nickte. »Und was ist mit deinem Herzen?«

Er bedachte sie mit einem tadelnden Blick, den sie jedoch ungerührt erwiderte. Schließlich wandte er sich seufzend ab.

»Ich fühle mich besser, und ich fühle mich schlechter«, sagte er. »Nicht mehr wütend, aber immer noch… leer.«

Sie nickte. »Es war gut, was die Zirkler getan haben. Die Schilder für die Gräber und das Denkmal werden dafür sorgen, dass man unsere Hilfe und unsere Verluste niemals vergisst.«

»Diese Dinge werden ihn aber auch nicht zurückbringen«, rief er ihr ins Gedächtnis und verzog das Gesicht. Es war unnötig, darauf hinzuweisen, und er hörte sich an wie ein schmollendes Kind.

»Sie werden niemandem den Sohn zurückbringen«, murmelte sie. »Oder die Tochter. Oder die Eltern. Das lässt sich nicht ungeschehen machen. Und man sollte es sich auch nicht wünschen, wenn das bedeutete, dass diese Pentadrianer gesiegt hätten und hergekommen wären, um uns alle niederzumetzeln.« Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie auf. »Ich habe gehört, dass die Zirkler Priester zu uns schicken wollen. Sie werden uns in der Heilkunst unterweisen und uns helfen, uns mit Magie zu verteidigen.«

Er schnaubte. »Für uns, die wir so weit entfernt vom Offenen Dorf leben, wird das keinen Nutzen haben.«

»Nicht von Anfang an«, pflichtete sie ihm bei. »Wenn du ein Mitglied unseres Stammes hinschickst, damit er oder sie von ihnen lernt, wird der Betreffende mit diesem Wissen zurückkehren.«

»Und du wärst gern dieser Be…«

»Veece! Sprecher Veece!«

Reet und Tyve kamen aus dem Wald gerannt und liefen zu Veece hinüber.

»Wir haben Fußabdrücke gefunden«, keuchte einer von ihnen. »Große Fußabdrücke.«

»Stiefelabdrücke«, verbesserte der andere ihn.

»Die müssen von einem Landgeher stammen.«

»Und sie sind frisch – die Abdrücke, meine ich.«

»Er kann nicht weit weg sein.«

»Sollen wir ihn aufspüren?«

Sie sahen Veece erwartungsvoll an, und ihre Augen leuchteten vor Erregung. Sie waren bereit, sich kopfüber in neue Gefahren zu stürzen, und das trotz ihrer Erfahrung mit dem Krieg. Oder vielleicht gerade deswegen. Er konnte nachvollziehen, dass ein junger Mann den Eindruck gewinnen musste, unverletzbar zu sein, wenn er selbst unversehrt aus der Schlacht hervorgegangen war, in der so viele den Tod gefunden hatten.

Dann fiel ihm wieder ein, was beim letzten Mal geschehen war, als eine einzelne Fremde in Si bemerkt worden war, und das Blut gefror ihm in den Adern.

»Wir sollten vorsichtig sein«, erwiderte er. »Was ist, wenn diese schwarze Zauberin mit ihren Vögeln zurückgekehrt ist, um sich an uns zu rächen?«

Reet und Tyve erbleichten.

»Dann können wir nicht fortgehen, ohne es herausgefunden zu haben«, sagte Sizzi leise. »Wir müssen alle Stämme warnen.«

Veece betrachtete sie überrascht und beeindruckt. Sie hatte recht, obwohl das bedeutete, dass sie um des Wohles ihres Volkes willen ein schreckliches Risiko eingehen mussten. Er nickte langsam.

»Wir sollten am besten gleich aufbrechen und morgen zurückkehren.« Er blickte von Reet und Tyve zu Sizzi hinüber. »Bei vollem Tageslicht wird es einfacher sein, diesen Landgeher – oder diese Gruppe von Landgehern – aufzuspüren. Wir werden hoffentlich feststellen können, ob Magie benutzt wurde oder ob diese schwarzen Vögel wieder hier sind, ohne den Landgehern begegnen zu müssen.«

»Was ist, wenn einer von uns gesehen wird?«, fragte Tyve. »Was ist, wenn es tatsächlich die Zauberin ist und sie uns angreift?«

»Wir werden alles daransetzen, dass man uns nicht sieht«, erklärte Veece energisch.

»Die meisten Landgeher machen so viel Lärm, dass man sie noch vom nächsten Berg hören kann«, fügte Sizzi hinzu.

Reet zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich ist es nur dieser Entdecker, der uns im vergangenen Jahr den Bündnisvorschlag von den Weißen überbracht hat. Es heißt, er sei ein wenig verrückt, aber er ist kein Zauberer.«

Veece nickte. »Aber wir dürfen nicht einfach darauf bauen, dass es sich tatsächlich um ihn handelt. Wir werden jetzt aufbrechen und uns für heute Nacht einen anderen Lagerplatz suchen – weit genug entfernt von dieser Stelle, dass ein Landgeher uns nicht erreichen kann, selbst wenn er oder sie die ganze Nacht hindurch marschieren würde.«

Er erhob sich, bog die Arme durch und ging dann, gefolgt von den anderen, zum Rand des Kliffs hinüber.



9

Der Domestik führte Reivan durch eine langgestreckte Halle. Eine Seitenwand war durchbrochen von Rundbogen, und als Reivan am ersten davon vorbeiging, sah sie, dass man von dort aus auf einen Balkon gelangte. Dieser Balkon bot einen beeindruckenden Ausblick über die Stadt und die dahinter liegende Landschaft.

Ich muss in den oberen Stockwerken des Sanktuariums sein, dachte sie nervös.

Der Domestik blieb vor dem letzten Rundbogen stehen, wandte sich zu ihr um und deutete nach draußen. Dann ging er wortlos davon.

Reivan hielt inne, um zu Atem zu kommen – und um ihren Mut zusammenzunehmen. Sie war spät dran. Die Zweite Stimme würde sie vielleicht nicht bestrafen wollen, fühlte sich möglicherweise aber dazu verpflichtet.

»Dienernovizin Reivan.« Die Stimme gehörte Imenja. »Hör auf, dir Sorgen zu machen, und komm herein.«

Reivan trat unter dem Bogen hindurch. Imenja saß auf einem Stuhl aus geflochtenem Schilf, ein Glas aromatisiertes Wasser in einer Hand. Sie sah Reivan an und lächelte.

»Zweite Stimme der Götter«, sagte Reivan. »Ich… ich entschuldige mich für meine Verspätung. Ich… ah… ich habe mich…«

Imenjas Lächeln wurde breiter. »Du hast dich verirrt? Du?« Sie kicherte. »Ich kann nicht glauben, dass du – diejenige, die uns aus den Minen geführt hat – dich im Sanktuarium verirren konntest.«

Reivan senkte den Blick, konnte ein Lächeln jedoch nicht ganz unterdrücken. »Ich fürchte, es ist so. Es ist ziemlich … peinlich… Ich frage mich, ob ich mir nicht eine Karte zeichnen sollte.«

Imenja lachte. »Möglicherweise. Nimm Platz, und schenk dir etwas zu trinken ein. Wir werden bald Gesellschaft bekommen, und ich wollte vorher Zeit haben, mit dir zu reden. Hast du dich inzwischen eingelebt?«

Reivan zögerte. »Mehr oder weniger.«

Während Reivan vor den Stuhl neben Imenjas trat, gingen ihr die letzten Wochen noch einmal durch den Sinn. Die Tatsache, dass man sie als Dienernovizin akzeptiert hatte, hatte ihr Ansehen in den Augen der anderen Götterdiener nicht verbessert.

Auf dem Boden entdeckte sie einige Gläser und einen Krug Wasser. Während sie trank, durstig nach ihrem langen Marsch über Treppen und durch Flure, dachte sie an den Ergebenen Nekaun. Seine Worte waren die einzig wirklich freundlichen, die sie bisher gehört hatte.

Sie war seinem Rat gefolgt und hatte so viel wie möglich über die Gruppierungen innerhalb des Sanktuariums und deren Absichten und Hoffnungen in Erfahrung gebracht – größtenteils, indem sie andere Gespräche belauscht hatte. Das war nicht weiter schwierig gewesen, da alle darüber redeten, welcher der Ergebenen Götterdiener zur Ersten Stimme gemacht werden würde.

»Was hältst du von Nekaun?«, fragte Imenja.

Reivan stutzte überrascht, dann erinnerte sie sich an Imenjas Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Während der Heimreise hatte sie sich nach und nach daran gewöhnt, dass man ihre Gedanken so leicht lesen konnte. In der Zeit, die seitdem vergangen war, war ihr diese Vorstellung offenkundig wieder fremd geworden.

»Der Ergebene Nekaun scheint nett zu sein«, erwiderte sie. Und er ist auch nett anzusehen, fügte sie im Geiste hinzu.

Imenjas Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Lächeln. »Ja. Und ehrgeizig.«

»Er möchte Erste Stimme werden?« Leise Neugier regte sich in Reivan.

»Das wollen sie alle aus dem einen oder anderen Grund. Sogar jene, die es sich selbst gegenüber nicht eingestehen können. Sogar jene, die davor Angst haben.« Imenja trank einen Schluck Wasser.

»Angst davor, die Erste Stimme zu werden?«

»Ja. Sie fürchten die Verantwortung, die niemals ein Ende nehmen wird. Oder vielleicht auch die Verantwortung, die zu einem unerfreulichen Ende führen könnte – denn genau das ist es, was sein Amt Kuar eingetragen hat. Ihr Verlangen, den Göttern näher zu sein, ringt mit ihrer Furcht vor dem Tod, der sie ebenfalls den Göttern nur näher bringen würde. Seltsam, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann sind da noch jene, die fürchten, die Götter könnten es missbilligen, wenn sie nur von Ehrgeiz getrieben sind. Sie wissen, dass ein Diener der Götter seine eigenen Interessen beiseiteschieben und zu ihrem Nutzen wirken muss, daher reden sie sich ein, dass sie diese Position nicht wollen, obwohl das nicht die Wahrheit ist.«

»Ich habe angenommen, es spielte keine Rolle, was die Götter denken. Die Diener wählen die Erste Stimme unter den Ergebenen, die die Prüfungen ihrer magischen Stärke bestehen.«

Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Natürlich spielt die Meinung der Götter eine Rolle. Stell dir vor, jemand würde von den Götterdienern erwählt, aber von den Göttern selbst zurückgewiesen?«

Reivan verzog das Gesicht. »Das ist keine Position, in der ich mich gern wiederfinden würde.«

»In welcher Position würdest du dich denn gern wiederfinden?«, fragte Imenja.

Die Frage überraschte Reivan. Sie breitete die Hände aus. »Ich wollte immer nur eine Dienerin der Götter sein.«

»Warum?«

Reivan öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn dann aber wieder. Sie war im Begriff gewesen zu sagen: »Um den Göttern zu dienen«, aber sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Ich bin keine Fanatikerin, dachte sie. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Leben opfern würde, ohne eine Erklärung dafür zu erwarten, warum die Götter das von mir verlangen.

Warum habe ich diesen Traum dann so lange gehegt?

Sie hatte die Götterdiener immer bewundert. Ihre Würde, ihre Weisheit. Ihre Magie.

Es kann doch unmöglich nur um Magie gehen. Wenn ich eine Götterdienerin werde, werde ich deshalb keine größeren Fähigkeiten entwickeln. Niemals.

Es musste mehr als das sein. Es war ihr so ungerecht erschienen, dass sie das Kloster, in dem sie aufgewachsen war, hatte verlassen müssen, weil sie keine Götterdienerin werden konnte. Sie wäre gern dort geblieben. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie dort hingehörte.

»Es ist die Art zu leben«, antwortete sie langsam. »Wir sind Führer und Lehrer. Wir sind Ordnung in einer chaotischen Welt. Mit Hilfe unserer Zeremonien markieren wir die verschiedenen Etappen im Leben der Menschen und geben ihnen auf diese Weise ein Gefühl für ihren Wert und ihre Zugehörigkeit.«

Imenja lächelte, aber es lag keine Freude in diesem Lächeln. »Du sprichst wie eine Dorfdienerin. Neben diesen Dingen herrschen wir auch und erheben Steuern. Wir sprechen Recht. Wir führen Männer und Frauen in den Krieg.«

Reivan zuckte die Achseln. »Nach allem, was ich gelesen habe, machen wir unsere Sache besser als die alten Könige.«

Die Stimme lachte. »Ja, das ist wahr. Wenn du vorhast, Dorfdienerin zu werden oder in einem Kloster zu arbeiten, verschiebe diese Pläne auf deine späteren Jahre. Ich habe hier und jetzt Verwendung für dich.«

Ein schwacher Stich der Furcht durchzuckte Reivan. »Dann hoffe ich, dass ich mich als so nützlich erweisen werde, wie du es erwartest.«

»Zu guter Letzt wirst du es tun, davon bin ich überzeugt. Ich möchte dich zu meiner Gefährtin machen.«

Einige Sekunden später wurde Reivan bewusst, dass sie Imenja anstarrte, und sie wandte den Blick ab. Ich? Die Gefährtin einer Stimme?

Das bedeutete, dass sie Imenja als Ratgeberin dienen und ihre Aufträge ausführen würde. Jeder, der mit der Zweiten Stimme sprechen wollte, würde Reivans Vermittlung brauchen. Sie würde an die Stelle Thars treten, der im Krieg gefallen war. Thar hatte mächtige Fähigkeiten besessen …

»Ich verfüge über keinerlei Befähigung«, erklärte sie. »Und ich bin erst zweiundzwanzig.«

»Du bist intelligent, und mir gefällt die Art, wie du denkst. Du kannst das Protokoll wahren und andere Sprachen sprechen. Du wirst deine Aufgabe gut machen. Ein Hindernis gilt es jedoch zu überwinden. Es muss so aussehen, als hättest du dir die Position verdient. Nur wenige Menschen haben miterlebt, welche Rolle du für das Entkommen der Armee aus den Minen gespielt hast, und kaum jemand weiß, wie viel wir dir verdanken. Jene, die während des Krieges hiergeblieben sind, sind der Meinung, dass deine Tat es nicht rechtfertigt, eine Regel zu ändern, die seit so langer Zeit besteht, dass sie beinahe ein Gesetz ist.«

Obwohl ihr Herz hämmerte und sie sich so fühlte, als seien ihr alle inneren Organe in die Füße gerutscht, brachte Reivan ein Nicken zustande. »Götterdiener müssen über magische Fähigkeiten verfügen.«

»Lass dich nicht entmutigen. Unter uns Götterdienern finden sich mehr, die bereit sind, dir eine Chance zu geben, als solche, die dagegen sind, und das liegt nicht nur daran, dass ich es so wünsche. Sie werden keinen Protest erheben, wenn ich dich zu den Ritualen mitnehme und deinen Rat suche, geradeso wie ich es mit einem Gefährten tun würde, aber wenn ich es so bald schon offiziell verkünden würde…« Sie schüttelte den Kopf. »Es wird möglicherweise noch viele Monate dauern, bis ich das tun kann. Du bist vollauf in der Lage, sie davon zu überzeugen, dass du der Aufgabe würdig bist, aber wie stehst du zu dieser Herausforderung?«

Reivan nickte langsam. »Wenn ich den Göttern gut dienen will, sollte ich mich besser in eine Position bringen, in der meine Fähigkeiten von Nutzen sein können.«

Imenja lächelte. »Eine gute Antwort. Ah. Pünktlich auf die Minute. Da kommt Shar.«

Als die Fünfte Stimme auf den Balkon trat, setzte Reivans Herz einen Schlag aus. Er mochte diejenige unter den Stimmen sein, die am wenigsten Macht besaß, aber er war mit Abstand der schönste Mann unter den Stimmen. Seine Haut war ungewöhnlich blass, und langes, von der Sonne gebleichtes Haar ergoss sich über seinen Rücken. Der Blick seiner smaragdgrünen Augen fiel zuerst auf Imenja, dann auf sie.

»Meine Damen«, sagte er und verneigte sich.

»Hast du etwas dagegen, wenn Reivan hierbleibt, um mich zu beraten?«, fragte Imenja ihn.

»Ganz und gar nicht.« Er lächelte und verneigte sich abermals. Reivan spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Ich danke dir, Heiliger«, sagte sie, doch ihre Worte klangen leiser, als sie es beabsichtigt hatte.

»Sind wir die Letzten?«, fragte eine Frau, die Reivan noch nicht erkennen konnte.

Im nächsten Moment traten die beiden anderen Stimmen auf den Balkon heraus. Genza war so dunkel wie die Vögel, die sie züchtete, und hatte auch die gleichen scharfen Gesichtszüge. Vervel dagegen war untersetzt und schien etwa zwanzig Jahre älter zu sein als sie. Beide waren während ihrer sterblichen Jahre Dienerkrieger gewesen, obwohl sie über mächtige Fähigkeiten verfügten.

»Ich fürchte, so ist es«, antwortete Shar.

Genza sah Reivan an und nickte. »Willkommen im Sanktuarium, Reivan Riedschneider.«

Reivans Gesicht fühlte sich jetzt noch wärmer an. Sie murmelte einige Worte des Danks, dann traten zwei Götterdiener ein. Sie erkannte die Gefährten von Genza und Vervel. Die beiden nickten ihr respektvoll zu, und sie erwiderte die Geste.

Als die Neuankömmlinge Platz genommen hatten, löste sich Reivans Selbstbewusstsein schnell auf. In der Gesellschaft sämtlicher Stimmen und ihrer mächtigen Gefährten kam sie sich unwichtig und ein wenig jämmerlich vor. Sie beschloss, so wenig wie möglich zu sagen und sich auf das Zuhören zu konzentrieren. Als wollten sie ihr in diesem Punkt entgegenkommen, begannen die Stimmen ein Gespräch über die Ergebenen Götterdiener, die für eine Wahl zur Ersten Stimme in Frage kamen.

Zu ihrer Überraschung erörterten sie die Vorzüge und Mängel eines jeden Einzelnen mit einer Begeisterung, die beinahe erschreckend war. Kein Aspekt des Charakters der fraglichen Kandidaten blieb ihrer kompromisslosen Analyse verborgen. Sie begriff schnell, warum das wichtig für sie war. Wen auch immer sie wählten, der Betreffende würde ihr Anführer sein. Sie würden vielleicht für Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende mit dieser Person zusammenarbeiten.

Ich wüsste gern, warum Imenja nicht in den Rang der Ersten Stimme erhoben werden kann, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. In meinen Augen wäre sie eine gute Anführerin.

Nach einiger Zeit erschienen zwei Domestiken mit einem Tablett voller getrockneter Früchte, Nüsse und anderer Delikatessen sowie einem Krug Wasser. Das Gespräch wandte sich weniger wichtigen Themen zu. Reivan schauderte, als eine kühle Brise über ihre Haut strich. Sie blickte über das Balkongeländer und stellte fest, dass die Sonne sehr bald untergehen würde.

»Es hat Proteste gegen die Entscheidung gegeben, den Ritus der Sonne während eines Trauermonats abzuhalten«, bemerkte Vervel leise und mit undurchdringlicher Miene.

Imenja nickte. »Damit hatte ich gerechnet. Wir können von den Paaren nicht verlangen, noch ein Jahr auf die nächste Fruchtbarkeitszeremonie zu warten. Was kann das Herz besser heilen als die Möglichkeit, neues Leben in die Welt zu bringen?«

Die anderen nickten oder zuckten die Achseln. Imenja musterte jeden Einzelnen, dann lächelte sie.

»Ich denke, wir haben für heute genug besprochen. Wollen wir uns morgen wieder hier treffen, wenn das Wetter schön ist?«

Die anderen drei Stimmen nickten.

Imenja erhob sich und strich ihre Roben glatt. »Wir sehen uns dann alle beim Abendessen.« Sie blickte auf Reivan hinab. »Komm mit mir, Reivan. Wir haben viel zu besprechen.«

Als sie sich abwandte, stand Reivan auf und folgte ihr. Während sie nebeneinander hergingen, stellte Imenja Reivan einige Fragen nach ihrem Unterricht. Wenige Minuten später standen sie auf der Schwelle eines großen Raums. Reivan sah sich um und registrierte die schlichten, aber luxuriösen Möbel.

»Das sind meine Gemächer«, erklärte Imenja. »Wenn du meine Gefährtin bist, wirst du deine eigenen Räume nicht weit von hier entfernt zugeteilt bekommen.«

Reivan nickte und dachte an die kleine, dunkle Kammer, die man ihr gegeben hatte, nachdem sie Dienernovizin geworden war. »Darauf freue ich mich schon.«

Die Zweite Stimme kicherte. »Ja. In der Zwischenzeit könnte es nützlich für dich sein, zu erfahren, wie gewöhnliche Priester und Priesterinnen leben.«

Und jetzt weiß ich auch, wie die Stimmen leben, dachte Reivan, während sie sich noch einmal in dem Raum umsah. Was verrät mir dieser Raum über sie? Dass sie mächtig und wohlhabend sind, aber auf eine würdevolle Art und Weise und ohne Protzerei. Vermutlich müssen sie Herrscher, die hierherkommen, beeindrucken und ihr eigenes Volk davon überzeugen, dass sie alles unter Kontrolle haben. Sie musterte Imenja, und ihre bisher unbeantwortete Frage fiel ihr wieder ein.

»Warum macht man dich nicht zur Ersten Stimme?« Imenja lachte. »Mich?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt viele Gründe dafür, aber am schwersten wiegt die Stärke. Wir brauchen einen Ersatz für Kuar, der über ebenso große oder noch größere magische Macht verfügt, als sie dem Gefallenen zu Gebote stand. Das würde bedeuten, dass die neue Stimme mächtiger wäre als ich, und das ginge nicht an, wenn eine weniger mächtige Stimme über die anderen herrschte, nicht wahr?«

Reivan schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht.«

»Außerdem strebe ich diese Position auch nicht an«, gestand Imenja. »Ich ziehe es vor, in meinen Methoden weniger direkt zu sein.« Sie trat vor einen kleinen Gong. Als sie ihn anschlug, erfüllte ein angenehmes Läuten den Raum. »Jetzt muss ich mich um einige Angelegenheiten kümmern, die ich früher Thar überlassen habe. Bleib hier und hör zu, denn du wirst diese Aufgaben in Kürze übernehmen.«

Reivan folgte der Zweiten Stimme zu einigen Rattansesseln und beschloss, so viel wie möglich zu lernen.

Ich mag nicht über Magie verfügen, aber das wird mich nicht daran hindern, eine gute Gefährtin zu sein, wenn es so weit ist, sagte sie sich.


Mirar schloss die Augen, verlangsamte seine Atmung und ließ sein Bewusstsein zurücktreten, bis es zwischen Schlafen und Wachen schwebte. In diesem Zustand konnte man leicht abgelenkt und verleitet werden, in Träume abzugleiten. Er konzentrierte einen Teil seines Geistes auf sein Ziel. Es war wie das Spiel, das er als Kind gespielt hatte: Eins der Kinder musste mit einer Hand mit einem Baum oder einem Stein in Verbindung bleiben, während es versuchte, die übrigen Kinder zu »töten«, indem es sie berührte. Die anderen liefen dann im Kreis um das eine Kind herum, kamen kurz näher und sprangen sogleich wieder weg. Wenn er das Kind am Baum war, hatte er sich so weit wie möglich gestreckt und nur noch mit einem Finger den Baum berührt…

Der Turmtraum, rief er sich ins Gedächtnis. Ich muss diesen Traum sehen, von dem Emerahl behauptet, es sei meiner.

Er rief nach ihr und spürte, wie sie vom Schlaf in den Traum glitt.

Mirar?

Ich bin hier. Zeig mir den Traum.

Ah. Ja. Der Turmtraum. Wie fängt er an…?

Der Weiße Turm erschien. Er ragte über ihr beziehungsweise ihm auf, ebenso wie das Gefühl drohender Gefahr.

Bist du während der letzten hundert Jahre irgendwann in Jarime gewesen?, fragte er sehr sanft und leise, um ihre Erinnerung nicht zu stören. Hast du den Weißen Turm gesehen?

Nein.

Das war interessant. Dass sie so genau von etwas träumte, das sie nie gesehen hatte… aber andererseits glaubte sie auch nicht, dass dies ihr eigener Traum war.

Der Traum war nicht so genau, wie es zuerst den Anschein hatte. Wolken wurden durchschnitten, als sie über den Turm hinwegglitten, und der Turm selbst war höher als in Wirklichkeit. Mirar spürte, wie die Traumangst über ihm zusammenschlug. Der Drang zu fliehen, aber auch die Lähmung der Faszination. Der Träumer wollte zusehen. Wollte alles sehen, obwohl es gefährlich war. Wenn er zu lange blieb, würden sie den Träumer sehen. Herausfinden, wer er war.

»Sie«? Wer waren »sie«?

Der Turm schien sich zu neigen. Risse wurden sichtbar. Es war zu spät, um wegzulaufen, aber er versuchte es trotzdem. Als er sich umdrehte, sah er riesige Ziegelsteine auf sich zu fallen.

Warum bin ich nicht früher weggelaufen? Warum bin ich nicht zur Seite gelaufen, so dass der Turm mich nicht treffen konnte?

Die Welt um ihn herum stürzte ein. Der Lärm war ohrenbetäubend. Er spürte, wie sein Körper bedeckt wurde. Zerschmettert. Knochen barsten. Fleisch wurde zerquetscht. Sein Oberkörper explodierte unter einer ungeheuren Last. Die Lunge brannte, während er langsam erstickte. Kein Atem, um aufzuschreien. Nicht einmal genug, um dem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Er kämpfte gegen eine Taubheit, die in seinen Geist kroch. Er versuchte, nach Magie zu greifen, konnte aber keine finden. Der Raum um ihn herum war erschöpft, alle Magie darin verbraucht. Trotz dieses Wissens griff er weiter aus, spürte ein winziges Rinnsal von Magie und zog es an sich. Benutzte es, um seinen Kopf, seinen Geist und seine Gedanken zu schützen.

Es ist nicht genug.

Nicht genug Magie, um seinen Körper wieder instand zu setzen. Nicht einmal genug, um die Trümmer des Traumweberhauses, die sich über ihm auftürmten, anzuheben. Eindeutig nicht genug, um noch einmal Juran gegenüberzutreten, was er würde tun müssen, wenn es ihm gelang, sich zu befreien.

Ich könnte einfach nachgeben. Mich sterben lassen. In einem Punkt hat Juran recht. Es beginnt ein neues Zeitalter. Vielleicht gibt es tatsächlich keinen Platz mehr für mich darin, wie er behauptet.

Aber was war mit den Traumwebern?

Ich bin ihnen jetzt nicht mehr von Nutzen. Indem ich mich den Plänen der Götter widersetzt habe, habe ich nichts anderes bewerkstelligt, als die Traumweber zu einem Feind des Volkes zu machen statt zu einem Teil dieser neuen Gesellschaft. Nichts währt ewig. Vielleicht ist auch für den Traumweberkult das Ende gekommen. Ich kann jetzt nichts mehr für sie tun. Wenn ich mich nicht einmal selbst retten kann, wie könnte ich dann sie retten?

Er spürte, wie das wenige an Magie, das er besaß, zusammenschmolz, dennoch griff er abermals aus und reckte sich weiter, als er es je zuvor getan hatte. Wenn er genug Magie in sich hineinziehen konnte, würde er vielleicht überleben. Es war nur eine Frage der sorgsamen Nutzung dieser Magie. Es war nicht notwendig, Knochen neu zusammenzufügen oder Fleisch zu heilen. Er brauchte lediglich die Grundfunktionen aufrechtzuerhalten. Hier, unter den Trümmern, gab es weder Wasser noch Nahrung. Er musste seinen Körper verlangsamen, bis er nur noch mit knapper Not lebendig war. Es war nicht notwendig zu denken, er musste nur die Substanz seines Geistes so weit erhalten, dass er weiterhin Magie in sich hineinzog und auf sein Ziel richtete.

Wenn er nichts dachte, würden die Götter ihn nicht sehen. Würden nicht wissen, was er tat. Würden nicht wissen, ob er überlebte.

Aber sie würden es erfahren, sobald er sich erholt hatte. Sie brauchten nur seine Gedanken zu lesen.

Sie dürfen nicht mich sehen. Sie sollen einen anderen sehen. Einen, der niemals eine Bedrohung für sie darstellen wird. Ich werde zu einem anderen werden, bis… nun, so lange, wie es mir möglich ist, oder… bis ich sterbe.

Langsam ließ er sich in die Dunkelheit hinabsinken.

Mirar!

Die Dunkelheit zuckte zurück wie ein erschrockenes Reyna. Befreit von dem Traum, erinnerte er sich daran, wo er war und was er tat, und das, was der Traum bedeutete, überrollte ihn.

Emerahl. Du hattest recht. Ich erinnere mich.

Ich habe es gesehen, antwortete sie. Du bist der wahre Besitzer deines Körpers. Der Weiße Turm war ein Symbol, das für Jurans Angriff auf dich stand. Du hast ihn an die Stelle des Traumweberhauses gesetzt, unter dem du begraben worden bist. Du, Mirar.

Ehrfurcht und Erstaunen über das, was er getan hatte, erfüllten ihn.

Es hat funktioniert. Ich habe überlebt. Ich habe Leiard erschaffen, um die Götter daran zu hindern, mich zu sehen, und es hat funktioniert. Ich bin in ihren Tempel gegangen, habe das Bett mit ihrer Priesterin geteilt, und sie haben mich nicht erkannt.

Du hast deine Identität verloren, entgegnete sie entsetzt. Du hättest genauso gut tot sein können.

Aber jetzt habe ich meine Identität wiedergefunden.

Ein Glück für dich, dass du einen sicheren Ort gefunden hast, um das zu tun – und dass ich überlebt habe, um dich zu lehren, wie du deine Gedanken verbergen kannst.

Ja, und um mir zu helfen, mich zu erinnern. Ich danke dir, Emerahl.

Ich bezweifle, dass Leiard mir danken wird.

Leiard? Er ist keine reale Person.

Er ist zu einer geworden.

Ja, stimmte Mirar ihr widerstrebend zu. Er hatte hundert Jahre Zeit, das zu tun. Zumindest kennt er jetzt die Wahrheit. Kein Wunder, dass wir ständig im Widerstreit miteinander lagen. Ich habe ihn in vielen Punkten zum Gegenteil dessen gemacht, was ich bin, um meine Tarnung zu stärken.

Eines wüsste ich gern… existiert er noch? Sollten wir aufwachen, damit ich versuchen kann, ihn herbeizurufen?

Nein, antwortete Mirar. Noch nicht. Ich muss über vieles nachdenken. Ich spüre, dass auch andere Erinnerungen zurückkommen.

Dann morgen.

Ja. Morgen. Mirar drängte ein wachsendes Gefühl der Furcht beiseite. Was würde er tun, wenn Leiard noch immer in seinem Geist war? Was konnte er tun?

Gute Nacht, sagte Emerahl schläfrig.

Gute Nacht, erwiderte er.

Ihre Traumvernetzung brach ab. Wieder allein, ließ Mirar sich in Träume und Erinnerungen gleiten. Sie waren nicht alle angenehm, aber die meisten von ihnen waren voller Wahrheiten, die er ein Jahrhundert lang vergessen hatte.



10

Emerahl stand früh auf und machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Während sie Wurzeln ausgrub und Früchte und Nüsse von den Bäumen pflückte, dachte sie über die Offenbarungen der vergangenen Nacht nach. Was Mirar getan hatte, war wahrhaft außergewöhnlich. Sie wollte wissen, wie er in seinem zerbrochenen Körper überlebt hatte, und sie wollte erfahren, wie er Leiard geschaffen und seine eigene Identität begraben hatte. War Leiard noch immer in seinem Geist? Konnte er vorübergehend wieder zu Leiard werden, wenn er wusste, dass die Götter ihn beobachteten?

Als sie zurückkehrte, saß er in meditativer Haltung da. Das war so untypisch für ihn, dass ihr flau wurde und sie sicher war, dass Leiard die Kontrolle übernommen hatte. Als sie ihren Eimer abstellte, öffnete er die Augen, und seine Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Lächeln.

»Was gibt es zum Frühstück?«

Das ist eindeutig Mirar, dachte sie erleichtert.

»Wurzelkekse. Früchte und Nüsse«, antwortete sie. »Schon wieder.«

Wenig beeindruckt schloss er die Augen wieder und vermittelte ihr das Gefühl, entlassen worden zu sein. Außerdem hatte er seinen Geist gut abgeschirmt. Sie konnte nicht einmal erraten, in welcher Stimmung er war.

Ihr Magen knurrte. Sie schälte die Wurzeln, hackte sie zu feinen Würfeln und kochte sie, bis sie weich waren. Dann goss sie sie ab, zerdrückte sie zu einem Brei und machte sich daran, sie zu kleinen runden Keksen zu formen.

»Gestern Nacht habe ich mich an viele Dinge erinnert«, sagte er. »Nachdem du eingeschlafen warst.«

Sie richtete sich auf, um ihn zu betrachten. Er öffnete die Augen. Er sah aus wie ein Fremder, das Gesicht starr von Gefühlen, die sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Einmal mehr fragte sie sich, ob sie mit Leiard sprach.

»An was zum Beispiel?«

Er senkte den Blick, aber in seinen Augen lag ein leerer Ausdruck. Er weilt bei seinen Erinnerungen, vermutete sie. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, sind es schlimme Erinnerungen.

»Verwirrung. Nachdem man mich in den Trümmern gefunden hatte, bin ich erwacht, als würde ich aus einem tiefen Schlaf auftauchen. Ich wusste nicht, wer ich war, und auch sonst wusste es niemand. Sie haben mich nicht erkannt und vermutet, ich sei einer der gewöhnlichen Traumweber, die beim Einsturz des Traumweberhauses verschüttet worden waren. Mein Körper war vollkommen entstellt. Ich konnte nicht gehen. Ich konnte mich nicht ernähren. Ich war so hässlich, dass man mich versteckte, damit ich Frauen und kleinen Kindern keine Angst machte.« Er sprach leise und ohne Zorn.

Sie schauderte, entsetzt darüber, dass ihr alter Freund so gelitten hatte. Entsetzt darüber, dass der große Mirar zu einem Krüppel ohne Gedächtnis gemacht worden war.

»Meine Heilung hat sehr lange gedauert«, fuhr er fort. »Meine Haare fielen aus, und als sie wieder nachwuchsen, waren sie weiß. Ich konnte sie nicht schneiden, und als ich wieder dazu in der Lage war, konnte ich mich nicht darauf besinnen, warum ich diesen Wunsch überhaupt haben sollte. Sobald meine Beine stark genug waren, um mich zu tragen, floh ich aus Jarime. Ich hatte Angst vor der Stadt, konnte mich aber nicht erinnern, warum. Also humpelte ich von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und entfernte mich immer weiter von Jarime. Bettelnd und stehlend, an einem Ort mit Barmherzigkeit behandelt, vom anderen weggejagt. Die Art, wie ich lebte, war jämmerlich, und so ging es Jahre und Jahre und Jahre.« Er seufzte. »Aber ich wurde immer stärker. Meine Narben heilten und verschwanden. Während einige Erinnerungen verblassten, kehrten andere zurück. Ich erinnerte mich daran, dass ich ein Traumweber war, aber es dauerte lange, bis ich es wagte, mir ein Wams zu machen oder meine Dienste anzubieten. Ich verweilte länger an jedem Ort, Jahre jetzt, statt bloßer Monate. Die längste Zeit, die ich an einem einzelnen Ort verbrachte, war ein gutes Jahrzehnt, und das war, nachdem…« Er hielt inne, dann verzog er das Gesicht. »Nachdem ich ein kleines Mädchen mit so viel Potenzial gefunden hatte, dass ich nicht anders konnte, als zu bleiben und es zu unterrichten.«

»Auraya«, bemerkte Emerahl.

Er nickte. »Sie hätte eine großartige Traumweberin abgegeben.«

Eine gelinde Überraschung stieg in Emerahl auf. »Meinst du wirklich?«

»Ja. Sie ist intelligent. Mitfühlend. Mit reichen Gaben gesegnet. All die richtigen Merkmale.«

»Bis auf eine gewisse Vorliebe für die Götter.«

Er lächelte kläglich. »Ja. Bis auf das. Einmal mehr durchkreuzten die Götter meine Pläne. Oder zumindest die von Leiard.« Er runzelte die Stirn. »Der Turm in dem Traum ist der Weiße Turm. Es gab ihn damals noch nicht, aber er wurde an der Stelle erbaut, an der das Traumweberhaus gestanden hatte. Ich denke, dass dieser Anblick der Grund dafür war, warum mein Gedächtnis zurückgekehrt ist.«

Emerahl beugte sich vor. »Also, ist Leiard noch da?« »Das weiß ich nicht.« Mirar blickte mit undeutbarer Miene zu ihr auf. »Ich schätze, es wird Zeit, es herauszufinden.«

Sie nickte. »Ich schätze, du hast recht.« Sie hielt inne und beobachtete ihn genau. »Soll ich ihn rufen?«

»Am besten, wir bringen es gleich hinter uns.«

Sie holte tief Luft. »Leiard. Sprich mit mir.«

Seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht war mit einem Mal verzerrt. Emerahl sah entsetzt und unwillig zu, wie alle Spuren Mirars verschwanden, um durch eine Maske schierer Angst ersetzt zu werden. Er öffnete den Mund, sog gierig die Luft in sich hinein, dann schlug er die Hände vors Gesicht, und ein gequälter Laut drang über seine Lippen – ein dünner Aufschrei des Schmerzes und der Furcht.

Leiard ist offensichtlich noch da, dachte sie trocken.

Er erhob sich. Sie stand hastig auf und trat näher heran.

»Leiard. Beruhige dich.«

Die Laute, die er von sich gab, erstarben. Er griff sich an den Kopf, als wolle er ihn zerdrücken.

»Eine Lüge«, stieß er hervor. »Eine Lüge – und sie weiß es nicht! Sie weiß nicht, dass das, was sie liebte, eine…« Er presste die Augen fest zu. »Ich bin nicht real.«

Plötzlich riss er die Augen wieder auf und starrte Emerahl an. Er machte zwei Schritte auf sie zu und packte sie an den Schultern. »Aber ich bin real! Wenn ich es nicht wäre, wie wäre es dann möglich, dass ich denken kann? Und fühlen? Wie kann ich nicht real sein?«

Emerahl erwiderte seinen Blick. Er wirkte halb wahnsinnig, halb verzweifelt. Ein Stich des Mitgefühls durchzuckte sie. »Er hat seine Sache zu gut gemacht, als er dich erschuf«, sagte sie.

Er stieß sie von sich. Sie taumelte rückwärts und schlug mit einer Ferse gegen das Bett. Es tat weh, und sie stieß ein unwillkürliches Keuchen aus. Leiard bemerkte es jedoch nicht.

»Warum hat er mir die Fähigkeit der Liebe gegeben?«, zürnte er. »Wie konnte er das überhaupt tun, wo er selbst doch unfähig ist zu lieben?« Er hielt inne, dann fuhr er herum, um sie anklagend anzustarren. »War es das, was er geplant hat? Eine andere Person zu erschaffen und dann zu töten? Ebenso gut hätte er ein Kind zeugen können, um es anschließend zu ermorden.«

Er hat nicht unrecht, dachte sie.

Dann schüttelte sie den Kopf. Leiard war keine reale Person. Er war nie geboren worden. Er war nicht in einer Familie aufgewachsen. Er hatte seine Persönlichkeit nicht im Laufe der Zeit entwickelt, sie war erschaffen worden. Es ergab durchaus einen Sinn, dass Mirar seiner Tarnung eine Identität gegeben hatte, denn anderenfalls hätte ihr der Trieb zur Selbsterhaltung gefehlt.

Plötzlich wandte er sich von ihr ab und ging mit langen Schritten auf den Höhleneingang zu. Ihr Herz hörte auf zu schlagen.

»Leiard!«, rief sie. »Du darfst den Schutz des Leeren…« Er ging weiter. »… Verflucht. Mirar! Komm zurück!«

Er blieb stehen. Sie beobachtete, wie er die Schultern straffte. Dann drehte er sich mit ernster Miene zu ihr um. Es war unmöglich zu sagen, ob ihr Ruf Erfolg gehabt hatte. Zu ihrer Erleichterung kehrte er in die Mitte des Raums zurück.

»Das war nicht angenehm«, murmelte er, als er sich auf das Fußende seines Bettes setzte.

»Mirar?«, fragte sie zaghaft.

»Ja, ich bin es«, bestätigte er. Er streckte sich auf dem Bett aus und runzelte die Stirn. »Also. Was wollen wir als Nächstes probieren, alte Hexe?«

Sie schnaubte, als sie diesen Namen hörte. Die alte Hexe. Herstellerin von Heilmitteln und Wunderkuren für Krankheiten oder schlimme Umstände.

»Zeit«, verordnete sie. »Ich muss nachdenken. Und du ebenfalls.« Sie stand auf. »Kann ich mich darauf verlassen, dass du bleiben wirst, wo du bist?«

»Du kannst dich auf mich verlassen«, antwortete er. »Ich werde ihm nicht noch einmal freiwillig die Zügel überlassen.«

»Gut«, erwiderte sie. »Denn ich kann nicht hierbleiben, um auf dich aufzupassen. Wir müssen essen und schlafen. Es wird ziemlich unerfreulich hier drin, wenn ich diese Eimer nicht leeren kann.«

Er blickte zu seinem eigenen Eimer und zuckte entschuldigend die Achseln. »Es ist mir grässlich, von einem unangenehmen Thema zum nächsten überzugehen, aber ich fürchte, ich habe meinen Eimer benutzt, während du draußen warst.«

Sie hob die Hände. Dann ging sie zu dem Eimer hinüber und nahm ihn vom Boden auf. »Ich kümmere mich jetzt gleich darum – und stelle bei der Gelegenheit fest, ob ich etwas Interessanteres zum Frühstück finden kann.«

»Danke«, erwiderte er und fügte dann ein wenig verlegen hinzu: »Wir brauchen auch frisches Wasser.«

Sie seufzte, griff nach dem Wassereimer und verließ die Höhle. Ihre Schritte hallten im Tunnel wider, aber das Geräusch wurde schon bald vom Tosen des Wasserfalls überlagert. Am Ende des Tunnels angekommen, blieb sie stehen, um das herabfallende Wasser zu betrachten.

Ebenso gut hätte er ein Kind zeugen können, um es anschließend zu ermorden.

Leiards Reaktion hatte sie erschüttert, und bei seinen Worten waren ihr kalte Schauer über den Rücken gelaufen. Ihm war offensichtlich klar, welches sein Schicksal sein würde – und es gefiel ihm nicht. Er würde für seine Existenz kämpfen.

Das ist nicht gut, dachte sie. Es kann nicht gesund sein, wenn im selben Körper zwei Menschen um die Vorherrschaft kämpfen.

Ganz gleich, wie grausam es schien, Leiard war eine Erfindung. Mirar war die reale Person. Sie konnten nicht beide weiterexistieren.

Sie seufzte und trat aus der Höhle. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Sonne war aus den Wolken aufgetaucht und spiegelte sich überall in den Wassertropfen wider. Sie hielt inne, um die Wirkung zu bewundern. Es war hübsch. Sogar romantisch. Sie dachte an Leiards Bemerkungen über Auraya. Es war interessant, dass eine Erfindung Mirars zu romantischer Liebe fähig war. Gewiss bedeutete das, dass auch er dazu fähig war.

Wenn ihre Vermutung der Wahrheit entsprach, dann konnte Mirar ebenfalls all das sein, was Leiard war. Mirar mochte diese Seite seines Wesens vielleicht nicht, aber Leiard war der Beweis dafür, dass es sie gab.

Dies ist kein Kampf zwischen Leiard und Mirar, dachte sie plötzlich. Es ist Mirar, der gegen die Teile seines Selbst kämpft, die ihm nicht gefallen oder die er nicht akzeptieren kann.

In diesem Fall, überlegte sie weiter, muss er

Ein flüchtiges Gefühl von einem unvertrauten Geist berührte ihre Sinne. Sie erstarrte, dann zwang sie sich, sich zu entspannen und ihre Umgebung abzusuchen. Irgendwo zu ihrer Linken beobachtete sie ein Mann. Aus seiner Sorge und seiner Furcht schloss sie, dass ihre Anwesenheit hier in Si ihn erschreckte. War er allein?

Mit hämmerndem Herzen setzte sie ihre Suche fort und fand einen weiteren Geist. Nein, drei. Vier!

So viel zu meinem genialen Versteck, ging es ihr durch den Kopf. Wenn man uns so leicht entdecken kann… Aber wer sonst würde sich so weit nach Si hineinwagen?

Die Siyee natürlich.

Ihre Furcht ebbte ein wenig ab. Es bestand immer die Möglichkeit, dass die Götter sie durch die Siyee beobachteten, aber das Risiko war eher gering. Sie spürte Neugier ebenso wie Vorsicht und vermutete, dass es auch für ihre Beobachter eine Überraschung gewesen war, sie hier vorzufinden.

Sie hatten jedoch größere Angst, als sie erwartet hätte. Warum sie eine einzelne Landgeherin fürchteten, konnte sie nicht sagen. Vielleicht machten sie sich Sorgen, dass sie nicht allein war.

Nun, ich sollte besser versuchen, mich mit ihnen bekanntzumachen. Wenn ich es nicht tue, werden sie wahrscheinlich mit anderen zurückkommen, aber wenn ich sie davon überzeugen kann, dass ich harmlos bin und nicht die Absicht habe, lange zu bleiben, werden sie mich vielleicht in Ruhe lassen.

Sie stellte den Eimer ab und ging langsam am Wasser entlang, wobei sie so tat, als suche sie nach Nahrung. Als sie den Siyee nahe genug war, um sich über das Rauschen des Wasserfalls bemerkbar zu machen, richtete sie sich auf und blickte direkt in die Richtung der vier Fremden.

»Seid mir gegrüßt, Männer und Frauen des Himmels!«, rief sie und hoffte, dass die Sprache der Siyee sich nicht allzu sehr verändert hatte.

Es folgte eine lange, nervöse Pause, während einer ihrer Beobachter – ein Mann – darüber nachdachte, was zu tun sei. Als sie spürte, dass er eine Entscheidung traf, wandte sie sich um und bemerkte eine Bewegung in den Bäumen.

Ein grauhaariger Siyee trat vor. Er blieb stehen und stieß eine Abfolge von Lauten und Pfiffen aus. Emerahl verstand genug, um zu wissen, dass er sich ihr vorstellte.

»Sei mir gegrüßt, Veece, Sprecher des Stammes vom Nordfluss«, erwiderte sie. »Ich bin Jade Tänzer.«

»Sei mir gegrüßt, Jade Tänzer. Warum bist du hier in Si?«

Sie erwog ihre Antwort mit großer Sorgfalt. »Als ich hörte, dass es Krieg geben würde, bin ich hierhergekommen, um sein Ende abzuwarten.«

»Dann habe ich gute Neuigkeiten für dich«, erwiderte er. »Der Krieg war kurz. Er hat vor fast zwei Mondzyklen ein Ende gefunden.«

Sie tat so, als sei sie überglücklich, das zu hören. »Das sind tatsächlich gute Neuigkeiten!« Dann fügte sie hastig hinzu: »Nicht dass es mir in Si nicht gefiele, aber das Leben hier ist für eine Landgeherin ein wenig… äh… hart.«

Er kam ein Stück näher, und sie spürte einen Rest von Argwohn bei ihm. »Der Wald ist gefährlich, und die Reise hierher ist für jene ohne Flügel schwierig. Wie hast du hier gelebt? Wie kommt es, dass du unsere Sprache sprichst?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe viele Jahre am Rand eurer Länder gelebt«, antwortete sie. »Ich verfüge über Wissen und Gaben – und ich habe einmal einem verletzten Siyee geholfen, der mich eure Sprache gelehrt hat. Wenn ich bei meinen eigenen Leuten bin, arbeite ich als Heilerin.«

»Du bist keine Priesterin?«

»Ich?«, fragte sie überrascht. »Nein.«

»Ich dachte, alle mit Gaben gesegneten Landgeher würden Priester oder Priesterinnen werden.«

»Nein. Einige von uns wollen das nicht.«

Er kniff die Augen zusammen. »Warum nicht?«

Dieser Bursche ist aber neugierig, dachte sie. »Ich möchte anderen nicht sagen, was sie tun sollen, und ich möchte ebenso wenig, dass man mir Befehle erteilt.«

Zum ersten Mal lächelte er. »Verzeih mir meine Fragen. Es gibt zwei Gründe für sie. Wir haben befürchtet, du könntest eine pentadrianische Zauberin sein – eine Frau, die unser Volk schon einmal angegriffen hat. Außerdem werden wir bald unsere eigenen Priester und Priesterinnen bekommen, daher war ich neugierig zu erfahren, warum jemand dieses Amt zurückweisen sollte.«

Die Siyee sollen ihre eigenen Priester und Priesterinnen bekommen? Diese Nachricht bekümmerte sie. Das Volk von Si war über so lange Zeit frei gewesen vom Einfluss der Zirkler. Aber wahrscheinlich brauchen sie Schutz, jetzt, da dem Kontinent Gefahr durch die Pentadrianer droht.

Sie betrachtete den alten Mann. Er verströmte keine Furcht mehr, obwohl sich in seine Neugier noch immer Vorsicht mischte. Sie war sich sicher, dass er und seine Gefährten ihr nichts Böses wollten. Sie glaubten, sie sei allein, und dabei sollte es auch bleiben. Sie würde keine Risiken eingehen, indem sie ihnen Mirar vorstellte. Nein, es war das Beste, diese Leute davon zu überzeugen, dass sie allein und harmlos war.

Sie ging in die Hocke und wusch sich in dem kalten, schnell fließenden Wasser die Hände.

»Ein Stück weiter den Fluss hinunter steht ein Korbfruchtbaum«, sagte sie. »Wollt ihr bleiben und mit mir essen? Ich habe schon lange keine Gesellschaft mehr gehabt.«

Er sah seine Gefährten an, dann nickte er. »Ja, wir nehmen dein Angebot an. Allerdings können wir nicht lange bleiben, da sich unsere Rückkehr zu unserem Stamm bereits verzögert hat, aber wir haben noch genug Zeit, um zu reden und zu essen.«

Er stieß einen lauten Pfiff aus, und die drei anderen Siyee traten zwischen den anderen Bäumen hervor: eine Frau in mittleren Jahren und zwei junge Leute. Während sie näher kamen, musterten sie Emerahl ängstlich. Veece machte sie miteinander bekannt. Sie lächelte ihnen zu, dann erhob sie sich und winkte sie heran.

»Folgt mir. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann immer besser reden, wenn ich keinen Hunger habe.«

Mit diesen Worten führte sie sie fort vom Fluss und weg von Mirar. Der Himmel war eine aufgewühlte Decke tiefhängender schwarzer Wolken. Blitze blendeten sie. Es war kein Donner zu hören, nur Stille.

In der Nacht nach der Schlacht gab es kein Gewitter, dachte Auraya, während sie über die Leiber hinwegstieg. Nun, es gab damals auch keine sprechenden Leichname.

Sie bemühte sich, die Gesichter der Toten nicht anzuschauen, da sie die Erfahrung gemacht hatte, dass sie sie damit wachrief. Allerdings war es schwierig, sich auf dem Schlachtfeld zu bewegen, ohne zu Boden zu sehen. Die Dunkelheit zwischen den Blitzen war absolut. Dann kam der Moment, da sie über einen Leichnam stolperte und unwillkürlich hinabblickte.

Blutunterlaufene Augen starrten sie an. Lippen bewegten sich.

»Du hast mich getötet«, keuchte der Tote.

An dieser Stelle bin ich sonst immer aufgewacht, dachte sie. Aber damit ist es jetzt wohl vorbei.

»Du hast mich getötet«, erklang eine andere Stimme. Eine Frau. Eine Priesterin. Dann wurde wieder eine andere Stimme laut und noch eine. Überall um sie herum begannen die Leiber sich zu bewegen. Wenn sie konnten, erhoben sie sich. Schleppten sich auf allen vieren weiter, wenn sie es nicht konnten. Sie kamen auf sie zu. Brachten mit monotonem Singsang ihre Anklage vor, immer lauter und lauter.

»Du hast mich getötet! Du hast mich getötet! Du hast mich getötet!«

Sie rannte los, aber es gab kein Entkommen. Die Leichname umringten sie. Auch an dieser Stelle bin ich sonst immer aufgewacht. Sie griffen nach ihr. Zogen sie hinab in ein Meer eitriger, verwesender Leichen. Gesichter drückten sich an ihres, spien aus und sabberten Blut. Sie spürte, wie sie ihre knochigen Finger in ihren Oberkörper gruben, bis ihr das Atmen schwerfiel. Und die ganze Zeit über sprachen sie immer wieder die gleichen Worte.

»Owaya! Owaya!«

Was…?

Plötzlich war sie hellwach und blickte in ein Paar großer, von feinen Wimpern gesäumter Augen. Augen, die einem Veez gehörten.

»Owaya«, wiederholte Unfug laut, diesmal mit einem unverkennbaren Tonfall der Befriedigung. Er saß auf ihrer Brust und verlagerte das Gewicht von einer Pfote auf die andere.

»Unfug!«, stieß sie hervor. Als sie sich aufrichtete, sprang das Tier von ihrem Bett. Sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus, bevor sie sich zu dem Veez umdrehte.

»Ich danke dir«, murmelte sie.

»Kraulen?«, schlug er vor.

Sie tat ihm den Gefallen und genoss das Gefühl seines weichen Fells unter ihren Händen. Während er leise Laute des Wohlbehagens von sich gab, dachte sie über ihre Alpträume nach. Sie wurden schlimmer statt besser. Was das bedeutete, konnte sie nicht sagen.

Vielleicht sollte ich einen Traumweber zurate ziehen.

Sie dachte an die Traumweber, die sie bei der Arbeit im Hospital unterstützen würden. Würden sie sich bereitfinden, ihr zu helfen, oder wäre das zu viel verlangt? Natürlich würden sie mir helfen. Sie sind dazu verpflichtet, jedem beizustehen, der sie darum bittet.

Wie würde es sein, sich von ihnen behandeln zu lassen? Was gehörte zu einer Traumheilung? Irgendeine Art von Gedankenvernetzung …

Oh.

Sie konnte eine Gedankenvernetzung nicht riskieren. Mit wem sie sich auch vernetzen mochte, der Betreffende könnte ihre wahren Pläne für die Traumweber entdecken.

Ich kann nichts tun. Diese Alpträume werden mich wohl für immer verfolgen. Sie legte sich wieder hin und fluchte leise. Geschieht mir recht, dachte sie. Wie konnte ich es auch nur in Erwägung ziehen, die Traumweber um Hilfe zu bitten, während ich gleichzeitig auf ihren Niedergang hinarbeite?

Unfug stieß einen leisen Klagelaut aus, vielleicht weil er ihre Stimmung spürte. Er rückte näher an sie heran, dann spürte sie seinen Körper an ihrer Hüfte, als er sich neben ihr zusammenrollte. Seine Atmung verlangsamte sich. Sie lauschte eine Weile und kämpfte gegen den Schlaf an.

Dann fand sie sich plötzlich unter einem vertrauten schwarzen Himmel wieder …

11

Die Parade war trotz der Hitze der Morgensonne voller Menschen. Ihre Jubelrufe waren ansteckend. Reivan gesellte sich zu den Gefährten der anderen Stimmen, wobei ihr Herz ein wenig zu schnell schlug.

Wenn ich eine Gefährtin bin, wird es für mich etwas ganz Gewöhnliches sein, mich in solchen Menschenmengen aufzuhalten, ging es ihr durch den Kopf. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis solche Erlebnisse ihre berauschende Wirkung verlieren. Die Stimmen gingen die Haupttreppe des Sanktuariums hinunter. Am Fuß der Treppe warteten neben den Sänften vier Gruppen von jeweils vier muskulösen Sklaven, bewacht von vier Sklavenmeistern. Die Stimmen trennten sich und stiegen jeder in eine der Sänften. Als sie sich auf den Sitzen niedergelassen hatten, setzten die Sklaven sich die Sänften auf die Schultern und machten sich auf den Weg die Hauptdurchgangsstraße hinunter.

Die Gefährten nahmen hinter den Sänften Aufstellung. Niemand sprach. Reivan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie feststellte, dass zum ersten Mal seit einer Woche niemand ihre Aufmerksamkeit verlangte. Endlich hatte sie die Möglichkeit nachzudenken.

Reivans Tage waren lang und hektisch geworden. Imenja wollte sie fast jeden Tag für einige Stunden an ihrer Seite haben. Manchmal musste Reivan lediglich eine Zusammenkunft oder eine Debatte verfolgen, dann wieder sah sie zu, während Imenja Arbeiten verrichtete, die Reivan übernehmen würde, sobald man ihr das Amt einer Gefährtin übertrug. Pflichten wie die Zusammenstellung von Imenjas Zeitplan, die Entgegennahme oder das Verschicken von Geschenken oder Spenden, die Ablehnung von Bestechungsgeldern und der Empfang von Berichten über die Aufgaben, die anderen Götterdienern übertragen worden waren.

Unterdessen wurde ihre Ausbildung fortgesetzt. Imenja verlangte all die Zeit, die Reivan normalerweise für die Arbeit an ihren magischen Fähigkeiten aufgewandt hätte, falls sie welche besessen hätte. In der geringen Zeit, die Reivan verblieb, studierte sie das Gesetz, die Geschichte und die Götter. Glücklicherweise erwiesen sich jetzt ihre frühen Jahre, als sie im Kloster sämtliche Bücher verschlungen hatte, als Vorteil, und selbst Drevva musste zugeben, dass Reivan mehr wusste als der durchschnittliche Dienernovize.

Reivan blieb bis spät in die Nacht auf und stand frühmorgens wieder auf. Die Liste der Pflichten, die sie als Gefährtin haben würde, war jetzt so lang, dass ihr ein wenig unbehaglich wurde.

»Wie soll ich das alles schaffen?«, hatte sie Imenja gefragt. Imenja hatte gelächelt. »Du musst Arbeiten an andere weitergeben.«

»Aber woher soll ich wissen, wem ich vertrauen kann?«

»Ich werde es dir sagen, wenn jemand nicht vertrauenswürdig ist, und wenn ich es nicht tue, wirst du es bald selbst herausfinden. Ich werde dir niemals die Schuld für die Fehler anderer geben.«

»Und wenn es sich um eine Aufgabe handelt, die niemand übernehmen will?«

Imenja hatte gelacht. »Ich denke, du wirst jede Menge Götterdiener finden, die darauf brennen, dir zu helfen. Genau wie du sind sie hier, um den Göttern zu dienen.«

»Willst du damit sagen, dass ich die Menschen mit Arbeit belohnen kann?«

»Ja. Solange du verhinderst, dass sie es ebenfalls so sehen. Indem du ihnen eine Aufgabe zuweist, die man nur wenigen Menschen anvertrauen kann, erweist du ihnen den Vorzug anderen gegenüber.«

Es gab viele Riten und Zeremonien, bei denen ein Gefährte anwesend sein musste, obwohl er selbst keine Rolle in dem Ritus spielte. Reivan vermutete, dass die anderen Gefährten an dergleichen Dingen teilnahmen, um zur Stelle zu sein, falls sie gebraucht wurden. Was wahrscheinlich der Grund war, warum niemand dagegen protestierte, wenn Imenja sie mitnahm.

Heute würde sie dem Ritus der Sonne beiwohnen. Sie hatte der Fruchtbarkeitszeremonie noch nie zuvor beigewohnt oder gar daran teilgenommen, da dieser Ritus verheirateten Paaren vorbehalten war. Reichen verheirateten Paaren. Einzig die Teilnehmer und einige Götterdiener waren während der ganzen Zeremonie zugegen, und die Stimmen vollzogen den Beginn des Ritus.

Der Ritus war ein Quell großer Neugier für junge Pentadrianer – und für alle Fremdländer -, denn nur wenige Menschen sprachen jemals darüber. Die mit dieser Aufgabe betrauten Götterdiener mussten schwören, Stillschweigen über das Tun der Teilnehmer zu bewahren, und die Teilnehmer waren selten bereit, ihre Erfahrungen zu beschreiben. Das Volk der Avvenaner erachtete es als ungehobelt und unhöflich, über die intimen Bereiche der Ehe zu reden.

Dieses Widerstreben der Pentadrianer, von dem Ritus zu sprechen, verleitete Fremdländer im Allgemeinen zu wilden Spekulationen. Reivan war während der Zeit, da sie die Minen Nordithanias kartografiert hatte, vielen Sennonern begegnet, die glaubten, ihr Volk schwelge in rituellen Orgien. Sie hatte in solchen Fällen erklärt, dass einzig verheiratete Paare an den Zeremonien teilnahmen, aber dieser Umstand hatte die Fremden keineswegs davon überzeugt, dass an dem Ritus nichts Obszönes war.

Sobald Sex ins Spiel kommt, überlegte sie, denken die Menschen, das Geschehen müsse irgendwie verkommen sein. Die Sennoner sind noch prüder als die Pentadrianer. Ich wüsste zu gern, ob die Zirkler genauso sind.

Die gewölbte Mauer des Tempels von Hrun erschien vor ihr. Reivan betrachtete sehnsüchtig die fernen Schatten des Bogengangs, durch den man in den Tempel gelangte. Es wurde immer heißer, und sie erfuhr am eigenen Leib, wie unbequem ihre schwarzen Roben im vollen Schein der Sonne sein konnten.

Neidvoll blickte sie auf die Sklaven, die vor ihr hergingen, mit nichts anderem bekleidet als kurzen Hosen. Auf ihrer gebräunten Haut glänzten Schweißtröpfchen. Ein Gerücht, das sie vor kurzem gehört hatte, fiel ihr wieder ein. Einer der befreiten Sklaven der Armee hatte eine Götterdienerin geheiratet. Reivan fragte sich, für welches Verbrechen der Mann mit einem Leben in Sklaverei bestraft worden sein mochte. Die Götterdienerin hätte ihn gewiss nicht geheiratet, wenn er ein Vergewaltiger oder Mörder gewesen wäre.

Hatten sich die Männer vor ihr solch böser Taten schuldig gemacht? Sie beäugte sie zweifelnd. Man erachtete es gemeinhin als besser, Verbrecher zu Sklaven des Sanktuariums zu machen, statt sie in Gefängnissen einzusperren. Alle Götterdiener besaßen Talente und waren daher in der Lage, sich zu verteidigen, sollte ein Sklave Ärger machen.

Alle, bis auf mich, dachte sie. Ich hoffe, die anderen Götterdiener werden sich daran erinnern – oder noch besser wäre es, wenn meine Freunde es täten, während meine Feinde es vergessen würden.

Imenjas Sänfte erreichte jetzt den Eingang zum Tempel und verschwand auf der anderen Seite. Die Augenblicke, bis Reivan dem glutheißen Sonnenlicht entfliehen konnte, kamen ihr endlos vor. Doch zu guter Letzt gelangte auch sie in den Schatten des Gebäudes und ging durch einen breiten, überwölbten Flur. Eine herrliche Brise schenkte ihr Abkühlung. Sie sah sich um und sog voller Staunen den Atem ein.

Wo der Gang endete, enthüllten zwei Türen einen weiten Kreis üppigen Grüns. In der Mitte glitzerte ein Teich, und der Rand der Wiese war von niedrigen Gartenbeeten gesäumt. Dieser Innengarten war nicht überdacht, und Springbrunnen hielten die Luft feucht. Es war wie eine Oase inmitten der Wüste.

Als sie das Ende des Flurs erreichte hatte, folgte sie den Sklaven einen Fußweg entlang, der im Schatten eines Bogengangs um den Garten herumführte. Die innere Mauer des Tempels wurde in regelmäßigen Abständen von offen stehenden Türen unterbrochen. Reivan schätzte, dass es insgesamt mehr als fünfzig dieser Türen gab.

Die Sklaven trugen die vier Sänften zur gegenüberliegenden Seite des Gartens, wo sie sie vor einem erhöhten Podest zu Boden sinken ließen. Ein Ergebener Götterdiener trat vor, um die Stimmen willkommen zu heißen.

Als Reivan den Mann erkannte, stieg prickelnde Freude in ihr auf. Es war Nekaun, der Ergebene, der sie willkommen geheißen hatte, nachdem sie Dienernovizin geworden war. Erst gestern hatte sie erfahren, dass er zu den Ergebenen zählte, die, nachdem man ihre magische Stärke geprüft hatte, noch für die Position der Ersten Stimme zur Verfügung standen. Sie sah zu, wie er die vier Stimmen begrüßte und sie einlud, Platz zu nehmen. Einige Götterdiener brachten vier Bänke für die Stimmen herbei. Als die anderen Gefährten sich auf den Rand des Podests setzten, folgte Reivan ihrem Beispiel.

»Lasst den Ritus der Sonne beginnen«, sagte Imenja.

Nekaun neigte den Kopf, dann wandte er sich dem Garten zu. Er klatschte in die Hände, und aus einem Nebeneingang kamen Götterdiener herbei, die gleichzeitig zu singen begannen. Die Melodie war ebenso feierlich wie freudig, und Reivan konnte einige Sätze verstehen, bei denen es um Liebe und Kinder ging. Sie vermutete, dass dies die Dienerführer waren, die den an dem Ritus teilnehmenden Paaren aufwarten würden.

Als Nächstes kamen die Paare. Sie alle trugen die gleichen schlichten weißen Gewänder, die der Tempel zur Verfügung stellte, und ihre Füße waren nackt. Sie traten auf den Rasen und warteten dort. Einige wirkten nervös. Es gab beträchtliche Altersunterschiede. Manche der Menschen hatten gerade erst das Erwachsenenalter erreicht, andere waren in mittleren Jahren. Reivan bemerkte einige seltsame Paare, bei denen offenkundig war, dass die Ehe um des Geldes oder um einer Position willen geschlossen worden war. Ältere Männer mit jüngeren Frauen, hässliche Menschen mit attraktiven. Unter ihnen fand sich sogar eine ältere Frau mit einem jungen Mann – obwohl beide recht zufrieden mit der Situation wirkten.

Ich beneide die Dienerführer nicht um ihre Pflichten, dachte Reivan.

Das Lied endete. Nekaun trat auf den Rasen.

»Der Ritus der Sonne ist ein sehr alter«, erklärte er den Teilnehmern, »ins Leben gerufen von Hrun vor vielen tausend Jahren. Sein Ziel ist es, die Künste der Wonne und die Fähigkeiten eines harmonischen Miteinanders zu lehren und bei der Erschaffung von neuem Leben zu helfen. Heute findet der Ritus in Tempeln überall in Südithania statt und selbst in einigen Teilen Nordithanias, in denen unser Volk noch immer willkommen ist. Ihr werdet einen Monat lang bei uns bleiben. Ihr werdet essen, damit das Feuer in der Frau geschürt wird, und trinken, damit sich der Quell im Manne mit dem Wasser neuen Lebens füllt.«

Reivan ertappte sich dabei, dass sie die Stirn runzelte, und glättete hastig ihre Züge. Einige der großen Denker des vergangenen Jahrhunderts hatten erklärt, dass der alte traditionelle Glaube, nach dem der Mann die Quelle neuen Lebens und die Frau buchstäblich ein Ofen war, um diese zu wärmen – je heißer, desto besser -, Unsinn sei. Man hatte die Körper von toten Frauen seziert und dabei keine Hinweise auf Feuer gefunden. Keine Flamme, keine Asche, kein versengtes Fleisch. Feuer brauchte Brennstoff und Luft. Nichts deutete darauf hin, dass sich das eine oder das andere im Körper einer Frau befand.

Durch Untersuchungen der inneren Organe sowohl fruchtbarer wie auch unfruchtbarer Männer und Frauen war man zu dem Schluss gekommen, dass im Körper der Frau Samen wuchsen und dass der Mann lediglich die Nährstoffe dafür lieferte. Diese Idee erfreute sich keiner großen Beliebtheit, und nur einige wenige Denker akzeptierten sie – nicht einmal, wenn das bedeutete, dass das Kind umso stärker und robuster wurde, je mehr Nährstoffe ein Mann liefern konnte.

Nekaun richtete noch immer das Wort an die Menge und sprach von Entdeckungen und vom Lernen, von Herausforderungen und Belohnungen. Ihre Aufmerksamkeit ließ nach.

Von mir als Götterdienerin wird man erwarten, dass ich die Vorstellung von Flamme und Wasser unterstütze, obwohl ich aufgrund von Büchern und Vorträgen jener, die Experimente und Sektionen durchgeführt haben, eher zu der Theorie von dem Samen und den Nährstoffen neige. Aber… die Götter würden doch gewiss nicht zulassen, dass ihre Diener falsche Lehren verbreiten?

Nekaun war inzwischen zum Ende gekommen. Er klatschte abermals in die Hände, und aus einem Nebeneingang ergoss sich ein Strom von Domestiken, die entweder Krüge oder Tabletts mit kleinen Keramikkelchen trugen. Zwei von ihnen traten vor das Podest und schenkten den Stimmen, den Gefährten, Reivan und schließlich auch Nekaun ein Getränk ein. Die Übrigen boten den Götterdienern, die im Garten verteilt saßen, Erfrischungen an.

Jeder der Götterdiener nahm drei Kelche, füllte sie und ging damit über den Rasen, um sich ein Paar auszuwählen. Reivan bemerkte, dass die älteren Götterdiener dazu neigten, sich die Paare auszusuchen, von denen einer ebenfalls älter war. Als sich alle Anwesenden zu Dreiergruppen zusammengefunden hatten, hob Nekaun seinen Kelch.

»Lasst uns auf Hrun trinken, Schenker des Lebens.«

»Auf Hrun«, riefen alle.

Als Nekaun den Kelch an die Lippen führte, taten die Stimmen, die Gefährten und die Teilnehmer der Zeremonie dasselbe. Bei dem Getränk handelte es sich um ein überraschend starkes alkoholisches Gebräu, das die Aromen von Früchten, Nüssen und Gewürzen in sich trug.

»Lasst uns auf Sheyr trinken, den König der Götter.«

»Auf Sheyr.«

Dies war nicht das einzige Ritual, bei dem der Erste der Götter nach einem geringeren Gott erwähnt wurde. In den vielen Riten der Dienerkrieger wurde Alor stets als Erster genannt. In diesem Fall kam er an dritter Stelle.

»Lasst uns auf Alor trinken, den Krieger«, rief Nekaun.

»Auf Alor.«

Die ersten drei Schlucke hatten Reivans Magen gewärmt. Das Getränk war köstlich. Ein Jammer, dass der Kelch so klein ist.

»Lasst uns auf Ranah trinken, die Göttin des Mondes.«

»Auf Ranah.«

Jetzt spürte sie, wie der Alkohol langsam seine Wirkung tat. Mit einem Anflug von Entsetzen betrachtete sie den letzten Rest in ihrem Kelch.

»Lasst uns auf Sraal trinken, den Seelenhändler.«

»Auf Sraal.«

Reivan nahm den letzten Schluck und betrachtete wehmütig ihren leeren Kelch. Sie fragte sich, wie dieses Getränk genannt wurde und ob es allein im Tempel Hruns zu bekommen oder auch anderswo zu kaufen war.

»Das ist kein Teil des Ritus«, murmelte Vervel.

Reivan blickte auf und sah, dass Nekaun jetzt zwischen den Paaren umherging und sie persönlich willkommen hieß.

»Nein«, pflichtete Imenja ihm bei. »Die Ersten Diener des Tempels von Hrun hatten schon immer das Recht, die Zeremonie nach ihrem Gutdünken auszuschmücken.«

»Mir gefällt, was er tut«, bemerkte Genza, die Nekaun nicht aus den Augen ließ. »Es beruhigt sie.« Dann wandte sie sich zu Imenja um. »Was hältst du davon?«

Imenja lächelte schief. »Wovon? Dass man ihn zur Ersten Stimme macht? Ich denke, er würde in diese Rolle hineinwachsen.«

Shar lachte leise. »Ziemlich schnell, könnte ich mir vorstellen.«

»Er ist sehr beliebt«, sagte Genza und wandte sich ab, um abermals Nekaun zu beobachten.

»Bei den Götterdienern. Aber was ist mit dem Volk?«, fragte Vervel.

»Sie haben keinen Grund, ihn nicht zu mögen«, erwiderte Shar. »Es ist schwer, jemanden vor den Kopf zu stoßen, wenn man der Erste Diener des Tempels von Hrun ist.«

»Eine Rolle, die er aufs Beste ausgefüllt hat«, ergänzte Imenja und musterte Nekaun mit schmalen Augen. »Er ist einer meiner Lieblingskandidaten. Die anderen mögen erfahrener sein, aber sie sind weniger…«

Sie beendete ihren Satz nicht. Nekaun kehrte zu seinem Platz am Rand des Gartens zurück und richtete von neuem das Wort an die Paare. Reivan hörte nicht, was er sagte, sondern fing ein geflüstertes Wort hinter ihr auf.

»… charmant?«

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Genza Imenja mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen musterte.

Imenja prustete leise. »Charismatisch.«

Dann richteten beide Frauen ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nekaun, der gerade etwas über beginnende Lektionen sagte. Die Götterdiener begannen von neuem zu singen, während sie ihre jeweiligen Paare aus dem Garten führten. Sie steuerten eine der geöffneten Türen der inneren Mauer an, und als sie dahinter verschwunden waren, endete auch das Lied. Plötzlich war der Garten still und verlassen.

Imenja erhob sich, und die anderen Stimmen folgten ihrem Beispiel. Als Reivan ebenfalls aufstand, war ihr ein wenig schwindlig. Ein Domestik kam herbei, um ihnen die leeren Kelche abzunehmen. Nekaun gesellte sich mit einem Lächeln offenkundiger Befriedigung zu ihnen.

»Es war eine wunderschöne Zeremonie, Ergebener Nekaun«, sagte Imenja.

Er neigte den Kopf. »Vielen Dank, Zweite Stimme. Und ich möchte auch euch anderen dafür danken, dass ihr teilgenommen habt.«

Imenjas Miene wurde ernst. »Das haben wir immer getan. In diesem Jahr ist es umso wichtiger, sich an der Erschaffung neuen Lebens zu erfreuen, da wir gleichzeitig um unsere Toten trauern müssen. Das gibt uns Hoffnung.«

Nekaun nickte. »Das tut es allerdings. Werdet ihr jetzt ins Sanktuarium zurückkehren, oder wollt ihr noch zum Festmahl bleiben?«

»Wir werden jetzt zurückkehren«, antwortete sie. »Wie immer haben wir viel zu tun.«

»Dann erlaubt mir, euch zum Tor zu begleiten.«

Reivan beobachtete ihn genau. Sie versuchte, sich den freundlichen, entgegenkommenden Ergebenen Diener als einen Mann vorzustellen, der so stolz und mächtig war wie Kuar, und begriff, dass sie das nicht konnte.

Eines steht fest, überlegte sie. Wenn er Erste Stimme wird, wird er ganz anders sein als sein Vorgänger. Ob das besser oder schlechter ist, vermag ich nicht zu beurteilen.


Als der Plattan in die Straße einbog, bemerkte Auraya zu ihrer Erleichterung, dass sich vor dem Hospital keine Menschenmenge angesammelt hatte. Vier Wachen standen an der Tür, aufmerksam und darauf vorbereitet, die Soldaten im Innern zu Hilfe zu rufen, falls es Probleme geben sollte, mit denen sie allein nicht fertig wurden.

Sie hatten zusätzliche Wachen eingestellt, nachdem Straßenräuber vor einigen Tagen zwei Wachen in der Nacht überwältigt hatten, so dass eine Bande in das Hospital hatte einbrechen können. Die Eindringlinge hatten einige der Möbel zerschlagen und Vorräte gestohlen, aber sie hatten nichts zerstört oder mitgenommen, das unersetzbar gewesen wäre. Niemand hatte die Plünderer gesehen, aber man hatte die Räuber gefunden, die den Auftrag gehabt hatten, die Wachen anzugreifen. Sie behaupteten, ihre Auftraggeber seien reiche junge Männer aus dem besseren Viertel der Stadt gewesen.

Ein Arbeiter war damit beschäftigt, die Farbe an den Wänden aufzufrischen, und seine Bewegungen wirkten seltsam hastig. Auraya las in seinen Gedanken, dass irgendjemand die Wachen in der vergangenen Nacht abgelenkt und einige verächtliche Worte über die Traumweber an die Wand gemalt hatte. Sie unterdrückte ein Seufzen.

Der Widerstand gegen das Hospital war unvermeidlich. Die Menschen gaben ihre Vorurteile nur selten über Nacht auf, selbst wenn es den Anschein hatte, als wollten die Götter, dass sie das taten. Wenn eine Entscheidung der Götter ihnen nicht gefiel, kamen sie zu dem Schluss, es müsse sich dabei um eine törichte menschliche Fehldeutung des göttlichen Willens handeln.

Und sie könnten recht damit haben, ging es ihr durch den Kopf. Meine Befehle kamen von Juran, nicht direkt von einem der Götter. Doch selbst wenn die Idee zu einem Hospital einzig auf Juran zurückzuführen war, hätten die Götter ihrem Tun ein Ende bereitet, wenn sie nicht damit einverstanden gewesen wären.

Der Maler blickte auf. Als er Auraya sah, weiteten sich seine Augen, und er strich noch einige Male mit dem Pinsel über die Fassade des Hospitals, dann eilte er hinein. Als der Plattan vor der Tür anhielt, nahmen die Wachen Habtachtstellung ein und schlugen das Zeichen des Kreises.

Auraya griff nach dem Päckchen, das neben ihr auf dem Sitz lag, und stieg auf den Gehweg hinab. Sie schritt zur Tür des Hospitals und drückte sie mit Magie auf. Als sie in die Halle trat, wandten sich mehrere Menschen zu ihr um. Sie spürte die Erleichterung der Priester und Priesterinnen, dass sie erschienen war, und sie wusste, dass sie sie in angespanntem Schweigen erwartet hatten. Der Grund für ihr Unbehagen waren fünf Traumweber, die gelassen hinter Raeli standen. Obwohl diese Männer und Frauen entspannt wirkten, nahm Auraya doch eine Mischung aus Neugier und Furcht bei ihnen wahr.

Sie begrüßte sie alle mit einem Lächeln, und wie immer überraschte es sie ein wenig, dass eine so simple Geste die Spannung in einem Raum lindern konnte.

»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, begann sie und sah allen Anwesenden der Reihe nach in die Augen. »Was wir heute beginnen wollen, ist eine vornehme Aufgabe, wenn auch nicht ohne Gefahren. Die jüngsten Ereignisse haben mich zu der Ansicht gebracht, dass wir mit einer öffentlichen Zeremonie zur Feier der Eröffnung dieses Hospitals nur Ärger herausfordern würden, und ich weiß, dass ihr alle meiner Meinung seid. Stattdessen werden wir den Anlass ruhig und im engsten Kreis begehen. Traumweberratgeberin Raeli und Hohepriester Teelor, würdet ihr beide bitte vortreten?«

Die beiden Genannten kamen auf sie zu, beide ernst, beide würdevoll. Auraya wickelte das Päckchen aus, und ein hölzernes Schild kam zum Vorschein. Es war mit goldenen Lettern ausgelegt: Zum Wohle aller. Sie spürte die Billigung der Traumweber und der Heiler.

Das Schild war Danjins Idee gewesen, und er hatte auch diese Worte vorgeschlagen. Ihm erschien die Ironie darin überaus passend zu sein, da die Politik der Traumweber, niemandem Hilfe zu verwehren, zu ihrem Niedergang führen würde. Für Auraya war das Schild eine Erinnerung daran, warum sie das tat: um Seelen zu retten, die sich möglicherweise von den Göttern abwenden würden.

Raeli und Teelor blickten zur Tür hinüber, wo man zwei Treppen eingefügt hatte. Zwei Ketten hingen von der Oberschwelle herab, im gleichen Abstand angebracht wie die Haken am oberen Rand des Schilds. Auraya hielt ihnen das Schild hin, das sie gemeinsam zum Eingang des Flurs trugen, bevor sie die Stufen hinaufstiegen und die Ketten befestigten. Als das Schild an Ort und Stelle hing, breitete Auraya die Hände zu einer dramatischen Geste aus.

»Hiermit erkläre ich das Hospital für eröffnet.«

Die Traumweber und Heiler entspannten sich. Raeli und Teelor stiegen die Stufen hinab und wandten sich einander zu. Auf Teelors Zügen breitete sich ein Lächeln aus, und Raelis Mundwinkel zuckten schwach in die Höhe.

»Alles ist an seinem Platz«, fuhr Auraya fort. »Jetzt brauchen wir nur noch jemanden, den wir behandeln können.«

Die beiden tauschten einen Blick.

»Nun«, sagte Teelor, »wir haben bereits die ersten Patienten. Sie sind in der vergangenen Nacht gekommen. Eine Frau, die eine schwierige Geburt hinter sich hat, und ein alter Mann mit einer Lungenkrankheit.«

»Die Frau und der Säugling sind auf dem Weg der Genesung«, ergänzte Raeli. »Der alte Mann…« Sie zuckte die Achseln. »Ich denke, was ihm zu schaffen macht, ist nicht nur die Krankheit, sondern auch das hohe Alter. Wir haben dafür gesorgt, dass er es bequem hat.«

Teelor zog die Augenbrauen hoch. »Es hat sich herausgestellt, dass sie doch nicht alles heilen können«, murmelte er in Aurayas Richtung.

Raeli lächelte schief. »Das Alter ist keine Krankheit«, erklärte sie. »Es ist ein natürlicher Prozess des Lebens. Nachdem wir über tausende von Jahren hinweg Wissen angesammelt haben, machen wir uns keine Illusionen darüber, was man erreichen kann und was nicht.«

Der Hohepriester kicherte. »Es würde mich nicht überraschen, wenn ihr diese Ausrede für alle Fälle benutzt, die ihr nicht zu heilen vermögt«, neckte er die Traumweberin.

Auraya beobachtete die beiden mit einer Mischung aus Überraschung und Erstaunen. Raeli und Teelor hatten offenkundig ein Band geknüpft, das auf Respekt fußte und das vielleicht den Anfang einer Freundschaft darstellte. Wann war das geschehen? Sie schaute genauer hin und sah Erinnerungen an eine lange Nacht, in der sie beide sich bemüht hatten, die Mutter und ihr Kind zu retten. Es war für beide eine lehrreiche Erfahrung gewesen.

Eine schwache Hoffnung regte sich in ihr, die jedoch wider zunichtegemacht wurde, als sie sich ins Gedächtnis rief, worin ihr eigentliches Ziel bei dieser Unternehmung bestand. Doch die nagenden Schuldgefühle wurden durch das Wissen gelindert, dass die Heilerpriester, indem sie von den Traumwebern lernten, viel mehr Menschen würden helfen können. Plötzlich sah sie das ganze Projekt in einem anderen Licht. Es gab nur wenige Dinge im Leben, die nicht gleichzeitig schlechte und gute Auswirkungen hatten. Dieses Hospital war eines davon. Alles in allem überwog das Gute das Schlechte.

Und das war eine typisch traumweberische Art, die Dinge zu betrachten.

12

Du wirst langsam ein wenig zu alt dafür«, sagte Teiti.

»Aber wahrscheinlich ist es gut für dich, auch außerhalb des Palasts Freunde zu haben.«

Imi verzog das Gesicht. »Natürlich bin ich nicht zu alt dafür! Es gibt hier Kinder, die noch älter sind als ich.«

Ihre Tante schaute zur anderen Seite des Kinderteichs hinüber und runzelte missbilligend die Stirn. »Das ist mir bekannt.«

Imi folgte ihrem Blick und sah, dass sich wie gewohnt eine Gruppe älterer Kinder am Rand des tieferen Bereichs versammelt hatte. Im Gegensatz zu den kleinen Jungen und Mädchen, die in dem restlichen Teil des Teichs schwammen, lümmelten diese Kinder dort herum, als seien sie über kindische Spiele erhaben. Außerdem hatten sich viele Jungen und Mädchen zu Paaren gefunden, und einige von ihnen hatten sich untergehakt.

Nicht allzu weit entfernt ahmten einige Kinder, die nur eine Spur jünger waren, die älteren nach. Aber die meisten waren ihrer Abneigung gegen das andere Geschlecht noch nicht ganz entwachsen, und ihre Bemühungen um ernsthafte Gespräche lösten sich häufig in kindischem Toben auf.

Es war diese Gruppe, auf die Imi zusteuerte, sobald sie im Wasser war. Unter den Kindern befand sich ein Junge namens Rissi, der häufig damit prahlte, dass er mit seinem Vater, einem Händler, Ausflüge außerhalb der Stadt unternahm. Außerdem gab er gern damit an, über geheime Wege Bescheid zu wissen, über die man Dinge aus der Stadt hinausschmuggeln konnte. Rissi war es, mit dem sie reden wollte.

Die Kinder beobachteten sie mit wachsamem Interesse, als sie auf sie zuschwamm. Sie gestatteten ihr stets, an ihren Spielen teilzuhaben und ihren Gesprächen zuzuhören. Sie hoffte, dass sie sich so verhielten, weil sie sie mochten, und nicht, weil sie es nicht wagten, eine Prinzessin wegzuschicken.

Rissi grinste ihr zu, als sie sich neben ihn ans Ufer zog.

»Hallo, Prinzessin«, sagte er.

»Hallo«, erwiderte sie. »Hast du in letzter Zeit irgendwelche Abenteuerreisen unternommen?«

Er rümpfte die Nase. »Vater hat herausgefunden, dass ich die Schule geschwänzt habe. Er will mir nicht erlauben, ihn das nächste Mal zu begleiten.«

Sie runzelte mitfühlend die Stirn. »Das ist ein Jammer.«

»In drei Tagen ist der Geburtstag des Königs«, bemerkte eins der Mädchen. »Bist du schon aufgeregt?«

Imi lächelte. »Ja!«

»Und hast du schon entschieden, wen du mitnehmen willst?«

Dies war das dritte Mal binnen weniger Wochen, dass das Mädchen dieselbe Frage gestellt hatte. Imi hatte zuerst nicht verstanden, warum sie »jemanden mitnehmen« sollte, da sie doch bereits im Palast lebte. Am vergangenen Abend war ihr dann plötzlich klargeworden, dass dieses Mädchen das Fest besuchen wollte und hoffte, dass Imi es einladen würde.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, meinen Vater danach zu fragen«, erwiderte Imi und seufzte. »Er hat furchtbar viel zu tun. Ich habe ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen.«

Die Kinder brachten mit leisem Zungenschnalzen ihr Mitgefühl zum Ausdruck, dann wandte sich das Gespräch anderen Themen zu. Imi hörte zu und stellte gelegentlich eine Frage. Einige der Fragen, die sie den Kindern in der Vergangenheit gestellt hatte, hatten ihr Unverständnis oder sogar ersticktes Gelächter eingetragen, aber je mehr sie über ihr Leben erfuhr, umso leichter wurde es, Fragen zu stellen, die einen Sinn für sie ergaben.

Schließlich begannen sie einander zu necken, und einige der Jungen rangen miteinander. Ausnahmsweise steckte Rissi nicht mitten im Getümmel, obwohl er ihre Mätzchen mit einem Grinsen beobachtete. Imi rückte näher an ihn heran und rief seinen Namen. Er wandte sich ihr überrascht zu.

»Wenn dein Vater dich nicht auf seinen Ausflug aus der Stadt mitnimmt, warum gehst du dann nicht allein?«, fragte sie.

Er starrte sie an, dann schüttelte er den Kopf. »Das würde mich ganz hübsch in Schwierigkeiten bringen.«

»Du steckst ohnehin schon in Schwierigkeiten«, stellte sie fest.

Er lachte. »Du hast recht. Ich könnte ebenso gut tun, was ich will. Aber wohin sollte ich gehen?«

»Ich wüsste einen Ort. Ich habe vor einigen Wochen jemanden darüber reden hören. Es ist ein Ort, an dem sich ein Schatz befindet.«

Die Art, wie er sie ansah, verriet ihr, dass sie sein Interesse geweckt hatte.

»Wo?«

Sie schwamm ein kleines Stück von ihm weg. »Das ist ein Geheimnis.«

»Ich werde es niemandem verraten.«

»Nein? Was ist, wenn man dich aus dem Haupttunnel schwimmen sähe? Man würde wissen wollen, warum du das tust.«

»Ich würde es ihnen nicht erzählen.«

»Was ist, wenn dein Vater sagte, er würde dich nie wieder mitnehmen? Ich wette, dann würdest du es erzählen.«

Er runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Vielleicht. Aber ich würde die Stadt nicht auf diesem Weg verlassen.«

Sie heuchelte Überraschung. »Welchen anderen Weg gibt es denn noch?«

»Einen geheimen Weg.«

»Es gibt noch einen Weg in die Stadt?«

Er sah sie an. »Nein. Wegen der Strömung kann man die Stadt auf diesem Weg nur verlassen.«

Sie watete näher an ihn heran und senkte die Stimme. »Wenn du mir diesen Weg zeigst, zeige ich dir, wo der Schatz ist.«

Er hielt inne und musterte sie nachdenklich.

»Es würde viel mehr Spaß machen, als den ganzen Tag hier herumzuhängen«, sagte sie.

»Versprichst du mir, mir den Schatz zu zeigen?«, fragte er.

»Ich verspreche es.«

»Beim Leben deines Vaters?«

Dieser Schwur war durchaus üblich unter den Kindern, ließ sie aber dennoch innehalten.

»Ich verspreche beim Leben meines Vaters, dir den geheimen Schatz zu zeigen, wenn du mir den geheimen Weg aus der Stadt zeigst.«

Er nickte, dann grinste er. »Folge mir.«

Sie blinzelte überrascht. »Du willst gleich jetzt gehen?«

»Warum nicht?«

Sie blickte zu Teiti hinüber, die sie genau beobachtete.

»Warte. Wir müssen zuerst meine Tante überlisten, sonst wird sie mich aufhalten.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Rissi. »Du kannst von diesem Teich aus dorthin gelangen. Sie wird dich tauchen sehen und nicht wissen, wo du an die Oberfläche gekommen bist. Bis sie begreift, dass du nicht mehr hier bist, werden wir längst fort sein.«

Dies war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte, aber sie zögerte dennoch. Teiti würde furchtbar wütend sein.

Rissi zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Was ist? Hast du Angst, dich in Schwierigkeiten zu bringen?«

Sie schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Zeig mir den Weg.«

Er watete ins tiefere Wasser, dann tauchte er unter die Oberfläche. Imi holte tief Luft und hoffte, Teiti werde glauben, dass sie feststellen wollten, wer von ihnen am längsten den Atem anhalten konnte. Nach kurzem Bedenken folgte sie ihm.

Rissi steuerte das tiefere Wasser in der Nähe der Stelle an, an der die älteren Kinder zu finden waren. Er schwamm mit schnellen Stößen, und Imi musste sich anstrengen, mit ihm mitzuhalten. Ein Tunneleingang kam in Sicht, und sie spürte, wie die Strömung, die das Wasser im Kinderteich frisch hielt, sie hinter Rissi herzog.

Sie war noch nie zuvor in diesen Tunnel geschwommen und konnte nur darauf vertrauen, dass Rissi sich nicht hineingewagt hätte, wenn der Tunnel nicht irgendwo an die Oberfläche führte, bevor ihnen die Luft ausging.

Es dauerte nicht lange, bis sie die gekräuselte Oberfläche des Wassers über sich sah. Rissi schwamm hinauf, schöpfte Atem und tauchte dann wieder ab. Sie folgte seinem Beispiel und konnte einen flüchtigen Blick auf einen ärmeren Teil der Stadt erhaschen.

Sie schwammen durch mehrere weitere Tunnel, und das Wasser und die Häuser wurden von Mal zu Mal schmutziger. Voller Abscheu begriff sie, dass sie sich in den Ausflussströmungen befanden, die die Abwässer aus der Stadt trugen, und sie gab Acht, nichts von dem Wasser zu schlucken.

Die Strömung wurde immer stärker. Als sie in der Nähe der verfallenen Mauer eines Hauses an die Oberfläche kamen, klammerten sie sich an die Steine am Ufer, um nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Rissi sah sie mit ernster Miene an.

»Das ist die letzte Etappe. Wenn wir dort hinauskommen, werden wir uns im Meer befinden. Der einzige Rückweg führt durch den Haupttunnel. Oder wir können jetzt hinausklettern und zurückgehen.«

Sie blickte in die Richtung, in die die Strömung dahinschoss. Sie würde sie durch jeden Tunnel ziehen, der vor ihnen lag. Falls der Tunnel an irgendeiner Stelle versperrt war oder sie sich irgendwo verfing, könnte sie ertrinken.

»Wie oft hast du das schon gemacht?«

Er grinste. »Ein Mal.«

Ihr Herz hämmerte, und ihr wurde bewusst, dass sie Angst hatte. »Das ist eine schlechte Idee.«

»Wir brauchen es nicht zu tun«, erwiderte er. »Ich werde den anderen nicht erzählen, dass du nicht hinausgeschwommen bist. Ich habe dir den Weg aus der Stadt gezeigt, also musst du mir verraten, wo der Schatz ist.«

Sie sah ihn an, und eine Welle der Enttäuschung und der Wut schlug über ihr zusammen. Er hatte nicht gesagt, dass es so gefährlich sein würde. Aber er hatte es schon einmal gemacht und überlebt. Wie schwer konnte es schon sein? Sie brauchte sich lediglich von der Strömung hindurchtragen zu lassen. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und zwang sich, Rissi trotzig anzustarren.

»Erst wenn wir auf der anderen Seite sind«, sagte sie.

Er lachte, dann stieß er einen Triumphschrei aus. »Lass es uns tun! Versuch, dich in der Mitte der Strömung zu halten. Und du solltest vorher richtig tief einatmen. Ich werde dich festhalten, so lange ich kann. Fertig? Auf drei. Eins, zwei…«

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, aber irgendwie brachte sie es fertig, ihre Lunge mit Luft zu füllen.

»… drei!«

Sie tauchten in die Strömung hinab. Rissi packte sie am Handgelenk und hielt sie fest, während sie in die Dunkelheit dahintrieben. Sie fragte sich, wie sie sich in der Mitte des Stroms halten sollte, da sie nichts sehen konnte, dann wurde ihr bewusst, dass sie die Wände, die an ihnen vorbeischossen, ganz schwach erkennen konnte. Winzige, gewundene Bänder aus Licht verzierten die Oberfläche.

Leuchtwürmer, dachte sie. Ihre Anwesenheit war ein Hinweis darauf, wie schmutzig das Wasser war. Sie hatte jedoch zu große Angst, um sich darum zu sorgen, dass ihr übel werden könnte. Sie war noch nie so weit von der Stadt entfernt gewesen, und sie war davon überzeugt, dass das Wasser sie an die Wand schleudern würde, bevor sie auf der anderen Seite herauskamen.

Der Tunnel schlängelte sich bald in diese, bald in jene Richtung. Sie mussten mit aller Kraft schwimmen, um nicht gegen die Felsen zu prallen, die hier und da aus den Tunnelwänden ragten. In den Ritzen und Vertiefungen in der Oberfläche entdeckte sie alle möglichen Dinge – zu ihrem Entsetzen sogar einen Schädel.

Gerade als ihre Lunge Protest erheben wollte, umrundete sie eine Biegung und stellte fest, dass die Strömung sie zu einem länglichen Flecken Blau trug. Rissi ließ sie los und schwamm geradeaus, so dass er durch die schmale Lücke schnellte. Sie trat mit beiden Füßen aus und brachte es fertig, durch dieselbe Lücke zu schlüpfen, ohne den Felsen zu berühren.

Die Strömung ließ nach und erstarb schließlich ganz. Imi drehte sich um und entdeckte hinter sich verschwommen eine Felswand. Unter ihr konnte sie undeutlich den Meeresboden erkennen. Davon abgesehen umgab sie nichts als ein tiefenloses Blau, das in seiner Intensität irgendwie beängstigend wirkte.

Wichtiger war jedoch ihr Verlangen nach Luft. Sie schwamm zu der sich kräuselnden Wasseroberfläche empor. Als sie auftauchte, schnappte sie gierig nach Luft.

Bevor sie ihre Lunge wirklich hatte füllen können, sank ihr Kopf wieder unter die Oberfläche, und sie schluckte Wasser. Abermals stieß sie sich mit den Füßen ab, tauchte wieder auf und spuckte das Wasser aus. Sie hatte große Mühe, den Kopf über der Oberfläche zu halten.

»Rissi!«, rief sie verzweifelt.

»Imi«, kam die Antwort. Es folgte eine Pause, dann tauchte sein Kopf neben ihr auf.

»Warum bewegt sich das Wasser so heftig?«, stieß sie hervor. »Haben wir Sturm?«

Er lachte. »Nein. Das ist ganz normal. Das sind Wellen.« Dann grinste er. »Du bist noch nie draußen gewesen, oder?«

»Doch! Aber es war nicht so… so wild.«

Sie stellte fest, dass sie sich mit den Wellen heben und senken konnte, indem sie weiter die Beine bewegte.

»Also, wohin jetzt?«, fragte er.

»Was?«

»Wo ist der Schatz?«

»Oh.« Sie sammelte sich. »Auf Xiti.«

Er sah sie entsetzt an. »Xiti!«

»Ja. Kennst du den Weg?«

Als er den Kopf schüttelte, stieg eine Woge der Enttäuschung in ihr auf. »Oh. Ich hätte dich vorher fragen sollen.«

»Ich weiß, wo Xiti liegt«, erwiderte er. »Aber es ist ziemlich weit weg von hier. Wir würden Stunden brauchen, um dorthin zu schwimmen.«

Neue Hoffnung flackerte in ihr auf. »Wie viele Stunden?«

Er schüttelte abermals den Kopf. »Drei. Vielleicht vier.«

»Das ist nicht so schlimm. Wir könnten hinüberschwimmen und bis heute Abend wieder zurück sein.«

»Wie lange wird es dauern, um diesen Schatz zu holen?« Er runzelte die Stirn. »Was ist das überhaupt für ein Schatz? Ich werde nicht den ganzen Tag schwimmen, wenn es sich nicht lohnt.«

Sie lächelte. »Es lohnt sich. Ich habe einige Händler von Seeglocken reden hören. Sie sagten, auf Xiti würden welche wachsen, die so groß sind wie eine Faust.«

Seine Augen leuchteten auf. »Wirklich? Warum haben sie sie dann nicht geholt?«

»Weil…« Imi wog ihre Antwort sorgfältig ab. Würde er seine Meinung ändern, wenn sie die Landgeher erwähnte? »Weil sie darauf warten, dass sie noch größer werden.«

»Noch größer«, wiederholte er. »Ich schätze, es würde ihnen nicht auffallen, wenn einige fehlen… aber… wir würden die Seeglocken stehlen, Imi. Was ist, wenn wir erwischt werden?«

»›Nichts, was im Ozean wächst, gehört irgendjemandem, bis es geerntet wird‹«, zitierte sie.

Seine Lippen zuckten, dann breitete sich ein Grinsen auf seinen Zügen aus. »Ich werde reich!« Er sah sie an. »Aber du bist bereits reich. Weshalb willst du die Seeglocken?«

Sie lächelte. »Als Geburtstagsgeschenk für meinen Vater.« »Darum geht es also.« Er lachte. »Wir befinden uns außerhalb der Stadt und stecken beide bereits in der Klemme. Da können wir genauso gut weitermachen. Folge mir.«

Er tauchte unter die Oberfläche ab. Imi holte tief Luft, ließ sich unter die Wellen sinken und schwamm ihm nach.


Mirar betrachtete überrascht die wachsende Anzahl von Dingen, die sich auf dem provisorischen Tisch ansammelten. Vor ihm stand eine dampfende Schale mit Suppe. Auf einem dicken Holzscheit lag etwas, das in Blätter eingewickelt war und nach geröstetem Fleisch und Kräutern roch. Daneben standen eine Schale mit grünen Blättern und frischen Wurzeln auf der einen und eine Schale mit gekochten Knollen auf der anderen Seite, und auch die gewohnte Schale mit reifen Früchten fehlte nicht.

»Was ist das?«, fragte er.

»Ein Festmahl«, erwiderte sie.

»War das der Grund, warum du den ganzen Morgen über so beschäftigt warst?«

»Zum größten Teil.«

»Was ist der Anlass dafür?«

»Wir feiern.«

»Was feiern wir?«

Sie stellte die beiden hölzernen Becher, die er geschnitzt hatte, auf den Tisch und richtete sich dann auf. »Ich habe seit über einer Woche deine Gefühle nicht mehr wahrnehmen können. Ich denke, das ist lange genug, um zu beweisen, dass du den Bogen raushast, wie du deine Gedanken abschirmen kannst.«

Er kniff die Augen zusammen. »Das ist aber nicht alles.« »Was? Die Tatsache, dass wir die Höhle jetzt jederzeit verlassen können, soll nicht Grund genug für ein Fest sein?«

Sie förderte einen Lederbeutel zutage und hielt ihn über die Becher. Aus dem hohlen Holzstückchen, das als Tülle des Beutels diente, ergoss sich eine dunkelpurpurfarbene Flüssigkeit. Der Duft war vertraut, obwohl er ihn seit Jahrhunderten nicht mehr gerochen hatte. Es war Teepi, der Schnaps der Siyee.

»Wo hast du den her?«

»Ich habe ihn eingetauscht. Von den Siyee.«

»Sie sind zurückgekommen?«

»Ja, ganz früh heute Morgen. Ich denke, sie machen sich Sorgen, dass ich hier umkommen könnte. Oder dass ich beschlossen haben könnte zu bleiben.«

»Hmmm.« Er griff nach dem Becher und nippte daran. Der feurige Schnaps wärmte seine Kehle. »Es ist wirklich gut, dass ich gelernt habe, meine Gedanken zu verbergen. Wir können nicht mehr lange hierbleiben.«

»Das ist wahr«, pflichtete sie ihm bei. Sie setzte sich und griff nach ihrer Suppenschale. »Sie haben mir außerdem ein Girri gegeben. Ich musste es heute noch kochen, daher dachte ich, ich könnte uns ebenso gut ein Festmahl zubereiten. Ich habe ja jetzt nicht mehr viel anderes zu tun.«

Er beobachtete sie, während sie die Suppe trank. »Du langweilst dich mit mir, nicht wahr?«

Sie lächelte verschlagen. »Nein. Ich habe dich noch nie langweilig gefunden, Mirar. Genau genommen habe ich dich immer ein wenig interessanter gefunden, als gut für mich war.«

Er kicherte. Ah. Das war es. Die Einladung. Es war ihm nicht entgangen, wie sie ihn manchmal ansah. Nachdenklich. Neugierig. Bewundernd. Der Funke der Anziehung war, was sie betraf, noch nicht erloschen. Und wie stand es mit ihm?

Er dachte an andere Zeiten, da die Umstände sie in das Bett des anderen geführt hatten, und er spürte, wie ein altes, aber vertrautes Interesse aufflackerte. Ja, dachte er. Der Funke ist noch da.

»Ich habe mich heute gefragt«, sagte sie, während sie ihre leere Schale beiseitestellte, »ob von den anderen Wilden wohl noch jemand überlebt hat.«

Sie sah fragend zu ihm auf. Er nahm noch einen Schluck Teepi, was ihm Zeit gab, sich langsam aus angenehmen Erinnerungen zu lösen.

»Ich bezweifle es«, antwortete er schließlich.

Sie schürzte die Lippen. Was ihn an einen anderen Tag erinnerte, an dem sie innegehalten und dieses Gesicht gemacht hatte, während sie darüber nachgrübelte, was sie als Nächstes tun könnten. Damals war sie nackt gewesen, das hatte er nicht vergessen. Er schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen.

»Wenn wir beide, du und ich, noch leben, warum dann nicht auch sie?«, beharrte Emerahl. »Wir wissen, dass das Orakel getötet wurde, ebenso der Bauer, aber was ist mit der Möwe? Was ist mit den Zwillingen und dem Schöpfer?«

»Der Schöpfer ist tot. Er hat sich das Leben genommen, als seine Schöpfungen vernichtet wurden.«

Sie sah ihn entsetzt an. »Der arme Heri.«

Mirar zuckte die Achseln. »Er war alt. Der Älteste von uns, abgesehen von dem Orakel – und das war halb wahnsinnig.«

»Die Möwe und die Zwillinge waren jünger«, sagte sie nachdenklich. »Was ist mit dem Bibliothekar?«

Er zuckte erneut die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich bezweifle, dass er noch immer über die Bibliothek von Soor wacht. Sie war schon vor dem Krieg der Götter nur noch eine Ruine.«

Emerahl seufzte. Er musterte sie eindringlich. Sein Interesse an ihr war noch immer da, obwohl ihr Gespräch es gedämpft hatte. Sie war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Wenn es ihm gelang, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, was würde sie tun?

»Das ist ein zu morbides Gesprächsthema für eine Feier«, erklärte er, streckte die Hand aus, nahm ein Stück Obst und schnitt dann eine Scheibe davon ab. Sie beobachtete ihn zwar, aber ihr Blick war noch immer in die Ferne gerichtet. Schließlich beugte er sich über den Tisch und hielt ihr die Scheibe von der Frucht an die Lippen. »Das Leben ist zu lang, um Chancen auf ein wenig Vergnügen zu ignorieren«, murmelte er.

Ihre Augen weiteten sich, dann wurden sie wieder schmal. »Das hast du gesagt…«

»Vor langer Zeit. Ich hatte mich gefragt, ob du dich daran erinnern würdest.«

Sie nahm die Frucht entgegen. »So etwas konnte ich wohl kaum vergessen.«

Er blickte vielsagend auf das Stück Obst. »Wirst du es mit mir teilen?«

Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihren Zügen aus. »Es wäre unverzeihlich gierig von mir, es nicht zu tun.« Sie stand auf und kam mit leuchtenden Augen um den Tisch herum. Dann nahm sie das Stück Obst zwischen die Lippen, beugte sich vor und bot es ihm dar.

Oh ja, dachte er. Er umfing sie mit beiden Händen, zog sie näher heran und biss in die Frucht. Ihre Lippen berührten sich, und sie schmeckten beide gleichzeitig die scharfe Süße der Frucht. Er spürte seine Zähne, die sich in das saftige Fleisch gruben, spürte ihre Finger, die über seinen Rücken wanderten, und die Festigkeit ihres Körpers unter seinen Händen.

Sein Interesse loderte auf und wurde zu Begehren. Er spürte, dass sie mit gleicher Leidenschaft auf ihn reagierte. Plötzlich wollte er zu viel gleichzeitig. Er zog sie zu sich auf sein Bett und versuchte im gleichen Moment, sie auszuziehen, brachte aber weder das eine noch das andere zuwege. Sie lachte, drückte ihn auf sein Lager und setzte sich dann rittlings auf ihn, bevor sie ihre Kleider auszog und beiseitewarf. Als ihre Brüste bloß lagen, stockte ihm der Atem. Sie war vollkommen, aber wie hätte es auch anders sein können, da sie so mühelos ihr Alter verändern konnte?

Sie schob seine Hände gerade lange genug beiseite, um ihm Wams und Tunika auszuziehen. Dann bewegte sich ihre Hand zum Bund seiner Hose hinunter. Die Bänder öffneten sich, und sie zog ihm den Taillenbund herunter, bevor sie zu ihm aufblickte und grinste. Dann ließ sie sich ohne ein Wort über ihn gleiten, und er spürte, wie ihre Wärme ihn umschlang.

Nein!

Der Gedanke gehörte nicht ihm. Ein Gefühl, das seine Nerven blanklegte, durchzuckte ihn. Er konnte ihm keinen Namen geben. Entsetzen? Wut? Er sog verwirrt und erschrocken die Luft ein, während es ihm so vorkam, als würde sein ganzes Wesen in Elend versinken. Das Feuer in seinem Blut wurde von einer Kälte gelöscht, die er nicht abschütteln konnte, und von der Wahrnehmung eines anderen Willens, der gegen den seinen kämpfte.

Leiard.

»Nein!«, protestierte er. Er richtete sich auf, und die plötzliche Bewegung kostete Emerahl für einen Moment das Gleichgewicht. »Du Bastard!«

Emarahl richtete sich auf und starrte ihn an. »Ich gehe mal davon aus, dass du nicht mit mir redest«, bemerkte sie trocken.

Er stellte fest, dass er nicht antworten konnte. Es kostete ihn all seine Willenskraft, die Kontrolle über seinen Körper zu behalten.

Ich kann nicht zulassen, dass du das tust, sagte Leiard. Ich kann dir nicht gestatten, Auraya abermals zu betrügen.

Auraya spielt keine Rolle!, wütete Mirar. Du kannst nicht zu ihr zurückkehren. Du existierst nicht einmal!

Emerahl beobachtete ihn mit schmalen Augen. Mirar spürte, wie Leiards Wille schwächer wurde. Er holte tief Atem und versuchte, seinen Zorn zu zügeln. »Ich habe nicht dich gemeint«, erklärte er ihr. »Ich habe ihn gemeint. Er hat das getan. Er hat mich… aufgehalten. Ich kann nicht glauben… ich dachte…«

»Dass er dir keinen Ärger mehr machen würde, wenn du ihm nicht gestattest, die Kontrolle zu übernehmen?« Sie schüttelte den Kopf und stieg von seinem Bett. »Ich habe dir gesagt, dass es nicht so einfach sein würde.«

»Was soll ich denn tun?«, rief er, sprang auf und riss seine Hose hoch. Wenn es möglich wäre, vor Scham zu sterben, hätte er es vielleicht an Ort und Stelle getan. »Wird er mich von jetzt an bei jeder Frau daran hindern, sie in mein Bett zu nehmen, nur weil er treu sein will? Dieser… dieser…«

»Auraya«, beendete sie seinen Satz. Sie griff nach ihren Kleidern und begann sich anzuziehen.

Die Tatsache, dass sie seine plötzliche Impotenz klaglos akzeptierte, war irgendwie noch demütigender als die Alternative: Gelächter. Sie hätte zumindest so tun können, als sei sie überrascht gewesen.

»Du musst akzeptieren, dass Leiard ein Teil von dir ist«, sagte sie. »Er kann nichts empfinden, was nicht in dir selbst angelegt wäre.«

»Und ob er das kann. Ich liebe Auraya jedenfalls nicht.«

Sie drehte sich um und lächelte ihn an. »Nein, aber ein Teil von dir tut es. Ein Teil, den du unglücklicherweise nicht magst. Du musst diesen Teil deines Selbst annehmen, ebenso wie alles andere, das du in dir trägst, wie Leiard beweist. Wenn du es nicht tust…« Sie runzelte die Stirn und wandte den Blick ab. »Dann befürchte ich, dass du nie wieder ganz du selbst sein wirst.«

»Das weißt du nicht mit Bestimmtheit.«

»Nein, aber ich wäre bereit, darauf zu wetten.« Sie kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und wickelte das geröstete Girri aus, um Stücke von dem Fleisch abzureißen. »Iss. Ich bin nicht gekränkt. Ein wenig enttäuscht. Vielleicht ein wenig verlegen. Aber nicht gekränkt.«

»Du bist verlegen«, murmelte er. »Ich bin zutiefst gedemütigt. Ich war noch nie außerstande…«

»Lass uns einfach essen«, unterbrach sie ihn. »Ich habe kein Verlangen nach einer weiteren deiner maßlos übertriebenen Geschichte über deine sexuellen Fähigkeiten. Nicht jetzt. Und eindeutig nicht, während ich esse.«

Er schüttelte den Kopf. Die Wut war einem flauen, düsteren Gefühl gewichen. Er setzte sich auf die Kante seines Bettes und starrte finster auf das Essen. Als er den Schlauch mit Teepi erblickte, der auf dem Tisch lag, füllte er sein Glas auf, kippte das Getränk hinunter und schenkte sich dann abermals nach.

»Es sind keine übertriebenen Geschichten«, knurrte er. »Ich weiß«, sagte Emerahl betont begütigend.

»Ich habe wirklich…«

»Iss einfach.«

Seufzend tat er wie ihm geheißen.


Teiti stand am Ufer des Kinderteichs, und ihre Beine zitterten. Seit Imis Verschwinden war jetzt eine Stunde vergangen. Ihr stand noch immer das letzte Bild vor Augen, das sie von der Prinzessin gesehen hatte, als diese ins Wasser getaucht war.

Sie und die Wachen hatten die anderen Kinder befragt, aber keines von ihnen hatte Imi fortgehen sehen. Teiti hatte Imis Wachen ausgesandt, einen jedoch dabehalten, um die Leute an den vielen Eingängen zu der Höhle zu fragen, ob sie die Prinzessin gesehen hätten.

»Sie wird schon zurückkommen«, besänftigte sie der verbliebene Wachmann. »Höchstwahrscheinlich ist sie uns entwischt, damit sie ein wenig ungestört mit diesem Jungen zusammen sein konnte.«

Das beruhigt mich ganz und gar nicht, dachte Teiti. Sie ist zu jung, um sich für Jungen zu interessieren. Wenn sie es wäre, wäre ich ebenso erschrocken, dass sie mit dem Sohn eines niederen Händlers zusammen ist.

»Meine Dame?«

Sie erblickte zwei Mädchen, die vor ihr standen.

»Ja? Was gibt es?«, fragte sie.

»Wir dachten nur, du solltest es wissen«, sagte eins der Mädchen. »Im tiefsten Teil des Teichs gibt es einen Tunnel. Er fließt aus der Stadt hinaus. Ich weiß, dass Rissi ihn schon einmal benutzt hat, als er einer Tracht Prügel von Kizz entgehen wollte.«

Einer Tracht Prügel? Teiti unterdrückte einen Fluch. Warum habe ich Imi erlaubt, mit diesem Halunken zu spielen?

»Wo ist dieser Tunnel?«

Die Mädchen zeigten in die Richtung, in der der Tunnel lag. »An der tiefsten Stelle.«

»Ich geh mir das mal ansehen«, erbot sich der Wachmann. »Wenn sie recht haben, werden wir die ganze Gegend absuchen müssen.«

Teiti seufzte. Die Hoffnungen, dass der König nichts von alledem erfahren würde, schrumpften immer schneller dahin. Je länger Imi fort war, umso weniger scherte es Teiti, was der Vater des Mädchens sagen oder tun würde. Am wichtigsten war die Frage, ob Imi in Sicherheit war.

»Geh«, sagte sie. »Finde diesen Tunnel. Finde heraus, wohin er führt. Ich werde dir zusätzliche Helfer schicken.«

Als er ins Wasser watete, wandte sie sich ab und ging zum Haupteingang hinüber. Einer der Wachmänner war dort und befragte die Leute. Sie würde ihn in den Palast schicken. Es war an der Zeit, den König vom Verschwinden seiner Tochter zu unterrichten.

13

Die beiden Veez umkreisten einander mit zuckenden Schwänzen. Auraya schüttelte seufzend den Kopf.

»Sie haben vergessen, dass sie inzwischen ausgewachsen sind.«

Mairae lachte. »Ja – sie spielen wie zwei Kinder, die sich nur miteinander in Verbindung setzen, indem sie ringen und einander beleidigen.«

Sternenstaub sprang auf Unfug, und in dem Gewirr von zuckendem Fell, Beinen und Schwänzen konnte man nicht mehr ausmachen, wer wer war.

Mairae kicherte. »Wie entwickelt sich denn Unfugs Ausbildung?«

»Gut.« Auraya verzog das Gesicht. »Es gibt kein mechanisches Schloss, das er nicht öffnen kann, und jetzt, da er ein wenig reifer geworden ist, ist es viel einfacher, sich mit ihm zu vernetzen. Außerdem kann ich seine Aufmerksamkeit tatsächlich für mehr als einige wenige Augenblicke festhalten. Und er spricht inzwischen auch in meine Gedanken.«

Die beiden Veez trennten sich voneinander und plapperten drauflos, dann heuchelten sie beide gleichzeitig Langeweile und begannen sich zu putzen.

»Hast du Keerim schon kennen gelernt?«, erkundigte sich Mairae.

»Nein.«

»Er ist ein berühmter Veez-Ausbilder aus Somrey, der gerade in der Stadt ist. Sieht auch nicht schlecht aus. Ich sollte ein Treffen arrangie…«

Auraya?

Der Ruf kam von Juran.

Ja?

Die Götter haben uns zum Altar gerufen. Ist Mairae bei dir? Ja. Ich werde es ihr sagen.

Gut. Ich werde euch beide auf dem Weg nach unten abholen.

Mairae sah sie erwartungsvoll an.

»Was ist los?«

Auraya erhob sich. »Wir sind zum Altar gerufen worden.«

»Zum Altar?« Mairae zog die Augenbrauen in die Höhe, dann stand sie auf und hob Sternenstaub vom Boden hoch. »Wie ungewöhnlich. Ich frage mich, ob die Götter eine Antwort für uns haben.«

»Was die Existenz der pentadrianischen Götter betrifft?« Auraya versuchte, Unfug einzufangen, aber er wich ihr geschickt aus. Sie ging zum Glockenseil hinüber und zog daran. Sie hatten keine Zeit, den Veez zu jagen. Ein Diener würde sich um ihn kümmern müssen.

Sie verließen den Raum und traten in das kreisförmig angelegte Treppenhaus in der Mitte des Turms. Auraya hörte Unfug telepathisch ihren Namen sagen, und irgendwie brachte er es fertig, ihr ungeheure Enttäuschung darüber zu vermitteln, dass sie so jäh aufgebrochen war. Mairae setzte Sternenstaub ab.

»Geh nach Hause«, befahl sie. Der Veez huschte die Treppe hinunter. »Braves Mädchen.« Mairae richtete sich auf und betrachtete das Treppenhaus. »Der Käfig ist bereits auf dem Weg nach unten.«

»Ja. Juran sagte, er würde uns abholen.«

Sie sahen zu, wie der Käfig näher kam. Als er auf der gleichen Höhe war wie ihre Augen, verlangsamte er die Fahrt. Dyara und Juran standen darin. Als der Käfig anhielt, öffnete Juran die Tür und trat beiseite, um sie einsteigen zu lassen.

Sein Gesichtsausdruck war ernst und vielleicht ein wenig nachdenklich, aber er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Nein, ich weiß nicht, warum die Götter uns gerufen haben«, erklärte er, bevor sie danach fragen konnten. »Lasst uns hoffen, dass es gute Neuigkeiten gibt.«

Dyara sah ihn an und zog eine Augenbraue hoch. »Wir würden wohl kaum auf schlechte Neuigkeiten hoffen, oder?«

Der Anführer der Weißen lachte leise. »Nein.«

Der Käfig setzte sich wieder in Bewegung. Als er an Rians Räumen vorbeifuhr, sah Mairae Juran fragend an.

»Rian war in der Stadt. Er wird direkt zum Altar kommen«, erklärte Juran, dann sah er Auraya an. »Wie entwickelt sich das Hospital?«

Sie nickte. »Bemerkenswert gut. Es hat die eine oder andere Meinungsverschiedenheit gegeben, aber das war zu erwarten. Unsere Methoden werden nicht die gleichen sein.« Sie hielt inne und überlegte, ob das die Art von Informationen war, die er wirklich wollte. »Wir lernen viel von den Traumwebern«, fügte sie hinzu.

»Und sie von uns?«

»Gelegentlich.«

»Halten die Traumweber ihr Wissen zurück?«, fragte Dyara.

»Noch nicht«, antwortete Auraya.

»Das überrascht mich«, sagte die Frau. »Wer hätte gedacht, dass sie ihre Geheimnisse Priestern anvertrauen würden?«

»Sie haben ihre Kenntnisse niemals als etwas Geheimes angesehen«, erwiderte Auraya. »Das würde ihnen einen Grund geben, Einzelnen die Heilung zu verwehren, was gegen ihre Prinzipien verstößt. Sie helfen jedem, der zu ihnen kommt.«

»Ein bewundernswertes Prinzip«, bemerkte Juran. »Eines, das wir meiner Meinung nach übernehmen sollten.«

Dyara musterte ihn überrascht. »Selbst wenn das bedeutete, dass wir Pentadrianer heilen müssten?«

Juran lächelte schief. »Es ist möglich, dass überlegene Kenntnisse der Heilkunst uns eines Tages helfen könnten, die Völker des südlichen Kontinents für uns zu gewinnen.«

Der Käfig verlangsamte seine Fahrt. »Nicht wenn ihre Götter real sind«, sagte Auraya.

»Das ist wahr«, pflichtete Juran ihr bei.

Der Käfig hielt in der Mitte der Halle an.

»Dann wird es umso wichtiger sein, dass wir über eine große Zahl kenntnisreicher zirklischer Heiler verfügen«, erklärte Juran. »Wir können uns nicht darauf verlassen, dass ein heidnischer Kult unsere Verletzten behandelt, wie groß seine Fähigkeiten auch sein mögen. Indem wir das täten, würden wir ihnen mehr Einfluss einräumen, als mir lieb wäre.«

Während er als Erster aus dem Käfig stieg, dachte Auraya über seine Worte nach. Er ging offenkundig davon aus, dass die Traumweber in hundert Jahren noch existieren würden – statt dahinzuschwinden, sobald sie ihren wichtigsten Vorteil den Zirklern gegenüber verloren hatten. Vielleicht waren seine Motive, sie um die Gründung des Hospitals zu bitten, doch ein wenig anders, als sie vermutet hatte.

Am Eingang des Turms angekommen, führte Juran sie in das helle Sonnenlicht hinaus. Ein geschlossener Plattan war soeben vor der Kuppel vorgefahren. Rian stieg aus, schickte den Fahrer weg und drehte sich dann um, um auf sie zu warten. Als Auraya näher kam, sah sie, dass in seinen Augen das Feuer religiöser Inbrunst brannte. Er sagte nichts, als sie zu ihm aufschlossen, sondern ging schweigend an ihrer Seite unter den Rundbogen der Kuppel hindurch.

Nach dem grellen Sonnenlicht war der Schatten in der Kuppel eine Wohltat. Aurayas Augen gewöhnten sich schnell an das sanftere Licht, und sie sah, wie die fünf dreieckigen Seiten des Altars sich öffneten. Juran ging durch das Gebäude auf das Podest zu und dann weiter in den Altar hinein. Sobald sie alle ihre Plätze eingenommen hatten, schwebten die Spitzen wieder empor.

Juran hielt inne, wie er es immer tat, um abzuwägen, was er sagen wollte. Doch als er Luft holte, um seine Ansprache zu beginnen, spürte Auraya eine Bewegung in ihrer Nähe. Plötzlich war sie sich der Magie in der Welt um sich herum bewusst, ebenso wie der Tatsache, dass dieser Magie die vibrierende Präsenz einer konkreten Person innewohnte.

»Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru«, begann Juran. »Wir…«

Auraya sog scharf die Luft ein, als ihr klar wurde, dass das, was sie spürte, ein Gott war.

Hallo, Auraya.

In einer der Ecken des Altars nahm jetzt ein Leuchten Gestalt an, bis es die Umrisse eines Mannes zeigte. Auraya hörte Juran tief einatmen, und auch die anderen gaben leise Laute der Überraschung von sich.

»Chaia«, sagte Juran und machte Anstalten, sich zu erheben.

Bleib sitzen, sagte Chaia und ließ Juran mit einer knappen Handbewegung innehalten.

Auraya spürte das Pulsieren der Welt um sich herum, als auch die anderen Götter kamen. Voller Ehrfurcht beobachtete sie, wie ein jeder von ihnen als Licht sichtbar wurde, das eine menschliche Gestalt annahm.

Wir haben euch hierhergerufen, um euch das Ergebnis unserer Nachforschungen mitzuteilen, eröffnete Chaia ihnen, bevor er sich zu Huan umwandte.

Wir haben sowohl Süd- als auch Nordithania abgesucht, sagte Huan, aber wir sind keinen anderen Göttern begegnet.

Das heißt allerdings nicht, dass sie nicht existieren, warf Lore warnend ein. Sie könnten uns ausgewichen sein. Sie könnten jenseits dieser Territorien existieren.

Wir werden unsere Suche fortsetzen, versicherte Yranna ihnen lächelnd. Aber es wird das Beste sein, wenn ihr Ithania nicht alle gleichzeitig verlasst.

Dann wärt ihr ohne Schutz, sollten diese Götter tatsächlich existieren und danach trachten, euch Schaden zuzufügen, ergänzte Saru.

Juran nickte. »Können wir irgendwie helfen?«

Nein, erwiderte Chaia. Für den Augenblick rechne ich nicht mit einer Auseinandersetzung mit den Pentadrianern.

»Wir verstehen«, sagte Juran.

Chaia blickte noch einmal zu den anderen hinüber, dann nickte er.

Das ist alles. Wir werden wieder zu euch sprechen, sobald wir weitere Antworten haben.

Die fünf leuchtenden Gestalten verschwanden.

Aber ihr Bild blieb in Aurayas Sinnen haften. Sie spürte, wie Huan, Lore, Yranna und Saru sich zurückzogen. Als sie fort waren, nahm sie eine winzige Berührung durch Chaias Geist wahr, bevor auch er sich entfernte.

»Auraya?« Sie zuckte zusammen und stellte fest, dass Juran sie beobachtete. »Was ist los?«

»Die Götter. Ich habe gespürt, wie sie kamen und gingen.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Du hast sie gespürt?«

»Ja. Es war… seltsam.«

»Ist das schon einmal passiert?«, wollte Dyara wissen.

Auraya schüttelte den Kopf. »Es ist ein wenig wie das Gefühl dafür, wo ich mich in Bezug zur Welt befinde. Ich kann die Magie um mich herum spüren.«

»Und die Götter sind Wesen aus Magie«, sagte Mairae nickend.

»Ja.«

Die Spitzen des Altars neigten sich wieder dem Boden zu, aber keiner der anderen Weißen machte Anstalten, sich zu erheben. Juran wirkte nachdenklich und Dyara skeptisch. Rian runzelte die Stirn. Als Auraya seinem Blick begegnete, glättete sich die Falte zwischen seinen Brauen, und er lächelte – aber es war ein gezwungenes Lächeln.

»Ich fange langsam an, solch eigenartige Entwicklungen bei dir zu erwarten, Auraya«, sagte Juran und lachte leise. »Sobald du herausgefunden hast, was es mit dieser neuen Fähigkeit auf sich hat, gib mir Bescheid. Und jetzt«, er sah die anderen der Reihe nach an, dann stand er auf, »jetzt schlage ich vor, dass wir zu unseren Pflichten zurückkehren.«

Auraya erhob sich mit den anderen, blieb jedoch zurück, als diese sich über die flach daliegenden Wände des Altars hinweg in Bewegung setzten. Sie drehte sich um und konzentrierte sich, konnte aber nichts wahrnehmen, was die Magie innerhalb des Altars gestört hätte.

Sie konnte jedoch geringe Schwankungen in der Verteilung der Magie um sich herum wahrnehmen. Während sie den anderen Weißen zurück zum Turm folgte, konzentrierte sie sich auf diese Magie. Ihr fiel auf, dass die Schwingungen um den Fuß des Turms herum deutlicher ausgeprägt waren. Dyara und Juran begannen ein Gespräch über die genrianische Politik, aber Auraya achtete kaum auf sie.

Sie erreichten den Turm und traten ein. Die Schwankungen wurden weder schwächer noch stärker, und Auraya wollte ihre Aufmerksamkeit gerade wieder auf ihre Begleiter richten, als sie eine plötzliche Veränderung wahrnahm.

Sie waren inzwischen am Käfig in der Mitte der Halle angekommen, wo die Magie deutlich verringert war. Sie hätte es nicht bemerkt, selbst wenn sie Magie in sich hineingezogen hätte, da immer noch genug übrig war, um die Ausübung der meisten Gaben zu ermöglichen.

Aber sie war eindeutig ein wenig schwächer als andernorts.

Was hat das bewirkt?, fragte sie sich. Hat jemand den größten Teil der Magie hier aufgezehrt, oder ist es eine natürliche Erscheinung?

Sie öffnete den Mund, um Juran darauf aufmerksam zu machen, stellte dann aber fest, dass Rian sie beobachtete. Er bedachte sie abermals mit einem gezwungenen Lächeln.

Ich werde es Juran ein andermal erzählen, dachte sie. Unter vier Augen.


Zwei riesige, längliche Schalen hüpften im Wasser auf und ab. Sie waren aus Holz gemacht, und es sah so aus, als steckte jeweils in ihrer Mitte ein ganzer, von Zweigen und Borke befreiter Baumstamm. Von diesen Baumstämmen hing eine Vielzahl von Seilen und weiteren Holzbalken herab, außerdem etwas, das wie große Stoffbündel aussah »Das sind Schiffe, nicht wahr?«, fragte Imi. »Vater hat sie mir einmal beschrieben.«

Rissi warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Boote. Du hast noch nie zuvor Boote oder Schiffe gesehen, oder?«

»Nein.«

»Wenn das der Ort ist, an dem sich die Seeglocken befinden, dann waren die Landgeher vor uns da«, sagte Rissi mit unüberhörbarer Enttäuschung.

»Das kommt darauf an.«

»Worauf?« Er drehte sich stirnrunzelnd zu ihr um.

»Ob sie sie schon alle geerntet haben. Wenn es so wäre, wären sie nicht immer noch hier, oder?«

Rissi blickte nachdenklich drein, doch dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was willst du damit andeuten? Dass wir uns hinschleichen und ein paar Glocken holen sollten? Was ist, wenn sie uns sehen? Sie werden uns töten.«

»Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass sie uns nicht sehen.«

»Aber…«

Sie ließ sich unter die Oberfläche sinken und schwamm auf einen Felsen zu, der sich näher bei den Booten befand. Als sie dahinter auftauchte, spähte sie vorsichtig zu den Landgehern hinüber.

Von hier aus waren sie leichter zu erkennen. Sie beobachtete, wie sie anscheinend auf einer ebenen Fläche oben in ihren Schalen hin und her liefen. Mehrere Seile hingen von den Schalen ins Wasser.

Sie bemerkte eine Bewegung im Wasser – den Kopf eines Landgehers. Er trieb neben dem Boot, und sie hörte eine ferne, kehlige Stimme. Einer der Landgeher im Boot beugte sich herab. Der Schwimmer hielt einen Beutel empor, den der andere Mann aufs Deck zog. Die hellbraune Haut des Tauchers verschwand wieder im Wasser.

Rissi erschien neben ihr.

»Die Seeglocken müssen dort drüben sein«, sagte sie. »Sie tauchen nach ihnen.«

»Was bedeutet, dass wir uns nicht an sie heranschleichen können«, erwiderte er.

»Nicht jetzt«, sagte sie. »Aber sie müssen irgendwann aufhören. Ich habe gehört, dass Landgeher nicht allzu lange Zeit im Wasser verbringen können, weil sie dann Probleme mit ihrer Haut bekommen.«

Der Kopf des Landgehers erschien abermals über der Oberfläche. Der Mann trieb nur einen Augenblick durchs Wasser, bevor er wieder abtauchte.

»Außerdem können sie nur für kurze Zeit den Atem anhalten«, murmelte Rissi. »Obwohl wir nicht lange hierbleiben können. Wir werden Stunden brauchen, um in die Stadt zurückzukommen, und ich möchte nicht bei Dunkelheit schwimmen.«

»Die Dunkelheit… Wir könnten bis zum Einbruch der Nacht warten, und uns dann hinschleichen, während sie schlafen«, sprach Imi ihren Gedanken laut aus.

»Nein! Ich habe schon genug Schwierigkeiten! Wenn ich heute Abend nicht zurück bin, wird mein Vater mich nie wieder mitnehmen.«

Sie sah Rissi an, kam aber zu dem Schluss, dass sie seine Meinung nicht würde ändern können, indem sie ihn damit aufzog, dass er ein Angsthase sei. Ihm stand der Sinn nicht mehr nach Prahlerei.

Sie wandte sich zu dem Boot um und sah den Schwimmer erschöpft aus dem Wasser klettern, während ein anderer Taucher seinen Platz einnahm. Also tauchten sie abwechselnd. Es bestand keine Hoffnung, dass sie eine Pause einlegen und ihr damit die Gelegenheit geben würden, sich einige der Seeglocken zu holen.

Ein Spritzen in der Nähe des Bootes erregte die Aufmerksamkeit der Landgeher. Einer streckte die Hand aus, und Imi sah einen großen Pfeilvogel an die Oberfläche kommen, einen zappelnden Fisch im Schnabel. Der Vogel warf seine Beute ab und schwang sich wieder in die Luft.

»Eine Ablenkung«, sagte sie. »Wir müssen sie ablenken.«

Rissi runzelte die Stirn. »Wie?«

»Keine Ahnung. Hast du vielleicht irgendwelche Ideen?«

Er blickte zu den Booten hinüber. »Meinst du, sie haben schon einmal Elai gesehen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Du könntest sie ablenken, während ich die Seeglocken hole.«

»Ich? Nein. Das war meine Idee. Du lenkst sie ab, während ich die Seeglocken hole.«

»Das ist ungerecht. Was ist, wenn sie…«

»Was?«

»Wenn sie Speere oder etwas in der Art haben.«

Sie bedachte ihn mit einem wohlbemessenen Blick. »Dann wäre es also besser, wenn sie mich mit ihren Speeren erwischen und nicht dich?«

Er verzog das Gesicht. »So habe ich das nicht gemeint. Aber es ist gefährlich.«

»Dann… müssen wir ihnen ein anderes Ziel geben. Ich hab’s! Es ist mir gerade eingefallen. Etwas, das sie nicht nur zwingt, hinzuschauen, sondern das auch die Taucher aus dem Wasser holt.«

»Was?«

»Eine Flarke.«

Bei der Erwähnung des grimmigen Seeräubers erbleichte er. »Wie sollen wir eine von ihnen finden und dazu bewegen, sie zu fressen und nicht uns?«

Sie lachte. »Das brauchen wir gar nicht. Ich habe die Flarken-Kostüme der Sänger aus der Nähe gesehen. Sie sind aus den Stacheln der Stachelmatten gemacht. Wir werden eine große Matte suchen und einige Stacheln davon abbrechen. Dann werden wir sie dir auf den Rücken binden. Du schwimmst herum wie eine Flarke – weit genug entfernt, um es ihnen unmöglich zu machen, dich mit ihren Pfeilen zu erreichen. Die Landgeher werden es nicht wagen, ins Wasser zu kommen.«

Er schwieg, und sie spürte, dass er beeindruckt war. Einen Moment später sah er sie mit einem breiten Grinsen an.

»Ja. Das würde Spaß machen.«

»Dann lass uns einige Stachelmattenfische suchen«, sagte sie und tauchte ab, ohne sich davon zu überzeugen, dass er ihr folgte.

Stachelmattenfische waren in jedem Riff verbreitet. Sie brauchten nicht lange, um einen mit Stacheln von der Größe einer Flarke zu finden. Es war nicht leicht, sie abzubrechen, und Imi hatte Mitleid mit dem Tier, als es langsam von ihnen wegkroch und Blut aus den Stellen quoll, an denen sie die Stacheln abgerissen hatten. Allerdings würden die Stacheln irgendwann wieder nachwachsen.

Sie hatte vermutet, dass es schwierig sein würde, die Stacheln auf Rissis Rücken zu befestigen, aber er löste das Problem, indem er ein Stück von einem breiten, ledrigen Seegras abriss und es zu einem Wams formte. Dann bohrte er mit seinem Messer Löcher in den unteren Teil jedes Stachels, schob die Stacheln in die Rückseite des Wamses und befestigte sie dort.

Außer Sichtweite der Boote übte Rissi sich darin, auf eine Art und Weise an die Oberfläche zu schwimmen und wieder abzutauchen, die nur die Stacheln sehen ließ.

»Deine Füße ragen aus dem Wasser«, warnte Imi ihn.

»Wenn ich sie zusammendrücke, werden sie aussehen wie eine Schwanzflosse«, antwortete er grinsend.

»Flarken-Flossen bewegen sich seitwärts, nicht auf und ab.«

Er machte ein langes Gesicht. »Oh. Ja. Das stimmt. Also gut, ich werde die Füße unten halten.«

»Bist du so weit?«

Er zuckte die Achseln. »Bist du es?«

Sie nickte. »Ja!«

»Dann legen wir mal los – und wir sollten uns beeilen. Wer weiß, wie lange sie auf den Trick hereinfallen werden.«

Sie schwammen zurück zu dem Felsen und beobachteten die Landgeher so lange, bis sie genau wussten, wo sich ein jeder befand. Imi sah Rissi erwartungsvoll an. Er erwiderte einen Moment lang ihren Blick, dann nickte er und ließ sich ohne ein weiteres Wort unter Wasser sinken.

Während sie beobachtete, wie er wieder an die Oberfläche kam, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Als die Stacheln schließlich aus dem Wasser aufragten, hielt sie den Atem an und schaute zu den Landgehern hinüber, um festzustellen, ob sie es bemerkt hatten.

Sie waren alle mit ihrer Arbeit beschäftigt.

Die Stacheln durchbrachen abermals die Oberfläche, aber die Landgeher bemerkten noch immer nichts. Rissi bewegte sich hin und her und tauchte manchmal jäh unter die Oberfläche ab. Imi wurde klar, dass er vermutlich schon einmal eine Flarke beobachtet hatte und ihr Verhalten nachahmte.

Ein lauter Ruf lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Landgeher. Sie hatten die Stacheln endlich bemerkt. Imi grinste, als sie in der Arbeit innehielten und mit einem Mal ängstlich in dem Boot auf und ab liefen. Einer der Landgeher schlug mit einem harten Gegenstand auf die Außenseite des Bootes. Sie konnte das dumpfe Geräusch deutlich hören. Dann erschien ein Kopf neben dem Boot, und Triumphgefühl stieg in ihr auf, als der Schwimmer hastig an Bord kletterte.

Jetzt bin ich an der Reihe, dachte sie.

Sie holte tief Luft, tauchte unter und schwamm mit kräftigen Zügen auf die Boote zu. Als sie die langgezogenen Schatten über ihr sah, begann ihr Herz vor Aufregung, Furcht und Anstrengung zu hämmern.

Sie blickte hinunter und hätte um ein Haar vor Staunen den Atem ausgestoßen.

Ihr Vater hatte sie einmal aus der Stadt geführt, um ihr einen Wald zu zeigen. Den Anblick des Gewirrs von Zweigen und Blättern hatte sie nie vergessen. Als sie jetzt auf die Zweige der Seeglockenpflanzen hinunterschaute, die sich sanft in der Meeresströmung wiegten, sah es so aus, als betrachte man einen Wald von oben.

Und es war fast so, als schaue man sich den Nachthimmel an. An jedem Zweig und jedem Stängel waren schwache, nadelspitzenfeine Lichter zu erkennen. Als sie näher heranschwamm, wurde ihr klar, dass dies die Seeglocken waren. Eine jede war mit winzigen, leuchtenden Punkten gefüllt.

Sie hatte nicht gewusst, dass sie leuchteten. Als sie die hin und her wogenden Fäden und ihre Lichter erreichte, streckte sie die Hand aus und berührte eine der Pflanzen. Sie fühlte sich überraschend weich an – ganz anders als die harten, durchscheinenden Glocken, die sie bisher gesehen hatte. Sie griff nach dem Messer, das Rissi ihr geliehen hatte, und zog die Klinge vorsichtig durch den Stiel.

Sobald die Glocke von der Pflanze abgetrennt war, erstarb das Licht. Sie fühlte sich ein wenig schuldig; es war eine Schande, die Pflanzen zu verstümmeln. Sie waren so hübsch.

Dann dachte sie an ihren Vater und an all die Mühen, die sie auf sich genommen hatte, um hierherzugelangen, und schnitt weitere Glocken ab. Während Rissi sein Flarken-Kostüm gemacht hatte, hatte sie aus einem anderen Seegras einen groben Beutel hergestellt, in den sie die Glocken jetzt hineinlegte.

Ein Spritzen über ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit nach oben. Sie sah die Silhouette eines Landgehers, und ihr Herz hörte auf zu schlagen.

Der Taucher ist zurück!

Sie hielt den Beutel mit einer Hand geschlossen und jagte davon.

Sie müssen begriffen haben, dass sie auf eine Illusion hereingefallen sind! Oder vielleicht ist das Kostüm auch auseinandergebrochen. Oder

Etwas drückte sich an ihr Gesicht, glitt über ihre Haut und umschlang sie, bevor sie reagieren konnte. Seile. Feine, zu einem Netz gewobene Seile. Sie breitete die Arme aus, aber das Netz raubte ihr jede Bewegungsfähigkeit.

Du darfst nicht in Panik geraten!, sagte sie sich. Jetzt, da sie gefangen war, wurde ihr bewusst, wie dringend sie Luft brauchte. Sie hatte von Elai gehört, die in den Netzen der Landgeher ertrunken waren, aber sie kannte auch Geschichten von Leuten, die sich aus solchen Netzen befreit hatten. Eines wusste sie mit Bestimmtheit: Wenn sie um sich schlug, würde sich das Netz nur umso fester um sie herum zusammenziehen. Ich muss ruhig bleiben und mir langsam einen Weg ins Freie erkämpfen.

Als sie das Netz untersuchte, sah sie, dass die Lücken in dem Gewebe groß genug waren, um es den meisten Fischen zu ermöglichen, hindurchzuschwimmen. Das Netz dehnte sich zu beiden Seiten auf eine Art und Weise aus, die die Vermutung nahelegte, dass es um die Seeglocken herumgespannt war. Als ihr die mögliche Bedeutung aufging, begann ihr Herz von neuem zu hämmern. Hatten diese Landgeher das Netz hier ausgelegt, um Raubtiere fernzuhalten oder Elai?

Sie wollte die Antwort auf diese Frage nicht herausfinden. In einer Hand hielt sie den Beutel mit Seeglocken, in der anderen Rissis Messer. Sie brauchte beide Hände, um das Netz aufzuschneiden. Also klemmte sie sich den Beutel zwischen die Zähne und bearbeitete das Netz, bis sie ein Loch hineingeschnitten hatte, das groß genug für den Beutel war. Sie zwängte ihn hindurch und ließ ihn los. Er sank langsam auf den sandigen Meeresboden hinab.

Jetzt machte sie sich daran, ihre Arme zu befreien. Doch gerade, als sie einen Arm freibekommen hatte, ging ein Ruck durch das Netz.

Sie blickte auf, und ihr Herz krampfte sich vor Furcht zusammen, als sie sah, dass das Netz sich langsam emporbewegte.

Noch nicht!, dachte sie, während sie verzweifelt an den Maschen sägte. Wieder ging ein Ruck durch das Netz, und es zog sich enger um sie zusammen. Sie bearbeitete die Maschen wie eine Wahnsinnige. Ein Nachlassen des Wasserdrucks sagte ihr, dass sie sich emporbewegte, und sie stellte fest, dass ihr Oberkörper bereits frei war. Doch das Gewirr der Seile um ihre Beine zog sie mit den Füßen voran weiter nach oben. Die Oberfläche kam jetzt rasch näher, ebenso wie der dunkle Rumpf des Bootes. Sie hörte Stimmen.

Panik wallte in ihr auf, und sie hackte auf das Netz ein. Die Klinge verfing sich und entglitt ihrer Hand. Sie wand sich und versuchte danach zu greifen, aber sie bekam nur Wasser zu fassen. Das Sonnenlicht blitzte kurz auf der Klinge auf, dann versank sie.

Das Netz spannte sich um ihre Beine, und im nächsten Moment wurde sie emporgezogen.

Nein!, kreischte sie in das Wasser und wand sich hin und her, um ihre Beine zu befreien, aber mit dem nächsten Ruck wurde sie über die Oberfläche gezogen. Sie sog frische Luft in ihre Lunge und versuchte dann abermals, die Hände nach ihren Knöcheln auszustrecken. Sie hörte Stimmen über ihr. Wütende Stimmen. Einer der Landgeher brüllte ein Wort.

Dann zerrten fremde Hände an ihr. Sie wehrte sich und trat um sich, immer noch kreischend vor Entsetzen. Sie spürte die harte Kante des Bootes unter sich, dann fiel sie auf eine glatte Oberfläche.

Die Hände ließen von ihr ab. Sie hörte auf zu schreien und starrte, keuchend vor Angst, zu den Landgehern empor. Auch sie blickten sie an, und ihre bleichen, faltigen Gesichter waren vor Abscheu verzerrt.

Sie wechselten einige Worte, dann musterte einer der Landgeher sie mit zusammengekniffenen Augen, bevor er den anderen einen Befehl zurief. Sie sahen ihn mit mürrischem Respekt an, und mit Ausnahme von einem zogen sie sich alle zurück.

Sie vermutete, dass derjenige, der die Befehle gebrüllt hatte, der Anführer war. Jetzt begann er mit dem, der zurückgeblieben war, zu reden. Imi richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Netz, das noch immer um ihre Knöchel gespannt war. Das Seil hatte sich schmerzhaft fest zusammengezogen. Wenn sie sich befreien könnte, brauchte sie nur aufzuspringen und über den Rand des Bootes ins Wasser abzutauchen.

Aber das Seil ließ sich nicht lösen. Stattdessen fiel ein Schatten über sie, und ihr wurde klar, dass der Anführer sich vorgebeugt hatte. Als sie das Messer in seiner Hand sah, zuckte sie zurück, fest davon überzeugt, dass er sie töten würde. Sie hörte sich vor Angst wimmern.

Das Messer bewegte sich zu ihren Knöcheln hinab. Mit einigen sorgfältigen Schnitten befreite der Landgeher sie.

Er würde sie gehen lassen. Eine Woge der Erleichterung stieg in ihr auf, und unwillkürlich bedankte sie sich bei dem Mann. Er sah den zweiten Mann an, der lächelte.

Es war kein freundliches Lächeln. Imis Magen krampfte sich zusammen. Der Anführer blaffte abermals einen Befehl, und einer der anderen Männer warf ihm ein kurzes Seil zu. Erst als er sich wieder über ihren Knöchel beugte, begriff sie, was er vorhatte. Ihre Erleichterung zerstob, und sie versuchte aufzuspringen, aber er hielt ihr Bein mit festem Griff umfasst. Der zweite Mann packte sie grob an den Schultern. Sie kreischte abermals und schrie immer weiter, während der Anführer ihre Knöchel zusammenband. Sie rollten sie auf den Bauch, um ihr die Hände hinter dem Rücken zu fesseln, dann schleiften sie sie in die Mitte des Bootes, wo sie ihre Hände an einen Metallring banden.

»Was macht ihr da?«, rief Imi verzweifelt, während sie sich bemühte, sich in eine sitzende Position hochzuziehen. »Warum lasst ihr mich nicht frei?«

Die beiden Männer tauschten einen Blick, dann wandten sie sich ab und gingen davon.

»Ihr könnt mich nicht hier festhalten. Ich bin… ich bin die Tochter des Königs der Elai«, erklärte sie mit wachsendem Zorn. »Mein Vater wird seine Krieger aussenden, um euch zu töten!«

Keiner der Landgeher achtete auf sie. Sie wussten nicht, was sie sagte. Sie verstanden ihre Worte ebenso wenig, wie sie ihre Sprache beherrschte. Wie konnte sie ihnen mitteilen, wer sie war?

Einer der Landgeher in der Nähe kippte den Inhalt eines Beutels aus. Imi starrte die grüne Masse an, und als die Männer kleine Gegenstände aus dem Gewirr herauszupften, wurde ihr klar, dass es sich bei diesen schlaffen Strähnen um die empfindlichen Zweige und Wurzeln der Seeglockenpflanze handelte.

Die Landgeher hatten die Pflanzen aus dem sandigen Meeresboden gerissen.

Eine Woge der Übelkeit stieg in ihr auf, als sie begriff, was sie getan hatten. Im nächsten Jahr würde man von dieser Pflanze keine Glocken mehr ernten können. Die Landgeher hatten sie in ihrer Gier getötet.

Wie können sie sich zu einer so sinnlosen Verschwendung hinreißen lassen?, dachte sie. Und wie können sie so dumm sein! Wenn sie die Pflanzen unversehrt gelassen hätten, hätten sie im nächsten Jahr zurückkommen und weitere Glocken holen können.

Ihr Vater hatte recht. Die Landgeher waren abscheulich. Sie drehte die Hände hin und her, aber sie hatte keine Chance, an den Knoten heranzukommen, um ihn zu öffnen.

Rissi, schoss es ihr durch den Kopf. Er muss Vater sagen, wo ich bin. Sie mühte sich auf die Füße und suchte die Wasseroberfläche ab. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, bis sie eine Bewegung wahrnahm. Einen Kopf vielleicht.

»Rissi!«, schrie sie. »Sag Vater, wo ich bin. Sag ihm, dass man mich gefangen genommen hat. Sag ihm, dass er…«

Etwas schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht, und sie sank taumelnd auf die Knie. Der Anführer stand vor ihr. Er blaffte einige Worte und deutete mit seinen langen Fingern, zwischen denen die Schwimmhäute fehlten, auf sie.

Obwohl sie kein Wort verstehen konnte, war die Warnung sehr deutlich. Benommen sah Imi ihm nach, als er davonging.

Vater wird kommen, sagte sie sich. Er wird mich retten. Und wenn er kommt, wird er jeden einzelnen dieser abscheulichen Landgeher aufspießen, und sie werden es verdient haben.

14

Es war angenehm warm vor der Höhle, jetzt, da die spätsommerliche Sonne untergegangen war. Der Himmel war wolkenlos, und die Sterne über ihr woben einen dichten Teppich. Emerahl seufzte zufrieden.

»Das ist schon besser«, murmelte Mirar.

Vor zwei Tagen, als Mirar sich am Abend das erste Mal hinausgewagt hatten, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Felswand der bequemste Platz war. Obwohl sie jetzt seit vielen Tagen nicht einmal die schwächste Andeutung von Mirars Gedanken hatte auffangen können, war er dennoch nicht unsichtbar, daher verließ er die Höhle nur bei Dunkelheit. Die Siyee glaubten, sie sei allein, und sie wollte nicht, dass sich daran etwas änderte, bis sie und Mirar über ihre nächsten Schritte entschieden hatten.

Bei Nacht gab es nicht viel anderes zu tun, als die Sterne zu bewundern und zu reden. Sie hörte, wie Mirar Atem schöpfte, um zu sprechen.

»Ich habe heute über die anderen Wilden nachgedacht. Es ist möglich, dass einige von ihnen noch leben.«

Sie wandte sich zu ihm um. Das Sternenlicht fiel auf sein Gesicht. »Ich habe ebenfalls über sie nachgedacht, und ich habe mich gefragt, ob es besser oder schlechter für uns wäre, wenn wir sie finden würden.«

»Schlechter, wenn es dazu führt, dass die Götter von unserer Existenz erfahren.«

»Wie sollte das möglich sein?« Sie hielt inne. »Glaubst du, die anderen würden uns verraten?«

»Vielleicht nicht mit Absicht. Die Götter könnten möglicherweise ihre Gedanken lesen.«

Emerahl lächelte schief. »Wenn das möglich wäre, hätten die Götter sie schon vor langer Zeit gefunden und getötet«, wandte sie ein.

Mirar veränderte seine Position ein wenig. »Ja, wahrscheinlich.«

Sie blickte zu den Sternen auf. »Trotzdem, die anderen brauchen vielleicht unsere Hilfe.«

»Wenn sie so lange überlebt haben, brauchen sie unsere Hilfe nicht, davon bin ich überzeugt.«

»Ach ja? So wie du meine Hilfe nicht gebraucht hast?«

Er lachte leise. »Aber ich bin ein junger Narr und gerade mal tausend Jahre alt. Die anderen Wilden sind älter und weiser.«

»Dann wären sie vielleicht in der Lage, uns zu helfen«, erwiderte sie.

»Wie?«

»Wenn ich dich lehren konnte, deinen Geist zu verbergen, stell dir nur vor, was sie uns vielleicht beibringen können. Möglicherweise nichts, aber das wissen wir erst, wenn wir sie gefunden haben.«

»Willst du, dass ich dich auf dieser Suche begleite?« Emerahl seufzte. »Das hätte ich sehr gern, aber ich glaube nicht, dass es klug wäre. Wenn du recht hast und gewöhnliche Priester tatsächlich nicht in der Lage sind, Gedanken zu lesen…«

»Ich habe recht.«

»… dann dürfte mir keine Gefahr drohen, es sei denn, ich hätte abscheuliches Pech und würde dem Priester über den Weg laufen, der schon früher nach mir gesucht hat. Dem Priester, der im Gegensatz zu seinen Kameraden Gedanken lesen kann.«

»Andererseits gibt es erheblich mehr Menschen, die Leiard erkennen könnten«, sagte er.

»Ja.«

»Wenn die Götter nach mir suchen, könnten sie die Priester und Priesterinnen angewiesen haben, sie zu rufen, falls sie mich sehen. Außerdem werden die Traumweber wahrscheinlich nach mir Ausschau halten. Die Götter könnten auch ihre Gedanken überwachen.« Er stöhnte. »Es gibt so viele Menschen, die mich erkennen könnten. Warum hat sich Leiard bloß einverstanden erklärt, Traumweberratgeber der Weißen zu werden?«

»Er hat sicher geglaubt, es sei das Beste so.«

»Der Umgang mit den Göttern hat sich noch nie als das Beste erwiesen.« Er seufzte. »Wie lange werde ich mich noch verstecken müssen? Werde ich in dieser Höhle bleiben müssen, bis niemand mehr lebt, der mich erkennen könnte?«

»In diesem Fall würdest du niemals von hier fortkommen. Es sei denn, du hättest die Absicht, jemanden auszuschicken, der die Weißen ermordet.«

»Ist das ein Angebot?«

Sie lächelte. »Nein. Du wirst tun müssen, was ich getan habe – zum Eremiten werden. Du wirst lediglich mit den gewöhnlichsten und unwichtigsten Menschen Umgang haben.«

»Wenn ich ein Leben lang hierbleibe, brauche ich mir also nur noch um die Weißen Gedanken zu machen.«

»Wenn du allen Menschen aus dem Weg gehen willst, kannst du nicht hierbleiben. Ich habe den Siyee erzählt, dass ich jetzt, da ich vom Ende des Krieges erfahren habe, nach Hause zurückkehren würde«, sagte sie. »Sie werden zurückkommen, um festzustellen, ob ich noch hier bin.«

»Kennst du noch andere Verstecke?«

»Einige. Allerdings glaube ich nicht, dass du anderen Menschen zur Gänze ausweichen kannst oder dass du es überhaupt versuchen solltest. Du brauchst Menschen, oder der Riss in deiner Identität könnte wieder tiefer werden.«

»Ich habe dich.«

Sie lächelte. »Das ist wahr. Aber ich bin ein Mensch, zu dem Leiard eine starke Verbindung hat. Ich könnte deine Fähigkeit, Leiard zu akzeptieren, behindern. Du brauchst den Kontakt mit Menschen, die keine frühere Verbindung zu dir haben. Diese Siyee werden dir nichts Böses antun. Und du hast mir erzählt, dass du noch keinem von ihnen begegnet bist.«

»Was soll ich ihnen sagen, wer ich bin? Ich kann ihnen nicht erzählen, ich sei Mirar.«

»Nein. Du wirst abermals so tun müssen, als seist du jemand anderer.«

»Leiard?«

»Nein«, entgegnete sie entschieden. Gib dir einen neuen Namen und ein neues Aussehen, aber erfinde keine neuen Gewohnheiten oder persönlichen Merkmale dazu. Sei du selbst.«

»Welchen Namen soll ich benutzen?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich an deiner Stelle würde keinen Namen auswählen, den du nicht magst.«

Er kicherte. »Natürlich nicht.« Sie hörte, wie er mit den Fingern auf den Felsen trommelte. »Ich bin nach wie vor ein Traumweber, daher werde ich mir den Namen eines der unseren geben. Auf dem Weg in die Schlacht bin ich einem jungen Mann begegnet, der eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hatte. Voreingenommen und intelligent. Sein Name war Wil.«

»Wil? Ist das nicht ein dunwegischer Name? Du siehst nicht aus wie ein Dunweger.«

»Nein. Dann werde ich eben eine Silbe hinzufügen. Ich werde mich Wilar nennen.«

Emerahl nickte. »Also gut. Wilar. Wilar was?«

»Schuhmacher.« Er hob einen Fuß. In dem schwachen Licht konnte man die Sandalen, die er sich gemacht hatte, gerade noch erkennen.

»Eine nützliche Fähigkeit«, bemerkte sie.

»Ja. Leiard hat tatsächlich einige neue Dinge für mich gelernt. Ich war nie gezwungen, mir selbst Schuhe zu machen. Es gab immer genug Leute, die nur allzu glücklich waren, mir welche zu schenken.«

»Ah, die guten alten Zeiten«, sagte sie spöttisch. »Wie sehr wir doch die nimmer endende Bewunderung und Großzügigkeit unserer Anhänger vermissen.«

Er lachte. »Nur dass ihre Bewunderung dann doch ein Ende gefunden hat.«

»Das stimmt. Und ich vermisse sie nicht.«

Sie schwiegen sehr lange. Schließlich straffte sich Mirar, und sie machte Anstalten, sich zu erheben. Aber statt vorzuschlagen, dass sie in die Höhle zurückkehren sollten, drehte er sich nur zu ihr um.

»Du wirst fortgehen, nicht wahr?«

Sie sah ihn an und fühlte sich hin- und hergerissen. »Ich möchte mich tatsächlich auf die Suche nach den anderen Wilden machen«, erwiderte sie. »Aber das kann warten. Wenn du mich hier brauchst, werde ich bleiben.«

Er streckte die Hand aus und berührte ihr Gesicht. »Ich möchte, dass du bleibst«, sagte er. »Aber… du hast recht, was deine Wirkung auf mich betrifft. Du bist ein Anker, den loszulassen ich mich fürchte. Ich sollte deinem Rat folgen und die Gesellschaft anderer Menschen suchen.«

Sie griff nach seiner Hand. »Ich kann noch ein Weilchen bleiben. Es gibt keinen Grund zur Eile.«

»Das ist wahr. Nur dass ich mich jetzt bereits rastlos fühle. Ich denke, ich werde schon bald ziemlich unerträglich sein, wenn ich nicht etwas zu tun finde. Wenn ich könnte, würde ich mit dir gehen. Ich wünschte, du hättest einen Plan, bei dem ich dir behilflich sein könnte, aber ich bin dennoch froh, dass du versuchen willst, sie zu finden.« Er hielt inne. »Wir müssen in Verbindung bleiben.«

»Ja.« Als sie das sagte, spürte sie, wie ihr Wunsch, nach den Wilden zu suchen, zu fester Entschlossenheit wuchs. »Wir werden uns im Traum vernetzen. Ich kann dir dann mitteilen, welche Fortschritte ich mache.«

»Und gleichzeitig ein Auge auf mich halten?«

Sie lachte. »Eindeutig.«

Er zog die Hand zurück und lehnte sich wieder an die Felswand, dann legte er den Kopf schräg und blickte zu den Sternen empor. »Wie wunderschön«, murmelte er. »Wirst du dein Aussehen abermals verändern?«

Sie dachte nach. Wenn man Informationen sammelte, hatte es durchaus seine Vorteile, gut auszusehen, aber schön zu sein – und jung -, erwies sich im Allgemeinen als Hindernis, wenn man auf Reisen war. Die Menschen neigten dazu, schöne Frauen zu bemerken und in Erinnerung zu behalten. Sie stellten zu viele Fragen, und die Männer versuchten, sie zu verführen.

»Ja. Ich denke, ich werde zehn oder zwanzig Jahre hinzufügen.«

Er machte eine leise Bemerkung, von der sie nur das Wort »vermasselt« verstehen konnte. Es war schön zu wissen, dass er sich noch immer zu ihr hingezogen fühlte. Vielleicht würde sich eine Gelegenheit für eine kleine Tändelei bieten, wenn er Leiard akzeptiert hatte und wieder mit sich im Reinen war.

Sie lächelte. Je eher ich fortgehe, umso eher wird er seine Probleme lösen, und umso eher können wir diese Möglichkeiten erkunden. Wenn ich Zweifel an der Klugheit meines Unterfangens habe, werde ich mir diese Tatsache einfach ins Gedächtnis rufen. Immer noch lächelnd stand sie auf und kehrte in die Höhle zurück, um Vorbereitungen für den langen Prozess zu treffen, den die Veränderung ihres Alters erforderlich machte.


Imenja schenkte sich noch ein Glas Wasser ein, dann füllte sie auch Reivans Glas wieder auf.

»Nur noch ein Kandidat«, murmelte sie. »Es wird bald vorüber sein.«

Reivan nickte und versuchte, nicht allzu erleichtert zu wirken. Als sie den Raum betreten und begriffen hatte, dass sie im letzten Stadium eines so bedeutenden Ereignisses wie der Wahl der Ersten Stimme zugegen sein sollte, war ihr vor Ehrfurcht und Staunen schwindlig geworden.

Sie hatte voller Faszination beobachtet, wie jede der Stimmen die Augen schloss, sich mit den Obersten Götterdienern in Gebieten überall in Ithania in Verbindung setzte und laut das Abstimmungsergebnis für jeden Ergebenen Götterdiener verkündete. Die Gefährten sämtlicher Stimmen hatten die Ergebnisse auf einem riesigen Bogen Pergaments festgehalten. Als Imenja Reivan bedeutet hatte, das Gleiche für sie zu tun, war sie überwältigt gewesen, und als sie nach dem Pinsel gegriffen hatte, hatten ihre Hände vor Aufregung gezittert.

Nachdem sie eine Stunde lang die monotone Aufgabe, Striche auf das Pergament zu malen, ausgeführt hatte, war Langeweile an die Stelle der Faszination getreten. Nach zwei Stunden hatte sie zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass erst die Stimmen von einem Sechstel aller Regionen verzeichnet waren. Es würde ein langer Tag werden.

Die Domestiken brachten eine endlose Vielzahl von Delikatessen und Getränken herbei, als wollten sie sie für die monotone Arbeit des Tages entschädigen. Alle Gespräche wurden im Flüsterton geführt, um die jeweilige Stimme, die gerade Informationen zusammentrug, nicht abzulenken.

»Das wäre alles«, sagte Vervel. »Alle Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Willst du die erste Zählung übernehmen, Imenja?«

Die Zweite Stimme erhob sich und ging zu dem Pergamentbogen hinüber. Sie ließ den Finger langsam über die erste Kolonne gleiten, und ihre Lippen bewegten sich, während sie die Zahlen addierte. Als sie das Ende der Kolonne erreicht hatte, griff sie nach dem Pinsel und schrieb die Summe auf, dann machte sie sich daran, die Striche in der nächsten Kolonne zusammenzuzählen.

Auch dieser Vorgang kostete viel Zeit, aber Reivan stellte fest, dass ihre Spannung wuchs. Wenn Imenja fertig war, würden sie wissen, wer ihr neuer Anführer sein würde. Sie blickte zu den Gefährten hinüber. Auch sie verfolgten das Geschehen mit angespannter Miene.

Man konnte ein leises Kratzen hören, als Imenja mit dem Finger über ein Pergament fuhr. Wann immer sie innehielt, um das Ergebnis zu notieren, betrachtete Reivan sie forschend. Reivan hatte sich die Namen eingeprägt und wusste, für welchen Ergebenen ihre Herrin die Ergebnisse zählte. Aus den Strichlisten, die sie selbst niedergeschrieben hatte, wusste sie auch, welche Kandidaten besonders beliebt waren. Aber als Imenja bei dem einen Ergebnis die Brauen hochzog und bei einem anderen die Stirn runzelte, konnte Reivan nicht beurteilen, ob ihre Herrin erfreut, entsetzt oder einfach nur überrascht war.

Als Imenja fertig war, richtete sie sich auf und sah Vervel an. Er erwiderte ihren Blick, dann zuckte er die Achseln. Karkel, Vervels Gefährte, erhob sich halb von seinem Stuhl, setzte sich jedoch wieder hin, als Vervel ihn mit einem Kopfschütteln ansah.

Sie werden es uns also noch nicht eröffnen, dachte Reivan. Werden sie uns das Ergebnis mitteilen, wenn die anderen die Zählung bestätigt haben? Oder werden wir bis zu der öffentlichen Ankündigung warten müssen?

Jetzt machte Vervel sich daran, die Stimmen zu zählen. Außerstande, die Spannung zu ertragen, wandte Reivan sich ab. Auf dem Tisch neben ihr stand eine Schale mit Nüssen und getrockneten Früchten. Obwohl sie nicht den mindesten Hunger hatte, begann sie zu essen. Als Shar erklärte, dass er mit seiner Zählung fertig sei, war die Schale halb leer. Imenja rollte das Pergament zusammen und sah die vier Gefährten lächelnd an.

»Lasst uns gehen und einem Ergebenen Götterdiener eine freudige Nachricht überbringen und einer Menge Menschen einen Grund zum Feiern geben.«

Die Gefährten erhoben sich. Reivan bemerkte den resignierten Ausdruck auf ihren Gesichtern. Also werden wir wie alle anderen auch abwarten müssen, dachte sie mit einem Lächeln. So viel zu der Behauptung, ich sei Imenjas bevorzugtes Schoßtier.

Sie folgten den Stimmen aus dem Raum. Zwei Domestiken, die mit Essenstabletts auf die Tür zukamen, hielten inne und neigten den Kopf, als die kleine Gruppe wichtiger Persönlichkeiten vorbeiging. Reivan drehte sich noch einmal kurz um und sah, dass sie bedeutungsvolle Blicke austauschten, bevor sie davoneilten.

Schon bald bemerkte sie auch andere Domestiken und einige Götterdiener, die um Ecken oder durch Türen spähten. Sie fing erregtes Getuschel auf und hörte immer wieder eilige Schritte. Eine wachsende Erregung durchdrang das Sanktuarium. Ferne Rufe waren zu hören, gedämpft durch Mauern oder Türen. Irgendwo erklang eine Glocke. Die Stimmen verließen die innersten Flure des Oberen Sanktuariums und bogen in den Hauptflur des Mittleren Sanktuariums ein. Reivan konnte einige Götterdiener vor sich sehen; sie strebten der Gruppe jener entgegen, die sich für die Ankündigung versammelt hatten.

Der Flur des Mittleren Sanktuariums endete auf einem großen Innenhof. Imenja und die anderen Stimmen schritten, gefolgt von den Gefährten, über den Hof und betraten eine luftige Halle. Eine Schar schwarzgewandeter Menschen füllte den Raum. Reivan erkannte die Gesichter vieler Ergebener Götterdiener. Sie fragte sich, wie lange sie hier schon gewartet haben mochten.

Das allgemeine Geplapper erstarb, und alle wandten sich den Stimmen zu, aber die Anführer der Pentadrianer blieben nicht stehen. Sie durchquerten die Halle und nahmen am oberen Ende der Haupttreppe Aufstellung. Als sie dort erschienen, wurden sie von tosendem Stimmengewirr begrüßt. Die Bewohner Glymmas und jene, die in die Stadt gereist waren, um die Wahl der neuen Ersten Stimme mitzuerleben, bildeten eine gewaltige Masse emporgewandter Gesichter und winkender Arme.

Die vier Stimmen standen nebeneinander. Reivan, die sich hinter ihnen befand, konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie schloss die Augen und ließ sich vom lauten Jubel der Menge umspülen.

»Meine lieben Freunde und Pentadrianer«, übertönte Imenja den Lärm.

Die Jubelrufe verstummten langsam. Reivan schaute an Imenja vorbei und sah viele unnatürlich leuchtende Augen in der Menge; etliche der Anwesenden hielten Flaschen und Becher in Händen. Sie kicherte leise in sich hinein.

Es war eine lange Wartezeit. Wahrscheinlich mussten sie sich irgendwie unterhalten.

»Liebe Freunde und Pentadrianer«, wiederholte Imenja. »Wir haben die Stimmen von Götterdienern aus allen Teilen der Welt eingeholt. Der Tag war lang, aber diese Aufgabe war zu wichtig, um sie zu überstürzen. Die abgegebenen Stimmen sind gezählt worden.« Sie hielt die beeindruckend lange Pergamentrolle hoch. »Wir haben eine neue Erste Stimme!«

Die Menge brach abermals in Jubel aus.

»Tretet vor, Ergebene Diener der Götter!«

Aus der Halle hinter ihnen kamen Männer und Frauen die Treppe herunter. Sie formierten sich zu einer langen Reihe am Fuß der Treppe und blickten zu den Stimmen empor.

Einer von ihnen hat die meisten der Götterdiener davon überzeugt, dass er oder sie einen guten Anführer abgeben wird, dachte Reivan. Sie führte sich all die historischen Berichte vor Augen, die sie gelesen hatte, all die philosophischen Erörterungen der Eigenschaften, die einen guten Anführer ausmachten. Verfügt einer dieser Kandidaten wirklich über die richtigen Eigenschaften? Was ist, wenn keiner die Anforderungen erfüllt? Würden die Götter dann eingreifen? Sie runzelte die Stirn. Das wäre ein Schlag ins Gesicht. Es würde andeuten, dass die meisten Götterdiener nicht wussten, nach welchen Kriterien man einen guten Anführer auswählte.

Und vielleicht wissen sie es wirklich nicht. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich. Wie hätten sie dann entschieden? Sie überlegte, was sie selbst getan hätte, wäre sie eine Götterdienerin gewesen, die weit entfernt von Glymma lebte. Wahrscheinlich hätte ich von Anfang an niemanden in Erwägung gezogen, der Ärger gestiftet oder große Fehler gemacht hat. Es würde helfen, wenn einer dieser Leute bereits bewiesen hätte, dass er zum Anführer taugt und gute Entscheidungen treffen kann. Ich glaube, ich würde jemanden vorziehen, der im Krieg gekämpft hat, aber unterm Strich wäre meine Entscheidung wohl ein Glücksspiel, basierend auf den Informationen, die ich hätte. Ich würde niemanden wählen, den ich nicht mag. Das würde niemand tun.

Der letzte der Ergebenen Diener nahm seinen Platz ein, und Imenja hielt abermals die Pergamentrolle hoch. Sie wartete, bis alle still waren – jedenfalls so still, wie man es von einer halb betrunkenen Menge erwarten konnte. Dann entrollte sie das Pergament.

»Die Diener der Götter haben den Ergebenen Nekaun zur neuen Ersten Stimme gewählt. Tritt vor, Nekaun.«

Als die Menge abermals in Jubel ausbrach, legte sich unwillkürlich ein Strahlen über Reivans Züge. Sie dachte an den Tag ihrer Weihe zurück, als dieser Mann sie nicht nur beglückwünscht, sondern ihr auch seinen Rat angeboten hatte.

Oh, gut, dachte sie.

Sie schaute an Imenjas Schulter vorbei und beobachtete, wie Nekaun vortrat. Er wirkte ruhig und gelassen, aber in seinen Augen stand brennende Erregung. Ich hätte ihn gewählt, dachte sie. Er hat noch nie irgendwelche großen Fehler gemacht, er hat einige Jahre lang den Tempel von Hrun geleitet, und er hat im Krieg gekämpft. Er ist umgänglich und freundlich. Und obendrein ist er ein gutaussehender Mann. Das kann für einen Anführer von Vorteil sein! Was könnten die Götter sich mehr wünschen? Sie sah bewundernd zu, wie er einige Schritte vor Imenja stehen blieb und das Zeichen des Sterns schlug.

Imenja reichte Genza das Pergament, und die andere Frau rollte es langsam wieder zusammen. Dann zog Imenja einen Sternenanhänger aus ihrer Robe und hielt ihn in die Höhe. Langsam breitete sich Stille in der Halle aus.

»Nimm dieses Symbol der Götter an«, sagte sie, »und indem du das tust, entscheidest du dich für eine Ewigkeit des Dienstes an ihnen und an ihrem Volk. Du wirst die Stimme werden, durch die sie zu den Sterblichen sprechen. Du wirst die Hand werden, die zu unserem Wohle arbeitet und die unsere Feinde niederschlägt.«

Er griff langsam nach der Kette, dann neigte er den Kopf. »Ich nehme die Last und die Verantwortung an«, erwiderte er.

Er schloss die Augen und streifte sich die Kette über den Kopf. Reivan sah, wie er sich versteifte und ein Ausdruck tiefen Staunens über seine Züge glitt. Schließlich richtete er sich wieder auf, blickte zu Imenja empor und lächelte.

»Die Götter haben mich akzeptiert.«

»Dann nimm jetzt deinen Platz unter uns ein«, beendete Imenja die rituelle Formel.

Noch immer lächelnd, trat er an ihre Seite und wandte sich der Menge zu.

»Volk von Glymma und aller übrigen Orte des südlichen Kontinents. Heißt ihr Nekaun, die Erste Stimme der Götter, willkommen?«, fragte Imenja.

Die Menge antwortete mit zustimmendem Gebrüll.

Imenja wandte sich wieder Nekaun zu. »Willst du eine Ansprache an das Volk halten?«

»Ja.« Er wartete, bis Stille eingekehrt war. »Mein Volk. Während ich jetzt hier vor euch stehe, empfinde ich sowohl Freude als auch Kummer. Freude darüber, dass mir die wunderbarste Gelegenheit geschenkt wurde, den Göttern zu dienen, die ein Mann oder eine Frau nur erhoffen kann. Kummer darüber, dass ich den Platz eines Mannes einnehme, den ich bewundert habe. Ich übernehme bereitwillig dieselben Pflichten, die er getragen hat, denn unsere Ziele sind dieselben. Wir müssen die Welt von den heidnischen Zirklern befreien. Aber fürchtet nicht, dass ich euch in einen weiteren Krieg führen werde. Diesen Versuch haben wir gewagt und sind, sei es durch unglückliche Umstände oder den Willen der Götter, gescheitert. Ich sehe noch einen anderen Weg, unser Ziel zu erreichen. Wir müssen ihnen ihren Fehler zeigen und sie zu den wahren Göttern führen. Wir müssen sie mit sanfter Beharrlichkeit, durch Überzeugungskraft und vernünftige Argumente auf unsere Seite ziehen. Denn ich glaube, dass Wahrheit und Wissen machtvolle Kräfte sind, Kräfte, die zu unseren Gunsten sprechen. Wenn wir uns dieser Kräfte bedienen, können wir nicht scheitern.« Er hob die Arme. »Mit ihrer Hilfe werden wir Nordithania erobern!«

Es ist nicht die Fackel, die Kuar mit seiner flammenden Rede vor der Schlacht an das Öl eines glorreichen Krieges gehalten hatte, ging es Reivan durch den Kopf. Die Menge tobte dennoch, angeheizt von der Erregung dieses bedeutenden Ereignisses, ebenso wie vom Alkohol und vielleicht auch von der Erleichterung darüber, dass es für den Augenblick keinen neuen Krieg geben würde.

Während Imenja abermals das Wort an die Menge richtete, dachte Reivan über Nekauns Ziel nach. Er will die Zirkler also bekehren, überlegte sie. Welche Pläne er in dieser Hinsicht wohl haben mag? Wird er Götterdiener nach Nordithania schicken, um die Menschen dort für sich zu gewinnen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn mit offenen Armen willkommen heißen wird.

Imenja beendete ihre Ansprache. Nekaun blickte kurz zu ihr hinüber, dann setzte er sich an die Spitze der Stimmen und führte sie in die Halle zurück. Reivan und die Gefährten folgten. Als sie im Innern des Gebäudes ankamen, wurden sie von Götterdienern umlagert, die ihrem neuen Anführer ihre Glückwünsche aussprechen wollten. Reivan fragte sich, wie viele von ihnen begriffen hatten, welche Pläne Nekaun möglicherweise mit ihnen hatte. Eine Reise nach Nordithania, um Zirkler zu bekehren, könnte durchaus gefährlicher sein als ein Krieg.

Ich beneide sie nicht um diese Aufgabe, dachte sie. Dann wurde ihr mit einem Mal klar, dass auch sie durchaus dafür in Frage kam. Aber sollte ich mir nicht wünschen, hingeschickt zu werden? Sollte ich nicht bereit sein, alles für die Götter zu tun?

Ich bin unbefähigt und nur eine Dienernovizin. Ich bin hier, im Dienst von Imenja, von größerem Nutzen.

Dennoch würde sie in dieser Angelegenheit vielleicht keine Wahl haben. Was war, wenn Nekaun sie bat, nach Nordithania zu gehen? Was, wenn sie sich in einer Situation wiederfand, in der er sie aus dem Weg haben wollte? Für den Augenblick konnte sie keinen Grund dafür entdecken, aber dies war die Welt der Politik und der Begünstigungen. Alles konnte sich verändern.

Dann gibt es nur eins, was ich tun kann, befand sie. Ich muss dafür sorgen, dass ich ihm keinen Grund liefere, mich wegschicken zu wollen.

15

In der Höhle war es dunkel, als Mirar erwachte. Nur ein schwacher Lichtschein vom Eingang war zu sehen. Emerahl wachte für gewöhnlich früher auf als er und ging hinaus, um die Eimer zu leeren und frisches Wasser zu holen. Er konnte sie nicht atmen hören, daher vermutete er, dass sie fort war. Nachdem er einen Lichtfunken geschaffen hatte, nährte er ihn, bis die ganze Höhle beleuchtet war.

Emerahl lag noch im Bett.

Sofort fiel es ihm wieder ein. Sie war damit beschäftigt, ihr Alter zu verändern. Er stand auf und ging zu ihrem Bett hinüber.

Er konnte nur ihr Gesicht sehen, aber es wies bereits die ersten schwachen Spuren der Veränderung auf. Die Haut, die zuvor jugendlich frisch und fest gewesen war, hing ein wenig lockerer über den Wangenknochen. Zarte Linien hatten sich um ihre Augen und ihren Mund gebildet, und einige Haarsträhnen waren ausgefallen und lagen jetzt als eine dünne goldene Schicht auf der groben Matratze, die sie angefertigt hatte.

Er hob einige der Strähnen auf. Sie hatte es nach und nach gefärbt, vermutete er. Mit jedem Mal ein wenig schwächer. Warum sollte sie ihr Haar färben?

Sie hat gesagt, sie sei vorher eine alte Frau gewesen, rief Leiard ihm ins Gedächtnis. Ihr Haar könnte weiß gewesen sein. Und es muss weiß geblieben sein, obwohl der Rest ihres Körpers eine jugendlichere Gestalt angenommen hat, aber von da an ist es in ihrer natürlichen Farbe nachgewachsen.

Ja, stimmte Mirar zu und besah sich die Strähne noch einmal. Sie muss das Weiß getilgt haben, zuerst mit billigem Pigment, dann mit der besseren Farbe, die das Bordell zur Verfügung gestellt hat.

Das Bordell. Er schüttelte seufzend den Kopf. Sie verfügte über solch große Gaben. Warum musste sie Zuflucht in der Prostitution suchen, wann immer sie sich verstecken musste?

Weil sie keine andere Wahl hatte, sagte Leiard.

Natürlich hatte sie eine Wahl. Mirar runzelte finster die Stirn. Sie hätte Waschfrau werden können oder Fischausweiderin.

Die Priester hätten sich alle weiblichen Gewerbe angesehen, die ein altes Weib vielleicht ergreifen könnte. Indem sie sich für ein Gewerbe entschied, das nur jungen Frauen offenstand, konnte sie sicher sein, dass sie niemals von einem Priester genauer untersucht werden würde.

Es klang vernünftig, gefiel Mirar aber trotzdem nicht. Das Risiko einer Entdeckung musste gering gewesen sein. Die Götter hatten nur einen einzigen Priester befähigt, Gedanken zu lesen.

Das wusste sie nicht, rief Leiard ihm ins Gedächtnis.

Mirar wünschte beinahe, er hätte ihr nicht erzählt, dass die Götter im Allgemeinen nicht dazu neigten, Priestern diese Gabe zu schenken. Jetzt, da Emerahl wusste, dass sie in Sicherheit war, würde sie die Welt durchstreifen wollen, um nach anderen Wilden zu suchen. Er betrachtete sie, und ein Stich der Sorge durchzuckte ihn.

Ich sollte sie begleiten, dachte er.

Das kannst du nicht, bemerkte Leiard. Das Risiko, dass man mich erkennt, ist bei weitem größer als in ihrem Fall. Ich würde uns nur alle in Gefahr bringen.

Mirar nickte zustimmend. Selbst im Schlaf spiegelte sich ihre Stärke in ihren Zügen. Oder vielleicht bildete er sich das nur ein. Sie wird zurechtkommen. Ich bezweifle, dass sie plötzlich leichtsinnig geworden ist, sagte er sich. Nein, sie wird mit derselben Vorsicht zu Werke gehen, die sie immer hat walten lassen. Er seufzte und wandte den Blick ab. Und ich? Ich soll mich unter Menschen begeben, um mich zu heilen. Was für eine Torheit!

Vielleicht war es nicht übermäßig töricht. Er würde sich unter die Siyee mischen – oder wahrscheinlicher einfach hierbleiben, bis sie ihn fanden.

Welchen Vorwand werde ich ihnen für meinen Aufenthalt hier liefern?, fragte er sich. Warum sollte ein Traumweber nach Si kommen?

Natürlich um seine Dienste als Heiler anzubieten, antwortete Leiard.

Die Heilkunst war immer das gewesen, worauf er sich am besten verstanden hatte. Schon als Kind hatte er ungewöhnliche Fähigkeiten in der Heilkunst an den Tag gelegt. Lange Jahre des Studiums und der Arbeit hatten seine Gabe verfeinert. Wann immer er geglaubt hatte, er habe die Grenzen seiner Kräfte erreicht, veranlasste ihn irgendetwas, über diese Grenzen hinauszugehen, und er entdeckte, dass er zu noch mehr imstande war. Eines Tages hatte dieses Geschehen seinen Gipfel in einem jähen Aufleuchten von Begreifen erreicht, und ihm war klar geworden, auf welche Weise er seinen Körper auf unbegrenzte Zeit gesund und jugendlich erhalten konnte.

Dies war der Augenblick, in dem er Unsterblichkeit erlangt hatte. Auch Emerahl hatte diesen Punkt erreicht. Allerdings verfügte sie nicht über das gleiche intuitive Einfühlungsvermögen in die Heilkünste, das er besaß. Ihre angeborene Gabe war das Vermögen, ihr Alter zu verändern.

Und die anderen Wilden? Er dachte an die ungewöhnlichen Menschen, die früher einmal frei in der Welt umhergestreift waren. Der Bauer war berühmt gewesen für sein Wissen über den Anbau von Getreide und die Züchtung von Vieh. Seine angeborene Gabe stand wahrscheinlich irgendwie damit in Verbindung. Die Seherin, auch das Orakel genannt, war in der Lage gewesen, den Weg vorherzusagen, den ein Mensch wahrscheinlich im Leben gehen würde, obwohl sie Mirar gegenüber einmal zugegeben hatte, dass sie nicht in die Zukunft sehen konnte, sondern einfach die Natur von Sterblichen nur allzu gut zu durchschauen vermochte.

Die Möwe hatte alles verstanden, was mit dem Meer zusammenhing. Er konnte Fischschwärme finden, vor Stürmen warnen und war angeblich imstande, in begrenztem Maß das Wetter zu verändern. Die Zwillinge… Mirar war sich nie ganz sicher gewesen, worin ihre Fähigkeiten bestanden. Er war ihnen nie begegnet, aber irgendjemand hatte ihm einmal erzählt, dass sie die Dualität aller Dinge in der Welt verstünden, dass sie Zusammenhänge und Gleichgewichte wahrnahmen, die jedem anderen verschlossen blieben.

Wo sich in dieser Gabe die Magie verbarg, wusste er nicht. Wahrscheinlich würde er es niemals herausfinden. Die beiden waren vermutlich vor hundert Jahren getötet worden, als der Zirkel der Götter beschlossen hatte, Ordnung in ihrer neuen Welt zu schaffen.

Die Götter sind wahrscheinlich die einzigen Wesen, die das wissen, dachte er.

Du könntest sie fragen, schlug Leiard vor.

Er lachte leise. Selbst wenn du damit nicht unseren Tod herbeiführen würdest, bezweifle ich, dass wir ihrer Antwort vertrauen könnten.

Er blickte wieder zu Emerahl hinüber. Sie hatte sich nicht bewegt, während er sie beobachtet hatte, außer um zu atmen. Das Heben und Senken ihrer Brust gestaltete sich so langsam, dass er sie geduldig beobachten musste, um überhaupt eine Veränderung wahrzunehmen.

Ich werde sie vermissen. Er runzelte die Stirn, erstaunt über die Sehnsucht, die diesen Gedanken begleitete. Es war nicht so, als hätte er nicht erwartet, so zu empfinden, aber das Gefühl war stärker, als er vermutet hatte.

Früher hast du nicht so für sie empfunden?, fragte Leiard. Liebst du sie?

Mirar ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Er empfand Zuneigung für sie und Sorge. Es würde ihm nicht gefallen, wenn ihr etwas zustieße oder sie Schmerzen litte. Er genoss ihre Gesellschaft, hatte ihre körperliche Gesellschaft bei den wenigen Malen, da sie Liebende gewesen waren, immer genossen – aber er war nach wie vor davon überzeugt, dass er keine romantischen Gefühle für sie hegte. Emerahl war eine Freundin.

Ja. Dir hat die Gesellschaft eines Ebenbürtigen gefehlt.

Das könnte sein, räumte er ein.

Dann wandte er den Blick ab und betrachtete noch einmal die Höhle. Er hatte Hunger. Sie hatte ihm erklärt, dass er während der Tage, die sie für ihre Veränderung benötigte, genug zu essen haben würde. Die Vorräte bestanden größtenteils aus Nüssen, frischen und getrockneten Früchten sowie getrocknetem Fleisch und einigen Wurzeln.

Nicht gerade ein inspirierender Speiseplan, ging es ihm durch den Kopf. Er sah zum Höhleneingang hinüber und dachte an die Shrimmi, die sie einmal gefangen und gekocht hatte. Ich glaube, es wird Zeit, dass ich ein wenig Tageslicht abbekomme. Wenn die Siyee vorbeifliegen und mich sehen, dann soll es eben so sein. Ich bezweifle, dass sie eine Bedrohung für Emerahl darstellen. Um sicherzugehen, werde ich ihnen erzählen, sie sei bereits aufgebrochen. Ich werde während der nächsten Tage wohl kaum jeden Augenblick hier in der Höhle sein müssen. Vielleicht kann ich für sie etwas Anständiges zu essen finden, bevor sie aufwacht.

Er griff nach dem Eimer, in dem sie Nahrung gesammelt hatte, und machte sich auf den Weg zum Tunnel und hinaus ins Tageslicht.


Erra betrachtete das eigenartige Kind, das mit angezogenen Knien auf dem Deck lag. Das Mädchen war, soweit er sehen konnte, vollkommen unbehaart. Zwischen den Fingern und Zehen seiner riesigen Hände und Füße spannten sich dicke Schwimmhäute. Seine Haut war unnatürlich dunkel, von einem bläulichen Schwarz. Gestern hatte sie geglänzt, aber jetzt sah sie stumpf und leblos aus.

»Sie bringen Ärger«, warnte ihn Kanyer. »Sie Kind. Erwachsene sie suchen kommen. Schlitzen uns im Schlaf die Kehlen auf.«

»Das hast du gestern Abend auch schon gesagt«, erwiderte Erra. »Und es ist niemand gekommen.«

»Warum du sie behalten?«

»Nur so eine Vermutung. Mein Pa pflegte zu sagen, dass man bei allem, was aus dem Meer kommt, irgendeinen Nutzen finden kann.«

»Inwiefern sie von Nutzen? Du denkst, Meeresvolk Dinge für sie eintauschen?«

»Vielleicht. Ich habe noch eine andere Idee. Silse meinte, er habe beobachtet, wie sie die Glocken pflückte. Er glaubte, sie müsse schon eine ganze Weile damit beschäftigt gewesen sein.«

Kanyer musterte das Mädchen voller Interesse. »Dann seien also wahr, sie atmen Wasser.«

Erra schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat keine Kiemen. Schau dir die Größe ihres Oberkörpers an. Gewaltige Lungenflügel. Das bedeutet wahrscheinlich, dass sie lange Zeit den Atem anhalten kann.« Er rieb sich das stoppelige Kinn. »Das wäre sehr nützlich für uns.«

»Du wollen, sie holen Glocken für uns?«

»Ja.«

»Sie wird nicht tun.«

»Sie wird, wenn wir ihr einen Grund geben.«

Erra ging zu dem Mädchen hinüber und schnitt die Seile auf, mit denen seine Knöchel gefesselt waren. Es wachte nicht auf, daher stieß er es mit dem Fuß an. Sein ganzer Körper zuckte, als es aus dem Schlaf aufschreckte, und es drehte den Kopf, um ihn anzustarren. Seine Lippen waren rissig, und die dünne Schicht über seinen Augen war rot. Er vermutete, dass es außerhalb des Wassers Schaden nahm, und schwache Gewissensbisse regten sich in ihm. Nun, sie hätte nicht versuchen sollen, meine Glocken zu stehlen.

Er beugte sich über den Lampenring und löste das Ende des Seils, mit dem sie dort festgebunden war.

»Steh auf.«

Sie bewegte sich langsam und mit argwöhnischer, verdrossener Miene.

»Komm hierher.«

Er zog sie zu den Körben mit Seeglocken hinüber und zeigte auf den letzten leeren Korb. Dann fuhr er mit der Hand über den Rand eines der gefüllten Körbe und wiederholte die Geste über dem leeren. Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er zeigte auf sie, dann auf das Meer, dann deutete er noch einmal auf den leeren Korb. Zu guter Letzt streckte er den Finger nach den Seilen aus und machte eine Bewegung, als durchschnitte er etwas, bevor er wieder auf Imi zeigte und schließlich aufs Meer hinaus.

Sie funkelte ihn an; offensichtlich verstand sie ihn, aber was er vorschlug, gefiel ihr nicht. Dennoch leistete sie keinen Widerstand, als er sie zum Rand des Bootes hinüberzog. Die Seeleute, die noch immer an ihrer Morgenmahlzeit kauten, beobachteten sie.

Er drehte sie um und band das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, los. Dann knotete er ihr ein neues, trockenes Seil um den Hals. Das Seil würde sich vollsaugen, wenn es nass wurde, so dass man es auf keinen Fall lösen konnte. Schließlich stieß er sie an und zeigte noch einmal auf das Wasser.

Sie musterte ihn einen Moment lang voller Groll, dann sprang sie über Bord. Sofort begann sie, an dem Seil zu zerren.

»Silse«, rief Erra.

Der Schwimmer kam herbeigeschlendert.

»Spring ins Wasser und behalte sie im Auge. Wenn es so aussieht, als könnte sie sich befreien, gib mir Bescheid. Dann ziehen wir sie wieder heraus.«

Der Mann zögerte. Wahrscheinlich belastete es das Gewissen des Narren, das Mädchen auf diese Weise zu benutzen. Oder fürchtete er, seinen Anteil an den Gewinnen zu verlieren?

»Worauf wartest du?«, knurrte Erra.

Silse zuckte die Achseln, dann sprang er ins Wasser. Das Mädchen hörte auf, an dem Seil zu reißen. Stattdessen betrachtete es Silse, der neben ihm dahintrieb. Nachdem es ihn lange Zeit angestarrt hatte, tauchte es plötzlich in die Düsternis ab, und das Seil zog sich hinter ihm her durchs Wasser.

Silse ließ sie nicht aus den Augen. Einen Moment später nahm er den Kopf aus dem Wasser.

»Sie tut es, aber sie pflückt eine Glocke nach der anderen ab.«

»Lass sie gewähren«, sagte einer der anderen Seeleute. »Das wird uns ein wenig Arbeit sparen.«

Erra nickte. Wenn es später darum ging, die Gewinne aufzuteilen, würde es weniger Ärger geben, wenn die anderen nicht behaupten konnten, Silse habe weniger geleistet als sie. Er zeigte auf einen der Beutel, in denen die Schwimmer die Seeglockenpflanzen nach oben gebracht hatten.

»Gib ihn mir.«

Sie warfen ihn ihm zu. Er ließ ihn neben Silse ins Wasser fallen.

»Wenn sie wieder hochkommt, gib ihr den Beutel«, befahl er dem Schwimmer, dann setzte er sich hin, um zu warten.

Sie kehrte früher zurück, als er erwartet hatte, aber sie hielt so viele Seeglocken in den Händen, wie sie fassen konnte. Silse machte sich unbeholfen daran, ihr den Verwendungszweck des Beutels zu erklären. Das Mädchen ignorierte ihn. Es warf die Glocken aufs Deck, packte den Beutel und verschwand wieder in der Tiefe.

Silse blickte auf, und Erra zuckte die Achseln.

Die Seeleute ließen sich lässig im Boot nieder. Einige von ihnen begannen ein Spiel. Das Mädchen kam noch drei- oder viermal an die Oberfläche, um Atem zu schöpfen. Jedes Mal wurde der Beutel in den Korb geleert und zurückgegeben.

Nach dem vierten Mal kam Erra zu dem Schluss, dass seine Idee bestens funktionierte. Er konnte sich ebenso gut ein Glas Schnaps genehmigen und es sich wohl sein lassen. Also hielt er Ausschau nach dem jüngsten Mitglied seiner Mannschaft, Darm, und entdeckte den Jungen oben auf dem Mast.

»Darm!«, brüllte er.

Der Junge zuckte zusammen. »Ja, Kapitän?«

»Komm runter.«

Der Junge löste seine dünnen Beine vom Mast und kletterte hinab. Erra griff in seine Tasche und förderte ein wenig Rauchholz zutage.

»Kapitän?«

Erra blickte auf. Der Junge hatte auf halbem Weg den Mast hinunter Halt gemacht und deutete auf die Klippen an einer Seite der Bucht.

»Segel!«, rief er. »Da kommt jemand.«

Sofort waren alle Seeleute auf den Beinen. Erra ging zum Mast hinüber, entschlossen, selbst nachzusehen, was sich jedoch als überflüssig erwies. Hinter den Klippen kam langsam der Bug eines Schiffs in Sicht.

Es war ein schon reichlich zerschundenes, aber stabiles Handelsschiff, größer als die Fischerboote. Erra kniff die Augen zusammen. Er konnte die Umrisse von Männern an Bord sehen; sie hatten an der Seite in Reih und Glied Aufstellung genommen. Als der Rest des Schiffes in Sicht kam, hoben die Fremden die Arme und winkten.

Erra war mit einem Mal flau im Magen. Sie hielten Schwerter in Händen.

»Plünderer!«, schrie Darm.

Erra fluchte. Selbst wenn sie mit gehissten Segeln gefahren wären und nicht in der Bucht gefangen säßen, wären seine Boote niemals schnell genug gewesen, um das Schiff abzuschütteln. Sie würden die Boote zurücklassen müssen – aber vielleicht konnten sie ihre Beute retten. Er wandte sich seiner Mannschaft zu. Die Männer waren bleich und machten den Eindruck, als hätten sie am liebsten das Weite gesucht.

»Wir müssen ans Ufer schwimmen!«, rief einer.

»Nein!«, brüllte Erra. »Noch nicht. Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor sie hier sein werden.« Er zeigte auf die Körbe mit Seeglocken. »Bindet sie zu, befestigt Gewichte an den Seilen und werft sie ins Wasser. Dann werden wir an Land schwimmen. Jeder, der nicht mithilft, bekommt am Ende nicht eine einzige Münze.«

Sofort brach hektische Betriebsamkeit aus. Mit hämmerndem Herzen packte Erra alles, was sich als Gewicht verwenden ließ, und band es an die Körbe. Er trieb die Mannschaft mit geheuchelter Zuversicht vorwärts. Die ersten zwei Eimer landeten klatschend im Wasser, dann ein dritter. Sofort versanken sie in der Tiefe.

»Sie kommen schnell näher!«, jammerte Darm. »Wir werden es nicht bis zum Ufer schaffen!«

Erra richtete sich auf, um zu dem Schiff hinüberzuschauen, das sich tatsächlich zügig näherte. Er schätzte die Entfernung ab, die sie würden schwimmen müssen.

»In Ordnung. Lasst die übrigen Körbe stehen. Sie sollen das Gefühl haben, Beute gemacht zu haben, sonst werden sie uns allein spaßeshalber verfolgen. Schwimmt!«

Ohne darauf zu warten, dass die anderen ihm folgten, tauchte er ins Wasser. Die Furcht verlieh ihm Kraft und Geschwindigkeit. Als er schließlich den Strand erreicht hatte, zog er sich mühsam hoch und blickte aufs Meer hinaus. Das Schiff hatte die Boote jetzt fast erreicht. Als seine Mannschaft aus dem Wasser auftauchte, stieß er einen Fluch aus und rannte dann auf den Wald zu.

Erst später, als er von einem Felsvorsprung aus die qualmenden Rümpfe der Boote betrachtete, fiel ihm das Meeresmädchen wieder ein. War sie klug genug gewesen, sich zu verstecken oder zu entfliehen, oder hatten sie sie gefunden? Er schickte Silse zurück, um nachzusehen, aber der Schwimmer konnte keine Spur von ihr entdecken. Er fand lediglich das durchschnittene Ende des Seils.

Es fiel Erra nicht schwer, seine Gewissensbisse beiseitezuschieben. Er hatte jetzt wichtigere Sorgen.

Wie zum Beispiel die Frage, wie er von dieser Insel kommen sollte.


Der bleierne Himmel stahl allem die Farbe – nur nicht dem Blut.

Die Gesichter der Leichen waren weiß, und ihr Haar war entweder schwarz oder farblos bleich. Den Waffen, die noch immer von steif gewordenen Händen umfasst wurden oder in erkaltetem Fleisch steckten, fehlte der Glanz. Die Zirks der Priester waren von einem dumpfen Weiß.

Aber die Flecken auf ihren Gewändern leuchteten. Dickes Rot sickerte aus Wunden und klebte an Klingen. Ganze Teiche davon sammelten sich wie ein morbider Teppich unter den Toten. Rinnsale sickerten in die Erde. Es sammelte sich zu Strömen, drang in den Boden ein, so dass jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch hervorrief.

Auraya versuchte, sich über die trockenen Stellen zu bewegen, aber das Blut stieg auf und überzog ihre Sandalen. Der übelkeiterregende Schlamm saugte an ihren Füßen. Sie machte noch einige weitere Schritte, dann stellte sie fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Der Schlamm hielt ihre Schuhe fest und gab unter ihr nach. Sie spürte, wie sie hinabsank, verlagerte das Gewicht auf ein Bein und versuchte, das andere zu befreien, doch sie sank nur umso tiefer in den Boden. Schließlich spürte sie, wie die kalte Feuchtigkeit ihre Beine hinaufkroch, und ihr Herz begann zu rasen.

»Du hast uns getötet«, zischte eine Stimme.

Als sie aufblickte, sah sie Leichen, die die Köpfe hoben, um sie mit toten Augen anzustarren.

Nicht jetzt, dachte sie. Ich habe schon genug Probleme.

»Du«, sagte ein anderer Leichnam, dessen Kopf halb abgetrennt war. »Du hast mir das angetan.«

Sie versuchte, die Stimmen zu überhören und sich darauf zu konzentrieren, sich aus dem Schlamm, der sie nicht loslassen wollte, zu befreien. Rote Bläschen und Schaum bedeckten die Oberfläche. Sie beugte sich vor und suchte verzweifelt nach irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte, um nicht weiter abzusinken. Etwas, das sie als Hebel benutzen konnte.

Ich werde ertrinken, schoss es ihr durch den Kopf, und Angst wallte in ihr auf. Ich werde ersticken, den Mund und die Lunge voller blutdurchtränkter Erde.

Doch da war nichts, nichts als ein Meer aus Leichen, die mit Fingern wie Krallen nach ihr griffen. Sie wich zurück, spürte, wie sie tiefer hinabsank, und zwang sich schließlich, die Hände nach ihnen auszustrecken.

»Es ist deine Schuld, dass ich tot bin«, zischte eine Frau.

»Deine Schuld!«

»Deine!«

Nein.

Alles um sie herum kam zum Stillstand. Die Leichen erstarrten mitten in der Bewegung. Die Saugkraft des Schlamms verebbte. Auraya sah sich verwirrt um. Die Augen der Leichen zuckten hin und her, auf der Suche nach der Stimme.

Das passiert sonst nicht, überlegte sie.

Es ist nicht ihre Schuld, dass ihr tot seid. Wenn ihr irgendjemandem die Schuld geben müsst, dann gebt sie mir. Doch so oder so, ihr irrt euch. Weder Auraya noch ich haben den Schlag geführt, der euch getötet hat.

Eine leuchtende Gestalt erschien. Die Leichen wichen vor dem Mann zurück. Er blickte auf Auraya hinab und lächelte.

Hallo, Auraya.

»Chaia!«

Ja.

Er kam an den Rand des Schlamms und streckte eine Hand aus. Sie zögerte, dann ergriff sie sie. Feste, warme Finger umfassten ihre. Er zog, und sie spürte, wie der Schlamm ihre Beine freigab.

Lass uns in dein Zimmer zurückkehren, sagte er.

Das Schlachtfeld verschwand. Plötzlich saß sie auf ihrem Bett, Chaia an ihrer Seite. Er lächelte und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus. Die Berührung seiner Finger, als er ihr Kinn nachzeichnete, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er beugte sich zu ihr vor, und sie wusste, dass er sie küssen würde.

Ähm, oh, dachte sie und rückte von ihm ab. Es ist ja gut, ihn heraufzubeschwören, damit er mich vor dem Alptraum rettet, aber wenn ich mir jetzt auch noch erotische Begegnungen zusammenträume, geht das eindeutig zu weit.

Du leistest Widerstand. Du denkst, dies sei falsch. Respektlos.

»Ja.«

Er lächelte.

Wie kann es respektlos sein, wenn ich derjenige bin, der dich küsst?

»Du bist nicht real. Der reale Chaia könnte daran Anstoß nehmen.«

Ich bin nicht real? Sein Lächeln wurde breiter. Bist du dir sicher?

»Ja. Der reale Chaia kann mich nicht berühren.«

In Träumen kann ich es.

Geradeso, wie Leiard es getan hat, dachte sie. Die Erinnerung an ihn weckte ein unbehagliches Durcheinander verschiedener Gefühle. Schmerz über seinen Verrat. Scham, dass sie jemanden in ihr Bett genommen hatte, den dieser Gott wahrscheinlich nicht billigen würde. Und trotz allem: Sehnsucht. Ihre Traumvernetzungen mit Leiard waren ihr durch und durch real erschienen. Ihr wurde warm, als sie sich an die Wonne seiner Umarmungen erinnerte, doch dieser Erinnerung folgten schnell neue Verlegenheit und Scham, als ihr bewusst wurde, mit wem sie zusammen war – selbst wenn er nur der Traumschatten des Gottes war.

Bereue deine Vergangenheit nicht, sagte Chaia. Alles, was du tust, lehrt dich etwas über dich selbst und die Welt. Es liegt an dir, aus deinen Fehlern Weisheit zu ziehen.

Sie musterte ihn wachsam. Dies war nicht Chaia. Der reale Chaia hätte… was? Sie gescholten wie ein Kind?

Chaia lachte.

Du bist immer noch davon überzeugt, dass ich ein Traum sein muss?

»Ja.«

Er legte eine Hand in ihren Nacken und beugte sich vor.

Öffne die Augen.

Sie starrte ihn an. »Was ist, wenn ich davon träume, die Augen zu öffnen, und…«

Er versiegelte ihren Mund mit seinem. Sie versteifte sich vor Überraschung. Plötzlich waren Chaia und ihr Zimmer verschwunden. Sie lag in Decken gehüllt da. In ihrem Bett. Sie sah nur Dunkelheit. Ihre Augen waren geschlossen.

Wach.

Aber ihre Lippen kribbelten. Sie öffnete die Augen. Ein leuchtendes Gesicht hing über ihrem. Der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ein Auge zwinkerte.

Dann war die Erscheinung verschwunden.

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