Eine salzige Brise sagte Emerahl, lange bevor sie das Meer erreichte, dass sie sich der Küste näherte. Doch erst als sie auf eine Anhöhe stieg und einen breiten, grauen Streifen Wasser in der Ferne sah, spürte sie, dass sie ihrem Ziel nahe war.
Beim Anblick des Wassers seufzte sie vor Erleichterung. Sie setzte sich auf einen am Boden liegenden Baumstamm und holte erst einmal tief Luft. Zwei Monate des Marschierens hatten ihr Durchhaltekraft geschenkt, aber der Hügel, auf dem sie stand, war steil, und es hatte eines langen, gnadenlosen Aufstiegs bedurft, um hierherzugelangen.
Rozea würde mich nicht wiedererkennen, dachte sie. Es war nicht nur ihr Alter, das sie verändert hatte. Sie färbte sich das Haar jetzt schwarz und flocht es jeden Morgen zu einem schlichten Zopf. Ihr Kleid war einfach und praktisch, und darüber trug sie eine bunte Mischung aus Kapas, Umhängen, perlenbesetztem Schmuck und bestickten Beuteln. Die Düfte von Kräutern, Essenzen und anderen Zutaten für ihre Wunderkuren umwehten sie.
Es war nie notwendig gewesen, irgendjemandem von ihrem Gewerbe zu erzählen. Sie betrat einfach ein Dorf oder eine Stadt, erkundigte sich bei der ersten Person, der sie begegnete, ob es irgendwo ein sicheres, anständiges Quartier gebe, und sobald sie sich in dem vorgeschlagenen Haus niedergelassen hatte, erschien der erste Kunde.
Zumindest meistens. Es hatte immer Orte gegeben – und es würde sie immer geben -, an denen Fremde mit Argwohn und Heilerzauberinnen mit unverhohlener Feindseligkeit behandelt wurden. Der erste Priester, dem sie begegnet war, war unfreundlich gewesen, was ihre Angst, die Götter könnten sie finden, nicht gelindert hatte. Zu ihrer Erleichterung hatte er ihr lediglich den Befehl gegeben, sein Dorf zu verlassen. Danach hatte sie tagelang damit gerechnet, dass man abermals Jagd auf sie machen würde, aber es war ihr niemand gefolgt.
An den meisten Orten war sie jedoch willkommen. Dorfpriester verfügten im Allgemeinen nicht über starke Gaben und besaßen kaum mehr als grundlegende Kenntnisse der Heilkunst. Die besten ihrer Heiler arbeiteten in Städten, und Traumweber waren rar, daher bestand eine große Nachfrage nach ihren Diensten. Außerdem half es, dass sie nun das Aussehen einer dreißig- bis vierzigjährigen Frau hatte – wäre sie jung und schön geblieben, hätte niemand geglaubt, dass sie über große Kenntnisse der Heilkunst verfügte.
Die Straße vor ihr schlängelte sich zwischen Hügeln und Wäldern hindurch, und Emerahl verfolgte sie bis zum Rand des Meeres. In der Mitte einer Bucht scharten sich einige Gebäude zusammen wie Steine auf dem Grund eines Eimers. Nach Auskunft der Besitzer mehrerer Gasthäuser und hilfsbereiter Zechkumpane war dies der Hafen von Dufin, was durch eine grobe Karte, die ein Händler ihr gegeben hatte, bestätigt wurde.
Dufin war aufgrund seiner Nähe zu der Grenze nach Si während der letzten vierzig Jahre gewachsen und gut gediehen. Oder eigentlich lag es wohl mehr an der Neigung der Torener, die Grenze zu ignorieren und sich niederzulassen, wo immer sie gute, fruchtbare Erde oder Mineralablagerungen fanden. Die »Inländer«, mit denen sie gesprochen hatte, hatten ihr voller Häme erzählt, dass die Weißen den König von Toren gezwungen hätten, seinem Volk zu befehlen, Si zu verlassen. Es wäre interessant zu sehen, welchen Eindruck diese Befehle auf die Bewohner Dufins gemacht hatten – falls es überhaupt eine Wirkung gab.
Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, drehte sie sich zur Straße um. Ein einzelnes Arem zog einen kleinen Tarn hügelaufwärts auf sie zu. Sie erhob sich. Obwohl der Fahrer noch zu weit entfernt war, als dass sie in seinen Zügen hätte lesen können, war sie davon überzeugt, dass er zu ihr herüberschaute. Sie konnte seine Neugier spüren.
Sie bedachte, wie weit er noch entfernt war, wie spät es bereits war und wie weit es noch bis Dufin sein mochte. Schließlich setzte sie sich wieder hin und wartete darauf, dass der Tarn sie erreichte.
Es dauerte mehrere Minuten. Schon lange davor, sobald der Fahrer nahe genug herangekommen war, hatte sie ein Lächeln mit ihm getauscht und ihm zugewinkt. Als das Arem den Tarn den Hügel hinaufzog, stand Emerahl abermals auf und begrüßte den Mann.
Sie schätzte ihn auf über vierzig. Sein vom Wetter gegerbtes Gesicht war freundlich und wies viele Lachfältchen auf. Er zügelte das Arem.
»Fährst du nach Dufin?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete er.
»Hast du noch Platz für eine müde Reisende?«
»Ich habe immer Platz für hübsche junge Frauen, die ein Transportmittel brauchen«, sagte er leutselig.
Sie sah sich um, als halte sie nach jemandem Ausschau. »Wo ist diese Frau, von der du sprichst? Und wie selbstsüchtig von dir, eine müde alte Frau zugunsten einer jüngeren Gefährtin am Straßenrand stehen zu lassen.«
Er lachte, dann deutete er auf den Tarn. »Es ist kein prächtiger geschlossener Plattan, aber wenn dir der Geruch nichts ausmacht, kannst du dich auf die Pelze setzen.«
Sie lächelte dankbar, dann stieg sie auf den Wagen. Sobald sie auf den Pelzen Platz genommen hatte, drängte er das Arem zum Weitergehen. Neben dem tierischen Geruch der Pelze lag noch ein unverkennbar fischiger Gestank in der Luft.
»Ich heiße Limma Heilerin«, erklärte sie. »Und ich bin Heilerin.«
Er drehte sich zu ihr um und zog die Augenbrauen hoch. »Und eine Zauberin, vermute ich. Keine gewöhnliche Frau reist allein durch dieses Gebiet.«
»Eine kämpfende Frau könnte es tun.« Sie schüttelte grinsend den Kopf. »Aber ich bin keine Kriegerin. Und wer bist du?«
»Marin Hakenmacher. Fischer.«
»Ah«, sagte sie. »Ich dachte mir doch, dass ich Fisch rieche. Lass mich raten: Du belieferst die Inländer mit Fisch und bringst Felle mit zurück und…« Sie besah sich die übrigen Dinge auf dem Tarn. »… und Gemüse, Getränke, Holz, Töpferwaren und – ah – zwei Girris zum Abendessen.«
Marin nickte. »Das ist richtig. Sie sind eine nette Abwechslung für mich und die Küstenbewohner.«
»Ich habe früher am Meer gelebt«, sprach sie weiter. »Damals habe ich mir oft mein Abendessen selbst gefangen.«
»Wo hast du denn gelebt?«
»An einem entlegenen Ort. Er hatte nicht einmal einen Namen. Ich habe ihn gehasst. Zu weit entfernt von allem. Schließlich bin ich aufgebrochen und auf Reisen gegangen, wo ich mein Gewerbe gelernt habe. Aber ich halte mich noch immer gern in der Nähe des Meeres auf.«
»Was führt dich nach Dufin?«
»Neugier«, antwortete sie. »Arbeit.« Sie hielt inne. Sollte sie jetzt mit ihrer Suche nach der Möwe beginnen? »Ich habe eine Geschichte gehört. Eine alte Geschichte. Ich möchte herausfinden, ob sie wahr ist.«
»Und was für eine Geschichte ist das?«
»Sie handelt von einem Jungen. Einem Jungen, der niemals altert. Der alles über das Meer weiß, was es zu wissen gibt.«
»Ah«, sagte Marin, und es klang mehr wie ein Seufzen. »Das ist tatsächlich eine alte Geschichte.«
»Kennst du sie?«
Er zuckte die Achseln. »Es gibt viele, viele Geschichten über die Möwe. Geschichten, denen zufolge er Männer vor dem Ertrinken rettet. Geschichten, in denen er selbst Männer ertränkt. Er ist wie das Meer selbst: sowohl freundlich als auch grausam.«
»Glaubst du, dass es ihn wirklich gibt?«
»Nein, aber ich kenne Leute, die es glauben. Sie behaupten, ihn gesehen zu haben.«
»Lügenmärchen? Geschichten von alten Leuten, die diese Dinge mit den Jahren immer weiter ausgeschmückt haben?«
»Möglicherweise.« Marin runzelte die Stirn. »Ich habe allerdings noch nie erlebt, dass der Alte Grim etwas anderes als die Wahrheit gesagt hätte, und er behauptet, er sei als Junge mit der Möwe zur See gefahren.«
»Ich würde den Alten Grim gern kennen lernen.«
»Das kann ich veranlassen. Aber du wirst ihn vielleicht nicht mögen.« Marin drehte sich zu ihr um und verzog das Gesicht. »Seine Ausdrucksweise ist für Damen wenig geeignet.«
Sie kicherte. »Damit werde ich fertig. Ich habe von Frauen bei der Geburt Ausdrücke gehört, die die Ohren der meisten Leute verbrennen würden.«
Er nickte. »Ich auch. Meine Frau ist die meiste Zeit über sehr still, aber wenn sie in Wut gerät…« Er schauderte. »Dann weiß man, dass sie eine Fischertochter ist.«
Sie hatten inzwischen den Fuß des Hügels erreicht. Marin schwieg eine Weile, dann warf er ihr einen Seitenblick zu.
»Du möchtest also herausfinden, ob es die Möwe wirklich gibt. Was würde dich dazu bringen, an ihn zu glauben?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Begegnung mit ihm.«
Er lachte. »Das würde es beweisen.«
»Hältst du es für wahrscheinlich, dass ich ihm begegnen werde?«
»Nein. Aber wenn doch, was würdest du dann tun?«
»Ihn nach Heilmitteln befragen. Es gibt viele Heilmittel, die aus dem Meer kommen.«
»Natürlich.«
»Ich werde ihn vielleicht niemals finden, aber ich habe reichlich Zeit. Solange es Menschen gibt, wird es immer jemanden geben, der Heilmittel und Wunderkuren benötigt. Ich werde mich an der Küste entlangarbeiten und vielleicht auch hier und da mit einem Schiff fahren.«
»Höchstwahrscheinlich wirst du irgendeinen Glückspilz von Mann treffen, jede Menge Kinder bekommen und die Möwe vollkommen vergessen.«
Sie verzog das Gesicht. »Pa! Ich habe mehr als genug von törichter Romantik gehabt.«
Er kicherte. »Ach ja?«
»Ja«, sagte sie entschieden. Als der Tarn zwischen zwei kleineren Hügeln um eine Biegung rumpelte und die Gebäude von Dufin in Sicht kamen, setzte Emerahl sich ein wenig bequemer hin. »Also, erzähl mir einige von diesen Geschichten über die Möwe«, bat sie.
Marin war, wie sie vermutet hatte, nur allzu glücklich, ihrem Wunsch nachzukommen.
Auraya lehnte am Fensterrahmen und blickte hinab. Die langen Schatten, die die späte Nachmittagssonne warf, zeichneten ein Muster aus Flecken und Streifen auf den Tempelbezirk. Wo die Strahlen die Gärten berührten, leuchteten die verwehten Herbstblätter in bunten Farben. Juran, der Erste der Weißen, bewohnte die Räume im obersten Stockwerk des Turms. Der Ausblick war ein wenig anders als ihr eigener, da man aus dieser Höhe noch besser sehen konnte.
»Probier das einmal«, murmelte Juran.
Sie wandte sich ab und nahm einen Kelch von ihm entgegen. Darin befand sich eine hellgelbe Flüssigkeit. Als sie daran nippte, erfüllte ein vertrautes Aroma ihren Mund, gefolgt von verschiedenen Gewürzen.
»Es schmeckt ein wenig wie Teepi«, sagte sie.
Juran nickte. »Es wird aus den Beeren des gleichen Baums hergestellt, aus dem die Siyee ihren Teepi gewinnen. Als die ersten torenischen Siedler nach Si kamen, behandelten die Siyee sie wie Besucher. Die Torener entwickelten ein besonderes Interesse an Teepi und lernten, ihre eigene, stärkere Version zu brauen.«
Er reichte nun auch den anderen Weißen Gläser, und sie alle nahmen einen Schluck. Dyara verzog das Gesicht, Mairae lächelte, und Rian, der berauschende Getränke nicht mochte, zuckte die Achseln und stellte sein Glas beiseite.
»Dieser Teepi ist einfacher«, meinte Auraya. »Ihm fehlt das Aroma von Nüssen und Holz.«
»Sie brauen ihn in Flaschen, nicht in Fässern. Was nur gut ist, denn Holz ist rar in Toren.«
»Dann haben sie also die Absicht, ihn auch in Zukunft herzustellen?«
»Ja. Einer der unternehmungslustigeren Siedler hat einige Flaschen nach Aime mitgenommen. Die Reichen sind auf den Geschmack gekommen, und obwohl die Herstellung nicht viel kostet, kann man den Teepi zu einem hohen Preis verkaufen. Viele der Siedler haben Setzlinge von dem Baum mit nach Hause genommen, die sie ebenfalls zu hohen Preisen anbieten können.«
»Gut. Viele der Torener, die Si verlassen mussten, haben fast all ihre Habe dort zurückgelassen. Dieses Gewerbe wird ihnen helfen«, bemerkte Dyara leise.
»Und es wird die Chancen der Siyee, Teepi nach Toren zu verkaufen, zunichtemachen«, fügte Auraya hinzu.
»Es ist nicht das gleiche Getränk«, sagte Juran. »Die Torener werden vielleicht auch eine Vorliebe für den Teepi entwickeln, wie er in Si gebraut wird. Hier besteht eine Nachfrage danach, die sich die Siyee nach wie vor zunutze machen könnten.«
Auraya nickte langsam, während sie darüber nachdachte, wie sie die Siyee auf diese Möglichkeit hinweisen könnte, aber etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit ab, und plötzlich nahm sie die Magie um sich herum wahr. Eine vertraute Präsenz kam näher, und mit ihr kehrte eine gleichermaßen vertraute Furcht zurück.
Guten Abend, Auraya.
Chaia.
Warum so ängstlich?
Du lenkst mich ab – manchmal im ungünstigsten Augenblick, gestand sie. Sobald ihr Geist die Worte geformt hatte, schämte sie sich auch schon und hätte sich am liebsten dafür entschuldigt. Von Chaia kam eine schäumende Welle der Erheiterung, die Aurayas Unbehagen jedoch nicht zerstreuen konnte.
Fürchte dich nicht davor, zu denken, Auraya. Deine Reaktion ist spontan, wie könnte ich also daran Anstoß nehmen? Mir ist es lieber, wenn du mich wie einen sterblichen Gefährten behandelst. Oder wie einen der anderen Weißen.
Aber das alles bist du nicht. Du bist ein Gott.
Das ist wahr. Du wirst lernen müssen, mir zu vertrauen. Es steht dir frei, auf mich wütend zu sein. Es steht dir frei, meinen Willen zu hinterfragen oder mit mir zu streiten. Ich möchte, dass du mit mir streitest.
Und er möchte noch mehr als das, dachte sie.
Diesmal spürte sie, wie ihr vor Verlegenheit die Röte in die Wangen schoss, und sie wandte sich wieder dem Fenster zu, um ihre Reaktion vor den anderen Weißen zu verbergen. Vor Chaia konnte sie jedoch nichts verbergen. Eine weitere Welle der Erheiterung spülte über sie hinweg.
Auch das ist wahr. Ich mag dich, Auraya. Ich beobachte dich schon sehr lange, und ich habe gewartet, bis du so erwachsen warst, dass ich es dir erzählen konnte, ohne dich in Aufruhr zu stürzen.
Und dies stürzt mich nicht in Aufruhr?, dachte sie ironisch. Sie erinnerte sich an die Küsse, denen sie ausgewichen war. Für ein Wesen, das keine körperliche Gestalt hatte, konnte er überraschend sinnlich sein. Er suchte häufig ihre Nähe, wie zum Ausgleich für den Umstand, dass er keinen Körper besaß. Seine Berührung war die Berührung von Magie, und doch war es kein unangenehmes Gefühl.
Es stürzt mich nicht annähernd so sehr in Aufruhr, wie es das tun sollte, überlegte sie. Ich sollte mir einfach eingestehen, dass ich Leiard vermisse. Nicht nur seine Gesellschaft, sondern auch die… Nächte. Manchmal ist die Versuchung, Chaia seinen Willen zu lassen, so groß.
Plötzlich fühlte sie sich zutiefst unbehaglich. Wie konnte sie ausgerechnet einen Gott begehren? Es war falsch.
Sollte die Entscheidung über richtig und falsch nicht bei mir liegen?, fragte Chaia.
Sie spürte ein Kribbeln dicht neben ihrem Gesicht und schnappte nach Luft. Es war eine flüchtige Berührung. Dann spürte sie, wie er seine Aufmerksamkeit abrupt abwandte.
Ich muss gehen, sagte er.
Die leuchtende Präsenz verschwand. Auraya gewann einen Eindruck von unglaublicher Schnelligkeit, was keinen Zweifel daran ließ, dass er Ithania binnen eines Herzschlags durchqueren konnte.
»Auraya!«
Sie zuckte zusammen und drehte sich zu Juran um. Zu ihrer Überraschung waren die anderen Weißen fort. Sie waren gegangen, und sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Juran musterte sie sichtlich verärgert. Sie verzog entschuldigend das Gesicht, und seine Miene wurde wieder weicher.
»Was ist los, Auraya?«, fragte er leise. »Deine Gedanken sind in letzter Zeit immer wieder abgeschweift, selbst bei wichtigen Besprechungen. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
Sie erwiderte seinen Blick, unsicher, was sie sagen sollte. Ich könnte irgendeine Ausrede erfinden. Aber es müsste eine gute sein. Nur etwas Wichtiges könnte mein Verhalten in letzter Zeit rechtfertigen. Während sich das Schweigen zwischen ihnen in die Länge zog, wurde ihr klar, dass ihr keine Entschuldigung einfallen würde, die gut genug war – bis auf die Wahrheit.
Trotzdem zögerte sie. Wäre es in Chaias Sinn, wenn sie Juran erzählte, dass er ständig zu ihr sprach?
Chaia?
Wie sie vermutet hatte, bekam sie keine Antwort. Der Gott war nicht in der Nähe. Juran beobachtete sie erwartungsvoll.
Er hat nie gesagt, dass ich es Juran nicht erzählen darf, dachte sie. Dann holte sie tief Luft.
»Es ist Chaia«, murmelte sie. »Er spricht zu mir. Manchmal bei… ungünstigen Gelegenheiten.«
Juran zog die Augenbrauen hoch. »Seit wann tut er das? Und wie oft?«
Sie überlegte kurz. »Seit zwei Monaten, und mindestens einmal am Tag.«
»Worüber spricht er?«
Er wirkte verärgert, was Auraya nicht überraschte. Er war der Anführer der Weißen. Wenn Chaia einen von ihnen mit täglichen Besuchen auszeichnete, sollte es doch gewiss Juran sein.
»Über nichts Wichtiges«, antwortete sie hastig. »Es ist einfach nur… Geplänkel.« Als Juran die Stirn runzelte, wurde ihr klar, dass sie die Situation damit nicht gerade verbessert hatte. »Er berät mich, was das Hospital betrifft«, fügte sie hinzu.
Juran nickte langsam, und sie sah zu ihrer Erleichterung, dass diese Erklärung ihn beschwichtigte. »Ich verstehe. Das ergibt einen Sinn. Und worüber redet ihr sonst noch?«
Sie zuckte die Achseln. »Es sind einfach nur freundschaftliche Gespräche. Ich denke… ich denke, er versucht mich kennen zu lernen. Er hatte mehr als hundert Jahre Zeit, um dich kennen zu lernen. Selbst Rian ist seit sechsundzwanzig Jahren dabei. Ich bin erst seit kurzer Zeit eine Weiße.«
»Das ist wahr.« Juran nickte, und seine Schultern entspannten sich. »Nun, das ist eine interessante Enthüllung. Ich hatte den Eindruck, dass du meine letzte Bemerkung nicht mitbekommen hast, daher will ich sie jetzt wiederholen. Wir haben drei Siyee gesehen, die auf den Turm zuflogen. Die anderen sind aufs Dach hinaufgegangen, um sie zu begrüßen.«
Aurayas Herzschlag beschleunigte sich. »Siyee? Sie würden ohne Grund nicht so weit fliegen.«
Er lächelte. »Dann lass uns hinaufgehen und herausfinden, worum es geht.«
Es war nur ein kurzer Weg bis zum Dach. Die Sonne hing jetzt tief über dem Horizont. Auraya blickte an den anderen Weißen vorbei und suchte den Himmel ab. Drei Gestalten schwebten auf den Turm zu.
Die Weißen schwiegen, als das geflügelte Trio näher kam. Zwei der Siyee waren, wie Auraya sah, in mittleren Jahren. Der dritte war ein wenig jünger und trug eine Klappe über einem Auge. Die Siyee formierten sich zu einer Reihe und landeten gleichzeitig. Der jüngere Mann stolperte, verlor jedoch nicht das Gleichgewicht. Sie waren offenkundig erschöpft.
Ihre Augen richteten sich auf Auraya. Sie schaute zu Juran hinüber, der nickte. Lächelnd trat sie vor, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
»Seid mir willkommen, Menschen des Himmels. Ich bin Auraya von den Weißen.« Sie deutete der Reihe nach auf die anderen Weißen und stellte sie vor. Der Siyee mit der Augenklappe machte das Zeichen des Kreises.
»Vielen Dank für dein Willkommen, Auserwählte der Götter«, erwiderte der Mann. »Ich bin Niril vom Stamm des Sonnenhügels. Meine Gefährten sind Dyni und Ayliss vom Kahlenbergstamm. Wir haben uns erboten, als Abgesandte unseres Volks hier in Jarime zu bleiben.«
»Es wird uns eine Ehre sein, euch unter uns zu wissen«, erwiderte sie. »Ihr müsst müde sein von eurer Reise. Ich werde euch in ein Quartier begleiten, in dem ihr euch ausruhen könnt, wenn das euer Wunsch ist.«
Niril neigte den Kopf. »Dafür wären wir euch sehr dankbar. Aber zuerst habe ich eine wichtige Nachricht für euch, die ich euch von den Sprechern übermitteln soll. Vor zehn Tagen wurde vor der Küste des südlichen Si ein schwarzes Schiff gesichtet. Die Siyee, die dem Ereignis nachgegangen sind, haben mehrere Gruppen von Pentadrianern von Bord gehen und landeinwärts reisen sehen. Einige der Pentadrianer trugen den Sternenanhänger auf der Brust, und man hat auch Vögel gesehen.«
Ein kalter Schauer überlief Auraya. Die Siyee hatten im Krieg zu viele Kämpfer verloren. Wussten die Pentadrianer das? Hielten sie die Siyee für verletzbar?
»Das sind schlechte Neuigkeiten«, sagte sie. »Aber es ist ein Glück, dass euer Volk die Pentadrianer hat ankommen sehen. Das gibt uns ein wenig Zeit.« Sie drehte sich zu Juran und den anderen Weißen um. »Wir werden entscheiden, was diesbezüglich unternommen werden soll.«
»Ja«, pflichtete Juran ihr bei. »Wir werden uns am Altar treffen. Aber zuerst wird Auraya euch zu eurem Quartier führen. Sobald ihr euch ausgeruht habt, werden wir euch in unsere Gespräche miteinbeziehen.«
Niril, der sich vor Erschöpfung nur noch mit Mühe aufrecht halten konnte, nickte. Auraya lächelte mitfühlend und hob die Hand.
»Kommt mit mir.«
Imi trieb in einem Wald von Seeglockenbäumen. Die Bäume wiegten sich in der Strömung sanft hin und her. Leuchtende, winzige Glocken bewegten sich in schwindelerregenden Mustern um sie herum. Sie streckte die Hand aus, um eine der Glocken zu berühren. Der zarte Blütenkelch schwebte näher heran, als warte er nur darauf, gepflückt zu werden.
Dann wurden mehrere Reihen von Zähnen sichtbar, und die Glocke stürzte sich auf ihre Hand.
Entsetzt riss sie die Hand weg. Ein Schatten glitt über sie hinweg und tauchte mit Ausnahme der leuchtenden Glocken alles in Dunkelheit. Furcht erfasste sie. Sie blickte auf.
Über ihr ragte der Rumpf eines riesigen Schiffes auf. Seile hingen wie Schlangen davon herab und suchten nach ihr. Sie wollte fliehen, konnte sich aber nicht bewegen. Erst als die Seile sie umschlungen hatten, gewann sie die Macht über ihren Körper zurück, aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät. Die Seile zogen sie empor, und so sehr sie sich auch dagegen wehrte, es half nichts.
Trotzdem kämpfte sie weiter, denn sie wusste, was sie an der Oberfläche erwartete. Dort waren Plünderer. Grausame, kalte Männer. Verglichen mit diesen Landgehern waren die Fischer, die sie zuvor gefangen hatten, freundlich und großzügig gewesen. Die Fischer hätten sie gehen lassen, nachdem sie die Glocken für sie geerntet hatte.
Sobald sie frei gewesen wäre, wäre sie zum Meeresboden hinabgetaucht, um die Glocken zu holen, die sie für ihren Vater gesammelt hatte, und dann wäre sie nach Hause geschwommen. Sie hätte ihm die Glocken nicht sofort gegeben. Er wäre zu wütend auf sie gewesen, um sich daran zu erfreuen. Nein, sie hätte seine Strafe dafür, dass sie sich davongestohlen hatte, akzeptiert und wäre dankbar dafür gewesen, dass sie entkommen war.
Aber die Dinge hatten sich anders entwickelt. Als die Seile sie an die Oberfläche zogen, wappnete sie sich gegen das, was als Nächstes geschehen würde, aber bevor sie durch das Wasser brach, stieß ihr etwas Hartes in die Rippen. Der Schmerz riss sie jäh aus dem Schlaf. Sie stöhnte auf und öffnete die Augen.
Licht sickerte durch ein hölzernes Dach. Die Kälte, die sie an den Beinen spüren konnte, sagte ihr, dass sie von Wasser umgeben war, und es war mehr Wasser als zu dem Zeitpunkt, da sie eingeschlafen war. Der Geruch von frischem Fisch drang an ihre Nase. Wie immer verrichteten die Seeleute, die sie durch den offenen Teil des Decks beobachten konnte, ihre verschiedenen Aufgaben. Einer stand ihr zugewandt im Rumpf des Schiffes. Ihre Ohren registrierten eine raue Männerstimme, die sie anbrüllte. Die Worte waren fremdartig, aber sie kannte ihre Bedeutung nur allzu gut.
Zurück an die Arbeit.
Sie ertastete den Eimer und beugte sich vor, um ihn zu füllen. Der Mann hörte auf zu brüllen. Imi goss den Inhalt in einen anderen Eimer, der von einem Seil durch das Loch im Deck hing. Etwas fiel aus den Händen des Mannes in das Wasser zu ihren Füßen. Er stieg an Deck, um stattdessen die Mannschaft anzubrüllen.
Imi blickte hinab. Zwei kleine Fische trieben in dem Meerwasser. Es gelang ihr, sie zu packen und zu essen, ohne in ihrer Arbeit innezuhalten.
Im Palast hatte man ihr schon viele Male rohen Fisch serviert, aber er war immer in mundgerechte Stücke geschnitten gewesen, und dazu hatte es gesalzenes Seegras oder eingelegte Kwee-Knollen gegeben. Niemand hatte ihr je gezeigt, wie man einen Fisch schuppte, und sie hatte keinen scharfen Gegenstand, mit dem sie sich die Arbeit erleichtern konnte. Schließlich hatte sie gelernt, die Schuppen mit den Zähnen abzureißen und wieder auszuspucken.
Es war nicht gesund, allein von rohem Fisch zu leben, geradeso wie Teiti ihr erklärt hatte, dass sie nicht nur von Süßigkeiten leben konnte. Teiti hatte immer gesagt, eine gesunde Kost sei aus vielen verschiedenen Speisen zusammengesetzt, einschließlich der vielen, die Imi nicht mochte. Der Gedanke an ihre Tante tat ihr weh. Sie vermisste Teiti so sehr. Noch größer wurde ihr Kummer, wenn sie an ihren Vater dachte. Wie sehr sie sich wünschte, sie hätte die Stadt nie verlassen. Sie hätte ihrem Vater etwas vom Markt schenken sollen. Sie hätte auf Teiti hören sollen.
Imi arbeitete stetig vor sich hin. Der Rumpf des Schiffes ließ langsam Wasser ein, und es schien den Plünderern gleichgültig zu sein, wie schnell sie es ausschöpfte, solange sie und der Mann, der den anderen Eimer leerte, nicht nachließen. Es scherte die Plünderer nicht, dass sie sich von Zeit zu Zeit selbst nassspritzte oder nachts in einer Lache schlief. Ohne die ständige Befeuchtung mit Wasser wäre ihre Haut ausgetrocknet, und sie hätte einen langsamen und qualvollen Tod erlitten.
Nachdem die Plünderer sie aus dem Meer gezogen hatten, hatten sie sie zuerst im Freien angebunden. Die heiße Sonne war unerträglich gewesen. Ihre Haut war ausgetrocknet, und trotz des Wassers, das man ihr zu trinken gab, hatte sie furchtbaren Durst gehabt. Der Schmerz hatte in ihrem Kopf begonnen und sich im Rest ihres Körpers ausgebreitet, bis sie nur noch in sich zusammengesunken auf dem hölzernen Boden hatte liegen können.
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war ein Moment im Rumpf des Schiffes, als sie erwacht war und Wasser ihren Körper umspülte, während das Schiff hin und her schlingerte. Von draußen kamen erschreckend laute Geräusche, die sie fast taub machten. Regen, den sie erst zweimal zuvor gesehen hatte, und hohe Wellen, die gelegentlich über dem Deck zusammenschlugen, hatten den Rumpf mit beängstigender Geschwindigkeit mit Wasser gefüllt. Einige der Plünderer hatten das Wasser ausgeschöpft, und als einer der Männer ihr einen Eimer in die Hand gedrückt hatte, hatte sie Seite an Seite mit ihnen gearbeitet, voller Angst, dass das Schiff sinken und sie ertrinken würde, da ihre Knöchel noch immer mit einem Seil gefesselt waren.
Später war einer der Plünderer gekommen und hatte ihr einen Fisch zugeworfen. Sie hatte solchen Hunger gehabt, dass sie ihn mitsamt Schuppen und Gräten verschlungen hatte.
Langsam hatte sie dann ein wenig von ihrer Stärke zurückgewonnen. Der Anführer der Plünderer hatte klargemacht, dass sie weiter Wasser ausschöpfen sollte. Zu Anfang hatte sie sich geweigert. Sie war eine Prinzessin. Sie verrichtete keine niederen Arbeiten.
Also hatte er sie geschlagen.
Entsetzt und eingeschüchtert hatte sie nachgegeben. Er hatte sie eine Zeitlang bei der Arbeit beobachtet und sie bedroht, wenn sie langsamer wurde. Nachdem er schließlich davon überzeugt war, dass sie es nicht wagen würde, ihm zu trotzen, hatte er sie sich selbst überlassen.
Es war eine endlose, ermüdende Arbeit, und sie hatte ständig Hunger. Sie gaben ihr so wenig zu essen. Ihr Körper war mager, und ihre Arme sahen aus, als bestünden sie nur noch aus Muskel, Haut und Knochen. Ihr Hemd hing ihr schmutzig und zerrissen vom Leib. Sie wusste nicht, wie lange sie das noch durchhalten würde. So viele Tage waren verstrichen. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass ihr Vater oder einer der jungen Kämpfer aus der Stadt sie retten würde. Es war jedoch besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Wenn sie es tat, konnte sie zu viele Gründe dafür erkennen, warum eine Rettung unwahrscheinlich war.
Irgendetwas wird geschehen, sagte sie sich. Ich bin eine Prinzessin. Prinzessinnen sterben nicht in Schiffsrümpfen. Wenn mein Retter kommt, werde ich noch leben, und ich werde bereit sein.
Die fünf Wände des Altars schlossen sich über den Weißen. Juran sprach die rituellen Worte, mit denen eine Versammlung begann, und Auraya gab zusammen mit den anderen die vorgegebenen Antworten. Als alle schwiegen, sah Juran sie mit besorgter Miene der Reihe nach an.
»Wir sind hier, um darüber zu beraten, was wir wegen dieser Pentadrianer in Si unternehmen wollen«, erklärte er.
»Bedeutet das, dass wir uns wieder im Krieg befinden?«, fragte Mairae.
Juran schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber die Pentadrianer haben einen unserer Verbündeten überfallen.«
»Sie sind unerlaubt in das Land eines Verbündeten eingedrungen«, korrigierte Juran sie. »Soweit wir wissen, haben sie niemandem in Si irgendwelchen Schaden zugefügt.«
»Weil die Siyee nicht dumm genug sind, sich ihnen zu nähern«, sagte Auraya. »Wir müssen herausfinden, warum sie dort sind.«
»Ja«, pflichtete Juran ihr bei. »Das wird einige Zeit dauern. Ich werde die Priester, die vor kurzem im Offenen Dorf angekommen sind, zu ihnen schicken.«
»Priester?«, wiederholte Auraya überrascht. »Warum sollten wir ihr Leben gefährden und die Siyee einer solchen Verzögerung aussetzen? Ich kann Si binnen eines Tages erreichen.«
Juran tauschte einen Blick mit Dyara, bevor er Auraya ansah. »Das wäre vielleicht unklug.«
Auraya blinzelte überrascht. Sie schaute zu Mairae und Rian hinüber, die beide ebenso verwirrt wirkten wie sie. »Inwiefern?«
Juran legte die Hände auf den Tisch. »Wir wissen, dass die pentadrianischen Anführer mächtige Zauberer sind. Wir wissen, dass die verbliebenen vier uns, was ihre Stärke betrifft, fast ebenbürtig sind.«
»Derjenige, den sie Shar nennen – der Worn-Reiter – ist schwächer als ich«, warf Rian ein.
»Ja«, stimmte Juran ihm zu. »Du bist der Einzige von uns, der einer Stimme im Kampf Mann gegen Mann gegenübertreten kann.« Er hielt inne und sah Auraya an. »Das heißt, du bist der Einzige, der jemals gegen eine noch lebende Stimme angetreten ist«, fügte er hinzu. »Glücklicherweise hat Rian Shar überwältigt. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass einer von uns sich im Kampf als der Schwächere erweist und getötet wird.«
»Dann werde ich mich fernhalten, falls ich eine der beiden mächtigeren Stimmen sehen sollte«, sagte Auraya. »Die beiden Schwächeren dürften kein Problem darstellen.«
Juran lächelte grimmig. »Dein Mut ist bewundernswert, Auraya.«
»Warum? Wir haben während der Schlacht eine Vorstellung von ihrer Stärke gewonnen.«
»Eine gewisse Vorstellung, ja, aber zu einer genauen Einschätzung sind wir nicht in der Lage. Wir wissen nicht, ob die beiden Schwächeren mit Abwehrmaßnahmen beschäftigt waren, die wir zu der Zeit nicht wahrgenommen haben. Sie könnten stärker sein, als wir glauben.«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn Rian Shar besiegen konnte, dann kann ich es ebenfalls. Wir wissen, dass die Vogelfrau – Genza – neben Shar die Schwächste ist. Ich bin bereit, darauf zu setzen, dass ich sie allein überwältigen kann.«
»Und könntest du sie beide gleichzeitig besiegen?«
Sie zögerte, als Zweifel in ihr aufstieg.
Juran breitete die Hände aus. »Erkennst du die Gefahr jetzt? Denk an unsere eigenen Schwächen.« Er sah sie einen nach dem anderen an. »Was wäre, wenn ihr alle abwesend wärt, und die vier pentadrianischen Anführer Jarime angreifen würden? Allein könnte ich sie nicht aufhalten. Was wäre, wenn sie unsere Schritte beobachten und einen Hinterhalt planen, um uns einzeln zu töten, wenn wir uns trennen?« Er schüttelte den Kopf. »Wenn wir allein sind, sind wir verletzbar.«
Mairae stieß einen leisen Laut der Ungläubigkeit aus. »Du hast doch gewiss nicht vor, uns alle von jetzt an in Jarime festzuhalten? Wie können wir dann andere Länder verteidigen? Was ist mit unseren Bündnisvereinbarungen?«
Auraya nickte zustimmend. Eine Reise nach Si war ein Risiko, aber eines, das einzugehen sich lohnte. Was hältst du von alledem, Chaia?, dachte sie plötzlich.
Juran verzog das Gesicht. »Unsere Priester und Priesterinnen können mit den meisten Bedrohungen fertigwerden. Wir werden sie ausschicken, um Informationen einzuholen, bevor wir selbst etwas unternehmen.«
»Das dürfte in Si kaum funktionieren«, bemerkte Auraya. »Sie würden niemals rechtzeitig dort eintreffen.«
»Wenn wir Priester und Priesterinnen unter den Siyee haben, wird das nicht länger ein Problem darstellen.«
»Was jedoch nicht rechtzeitig geschehen wird, um dieser Gefahr zu begegnen. Es wird Jahre dauern, bis…«
Eine plötzliche Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds lenkte sie ab. Sie sah sich um und stellte fest, dass es sich nicht um eine körperliche, sondern um eine magische Bewegung handelte. Eine vertraute Präsenz strich über ihre Sinne.
Hallo, Auraya.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Ihr himmlischer Bewunderer war zurückgekehrt, und wie gewöhnlich zu einer Zeit, da sie keine Ablenkung gebrauchen konnte.
»Was ist los, Auraya?«, fragte Dyara leise. »Was siehst du?«
Auraya wandte sich Dyara zu. »Du spürst ihn überhaupt nicht?«
Dyara schüttelte den Kopf. Auraya blickte schnell zu Mairae und Rian hinüber, die verwirrt wirkten. Juran runzelte die Stirn. Dann spiegelten sich auf allen Gesichtern mit einem Mal Freude und Ehrfurcht wider, und die übrigen Weißen schauten zu einer Stelle hinter Auraya. Sie sah über ihre Schulter und bemerkte eine leuchtende Gestalt hinter sich.
Juran, sagte der Gott zur Begrüßung. Dyara, Auraya, Rian und Mairae.
»Chaia«, erwiderten die anderen ehrerbietig und machten das Zeichen des Kreises. Auraya folgte hastig ihrem Beispiel. Sie hatte sich so sehr an Chaias Gegenwart gewöhnt, dass es leicht war zu vergessen, welche Reaktion von den Weißen erwartet wurde, wenn einer der Götter erschien.
Der Gott kam langsam um den Tisch herum.
Wie ihr wisst, ziehen wir es die meiste Zeit über vor, den Unsterblichen zu erlauben, ihre eigenen Wege zu wählen. Gelegentlich greifen wir ein, da es unsere Pflicht ist, eure Taten zu leiten, wenn sie mit unseren Zielen im Widerspruch stehen. Er hielt inne und sah Juran an. Dies ist eine Gelegenheit, da ich eingreifen muss.
Juran zog die Brauen zusammen und blickte auf den Tisch.
Euer Ziel ist es, unsere Anhänger zu schützen, nicht euch selbst, erklärte Chaia.
Juran zuckte zusammen. »Es war nicht meine Absicht, uns auf Kosten anderer zu schützen«, sagte er und blickte zu dem Gott auf. »Mein Ziel ist es, die Zirkler auf lange Sicht zu schützen. Falls einer von uns stirbt, wird ganz Nordithania verletzbar sein.«
Dyara nickte. »Ich bin derselben Meinung. Sollte Auraya in Si sterben, könnte das langfristig zu einer großen Zahl von Toten führen.«
Chaia lächelte.
Sollte Auraya sterben, werden wir einen Ersatz für sie auswählen – obwohl ich bezweifle, dass wir jemanden finden würden, der über ebenso große Gaben verfügt wie sie.
Trotz des Lobes überlief Auraya ein Schauer. Sie hatte geglaubt, sie sei bereit, ihr Leben für die Siyee aufs Spiel zu setzen. Jetzt, da sie wusste, dass die Götter genau dieses Risiko von ihr verlangten, regte sich irgendwo tief in ihrem Innern Furcht. Sie fühlte sich… austauschbar.
Genau wie ein Soldat, dachte sie. Nun, nichts anderes sind wir im Grunde. Mächtige, unsterbliche, mit Gaben gesegnete Soldaten im Dienst der Götter. Die Ironie dessen, was sie soeben gedacht hatte, blieb ihr nicht verborgen. Wir sind nur deshalb unsterblich, weil wir nicht altern. Sollten wir vor der Art von Konflikt stehen, die Juran fürchtet – sollten wir unser Leben ständig aufs Spiel setzen müssen, um die Zirkler zu schützen -, dann könnten wir sehr viel schneller den Tod finden als gewöhnliche Sterbliche. Sie straffte sich. Dann soll es so sein.
»Ich habe mich dafür entschieden, den Göttern zu dienen, und ich habe nicht die Absicht, damit in allzu naher Zukunft aufzuhören, obwohl es mir eine große Freude wäre, mich zu ihnen zu gesellen«, erklärte sie. »Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Und vergesst nicht – ich kann binnen eines Tages wieder hier sein, falls ihr mich braucht.«
Juran sah ihr fest in die Augen, dann nickte er und wandte sich zu Chaia um. »Ich danke dir für deine Weisheit und Leitung, Chaia«, sagte er demütig. »Ich werde Auraya nach Si schicken.«
Der Gott lächelte, dann verschwand er. Auraya spürte, wie er sich außer Reichweite ihrer Sinne bewegte. Als sie wieder zu Juran hinüberblickte, betrachtete er sie mit undeutbarer Miene.
»Die Götter haben dich mit ungewöhnlichen Gaben begünstigt«, sagte er. »Ich hätte erkennen sollen, dass sie die Absicht hatten, dich diese Gaben nutzen zu lassen. Sei vorsichtig, Auraya. Es sind nicht nur deine einzigartigen Fähigkeiten, die wir vermissen würden, wenn wir dich verlören.«
Sie lächelte gerührt. »Vielen Dank. Und ich werde vorsichtig sein.«
Juran sah die anderen an. »Dann wäre das also entschieden. Und jetzt sollten wir besser unsere Gäste davon in Kenntnis setzen.« Er wandte sich an Auraya.
»Ich werde es ihnen erzählen«, sagte sie.
Als sie sich erhoben und die Seiten des Altars sich langsam öffneten, dachte Auraya an Chaias Erscheinen. Sie hatte sich gefragt, was er wohl von Jurans Einwand halten würde. Hatte sie ihn gerufen, ohne dass es ihr bewusst gewesen war? War er nahe genug gewesen, um ihr Gespräch mit anzuhören, noch bevor ihre Sinne ihn hatten wahrnehmen können?
Dies waren Fragen, über die sie später würde nachdenken müssen. Für den Augenblick sollte sie sich besser damit beschäftigen, wie sie mit diesen Pentadrianern in Si verfahren konnte, ohne sich selbst oder die Siyee in Gefahr zu bringen.
Der Alte Grim sah auf, als die Frau den Raum betrat, und konnte den Blick nicht mehr abwenden. Hohe Wangenknochen, Haar, so schwarz wie die Nacht, eine gute Figur – obwohl sie ein wenig mehr Fleisch auf den Knochen hätte vertragen können. Als das Lampenlicht auf ihre Augen fiel, sah er, dass sie grün waren. Als die Frau ihren Begleiter anlächelte, erschienen Falten um ihre Augen, die ihr Alter verrieten.
Sie muss eine Schönheit gewesen sein, als sie jünger war, ging es ihm durch den Kopf. Mit wem ist sie da zusammen? Ah, Marin. Der Mann kann einfach nicht aus seiner Haut heraus. Er muss sich alles ansehen, was neu ist. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er als Junge am Strand entlanggezogen ist, immer auf der Suche nach Dingen, die die Flut angespült hatte.
Marin machte die Frau mit seinen Zechgefährten bekannt, blieb aber nicht stehen. Zu Grims Überraschung zwinkerte der Mann ihm zu, dann führte er die Frau zu Grims Tisch.
»Guten Abend«, sagte Marin. »Das ist der Alte Grim«, erklärte er der Frau. »Grim, das ist Limma Heilerin.«
»Guten Abend«, sagte Grim und nickte der Frau zu. Sie lächelte unbefangen. Er fing den Duft von Kräutern und etwas Erdigerem auf. Der Familienname war wahrscheinlich eine akkurate Beschreibung ihres Gewerbes.
»Limma interessiert sich für Geschichten über die Möwe«, fuhr Marin fort. »Ich habe ihr erzählt, dass du ihm begegnet bist. Und sie glaubt mir sogar.«
»Ach ja?« Ein alter Groll regte sich in Grim, aber als er versuchte, die Frau anzufunkeln, verebbte sein Zorn wieder. Sie sah ihm gelassen in die Augen. Irgendetwas ging von ihr aus; sie wollte etwas von ihm. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendetwas zu bieten hatte – abgesehen von seiner Geschichte.
Neugierig hob er seinen Becher. »Eine lange Geschichte braucht einen feuchten Mund.«
Limma lachte und griff unter ihr Kapas. Er bemerkte die vielen Beutel darunter, und der Geruch von Kräutern und Heilmitteln wurde stärker. Die Frau drehte sich zu dem Besitzer des Trinkhauses um und warf ihm eine Münze hin. Er fing sie geschickt auf und nickte, während sie ihm auftrug, ihre Becher stets wohlgefüllt zu halten. Marin und Limma ließen sich auf der Bank gegenüber nieder.
»Du bist der Möwe also begegnet«, sagte sie. »Wie lange ist das jetzt her?«
Grim zuckte die Achseln. »Ich war noch jung, kaum mehr als ein Knabe. Ich wollte gern etwas von der Welt sehen, daher habe ich auf den Booten angeheuert, die die Küste hinauf nach Aime fuhren. Als ich dort ankam, fand ich Arbeit auf einem Handelsschiff. Es war nicht das, was ich erwartet hatte. Es ist immer harte Arbeit, aber damals habe ich eines gelernt: je größer das Boot, umso wichtiger ist es den Leuten, dafür zu sorgen, dass jeder weiß, wer von wem Befehle entgegennimmt. Ich stand in der Hackordnung ziemlich weit unten.« Bei der Erinnerung daran verzog er das Gesicht.
»Auf dem Schiff war ein Junge. Er hatte keinen Namen. Man nannte ihn allgemein nur ›Junge‹. Eines Tages wurde mir klar, dass niemand diesem Jungen jemals zu nahe trat. Er gab den Leuten keinen Grund dazu, aber selbst wenn man auf diesem Schiff seine Arbeit sehr schnell verrichtete, blieb einem dadurch Prügel nicht erspart. Ich begann diesen Jungen zu beobachten. Er war ein hübscher Bursche, aber keiner der Schläger wagte es, ihm etwas anzutun. Tatsächlich benahmen sie sich so, als hätten sie Angst vor ihm.
Eines Tages setzte er sich während der Mittagspause zu mir. Er erklärte, dies sei nicht das richtige Schiff für mich. Er sagte, ich bräuchte ein kleineres Boot, dann würde ich einen guten Kapitän abgeben. Ich würde mich wohler fühlen im Kampf gegen das Meer als im Kampf gegen andere Männer. Tief im Herzen wusste ich, dass er recht hatte, aber ich wollte die Welt sehen, verstehst du, und er war nur ein Junge. Was wusste er schon? Also blieb ich.
Als wir einige Wochen später im Begriff standen, den Hafen von Aime zu verlassen, sprach er mich abermals an. Er zeigte auf ein kleineres Schiff und sagte, dass man dort nach einer Mannschaft suche. Ich dankte ihm für die Information, aber ich blieb. Andere heuerten ab, und ich war stolz darauf, dass ich selbst nicht klein beigab.«
Ein Schankjunge stellte drei frische Becher auf den Tisch, und Grim hielt im Sprechen inne. Er nahm einen tiefen Schluck, seufzte und kratzte sich dann am Kopf.
»Wo war ich?«
»Der Junge hat dich ein zweites Mal gewarnt«, sagte Limma.
Er sah sie überrascht an. Sie lächelte wissend, schwieg aber. Grim wischte sich den Mund ab und fuhr fort.
»Wir waren erst wenige Tage draußen auf See, als der Himmel schwarz wurde und der Wind zu schreien begann. Wir konnten nur einige Schritte weit sehen. Ich hörte den Jungen dem Kapitän sagen, dass sie auf Felsen zusteuerten und nach Steuerbord halten sollten. Er sprach mit solcher… Autorität. Der Kapitän verfluchte den Jungen und schickte ihn unter Deck. Im nächsten Moment tauchte der Junge direkt vor mir auf. Ich konnte sehen, dass er wütend war. Zornig, wie nur ein Erwachsener es sein konnte. Es war so eigenartig, diese Regung im Gesicht eines so jungen Menschen zu sehen.«
Grim hielt inne. Die Erinnerung war so lebendig. Er konnte noch immer das Eis im Wind und die Furcht in seinen Eingeweiden spüren und das Gesicht des Jungen sehen. Er nahm noch einen Schluck von seinem Getränk und konzentrierte sich auf die tröstliche Wärme, die es mit sich brachte. Die beiden Zuhörer warteten geduldig.
»Der Junge hat mich zum Beiboot hinübergezerrt. Als mir klar wurde, dass ich ihm helfen sollte, die Taue zu kappen, protestierte ich. Er richtete sich auf und sah mir in die Augen…« Grim ahmte den Jungen nach und fixierte die Frau mit einem Blick, von dem er hoffte, dass er überzeugende Festigkeit vermittelte. »Dann sagte er: ›Ich habe dich zweimal gewarnt. Ich werde dich nur noch ein einziges Mal warnen. Verlass dieses Schiff, oder du wirst keinen Tag mehr zu leben haben!‹ In diesem Augenblick entdeckte uns einer der Schläger – ein großer, massiger Mann. Er brüllte auf und hob die Hand, um nach dem Jungen zu schlagen. Seine Faust fand jedoch nicht ihr Ziel. Der Junge machte eine winzige Bewegung, und der Schläger fiel hintenüber. Sein Kopf prallte gegen die Reling, und er blieb liegen.«
Grim lächelte. »Ich stand da und starrte den Jungen an. Er versetzte mir einen gewaltigen Stoß, so dass ich in das Beiboot fiel, dann lösten sich die Seile wie von selbst. Im nächsten Moment stürzten das Beiboot und ich ab und schlugen auf das Wasser. Ich lag einfach nur benommen da und blickte zu dem Jungen auf, während sich das Beiboot vom Schiff entfernte, als dränge irgendetwas es aufs Meer hinaus.«
Der Alte Grim schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie wiedergesehen. Als ich am nächsten Tag ans Ufer ruderte, folgte mir eine Schar Möwen. Da wurde mir klar, wer er war. Später hörte ich, dass das Schiff auf die Felsen gelaufen war. Der größte Teil der Mannschaft war umgekommen, aber niemand hat einen Jungen gesehen. Weder tot noch lebendig.«
Die Frau lächelte jetzt. Es bereitete Grim ein gewisses Vergnügen, das zu sehen. Meine Geschichte hat ihr gefallen, erkannte er. Ich denke, es spielt keine Rolle, ob sie sie glaubt oder nicht.
»Du bist ein glücklicher Mensch«, sagte sie.
Er hob seinen Becher und trank. »Das ist wahr. Mein Schicksal hat sich von jenem Tag an gewendet. Ich arbeitete für meinen Unterhalt, und als ich wieder nach Hause kam, hatte ich genug beisammen, um mir ein eigenes Boot zu kaufen.«
»Also bist du am Ende doch Kapitän geworden«, sagte sie und hob ihren Becher an die Lippen.
»Allerdings.«
»Aber niemand hat dir deine Geschichte geglaubt.«
»Niemand außer meiner Frau.«
»Bist du dir sicher?« Ihre Augen wurden schmal. »Bist du wirklich niemals jemandem begegnet, der wusste, dass deine Geschichte der Wahrheit entsprach?«
Er hielt inne, denn ihm fiel mit einem Mal ein, dass das, was er gesagt hatte, nicht die ganze Wahrheit war. »Bei einigen wenigen Leuten hatte ich den Eindruck, dass sie mir glaubten. Reisende größtenteils. Ein junger Segelmacher hat mir vor kurzem erzählt, er habe von einem Händler oben im Norden eine ganz ähnliche Geschichte gehört.«
»Auch dieser Händler ist der Möwe begegnet?«
»Das hat er gesagt. Er meinte, dass er von Plünderern überfallen worden war, und ein Junge hat ihn gerettet.«
»Hat der Mann den Namen des Händlers genannt?«
»Nein, aber der Segelmacher lebt ein Stück weiter oben an der Küste.« Er beugte sich vor. »Warum interessierst du dich so sehr für die Möwe?«
Sie lächelte. »Ich möchte sie finden.«
Er lachte leise. »Viel Glück. Ich habe den Eindruck, dass er der Typ ist, der dich findet, nicht umgekehrt.«
»Das hoffe ich.«
»Was willst du eigentlich von ihm?«
»Einen Rat.«
An ihrer Miene konnte er ablesen, dass sie mehr nicht sagen würde. Also zuckte er nur die Achseln und hielt seinen leeren Becher hoch. »Gib mir noch etwas zu trinken, dann werde ich mich vielleicht an die Namen anderer Reisender erinnern, die mir geglaubt haben.«
Wie er gehofft hatte, lachte sie und wandte sich ab, um den Schankjungen herbeizuwinken.
Als Reivan Imenja auf den Balkon hinausfolgte, sah sie, dass die anderen Stimmen sich bereits dort eingefunden hatten. Abgesehen von Nekaun saßen alle auf den Riedstühlen und nippten an kühlen Getränken, und alle außer Nekaun waren in Begleitung eines Gefährten gekommen.
Nekaun selbst hatte noch keinen Gefährten ausgewählt. Seit seiner Wahl zur Ersten Stimme waren erst zwei Monate vergangen, und Reivan vermutete, dass ein Gefährte mit großer Sorgfalt ausgesucht werden musste. Es wäre nicht gerecht gewesen, wenn er Gefährten auswählte und wieder entließ, bis er jemanden gefunden hatte, den er mochte und dem er vertraute.
Nekaun nickte Imenja zu, als sie sich setzte, dann wanderte sein Blick zu Reivan hinüber, und er lächelte. Wie immer lächelte er auf eine Art und Weise, als sei sie eine Freundin, die zu sehen er sich freute, und wie immer machte sein Verhalten sie ein wenig verlegen. Es schmeichelte ihr, dass ein so außergewöhnlicher Mann sie überhaupt beachtete.
Alle bewunderten ihn. Er war charmant und aufmerksam. Wenn er mit jemandem sprach, schenkte er ihm seine ungeteilte Konzentration. Er lachte über die Scherze seines Gegenübers, hörte sich seine Klagen an und konnte sich stets an die Namen der Menschen erinnern, mit denen er schon einmal zu tun gehabt hatte.
Wahrscheinlich sieht es nur so aus, als würde er sich daran erinnern, überlegte Reivan, während sie neben ihrer Herrin Platz nahm. Er braucht sich die Namen der Menschen nicht einzuprägen. Er kann sie einfach aus ihren Gedanken lesen, wann immer es erforderlich ist.
Die Art, wie die Stimmen miteinander umgingen, hatte sich verändert. Obwohl Reivan Nekaun niemals wütend oder energisch erlebt hatte, bezweifelte sie nicht, dass er die Zügel in der Hand hielt. Er suchte zwar stets den Rat der anderen, aber letztendlich lagen die Entscheidungen bei ihm.
Natürlich können die anderen keine Einwände erheben, wenn sie ihm den Rat gegeben haben, der zu seiner Entscheidung führte, ging es ihr durch den Kopf.
Als Imenja ihm die Verantwortung der Führerschaft übertragen hatte, hatte sie weder Erleichterung noch Bedauern zu erkennen gegeben. Seither hatte sie kaum ein Wort über Nekauns Tun und Lassen verloren. Falls sie etwas an seinen Entscheidungen auszusetzen hatte, ließ sie sich Reivan gegenüber nichts davon anmerken.
Sie kann mit mir nicht darüber sprechen. Er würde es aus meinen Gedanken lesen. Sie wird mir nichts erzählen, was er nicht wissen darf.
Nekaun ging vor dem Geländer auf und ab. Jetzt warf er ihr einen unergründlichen Blick zu, und sie errötete.
Wo habe ich nur meine Gedanken? Ich bin wieder einmal furchtbar zynisch. Das muss aufhören. Ich hoffe, er weiß, dass es nur eine Angewohnheit ist und dass ich nicht wirklich glaube, an seinen Entscheidungen sei etwas auszusetzen, sonst…
»Da wir nun alle hier sind, können wir auch gleich anfangen«, sagte Nekaun.
»Ja«, stimmte Imenja ihm zu. »Über wen oder was sollen wir zuerst reden?«
Nekaun lächelte. »Shar und Dunwegen zuerst, denke ich.«
Die gutaussehende, blonde Götterstimme räusperte sich. Shar hatte einen seiner zahmen Worns mitgebracht, und das Tier lag hechelnd neben dem Stuhl. »Der Schiffswrackplan scheint bisher funktioniert zu haben. Die Überlebenden sind gut behandelt worden. Das zweite Boot liegt noch immer im Hafen von Chon fest. Wie erwartet widerstrebt es den Dunwegern, unsere Leute von Bord gehen zu lassen.«
Nekaun nickte. »Genza?«
Die Vierte Stimme bog ihre schlanken, muskulösen Arme durch. »Meine Leute sind seit elf Tagen unterwegs, aber obwohl unsere Vögel bei der Vermessung des Landes geholfen haben, kommen sie nur langsam voran. Sie haben in der Ferne einige Male Siyee gesehen, aber die fliegenden Menschen nähern sich ihnen nicht.«
»Keine Spur von der, die sie Auraya nennen?«
»Nein.«
»Gut.« Nekaun wandte sich an Vervel.
Der untersetzte Mann zuckte die Achseln. »Meine Götterdiener sind eingetroffen. Den Torenern scheint es gleichgültig zu sein, welcher Nationalität sie angehören, solange sie etwas von ihnen kaufen können. Ein sehr pragmatisches Volk. Das zweite Boot hat Genria noch nicht erreicht.«
Nekaun blickte zu Imenja hinüber. »Und deine Götterdiener befinden sich noch auf See?«
Sie nickte. »Ja. Sie wurden ebenso wie deine von diesem Sturm aufgehalten. Jetzt, da das Wetter besser ist, sollten sie es wohl in einigen Tagen bis nach Somrey schaffen.«
»Ist es klug, wenn unsere Leute ihre jeweiligen Ziele zur selben Zeit erreichen?«, fragte Vervel. »Die Zirkler könnten es bemerken und Verdacht schöpfen.«
»Falls sie diesen Dingen überhaupt Aufmerksamkeit schenken«, erwiderte Nekaun und sah Genza an. »Es ist unwahrscheinlich, dass deine Leute unbemerkt bleiben werden, da Fremde sich so selten nach Si wagen. Andererseits haben die Siyee keine eigenen Priester oder Priesterinnen, so dass es vielleicht leichter sein wird, sie zu überzeugen.«
»Es wird nicht so einfach sein, unter gewöhnlichen Menschen potenzielle Götterdiener zu finden«, warf Vervel ein. »Von meinen Leuten höre ich, dass fast alle befähigten Männer und Frauen der Priesterschaft beitreten.«
Nekaun lächelte und wandte sich zu Reivan um. »Aber kein unbefähigter Nordithanier. Diese Regel war in der Vergangenheit auch unsere Schwäche. Würden unbefähigte Nordithanier sich von ihren heidnischen Göttern abwenden und die wahren Götter akzeptieren, wenn sie wüssten, dass eine Chance besteht, dass sie zu Macht und Ansehen gelangen können, indem sie Götterdiener werden?«
Die anderen blickten nachdenklich drein. »Die Macht und das Ansehen, die du anbietest, sind nur hier von Wert«, murmelte Imenja.
»Für den Augenblick.«
»Wie vielen Unbefähigten wirst du gestatten, Götterdiener zu werden?«, erkundigte sich Vervel. »Wie wirst du sie auswählen?«
»Für den Anfang würde ich keine Zahl festsetzen«, antwortete Nekaun. »Sie müssten sich dieser Ehre als würdig erweisen.«
»Gut. Wir wollen die Götter nicht verhöhnen, indem wir Narren weihen«, murmelte Genza.
»Das ist wahr«, stimmte Nekaun ihr zu. Dann sah er plötzlich Reivan an. »Diese Gefahr besteht noch nicht. Was sagst du dazu, Reivan?«
Sie blinzelte überrascht. »Ich… ähm… ich kann nicht umhin zu denken, dass es einen einfacheren Weg geben muss, Nordithania zu bekehren. Die Zirkler glauben, unsere Götter seien nicht real. Wenn ihr das Gegenteil beweisen könntet, würden sie in Scharen zu uns kommen.«
»Wie sollten wir das deiner Meinung nach bewerkstelligen?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht würde allein der Anblick der Götter sie überzeugen.«
Er lächelte schief. »Wir können die Götter von Zeit zu Zeit rufen, damit sie uns ihre Leitung oder ihre Zustimmung geben, aber selbst in solchen Fällen beantworten sie unsere Bitten nicht immer mit ihrem Erscheinen. Es ist nicht anzunehmen, dass sie jedes Mal, wenn ein Götterdiener darum bäte, für jeden zweifelnden Zirkler erscheinen und ihre Macht demonstrieren würden.«
Reivan senkte den Blick. »Nein, das wäre zu viel verlangt. Aber… es ist ein Jammer, dass die Zirkler Sheyr nicht haben erscheinen sehen, als wir aus den Minen kamen. Wenn sie dieses prachtvolle Bild gesehen hätten, hätten sie uns vielleicht nicht bekämpft, sondern sich uns angeschlossen. Würden die Götter sich bereitfinden, vor einer größeren Ansammlung von Zirklern zu erscheinen?«
»Ich vermute, wenn das möglich wäre, hätten sie es bereits getan«, sagte Imenja.
»Was hindert sie daran?«, fragte Reivan.
Stille folgte. Sie zwang sich, zu den Stimmen aufzusehen. Zu ihrer Überraschung blickten die Stimmen nachdenklich drein. Nekaun runzelte die Stirn, als mache ihre Frage ihm zu schaffen. Sein Blick wanderte zu ihr hinüber, und er lächelte.
»Ah, Denker. Sie haben eine besondere Begabung, Fragen zu stellen, die man nicht beantworten kann. Wir alle wünschen die Götter zu verstehen, aber ich bezweifle, dass es jemals einem von uns gelingen wird. Sie sind das größte aller Rätsel.«
Die anderen nickten. Nekaun sah sich im Raum um. »Wollen wir uns jetzt anderen Themen zuwenden?«
»Ja«, stimmte Genza ihm zu. »Das wäre sinnvoll.«
»Ich höre, dass es abermals zu einem Duell zwischen dekkanischen Edelleuten gekommen ist.«
Genza verdrehte die Augen. »Ja. Es sind immer dieselben alten Familien. Und es geht immer um denselben alten Groll.«
»Wir müssen mehr tun, um solche Auseinandersetzungen zu verhindern.«
»Ich würde liebend gern alle Vorschläge hören, die du zu dem Thema hast.«
Erleichtert darüber, dass die Stimmen ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand gerichtet hatten, griff Reivan nach einem Glas Wasser und nahm einen tiefen Schluck. Nekaun fragte sie bei diesen Zusammenkünften häufig nach ihrer Meinung, während er mit den anderen Gefährten nur selten sprach. Obwohl es schmeichelhaft war, dass er ihren Rat suchte, war es keineswegs immer eine angenehme Erfahrung. Manchmal, wie heute zum Beispiel, hatte sie den Verdacht, dass sie sich vollkommen zum Narren machte.
Glücklicherweise schienen die anderen daran keinen Anstoß zu nehmen. Stattdessen ermutigten sie sie zum Sprechen. Reivan war einmal davor zurückgeschreckt, ihre Meinung zu sagen, und Nekaun hatte sie mit unbarmherziger Geduld bedrängt, bis sie schließlich nachgab.
Aber meine Frage hat sie beunruhigt, dachte sie, während sie die anderen Stimmen beobachtete. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die sich fragt, warum es den Göttern so sehr widerstrebt, ihre Macht oder ihren Einfluss deutlicher zu zeigen. Wenn sie das getan hätten, hätten wir den Krieg dann auch verloren? Hätten sie uns von einem Angriff auf die Zirkler abgeraten? Gewiss hätte Kuar uns nicht in die Schlacht geführt, wenn die Götter nicht damit einverstanden gewesen wären.
Sheyr wäre schließlich nicht erschienen, um die Armee zum Kampf zu ermutigen, wenn er gewusst hätte, dass wir keine Chance auf einen Sieg hatten. Daraus kann ich nur den Schluss ziehen, dass er entweder doch um unsere bevorstehende Niederlage wusste oder nicht genug über den Feind in Erfahrung bringen konnte, um die Gefahr zu erkennen. So oder so muss er gewusst haben, dass das Risiko eines Fehlschlags bestand.
Reivan schüttelte den Kopf. Zumindest bin ich nicht die Einzige, die die Götter vor Rätsel stellen. Nicht einmal die Stimmen wissen alles über sie.
Mirar stand vor der Wand aus herabstürzendem Wasser. Er streckte die Hand aus und hielt sie hinein. Das eiskalte Wasser rann ihm den Arm hinunter und ließ ihn frösteln.
Bring es schnell hinter dich, riet Leiard ihm.
Also schloss Mirar die Augen, beugte sich vor und steckte den Kopf ins Wasser.
Es war geradezu grausam kalt. Er wusch sich mit hastigen Bewegungen, um gegen die Kälte anzukämpfen, Haar und Bart. Dann trat er einen Schritt zurück und atmete erleichtert auf. Das Wasser lief ihm über die nackte Brust.
Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar und stellte zu seiner Freude fest, dass von der klebrigen Farbe nichts zurückgeblieben war. Der Gedanke, noch einmal den Kopf ins kalte Wasser halten zu müssen, hätte ihm gar nicht behagt. Die Aussicht auf dieses Erlebnis hatte ihn tagelang davon abgehalten, die Farbe noch einmal aufzutragen.
»Vergiss die Augenbrauen nicht«, hatte Emerahl gesagt. »Wenn die Leute bleiche Augenbrauen und dunkles Haar sehen, wissen sie, dass du Farbe benutzt hast.« Er lächelte bei der Erinnerung an ihre Worte und hielt noch einmal die Hände unters Wasser, um sich den Rest Farbe abzuwaschen. Sie hatte ihm nicht aufgetragen, auch das Haar auf seiner Brust oder an anderen Stellen zu färben, aber wer würde seinen Körper schon sehen? Niemand, solange Leiard etwas zu sagen hatte.
Ein Stück Tuch war alles, was er hatte, um sich zu trocknen. Er rubbelte sich die Haut, um sich zu wärmen, und ging zurück in die Höhle.
»Wilar?«
Er blieb stehen und wandte sich wieder zum Wasserfall um. Die Stimme war vertraut. Im Eingang konnte er die Silhouette eines Siyee ausmachen.
»Reet?«
»Ich bin es, Tyve.«
Der Bruder, dachte Mirar. Die beiden klingen so ähnlich. »Gib mir einen Moment Zeit«, rief er.
Er eilte in die Höhle, kleidete sich hastig fertig an und kehrte dann mit seinem Beutel mit Heilmitteln zum Wasserfall zurück. Ein junger Siyee stand in der Lücke zwischen dem Rand des Wasserfalls und der Felswand. Als Mirar näher trat, grinste er.
»Kommen wir ungelegen?«
»Nein«, versicherte ihm Mirar. »Ich freue mich stets über eure Gesellschaft.«
Der Siyee verbarg ein Lächeln. Mirar hatte ihre Sprache schnell wieder erlernt, aber die Worte oder Ausdrücke, die sie benutzten, verstand er nicht immer. Er vermutete, dass er eine altmodische Redeweise benutzte, die die Siyee erheiternd fanden, und dass die verwirrenden Ausdrücke, die er von ihnen hörte, sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt haben mussten.
Er hatte die beiden vor einigen Wochen kennen gelernt und ihnen die Erklärung gegeben, die er und Emerahl sich zurechtgelegt hatten: Er hatte sich bereiterklärt, sich hier mit ihr zu treffen, und sie hatte ihm den Weg zur Höhle in Traumvernetzungen gezeigt, aber als er eingetroffen war, war sie bereits fort gewesen.
Sie verstanden, was ein Traumweber war. Er hatte zu seiner Freude erfahren, dass die Siyee sich noch immer an Mirar erinnerten und sich Geschichten erzählten, in denen er ein mildtätiger Heiler und ein Weiser war. Zu seiner Belustigung vermuteten sie, dass alle Traumweber männlich waren und über große magische Stärke verfügten.
Er und Tyve traten hinter dem Wasserfall hervor und gingen zum Rand des Teichs, wo ein anderer junger Siyee auf sie wartete.
»Sei mir gegrüßt, Wilar. Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht«, sagte Reet und hielt einen kleinen Beutel hoch.
»Vielen Dank«, erwiderte Mirar und griff seinerseits nach seinem Beutel. »Seid ihr gekommen, um weitere Heilmittel zu holen?«
»Ja. Sizzi sagt, deine Medizin habe gewirkt. Sie will mehr. Sprecher Veece hat Schmerzen in den Gelenken, jetzt, da es kälter wird. Hast du etwas, das ihm helfen könnte?«
Mirar lächelte. »Er hat euch nicht aufgetragen, darum zu bitten, nicht wahr? Ihr tut das aus eigenem Antrieb.«
Reet grinste. »Er ist zu stolz, um um Hilfe zu bitten, aber nicht so stolz, dass er sich nicht ständig über seine Gebrechen beklagen würde.«
Mirar setzte sich auf einen Felsen, öffnete seinen Beutel und betrachtete den Inhalt. »Ich werde etwas zusammenstellen müssen. Hier habe ich das Wundenpulver und ein Schmerzmittel.« Er zog einen geschnitzten hölzernen Krug und einen kleinen Beutel mit Kügelchen hervor.»Das Schmerzmittel ist in dem Beutel. Man darf es nicht länger als vier Tage benutzen und niemals mehr als zwei Kügelchen gleichzeitig einnehmen.«
Reet nahm den Beutel und den Krug entgegen und verstaute beides in einer Tasche, die er am Oberkörper festgebunden trug. Mirar griff nach dem Beutel mit Essen. Der Beutel war überraschend schwer, und er hörte das leise Gluckern von Flüssigkeit darin.
»Ist das… ah!« Er zog einen Schlauch mit Teepi hervor.
»Ein Geschenk von Sizzi«, erklärte Tyve.
Mirar betrachtete die beiden Siyee. »Habt ihr ein wenig Zeit, oder müsst ihr gleich zurückkehren?«
Sie schüttelten den Kopf und grinsten. Mirar zog den Stöpsel aus dem Schlauch und nahm einen Schluck von dem Schnaps. In seinem Mund entfaltete sich ein scharfes, nussiges Aroma. Er schluckte und kostete die Wärme aus, die sich von seinem Magen ausgehend bis in seine Glieder verbreitete. Dann reichte er den Schlauch an Tyve weiter.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte er.
Tyve trank und gab den Schlauch an Reet weiter. »Einige Priester sind im Offenen Dorf angekommen. Sie werden die Siyee, die dies wünschen, unterrichten, damit sie Priester und Priesterinnen werden können.«
Mirar seufzte. Die Siyee hatten jahrhundertelang nur unter dem Einfluss Huans gestanden, und die Göttin hatte sich, seit sie sie erschaffen hatte, nicht allzu sehr in ihr Leben eingemischt. Sobald die Siyee eigene Priester und Priesterinnen hatten, würden sie ermutigt werden, allen fünf Göttern zu huldigen, und einige dieser Götter neigten eher dazu, das Leben der Leute durcheinanderzubringen.
»Du scheinst nicht allzu erfreut, das zu hören«, bemerkte Reet.
Mirar sah den jungen Mann an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Mir… mir gefällt die Vorstellung nicht, dass die Siyee von den Göttern und ihren Dienern unter den Landgehern beherrscht werden.«
Tyve runzelte die Stirn. »Du denkst, dass es so kommen wird?«
»Möglicherweise.«
»Wäre das schlecht?«, fragte Reet schulterzuckend. »Die Götter können uns beschützen.«
»Es war sicherer für euch, als ihr noch vom Rest der Welt getrennt lebtet.«
»Die Welt hat uns überfallen«, rief Reet ihm ins Gedächtnis.
»Ah, du hast recht. Man könnte sagen, dass die torenischen Siedler euch auf ihre Art und Weise tatsächlich überfallen haben. Ich schätze, ihr hättet nicht für immer getrennt von der übrigen Welt existieren können.«
»Du huldigst den Göttern nicht?«, fragte Tyve.
Mirar nahm den Schlauch von Reet entgegen und legte ihn beiseite. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Die Traumweber dienen keinen Göttern. Sie helfen den Menschen. Den Göttern… ihnen gefällt das nicht.«
»Warum nicht?«
»Sie lieben es, angebetet zu werden und uneingeschränkte Macht über alle Sterblichen zu haben. Es gefällt ihnen nicht, dass die Traumweber ihnen nicht huldigen oder gehorchen. Wenn wir anderen helfen, verringern wir in ihren Augen ihren Einfluss auf jene, die unseren Beistand genießen.«
Tyve runzelte die Stirn. »Bestrafen sie euch dafür?«
Erinnerungen an einen verkrüppelten Körper und Gestein, das ihn unter sich begrub, stiegen in Mirar auf, doch er schob sie beiseite. »Sie haben Juran von den Weißen befohlen, unseren Anführer zu töten. Auf ihr Drängen hin haben sich die Zirkler gegen die Traumweber gewandt. Viele wurden ermordet. Obwohl das heute nicht mehr geschieht, werden die wenigen Männer und Frauen meines Ordens, die das Leben als Traumweber auf sich nehmen, überall von Zirklern verachtet und verfolgt.«
Die beiden Siyee sahen Mirar entsetzt an. »Die Zirkler sind unsere Verbündeten«, sagte Tyve. In seiner Stimme lag nicht der Wunsch, die Zirkler zu verteidigen. »Wenn du ein Feind der Zirkler bist, bist du dann auch unser Feind?«
»Das zu entscheiden liegt bei euch«, erwiderte Mirar und wandte den Blick ab. »Diese Allianz wird eurem Volk höchstwahrscheinlich viel Gutes bringen. Ich möchte keinen Zweifel säen.«
Lügner, sagte Leiard, dessen Stimme ein Wispern tief unten in Mirars Geist war.
»Warum huldigt ihr den Göttern nicht?«, fragte Reet.
»Aus mehreren Gründen«, antwortete Mirar. »Zum Teil deshalb, weil wir der Meinung sind, dass wir in dieser Frage eine Wahl haben sollten. Zum Teil, weil wir wissen, dass die Götter nicht so gütig und wohlwollend sind, wie sie es die Sterblichen glauben machen wollen.« Mirar schüttelte den Kopf. »Ich könnte euch von den Taten der Götter in der Vergangenheit erzählen, bevor ihr Krieg sie auf fünf reduzierte, und bei diesen Geschichten würde euch das Blut in den Adern gefrieren.«
Würdest du lieber nur von Taten der fünf verbliebenen Götter berichten, damals, in ihren bösen alten Tagen?, fragte Leiard.
Nein, erwiderte Mirar. Das wäre allzu durchschaubar. Ich würde auch Geschichten von anderen Göttern hinzufügen.
»Erzähl uns davon«, bat Tyve ernsthaft. »Wenn sie über uns herrschen werden, sollten wir um diese Dinge wissen.«
»Es wird euch vielleicht nicht gefallen, was ihr hört«, warnte Mirar ihn.
»Das kommt darauf an, ob wir dir glauben oder nicht. Alte Geschichten sind im Allgemeinen lediglich Übertreibungen der Wahrheit«, bemerkte Reet weise.
»Dies sind keine Geschichten. Es sind Erinnerungen«, verbesserte ihn Mirar. »Wir Traumweber geben unsere Erinnerungen an unsere Schüler und aneinander weiter. Was ich euch erzähle, sind keine Übertreibungen oder Verzerrungen, sondern wahre Erinnerungen von Menschen, die schon lange tot sind.«
Oder nicht gar so tot, ergänzte Leiard.
Mirar hielt inne. Gibst du also zu, dass ich der Besitzer dieses Körpers bin?
Er bekam keine Antwort. Die beiden Siyee beobachteten ihn aufmerksam. Er konnte ihre Neugier spüren. Was tue ich hier?, dachte er. Wenn sich diese Geschichten unter den Siyee herumsprechen, werden die Götter davon erfahren und nach der Quelle suchen.
Geschichten waren mächtig. Sie konnten Vorsicht lehren. Der Gedanke, dass die Siyee Priester und Priesterinnen hervorbringen und dass die Götter sie beherrschen und sie verändern würden, spornte ihn an. Sie sollten ein solches Schicksal nicht akzeptieren, ohne einen Teil der Wahrheit zu kennen.
»Ich werde euch Geschichten von toten Göttern sowie von jenen des Zirkels erzählen«, sagte er. »Habt ihr jemals von den Huren von Ayetha gehört?«
In den Augen der jungen Männer leuchtete Interesse auf. »Nein.«
»Ayetha war eine Stadt in dem Gebiet, das heute Genria ist. Die beliebteste Göttin jener Stadt war… nein, ich werde ihren Namen nicht aussprechen. Die Menschen haben einen Tempel für sie erbaut. Sie übte durch Gewährung von Vergünstigungen Macht über sie aus. Jede Familie, die ihre Hilfe brauchte, musste dem Tempel ein Kind überlassen. Dieses Kind – sei es männlich oder weiblich – wurde in den Künsten der Prostitution unterwiesen und gezwungen, jenen zu dienen, die kamen und dem Tempel Geld spendeten. Sie brauchten nicht einmal voll ausgewachsen zu sein, um ihren Dienst zu beginnen. Falls sie jemals versuchten, ihren Tempel zu verlassen, wurden sie gejagt und getötet. Die Säuglinge, die diesen Frauen geboren wurden… sie wurden dieser Göttin geopfert.«
Das Interesse in den Augen der jungen Männer hatte sich in Entsetzen verwandelt.
»War das vor dem Krieg der Götter?«, fragte Reet.
»Ja.« Mirar hielt inne. »Wollt ihr mehr hören?«
Die beiden tauschten einen Blick, dann nickte Tyve.
Mirar betrachtete ihre grimmigen, entschlossenen Mienen und fuhr fort. »Sie war nicht der einzige Gott, der seine Anhänger missbrauchte. Einer verführte junge Mädchen aus ganz Ithania. Manche Eltern fürchteten ihn und hielten ihre Töchter versteckt, aber vergeblich, da die Götter die Gedanken aller Menschen lesen können, überall. Anderen war die Wertschätzung eines Gottes sehr kostbar, und in ihrer Dummheit träumten sie davon, dass ihr eigenes Kind ausgewählt werden könnte. Dieser Gott bevorzugte Unschuld und verlangte vollkommene Unterwerfung. Wenn er Mädchen fand, die seinen Anforderungen gerecht wurden, erfreute er sie mit Magie, und das auf eine Art und Weise, die es ihnen unmöglich machte, gewöhnliche körperliche Gefühle zu empfinden. Sie verloren das Interesse am Essen und vernachlässigten sich. Unschuld stirbt schnell, und diese Mädchen fragten irgendwann unweigerlich danach, was ihnen angetan worden war. Wenn sie das taten, verließ er sie. Danach lebten sie nicht mehr lange. Einige töteten sich, andere verhungerten, wieder andere fielen Freudendrogen zum Opfer. Ich habe mich um einige dieser Mädchen gekümmert, und ich konnte niemals eines retten.«
»Du?«, fragte Tyve. »Aber auch das muss doch vor dem Krieg der Götter geschehen sein.«
Mirar schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich habe mit dem Mund eines Mannes gesprochen, dessen Erinnerung in mir fortlebt.«
Reet runzelte die Stirn. »Es ist seltsam.«
»Was ist seltsam?«
»Die Götter… sie sind keine körperlichen Wesen. Warum sollte einer von ihnen…« Er errötete. »Warum sollte einer von ihnen Mädchen wollen?«
»Es gibt viele Geschichten von Göttern, die sich in Sterbliche verliebt haben oder Sterbliche begehrten. Sie mögen Wesen aus Magie sein, aber es verlangt sie dennoch nach körperlicher Nähe. Es gab einmal eine berühmte Geschichte über eine Göttin – eine Geschichte, die schon vor tausend Jahren alt war. Diese Göttin verliebte sich in einen Sterblichen und tötete jede Frau, die ihm zufällig begegnete und für die er auch nur die leiseste Bewunderung verspürte. Zu guter Letzt verlor er den Verstand und nahm sich das Leben.«
»Wenn die Götter also Liebe empfinden können, empfinden sie dann auch Hass?«
Mirar nickte. »Oh ja. Ihr habt gewiss nie von den Velianern gehört. Das liegt daran, dass einer der Götter sie so sehr hasste, dass er sie von seinen Anhängern niedermetzeln ließ, bis hin zum letzten Kind von gemischtem Blut. Es dauerte Jahrhunderte, aber am Ende hatte er diese Rasse vollkommen ausgelöscht.«
Tyve schauderte. »Wenn die Götter ein ganzes Volk vernichten können, wäre es nicht klug, sie sich zu Feinden zu machen.«
»Ihr braucht sie nicht zum Feind zu haben, um unter ihnen zu leiden. Die Dunweger waren eine friedliche Rasse von Bauern und Fischern, bis ein Kriegsgott beschloss, sie zu Kriegern zu machen. Ein langes Jahrhundert des Hungers folgte, weil so viele von ihnen Kämpfer geworden waren, dass zu wenige übrigblieben, um Getreide anzubauen oder Vieh zu züchten. Viele tausend starben.«
»Aber nicht alle Götter sind schlecht«, warf Reet ein.
»Das ist wahr«, pflichtete Mirar ihm bei. »Es gab auch gute Götter. Wie zum Beispiel Iria, die Göttin des Himmels. Sie konnte man anrufen, um Näheres über die kommenden Jahreszeiten zu erfahren, und sie erschien den Menschen, um sie vor ungünstigem Wetter oder nahenden Katastrophen zu warnen. Dann gab es einen Meeresgott, Svarlen, der Seeleuten half zu navigieren oder sie vor Stürmen warnte. Und Kem, den Bettlergott, dessen Anhänger sich um jene kümmerten, die kein Zuhause besaßen und niemanden, der für sie sorgte. Es war schrecklich, sie zu verlieren.«
»Sie sind im Krieg der Götter gestorben.« Tyve runzelte die Stirn. »Wer hat sie getötet?«
Mirar hielt den Blick des jungen Mannes eine Weile fest, bevor er antwortete. »Wer weiß? Vielleicht die Sieger.«
In Tyves Miene ging langsam eine Veränderung vor, als er begriff, was das bedeutete. »Die Fünf«, stieß er hervor. »Das kann nicht sein! Diese guten Götter müssen früher während des Krieges von jemand anderem getötet worden sein. Die Fünf könnten ihre Mörder getötet haben.«
»Das ist möglich«, stimmte Mirar ihm zu. »Es ist auch möglich, dass einer oder mehrere der Fünf sie getötet haben.«
»Das hätten sie niemals getan«, beharrte Tyve. »Sie sind gut. Wenn sie böse wären, wäre die Welt ein schrecklicher Ort. Es ist jetzt Frieden in der Welt… zumindest in Nordithania.«
Mirar lächelte. »Dann sind wir alle in Sicherheit«, sagte er. »Aber merkt euch dies: Zwei der ersten Götter, die ich erwähnt habe – diejenigen, deren Verbrechen ich aufgelistet habe -, sind noch immer bei uns. Vielleicht haben sie sich geändert, aber da ich nun einmal weiß, was ich weiß, werde ich niemals darauf vertrauen, dass sie wirklich im Interesse Sterblicher handeln.«
Die beiden jungen Männer blickten beunruhigt drein, und Mirar verspürte schwache Gewissensbisse. Ist es recht von mir, ihre Illusionen über die Götter zu zerstören? Welche Wahl haben sie denn?
Er griff nach dem Schlauch und reichte ihn Tyve. »Trinkt und vergesst, was ich euch erzählt habe. Das alles gehört der fernen Vergangenheit an. Wie ihr schon gesagt habt, wir leben jetzt in besseren Zeiten. Das ist alles, was zählt.«
Sobald die Diener ihre Räume verlassen hatten, begann Auraya auf und ab zu gehen. In einigen Stunden würde sie in der Luft sein, auf dem Weg nach Si. Sie brauchte nur wenige Vorkehrungen zu treffen, bevor es ihr freistand, aufzubrechen.
Unfug tollte im Raum umher, angesteckt von ihrer Aufregung. Sie hoffte, dass diese Energieverschwendung ihn ermüden würde, so dass er später still war. Als eine magische Präsenz ihre Sinne berührte, blickte sie zu dem Veez hinüber. Er reagierte nicht. Soweit sie sehen konnte, bekam er von Chaias Besuchen nichts mit.
Bist du bereit?, fragte Chaia.
Ja. Ich bin seit Sonnenaufgang auf den Beinen und treibe meine Diener in den Wahnsinn.
Das ist unwahrscheinlich. Du nimmst nur wenig mit, so dass sie sich wohl kaum überschlagen müssen, um für dich zu packen. Sie haben dir nicht mal das Haar frisiert.
Das hätte keinen Sinn, erwiderte sie und berührte die Spange, mit der sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Jede Frisur würde sich draußen im Wind auflösen.
Du könntest dein Haar mit Magie vor dem Wind schützen.
Ich mag das Gefühl des Windes.
Ich sehe dich gern mit frisiertem Haar.
Das Kompliment trieb ihr eine schwache Röte der Freude in die Wangen.
Es ist eine bloße Äußerlichkeit. Du kannst das nicht sehen, bemerkte sie.
Ich sehe es durch die Augen anderer.
Ah, erwiderte sie. Gefällt es dir, weil es ihnen gefällt, oder…
Eine pelzige Gestalt sprang auf den Tisch. Auraya drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Veez mit den Zähnen einen runden Gegenstand packte.
»Unfug!«, stieß sie hervor und sprang auf ihn zu. »Lass das!«
Der Veez legte die Ohren an den Kopf. Er wich ihr mühelos aus, sprang vom Tisch und suchte Zuflucht hinter einem Stuhl. Sie folgte ihm und sah ihn in der schmalen Lücke zwischen dem Stuhl und der Mauer hocken, von wo aus er sie trotzig anstarrte.
»Mnn«, sagte er, den Ring noch immer zwischen den Zähnen.
»Es ist nicht deiner«, erwiderte sie energisch und streckte die Hand aus. »Gib ihn mir.«
»Nit dnn«, murmelte der Veez. Meiner!, sandte er ihr auf telepathischem Weg und gab es dann auf zu versuchen, mit dem Ring im Maul zu sprechen.
»Gib ihn mir«, befahl sie. »Sofort.«
Der Veez blinzelte sie an. Sie machte einen Schritt nach vorn und streckte die Hand nach ihm aus. Wie sie erwartet hatte, huschte er davon, hinter einen anderen Stuhl.
Sie richtete sich auf und seufzte. Solche Kraftproben mit ihr stellten seine gegenwärtige schlechte Angewohnheit dar. Mairae hatte ihr versichert, dass alle Veez das taten und dass sie des Spiels irgendwann müde würden, aber in der Zwischenzeit war Unfugs Benehmen überaus ärgerlich. Meistens gelang es Auraya, diese Dinge zu ignorieren, aber heute Morgen hatte sie keine Zeit, dem kleinen Tier nachzugeben.
Er bewegte sich jetzt immer schneller durch den Raum, um ihr auszuweichen. Es gefiel ihr nicht, ihm mit Hilfe von Magie beizukommen. Es war immer besser, ihn zu überreden.
»Auraya Ring geben, oder Unfug nicht fliegen«, sagte sie.
Es folgte eine Pause, dann ein gedämpftes Wort. Der Veez kam nicht hervor.
Ich habe diese Drohung schon früher benutzt, dachte sie kläglich.
»Auraya weggehen«, erklärte sie. »Unfug nicht mitnehmen. Unfug lange Zeit allein lassen.«
Diesmal fiel die Pause länger aus, dann erklang ein Wimmern, das ihr beinahe das Herz zerriss, und der Veez kam herbeigehüpft. Er schoss quer durch den Raum, lief ihren Zirk hinauf und schlang sich um ihren Hals.
Sie streckte die Hand aus, und er ließ den Ring hineinfallen. Dann bettete Unfug den Kopf auf ihre Schulter und seufzte.
»Owaya bleiben.«
»Auraya und Unflug fliegen«, sagte sie.
»Jetzt fliegen?«
»Später.«
Sie ging zu einem Stuhl und setzte sich. Sofort kletterte der Veez auf ihren Schoß hinab und verlangte, gekrault zu werden. Während sie mit einer Hand seiner Bitte nachkam, hielt sie mit der anderen den Ring hoch. Plötzlich fiel ihr Chaia wieder ein. Sie konnte ihn nach wie vor spüren.
Entschuldige den kleinen Zwischenfall.
Sie spürte eine Welle der Erheiterung.
Ich bin an Störungen gewöhnt, erwiderte er.
Sie betrachtete den Ring.
Was ist mit dem alten Ring passiert?, fragte sie Chaia.
Den haben noch immer die Pentadrianer. Sie verstehen seine Eigenschaften nicht ganz, sonst hätten sie ihn gegen dich benutzt.
Sie schauderte bei diesem Gedanken. Es war schlimm genug gewesen, zusehen zu müssen, wie die schwarzen Vögel der Pentadrianer den Siyee-Spion vom Himmel geholt und in die Hände der Feinde gestoßen hatten. Sie konnte sich vorstellen, um wie vieles schlimmer es hätte sein können. Zum Beispiel, wenn der Träger des Rings gefoltert worden wäre. Sie würde nicht zusehen müssen, aber das Wissen, dass ihretwegen etwas Derartiges geschah, würde schrecklich sein.
Kannst du den Ring zerstören?, fragte sie.
Nur durch einen anderen. Seine Macht wird irgendwann schwinden.
Kannst du diesen Prozess beschleunigen…?
Ein Klopfen an der Haupttür unterbrach sie. Sie streckte ihren Geist nach der Person dahinter aus und lächelte. Dann zog sie ein wenig Magie in sich hinein und ließ die Tür aufspringen.
Danjin trat ein. »Guten Morgen, Auraya von den Weißen«, sagte er und machte das Zeichen des Kreises.
»Guten Morgen, Danjin Speer«, erwiderte sie. »Komm herein und nimm Platz.«
Er ging zu einem der Stühle. Unfug sah den Ratgeber mit zuckenden Schnurrhaaren an, dann rollte er sich zusammen und schlief ein.
»Ich werde in einigen Stunden aufbrechen«, sagte sie. »Bevor ich gehe, muss ich dir etwas geben. Fang.«
Sie warf Danjin den Ring zu, und er fing ihn geschickt auf. Während er den Ring betrachtete, veränderte seine Miene sich kaum, aber sie konnte ein schwaches Unbehagen in seinem Geist wahrnehmen.
Ich kann nicht anders, es widerstrebt mir einfach, wieder jemanden in meinem Kopf zu haben, auch wenn es nur Auraya ist. Allerdings ist dies in meiner Position eine Notwendigkeit. Er steckte sich den Ring an den Finger.
»Er wird deinen Geist vor Traumwebern abschirmen, die möglicherweise versuchen, in deine Träume einzudringen«, erklärte sie ihm.
Er sah sie an. »Also kann ich in deinem Auftrag weiter mit ihnen arbeiten.«
»Ja.« Auraya dachte an das Hospital, und eine nagende Sorge kehrte zurück. »Es wird nicht so schwierig sein, wie du es vielleicht erwartest. Sowohl die Traumweber als auch die Heiler bemühen sich, so weit wie möglich mit uns zusammenzuarbeiten. Ich habe noch eine andere Aufgabe für dich. Die Botschafter aus Si haben um jemanden gebeten, der sie unsere Sprache lehrt, und wir brauchen Leute hier, die ihre Sprache beherrschen. Möchtest du einer dieser Leute sein?«
Er lächelte. »Natürlich. Ich konnte während der Wochen vor der Schlacht einige Worte aufschnappen.«
»Mairae übersetzt für sie«, fuhr sie fort. »Was bedeutet, dass sie ziemlich beschäftigt ist. Wenn du schnell lernst, wirst du von allen Leuten in Jarime ihr Liebling sein.«
»Ich betrachte mich als gewarnt.«
Auraya lachte. »Mach dir keine allzu großen Hoffnungen.«
»Ich? Ich bin nicht annähernd hübsch genug für Mairae. Außerdem würde meine Frau mich umbringen.«
»Das ist wahr. Wie geht es ihr?«
Er nickte. »Gut.« Sein Lächeln wurde breiter. »Man weiß, dass das eigene Leben gut ist, wenn es keinen Stoff für eine aufregende Geschichte abgeben würde. Ich habe gelernt, diesen Zustand zu schätzen.«
»Ich hoffe, dass es so bleibt. Also, gibt es noch irgendetwas, das ich tun muss, bevor ich abreise? Das heißt, irgendetwas, das sich in einer Stunde erledigen lässt?«
Während Danjin nachdachte, drehte er den Ring um seinen Finger. Leise Gewissensbisse regten sich in Auraya. Sie hatte ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt. Der Ring würde seine Gedanken vollkommen abschirmen und sie lediglich für Auraya zugänglich machen, was nicht sein ursprünglicher Zweck war. Eigentlich hätte der Ring den Geist des Trägers nicht vor den anderen Weißen beschirmen dürfen, aber genau das tat er. Die Weißen und die Hüter des Willkommensbaums hatten noch nie zuvor versucht, einen solchen Ring zu schaffen, und als ihnen ihr Fehler bewusst geworden war, war es zu spät gewesen, um einen anderen Ring wachsen zu lassen. Die Entscheidung, dass Auraya nach Si reisen sollte, war bereits getroffen, und sie brauchte den Ring sofort.
Juran hatte ihr aufgetragen, diesen Mangel vor Danjin verborgen zu halten. Er wird es vielleicht trotzdem herausfinden, dachte Auraya. Die Umstände könnten ihn darauf aufmerksam machen, dass die anderen Weißen seine Gedanken nicht zu lesen vermögen.
Ich bezweifle, dass er die Situation ausnutzen würde, sagte Chaia. Man kann ihm vertrauen.
Ja.
Trotzdem sollte der Ring nach deiner Rückkehr zerstört werden.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Um das Wachstum eines neuen Verbindungsrings zu unterstützen, würde sie abermals jeden Tag in den Hain gehen müssen, ganz gleich, wie das Wetter war oder wie viel sie zu tun hatte.
»Das einzige Problem, um das wir uns noch nicht gekümmert haben, ist Unfug«, bemerkte Danjin plötzlich und sah den Veez an. »Möchtest du, dass ich ihn wie zuvor jeden Tag hier besuche?«
Sie grinste und schüttelte den Kopf. »Er wird mit mir kommen.«
»Wirklich? Da werden sich die Siyee aber freuen.« Seine Stimme troff vor Ironie.
»Und er auch.« Sie hob Unfug hoch, setzte ihn auf die Sitzfläche und stand dann auf. »Ich danke dir für deine Hilfe während der letzten Tage, Danjin. Wenn es sonst noch etwas geben sollte, sprich über den Ring zu mir.«
»Das werde ich tun«, erwiderte er. Sie gingen zur Tür hinüber. »Ich wünsche dir eine sichere Reise, und gib in Si gut auf dich Acht.«
Sie öffnete die Tür. »Natürlich.«
Er lächelte und trat hinaus. Nachdem Auraya die Tür geschlossen hatte, sah sie sich in dem Raum um. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sie zurückkehrte. Diesmal würde sie sich zumindest keine Sorgen machen müssen, dass der arme Unfug ganz allein vor sich hin schmachtete – oder Danjin quälte.
Er blickte mit zuckenden Schnurrhaaren zu ihr auf.
Fliegen?
»Ja, Unfug«, sagte sie. »Wir haben einen langen Weg vor uns, und es wird Zeit, dass wir den ersten Schritt tun.«
Wann immer sich Reivan die Gelegenheit dazu bot, erkundete sie einen Teil des Sanktuariums, mit dem sie nicht vertraut war, und hoffte, dass sie auf diese Weise irgendwann all seine Winkel und Wege kennen lernen würde. An diesem Morgen war sie dankbar für ihre früheren Streifzüge. Die Erbauer des Sanktuariums hatten offenkundig keinen Wert auf einen schnellen Weg von den Bädern zum Sternensaal gelegt. Es gab zwei Möglichkeiten: einen langen, aber weniger gewundenen Weg durch die Quartiere der Götterdiener und wieder hinauf in das Mittlere Sanktuarium, oder einen komplizierten Weg durch Lagerräume, Küchen, eine unbedeutendere Bibliothek und einen Raum, der wie eine Gerberei roch.
Die Frage, warum sie auf dem Weg zum Sternensaal war, war ein Rätsel. Der Bote hatte keine Erklärungen abgegeben. Wahrscheinlich wurde wieder einmal ein Ritual abgehalten, bei dem Imenja ihre Anwesenheit wünschte.
Als sie sich ihrem Ziel näherte, verspürte sie ein leichtes Flattern im Magen. Obwohl sie bereits viele Male im Sternensaal gewesen war, befiel sie stets ein Gefühl der Erregung, wenn sie ihn betrat. Nachdem sie um die letzte Ecke gebogen war, sah sie den schmalen Eingang zu dem Raum und hielt inne, um dreimal langsam durchzuatmen. Dann richtete sie sich auf, glättete ihre Roben und trat durch die Tür.
In dem in den Boden eingelassenen silbernen Stern stand ein attraktiver, schwarzgewandeter Mann. Reivans Herz schlug schneller, als Nekaun sie ansah und lächelte. Er deutete auf eine Gruppe von Dienernovizen. Während sie auf sie zuging, sah sie sich in dem Raum um und betrachtete die Götterdiener und die Ergebenen, die an den Wänden standen. Als sie Imenja unter ihnen entdeckte, machte sich Erleichterung in ihr breit.
Das Gefühl zerstob jedoch, als Nekaun das Wort ergriff.
»Heute sollen acht Männer und Frauen zu Dienern der Götter geweiht werden. Diese Dienernovizen haben hart gearbeitet, und ein jeder hat sich das Recht verdient, den Göttern nach bestem Vermögen zu dienen. Sie haben die erforderlichen Prüfungen bestanden und ihre Lehrer zufriedengestellt. Heute werden sie das Gelübde ablegen, das wir alle gesprochen haben. Heute werden sie das Symbol der Götter über ihrem Herzen tragen. Heute werden sie als Schwestern und Brüder zu uns stoßen.«
Er wandte sich zu den Novizen um und sagte einen Namen. Ein Mann trat vor. Reivan begriff, dass ihr Mund offen stand, und sie schloss ihn hastig. Sie hatte Nekaun überrascht angestarrt. Jetzt spürte sie, dass ihr Magen einen Purzelbaum schlug.
Sie machen mich schon jetzt zu einer Götterdienerin!
Aber es dauerte Jahre, bis man zu einem Götterdiener geweiht wurde. Sie besah sich die Dienernovizen um sie herum. Sie waren alle Anfang zwanzig – etwa in ihrem Alter. Die Neulinge, die zusammen mit ihr ihre Ausbildung begonnen hatten, waren alle etwa zwischen fünfzehn und neunzehn.
Magie ist der Grund, dachte sie. Oder vielmehr mein Mangel daran. Drevva schien tatsächlich in Bezug auf die Dinge, die sie mich lehren kann, der Stoff auszugehen. Ich vermute, all die Jahre der Ausbildung fließen größtenteils in die Verbesserung magischer Fähigkeiten.
»Dienernovizin Reivan.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als Nekaun sie zu sich heranwinkte. Sie holte tief Atem, dann trat sie in die Mitte des Sterns.
»Du bist erst seit wenigen Monaten Novizin«, erklärte er, »aber deine Kenntnisse der pentadrianischen Gesetze und Geschichte haben sich als vorbildlich erwiesen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass du bereit bist, die volle Verantwortung als Dienerin der Götter auf dich zu nehmen.«
Warum hat Imenja mich nicht gewarnt, dass sie das vorhatten? Sie blickte in die Richtung der Zweiten Stimme und sah, wie die Lippen der Frau sich zu einem flüchtigen Lächeln formten.
»Dienernovizin Reivan«, wiederholte Nekaun. »Ist es dein Wunsch, dein Leben in den Dienst der Götter zu stellen?«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich wünsche es mir von ganzem Herzen.«
»Bist du bereit, alles für die Fünf zu opfern?«
»Das bin ich.«
»Würdest du für sie auf Liebe, Wohlstand und sogar auf dein Leben verzichten?«
»Das würde ich.«
»Dann empfange dieses Symbol ihrer Macht und ihrer Einheit. Trage es stets über dem Herzen, da es deine Verbindung zu den Göttern und ihren Dienern ist.«
Er öffnete die Hand, und ein silberner fünfzackiger Stern wurde sichtbar. Durch eine der Spitzen lief eine Kette, die jetzt zwischen Nekauns Fingern herabhing.
Reivan griff nach dem Stern. Er war leichter, als sie erwartet hatte. Ehrfürchtig hob sie die Kette hoch und legte sie sich um den Hals.
»Meine Augen, meine Stimme, mein Herz und meine Seele gehören den Fünf«, sagte sie.
»Mögest du ihnen freudig und wahrhaft dienen«, beendete Nekaun das Ritual.
Der junge Mann, der vor ihr geweiht worden war, stand auf der anderen Seite des Sterns, der im Boden eingelassen war. Reivan stellte sich neben ihn. Während sie beobachtete, wie der nächste Dienernovize vor Nekaun hintrat, nahm sie ein eigenartiges Gefühl wahr. Etwas kitzelte sie an der Stirn. Sie kratzte sich, aber das Gefühl kam von irgendeinem Ort innerhalb ihres Kopfes. Schließlich schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf das Gefühl. Sofort wurde es zu etwas, das sie verstand.
Willkommen, Reivan.
Sie schlug die Augen auf und wandte sich um, um Imenja anzusehen. Die Stimme gehörte eindeutig ihrer Herrin, aber sie wusste, dass sie sie nicht mit ihren Ohren gehört hatte. Die Zweite Stimme lächelte.
Ja, wir können jetzt durch unsere Gedanken zueinander sprechen.
Imenjas Lippen hatten sich nicht bewegt.
Ich… ich kann dir auf demselben Weg antworten?
Ja.
So fühlt es sich also an, wenn man Magie benutzt?
Imenjas Lächeln wurde breiter.
Ja und nein. Niemand ist wirklich ganz ohne Befähigungen, Reivan. Der Anhänger kann nur funktionieren, wenn du über gewisse magische Fähigkeiten verfügst. Jeder besitzt magische Fähigkeiten, selbst jene, die wir als unbefähigt erachten. Du ziehst nicht bewusst Magie in dich hinein oder bedienst dich ihrer, um diese Aufgabe zu erfüllen, und du brauchst keine wirkliche magische Fähigkeit, um dies zu tun, daher ist es in dieser Hinsicht ganz anders als die Benutzung von Magie.
Reivan nickte.
Du hättest mich vorwarnen können.
Wegen der Zeremonie? Dann hättest du eine schlaflose Nacht gehabt. Ich wollte, dass du heute Nachmittag hellwach und aufmerksam bist.
Ach ja? Was hast du denn vor?
Oh, nur eine weitere langweilige Zusammenkunft mit einem murianischen Diplomaten.
Inzwischen hatte die letzte der Dienernovizinnen ihren Sternenanhänger entgegengenommen. Als sie sich zu der Gruppe um Reivan gesellte, ergriff Nekaun abermals das Wort, um alle neuen Götterdiener willkommen zu heißen. Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, traten die anderen Anwesenden im Raum vor, um sie zu beglückwünschen. Obwohl alle Lehrer, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, Reivan willkommen hießen, bemerkte sie doch, dass sie ihr nicht mit der gleichen Herzlichkeit gegenübertraten, die sie den anderen neuen Götterdienern gegenüber an den Tag legten.
Ich hatte einfach nicht genug Zeit, sie für mich zu gewinnen, dachte sie wehmütig. Selbst wenn ich ihnen nicht von Anfang an missfallen hätte, hätte ich keine Gelegenheit gehabt, mich mit ihnen anzufreunden.
Dann kam Imenja zu ihr, und sie beobachtete mit einiger Erheiterung, wie sich das Verhalten der anderen Götterdiener veränderte. Einige wurden mit einem Mal still, während andere sich in einem Wortschwall ergingen. Die Zweite Stimme dankte ihnen für ihre harte Arbeit bei der Unterweisung der Dienernovizen.
Warum schüchtert Imenja mich nicht ein?, fragte sie sich.
Weil Unterwürfigkeit und Schmeichelei kein Teil deines Wesens sind, erklang Imenjas Stimme in ihren Gedanken. Du bist viel zu klug für all diesen Unsinn.
Wenn alle so wären, würdest du niemals jemanden dazu bewegen können, deine Befehle zu befolgen.
Das ist wahr. Also, warum befolgst du meine Befehle?
Ich weiß es nicht. Du bist eine Stimme. Du bist weise und, ähm, empfindsam. Würdest du mich zu einem Häufchen Asche verbrennen, wenn ich dir nicht gehorchte?
Imenja kicherte, was die anderen Götterdiener zutiefst erstaunte. Sie sagte, dass sie Reivans Hilfe benötige, und irgendwie gelang es ihr, sie geschickt von der Menge loszueisen. Als sie den Sternensaal verließen, lachte Imenja abermals leise auf.
»Ich denke, du befolgst meine Befehle, weil ich in deinen Augen den Göttern am nächsten komme«, sagte Imenja leise. »Du fühlst dich nicht nur deshalb zu den Göttern hingezogen, weil du ihnen zu dienen wünschst, sondern weil du eine Denkerin bist – oder warst. Rätsel faszinieren dich.«
Reivan nickte. »Ich nehme an, es ist eine gute Sache, dass ich dieses Rätsel nicht lösen kann, sonst würde ich mich vielleicht irgendwann langweilen und nach etwas anderem Ausschau halten, worüber ich mir den Kopf zerbrechen könnte.«
Imenja zog die Augenbrauen hoch. »In der Tat.«
»Aber ich würde trotzdem…« Reivan brach ab. Etwas regte sich am Rand ihrer Wahrnehmung und lenkte sie ab. Sie fragte sich, ob sie es sich eingebildet hatte, obwohl sich der Eindruck im nächsten Moment zu einem deutlichen Gefühl einer anderen Präsenz wandelte. Einer Präsenz, die sie nicht erkannte.
Willkommen, Götterdienerin Reivan.
Im nächsten Augenblick war die Präsenz fort.
»W… was war das?«
Sie sah sich im Raum um, dann schaute sie zu Imenja hinüber. Die Zweite Stimme starrte sie überrascht an. Überraschung war ein Ausdruck, den Reivan bisher nicht allzu oft in Imenjas Zügen gesehen hatte.
»Ich glaube, Sheyr hat soeben seine Zustimmung zu deiner Ernennung zur Götterdienerin zum Ausdruck gebracht«, murmelte die Zweite Stimme.
Sheyr? Einer der Götter hat zu mir gesprochen? Der Korridor schien sich zur Seite zu neigen, dann richtete er sich wieder auf. Reivan sah Imenja an. Sie fühlte sich vollkommen überwältigt. Was hat das zu bedeuten?
Imenja lächelte. »Ich könnte mir vorstellen, dass du zur Feier des Tages etwas zu trinken brauchst. Wir sollten uns einen Domestiken suchen und nach einer Flasche Jamya schicken.«
»Jamya? Ich dachte, der würde nur bei Zeremonien gereicht?«
»Und manchmal nach Zeremonien.« Imenja legte Reivan eine Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung des Oberen Sanktuariums.
Imi war sich schon seit langer Zeit sicher, dass sich etwas verändert hatte. Das Schiff schlingerte nicht mehr so heftig, und sie hatte, bis auf eine flache Pfütze, alles Wasser aus dem Rumpf geschöpft. Auch die gedämpften Rufe der Plünderer klangen anders. Es lag ein Unterton von Vorfreude in ihren Stimmen.
Sie hatte lange gerätselt und gelauscht, und das hatte sie von dem Schmerz in ihren Armen und Schultern abgelenkt. Dennoch fürchtete sie sich vor dem, was die Veränderung bedeuten konnte, und statt Langeweile und Erschöpfung, die zuvor vom Verstreichen der Stunden gekündet hatten, ließen Furcht und Sorge die Zeit jetzt unerträglich langsam vergehen.
Plötzlich schlingerte das Schiff. Sie ließ den Eimer fallen und stürzte zu Boden. Das Meerwasser war warm, aber willkommen. Einen Moment später schloss sie die Augen und gab ihrer Müdigkeit nach.
Sie musste eingeschlafen sein. Als sie wieder erwachte, waren die Kisten und die großen Tonkrüge, die im Rumpf gelagert worden waren, verschwunden. Sie hörte schnelle Schritte und Rufe von oben. Als die Geräusche verebbten, hatte sich das Fleckchen Himmel, das sie sehen konnte, von Blau über Orange zu Schwarz gewandelt. Es war stiller als während der vergangenen Wochen. Sie glitt langsam wieder in den Schlaf hinüber …
Dann war sie mit einem Schlag hellwach, als Licht den Rumpf erfüllte. Sie zog sich hoch, griff nach dem Eimer und bückte sich, um ihn zu füllen. Zwei Beine erschienen und bewegten sich die Leiter hinunter. Imis Mund wurde trocken, als sie sah, dass dies der Mann war, der die Plünderer anführte. Bis auf sie selbst war der Rumpf leer. Was wollte der Mann?
Als er auf dem Boden angelangt war, trat er einen Schritt zurück. Er sah sie an, dann blickte er wieder zum Deck hinauf. Ein weiteres Paar Beine kam die Leiter hinab. Diese Beine waren in ein Tuch gehüllt, das so schwarz war wie Seeröhrentinte, und sie gehörten einem Mann, den Imi noch nie zuvor gesehen hatte. Als dieser Fremde von der Leiter auf den unebenen Boden trat, schwankte er unsicher; offensichtlich war er nicht einmal an die sanftesten Bewegungen eines Schiffes gewöhnt.
Er musterte sie, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung, dann grinste er den Plünderer an. Die beiden Männer begannen zu reden, während sie auf sie zukamen.
Einige Schritte von ihr entfernt blieben sie stehen. Sie drehte den Kopf weg, beunruhigt von der Art, wie der Fremde sie anstarrte. Sein Blick wanderte von ihren Füßen zu ihrem Kopf und wieder zurück. Das Gespräch wurde lebhafter. Plötzlich fassten die beiden Männer einander an den Handgelenken, kehrten ihr den Rücken zu und gingen davon.
Als sie auf dem Deck verschwanden, ließ Imi den Eimer los. Sie seufzte und setzte sich wieder in die Pfütze.
Kurze Zeit später erklangen abermals Geräusche von der Leiter. Zwei der Plünderer kamen in den Rumpf hinunter und gingen auf sie zu. Sie rappelte sich hoch, und ihr Herz begann zu hämmern. Einer der Männer hielt ein grob gewobenes Tuch.
Der andere packte sie am Arm und zerrte sie zu sich heran. Als der Erste das Tuch mit beiden Händen fasste, wurde ihr klar, dass es sich um einen Sack handelte und dass die beiden vorhatten, sie hineinzustecken.
Sie versuchte, sich dem Griff des ersten Mannes zu entwinden, aber seine Hände waren groß und stark, und sie war zu schwach. Schwindel befiel sie, und sie verlor das Gleichgewicht. Der Sack wurde ihr über den Kopf gestreift, und unerbittliche Hände hielten sie fest, während einer der Plünderer den Stoff bis zu ihren Knöcheln hinunterzog. Dann wurde sie hochgehoben und spürte, wie der Sack unter ihren Füßen zugeknotet wurde.
Gemeinsam trugen die beiden Männer sie hinauf. Sie hatte keine Kraft mehr, um sich zur Wehr zu setzen.
Wo bringen sie mich hin? Interessiert es mich überhaupt? Sie bringen mich von hier fort. Vielleicht ist es dort, wo immer sie mich hinbringen, besser. Schlimmer kann es jedenfalls kaum werden.
Als die beiden Männer sie mit den Füßen nach oben drehten, wahrscheinlich um sie auf das Deck zu tragen, schoss ihr das Blut in den Kopf. Kühlere Luft drang durch das Sackleinen. Sie hörte das Geräusch von Schritten auf Holz, dann auf einer härteren Oberfläche. Ein Gewirr von Stimmen drang an ihre Ohren, Stimmen, die immer lauter wurden, bis sie überall um sie herum waren.
Ein modriger Gestank folgte. Sie wurde auf eine harte Oberfläche geworfen, dann wurde eine Tür geschlossen, so dass die Stimmen nur noch gedämpft klangen. Irgendjemand in ihrer Nähe sprach einige schroffe Worte. Sie hörte eine gemurmelte Antwort, dann entfernten sich die Schritte.
Eine Stimme blaffte ein Wort. Die Oberfläche unter ihr bewegte sich plötzlich. Was es auch war, worauf sie lag, es begann sanft hin und her zu schaukeln, doch es fühlte sich anders an als die Bewegungen des Schiffs. Sie glitt in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, zu müde, um den eigenartigen Geräuschen um sie herum Beachtung zu schenken. So viele Stimmen konnten nur bedeuten, dass sie sich unter einer großen Ansammlung von Landgehern befand. Sie hätte eigentlich Angst haben sollen, aber nicht einmal dafür war ihr noch genug Energie geblieben.
Die Stimmen erstarben langsam. Lange Zeit konnte sie nur das Geräusch rhythmischer Schritte in ihrer Nähe hören. Türen wurden geöffnet und geschlossen, und der Lärm weckte sie schließlich. Sie spürte, wie sie hochgehoben und kurz darauf wieder auf den Boden gelegt wurde.
Stille folgte. Am Rand ihres Bewusstseins nahm sie wahr, dass in der Nähe ihrer Füße etwas geschah. Das Tuch um sie straffte sich, und sie stieß einen hohen Schrei der Überraschung aus, als sie aus dem Sack rutschte.
Sie fiel in kühles, willkommenes Wasser, das ihr half, den Kopf wieder freizubekommen. Sie befand sich in einem runden Becken innerhalb eines ebenfalls runden Raums mit einer Kuppeldecke. In der Mitte des Beckens stand eine eigenartige kleine Skulptur, die eine Frau mit einem Fischschwanz statt Beinen zeigte. Aus ihrem Kopf wuchsen Haare, wie es bei Landgehern der Fall war.
Eine Fischfrau. Soll das etwa eine Elai sein? Sie schnaubte angewidert.
Der Mann, den der Anführer der Plünderer in den Rumpf hinuntergebracht hatte, stand lächelnd in der Nähe. Jetzt hob er die Arme und deutete auf ihre Umgebung. Sie konnte nicht erraten, was er meinte.
Er beobachtete sie eine Weile, dann zog er sich durch einen Bogengang zurück. Er streckte die Hand nach einer Seite aus, umfasste ein aus Metallstäben gemachtes Tor und zog es zu. Immer noch lächelnd ging er davon.
Imi wartete, bis seine Schritte verklungen waren, dann hievte sie sich aus dem Becken. Es war nicht leicht – der Rand des Beckens lag etwa eine Armeslänge über dem Wasserspiegel, und sie war so müde. Die Anstrengung erschöpfte sie, und sie blieb keuchend liegen, bis die Welt um sie herum aufhörte, sich zu drehen. Schließlich zog sie sich auf die Füße und ging zu dem Metalltor. Sie umfasste die Gitterstäbe und drückte. Das Tor bewegte sich nicht. Sie untersuchte den Riegel, an dem eine Art Metallschloss befestigt war. Dahinter war alles dunkel.
Natürlich, dachte sie. Sie ließ sich auf die Knie sinken und drehte sich zu dem Becken und der lächerlichen Skulptur um. Das ist jetzt mein Gefängnis. Ich bin ein Zierstück wie diese Statue. Der Mann, der mich angestarrt hat, wird jetzt wahrscheinlich ständig herkommen, um mich zu beobachten.
Sie kroch an den Rand des Beckens, das keine flachen Bereiche aufwies, in denen sie hätte liegen können. Wenn sie versuchte, dort zu schlafen, würde sie ertrinken. Sie würde alle paar Stunden aufwachen und ihre Haut befeuchten oder riskieren müssen, auszutrocknen und… Sie beugte sich vor und schöpfte mit der Hand ein wenig Wasser, das sie an die Lippen führte, um daran zu nippen.
Süßwasser, dachte sie. Ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis ich krank werde.
Sie schüttelte den Kopf. Ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Sie legte sich auf den kühlen Steinboden und sank in einen erschöpften Schlaf.
Emerahl blickte von ihrer Arbeit auf und blinzelte in den feinen Regen. Ein trostloser Tag, dachte sie. Aber der Kapitän ist glücklich. Wir haben einen guten Fang gemacht.
Auf der rechten Seite ragte die hohe Wand der torenischen Klippen auf. Am Tag zuvor, als sie an dem Leuchtturm vorbeigekommen waren, waren sie viel weiter draußen auf See gewesen. Als Emerahl zu dem fernen weißen Turm hinübergeblickt hatte, hatte sie eigentlich erwartet, Bedauern zu empfinden. Sie hatte so lange in dieser entlegenen Ruine gelebt. Doch sie hatte sich nur abgestoßen gefühlt.
All diese Jahre habe ich in vollkommener Abgeschiedenheit verbracht, nur mit erbärmlichen Schmugglern als Nachbarn. Es ist mir unbegreiflich, dass ich nicht vor Langeweile gestorben bin. Es tut so gut, wieder unter anständigen, hart arbeitenden Menschen zu sein.
Emerahl wandte sich wieder den Fischen zu, die ausgenommen werden mussten, aber ein Licht lenkte ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Klippen. Als sie eine Felsnase passierten, tauchten weitere Lichter auf. Dies war ihr Ziel. Yaril.
Dort – so hatte man ihr erzählt – lebte ein junger Mann, den die Möwe vor sechs Monaten vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sie hatte inzwischen viele Geschichten über den rätselhaften Meeresjungen gehört. Jeder, der an der Küste lebte, kannte jemanden, der von einer Begegnung mit der Möwe berichten konnte. Dieselben Geschichten wurden in jeder Stadt wiederholt. Vielleicht stand niemand wirklich in Verbindung mit dem Helden, und die Leute behaupteten lediglich, ihn zu kennen, um eine bessere Geschichte erzählen zu können, aber diese Städte waren klein, und es war möglich, dass alle Menschen einander kannten, und sei es auch nur flüchtig.
Tatsächlich fand Emerahl die Vorstellung erheiternd, dass sie alle durch diese Geschichten miteinander verbunden waren.
Yaril war jetzt deutlich zu sehen. Für die Fischer war es lediglich ein guter Ort, um ihren Fang zu verkaufen. Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Der Kapitän hatte sie nur unter der Bedingung nach Yaril mitgenommen, dass sie sich nützlich machte. Sie hatte nichts gegen die Arbeit. Auf diese Weise konnte sie ihre Hände beschäftigen, während sie über all die Dinge nachdachte, die sie erfahren hatte.
Als sie sich der Stadt näherten, überließ die Mannschaft die Vorbereitung des Fangs Emerahl, während die Seeleute das Boot in eine flache Bucht steuerten. Sie beeilte sich, die letzten Fische auszunehmen, dann stand sie auf und sammelte ihre Habe ein. Ihre Kleider stanken nach Fisch, und ihre Haut war klebrig von Schweiß und Salzwasser. Sobald sie an Land war, würde sie sich ein Zimmer nehmen und sich selbst und ihre Sachen waschen.
Die Mannschaft manövrierte das Boot an eine kurze Mole. Sobald es nahe genug war, sprang Emerahl von Bord. Sie drehte sich noch einmal um und nickte dem Kapitän dankend zu, bevor sie mit langen Schritten nach Yaril ging.
Im Gegensatz zu den meisten Städten an der Küste Torens lag Yaril nicht oben auf den Klippen. Hinter der Felsnase hatte ein schmaler Fluss das steile Kliff teilweise abgetragen, und auf dem so entstandenen Hang waren Häuser gebaut worden. Es gab keine Straßen in der Stadt, nur Treppen, die auf und ab führten, und enge Pfade kreuz und quer auf dem Hang. Emerahl blieb stehen, um einen Mann anzulächeln, der die Treppen herunterkam und sie mit unverhohlener Neugier anstarrte.
»Einen guten Tag wünsche ich dir. Gibt es hier irgendwo ein Quartier für Reisende?«
Der Mann nickte. »Die Witwe Laylin hat ein Zimmer zu vermieten. Nummer drei, dritte Ebene. Das ist die nächsthöhere Ebene von hier aus. Das Haus liegt gleich auf der rechten Seite.«
»Vielen Dank.«
Sie ging weiter die Treppe hinauf und bog in einen der schmalen Gehwege ein. Vor einem Haus, in dessen Tür eine große Drei geschnitzt war, blieb sie stehen und klopfte. Eine hochgewachsene Frau in mittleren Jahren öffnete die Tür und musterte Emerahl von Kopf bis Fuß.
»Ich höre, du hast ein Zimmer zu vermieten«, sagte Emerahl. »Ist es frei?«
Die Augen der Frau leuchteten auf. »Ja. Komm herein. Ich werde es dir zeigen. Wie heißt du?«
»Limma. Limma Heilerin.«
»Heilerin nach dem Gewerbe ebenso wie nach dem Namen«, bemerkte die Frau.
»Das ist richtig.«
Die Witwe führte sie in ein langgestrecktes, schmales Zimmer mit Blick auf die Bucht. Es war schlicht, aber sauber. Emerahl handelte den Preis auf eine vernünftige Summe herunter, dann bat sie um Wasser, um sich zu waschen.
Die Frau schickte ihre Tochter, es zu holen, und wandte sich wieder zu Emerahl um, um sie mit klugen Augen zu betrachten. »Also, was führt dich nach Yaril?«
Emerahl lächelte. »Ich suche nach einem jungen Mann namens Gherid.«
»Gherid? Wir haben einen Gherid hier. Er ist früher mit seinem Vater fischen gegangen, bis alle auf dem Boot ertrunken sind, außer ihm. Jetzt arbeitet er für den Steinmetzen. Ist das derjenige, den du meinst?«
»Hört sich so an.«
»Was willst du von ihm?«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass er eine interessante Geschichte zu erzählen weiß.«
Die Frau kicherte und schüttelte den Kopf. »Das war einmal. Er ist es irgendwann leid geworden, dass die Leute ständig versucht haben, Löcher in seine Geschichte zu bohren, und jetzt sagt er kein Wort mehr.«
»Nein?«
»Keine Silbe. Nicht für Geld und gute Worte.«
»Oh.« Emerahl sah sich in dem Raum um, als frage sie sich, was sie hier tat.
»Du hast eine weite Reise auf dich genommen«, besänftigte die Frau sie. »Du solltest es wenigstens versuchen. Vielleicht bekommst du ja etwas aus ihm heraus. Ich bringe dich zu ihm, sobald du dich gewaschen hast.«
Sie verließ den Raum, und kurze Zeit später kam das Mädchen mit einem Krug Wasser und einer großen Schüssel. Emerahl wusch sich, zog ihre Kleider zum Wechseln an, wusch dann ihre übrigen Sachen und zog Magie in sich hinein, um die Luft darum herum zu wärmen.
Als ihre Kleider trocken waren, hängte Emerahl sie über einen Stuhl, bevor sie sich ihre Sammlung von Beuteln um die Taille band, ihr Kapas überstreifte und den Raum verließ.
Der Raum nebenan war genauso schmal wie ihrer, aber noch länger. Der vorhandene Platz wurde von Wandschirmen unterteilt, und in der letzten Kammer fand sie eine Küche, wo die Witwe beschäftigt war.
»Bist du so weit?«, fragte die Frau.
Emerahl nickte.
»Dann komm mit. Er wird drüben beim Steinmetzen sein.«
Sie folgte der Frau nach draußen in die kalte Luft. Die Häuser, die alle aus dem gleichen schwarzen Stein erbaut waren, schmiegten sich an die Felswand, als fürchteten sie, in das Meer darunter abzurutschen. Dieser Umstand verlieh der Stadt etwas Finsteres, Angstvolles, doch alle Menschen, denen Emerahl und die Witwe Laylin begegneten, lächelten und begrüßten sie wohlgemut.
Als sie fast die Höhe des Kliffs erreicht hatten, wurde die Treppe immer steiler. Die Witwe musste dreimal stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen.
»Man sollte nicht meinen, dass ich hier lebe, nicht wahr?«, sagte sie nach der dritten Ruhepause. »Dir scheint das Klettern keine Mühe zu machen.«
Emerahl lächelte. »Das Reisen hält die Menschen jung.«
»So muss es wohl sein. So, da wären wir endlich. Sie wohnen so weit oben, weil es für den Steinmetzen einfacher ist, seine Waren hinunterzubringen, als sie raufschleppen zu müssen.«
Statt einer Straße fanden sie sich auf einem von Schutt übersäten »Hof« wieder. Emerahl folgte der Frau zu dem Bereich, in dem zwei grauhaarige Männer große Steinbrocken bearbeiteten.
»Megrin«, sagte die Witwe.
Einer der Männer blickte auf. Er schien überrascht zu sein, Emerahls Begleiterin zu sehen.
»Witwe Laylin«, erwiderte er. »Man sieht dich nicht oft hier oben. Brauchst du irgendetwas?«
»Nein, aber mein Gast möchte mit Gherid ein wenig über die Möwe plaudern.«
Der Mann musterte Emerahl und richtete sich auf. Sie lächelte, als sie seine Bewunderung spürte. Der zweite Mann hatte sich ihnen inzwischen ebenfalls zugewandt. Er hatte ein überraschend junges Gesicht, auch wenn es jetzt einen mürrischen Ausdruck zeigte. Emerahl schaute genauer hin und musste ein Lachen unterdrücken. Das Grau in seinem Haar war Staub. Er war gerade alt genug, um als Mann durchzugehen.
»Das ist Limma«, fuhr die Witwe fort. »Sie ist eine Heilerin.«
Megrin drehte sich zu dem jungen Mann um, dessen Miene sich weiter verfinsterte.
»Warum willst du mit mir über die Möwe reden?«, fragte Gherid.
Emerahl hielt seinem Blick stand. »Ich habe gehört, dass du ihm begegnet bist.«
»Na und?«
»Ich würde gern deine Geschichte hören.«
»Nur zu, Gherid«, drängte ihn die Witwe. »Sei nicht unhöflich zu einem Gast.«
Er sah zuerst die Frau an, dann den Steinmetzen. Der ältere Mann nickte. Gherid seufzte und zuckte resigniert die Achseln. »Na schön, dann komm mit… Limma, so war doch dein Name?«
»Ja.«
Sie folgte ihm zurück zu der Treppe und von dort aus weiter aufwärts. Während sie die Stufen emporstiegen, fing Emerahl starke Gefühle von dem jungen Mann auf. Eine Mischung aus Schuldgefühlen und Furcht. Sie konnte Bruchstücke seiner Gedanken lesen.
… Ich kann sie nicht töten! Aber ich muss es tun, wenn sie…
Erschrocken zögerte sie, dann griff sie nach Magie und formte einen Schild um sich herum. Warum dachte er, dass er sie vielleicht würde töten müssen? Glaubte er, sie würde versuchen, ihm etwas anzutun? Oder ihm etwas wegzunehmen? Gewiss konnte er nicht denken, dass sie ihn zwingen würde, Informationen preiszugeben, die er für sich behalten wollte.
Ich bin eine Heilerin. Eine Zauberin. Beides könnte bedeuten, dass es, sei es durch Drogen oder Folter, in meiner Macht steht, ihn dazu zu zwingen, mir Dinge zu erzählen, die er nicht offenbaren will.
So oder so, es gab offensichtlich etwas, das er nicht preisgeben wollte. Inzwischen waren sie oben auf dem Felskliff angelangt. Gherid ging wortlos am Rand des Felsens entlang. Emerahl beobachtete ihn genau. Sie spürte, dass er irgendeine Art von Vorsichtsmaßnahme ergriff. Als sie stehen blieben, wurde ihr klar, dass sie sich weit jenseits des Stadtrandes befanden. Sie stand jetzt vor einem tiefen Abgrund. Hat er die Absicht, mich hinunterzustoßen?
»Also, was willst du wissen?«, fragte er.
Sie sah ihm in die Augen. »Ist es wahr, dass du der Möwe begegnet bist?«
»Ja«, antwortete er. »Das weiß jeder.«
Sie spürte, dass er die Wahrheit sagte, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte sie.
»Niemand glaubt dir, oder?«
»Und du tust es?«
Sie nickte. »Aber das ist nicht der Grund, warum du die Geschichte nicht mehr erzählen willst, nicht wahr?«
Er starrte sie an, und seine Angst und seine Schuldgefühle nahmen noch zu. Was sie auch sagen mochte, nichts würde ihn beruhigen können. Sie beschloss, ein Glücksspiel zu wagen.
»Du hast ein Versprechen gegeben«, stellte sie fest. »Hast du es gebrochen?«
Er errötete. Sie ahnte langsam, wie er die Begegnung mit der Möwe empfunden haben musste. Nach seiner Rettung durch ein mystisches Wesen hatte er eine Erklärung für das Geschehene benötigt und so viel von seiner Geschichte erzählt, wie er glaubte, wagen zu können, bis ihm eines Tages eine Einzelheit entschlüpft war, die er nicht hatte offenbaren wollen.
»Warum willst du das wissen?«
Sie runzelte die Stirn, als sei sie besorgt. »Ich will es nicht wissen, ich muss es wissen. Die Geheimnisse der Möwe müssen sicher sein.«
Seine Augen weiteten sich, und er erbleichte. »Ich dachte, du… sie haben nicht verstanden, was ich ihnen erzählte. Ich bin davon überzeugt, dass sie es nicht verstanden haben.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich… ich habe ihnen von dem Hort erzählt. Sie hatten mir etwas in meinen Wein gegeben.« Er sah sie flehentlich an. »Ich wollte das nicht. Und ich habe ihnen nicht erzählt, wo der Hort ist. Du glaubst doch nicht, dass sie ihn ohne meine Hilfe finden werden, oder?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo der Hort ist. Wir alle bekommen unterschiedliche Geheimnisse zugewiesen, die wir hüten müssen, und dies war dein Geheimnis. Hast du ihn gewarnt?«
Wieder machte er große Augen. »Wie?«
Sie blinzelte, als überrasche seine Frage sie. »Du hast keine Möglichkeit, dich mit ihm in Verbindung zu setzen?«
»Nein… aber ich nehme an, wenn ich dorthin zurückginge… Aber es ist so weit weg von hier, und ich habe kein Boot.«
»Ich auch nicht, aber ich könnte eins kaufen.« Sie schüttelte den Kopf, wandte sich dem Meer zu und tat so, als denke sie nach. »Du solltest mir wohl besser alles erzählen, Gherid. Ich bin weit fort von zu Hause, und von hier aus ist mir der übliche Weg, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, verschlossen. Wir müssen der Möwe eine Nachricht schicken. Vielleicht wird mir nichts anderes übrigbleiben, als zum Hort zu gehen und dort eine Nachricht für dich zu hinterlegen.«
Bei der Dankbarkeit, die er jetzt verströmte, bekam sie leichte Gewissensbisse. Sie manipulierte den armen Jungen. Es ist ja nicht so, als hätte ich böse Absichten, sagte sie sich. Ich möchte die Möwe finden, damit wir einander helfen können.
Er ging zu einem Steinbrocken in der Nähe und ließ sich darauf niedersinken. »Es ist eine lange Geschichte. Du solltest dich besser setzen. Hast du schon mal ein Boot gesegelt?«
Emerahl lächelte. »Schon sehr, sehr oft.«
Devlem schob sich die letzte Scheibe von der Frucht in den Mund, dann leckte er sich den süßen Saft von den Fingern. Einer der drei Diener, die in der Nähe standen, trat vor und hielt ihm ein goldenes Tablett hin. Devlem nahm das säuberlich gefaltete, feuchte Tuch von dem Tablett, wischte sich damit die Hände ab und legte es wieder auf das Tablett.
Das Geräusch hastiger Schritte hallte im Hof wider. Ein Diener kam an Devlems Tisch gelaufen und verbeugte sich.
»Die Fracht ist eingetroffen.«
Mit nur zwei Tagen Verspätung, dachte Devlem. Wenn ich den Färbern ein wenig zusetze, werde ich es vielleicht vor Arlem auf den Markt schaffen – aber nur, wenn die Lieferung nicht verdorben ist.
Er stand auf und durchquerte den Hof. Ein überwölbter Flur führte ihn zur Vorderseite des Hauses. Von dort aus folgte er einem gepflasterten Pfad zu den schlichteren Gebäuden, in denen seine Waren lagerten.
Draußen standen mehrere Tarns, und seine Männer waren bereits damit beschäftigt, die großen Tuchballen unter der Anleitung seines Aufsehers hineinzutragen.
Devlem trat in das Gebäude, ohne den Dienern Beachtung zu schenken, und untersuchte die Fracht. Bei einem Tuchballen war die wasserdichte Plane aufgerissen.
»Öffnen«, befahl er.
Einige Diener eilten herbei, um die Plane aufzuschneiden.
»Vorsichtig!«, blaffte Devlem sie an. »Ihr werdet noch den Stoff beschädigen!«
Jetzt gingen sie langsamer und sorgfältiger zu Werke. Während sie arbeiteten, warfen sie ihm immer wieder nervöse Blicke zu. Gut, dachte er. Die Peitsche hat sie endlich gelehrt, sich respektvoller zu zeigen. Sie wurden den genrianischen Frauen von Tag zu Tag ähnlicher mit ihrem Gejammer und ihrem Klagen.
Die Plane teilte sich, und darunter kam sauberer, unversehrter Stoff zum Vorschein. Devlem trat näher heran.
»Herr Händler!«
Hastige Schritte wurden laut, und er drehte sich um, verärgert über die Störung. Es war eine der Rasenschneiderinnen. Sie war hässlich für eine avvensche Frau, und er hatte ihr eine Arbeit im Garten zugewiesen, so dass er sie nicht anzusehen brauchte.
»Herr«, keuchte sie. »Im Beckenhaus ist ein Ungeheuer!«
Er seufzte. »Ja. Ich habe es dort untergebracht.«
Sie biss sich auf die Lippen. »Oh. Es scheint tot zu sein.«
»Tot?« Er richtete sich erschrocken auf.
Sie nickte.
Er stieß einen Fluch in seiner genrianischen Muttersprache aus, ging an der Frau vorbei aus dem Lagerhaus und eilte auf die Gärten zu. Das Beckenhaus lag in der Mitte eines großen Rasenstücks. Vor dem Eingang hatten sich die Rasenschneider versammelt.
»Zurück an die Arbeit!«, befahl er.
Sie drehten sich zu ihm um, dann sprangen sie auch schon davon. Als er das Tor des Hauses erreichte, zog er den Schlüssel aus dem Schloss. Im Innern des Gebäudes konnte er das junge Meerestier auf dem Boden liegen sehen.
Am vergangenen Abend hatte er nicht viel Zeit gehabt, seine Neuerwerbung zu untersuchen. Der Plünderer hatte behauptet, es handle sich um ein weibliches Kind, aber der einzige Beweis dafür war der Mangel an männlichen Organen. Devlem hatte seinen Dienern befohlen, der Kreatur die schmutzigen Lumpen abzunehmen, die ihr von den Schultern gehangen hatten. Als er sie jetzt betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass der Plünderer recht hatte, und überlegte, ob sie wohl Brüste entwickeln würde wie menschliche Frauen.
Vielleicht würde er, wenn sie ausgewachsen war, ein Männchen dazukaufen. Wenn die beiden Nachkommen hervorbrachten, konnte er ihre Jungen für ein Vermögen verkaufen.
Das Schloss klickte. Er drückte das Tor auf und ging zu der Kreatur hinüber. Warum war sie aus dem Wasser gestiegen? Er hockte sich hin und stellte fest, dass sie noch atmete.
Je länger er sie betrachtete, umso größer wurde seine Sorge. Ihr Atem ging in gequälten Stößen, und ihre Haut war stumpf und rissig. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte er gesagt, dass sie gefährlich dünn sei. Außerdem verströmte sie einen abscheulichen Geruch. Alle Tiere rochen schlecht, und er hatte angenommen, dass der Gestank natürlich war, aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.
Er fasste sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf, so dass er ihr Gesicht untersuchen konnte. Als sie seine Berührung spürte, flatterten ihre Lider, und sie öffnete für einen Moment die Augen, bevor sie sie wieder schloss. Dann stieß sie ein leises Stöhnen aus.
Ich habe eine Menge Geld für sie bezahlt. Er erhob sich und blickte auf sie hinab. Wenn sie krank ist, muss ich jemanden finden, der sie heilt. Wer könnte wissen, was mit ihr los ist? Ich könnte einen Tierheiler herholen, aber ich bezweifle, dass er je zuvor einen der Meeresmenschen gesehen hat. Ich bezweifle, dass überhaupt jemand sie bisher zu Gesicht bekommen hat. Es sei denn…
Er lächelte, als ihm klar wurde, dass es durchaus Menschen in Glymma gab, die etwas über das Meeresvolk wissen könnten. Er wandte sich ab, verschloss hastig das Tor und eilte zum Haus hinüber, wo er nach einem Boten rief. Mirar hob einen Stein hoch. Nichts. Er legte ihn wieder weg und griff nach dem nächsten. Eine kleine Kreatur huschte davon. Er versuchte sie zu packen, aber sie schoss schnurstracks in eine Ritze zwischen zwei viel größeren und schwereren Felsbrocken.
Verflucht. Wie hat Emerahl diese Shrimmi nur fangen können? Wenn ich doch nur…
»Wilar! Traumweber!«
Er zuckte erschrocken zusammen und blickte auf. Tyve kreiste über ihm. Mirar fing ein starkes Gefühl von Angst von dem Jungen auf. Er erhob sich, beschattete die Augen mit der Hand und sah zu, wie der Siyee landete.
»Was ist passiert?«
»Sizzi ist krank. Und Veece und Ziti ebenfalls. Außerdem scheinen auch andere krank zu werden. Kannst du mit ins Dorf kommen? Kannst du uns helfen?«
Mirar runzelte die Stirn. »Hat der Sprecher dich zu mir geschickt?«
»Ja.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, wenn das Unbehagen, das Mirar bei Tyve spürte, irgendwelche Schlussfolgerungen zuließ. Er kniff die Augen zusammen und musterte den jungen Siyee.
»Hat er das wirklich getan?«
Tyve warf Mirar einen schuldbewussten Blick zu. »Nicht direkt. Er ist zu krank, um etwas zu sagen. Ich habe den anderen vorgeschlagen, dich um Hilfe zu bitten, da du doch ein Heiler bist. Sie waren einverstanden.«
Dies war, das spürte Mirar deutlich, die Wahrheit. Er nickte. »Ich werde kommen. Welche Symptome weisen sie auf?«
»Das wirst du sehen, wenn du dort bist«, erwiderte Tyve ungeduldig. »Wir sollten sofort aufbrechen, wenn du ankommen willst, bevor… Es ist ein weiter Weg.«
»Daher ist es auch ein weiter Weg, zurückzukehren, um die richtigen Heilmittel zu holen«, bemerkte Mirar. »Ich muss wissen, was für eine Krankheit das ist, damit ich meinen Beutel packen kann. Erzähl mir davon.«
Tyve beschrieb, was er gesehen hatte. Während er sprach, breitete sich eine zunehmende Mutlosigkeit in Mirar aus. Es klang wie eine Krankheit, die man Herzzehre nannte und die man gelegentlich bei Landgehern fand. Höchstwahrscheinlich hatte ein Siyee sich während des Krieges damit angesteckt und die Krankheit zu seinem Stamm getragen. Mirar hatte nie darüber nachgedacht, dass Krankheiten eine unausweichliche Folge sein würden, wenn die Siyee mit Menschen außerhalb ihres Landes verkehrten. Im Stillen verfluchte er die Weißen.
Du kannst dir nicht sicher sein, dass die Weißen wussten, dass etwas Derartiges geschehen würde, rief Leiard ihm ins Gedächtnis.
Aber es gibt kein größeres Glück, als jemanden zu haben, dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann, erwiderte Mirar.
»Ich kenne diese Krankheit«, erklärte er dem jungen Siyee. »Ich kann deinem Stamm helfen, sie zu überwinden, aber ich kann nicht versprechen, dass alle überleben werden.«
Tyve erbleichte.
Mirar legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun. Und nun gib mir ein wenig Zeit, damit ich meinen Beutel packen kann. Dann kannst du mich zu deinem Dorf bringen.«
Der Siyee setzte sich mit gequälter Miene auf einen Felsen, um zu warten. Mirar ging in die Höhle und betrachtete seinen Vorrat an Heilmitteln. Als er mit Emerahl das Schlachtfeld verlassen hatte, hatte er seinen Traumweberbeutel bei sich gehabt, der jedoch zu diesem Zeitpunkt fast leer gewesen war. Jetzt war er wohlgefüllt. Sowohl Emerahl als auch er hatten viele Stunden im Wald verbracht, um Heilmittel zu sammeln und zuzubereiten, wobei sie sich auf ihre Kenntnisse der hiesigen Pflanzen stützen konnten. Nicht alle Heilmittel entsprachen zur Gänze jenen, die sie ersetzen sollten. Einige waren wirkungsvoller, andere schwächer.
Er betrachtete die Dinge, die an den Wänden aufgestapelt lagen. Seile würden unverzichtbar sein, während Bettzeug zu unhandlich war, um es zu tragen. Er würde in seinen Kleidern auf dem Boden schlafen, was bedeutete, dass er jetzt, da es draußen kalt wurde, etwas Wärmeres zum Anziehen benötigen würde.
Und etwas zu essen, rief Leiard ihm ins Gedächtnis.
Natürlich. Er lächelte schief und sammelte zusammen, was er brauchen würde. Als er fertig war, sah er sich noch ein letztes Mal in der Höhle um.
Werde ich schon bald zurückkehren, oder wird mich diese Krise bei den Siyee für immer von hier fortführen? Er zuckte die Achseln. So oder so, es ist mir gleichgültig. Wenn Emerahl recht hat, wird es mir guttun, unter Leuten zu sein.
Mit diesem Gedanken wandte er sich ab und kehrte zu Tyve zurück, um einen weiteren anstrengenden Marsch durch die Berge von Si zu beginnen.
Als Auraya in der Ferne das Offene Dorf sah, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Sie war nicht so schnell geflogen, wie sie beabsichtigt hatte, da Unfug Angst bekam, wenn sie eine gewisse Geschwindigkeit überschritt. Dann begann er vor Angst zu zittern und zu jaulen, aber solange sie sich ein wenig langsamer bewegte, war er es zufrieden, in dem Beutel zu hocken, den sie sich zwischen die Schultern gebunden hatte.
Wegen der Verzögerung ihrer Reise hatte sie nicht Halt gemacht, um mit den Siyee zu reden, die ihr seit ihrer Ankunft in Si begegnet waren. Auch sie hatten nicht versucht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen; wahrscheinlich hatten sie gesehen, dass sie sich zu schnell fortbewegte, um sie abzufangen. Als sie sich nun dem langgezogenen, freiliegenden Berghang näherte, der der wichtigste Versammlungsort der Siyee war, flogen die Himmelsleute ihr entgegen.
Unfug verlagerte seine Position auf ihrem Rücken. »Fliegen!«, erklärte er. »Fliegen! Fliegen!«
Er verfügte nicht über die richtigen Worte, um ihr von den eigenartigen geflügelten Leuten zu berichten, die um sie herum in der Luft trieben, aber sie konnte seine Erregung spüren.
»Siyee«, sagte sie zu ihm. »Das sind Siyee.«
Er schwieg einen Moment lang. »Syee«, wiederholte er dann leise.
Einige Mitglieder ihrer improvisierten Eskorte erkannte sie, andere nicht. Sie tauschte gepfiffene Grüße mit ihnen allen aus. Die Gedanken der Siyee waren voller Erleichterung und Freude. Sie wussten jedoch, warum sie hier war, und aufgrund ihrer Sorge fiel ihr Willkommen gedämpfter aus als bei früheren Gelegenheiten.
Sie ließ sich stetig hinabsinken und steuerte auf das große, ebene Gebiet in der Mitte des Offenen Dorfes zu, das als die Flache bezeichnet wurde. Davor standen mehrere Siyee, und sie konnte das Dröhnen von Begrüßungstrommeln hören. Zwei weißgekleidete Männer erregten ihre Aufmerksamkeit. Wie die meisten Landgeher waren sie fast doppelt so groß wie die Siyee, und ihre weißen Priesterroben machten sie doppelt so auffällig.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit einer Reihe von Männern und Frauen zu, die in der Nähe des sogenannten Sprecherfelsens standen. Als sie näher kam, konnte sie einen jeden von ihnen erkennen. Sie alle waren Sprecher – Anführer der Stämme der Siyee -, aber nur die Hälfte aller Sprecher war anwesend. Das war keine Überraschung. Einige würden ihren Stamm nicht verlas sen wollen, solange Eindringlinge Si durchstreiften, und andere lebten zu weit entfernt vom Offenen Dorf, um zu jeder ungeplanten Zusammenkunft hierherzureisen. Allerdings lebten Abgesandte eines jeden Stammes hier, und sie würden unter jenen zu finden sein, die am Rand der Flache warteten.
Als Auraya landete, trat Sprecherin Sirri vor, die Erste Sprecherin aller Stämme. Sie hielt ihr lächelnd einen hölzernen Becher und einen kleinen Kuchen hin, und als Auraya beides entgegennahm, breitete Sirri die Arme weit aus. Sonnenlicht fiel durch die Membran ihrer Flügel und beleuchtete ein zartes Netzwerk von Venen und Arterien zwischen den tragenden Knochen.
»Willkommen zurück in Si, Auraya von den Weißen.«
Auraya erwiderte ihr Lächeln. »Ich danke dir, Sprecherin Sirri, und ich danke auch dem Volk von Si für sein herzliches Willkommen.«
Sie aß den süßen Kuchen, dann nippte sie an dem Wasser, bevor sie den Becher zurückgab. Sirris Blick wanderte zu Aurayas Schulter, und ihre Augen weiteten sich.
»Syee«, flüsterte Unfug ihr ins Ohr.
Auraya unterdrückte ein Lachen und kraulte den Veez am Kopf. »Sprecherin Sirri«, sagte sie, »das ist Unfug. Er ist ein Veez. Die Somreyaner haben sie vor langer Zeit gezähmt und halten sie als Haustiere.«
»Ein Veez«, wiederholte Sirri und trat vor, um Unfug anzustarren. »Ja, ich erinnere mich, dass ich dieses Tier im Kriegslager einmal gesehen habe.«
»Sie können sprechen, zumindest ansatzweise.« Auraya sah Unfug an. »Das ist Sirri«, erklärte sie ihm.
»Sierie«, wiederholte er. »Syee Sierie.«
Sirri kicherte leise. »Er ist ein nettes Tier. Ich sorge besser dafür, dass keiner der Siyee auf die Idee kommt, dass er eine schmackhafte Mahlzeit abgeben könnte.« Sie richtete sich auf. »Die Sprecher haben mich gebeten, gleich nach deinem Eintreffen eine Zusammenkunft in der Sprecherlaube anzuberaumen, aber falls du müde bist, könnten wir das Treffen verschieben.«
Auraya schüttelte den Kopf. »Mit jedem Augenblick, der verstreicht, dringen die Pentadrianer weiter nach Si vor, und es brennt mir unter den Nägeln, dieser Bedrohung entgegenzutreten. Ich werde mich sofort mit den Sprechern treffen.«
Sirri nickte dankbar, dann deutete sie auf die anderen Sprecher. Als sie neben Sirri traten, blickte Auraya zu den beiden Priestern hinüber. Sie machten das Zeichen des Kreises, und Auraya neigte zur Antwort den Kopf.
In ihren Gedanken las sie, dass die beiden es kaum erwarten konnten, mit ihr zu reden, obwohl keiner von ihnen eine wirklich wichtige Angelegenheit zu besprechen hatte. Obgleich sie von den Siyee freundlich aufgenommen worden waren, fanden sie sie dennoch ein wenig merkwürdig.
Sie wollen von mir die Versicherung, dass sie ihre Sache gut machen, dachte sie.
Sie wandte sich um und ging mit Sirri in den Wald, und die anderen Sprecher und Stammesabgesandten folgten ihnen. Sie kamen an vielen Lauben vorbei – hölzernen Gestellen, in denen Membranen gespannt waren und die zwischen den Stämmen der gewaltigen Bäume rund um das Offene Dorf gebaut waren – und an vielen neugierigen Siyee. Sirri hatte es nicht eilig, obwohl die anderen Sprecher spürbar ungeduldig waren. Sie wusste, dass der Anblick einer der Auserwählten der Götter ihrem Volk wohltat.
Sobald sie jedoch in dem unbewohnten Wald um die Sprecherlaube angekommen waren, beschleunigte Sirri ihre Schritte. Sie gingen über schmale Pfade zu einer großen Laube und traten ein. Aus Baumstümpfen geschnitzte Hocker waren in einem Kreis aufgestellt worden. Die Sprecher nahmen ihre Plätze ein. Auraya stellte ihr Bündel neben sich auf den Boden. Unfug spähte hinaus, dann kam er zu dem Schluss, dass seine Umgebung recht uninteressant sei, und rollte sich zusammen, um zu schlafen.
»Wie wir alle wissen«, begann Sirri, »wurde vor vierzehn Tagen ein pentadrianisches Schiff an der Küste des südlichen Si gesehen. Mehrere Pentadrianer sind an Land gegangen und anschließend in Gruppen landeinwärts gereist. Anscheinend benutzen sie ihre Vögel, die sie zu den Dörfern der Siyee führen.« Sie sah Auraya an. »Wir haben den Weißen ein Hilfsgesuch gesandt, und Auraya ist zu uns zurückgekehrt. Hast du irgendwelche Fragen, Auraya, bevor wir darüber sprechen, wie wir mit den Pentadrianern verfahren sollen?«
»Wie oft habt ihr Berichte über die Bewegungen der Pentadrianer erhalten?«
»Alle paar Stunden. Mein Sohn, Sreil, hat Gruppen von Beobachtern eingeteilt, die den Pentadrianern folgen und regelmäßig Bericht erstatten.«
»Haben diese Beobachter einen oder mehrere der Zaubereranführer der Pentadrianer unter ihnen gesehen?«
»Nein.«
Das bedeutet nicht, dass sie nicht bei ihnen sein könnten. Auraya trommelte ihre Fingerspitzen gegeneinander. »Haben die Pentadrianer irgendjemanden verletzt?«
»Noch nicht.«
»Haben sie zu irgendjemandem gesprochen?«
»Nein – alle Siyee haben den Auftrag bekommen, sich von ihnen fernzuhalten.«
»Haben sie versucht, eine dauerhafte Siedlung zu gründen?«
Die Sprecher wirkten überrascht. Auraya las aus ihren Gedanken, dass keiner von ihnen diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte.
»Die Beobachter sagen, die Pentadrianer bewegen sich stetig von einem Ort zum nächsten«, erwiderte Sprecher Dryss.
Auraya dachte über das Gehörte nach. »Ich habe für den Augenblick keine weiteren Fragen. Hat einer von euch Fragen an mich?«
»Ja«, erwiderte einer der Stammesabgesandten. »Was wirst du tun?«
Sie hob die Hände und verschränkte die Finger. »Euch beraten und unterstützen. Ich bin nicht hier, um für euch zu entscheiden, wie ihr vorgehen wollt. Ich werde euch schützen, wenn die Pentadrianer angreifen, und ich werde sie aus Si vertreiben – falls ich das kann -, solltet ihr zu dem Schluss kommen, dass es geschehen muss. Außerdem werde ich für euch übersetzen, falls sie mit euch in Verbindung zu treten wünschen. Es ist möglich, dass sie mit euch Frieden schließen wollen.«
Die Siyee tauschten Blicke, und viele von ihnen runzelten finster die Stirn.
»Niemals!«, zischte einer der Stammesabgesandten.
»Du darfst diese Möglichkeit nicht einfach so abtun«, sagte einer der älteren Sprecher zu dem jungen Mann. »Die Pentadrianer sind kein Volk, das im Begriff steht, auszusterben. Es ist besser, wenn wir Frieden mit ihnen halten.«
»Solange wir deswegen nicht gezwungen sind, allzu große Kompromisse zu schließen.«
»Natürlich nicht.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, fuhr Auraya fort. »Eine, die mich beunruhigt. Die Pentadrianer könnten hoffen, einige Siyee zu ihrem Glauben zu bekehren.«
»Dann steht ihnen eine Enttäuschung bevor«, erwiderte Sprecherin Sirri energisch. »Es gibt keinen einzigen Siyee, der nicht den Verlust eines Familien- oder Stammesmitglieds betrauert. Niemand würde uns verraten, indem er sich dem Feind anschließt.«
»Ich glaube, das ist wahr«, erwiderte Auraya. »Wenn die Pentadrianer mit dieser Absicht hergekommen sind, wird es das Beste sein, alle Siyee auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen, damit sie sich gegen süße Worte wappnen können, mit denen man sie zu überzeugen versuchen könnte.«
»Die Pentadrianer werden keine Gelegenheit bekommen, diese Worte zu sprechen«, erklärte der junge Stammesabgesandte. »Sie werden nach Hause zurückkehren, oder wir werden sie töten.«
»Wir werden sie nach Hause schicken, ganz gleich, in welcher Absicht sie gekommen sind«, stimmte Sirri zu. »Selbst wenn ihr Vorhaben friedlicher Natur sein sollte, liegt der Krieg noch nicht lange genug zurück, als dass wir Pentadrianer in Si willkommen heißen würden.«
Die anderen Sprecher schlossen sich ihrer Meinung an.
»Wenn es das ist, was ihr tun wollt«, sagte Auraya, »müssen die Pentadrianer es von euch hören, nicht von mir. Sie müssen erfahren, dass es eure Entscheidung ist und dass ihr nicht lediglich das tut, was die Weißen euch vorschreiben.«
Stille folgte ihren Worten. Auraya spürte die Furcht und das Widerstreben der Siyee.
»Was ist, wenn sie uns angreifen?«, fragte ein Sprecher mit schwacher Stimme.
»Ich werde euch beschützen. Wir werden den Rückzug antreten, und sobald ihr in Sicherheit seid, werde ich zurückkehren, um sie zu vertreiben.«
»Müssen wir alle fortgehen?«, fragte Sprecher Dryss. »Ich kann heutzutage nicht mehr so schnell mit dem Wind reiten wie früher, und ich fürchte, dass ich euch aufhalten könnte, wenn wir uns rasch zurückziehen müssen.«
»Es besteht keine Notwendigkeit, dass ihr alle geht«, erwiderte Auraya. »Wählt drei Vertreter aus eurer Mitte.«
Sirri räusperte sich. »Mir wäre es lieber, wenn sich Freiwillige melden würden.«
Während sie sich in dem Raum umsah, bemerkte Auraya, dass viele der Anwesenden den Blick abwandten. Der junge Stammesabgesandte gehörte jedoch nicht zu ihnen. Auraya sog unhörbar die Luft ein, als er sich aufrichtete, um zu sprechen. Er ist ein wenig zu halsstarrig für dieses Unternehmen.
»Ich werde gehen«, erbot er sich.
»Vielen Dank, Rissi, aber das ist eine Aufgabe für Sprecher«, sagte Sirri. »Wie ernst werden diese Pentadrianer unsere Worte nehmen, wenn sie nicht von Stammesführern kommen?« Sie breitete die Hände aus. »Ich werde gehen. Wenn sich sonst niemand freiwillig meldet, werde ich gezwungen sein, selbst jemanden zu bestimmen oder Namen ziehen zu lassen und…«
»Ich werde gehen – falls ich nicht zu alt bin.«
Der Freiwillige war ein Sprecher in mittleren Jahren, Iriz aus dem Stamm vom Grünen See.
Sirri lächelte. »Du hast noch viele gute Jahre vor dir, Sprecher Iriz.«
»Ich bin ebenfalls dabei«, erklärte eine andere Siyee. Auraya erkannte die Sprecherin des Stammes vom Sonnenhügel, der einige Monate vor der Schlacht von den abgerichteten Vögeln der Pentadrianer angegriffen worden war.
»Ich danke dir, Sprecherin Tyzi«, sagte Sirri. »Damit wären wir also zu dritt.«
Die Erleichterung der anderen Siyee war wie eine Welle, die über Auraya zusammenschlug. Sie unterdrückte ein Lächeln. Sirri klatschte entschlossen in die Hände. »Wir werden morgen früh beim ersten Tageslicht aufbrechen. Gibt es noch andere Dinge, die ihr mit Auraya besprechen wollt?« Sie blickte in die Runde, aber keiner der Siyee ergriff das Wort. »Dann ist diese Zusammenkunft beendet. Sprecher Iriz und Tyzi, würdet ihr bitte bleiben? Wir müssen über unsere Vorbereitungen für die Reise sprechen.«
Als die Siyee den Raum verließen, blickte Auraya auf Unfug hinab. Er schlief noch immer. Sie lächelte und wandte ihre Aufmerksamkeit den verbliebenen Siyee zu. Sofort durchzuckte sie ein Stich der Furcht. Falls sie einem der mächtigeren pentadrianischen Zauberer gegenübertreten musste, würde es nicht leicht sein, diese Siyee zu beschützen. Sie musste dafür sorgen, dass sie sich die Eindringlinge gründlich anschauen konnte, bevor sie sie sahen.
Für den Augenblick durfte sie sich den Siyee gegenüber ihre eigenen Zweifel und Befürchtungen jedoch nicht anmerken lassen.
Das Meer wogte unter dem Boot, als betrachte es das kleine Gefährt als einen ärgerlichen Störenfried, den es abschütteln musste. Als eine Welle es umzuwerfen drohte, abschütteln musste. Als eine Welle es umzuwerfen drohte, zog Emerahl Magie in sich hinein und benutzte sie, um den Rumpf wieder ins Wasser zu drücken. Ein Windstoß trieb ihr den peitschenden Regen ins Gesicht, und sie fluchte.
Ihr wurde bewusst, dass sie das Meer in einer lange vergessenen Sprache verfluchte, einer Sprache aus einer Zeit, da Fischer und Seeleute Göttern des Meeres huldigten. Es war leicht, sich vorzustellen, dass das um sich schlagende Wasser noch immer von einem größeren Geist beherrscht wurde – einem, der diesen Eindringling loswerden wollte -, vor allem, wenn sie bedachte, wie schnell der Sturm aufgekommen war.
Emerahl schnaubte. Die alten Götter sind tot. Hier geht es lediglich um schlechtes Wetter. Ich hätte den Rat des Bootsverkäufers beherzigen, ein größeres Boot kaufen und einige Wochen warten sollen, bis das Wetter besser würde.
Früher einmal hatte sie diesen Teil der Küste gut gekannt und war in der Lage gewesen, die Zeichen von schlechtem Wetter zu deuten. Doch in tausend Jahren konnte sich vieles ändern. Sowohl die Strömungen als auch das Wetter waren anders als damals. An manchen Stellen erkannte sie nicht einmal die Form des Ufers wieder. Als sie an der torenischen Küste entlanggefahren war, war ihr eine eigenartige Abfolge vertrauter wie unvertrauter Bilder begegnet. Glücklicherweise befanden sich die Hügel, die die Grenze zwischen Toren und Genria markierten, noch immer dort, wo sie sein sollten. Von diesem Punkt aus hatte sie der Küste den Rücken zugewandt und war, Gherids Anweisungen folgend, direkt aufs Meer hinausgesegelt.
Eine Welle brach sich über dem Boot und durchnässte sie bis auf die Haut. Sie schöpfte mit Magie das Wasser aus dem Rumpf. Der Regen fiel jetzt so dicht, dass sie das andere Ende des Bootes kaum noch erkennen konnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Situation zu ertragen. Unter diesen Umständen konnte sie das Segel unmöglich hissen. Sie konnte nicht sehen, wo sie war, geschweige denn ihr Ziel finden oder zum Festland zurückkehren.
Als eine weitere Welle das Boot beinahe zum Kentern brachte, fluchte sie abermals. Der Wind klang wie eine unmenschliche Stimme. Sie konnte einen Anflug von abergläubischer Furcht nicht ganz unterdrücken. Vielleicht sollte sie den Gott des Meeres besser doch nicht verfluchen.
Warum nicht? Er kann mir nichts antun, dachte sie. Er ist tot. So wie alle alten Götter. Nun ja, alle, mit Ausnahme des Zirkels. Konnte es sein, dass einer der verbliebenen fünf Götter gelernt hatte, das Meer zu beeinflussen? War gerade jetzt einer von ihnen damit beschäftigt, mit dem Meer zu spielen?
Der Gedanke war beunruhigend. Wenn die Götter hinter alledem steckten, was bezweckten sie dann damit? Wussten sie, dass sie hier war? Versuchten sie, sie daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen? Sie klammerte sich an das Ruder. Obwohl zwischen ihr und der Sonne eine dicke Wolkenschicht lag, drang dennoch dünnes graues Licht zu ihr durch. Plötzlich erlosch dieses Licht, und sie fuhr in die Dunkelheit hinein. Sie sah sich um und kämpfte eine wachsende Furcht nieder. Als sie sah, was diese Dunkelheit verursachte, gefror ihr das Blut in den Adern. Über ihr ragte etwas Großes, Finsteres auf.
Die Angst schmolz, als ihr klar wurde, was es war.
Der Hort!
Durch pures Glück hatte der Sturm das Boot an ebenjenen Ort getrieben, der ihr Ziel war. Jetzt zog die Strömung sie jedoch wieder davon weg. Sie sah sich suchend um und betrachtete schließlich die Ruder, die zu beiden Seiten des Bootes darauf warteten, benutzt zu werden.
Nein. Sie werden mir nichts nützen. Ich kann von Glück sagen, dass das Meer das Boot nicht gegen den Hort geworfen hat. Selbst wenn es mir gelänge, näher heranzurudern, kann ich das Boot nicht festmachen. Es würde in tausend Stücke zertrümmert werden. Dies bedarf der Magie und großer Konzentration.
Sie zog so viel Magie wie möglich in sich hinein und legte sie um das Boot. Sobald sie das Boot sicher im Griff hatte, würde sie sehr schnell handeln müssen, oder die nächste Welle würde über ihr zusammenschlagen.
Anheben.
Ihr Magen schlingerte, als das Boot in die Höhe stieg und sie mit sich trug. Sie blickte geradeaus, dorthin, wo der jetzt vom Regen verborgene Hort lag.
Vorwärts.
Es war keine ruhige Fahrt. Um das Boot zu bewegen, musste sie ihren Geist auf ihre Arbeit richten, ohne sich auch nur im mindesten ablenken zu lassen. Jeder Windstoß und jede Veränderung in ihren Gedanken führte dazu, dass das Boot sich zur Seite neigte oder sank. Selbst ihre Erleichterung, den Hort aus dem Regen auftauchen zu sehen, beeinträchtigte die Bewegung des Bootes.
Näher heran.
Als sie den Felsen vor sich sehen konnte, hielt sie inne.
Höher.
Das Geräusch der tosenden Wellen, die gegen den Felsen krachten, wurde leiser, als sie das Boot in die Höhe hob. Büschel rauen Seegrases, die in den Ritzen und Winkeln des Felsens wuchsen, wurden sichtbar. Sie hatte den oberen Teil des Horts erreicht.
Vorwärts.
Sie bewegte das Boot über das Seegras, dann ließ sie es einige Schritte entfernt vom Klippenrand auf den Boden sinken.
Es blieb keine Zeit für Erleichterung. Der Wind drohte das Boot wieder ins Meer zu schleudern. Emerahl sprang hinaus und griff nach ihrer Habe, dann drehte sie das Boot um, rammte den Anker in den Boden und vertäute das Boot daran.
Als sie sicher sein konnte, dass die Taue halten würden, richtete sie sich auf und sah sich um. Es war möglich, dass sie lediglich auf einem Vorsprung der Küste und nicht bei dem Hort gelandet war, den der Junge ihr beschrieben hatte. Also ließ sie das Boot zurück und ging vorsichtig zum Klippenrand hinüber. Das Meer unter ihr lag in dem dichten Regen verborgen.
Sie markierte ihre Position, indem sie drei Büschel Gras ausriss, so dass die bleiche, sandige Erde darunter zum Vorschein kam, dann lief sie am Klippenrand auf und ab. Nach fünfzig Schritten fand sie das ausgerissene Gras wieder. Um sicher sein zu können, dass sie nicht durch Zufall an eine Stelle gelangt war, an der ebenfalls einige Büschel ausgerissen waren, ging sie ein Stück landeinwärts. Als das Boot sichtbar wurde, nickte sie vor sich hin.
Wenn ich die Höhle finde, werde ich wissen, dass dies der Hort ist, von dem der Junge mir erzählt hat.
Sie ging abermals um den Klippenrand herum und hielt Ausschau nach der Treppe, die in die Höhle hinunterführte, konnte jedoch keine Spur davon entdecken. Nachdem sie die Insel fünfmal umrundet hatte, gab sie auf und kehrte zu ihrem Boot zurück.
Dort angekommen, setzte sie sich und zog genug Magie in sich hinein, um einen Schild gegen den Regen zu formen. Ihre Kleider waren durchnässt und schwer. Sie benutzte ein wenig mehr Magie, um sich zu wärmen und zu trocknen. Als das Wasser wie dünner Nebel aus ihren Kleidern und ihrem Haar aufstieg, schauderte sie.
Ich kann nur hoffen, dass dies nicht einer von den Dreitagesstürmen ist, dachte sie. Wenn sich das Wetter in einigen Stunden noch nicht gebessert hat, werde ich noch einmal versuchen, diese Treppe zu finden.
Und wenn sie sie nicht fand? Sie würde hierbleiben und abwarten müssen, bis der Sturm sich legte. Selbst wenn sie Magie benutzte, um das Boot durch das Wasser zu lenken, hatte sie noch immer keine Ahnung, in welche Richtung sie sich wenden musste, um zur Küste zurückzukehren.
Mit einem resignierten Seufzer öffnete sie ihren Beutel und holte einige getrocknete Früchte hervor, die sie verzehren wollte, während sie wartete.
Die Membranwände der Laube leuchteten im Licht der frühen Morgensonne. Auraya sah sich in dem kleinen Haus um und seufzte vor Wohlbehagen. Es tat gut, wieder in Si zu sein.
Warum fühle ich mich hier so zu Hause?, fragte sie sich. Es geht mir besser als seit Monaten. Und ich hatte letzte Nacht keine Alpträume, wurde ihr plötzlich klar. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Großteil ihrer Sorgen hinter sich gelassen. Die Alpträume. Das Hospital. Mir war gar nicht bewusst, wie sehr mich die Angelegenheiten des Hospitals umgetrieben haben.
Sie dachte an ihren früheren Aufenthalt in Si zurück. Hier hatte sie sich morgens nach dem Aufwachen immer wohlgefühlt. Aber lag das vielleicht an meinen Traumvernetzungen mit Leiard?, überlegte sie plötzlich.
Leiard. Glaubte sie, dass der Schmerz, der jeden Gedanken an Leiard stets begleitet hatte, langsam schwächer wurde? Er schien jetzt Teil des Lebens eines anderen Menschen zu sein. Vielleicht würde sie schon bald gar nichts mehr empfinden.
Ich hoffe nicht, dass es so kommt, sagte eine vertraute Stimme in ihre Gedanken hinein. Es wäre schrecklich, wenn du nichts mehr empfinden würdest. Weder Glück noch Trauer. Weder Freude noch Schmerz.
Ich meinte, dass ich vielleicht schon bald nichts mehr für Leiard empfinden werde, antwortete sie Chaia. Das weißt du.
Du wirst immer irgendetwas für ihn empfinden. Die Zeit wird den Schmerz dumpfer werden lassen. Und nichts kann diesen Schmerz besser lindern als das Erwachen neuer Gefühle.
Ja, dachte sie. Neue Gefühle und neue Herausforderungen. Wie das Ziel, diese Pentadrianer aus Si zu vertreiben.
Das war es nicht, was ich im Sinn hatte.
Sie lächelte schief. Das hatte ich mir gedacht. Aber wie heißt es so schön: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Ich werde dich daran erinnern.
Dann war er plötzlich wieder fort. Auraya schüttelte den Kopf. Manchmal verstand sie Chaira nicht, aber andererseits war er im Gegensatz zu ihr ein Gott. Sie erhob sich und trat vor den Wandbehang, mit dem der Eingang der Laube bedeckt war.
»Owaya fliegen?«
Sie drehte sich zu Unfug um, der zu dem Schluss gekommen war, dass einer der Körbe, die von der Decke der Laube hingen, ein annehmbarer Schlafplatz sei. Nur seine Nase lugte über den Rand des Korbes hinaus.
»Ja. Auraya allein fliegen. Zu einem gefährlichen Treffen. Unfug hierbleiben. In Sicherheit.«
Unfug dachte lange über diese Mitteilung nach, dann verschwand seine Nase im Korb. Seit er vor der Schlacht entführt worden war, nahm er alle Warnungen vor möglichen Gefahren sehr ernst.
»Unfug bleiben«, murmelte er.
Auraya trat erleichtert ins Freie und machte einen Schritt auf die Sprecherlaube zu. Sofort kam eine kleine Schar Siyee-Kinder aus dem Wald gestürzt und umringte sie. Als sie sie mit Blumen überhäuften, lachte sie überrascht. Einige der Kinder streckten tollkühn die Hände aus, um sie zu berühren. Plötzlich stieß ein Junge einen durchdringenden Pfiff aus, und sie huschten davon. Auraya fing genug von dem Durcheinander ihrer Gedanken auf, um zu erfahren, dass ein Erwachsener näher kam und die Kinder klugerweise vorher die Flucht ergriffen. Sie drehte sich um und sah Sprecherin Sirri auf sich zukommen.
Die Anführerin der Siyee lächelte. »Seit deinem letzten Besuch bist du hier eine leibhaftige Legende. Die Sänger unter uns haben ein Lied mit dem Titel ›Die weiße Dame‹ geschrieben, ein Lied, in dem du die Pentadrianer ganz allein besiegst.«
Auraya kicherte. »Das ist den anderen Weißen gegenüber ein wenig ungerecht.«
Sirri zuckte die Achseln. »Ja. Aber es hat tatsächlich so ausgesehen, als hättest du den Pentadrianern den Todesstoß versetzt.«
»Die Angelegenheit war ein wenig… komplizierter«, erwiderte Auraya. »Die anderen haben auf weniger augenfällige Weise angegriffen. Es war reiner Zufall, dass ich diejenige war, die den Fehler des Feindes ausnutzen konnte.«
»Du meinst den Augenblick, in dem die Zauberin abgelenkt war?«
»Ja.« Auraya bemerkte Sirris schiefes Lächeln und schaute genauer hin. Was sie sah, überraschte und erheiterte sie gleichermaßen. »Tryss war die Ablenkung? Er hat sie angegriffen?«
Sirri nickte. »Das sagt er, und ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«
»Wie unglaublich mutig«, flüsterte Auraya und dachte an den schüchternen jungen Erfinder des Jagdgeschirrs, das die Siyee jetzt benutzten.
»Es wissen nicht viele davon. Er möchte nicht, dass man ihn als Helden feiert, während so viele von uns den Tod gefunden haben. Der Krieg hat ihn verändert. Ich denke, er hat Schuldgefühle, weil er etwas geschaffen hat, das es den Siyee ermöglichte, in einem Krieg zu kämpfen, bei dem so viele ums Leben gekommen sind. Ich versuche immer wieder, ihm zu erklären, dass es nicht seine Schuld ist, aber…« Sie blickte zu Auraya auf und runzelte die Stirn; plötzlich fragte sie sich, ob auch Auraya von Schuldgefühlen belastet wurde. Als Auraya ihr in die Augen sah, wandte Sirri den Blick ab. »Ich bin hergekommen, um dir mitzuteilen, dass die Sprecher, die sich freiwillig gemeldet haben, am Versammlungsort warten«, sagte Sirri.
Auraya runzelte die Stirn. »Bin ich zu spät aufgebrochen?«
»Nein. Sie sind zu früh gekommen. Wahrscheinlich wollen sie die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen.«
»Dann sollten wir sie nicht länger warten lassen.«
Sirri geleitete Auraya bis zum Rand des Waldes, dann erhob sie sich in die Luft. Auraya folgte ihr, und gemeinsam glitten sie auf die Flache hinab, wo die beiden Sprecher, Iriz und Tyzi, warteten. In der Nähe standen mehrere Jäger, die Geschirre trugen. Sirri wollte, dass sie sie begleiteten, falls die Sprecher von Auraya getrennt wurden und die pentadrianischen Vögel angriffen.
Iriz und Tyzi verströmten gleichzeitig Furcht und Entschlossenheit, als sie Auraya begrüßten.
»Auf welche pentadrianische Gruppe werden wir als erste treffen?«, fragte Iriz.
»Welcher Gruppe sollten wir uns eurer Meinung nach zuerst nähern?«, fragte Auraya zurück.
»Derjenigen, die uns am nächsten ist«, antwortete Tyzi. »Je eher wir ihnen sagen, dass sie unser Land verlassen sollen, umso besser.«
»Dann nehmen wir uns also die Gruppe vor, die auf dem Weg nach Nordosten ist.«
»Die Gruppe im Norden ist dem Gebiet eines Stammes näher«, bemerkte Iriz. »Wenn die Pentadrianer sich für einen Angriff entscheiden, werden wir diesen Stamm vielleicht nicht rechtzeitig warnen können.«
»Die Gruppe im Norden wird nicht wissen, was die andere Gruppe tut«, meinte Tyzi. Dann sah sie Auraya zweifelnd an. »Oder ist das ein Irrtum?«
»Sie haben ebenso wie zirklische Priester eine Möglichkeit, sich miteinander in Verbindung zu setzen«, antwortete Auraya.
Tyzi runzelte die Stirn. »Dann sollten wir uns der Gruppe im Norden entgegenstellen.«
»Bis wir dort angekommen sind, werden sich auch die Pentadrianer, die nach Osten reisen, einem Stamm genähert haben«, sagte Iriz.
»Unsere Späher beobachten den Feind«, erwiderte Sirri. »Alle Siyee wissen, dass sie den Pentadrianern ausweichen müssen, und haben Vorkehrungen getroffen, um ihre Häuser verlassen zu können, falls es sein muss. Kein Stamm wird untätig dasitzen und darauf warten, dass man ihn angreift.«
Iriz und Tyzi nickten zustimmend. »Dann nehmen wir uns also die Gruppe vor, die sich dem nächstgelegenen Stamm nähert«, schlug Iriz vor.
»Wir müssten sie bis zum Nachmittag erreicht haben«, fügte Tyzi hinzu.
Auraya sah Sirri an. »Und wenn alles gutgeht, werden wir morgen zurück sein.«
Die Sprecherin lächelte grimmig. »Dann lasst uns nicht länger zögern.«
Sie gingen zum unteren Ende der Flache, wo ein nicht allzu tiefer Abbruch die Felsfläche begrenzte. Nachdem Sirri sich in die Luft erhoben hatte, stießen sich auch die anderen Sprecher und Jäger ab. Auraya zog Magie in sich hinein und folgte ihnen.
Als sie zu Sirri aufschloss, spürte sie eine zweite Präsenz an ihrer Seite.
Du bist wieder da.
Ja, sagte Chaia.
Weißt du, was diese Pentadrianer vorhaben?
Ja.
Wirst du es mir erzählen?
Nein.
Warum nicht?
Es ist an dir, sie zu finden und das Problem zu lösen.
Dann wirst du mir also nicht einmal verraten, wo sie sind.
Das ist nicht notwendig. Du wirst sie ohne weiteres finden.
Welchen Sinn hat es, dass du mit mir redest, wenn du mir nichts Nützliches mitteilen willst?
Muss es immer eine Belohnung geben? Ist meine Gesellschaft nicht genug?
Sie seufzte.
Natürlich muss es keine Belohnung geben. Ich wünschte nur, ich wüsste, wie gefährlich diese Pentadrianer sind. Ich möchte nicht, dass die Siyee verletzt oder getötet werden.
Dann solltest du alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Chaias Tonfall war jetzt nicht mehr spielerisch. Sei nicht allzu selbstgefällig, nur weil ich ab und zu gegenwärtig bin. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein, ebenso wenig wie ich die ganze Zeit über bei dir sein kann. Wenn ich es könnte, und wenn die Welt voller mit großen Gaben gesegneter Sterblicher wäre, die bereit wären, meinen Willen zu tun, hätten wir dich nicht zu dem machen müssen, was du bist. Er hielt inne. Hast du alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen?
Ja, antwortete sie. Ich hoffe es zumindest.
Als er sie verließ, durchzuckte sie ein Stich der Furcht. Einmal mehr grübelte sie über die verschiedenen Möglichkeiten nach, wie diese Begegnung mit den Pentadrianern ausgehen könnte.
Die Ergebene Renva ergriff die Hand des Götterdieners Vengel und hielt sie fest, während er sie über den Rand des Felskamms hochzog. Als sie sich neben ihm aufrichtete, gab er ihr Halt. Der Boden war voller tiefer Senken und scharfer Steine, und es gab nirgendwo eine ebene Stelle, auf der man gut hätte stehen können.
Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, blickte sie sich um. Der Felskamm lag hoch genug, um das umgebende Gelände deutlich sehen zu können.
Das ist ein Alptraum!, dachte sie. Gewiss können hier nur geflügelte Geschöpfe leben. Es ist so, als täte das Land sein Bestes, um uns zurückzuweisen.
Sie wünschte, sie hätte ihm diesen Gefallen tun können, aber sie musste Befehle ausführen. Die Siyee waren ein primitives Volk, so hatte man ihr erzählt. Schlichte Leute mit schlichten Gebräuchen waren leicht zu beeindrucken. Ob sie sie dazu bringen konnte, den Fünf Göttern zu huldigen, hing davon ab, wie sehr sie von den Zirklern und ihren falschen Göttern beeindruckt waren.
Aber zuerst müssen wir sie erreichen.
Es wäre viel einfacher gewesen, wenn die Siyee zu ihr gekommen wären.
Sie hatte von Zeit zu Zeit in der Ferne einige von ihnen gesehen, und häufig hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie sie und ihre Gefährten beobachteten, aber sie waren niemals in Rufweite gekommen.
Schlichte Leute sind oft sehr ängstlich, rief sie sich ins Gedächtnis. Vor wenigen Monaten waren wir noch ihre Feinde. Sie werden uns als Eindringlinge betrachten.
Sie wandte sich von der Aussicht ab und machte sich auf den Weg zum Gipfel des Felsens.
»Ergebene Renva!«, rief Vengel.
Sie drehte sich um und bemerkte, dass er in die Ferne schaute. Er sah zu ihr herüber und streckte die Hand aus. Als sie den Blick in die Richtung wandte, in die er wies, konnte sie am Himmel nichts entdecken.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Siyee«, antwortete Vengel. »Sie fliegen ziemlich tief. Zwischen den Bäumen und uns.«
Sie senkte den Kopf, aber es dauerte einige Zeit, bis sie sie sah. Fliegende Gestalten, die zu groß waren, um Vögel zu sein, glitten zwischen den Baumwipfeln hindurch, zu weit entfernt, als dass sie Einzelheiten hätte ausmachen können. Es waren mehr als zehn, und sie kamen direkt auf sie zu.
»Ich sehe sie.« Sie dachte über ihre Situation nach. Ob die Siyee kamen, um zu reden oder um zu kämpfen, sie sollte auf jeden Fall bei ihren Leuten sein. Da die anderen es nicht rechtzeitig bis auf den Felskamm schaffen konnten, bedeutete das, dass sie in die enge Schlucht unter ihr zurückkehren musste.
Sie ging zu Vengel hinüber und beugte sich über den Rand.
»Geht wieder nach unten!«, rief sie dem Götterdiener zu, der das Seil hinaufkletterte. Der Mann runzelte die Stirn und ließ sich sofort langsam wieder hinab. Sie sah Vengel an. »Bleib hier und stell fest, ob du ihre Aufmerksamkeit erregen kannst, aber sei bereit, falls sie angreifen.«
Vengel nickte. Seine Miene war grimmig, aber er sagte nichts, als sie sich an den Abstieg machte. Er verfügte über genug magisches Talent, um sich vor Pfeilen zu schützen.
Sobald sie auf dem Boden der Schlucht angelangt war, versammelte Renva die anderen um sich.
»Eine Gruppe von Siyee fliegt in unsere Richtung«, erklärte sie ihnen. »Es ist möglich, dass sie hierherkommen, um uns zu treffen; es ist aber ebenso gut möglich, dass sie nichts von unserer Anwesenheit hier wissen. Wir sollten für den Fall des Falles auf einen Angriff vorbereitet sein.«
Die unbefähigten Träger und die weniger befähigten Götterdiener traten in die Mitte der Gruppe. Alle schwiegen, während sie warteten. Vengel stieß einen lauten Ruf aus, und ihre Gefährten blickten zum Himmel auf.
Geflügelte Gestalten huschten hinter den Bäumen vorbei. Renva bemerkte, dass sie sie argwöhnisch anstarrten. Dann kreisten sie mit einem Mal über ihnen, und ihre selbstsichere Haltung wirkte einschüchternd. Sie bemerkte eine größere Gestalt – flügellos und weiß -, und ihre Kehle wurde trocken.
Die Weiße Zauberin. Nekaun hat mich gewarnt, dass sie hier sein könnte. Sie berührte den Sternenanhänger auf ihrer Brust.
Nekaun!
Die Pause, die folgte, war kurz, fühlte sich aber wie eine Ewigkeit an.
Renva. Wie ich sehe, seid ihr den Siyee begegnet.
Wir stehen kurz vor einer Begegnung, korrigierte sie ihn. Die Weiße Zauberin ist bei ihnen.
Das ist keine Überraschung. Solange es nicht zu Gewalttätigkeiten kommt, wird sie euch nicht angreifen. Erfüllt euren Auftrag.
Renva schluckte. Ich hoffe, er hat recht. Sie holte tief Luft und zwang sich, nach den Leuten über ihr zu rufen.
»Männer und Frauen des Himmels. Siyee. Wir wollen keinem von euch Schaden zufügen. Kommt herunter, damit wir mit euch sprechen können.«
Die durchdringenden Pfiffe der fliegenden Menschen, in die sich eigenartige Wörter mischten, hallten im Wald wider. Sie sprachen miteinander, vermutete Renva. Sie erwartete nicht, dass sie sie verstanden, hoffte aber, dass sie ihre friedlichen Absichten in ihrer Stimme hören würden. Die Weiße Zauberin verstand sie vermutlich. Es hieß, diese Zauberer könnten Gedanken lesen.
»Ich bin die Ergebene Götterdienerin Renva, und dies sind meine Begleiter. Wir haben einen weiten Weg auf uns genommen, weil wir hofften, eure Freundschaft erringen zu können«, erklärte sie ihnen. »Wir sind…«
Ein schwacher Lufthauch fuhr durch die Blätter, als drei der Siyee durch die Baumwipfel glitten. Sie landeten auf Ästen hoch über ihr und blickten auf Renva und ihre Leute hinab. Im nächsten Moment hörte sie eine Stimme hinter sich.
»Wenn eure Absichten friedlich sind, warum habt ihr dann nicht die Sprache der Einheimischen gelernt, bevor ihr hierhergekommen seid?«
Renva fuhr herum. Die Weiße Zauberin stand, nicht weit von ihr entfernt, auf einem der unteren Äste eines Baums.
»Wir haben niemanden, der uns die Sprache hätte lehren können«, antwortete Renva. »Wenn es anders gewesen wäre, hätten wir sie gelernt.«
Die Weiße Zauberin blickte nach oben und sprach eine Abfolge fremdartiger Worte. Eine der Siyee über ihr antwortete. Die Zauberin lächelte schwach, dann wandte sie sich wieder Renva zu.
»Ich bin lediglich als Beschützerin und Übersetzerin hier. Sprecherin Sirri, die Anführerin der Siyee, wünscht zu wissen, warum ihr ungebeten in Si eingedrungen seid.«
Renva sah zu der Siyee auf, die gesprochen hatte. Eine Frau führt sie an. Interessant.
»Wir sind hier, um Frieden mit den Siyee zu schließen.«
Die Weiße Zauberin übersetzte. Oder zumindest hoffe ich, dass sie es tut, dachte Renva. Woher soll ich wissen, ob sie meine Worte nicht zu ihren Gunsten verfälscht?
Gib Acht, wie du deine Fragen formulierst, riet ihr Nekaun.
Die Anführerin der Siyee sprach.
»Sprecherin Sirri sagt: ›Wenn ihr Frieden schließen wollt, lasst uns in Ruhe. Geht fort und kehrt nicht zurück‹«, sagte die Weiße Zauberin.
»Wollt ihr uns keine Chance geben, die Kluft zwischen unseren Völkern zu überwinden?«, fragte Renva.
Ein anderer Siyee antwortete.
»Die Kluft ist zu groß. Wie könnt ihr von uns erwarten, dass wir euch verzeihen, euch, die ihr die Länder unserer Verbündeten überfallen und so viele unserer Väter und Söhne, Mütter und Töchter ermordet habt?«
»Müssen wir dann für immer Feinde bleiben?«
»Freundschaft muss man sich verdienen«, erwiderte die Anführerin der Siyee. »Vertrauen wächst nicht, wenn ein Feind ungebeten in ein Haus eindringt.«
»Wie können wir euer Vertrauen gewinnen? Wie können wir auch nur eure Sprache lernen, wenn wir nicht … Werdet ihr stattdessen nach Avven kommen?«
Die Siyee sahen einander an.
»Vielleicht eines Tages, wenn wir uns sicher wären, dass uns dort keine Gefahr droht.«
»Ich schwöre bei den Fünf Göttern, dass ihr nichts zu befürchten hättet«, sagte Renva ernst.
Daraufhin wirkten die Siyee spürbar beklommen. Der ältere Mann ergriff wieder das Wort. Die Weiße Zauberin schien überrascht zu sein und stutzte kurz, bevor sie übersetzte.
»Sprecher Iriz sagt: ›Wenn ihr versucht, irgendeinen Siyee dazu zu bringen, euren Göttern zu huldigen, werdet ihr scheitern. Huan hat uns erschaffen, und wir werden uns niemals von ihr abwenden.‹«
Sie glauben, ihre Götter hätten sie erschaffen?, murmelte Nekaun.
So sieht es aus, antwortete sie.
Tut, was sie sagen, wies er sie an. Verlasst ihr Land.
Ja, Heiliger.
Renva neigte den Kopf. »Freundschaft war der Grund, warum wir hierhergekommen sind. Um unsere Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, werden wir fortgehen, wie es euer Wunsch ist. Ich hoffe, dass sich in Zukunft eine neuerliche Gelegenheit bieten wird, Frieden zwischen uns zu schließen.«
Die Zauberin übersetzte, dann brachten die Siyee ihre Zustimmung zum Ausdruck. Sie sprangen von ihren Bäumen und schwangen sich in die Luft. Die Zauberin zögerte einen Moment lang und musterte Renva, als versuche sie, sie zu durchschauen.
»Einige Späher der Siyee werden euch beobachten«, warnte sie sie. »Wenn ihr euer Wort brecht, werden wir es erfahren.«
Sie ließ sich in die Höhe treiben und gewann so schnell an Tempo, dass der Blätterbaldachin der Bäume unter ihr vibrierte. Renva schüttelte voller Ehrfurcht den Kopf. Es war unglaublich, dass jemand über so große magische Talente verfügen konnte, dass er dem Sog der Erde zu trotzen vermochte.
Und es ist überaus niederschmetternd zu wissen, welche Strapazen uns bevorstehen, wenn wir jetzt zur Küste zurückreisen müssen.
Lasst euch Zeit, sagte Nekaun in ihre Gedanken hinein. Eure Situation könnte sich bis zu eurer Ankunft an der Küste verändern.
Das will ich nicht hoffen, schoss es ihr durch den Kopf. Gleichzeitig stiegen Gewissensbisse in ihr auf, dass sie so dachte. Sie sollte bereit sein, alles zu ertragen, um den Göttern zu dienen.
Aber du brauchst keinen Gefallen daran zu finden, erklärte Nekaun, dessen Gedankenstimme deutliche Erheiterung übermittelte. Sie lachte. Als ihre Reisegefährten sich mit fragender Miene zu ihr umwandten, fasste sie sich wieder.
»Wir werden bis zum Einbruch der Dämmerung denselben Weg zurückgehen, über den wir gekommen sind«, verkündete sie, »und dann werden wir uns einen guten Ruheplatz für die Nacht suchen.« Sie blickte zu dem Felskamm hinauf. »Du kannst wieder herunterkommen«, rief sie Vengel zu, der sich über den Rand beugte und zu ihr hinabspähte. »Wir reisen heim.«
Schmerz stürmte auf Imi ein, als sie erwachte, und die Welt schien sich um sie herum zu drehen. Ihre Haut brannte, ihre Glieder taten weh, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Jemand hob sie hoch. Eine Stimme erregte ihre Aufmerksamkeit – die Stimme eines Mannes, der leise und besänftigend auf sie einsprach. Er klang wie ihr Vater.
Mit einem Schlag war sie hellwach. Konnte das sein? War er endlich gekommen, um sie zu retten? Sie schlug die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht. Die Haut des Mannes war bleich, und sowohl auf seinem Gesicht als auch auf seiner Kopfhaut wuchs Fell.
Er war ein Landgeher, aber nicht der Landgeher, der sie hierhergebracht hatte. Er erwiderte ihren Blick, und die beiden fellbewachsenen Linien über seinen Augen zogen sich zusammen, als er die Stirn runzelte. Sie nahm ein leises Gluckern um sich herum wahr und begriff, dass er in dem Becken stand. Jetzt ließ er sie langsam hinab. Für einen Moment stieg Panik in ihr auf, und sie setzte sich schwach zur Wehr. Das Becken war zu tief, und sie hatte keine Kraft, sich wieder herauszuziehen. Sie würde ertrinken.
Aber sobald sie Wasser auf ihrem Rücken spürte, saß sie auch schon auf dem Boden des Beckens. Der Landgeher ließ sie los, blieb aber an ihrer Seite hocken. Dann begann er, sie mit Wasser zu bespritzen. Das Wasser brannte auf ihrer Haut, dann schenkte es ihr ein wenig Kühlung. In der Luft lag ein angenehmer Geruch – der Geruch des Meeres. Er kam von dem Wasser. Sie hob eine Hand an den Mund und kostete es.
Meerwasser. Sie versuchen mir zu helfen, wieder gesund zu werden.
Der Gedanke hätte sie erleichtern müssen, aber er brachte nur Furcht und die erschreckende Erkenntnis, dass sie nackt war. Wo war ihr Hemd? Würden sie ihr neue Kleider geben? Was würden sie mit ihr machen, wenn sie wieder gesund war? Was würden sie von ihr verlangen? Vielleicht war es besser, wenn sie nicht gesund wurde. Vielleicht war es besser, wenn sie starb.
Nein. Ich muss gesund werden, sagte sie sich. Ich muss wieder auf den Beinen und bereit sein, wenn Vater kommt… oder wenn sich mir eine Chance bietet, allein zu fliehen.
Der Landgeher hörte auf, sie mit Wasser zu bespritzen. Er richtete sich auf und trat an den Rand des Beckens. Dort griff er nach einem großen Tablett und watete wieder zu ihr hinüber.
Er begann von neuem zu sprechen, und seine Stimme klang leise und wohlwollend. Er nahm etwas von dem Tablett und hielt es ihr hin.
Es war roher Fisch. Sie verzog das Gesicht, und er stellte das Tablett sofort wieder beiseite.
Als Nächstes hielt er ihr ein Stück gekochten Fisch hin. Sie spürte, wie ihr Magen knurrte, und streckte die Hand danach aus, dann zögerte sie.
Was ist, wenn der Fisch vergiftet ist?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah den Mann argwöhnisch an. Er lächelte und murmelte einige fremdartige Worte. Er versuchte, sie zu beruhigen.
Was spielt es für eine Rolle?, dachte sie. Wenn ich nichts esse, werde ich ohnehin sterben.
Sie nahm das Stück Fisch und schob es sich in den Mund. Es schmeckte wunderbar. Sie schluckte, und eine tiefe Erleichterung breitete sich in ihrem Körper aus.
Der Landgeher bot ihr Stück um Stück an, dann stellte er das Tablett beiseite. Sie hatte noch immer Hunger, doch ihr Magen schien zu viel zu tun zu haben, als dass er mehr hätte vertragen können. Der Mann kam näher. Ein Stich der Furcht durchzuckte sie, als er sich neben ihr im Wasser auf die Knie niederließ. Er sprach mit ernster Miene auf sie ein, dann blickte er über seine Schulter hinweg zu dem geschlossenen Metalltor des Raums. Als er sich wieder umdrehte, sah er ihr fest in die Augen und begann von neuem zu sprechen. Diesmal schwangen starke Gefühle in seiner Stimme mit. Sie erkannte Zorn, wusste aber, dass er nicht gegen sie gerichtet war. Der Mann deutete auf den Raum, dann auf sie und schließlich auf sich selbst, bevor er mit den Fingern zwei Paare von gehenden Beinen nachahmte.
Die Bedeutung schlug über ihr zusammen wie eine Woge kalten Wassers. Er würde sie retten.
Tränen traten ihr in die Augen. Überwältigt von Dankbarkeit, schlang sie die Arme um ihn und begann zu schluchzen. Endlich. Er mochte nicht ihr Vaters sein, aber er würde sie retten. Er klopfte ihr auf den Rücken, wie ihr Vater es tat, wenn sie verletzt oder aufgeregt war. Dieser Gedanke zog weitere Tränen nach sich.
Dann spürte sie, wie er sich versteifte, und er schob sie sanft von sich. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Als ihr Blick klarer wurde, bemerkte sie eine Gestalt hinter dem Metalltor, und das Blut gefror ihr in den Adern.
Es war der Landgeher, der sie hierhergebracht hatte, und auf seinem Gesicht lag ein finsterer Ausdruck.
Hatte er den netten Landgeher belauscht, wie er davon sprach, dass er sie retten wollte? Sie musterte den netten Landgeher eindringlich. Er klopfte ihr sanft auf die Schulter und deutete auf das Tablett, um sie aufzufordern, mehr zu essen, dann wandte er sich zu dem Mann um, der sie gefangen hatte. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, kletterte der nette Landgeher aus dem Becken und ging zum Tor.
Sie unterhielten sich noch eine Weile, und Imi konnte den unterdrückten Ärger in ihren Stimmen hören. Sie ließ sich ins Wasser sinken, und ihre Hoffnung fiel in sich zusammen, denn die Stimmen der beiden Männer verrieten deutlich, dass sie miteinander stritten.
Als Auraya, Sprecherin Sirri und die anderen Siyee im Offenen Dorf landeten, war in der Ferne das unheilverkündende Grollen von Donner zu hören. Eine Schar ängstlicher Siyee begrüßte sie, darunter die Sprecher und Stammesabgesandten, die zurückgeblieben waren.
»Die Pentadrianer verlassen Si«, erklärte Sirri. Pfiffe und Jubelrufe folgten, und sie musste die Stimme heben, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. »Sie behaupten, sie seien nach Si gekommen, um mit uns Frieden zu schließen, aber Auraya hat ihre wahren Absichten in ihren Gedanken gelesen. Sie wollten uns lediglich überreden, uns ihren Göttern anzuschließen. Wir haben sie weggeschickt.«
»Wie können wir sicher sein, dass sie nicht zurückkommen und uns angreifen werden?«, fragte ein Sprecher.
»Eine solche Gewissheit gibt es nicht«, antwortete Sirri. »Wir haben Späher ausgesandt, die sie beobachten. Wir sind für einen Angriff ebenso gut gerüstet wie zuvor, nur dass wir jetzt Aurayas Hilfe haben.«
Auraya gelang es, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen. Würde Juran ihre Rückkehr nach Jarime wünschen, jetzt, da es so aussah, als würden die Pentadrianer abziehen? Sie beugte sich zu Sirri vor.
»Sie werden die ganze Geschichte hören wollen«, murmelte sie, »aber ihr drei, du, Iriz und Tyzi, seid erschöpft. Warum schlägst du ihnen nicht eine Zusammenkunft später am Abend vor, um ihnen dann alles zu erzählen?«
Sirri sah sie an und lächelte. »Eine gute Idee«, sagte sie aus dem Mundwinkel. »Es war eine lange Reise«, fügte sie dann an die Menge gewandt hinzu. »Ich glaube, meine Begleiter und ich wären dankbar für ein wenig Zeit, um uns auszuruhen und zu erfrischen. Wollen wir uns nach dem Essen in der Sprecherlaube noch einmal zusammensetzen?«
Die Stammesanführer nickten zustimmend. Auraya fing eine Woge der Erleichterung von Iriz auf.
»Wir werden euch dann alles berichten«, fügte Sirri hinzu.
Die Menge zerstreute sich. Als Auraya auf ihre Laube zuging, gesellte Sirri sich zu ihr.
»Ich fühle mich, als könnte ich eine ganze Woche lang schlafen«, gestand Sirri, als sie sich ein wenig von den Leuten entfernt hatten. »Ich bin nicht daran gewöhnt, lange Strecken zurückzulegen. Meine Position hält mich hier fest.« Sie hielt inne. »Trotzdem bezweifle ich, dass ich überhaupt ein Auge zutun werde.«
»Ich würde auch nicht gut schlafen, wenn mein Sohn die Späher anführte, die die Pentadrianer beobachten. Aber Sreil ist ein vernünftiger junger Mann. Er wird keine Risiken eingehen.«
Sirri sah Auraya ängstlich an. »Glaubst du, dass die Pentadrianer das Land wirklich verlassen werden?«
Auraya schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe ein Gedankengespräch zwischen der Anführerin und ihrem Auftraggeber aufgefangen. Er hat ihr befohlen, fortzugehen, hat ihr aber gleichzeitig mitgeteilt, dass seine Befehle sich ändern könnten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich. Ich bezweifle, dass die Pentadrianer einen weiteren Krieg beginnen werden, indem sie Si angreifen, aber ich würde die Möglichkeit nicht als vollkommen unwahrscheinlich abtun.«
Sirri seufzte. »Es gefällt mir nicht, dass wir von einem Angriff vielleicht erst Tage später erfahren würden.«
Auraya nickte. »Mir gefällt es ebenso wenig.«
»Je eher wir eigene Priester und Priesterinnen haben, umso besser.«
»Ja.«
Inzwischen waren sie vor Aurayas Laube angelangt.
»Versuch trotzdem, dich ein wenig auszuruhen«, ermahnte Auraya die Anführerin der Siyee sanft. »Selbst wenn du dich in irgendein Versteck zurückziehen musst, um nicht gestört zu werden.«
Sirri lachte leise. »Es ist durchaus möglich, dass ich genau das werde tun müssen.« Sie sah sich um. Es standen noch immer einige Siyee in der Nähe. »Ja. Das ist eine weitere gute Idee. Wir sehen uns dann nach dem Abendessen.«
Auraya lächelte, als Sirri in den Wald hineinging. Sie schob den Türvorhang ihrer Laube beiseite und trat ein. Als sie in der Mitte des Raums stand, konzentrierte sie ihren Geist auf ihren Ring.
Jur…
Etwas fiel auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und stieß dann einen Seufzer der Erleichterung aus, als in unbehaglicher Nähe zu ihrem Ohr eine hohe Stimme erklang.
»Owaya! Owaya! Owaya!«
»Ja, Unfug«, sagte sie und löste den Veez von ihrem Hals. »Ich bin wieder da. Und ich bin gesund und munter.« Das Tier klammerte sich mit zuckenden Schnurrhaaren an ihren Arm. »Und ja, ich würde auch gern mit dir spielen, aber im Augenblick muss ich zuerst einmal mit Juran reden.«
Als sie sich hinsetzte, ließ er sie los und rollte sich auf ihrem Schoß zusammen. Sie holte tief Luft und suchte abermals Jurans Geist.
Auraya? Ich dachte mir schon, dass du es warst.
Ja. Ich habe soeben das Offene Dorf erreicht. Juran hatte die Auseinandersetzung telepathisch verfolgt. Ich habe während des ganzen Rückwegs über die Dinge nachgedacht, die ich in Erfahrung gebracht habe. Hast du Zeit, darüber zu sprechen?
Ja. Also, zu welchen Schlüssen bist du gekommen?
Die Frau, der wir begegnet sind, glaubt, ihr Vorgesetzter – Nekaun – sei der Anführer der Pentadrianer. Sie haben bereits einen Ersatz für Kuar gewählt.
So sieht es aus, pflichtete Juran ihr bei. Entweder, die Pentadrianer bringen in furchterregendem Tempo mächtige Zauberer hervor, oder sie haben einen weniger mächtigen Zauberer gewählt, um das Vertrauen ihrer Anhänger zurückzugewinnen.
Letzteres kommt mir wahrscheinlicher vor. Diese Pentadrianer sind nach Si geschickt worden, um sich mit den Siyee anzufreunden. Sie sollten die Siyee dazu bringen, sich von dem Zirkel der Götter abzuwenden und stattdessen in Zukunft ihren eigenen fünf Göttern zu huldigen. Hältst du es für möglich, dass dieser Nekaun ähnliche Gruppen mit demselben Auftrag in andere Länder Ithanias geschickt hat?
Vorstellbar wäre es. Wir werden wachsam sein müssen.
Wenn ich mir sicher sein könnte, dass die pentadrianischen Götter nicht existieren, würde ich sagen, dass sie kaum Erfolgschancen hätten. Haben die Götter inzwischen mehr erfahren?
Sie haben nicht davon gesprochen. Was ist mit Chaia? »Plaudert« er immer noch mit dir?
Ja. Allerdings hat er über dieses Thema nicht gesprochen.
Hast du ihn gefragt?
Ja, aber er versteht sich bemerkenswert gut darauf, Fragen zu ignorieren, die er nicht beantworten will.
Wenn er könnte, würde er es dir sagen.
Meinst du? Er kann manchmal ein sehr aufreizender Gefährte sein.
Du kannst dich glücklich schätzen, dass er dich so oft mit seiner Anwesenheit beehrt. Er hat eine hohe Meinung von dir, Auraya. Genieße es; es ist vielleicht nicht von Dauer.
Sie zuckte zusammen. War sie undankbar? Sie konnte nicht offenbaren, warum Chaias Besuche so… so … Ihr fiel kein Wort ein, mit dem sie die Mischung aus Verärgerung und Neugier, die sie empfand, hätte beschreiben können.
Juran hat gut reden, wenn er mir rät, Chaias Besuche zu genießen. Er hat wahrscheinlich noch nie damit fertigwerden müssen, dass ein Gott ihm verführerische Worte ins Ohr murmelt, dachte sie. Dann runzelte sie die Stirn. Oder irre ich mich da? Sie schüttelte den Kopf. Besinne dich wieder auf das Thema, ermahnte sie sich.
Ich würde gern hierbleiben, bis wir uns sicher sein können, dass die Pentadrianer Si verlassen haben.
Ja, das solltest du tun.
Sie seufzte vor Erleichterung. Er hatte sich anfänglich ihrer Idee, den Siyee zu Hilfe zu eilen, widersetzt, daher hatte sie erwartet, dass er sie jetzt nach Jarime zurückrufen würde.
Ich werde aufbrechen, sobald die Pentadrianer fort sind.
Nachdem sie sich aus Jurans Geist zurückgezogen hatte, nahm sie sich ein wenig Zeit, um Unfug zu kraulen. Als Nächstes sollte sie feststellen, wie es Danjin erging. Allerdings hatte sich irgendetwas im Raum verändert. Gerade als ihr bewusst wurde, was es war, erklang eine Stimme in ihren Gedanken.
Danjin ist beschäftigt, sagte Chaia. Und wie du gestern sagtest, die Arbeit kommt vor dem Vergnügen. Du hast fürs Erste genug getan – oder willst du für den Rest der Ewigkeit ohne Pause weiterarbeiten?
Auraya lächelte.
Nein, es sei denn, du würdest es von mir verlangen.
Das war nie meine Absicht. Unsere Auserwählten sollten von Zeit zu Zeit einfach das Leben genießen. Noch besser wäre es, wenn wir es gemeinsam genießen könnten.
Sie spürte eine flüchtige Berührung von Magie an ihrer Schulter, und ein Schaudern überlief sie. Es war unmöglich, nicht an das Potenzial zu denken, das solche Gefühle vielleicht haben würden, wenn sie stärker wären oder wenn sie sich von ihrem Hals aus zu anderen Stellen ihres Körpers ausbreiteten …
Du brauchst nur zu fragen, dann werde ich es dir zeigen.
Sie dachte an Jurans Worte.
Aber das konnte er nicht gemeint haben.
Nein, aber in einem Punkt hat er recht: Ich ziehe dich allen anderen vor.
Ein unsichtbarer Finger berührte ihre Lippen und zeichnete langsam eine Linie von ihrem Hals bis hinunter zu ihrer Brust und ihrem Bauch… Dann verlor sich das Gefühl. Auraya stellte fest, dass ihr Atem in schnellen Stößen ging.
Ein Gott, ging es ihr durch den Kopf. Warum nicht? Widersetze ich mich ihm nur, weil ich nicht abermals einen unpassenden Geliebten anziehen will?
Nicht unpassend, korrigierte Chaia sie. Ungewöhnlich vielleicht, aber nichts, dessen du dich schämen müsstest.
Anders als bei Leiard, dachte sie. Aber trotzdem… kompliziert.
Nicht so kompliziert, wie du befürchtest. Ich werde nicht vor dir weglaufen, wie er es getan hat, Auraya.
Sie spürte seine Berührung auf ihren Schultern und schloss die Augen.
Schick ihn in die Vergangenheit, damit er zu einer Erinnerung wird, auf die du voller Zuneigung zurückblicken kannst, wisperte Chaia.
Seine unsichtbaren Finger glitten über ihre Brüste.
Komm mit mir an jenen Ort zwischen Träumen und Wachen…
Sie spürte seinen Mund auf ihrem. Zuerst war es nur eine schwache Berührung von Magie, die jedoch zu etwas Greifbarerem wurde, als sie in eine Traumtrance versank.
… und beginne eine neue Zeit mit mir.
Ja, flüsterte sie und streckte die Hände nach der leuchtenden Gestalt vor ihr aus. Zeig mir, wie es sein könnte.
Eine Welle der Wonne schlug über ihr zusammen, ein Gefühl, das intensiver war als alles, was sie je zuvor erlebt hatte.
Reivan zog gähnend den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie war bis weit in die Nacht aufgeblieben, um Imenja bei der Bewertung eines Handelsabkommens zu helfen, und jetzt war sie mit ihren morgendlichen Verpflichtungen in Verzug geraten. Vom vergangenen Tag waren nagende Kopfschmerzen zurückgeblieben, und das stetige Heulen des Staubsturms draußen – der schon seit Tagen wehte – ging ihr langsam auf die Nerven.
Mit ihrer Weihe zur vollen Götterdienerin mochte ihre Ausbildung ein Ende gefunden haben, aber die Zeit, die sie mit dem Unterricht verbracht hatte, war schnell von neuen Pflichten beansprucht worden. Imenja hatte ihr größere Verantwortung übertragen, und dazu gehörte auch, Menschen zu befragen, die um eine Audienz bei der Zweiten Stimme ersucht hatten. Ihre Aufgabe war es zu entscheiden, ob das Anliegen oder der Status des Bittstellers wichtig genug war, um ein Treffen zu rechtfertigen.
Man hatte ihr einen Raum in der Nähe des Sanktuariums gegeben, in dem sie diese Leute befragen konnte. Der Raum verfügte über zwei Eingänge: einen öffentlichen und einen privaten. Durch den privaten Eingang konnte sie kommen und gehen, ohne von den Menschen, die vor dem öffentlichen Eingang warteten, angesprochen zu werden.
Außerdem hatte man ihr einen Gehilfen zugewiesen, Götterdiener Kikarn. Er war ein hässlicher Mann und so mager, dass er beängstigend streng wirkte, aber Reivan hatte festgestellt, dass er einen scharfen Verstand besaß. Als sie nun auf ihrem Stuhl Platz nahm und er eine besonders lange Liste auf ihren Tisch legte, unterdrückte sie ein Stöhnen. Heute muss ja ein hübsches Gedränge draußen im Flur herrschen, dachte sie mit gequälter Miene.
»Was hat der Wind denn heute Morgen hereingeweht?«
Kikarn lachte leise. »So ziemlich alles, angefangen von Goldstaub bis zu Unrat«, antwortete er. »Der Kaufmann Ario möchte sich die Zweite Stimme mit einer Bestechung – äh, einer großen Spende – gewogen machen.«
»Wie viel?«
»Genug, um einen neuen Tempel zu bauen.«
»Beeindruckend. Was will er als Gegenleistung?«
»Nichts natürlich.«
Sie lächelte. »Wir werden sehen. Was noch?«
»Eine Frau, die Palastdomestikin in Kave war, behauptet, die Gemahlin des Hochfürsten huldige seit neuestem einem toten Gott. Sie sagt, sie habe Beweise dafür.«
»Sie muss sich ihrer Sache sicher sein, sonst würde sie damit nicht an die Zweite Stimme herantreten.«
»Es sei denn, sie weiß nichts von der Fähigkeit der Stimmen, Gedanken zu lesen.«
»Wir werden sehen.« Sie blickte auf die Liste hinab und stutzte, als sie zu einem vertrauten Namen kam. »Denker Kuerres?«
»Er will zu dir.«
»Nicht zu Imenja?«
»Nein.«
»Was führt ihn hierher?«
»Das will er nicht sagen, aber er beteuert, dass das Leben eines Menschen davon abhängen könnte.«
Natürlich. Es musste schon ein Menschenleben auf dem Spiel stehen, bevor die Denker sich dazu herablassen würden, noch einmal mit mir zu sprechen, überlegte sie.
»Und dann wären da noch die anderen.«
»Sie sind nicht so wichtig wie die ersten beiden.«
»Die ersten beiden werden einige Zeit beanspruchen. Schick Kuerres herein. Ich habe nie erlebt, dass er übertrieben oder gelogen hätte. Höchstwahrscheinlich wollen sie wissen, was ich mit meinen Büchern und Instrumenten gemacht habe.«
Kikarn neigte den Kopf. Als er zur Tür hinüberging, vergegenwärtigte sich Reivan noch einmal, was sie über Kuerres wusste. Er war einer der stilleren Denker. Er war nie unfreundlich zu ihr gewesen, obwohl er ihr auch keine große Beachtung geschenkt hatte. Stirnrunzelnd durchforstete sie ihr Gedächtnis nach Dingen, die sich als nützlich erweisen könnten. Er hatte Familie. Und er besaß eine Menagerie exotischer Tiere.
Das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Sie erkannte den nicht mehr ganz jungen Mann, der nun den Raum betrat, aber er benahm sich ganz anders, als sie es in Erinnerung hatte. Er sah sich mit bleichem Gesicht und ineinander verschlungenen Händen nervös im Raum um.
»Denker Kuerres«, sagte sie. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Nimm Platz.«
»Götterdienerin Reivan«, erwiderte er und zeichnete einen Stern auf seine Brust. Er blickte kurz zu Kikarn hinüber, dann trat er vor und ließ sich auf den Stuhl sinken.
»Was führt dich ins Sanktuarium?«, fragte sie.
»Ich… ich muss ein Verbrechen melden.«
Sie stutzte. Sie hatte angenommen, dass es ihn nervös machte, im Sanktuarium zu sein und mit wichtigen Leuten zu sprechen. Jetzt fragte sie sich langsam, ob er vielleicht in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte.
»Sprich weiter«, sagte sie.
Er holte tief Luft. »Wir – die Denker – sind gestern von einem Händler angesprochen worden. Von einem reichen Händler, der Informationen wollte und bereit war, großzügig dafür zu zahlen.« Kuerres hielt inne und sah ihr in die Augen. »Er wollte etwas über die Elai erfahren.«
»Das Meeresvolk? Einige der Denker glauben nicht einmal, dass dieses Volk existiert.«
»Ja. Wir haben ihm alles erzählt, was wir wissen, aber er war nicht zufrieden damit. Er fragte, ob irgendjemand von uns Kenntnisse über die Haltung wilder Tiere hätte, und ich habe ihm meine Dienste angeboten.«
Reivan lächelte. »Lass mich raten: Er hat irgendein großes, fremdartiges Meeresgeschöpf gekauft und geglaubt, es könnte der Ursprung der Legende sein?«
Kuerres schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich habe mich erboten, ihm zu helfen. Ich war neugierig. Er hat mich in sein Haus mitgenommen. Was ich dort vorfand, war…« – er schauderte – »… grauenhaft. Ein krankes, verschüchtertes Kind – aber ein Kind, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Dicke schwarze Haut. Gänzlich unbehaart. Große Hände und Füße mit Häuten zwischen Fingern und Zehen.«
»Füße? Kein Fischschwanz?«
»Kein Fischschwanz. Auch keine Kiemen. Aber eindeutig ein… ein Geschöpf des Wassers. Ich habe keinen Zweifel, dass dieses Kind dem Volk der Elai angehört.«
Erregung stieg in Reivan auf, doch aus Gewohnheit unterdrückte sie das Gefühl. Denker ließen nicht zu, dass Gefühle die Oberhand über ihren Verstand gewannen. Es war nur allzu leicht, sich etwas einzureden, wenn man es wirklich glauben wollte.
»Hat dieser Kaufmann erzählt, wo er sie gefunden hat?«
»Nein. Er hat sich darüber beklagt, dass sie ein Vermögen gekostet habe, und er hat von ihr gesprochen, als sei sie ein Tier.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Sie ist kein Tier. Sie ist ein Mensch. Indem er sie gekauft hat und behält, bricht er unsere Gesetze.«
»Die Versklavung einer Unschuldigen.« Sie nickte. »Wer ist dieser Händler?«
Kuerres rümpfte die Nase. »Devlem Radmacher. Er ist Genrianer. Er hat vor dem Krieg seinen Namen geändert.«
Reivan nickte. »Ich kenne ihn. Ich werde diesen Vorfall später der Zweiten Stimme vortragen, und ich bin davon überzeugt, dass sie jemanden…«
»Du musst jetzt etwas unternehmen!«, unterbrach er sie. »Er hat Verdacht geschöpft, dass ich ihn anzeigen werde, dessen bin ich mir sicher. Er könnte sich des Mädchens entledigen – es töten -, bevor du dort ankommst!«
Er sah sie ernst an, offensichtlich zutiefst besorgt um die Sicherheit dieses Meereskindes. Reivan legte die Hände zusammen und dachte nach.
Wenn der Kaufmann glaubte, das Kind sei ein Tier, würde er einwenden, dass er kein Verbrechen begangen habe. Trotzdem würde er das Risiko nicht eingehen, dass andere zu demselben Schluss kamen wie Kuerres. Die Strafe für die Versklavung eines Unschuldigen sah vor, dass der Betreffende seinerseits versklavt wurde. Er wird sie entweder töten oder an einen anderen Ort bringen, je nachdem, wie viel sie ihn gekostet hat. Wie er sich auch entscheiden mag, je schneller wir handeln, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Mädchen finden werden, bevor er ihm etwas antut.
Aber es gehörte nicht zu ihren Pflichten, das Sanktuarium zu verlassen, um ein Kind zu retten, und sie hatte keine Befugnis, das Haus des Mannes durchsuchen zu lassen. Sie brauchte Imenjas Hilfe. War diese Angelegenheit wichtig genug, um die Zweite Stimme zu stören?
Bin ich einfach nur neugierig zu erfahren, ob dieses Kind eine Elai ist?
Ob sie eine Elai ist oder nicht, sie wird wie ein Tier gehalten. Imenja wird etwas dagegen unternehmen wollen.
Sie holte tief Luft, legte eine Hand auf ihren Sternenanhänger und schloss die Augen.
Imenja?
Sie wartete, dann rief sie abermals. Da sie nicht über nennenswerte Talente bei der Benutzung von Magie verfügte, brauchte sie häufig mehrere Versuche, bevor es ihr gelang, sich über den Sternenanhänger mit Imenja in Verbindung zu setzen. Schließlich kam eine Antwort.
Bist du das, Reivan?
Ja.
Guten Morgen. Was ist der Grund dafür, dass du mich so früh rufst?
Die Meldung eines Verbrechens.
Erzähl mir davon.
Sie wiederholte Kuerres’ Geschichte von dem Meeresmädchen.
Das ist schrecklich. Du musst sie befreien. Wenn das Mädchen nicht dort ist, bring den Kaufmann zu mir. Ich werde aus seinen Gedanken lesen, wo sie zu finden ist.
Das werde ich tun. Ich denke, dass ich möglicherweise Hilfe brauchen werde.
Ja. Nimm Kikarn mit. Und melde dich bei mir, sobald du sie gefunden hast.
Ja.
Reivan öffnete die Augen und sah, dass Kuerres sie neugierig beobachtete. Sie verkniff sich ein Lächeln.
»Wir werden uns sofort um diese Angelegenheit kümmern«, erklärte sie. Götterdiener Kikarn schnalzte leise mit der Zunge, als wolle er protestieren. Wahrscheinlich dachte er an die Besucher, die darauf warteten, zu ihr vorgelassen zu werden. »Götterdiener Kikarn. Sag der dekkanischen Domestikin, dass sie bis zu meiner Rückkehr warten soll, und den anderen teile bitte mit, dass ich mich um eine dringende und unerwartete Angelegenheit kümmern muss und sie morgen früh empfangen werde. Sorg dafür, dass Ario morgen als Erster vorgelassen wird.«
Er lächelte und neigte den Kopf. Reivan erhob sich, und Kuerres sprang auf.
»Möchtest du mich begleiten?«, fragte sie ihn.
Er zögerte. »Ich sollte eigentlich nach Hause zurückkehren«, erwiderte er zweifelnd.
Sie ging um den Schreibtisch herum. »Dann tu das. Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn wir zurückkehren. Ich werde dazu einen gewöhnlichen Boten benutzen, statt jemanden aus dem Sanktuarium damit zu beauftragen.«
Er wirkte erleichtert. »Vielen Dank, Reivan – Götterdienerin Reivan.«
Sie lächelte. »Ich danke dir, dass du mit dieser Information ins Sanktuarium gekommen bist, Denker Kuerres. Du bist ein guter Mann, und ich hoffe, dass deine Entscheidung dir nicht zum Schaden gereichen wird.«
»Ich habe Leute, die mich unterstützen werden«, versicherte er ihr. Er ging zur Tür hinüber, dann hielt er noch einmal inne und drehte sich zu ihr um. »Genauso wie es Leute gibt, die dich unterstützen.«
Reivan sah ihm überrascht nach und wünschte, sie hätte sich dazu überwinden können, ihn nach den Namen jener zu fragen, die auf ihrer Seite standen. Aber sie wusste, dass er ihr keine Antwort gegeben hätte.
Mit Tyves Hilfe, der ihm ständig Ratschläge bezüglich des vor ihm liegenden Terrains lieferte, war Mirar schneller vorangekommen als während seiner gemeinsamen Reise mit Emerahl nach Si. Der Junge kreiste über ihm, warnte ihn vor Schluchten, die keinen Ausgang hatten, und leitete ihn in Täler, die leicht begehbar waren. Jeden Abend schlüpfte Tyve davon, um seinem Dorf einen Besuch abzustatten, und jeden Morgen kehrte er mit größerer Besorgnis zurück. Weitere Mitglieder seines Stammes waren krank geworden. Ein Säugling war gestorben, dann seine Mutter, die von einer schwierigen Geburt geschwächt gewesen war. Veeces Zustand verschlechterte sich immer schneller. Mit jedem Bericht wuchs Mirars Gewissheit, dass die Siyee eine Epidemie erlebten. Er wanderte vom ersten Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und machte nur Halt, um zu essen und zu trinken, denn er wusste, dass sich die Situation in dem Dorf von Stunde zu Stunde verschlimmerte.
Er hatte schon viele Epidemien erlebt. Verletzungen, Wunden und weniger schwere Krankheiten konnte ein Zauberer mit Kenntnissen der Heilkunst und magischer Stärke ohne weiteres heilen, aber wenn sich eine Seuche schnell ausbreitete, dauerte es nie lange, bis es zu wenige Heiler gab, um alle Opfer zu behandeln – falls die Heiler nicht selbst mit der Krankheit zu kämpfen hatten.
Und hier in Si bist du der Einzige, fügte Leiard hinzu.
Mirar seufzte. Wenn ich die Siyee doch nur hätte daran hindern können, das Dorf zu verlassen und die Krankheit auf diese Weise weiterzutragen.
Er hatte seinen Rat vorausgeschickt, aber die Nachrichten, mit denen Tyve zurückgekehrt war, waren erschreckend gewesen. Einige Familien waren bereits in andere Dörfer geflohen. Man hatte Boten ins Offene Dorf geschickt.
Sie sind bereits in Panik, sagte Leiard. Du wirst ebenso viel damit zu tun haben, gegen ihre Angst vor der Krankheit zu kämpfen wie gegen die Krankheit selbst.
Mirar antwortete nicht. Der felsige Hang, den er hinabstieg, hatte sich in eine riesige, grob behauene Treppe verwandelt, die seine gesamte Aufmerksamkeit verlangte. Er sprang von einem Felsvorsprung zum nächsten, und jede Landung erschütterte seinen ganzen Körper.
Die Stufen wurden stetig flacher, während die Bäume um ihn herum höher wurden. Schon bald befand er sich auf ebenem, mit Blättern übersätem Boden, umringt von den Stämmen gewaltiger Bäume. Die Luft war feucht. In der Nähe plätscherte ein Bach, der sich immer wieder teilte, um sich an anderen Stellen erneut zu vereinen und Pfützen zu bilden.
Es war ein friedlicher Ort, der einen angenehmen Lagerplatz abgegeben hätte – abgesehen von dem deutlichen Geruch nach tierischen Exkrementen. Dies musste ein häufig benutzter Wildwechsel sein. Mirar dachte an den Grund für seine Reise und beschleunigte abermals seine Schritte.
Dann hörte er einen Siyee eine Warnung pfeifen und blieb stehen.
Er blickte auf und blinzelte überrascht, als er die Plattformen sah, die zwischen vielen Ästen über ihm erbaut worden waren. Gesichter spähten zu ihm herab, und er nahm Furcht, Hoffnung und Neugier wahr.
Er hatte das Dorf erreicht.
Ein Siyee kam von rechts auf ihn zugeschwebt. Es war Tyve.
»Einige Leute haben Seile aufgehängt, an denen du hinaufklettern kannst«, erklärte er Mirar. »Andere sind zu argwöhnisch dafür. Sie werden ihre Meinung ändern, sobald sie erfahren, dass du einige von uns geheilt hast.«
Mirar nickte. »Wie viele sind inzwischen erkrankt?«
»Ich weiß es nicht. Zehn, als ich das letzte Mal gezählt habe.«
»Bring mich zu dem, dem es am schlechtesten geht, dann flieg zu allen anderen Leuten und finde heraus, wie viele von ihnen krank sind oder die ersten Symptome zeigen.«
»Ja. Das werde ich. Folge mir.«
Tyve ging einige hundert Schritte zwischen den Bäumen hindurch. Von einer der Plattformen hing ein Seil herab. Mirar verknotete das Ende an den Griffen seiner Tasche.
»Wer lebt dort oben?«
Tyve schluckte und blickte hinauf. »Sprecher Veece und seine Frau sowie ihre Schwester.«
Der alte Mann. Mirar unterdrückte ein Seufzen. Selbst bei Landgehern rafft die Herzzehre am häufigsten die Alten und die ganz Jungen dahin.
Er griff nach dem Seil und kletterte daran hinauf.
Es war eine lange Strecke. Auf halben Weg nach oben blickte er hinab und dachte darüber nach, was geschehen würde, wenn er ausrutschte und abstürzte.
Ich würde mich ganz sicher verletzen. Wahrscheinlich sogar schwer. Wahrscheinlich so schwer, dass ein Sterblicher daran sterben würde.
Aber er würde nicht sterben. Sein Körper würde sich selbst heilen, auch wenn es eine Zeitlang dauern würde.
So wie es geschehen ist, nachdem man mich unter den Ruinen des Traumweberhauses in Jarime geborgen hat. Ich war damals nur ein Häufchen zerschmetterter Knochen, nicht ganz tot, nicht ganz lebendig. Mirar schauderte. Ein Geist, der einzig darauf konzentriert war, hinreichend lebendig zu bleiben, um zu genesen. Einige Teile von mir verwesten bereits, während andere heilten…
Denk an etwas anderes, bemerkte Leiard.
Mirar holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, sich nach oben zu ziehen. Dort angelangt, schwang er sich auf die Plattform und blieb für eine Weile keuchend auf dem Rücken liegen. Sobald sein Atem wieder gleichmäßig ging, drehte er sich auf die Seite und entdeckte zwei ältere Siyee-Frauen in seiner Nähe.
Sie haben die Krankheit, stellte Leiard fest.
Er hatte recht. Die Gesichter der beiden Frauen waren bleich und schweißüberzogen, und ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung. Trotz des Namens, den die Krankheit trug, befiel sie in Wirklichkeit die Lunge. Während sie sie verzehrte, fiel es dem Opfer immer schwerer zu atmen, und sein Blut wurde schwächer. An manchen Orten war die Seuche als der Weiße Tod bekannt.
Mirar stand auf. Auf der Plattform war eine Laube erbaut worden. Von seiner hochgelegenen Position aus konnte er auf den meisten Plattformen Lauben entdecken – und viele Siyee, die ihn beobachteten. Er blickte zu den beiden Frauen hinüber.
»Ich bin Traumweber Wilar. Wenn es euer Wunsch ist, werde ich versuchen, Sprecher Veece zu helfen.«
Die beiden tauschten einen schnellen Blick, dann nickten sie.
»Danke, dass du gekommen bist. Er ist in der Laube«, krächzte eine der Frauen, dann wurde sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.
Mirar nickte. »Ich werde meinen Beutel mit Heilmitteln heraufholen und anschließend hineingehen, um festzustellen, was ich für ihn tun kann.«
Er wandte sich ab und zog an dem Seil. Es schien Stunden zu dauern, bis sein Beutel über dem Rand der Plattform erschien. Er band ihn los und trug ihn in die Laube.
Auf einer Decke in der Mitte des Raums lag der Sprecher. Obwohl Mirar dem Mann noch nie begegnet war, bezweifelte er, dass er ihn unter diesen Umständen wiedererkannt hätte. Bleiche, blutleere Haut spannte sich über die Knochen des Mannes. Seine Lippen waren von einem dunklen Blauton, und sein Atem ging in schnellen, gequälten Stößen.
Er ist dem Tod nahe, murmelte Leiard.
Ja, stimmte Mirar ihm zu. Aber wenn ich ihn nicht rette, wird der Rest des Stammes mir dann noch vertrauen?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Am besten, du machst dich an die Arbeit.
Mirar öffnete seinen Beutel und begann den Inhalt zu durchstöbern. Ein dumpfer Aufprall draußen lenkte ihn ab. Er blickte auf und sah Tyve in der Tür stehen.
»Zwanzig sind krank, zwölf zeigen erste Beschwerden, und die anderen meinen, es gehe ihnen gut«, meldete der Junge.
Mirar nickte. Ich wünschte, Emerahl wäre hiergeblieben. Ich könnte ihre Hilfe gebrauchen. »Bleib in der Nähe«, wies er den Jungen an. »Es könnte sein, dass ich dich…« Er runzelte die Stirn und musterte Veeces Frau. »Woher holst du dein Wasser?«
Die Frau zeigte auf ein kleines Loch im Boden. Daneben befanden sich ein Eimer und ein Seil. »Wir ziehen es von dem Bach unten herauf.«
Er dachte an den gewundenen Lauf des Baches und an den Geruch von Exkrementen.
»Wo lasst ihr eure Körperausscheidungen?«
Sie zeigte abermals in die Tiefe. »Die werden weggespült.«
»Nicht schnell genug«, sagte er.
Sie zog die Schultern hoch. »Früher war es mal so, aber ein Erdrutsch weiter oben hat einen Teil des Wassers abgelenkt.«
»Das Erdreich sollte weggeschafft werden, oder ihr solltet das Dorf verlegen«, sagte er. »Tyve, hol mir etwas Wasser aus den höher gelegenen Bereichen des Dorfes und benutz kein Gefäß, das sich schon einmal im Bach befunden hat.«
Der Junge nickte und flog davon. Mirar spürte Ärger bei der Frau. Er sah ihr fest in die Augen.
»Es ist besser, sicherzugehen«, sagte er.
Sie senkte den Blick und nickte. Mirar wandte sich um, trat neben Veece und machte sich an die Arbeit.
Die Menge um die beiden Priester herum setzte sich größtenteils aus Kindern zusammen. Aus dem Geist der wenigen Erwachsenen las Auraya, dass die beiden für die Kinder des Offenen Dorfes ein steter Quell der Erheiterung waren, aber auch die Erwachsenen lauschten aufmerksam, denn ihnen war bewusst, dass die Dinge, die diese Landgeher sie lehrten, Einfluss auf die Zukunft ihres Volkes haben würden.
Hinter den Priestern saßen vier Siyee, die alle konzentriert zuhörten. Sie achteten nicht nur auf die Geschichten und Lektionen, sondern auch auf die Art, wie sie vorgetragen wurden. Die älteste war eine Frau von fünfunddreißig, der jüngste ein Knabe von fünfzehn. Alle hatten Hoffnung und Ehrgeiz, Priester oder Priesterin zu werden.
Eine Welle des Stolzes stieg in Auraya auf. Wenn sie gut lernten und die Prüfungen bestanden, würden ihre Träume wahr werden. Sie würden die ersten Priester und Priesterinnen der Siyee werden.
Der Priester, der gerade sprach – Priester Magen -, beendete seine Geschichte und schlug das Zeichen des Kreises. Er schaute zu Auraya hinüber, dann erklärte er dem Publikum, dass der Unterricht beendet sei. Die Kinder reagierten mit Enttäuschung, aber als sie aufstanden und mit ihren erwachsenen Begleitern darüber sprachen, was sie als Nächstes tun sollten, löste sich diese Enttäuschung schnell wieder auf. Auraya trat vor, um die Priester zu begrüßen. Sie machten das formelle, mit beiden Händen geschlagene Zeichen des Kreises, als sie sie begrüßten – etwas, das die angehenden Priester und Priesterinnen neugierig beobachteten.
»Heute hat sich eine größere Gruppe eingefunden«, bemerkte sie.
Danien nickte. »Ja. Ich glaube, es handelt sich um einige neue Kinder von einem Stamm, der hier zu Besuch ist.«
»Komm herein«, drängte Magen. »Hast du schon gegessen? Eine Frau hat soeben einige geröstete Girri hergeschickt, zum Dank für die Behandlung ihres gebrochenen Knöchels.«
»Nein, ich habe noch nichts gegessen«, antwortete Auraya. »Ist denn noch genug da?«
Magen grinste. »Mehr als genug. Die Siyee sind ausgesprochen großzügig.«
Der Priester winkte seine Schüler heran und führte sie dann alle in die große Laube, die die Siyee den Landgehern zur Verfügung gestellt hatten. Sie setzten sich auf hölzerne Stühle in der Mitte des Raums und reichten das Essen herum.
»Ihr habt die Sprache des Landes schnell erlernt«, bemerkte Auraya.
Danien nickte. »Wenn man bereits einige Sprachen spricht, wird es leichter, neue zu erlernen. Die Sprache der Siyee ist nicht allzu schwierig, sobald man erst einmal die Ähnlichkeiten zwischen ihr und den Sprachen der Landgeher entdeckt hat.«
»Ein junger Mann – Tryss – hat uns geholfen«, fügte Magen hinzu.
»Ah, Tryss«, sagte Auraya nickend. »Ein kluger Junge.«
»Auch deine Ratschläge, was Tabus, Sitten und Gebräuche betrifft, waren für uns von großem Wert«, erklärte Danien. »Ich habe daran gedacht…«
»Auraya von den Weißen?«
Alle Anwesenden wandten sich der Tür zu. Sprecherin Sirri stand im Eingang, und sie verströmte Sorge. Neben ihr stand ein junger Siyee. Er hatte schlechte Nachrichten gebracht, wie Auraya aus seinen Gedanken las. Eine Krankheit…
»Sprecherin Sirri«, sagte Magen und erhob sich. »Willkommen. Willst du dich mit deinem Begleiter zu uns setzen?«
Die Sprecherin zögerte, dann trat sie ein. »Ja. Das ist Reet aus dem Stamm vom Nordfluss.« Die anderen im Raum wurden vorgestellt, und der junge Mann nickte ihnen zu.
»Kommt und setzt euch«, sagte Magen und deutete auf zwei freie Stühle.
Sirri lächelte nicht, als sie Platz nahm. »Reet ist ins Offene Dorf gekommen, um Hilfe zu erbitten«, berichtete sie ihnen. »Sein Stamm leidet an einer Krankheit, von der sie noch nie gehört haben. Auch unsere Heiler haben etwas Derartiges noch nie gesehen, daher sind wir hergekommen, um dich zu fragen, ob du etwas darüber weißt.«
»Kannst du mir die Krankheit beschreiben, Reet?«, fragte Auraya.
Während der junge Mann von der Krankheit erzählte, die seine Familie befallen hatte, konzentrierte sie sich auf seinen Geist, und als sie die Symptome erkannte, überlief ein Frösteln.
»Ich weiß, wovon die Rede ist«, unterbrach sie ihn. Der Junge sah sie hoffnungsvoll an. Sie wandte sich zu Magen um. »Es ist die Herzzehre.«
»Der Weiße Tod«, sagte Magen, und seine Miene wurde grimmig. »Diese Krankheit taucht von Zeit zu Zeit unter Landgehern auf.«
Sirri sah Auraya an. »Kennst du ein Gegenmittel?«
»Ja und nein«, antwortete Auraya. »Es gibt Möglichkeiten, die Symptome zu lindern, aber sie können die Krankheit nicht ausmerzen. Das muss der Körper des Patienten tun. Die magische Heilkunst kann einem Menschen zusätzliche Kraft geben, aber sie kann eine Krankheit nicht besiegen, ohne das Risiko einzugehen, dem Körper zu schaden.«
»Die größte Gefahr droht Säuglingen und kleinen Kindern, ebenso wie den Alten und Schwachen«, ergänzte Magen. »Gesunde Erwachsene leiden einige Tage an einem Fieber, bevor sie sich langsam erholen.«
»Aber so ist es nicht«, fiel Reet ihm ins Wort. »Eine Kusine von mir ist vorgestern gestorben. Sie war erst zweiundzwanzig!«
Stille breitete sich im Raum aus, während die Anwesenden entsetzte Blicke tauschten. Danien wandte sich an Auraya. »Könnte die Herzzehre gefährlicher geworden sein?«
»Möglicherweise. Wenn das so ist, müssen wir erst recht dafür sorgen, dass sie sich nicht ausbreitet«, sagte sie warnend. »Hat abgesehen von dir noch jemand das Dorf verlassen? Sind Leute von außen dort gewesen, seit die Krankheit ausgebrochen ist?«
Reet sah sie mit großen Augen an. »Abgesehen von mir? Zwei Familien haben das Dorf nach Ausbruch der Krankheit verlassen. Eine ist zum Stamm vom Nordwald gegangen, die andere ist hierhergekommen. Als ich aufgebrochen bin, waren keine Besucher da.«
Die Neuankömmlinge unter den Kindern!, dachte Auraya plötzlich. Einen Augenblick nachdem ihr die Gefahr bewusst geworden war, hörte sie Magen scharf die Luft einsaugen und wusste, dass ihm der gleiche Gedanke gekommen war.
Sie sah Sirri an. »Ihr müsst diese Familie finden und von den anderen isolieren, dann müsst ihr in Erfahrung bringen, mit wem sie seit ihrer Ankunft in Berührung gekommen sind, und auch diese Siyee von den anderen absondern.«
Sirri verzog das Gesicht. »Das wird ihnen vielleicht nicht gefallen. Was ist mit den Stämmen vom Nordfluss und vom Nordwald?«
»Schick jemanden zum Stamm vom Nordwald, um herauszufinden, ob dort jemand erkrankt ist. Was den Stamm vom Nordfluss betrifft…« Auraya überlegte kurz. Es wäre besser, die Menschen im Dorf zu behandeln, aber konnte sie das Offene Dorf verlassen? Was war, wenn die Pentadrianer angriffen? Berichte über einen möglichen Angriff würden das Offene Dorf als erstes erreichen. Sie blickte zu Danien und Magen hinüber. Die beiden konnten sich durch ihre Ringe mit ihr in Verbindung setzen. »Ich werde zu ihnen gehen«, sagte sie. »Danien und Magen werden meine Verbindung zu dir sein. Was immer du mir erzählen willst, kannst du ihnen sagen. Sie werden es mir übermitteln.«
Sirri nickte. »Das werde ich tun. Wann wirst du aufbrechen?«
»So bald wie möglich. Du wirst mir vielleicht helfen müssen, den Familien den Grund dafür zu erklären, warum sie sich von den anderen fernhalten müssen. Außerdem möchte ich gern einige Medizinen sammeln. Ihr verfügt über einige Heilmittel, die helfen werden.«
Sirri erhob sich. »Sag mir, was du willst, und ich werde jemanden ausschicken, der diese Dinge besorgt. Und jetzt solltest du mich wohl begleiten. Je eher wir diese Familien isolieren, umso besser. Was ist mit Reet?«
Auraya drehte sich zu dem Jungen um. »Auch du könntest die Krankheit weitertragen«, erklärte sie sanft.
»Sie verbreitet sich durch Berührung«, fügte Magen hinzu. »Und durch den Atem. Mit wem hast du seit deiner Ankunft gesprochen, Reet?«
»Nur mit Sprecherin Sirri. Und ich habe sie nicht berührt.«
»Werde ich mich ebenfalls von den anderen fernhalten müssen?«, fragte Sirri. »Wer wird den Stamm an meiner Stelle führen?«
Auraya dachte nach. »Wenn du darauf achtest, niemanden zu berühren… Magen kann dich mit einem magischen Schild umgeben, so dass dein Atem niemanden erreicht. Wenn du in einigen Tagen keine Symptome aufweist, kannst du davon ausgehen, dass du dich nicht angesteckt hast. Das Gleiche gilt für alle hier im Raum.« Sie sah die Priesterschüler an. »Reet könnte euch, falls er ebenfalls an der Krankheit leidet, angesteckt haben. Haltet euch von anderen fern, es sei denn, ein Priester beschirmt euch.«
»Darf ich zu meinem Stamm zurückkehren?«, fragte Reet.
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, antwortete Auraya. »Solange du dort bleibst.«
»Ruh dich zuerst ein wenig aus und iss etwas«, sagte Magen.
»Ja.« Auraya stand auf. »Ich mache mich besser an die Arbeit.« Sie nickte den Priestern zum Abschied zu, dann eilte sie zusammen mit Sirri aus der Laube.
Obwohl Imi bereits seit Stunden in dem Raum war, wusste sie nichts über ihre neue Umgebung. Sie hatte gehofft, dass ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen würden, aber das war nicht geschehen. Die Tatsache, dass alle Geräusche ein Echo hervorriefen, legte die Vermutung nahe, dass der Raum ebenso groß war wie der Rumpf des Schiffes, in dem die Plünderer sie gefangen gehalten hatten. Der Boden war aus kaltem Stein, aber sie hatte noch nicht die Kraft, festzustellen, ob die Wände ebenfalls aus Stein waren.
Sie konnte nur vermuten, dass etliche Stunden vergangen sein mussten. Es war an diesem Ort unmöglich, das Verstreichen der Zeit einzuschätzen. In ihrer Heimat konnte man die Uhrzeit ermitteln, indem man auf eine Zeitlampe sah. Der Ölvorrat darin markierte jede Stunde. Oder man benutzte die vielen Tidenmaße, um die Zeit zu berechnen. In die Wände aller Tidenbecken waren Zeitmaße eingemeißelt. Ihr Magen knurrte, und sie dachte an den Teller mit Fisch, von dem der nette Landgeher ihr zu essen gegeben hatte. Er hatte den Teller dagelassen, und sie hatte während der nächsten Stunden langsam den Rest verzehrt. Das Salzwasser hatte ihre Haut beruhigt, und sie hatte sich besser gefühlt.
Jetzt hatte sie nur noch einen großen Eimer voller Seewasser, mit dem sie sich bespritzen konnte. Das Behältnis stand neben ihr in der Dunkelheit.
Warum?, fragte sie sich. Warum bin ich hier?
Sie dachte an den Streit zwischen dem netten Landgeher und dem bösen. Der böse Landgeher musste gesehen oder gehört haben, dass der nette plante, sie zu retten. Er hatte sie an einen anderen Ort gebracht, um sie für sich zu behalten.
Aber warum will er mich behalten? Will er, dass ich für ihn arbeite, so wie der Plünderer und die Seeglockenfischer es wollten?
Bei der Erinnerung an die Seeglocken durchzuckte sie ein Stich des Schmerzes. Ich hoffe, dass ich nie wieder eine Seeglocke zu sehen bekomme, dachte sie. Ich hasse sie. Ich hätte die Stadt nicht verlassen sollen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte gegen die Tränen an. Ich hätte an die Gefahren außerhalb der Stadt denken müssen. Das ist mein Problem. Ich denke nicht nach, bevor ich etwas tue.
Jetzt habe ich reichlich Zeit zum Nachdenken. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht kann ich einen Weg ersinnen, um hier herauszukommen. Wie wahrscheinlich ist es, dass mein Vater oder irgendein gutaussehender Krieger mich finden wird? Vater weiß nicht, wo ich bin. Ebenso wenig weiß es dieser nette Landgeher. Ich sollte aufhören, darauf zu warten, dass jemand anders mich rettet, und mich stattdessen selbst retten.
Sie seufzte. Aber was kann ich tun? Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Ich weiß lediglich, dass ich irgendwo in einem Raum bin.
Vielleicht konnte sie mehr in Erfahrung bringen, wenn sie den Raum erkundete. Wenn sie Lärm machte, würde vielleicht jemand kommen, um herauszufinden, was hier vorging.
Langsam richtete sie sich auf. Sie war noch immer furchtbar müde. Sie zwang sich aufzustehen und taumelte einige Schritte durch den Raum. Es war schwer, in der Dunkelheit das Gleichgewicht zu bewahren, und mehrmals wäre sie um ein Haar gestürzt. Endlich traf ihre ausgestreckte Hand auf eine harte Oberfläche.
Es war Stein. Sie tastete sich an der Wand entlang und bemerkte Furchen im Gemäuer. Vermutlich handelte es sich dabei um mit Mörtel verstrichene Ritzen zwischen den Steinen. Langsam ging sie durch den Raum und suchte nach irgendwelchen Veränderungen in der Wand. Sie kam an zwei Ecken vorbei, bis sie schließlich auf die Tür stieß.
Diese war aus Holz. Sie konnte metallene Türangeln auf der Innenseite ertasten. Schließlich holte sie tief Luft und stieß einen Schrei aus, der ohrenbetäubend im Raum widerhallte. Gleichzeitig hämmerte sie mit den Fäusten an die Tür.
Nach wenigen Schreien musste sie jedoch wieder aufhören. Ihr Kopf drehte sich, und ihre Arme schmerzten. Sie ließ sich an der Tür zu Boden sinken.
Von draußen erklang das Geräusch näher kommender Schritte. Hoffnung flammte in ihr auf, und ihre Stärke kehrte zurück. Sie schrie mit erneuerter Inbrunst. Direkt hinter der Tür waren Stimmen zu hören. Das Holz vibrierte, als sich jemand an dem Schloss zu schaffen machte. Als die Tür geöffnet wurde, zog Imi sich zurück. Zwei Männer erschienen.
Sofort verlor sie allen Mut. Einer der Männer war derjenige, der sie gefangen hatte, der andere war ein Fremder. Als der Neuankömmling sie mit unmenschlichen, habgierigen Augen anstarrte, zerstob alle Hoffnung, und ihre Beine gaben unter ihr nach. Sie schlug sich die Knie auf dem steinernen Fußboden an und zuckte zusammen.
Die beiden Männer beachteten sie nicht, sondern begannen ein leises Gespräch. Der Landgeher, der sie gefangen hatte, deutete auf etwas auf dem Boden außerhalb des Raums. Der Habgierige bückte sich, um es aufzuheben.
Es war ein Sack. Als der Mann auf Imi zukam, wich sie zurück, aber es gab kein Entkommen. Als sie sich zur Wehr setzte, schlug er nach ihr und sprach mit Worten auf sie ein, die sie nicht verstand, aber sein warnender Tonfall entging ihr nicht. Sobald sie in dem Sack war, hob der Mann sie hoch und trug sie davon. Sie spürte, dass sie sich nach oben bewegte, dann sah sie Sonnenlicht durch das Gewebe des Sacks. Kurze Zeit später wurde sie wieder an einen dunklen Ort gebracht, und der Boden begann sich zu bewegen.
Benommen vor Erschöpfung lauschte sie den eigenartigen Geräuschen um sich herum. Sie vervielfachten sich und wurden immer lauter. Schließlich überlagerten Stimmen alle anderen Geräusche, und Angst stieg in ihr auf. Landgeher umringten sie. Es war nur allzu leicht, sich vorzustellen, dass sie alle wie die Plünderer waren und wie der Mann, der sie gefangen hatte, habgierig und grausam.
Der nette Landgeher war anders, rief sie sich ins Gedächtnis. Es muss mehr von seiner Art geben. Vielleicht sogar in diesem Raum. Was würde geschehen, wenn sie um Hilfe schrie? Was, wenn es ihr gelang, aus dem Sack und dem Wagen zu entkommen?
Sie trat um sich und spürte, wie ihre Beine gegen etwas stießen. Dieses Etwas prallte zurück, dann schlug es ihr mit voller Wucht gegen die Wade. Sie keuchte vor Schmerz. Eine Stimme murmelte einige ärgerliche Worte.
Wenn sie schrie, würde er ihr abermals wehtun, aber es würde sich vielleicht lohnen. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um es noch einmal zu versuchen, hielt dann jedoch inne, als der Boden unter ihr aufhörte, sich zu bewegen.
Ganz in ihrer Nähe erklang eine weitere Stimme. Diese Stimme und der habgierige Mann unterhielten sich wohlgelaunt. Dann wurde sie gepackt und hochgehoben. Sie erkannte den Geruch des Meeres im gleichen Augenblick, als sie das vertraute Knarren und Platschen eines Schiffes hörte.
Die beiden Männer trugen sie zuerst hinauf, dann hinunter und setzten sie schließlich auf einen harten Boden. Sie blieb still liegen und war sich des vertrauten Schaukelns nur allzu bewusst. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Über ihr schrien Menschen. Menschen auf Schiffen schrien immer. Sie hörte Schritte näher kommen. Der Sack bewegte sich, dann wurde er ihr über den Kopf gezogen. Sie kämpfte sich frei, voller Verlangen nach frischer Luft.
Als sie aufblickte, erstarrte sie vor Überraschung.
Statt des habgierigen Mannes standen zwei Frauen vor ihr. Beide trugen aus vielen Schichten zusammengesetzte schwarze Roben und silberne Anhänger. Sie lächelten sie an.
»Hallo, Imi«, sagte die ältere Frau. »Du bist jetzt in Sicherheit, Imi.«
Imi starrte sie erstaunt an. Sie hat meinen Namen gesagt? Woher kennt sie meinen Namen? Und wie ist es möglich, dass sie die Sprache der Elai beherrscht?
Die Frau beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Niemand wird dir jetzt noch etwas tun. Komm mit uns, und wir werden dir helfen.«
Tränen schossen Imi in die Augen. Endlich waren ihre Retter gekommen. Sie sahen ganz anders aus, als sie sie sich vorgestellt hatte. Weder ihr Vater war gekommen noch ein wunderbarer Krieger – nicht einmal der nette Landgeher. Nur zwei Frauen.
Aber sie würden genügen.
Der Himmel schillerte in allen Farben. Am Horizont war er hellgelb, und ein wenig höher nahm er eine warme Rottönung an. Noch höher bildeten sich unerwartete Farben, Grüntöne, die in immer dunkler werdende Blauschattierungen übergingen und schließlich mit dem schwarzen, sternenübersäten Nachthimmel verschmolzen.
Ein hübscher Sonnenuntergang gilt als Zeichen für gutes Wetter, überlegte Emerahl. Was ich nur hoffen kann, denn sonst steht mir abermals eine raue Überfahrt bevor.
Der Sturm, der während der letzten Tage gewütet hatte, war von der Art gewesen, die leicht zum Untergang eines Schiffes führen konnte. Als er ein wenig abgeflaut war, hatte Emerahl nach der Treppe gesucht und sie schließlich gefunden. Sie war steil, schmal und überwuchert. Nachdem sie hinabgestiegen war, hatte sie sich gefragt, ob sie, wie Gherid es gesagt hatte, in der Höhle jemanden finden würde. Vielleicht ein Opfer des Sturms. Vielleicht die Möwe selbst.
Die Höhle war leer gewesen. Der Sturm hatte erneut an Wucht zugenommen, aber weder die Möwe noch irgendwelche Schiffbrüchigen waren erschienen. Sie war dort gefangen, aber das machte ihr nichts aus; sie hatte es nicht eilig. Die Höhle war nicht luxuriös, nicht einmal gemessen an den Maßstäben eines armen Menschen, aber sie war trocken. Emerahl konnte sich die Möwe hier gut vorstellen. Sie glaubte, ihn in den primitiven, aus Treibholz und Segeltuch gefertigten Möbeln riechen zu können – eine Mischung aus Schweiß, Salzwasser und Fisch.
Die Möwe selbst. Unsterblich. Geheimnisvoll. Ein Wilder wie sie.
Möglicherweise wusste er, dass jemand in seine Zuflucht eingedrungen war, und hielt sich deshalb fern. Es war eine Versuchung, noch ein Weilchen zu warten und festzustellen, ob er auftauchen würde. In der Höhle befand sich ein Vorrat getrockneter Speisen, und sie konnte Fische fangen.
Aber sie wollte die Vorräte nicht anrühren. Gherid hatte ihr erzählt, dass dieser Ort eine Zuflucht für jene war, die die Möwe gerettet hatte. Sie war keine gestrandete Schiffbrüchige, daher hatte sie das Gefühl, kein Recht darauf zu haben, sich von den Vorräten zu bedienen.
Nein, es ist an der Zeit weiterzuziehen, dachte sie. Die Chance, dass er zufällig vorbeikommt, während ich hier bin, ist ohnehin gering. Ich werde tun, was ich geplant habe: eine Nachricht hinterlassen und mich wieder auf den Weg machen.
Sie grübelte über den Inhalt ihrer Botschaft nach. Da sie sich nicht allzu gut auf Rätsel verstand, es ihr jedoch widerstrebte, etwas allzu Konkretes niederzuschreiben – und sei es auch nur in einer alten, toten Sprache -, hatte sie sich dafür entschieden, Symbole zu verwenden, von denen sie hoffte, dass die Möwe sie verstehen würde. Sie hatte ein Büschel des strähnigen weißen Grases gesammelt, das man »Altweiberhaar« nannte, und es zu einem Seil gewunden. Auf dieses Seil hatte sie eine Mondmuschel mit dem Zeichen einer Mondsichel gebunden. Anschließend hatte sie das Seil zu einer Schlinge verknotet und es an die Wand im hinteren Teil der Höhle gehängt.
Das Seil sollte ihm sagen: »Ich bin die alte Hexe«, und die Muschel deutete auf die Mondphase, zu der sie zurückkehren wollte. Manchmal fand sie, das Ganze sei eine Spur zu offenkundig. Dann wieder machte sie sich Sorgen, ob er die Botschaft verstehen würde. Oder ob er sie überhaupt finden würde.
Der Himmel war jetzt fast schwarz, und nur am Horizont war noch ein warmes Leuchten zu erkennen. Emerahl verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Höhleneingang.
Viele Dinge waren ihr während ihres Aufenthalts hier durch den Kopf gegangen. Zum einen waren die Gedanken Gherids und jener anderen, die der Möwe begegnet waren, nicht abgeschirmt. Jeder, der in ihrem Geist lesen konnte, würde wissen, dass die Möwe noch immer existierte. Also mussten die Götter wissen, dass er lebte. Weshalb hatten sie ihn nicht getötet?
Vielleicht weil er zu schwer zu finden ist, überlegte sie. Sie müssten einen willigen Menschen als Werkzeug benutzen. Wenn er ihren menschlichen Dienern ausweichen kann, kann er ihnen ein Schnippchen schlagen.
Oder vielleicht sind sie zu dem Schluss gekommen, dass er keine Gefahr für sie darstellt. Sie könnten ihn sogar mit Wohlwollen betrachten, da er vielen Zirklern das Leben rettet und niemals Sterbliche dazu ermutigt hat, ihn anzubeten. Sie runzelte die Stirn. Unterscheidet er sich in dieser Hinsicht wirklich von mir? Ich heile Menschen. Ich stelle keine echte Bedrohung für die Götter da. Ich hatte nie den Wunsch, dass man mir huldigt. Vielleicht habe ich gar keinen Grund, sie zu fürchten. Vielleicht würden sie mich am Leben lassen, wenn sie wüssten, wo ich bin.
Wenn das wahr ist, warum haben die Priester dann Jagd auf mich gemacht, als sie erfuhren, dass in dem Leuchtturm eine verdächtig langlebige Zauberin haust? Warum haben die Götter einem Priester die Fähigkeit des Gedankenlesens gegeben, damit er bessere Chancen hatte, mich zu finden?
Möglicherweise hatten sie nicht die Absicht, sie zu töten, sondern wollten sie nur befragen.
Das ist unwahrscheinlich. Sie schnaubte leise. Die Götter hassen Unsterbliche. Das haben sie immer getan. Was sie zu einem anderen Thema brachte, über das sie nachgedacht hatte. Zu einer Frage, die sie sich in der Vergangenheit viele Male gestellt hatte.
Warum hassen die Götter uns? Sie haben nichts von uns zu befürchten, wir können ihnen keinen Schaden zufügen. Wir mögen gegen sie arbeiten, aber unsere Bemühungen haben nur selten große Wirkung gezeigt. Könnte es sein, dass sie einen Grund haben, uns zu fürchten?
Sie schüttelte den Kopf. Es war nur allzu leicht, mehr hinter dem Hass der Götter auf die Unsterblichen sehen zu wollen, als in Wirklichkeit da war. Sie töten uns, weil sie uneingeschränkte Macht über die Sterblichen wollen. Sie wollen, dass ihre Anhänger sich an Priester und Priesterinnen wenden, wenn sie der Heilung bedürfen, nicht an mich oder an die Traumweber.
An einer anderen Stelle des Horizonts war ein Licht erschienen. Emerahl schob alle Gedanken an die Götter beiseite und beobachtete, wie der Halbmond am Himmel emporstieg. Als er frei über dem Meer schwebte, sah sie sich um. Die Mondsichel spendete genug Licht, um zu segeln. Sie griff nach ihrem Beutel, warf noch einen letzten Blick auf die Höhle und machte sich dann auf, um die Treppe des Horts hinaufzusteigen.
Die Treppe war schmal, und wo sie nicht vom Licht des Mondes beschienen wurde, machte die Dunkelheit alle Einzelheiten unkenntlich und zwang Emerahl, ein kleines Licht zu schaffen. Die grasbewachsene Fläche am oberen Ende der Treppe erschien ihr jetzt, da sie nicht von Regen verschleiert wurde, viel kleiner. Zu ihrer Erleichterung lag ihr Boot noch dort, wo sie es zurückgelassen hatte. Die Seile hatten es während des Sturms festgehalten. Sie band sie los, riss den Anker aus der Erde und zog das Boot an die Seite des Horts. Dann stieg sie ein, atmete einige Male tief durch und leerte ihren Geist.
Nachdem sie Magie aus der Welt um sich herum gezogen hatte, hob sie das Boot in die Luft und über den Rand der Klippe, bevor sie es langsam ins Wasser hinunterließ.
Als sie die Liebkosung des Meeres auf dem Rumpf ihres kleinen Gefährts spürte, ließ sie es los. Sofort zog die Strömung sie davon. Sie schaute zu dem Hort hinüber, der langsam kleiner wurde, dachte an die Botschaft, die sie hinterlassen hatte, und fragte sich, ob die Möwe ihren Inhalt glauben würde.
Und wenn er es tut, wird er antworten?
Vermittler Meeran vom somreyanischen Rat holte tief Atem. In letzter Zeit kosteten ihn die Zusammenkünfte des Rats häufig viel Kraft. Dieses Zeichen seines nahenden Alters gefiel ihm überhaupt nicht, und er zwang sich stets dazu, nach solchen Versammlungen zurückzubleiben und mit jenen zu plaudern, die ebenfalls nicht sofort aufbrachen.
Das prächtige alte Ratsgebäude stand in der Nähe des Hafens von Arbeem. Hohe Fenster boten einen wunderbaren Blick auf die Stadt und die Bucht. Winzige Lichter bewegten sich auf dem Wasser und deuteten auf die Position eines Schiffes hin. An einem der Fenster standen zwei Menschen in ein leises Gespräch versunken.
Meeran blinzelte überrascht. Eine der Gestalten war mit einem weißen Zirk angetan, die andere trug bescheidenere Kleider: ein ledernes Wams über einer schlichten gewobenen Tunika. Meeran kniff die Augen zusammen. Es kam nicht oft vor, dass man die Ältesten der Traumweber und der Zirkler des somreyanischen Rates zusammen sah. Im Allgemeinen verlangte ein Zusammentreffen dieser beiden ein hastiges Eingreifen seinerseits. Diesmal jedoch schienen sie freundschaftlich miteinander zu plaudern.
Der äußere Anschein konnte trügen, und das Blatt konnte sich rasch wenden. Meeran hielt es für klug, der Sache auf den Grund zu gehen. Niemand sprach ihn an, als er den Raum durchquerte. Sein Argwohn, dies könnte seinen Grund darin haben, dass auch andere die beiden am Fenster bemerkt hatten, fand seine Bestätigung, als der Ratsälteste Timbler seinen Blick auffing und mitfühlend den Kopf neigte.
Als er sich dem Fenster näherte, drehte Arleej sich zu ihm um. »Wir haben gerade über unseren neuen Nachbarn gesprochen, Vermittler Meeran«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.
Er schaute aus dem Fenster und sah, was die Aufmerksamkeit der beiden erregt hatte. In den Docks lag ein großes Schiff, dessen Rumpf und Segel schwarz waren. Gerade gingen etliche Personen, die ein jeder eine große Last trugen, von Bord.
»Sie sind Narren, wenn sie glauben, so kurz nach dem Krieg Somreyaner bekehren zu können«, murmelte Hohepriester Haleed.
Meeran musterte den alten Mann. »Du glaubst also, das sei der Grund, warum die Pentadrianer hier sind?«
»Was sollte es sonst sein?«, antwortete Haleed mürrisch.
»Natürlich ist das der Grund für ihr Erscheinen.« Arleej warf Haleed einen spöttischen Blick zu. »Sie sind davon überzeugt, dass ihre Götter die einzig wahren Götter sind. Wir wissen bereits, wie entschlossen Menschen sein können, die sich einem solchen Glauben verschrieben haben.«
Haleed reckte das Kinn. »Sie werden scheitern«, sagte er. »Unsere Götter sind real, ihre nicht. Sie müssen sehr nachdrücklich oder sehr klug sein, um andere dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen. Und sie werden dabei eine Menge Ärger machen.«
Arleej schnalzte ungläubig mit der Zunge.
»Du bist anderer Meinung?«, fragte der Priester.
»Ich gebe dir insofern recht, als sie hier tatsächlich für Streit sorgen werden«, sagte sie. »Allerdings frage ich mich, wie du dir so sicher sein kannst, dass ihre Götter nicht real sind.«
»Weil der Zirkel uns erklärt hat, dass sie die einzigen Götter seien.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt, die einzigen, die den Krieg der Götter überlebt haben. Vielleicht sind die pentadrianischen Götter erst nach diesem Krieg entstanden.«
»Das wäre dem Zirkel nicht entgangen.«
»Vielleicht ist das ein Irrtum.«
Meeran hob beschwichtigend die Hände, obwohl das Gespräch zu nichts Schlimmerem zu führen schien als zu einem wütenden Wortwechsel. »Wir könnten die ganze Nacht darüber streiten. Ich würde lieber hören, welche Konsequenzen eurer Meinung nach die Entscheidung des Rats haben wird, den Pentadrianern zu gestatten, sich hier niederzulassen.«
Haleed blickte auf das Schiff hinab und runzelte finster die Stirn. »Sie werden Ärger bringen, wie ich schon sagte. Zuerst erlauben wir ihnen, in unser Land zu kommen, und was dann? Werden wir ihnen einen Sitz im Rat geben?«
Arleej lächelte. »Wenn sie genug Anhänger finden, um eine gesetzlich erlaubte Religion zu werden, können wir ihnen einen Sitz im Rat nicht verweigern. So wollen es unser Gesetz und unsere Tradition.«
»Möglicherweise ist es an der Zeit, dieses Gesetz zu ändern«, meinte Haleed düster. »Oder die erforderliche Anzahl von Anhängern zu erhöhen.«
Ein Schatten glitt über Arleejs Gesicht. Sie macht sich Sorgen, dass der Hass auf die Pentadrianer die Somreyaner dazu bringen könnte, sich Haleeds Meinung anzuschließen, ging es Meeran durch den Kopf. Die Traumweber sind, verglichen mit der möglichen Anzahl von Pentadrianern, die vielleicht hierherkommen, nur eine kleine Gruppe. Ein solches Gesetz würde Arleej ihren Sitz im Rat nehmen, ohne zu verhindern, dass die Pentadrianer mehr Macht gewannen.
»Das Volk wird sich damit niemals einverstanden erklären, ganz gleich, wie sehr es unsere Besucher fürchten mag«, versicherte Meeran ihnen.
»Also werden wir sie nicht mehr los«, knurrte Haleed.
»Das muss nicht unbedingt so sein«, sagte Arleej leise. »Sie brauchen sich lediglich zu einer einzigen feindlichen Tat hinreißen zu lassen, dann können wir sie hinauswerfen. Und wir entscheiden darüber, was eine feindliche Tätigkeit ist.«
Haleed musterte sie mit widerstrebendem Respekt, und sie lächelte ihn an. Meeran blickte von einem zum anderen, dann schüttelte er den Kopf. Sie hatten einander viele Jahre lang Widerstand geleistet und dadurch an Stärke gewonnen. Der Gedanke, was sie vielleicht ausrichten konnten, wenn sie sich zusammentaten, war beunruhigend.
»Sie behaupten, sie seien hergekommen, um Frieden zu schließen«, rief Meeran ihnen ins Gedächtnis. »So zweifelhaft diese Behauptung sein mag, ich denke, wir sollten ihnen zumindest eine Chance geben, ihren guten Willen zu beweisen.«
Die beiden Ältesten sahen ihn an, und obwohl ihnen die Skepsis ins Gesicht geschrieben stand, nickten sie beide.
Auf den nördlichen Bergen lag bereits Schnee, wie Auraya bemerkte. Einzelne Schneefelder spiegelten das Licht des Mondes wider.
Stirnrunzelnd dachte sie darüber nach, welche Konsequenzen ein früher und harter Winter für die Siyee haben könnte, wenn sie durch die Herzzehre geschwächt wären.
Es wird nicht gar so schlimm werden, wenn ich die Ausbreitung der Krankheit verhindern kann, sagte sie sich.
Aber das war nicht immer leicht. Obwohl die Heilerpriester ein wenig über Seuchen wussten, betrachteten gewöhnliche Menschen die Ausbreitung derartiger Krankheiten mit Furcht und Aberglauben. Heute hatte sie herausgefunden, dass die Siyee in dieser Hinsicht nicht anders waren.
Die Familie, die von dem Stamm vom Nordfluss gekommen war, hatte sich geweigert, das Offene Dorf freiwillig zu verlassen, obwohl man ihnen in der Nähe Lauben angeboten und ihnen versichert hatte, dass sie sich dem Dorf nur so lange fernhalten müssten, bis sich herausgestellt hatte, ob sie krank waren oder nicht. Als Sirri ihnen den Befehl gegeben hatte fortzugehen, hatten sie gehorcht, wenn auch mit merklichem Groll.
Die Siyee, die in der Nähe des Offenen Dorfs lebten, hatten unterschiedlich auf die Situation reagiert. Einige waren voller Angst, und Auraya vermutete, dass Sirri alle Hände voll damit zu tun haben würde, diese Leute daran zu hindern fortzugehen. Andere fanden, dass die Familie vom Nordfluss ungerecht behandelt werde, und zögerten nicht, ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen.
Glücklicherweise zeigte keiner der Besucher Zeichen der Krankheit. Den Boten hatte der Flug zurück zum Nordfluss jedoch mehr angestrengt, als es hätte der Fall sein dürfen. Auraya sah zu Reet hinüber und runzelte die Stirn.
Er muss die Priesterlaube kurz nach mir verlassen haben, überlegte sie. Ich spüre, dass er Hunger hat. Er kann nicht viel gegessen haben, und Ruhe hat er auch nicht bekommen. Vielleicht fehlt ihm tatsächlich nichts anderes als ein wenig Schlaf.
Er war einige Stunden vor ihr aufgebrochen, aber sie hatte ihn mühelos eingeholt. Jetzt wusste sie nicht recht, ob sie weiterfliegen oder bei ihm bleiben sollte. Was war, wenn die Krankheit bei ihm sehr plötzlich auftrat? Was, wenn er das Bewusstsein verlor und in den Tod stürzte?
Was, wenn er einfach nur müde war und sie zu spät kam, um ein Mitglied des Stammes zu retten?
Es war eine unmögliche Entscheidung. Wenn sie nur gewusst hätte, wie es in dem Dorf aussah – ob irgendjemand wegen der Verzögerung würde leiden müssen.
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, das herauszufinden. Es gab jemanden, den sie fragen konnte. Er würde vielleicht nicht auf ihren Ruf reagieren oder ihre Fragen nicht beantworten, aber sie konnte es zumindest versuchen.
Chaia.
Sie wartete mehrere Herzschläge ab, dann rief sie abermals. Als keine vertraute Präsenz ihre Sinne berührte, seufzte sie und dachte noch einmal über ihr Dilemma nach. Mit Sicherheit kann ich nur feststellen, dass Reet gefährlich müde ist. Also musste sie ihre Entscheidung auf diese Tatsache gründen.
Ich werde bei ihm bleiben, zumindest bis ich Genaueres weiß. Vielleicht erscheint Chaia ja doch noch.
Bei dem Gedanken daran, dem Gott abermals nahe zu sein, überlief sie ein Schaudern. Vieles hatte sich während der letzten Tage verändert.
Ich vermisse Leiard nicht mehr, dachte sie lächelnd. In diesem Punkt hatte Chaia recht.
Sie hatte noch nie zuvor solche Wonnen erlebt. Ihre Erfahrungen mit Chaia waren wie eine Traumvernetzung, aber erheblich raffinierter. Traumvernetzungen fußten auf der Erinnerung an körperliche Wonnen. In ihrer Zeit mit Chaia hatte sie eine Ekstase erlebt, wie sie sie noch nie verspürt hatte. Seine Berührung konnte nur die Berührung von Magie sein, aber das änderte sich, sobald ihr Geist und ihr Wille vereint waren. Magie konnte zu einem Gefühl werden. Chaia war in der Lage, auf jedes noch so geringe Begehren ihrerseits einzugehen, aber er konnte sie gleichzeitig auf eine Art und Weise entflammen, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
Sie hatte erwartet, dass die Welt ihr, verglichen mit ihren Begegnungen mit Chaia, gedämpft und farblos erscheinen würde, doch stattdessen war es so, als seien ihre Sinne dadurch belebt worden. Jeder Gegenstand war faszinierend, jedes lebende Geschöpf schön und strahlend.
Glücklicherweise verblasste diese Wirkung nach und nach. Sie wollte nicht von der Schönheit eines Insekts abgelenkt werden, während sie versuchte, mit den Siyee über wichtige Dinge zu sprechen. Die Möglichkeit, sie mit ihren Sinnen zu sehen, weckte in ihr nur umso mehr den Wunsch, sie zu beschützen.
Gleichzeitig waren ihr die Unterschiede zwischen ihnen und ihr selbst jetzt bewusster. Ihre Größe und das Fehlen von Flügeln. Die Sterblichkeit der Siyee. Dieses Wissen um die Unterschiede zwischen ihnen machte sie traurig. War sie einem Gott nähergekommen, nur um sich weiter von den Sterblichen zu entfernen? Es war ein verstörender Gedanke.
Aber es ist schön, sich wieder auf die Nacht zu freuen, dachte sie. Und im Augenblick hat es nicht viel Sinn, sich deswegen Sorgen zu machen. Vor sich hin lächelnd drängte sie alle Kümmernisse beiseite und überließ sich tagträumend ihrer nächsten Begegnung mit Chaia.
Ich bin Genrianer!«, rief Devlem Radmacher. »Das könnt ihr mir nicht antun!«
»Du magst Genrianer sein«, erwiderte Reivan gelassen, »aber solange du in Avven lebst, musst du unsere Gesetze befolgen. Du wohnst jetzt lange genug hier, um zu wissen, dass lediglich die Versklavung von Verbrechern gestattet ist.«
»Sie ist kein Mensch«, beteuerte er. »Sie ist ein Tier – ein Geschöpf des Meeres. Man braucht sie nur anzusehen, um das zu begreifen.«
Sie erwiderte seinen Blick ohne einen Wimpernschlag. »Man braucht nur mit ihr zu sprechen, um zu wissen, dass sie ein Mensch ist. Und was für eine Geschichte sie über dich zu erzählen hat.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du bist derjenige, den ich als unmenschlich beschreiben würde.«
Ein Zornesschrei entfuhr ihm, und er machte einen Satz auf sie zu. Reivan wich zurück, aber seine tastenden Hände erreichten sie nicht. Sie trafen auf eine unsichtbare Barriere.
Magie. Reivan sah zu Götterdiener Kikarn hinüber. Seine missbilligende Miene wurde weicher, als er ihren Blick auffing. Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe. Reivan, die sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt hatte, nickte dankbar.
»Ihr könnt mich nicht zum Sklaven machen!«, brüllte Devlem. »Meine Familie hat Verbindungen zu den Adelshäusern in Genria!«
»Schickt Götterdiener Grenara herein«, befahl sie.
Der Sklavenaufseher des Sanktuariums war zwar von kleinem Wuchs, aber jeder Schritt und jede Geste wiesen ihn als einen Mann aus, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte. Er begrüßte Reivan und Kikarn mit dem Zeichen des Sterns, dann wandte er sich zu Devlem um, und seine Augen wurden schmal, als er den Kaufmann musterte.
»Komm mit mir, Devlem Radmacher.«
Devlem funkelte den Mann wütend an. »Wenn du glaubst, ich würde dir einfach folgen wie ein vernunftloses Arem, dann bist du… dann bist du…«
Der Mann zuckte die Achseln. »Das liegt ganz bei dir. Einige akzeptieren ihr Schicksal mit Würde, andere müssen gefesselt und hinausgeschleift werden.«
Bei dem Wort »hinausgeschleift« flackerte Devlems Blick, und der Zorn wich aus seinen Zügen. Er trat einen Schritt von dem Sklavenaufseher zurück, dann drückte er den Rücken durch und stolzierte aus dem Raum. Grenara folgte ihm.
Als die Tür sich geschlossen hatte, stieß Reivan einen langen Seufzer aus. »Ich danke dir, Götterdiener Kikarn«, sagte sie.
Er sah sie mit gespielter Verwirrung an. »Wofür, Götterdienerin Reivan?«
Sie lächelte. Es scheint, als hätte ich hier einen Verbündeten gewonnen.
»Wir haben für heute mehr als genug gearbeitet. Ich sehe dich dann morgen früh.«
Kikarn neigte den Kopf und machte das Zeichen des Sterns. Reivan verabschiedete sich von ihm und verließ den Raum durch die zweite Tür.
Die Flure des Unteren Sanktuariums waren praktisch menschenleer. Die meisten der Götterdiener hatten sich für den Abend zurückgezogen. Obwohl Reivan sich nach Ruhe sehnte, ging sie nicht zu ihrem Quartier.
Mehrere Flure und Treppen später erreichte sie das Obere Sanktuarium. Fackeln erhellten den Weg zum Haupthof. Reivan trat in die Nachtluft hinaus und blieb einen Moment lang stehen, um das Bild zu betrachten, das sich ihr bot. In der Mitte des Hofs, wo ein Springbrunnen tagsüber die Luft abkühlte, stand jetzt ein großes Zelt. Die Lampen darin warfen die Schatten einer Frau und eines Kindes auf die Tuchwände. Stimmen im Innern des Zeltes bildeten fremde, schrille Worte, die Reivan nicht verstehen konnte. Sie trat vor die Zeltlasche.
»Darf ich hereinkommen?«, rief sie.
»Ja«, antwortete Imenja. »Wir sprechen gerade über Imis Heimat. Es scheint ein faszinierender Ort zu sein.«
Reivan schob die Türlasche beiseite und trat ein. Das Elai-Mädchen hatte die Ellbogen auf den Rand des Springbrunnens gestützt, den Sklaven mit Meerwasser gefüllt hatten. Im Licht der Lampen sah ihre Haut noch dunkler aus. Reivan rief sich die Zeichnungen von Meeresleuten, die sie aus den Büchern der Denker kannte, ins Gedächtnis und staunte einmal mehr darüber, wie wenig zutreffend sie waren. Dieses Kind hatte keinen Fischschwanz oder wallende Haarlocken. Es war vollkommen unbehaart und hatte zwei normale Beine.
Fast normal, korrigierte sich Reivan. Imis Hände und Füße waren unverhältnismäßig groß, und zwischen ihren Fingern und Zehen spannten sich dicke Schwimmhäute. Andere Verzerrungen im Körperbau des Mädchens ließen auf weitere Unterschiede schließen. Seine Brust war sehr breit für ein Kind. Es hätte Reivan nicht überrascht zu erfahren, dass die Elai über viel größere Lungen verfügten als normale Menschen.
Die Maler, die derart fantasievolle Bilder angefertigt hatten, wären von Imi enttäuscht gewesen. Alles in allem machten die Verformungen ihres Körpers und der Mangel an Haaren sie nicht zu einer besonders anziehenden Rasse. Nicht einmal die hübsche Tunika, die sie trug, konnte das verbergen. Als das Mädchen lächelte und dabei leicht spitze weiße Zähne zur Schau stellte, musste Reivan ein Schaudern unterdrücken.
»Reivan«, sagte Imi langsam.
»Imi«, erwiderte Reivan. »Wie geht es dir?«
Imenja übersetzte. Die kleine Elai betrachtete ihre sich abschälende Haut, und ein trauriger Ausdruck umwölkte ihr Gesicht, als sie antwortete.
»Sie fühlt sich schon ein wenig kräftiger«, erklärte Imenja Reivan. »Sie hat gewiss eine Menge durchgemacht. Zuerst von Fischern gefangen, dann von Plünderern, und beide haben sie gezwungen, für sie zu arbeiten. Dann wurde sie an den Kaufmann verkauft – ist diese Angelegenheit übrigens geregelt?«
»Ja. Er behauptet, sie sei ein Tier, und daher habe er kein Gesetz gebrochen. Er ist mit dem Sklavenaufseher fortgegangen.«
»Gut. Dummheit ist keine Entschuldigung für Grausamkeit. Keiner der Männer, die sie gefangen haben, hat den Versuch unternommen, mit ihr zu reden. Sie haben ihr nur rohen Fisch zu essen gegeben und sie austrocknen lassen. Die Elai …
Imi sagte etwas. Imenja lächelte und sprach kurz mit dem Mädchen, dann wandte sie sich wieder Reivan zu.
»Die Elai müssen jeden Tag eine gewisse Zeit im Salzwasser verbringen. Und genau wie wir ernähren sie sich von einer Vielzahl verschiedener Speisen. Nicht nur von den Produkten des Meeres.« Sie hielt inne. »Du wirst niemals erraten, wer sie ist.«
Reivan kicherte. »Nein, ich würde sagen, das ist wenig wahrscheinlich.«
Imenja drehte sich wieder zu Imi um. »Sie ist die Tochter des Königs der Elai.«
Überrascht blickte Reivan auf das Kind hinab. Das Mädchen lächelte unsicher.
»Wie ist sie in Gefangenschaft geraten?«
»Sie ist ihrer Beschützerin entkommen, um nach einem Geschenk für ihren Vater zu suchen.«
»Weiß er, dass sie gefangen wurde?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Fest steht, dass er nicht der einzige Elai ist, der feiern wird, wenn sie zu ihrem Volk zurückkehrt.«
»Es sei denn, ihre Gefangennahme wäre von seinen Feinden eingefädelt worden.«
Imenja runzelte die Stirn. »Das wäre möglich.«
»Du wirst vorsichtig sein müssen, wenn du sie zurückbringst.«
»Ich?« Imenja zog die Augenbrauen hoch. »Warum glaubst du, dass ich sie nach Hause bringen werde?«
»Weil sie die Tochter eines Königs ist. Sie ist an jemanden verkauft worden, der in unserem Land lebt. Wenn sie zurückkehrt und ihre Geschichte erzählt, wird man uns für einen Teil ihres Martyriums verantwortlich machen, es sei denn, wir entscheiden uns für eine große Geste der Entschuldigung. Und …« Reivan lächelte. »Weil die Elai nichts mit dem Krieg zu tun hatten, werden sie keinen schwelenden Groll hegen, der dich daran hindern könnte, sie mit den Fünf bekannt zu machen.«
Imenja sah Reivan mit einer Mischung aus Überraschung und Anerkennung an. »Du hast recht.« Sie blickte zu Imi hinüber und lächelte. »Ich sollte sie tatsächlich selbst zurückbringen. Und du wirst mich begleiten. Ich werde natürlich Nekaun von dieser Idee überzeugen müssen, aber die Möglichkeit, einen Verbündeten zu gewinnen, dürfte für ihn wohl den Ausschlag geben. Falls wir Erfolg haben, wird niemand es wagen, Einwände zu erheben, wenn ich dich zu meiner Gefährtin mache.«
Imi beobachtete Imenja. Dann begann sie zu sprechen, und ihre fremdartigen Worte formten eine Frage. Imenjas Antwort entlockte ihr ein erleichtertes Lächeln.
»Sie ist müde«, sagte Imenja. »Wir sollten sie ausruhen lassen.« Sie verabschiedete sich von dem Kind, dann stand sie auf und führte Reivan aus dem Zelt.
»Ich werde jetzt mit Nekaun sprechen, und du kannst getrost zu Bett gehen. Wenn er einverstanden ist, musst du morgen früh alles Notwendige für eine Seereise in die Wege leiten.«
»Noch mehr Arbeit!«, stöhnte Reivan und tat so, als sei sie darüber entsetzt. Die Zweite Stimme lachte und scheuchte sie davon. Reivan machte sich lächelnd auf den Weg zu ihrem Quartier.
Ich werde das Land der Elai sehen, ging es ihr durch den Kopf. Die Denker werden platzen vor Eifersucht!
Mirar holte tief Luft und sprang von der Plattform. Für den Bruchteil eines Herzschlags stürzte er hinab, dann zog sich das Seil um seine Brust zu und fing ihn auf. Das dickere Seil, an dem das erste befestigt war, dehnte sich, so dass er auf und ab federte. Als es sich nicht länger bewegte, zog er sich daran entlang.
Die hängenden Seile zwischen den Plattformen waren Tyves Idee gewesen. Mirar hatte jedes Mal sehr lange gebraucht, um von einer Plattform hinab- und die nächste hinaufzusteigen, und Tyves wachsende Ungeduld hatte ihn bewogen, verschiedene Möglichkeiten durchzuspielen, wie ein Landgeher sich schneller zwischen den Bäumen bewegen konnte. Zuerst war er auf die Idee verfallen, Mirar von mehreren Siyee in einem Netz hin und her befördern zu lassen, aber als er herausfand, wie schwer Mirar war, war ihm die Unmöglichkeit dieses Unterfangens bald klar geworden.
Dennoch war der Junge entschlossen gewesen, einen Weg zu finden. Er hatte unablässig Dinge vor sich hin gemurmelt wie: »Tryss könnte es schaffen« und »Was würde Tryss tun?« Tryss – der Siyee, der das Jagdgeschirr erfunden hatte – schien Tyves Held und Inspiration zu sein.
Jetzt hingen zwischen den meisten Bäumen Seile. Ihre Herstellung hatte den gesünderen Siyee, die auf ihren Plattformen ausharren mussten, etwas zu tun gegeben. Tyve war der Einzige, dem Mirar es gestattete, sich im Dorf zu bewegen, und dann auch nur mit der strikten Anweisung, in niemandes Nähe zu kommen, damit er sich nicht dem Risiko aussetzte, die infizierte Luft aus ihren Lungen einzuatmen.
Nicht dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Die meisten der Siyee waren inzwischen krank.
Bisher war jedoch noch niemand gestorben. Sprecher Veece war nahe daran gewesen, aber Mirar hatte ihn durch seine magische Heilkraft von der Schwelle des Todes zurückgeholt. Doch der Körper des alten Mannes wollte noch immer nicht recht gegen die Krankheit ankämpfen, was Mirar vor ein Dilemma stellte.
Für den Patienten war es besser, wenn sein Körper lernte, die Krankheit zu bekämpfen. Mirar konnte Magie benutzen, um die Beschwerden zu lindern und dem Patienten Kraft zu geben, aber es widerstrebte ihm grundsätzlich, die Krankheit selbst mit Magie zu vertreiben. Wenn er das tat, drohte dem Patienten die Gefahr sich erneut anzustecken. In einem Dorf, in dem sich die Seuche so mühelos ausbreitete, war dieses Schicksal durchaus wahrscheinlich. Wenn der Körper eines Patienten außerstande war zu lernen, gegen die Krankheit zu kämpfen, blieb nur die Möglichkeit, ihn mit Magie zu heilen und anschließend zu isolieren. Mirar würde es tun, wenn es sein musste, aber nur als letzten Ausweg.
Inzwischen hatte er sich dem anderen Ende des Seils genähert. Das Licht einiger Lampen beleuchtete eine kleine Plattform, auf der eine einzelne Laube stand. Die vorherige Plattform war größer gewesen und hatte ein wenig höher gelegen als diese. Als Mirar sein Ziel erreichte, hing er dicht über dem hölzernen Boden. Er hob die Arme und ließ sich aus der Schlinge gleiten.
Der dumpfe Aufprall seiner Landung lockte ein kleines Mädchen aus der Laube. Es starrte ihn an, dann fasste es ihn am Arm und zog ihn hinein.
Auf einer Matte auf dem Boden lag mit geschlossenen Augen eine Frau. Tyve saß neben ihr und hielt ihre Hand. In der Nähe stand eine Schale mit dampfendem Wasser, auf dessen Oberfläche sich Ölschlieren gebildet hatten. Die Luft war erfüllt von dem durchdringenden Geruch von Brei-Essenz.
»Wie geht es ihr?«, fragte Mirar.
»Ihr Atem geht doppelt so schnell wie normal«, sagte Tyve. »Er klingt ein wenig verschleimt. Ihre Finger sind kalt, und ihre Lippen werden langsam blau. Ich habe ihr etwas Mallin gegeben.«
Er lernt schnell, stellte Leiard fest.
Mirar konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, wurde dann jedoch schnell wieder ernst, als Tyve zu ihm aufblickte.
»Ich weiß, du hast gesagt, dass ich niemanden berühren solle, aber sie hat nach meiner Hand gegriffen. Ich wollte nicht, dass es passiert. Und dann war es bereits zu spät.«
Mirar nickte. »Mitgefühl ist bei einem Heiler immer eine Stärke, niemals eine Schwäche.« Er sah vielsagend auf das Kind, das seinen Arm umklammerte. »Vergiss nur nicht, dir anschließend die Hände zu waschen.«
Er löste sich aus dem Griff des Kindes und ließ sich neben der Frau auf die Knie nieder. Dann legte er ihr eine Hand auf die Stirn, glitt in eine Heiltrance und sandte seinen Geist in ihren Körper.
Ihr Körper kämpfte gegen die Krankheit, wie er voller Erleichterung feststellte. Sie brauchte lediglich ein wenig Hilfe. Er zog Magie in sich hinein und benutzte sie, um die Entzündung in ihrer Lunge zu lindern und das Herz zu ermutigen, schneller zu schlagen, um mehr Blut in ihre Gliedmaßen zu pumpen.
Obwohl ihr Körper sich gegen die Krankheit wehrte, konnte Mirar nicht abschätzen, ob sie den Kampf ohne seine Hilfe gewonnen hätte. Die Herzzehre hatte auf Landgeher keine so verheerende Wirkung. Handelte es sich hier um eine stärkere Spielart der Krankheit? Wenn ja, dann stand den Landgehern eine schreckliche Seuche bevor, sollte sie sich auch bei ihnen verbreiten. Andererseits war es durchaus möglich, dass die Siyee für die Herzzehre anfälliger waren. Die Menschen in den Ländern der Landgeher hatten schon früher mit der Krankheit zu tun gehabt, aber dies war möglicherweise das erste Mal, dass die Siyee damit in Berührung kamen. Bedeutete das, dass eine ganze Rasse sich an eine Krankheit gewöhnen konnte?
Es war eine interessante Idee, aber keine, die für die Siyee Gutes verhieß.
Er löste seinen Geist aus dem Körper der Frau. Sie atmete jetzt leichter und war nicht mehr so bleich. Tyve streichelte ihre Hand.
»Ihre Finger sind warm«, sagte er und blickte staunend zu Mirar auf. »Wie machst du das? Es ist… ist… ist…« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde alles darum geben, wenn ich das ebenfalls könnte.
Mirar lächelte schief. »Alles?«
Tyve sah die Frau an und nickte. »Ja«, sagte er.
Es geht schon wieder los, dachte Mirar und erinnerte sich an ähnliche Augenblicke im Laufe der Jahrhunderte. Junge Männer oder Frauen entdeckten, welch ein Wunder es war, lebensrettende Hilfe zu spenden. Später, wenn der erste Jubel sich gelegt hatte und er ihnen erklärte, was das Leben eines Traumwebers verlangte, änderten die meisten ihre Meinung wieder.
Wenn Tyve bei seinem Entschluss bleibt, wirst du ihn unterrichten?, fragte Leiard.
Es gibt hier nicht viele andere Dinge, mit denen ich mich beschäftigen könnte, antwortete Mirar. Auf diese Weise werde ich etwas zu tun haben, während ich versuche, mich von den Weißen fernzuhalten.
Was ist mit Jayim?
Bei dem Gedanken an den Jungen, mit dessen Unterweisung Leiard in Jarime begonnen hatte, zuckte Mirar zusammen.
Arleej wird dafür Sorge getragen haben, dass irgendjemand seine Ausbildung beendet. Ich kann es jedenfalls nicht tun.
Nein, aber wenn du gezwungen bist, auch die Ausbildung dieses Jungen abzubrechen, kannst du dich nicht darauf verlassen, dass Arleej deine Arbeit weiterführen wird, bemerkte Leiard.
Doch, das könnte ich. Arleej wäre vielleicht nicht allzu begeistert davon, aber ich könnte Tyve nach Somrey schicken. Möglich, dass sie mich dafür verflucht, dass ich ihr einen weiteren Schüler aufbürde, aber sie wird begreifen, welche Vorteile es hätte, Siyee-Traumweber zu haben.
Den Weißen wird das nicht gefallen, warnte Leiard ihn. Wenn die Götter hören, dass ein Traumweber einen Siyee ausbildet, werden sie der Sache nachgehen. Sie werden feststellen, dass Tyve von jemandem unterwiesen wird, zu dessen Geist sie keinen Zutritt haben, und das wird ihren Argwohn wecken, was deine Identität betrifft.
Mirar dachte einen Moment lang nach. Sollte Tyve sich dafür entscheiden, Traumweber zu werden, wird er begreifen und akzeptieren müssen, dass diese Angelegenheit geheim bleiben muss und dass ich gezwungen sein könnte, ihn zur Vollendung seiner Ausbildung nach Somrey zu schicken.
Wo es nicht länger notwendig wäre, ein Geheimnis daraus zu machen. Das würde dir gefallen, nicht wahr? Die Weißen haben gerade erst angefangen, die ersten Priester und Priesterinnen in Siyee auszubilden, und es wäre dir ein Vergnügen, wenn sie erfahren würden, dass du zur gleichen Zeit den ersten Siyee-Traumweber ausbildest.
Es wäre in der Tat recht befriedigend, gab Mirar zu.
»Wilar?«
Er blickte zu Tyve auf.
»Was muss ich tun?«, fragte der Junge.
Mirar lächelte. »Ich werde es dir erklären, aber nicht jetzt. Wir müssen unsere Arbeit fortsetzen.«
Tyve nickte. Er sah das kleine Mädchen an, das im Schneidersitz auf dem Boden saß. »Sie zeigt die ersten Symptome. Was sollen wir tun?«
Mirar wandte sich dem Mädchen zu und winkte es heran. »Komm her, Kleine. Wie heißt du?«
Ein sanfter Lichtschimmer wärmte den östlichen Horizont, aber die Luft war kühl. Auraya drehte sich nach Reet um, der jedoch nicht an ihrer Seite war. Erschrocken sah sie sich um. Er flog unter ihr. Zu ihrer Erleichterung gab er weder seiner Schwäche noch der Herzzehre nach, sondern schwebte langsam auf ihr Ziel zu.
Sie folgte ihm hinab, ließ sich durch eine Lücke in dem Blätterbaldachin des Waldes sinken und wich den Zweigen der gewaltigen Bäume aus.
Reet stieß einen Pfiff aus, auf den einige wenige schwache Antworten folgten. Auraya schaute sich um und bemerkte etliche Lauben, die auf Plattformen hoch oben in den Bäumen erbaut waren. Eine dieser Plattformen steuerte der Bote an.
Er hatte sich für die Laube des Stammesführers entschieden. Auraya, die kurz nach dem jungen Siyee landete, lächelte, als eine alte Frau aus der Laube geschlurft kam. Sie war die Ehefrau des Sprechers, wie sie aus ihren Gedanken las. Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie die Symptome der Krankheit erkannte.
»Ich habe Hilfe geholt«, sagte Reet müde. Dann wandte er sich zu Auraya um. »Auraya von den Weißen ist gekommen, um uns beizustehen. Das ist Tryli, die Frau von Sprecher Veece.«
Die alte Frau lächelte erschöpft. »Willkommen, Auraya von den Weißen. Unter normalen Umständen hätte Veece dich auf die traditionelle Weise begrüßt, aber er ist krank. Daher ist es an mir, dir für dein Kommen zu danken.«
Auraya nickte. »Wie viele von euch sind bereits krank?«
»Die meisten, aber seit der Heiler hier erschienen ist, haben wir niemanden mehr verloren.«
Reet richtete sich auf und grinste. »Tyve hat ihn also überredet herzukommen!«
Auraya blinzelte überrascht. Sie schaute in die Gedanken der Frau und las darin, dass ein Mann gekommen war, um die Kranken zu behandeln.
»Ein Landgeher?«, fragte sie erschrocken. War einer der Pentadrianer zurückgeblieben? Hatten die Pentadrianer die Siyee mit der Krankheit angesteckt?
»Wilar«, sagte Tryli nickend. »Er ist vorgestern hier erschienen und hat zwei Nächte und einen Tag ohne Unterlass gearbeitet. Du kommst gerade zur rechten Zeit. Ich habe mir Sorgen gemacht, was mit ihm geschehen könnte, wenn er sich keine Ruhe gönnt, aber meine Angst vor dem, was passieren würde, wenn er es tut, war nicht minder groß. Und Tyve…«
Ihre Worte gingen in einem durchdringenden Pfiff unter. Sie alle wandten sich ab und sahen zu, wie ein junger Siyee auf sie zugeflogen kam.
»Tyve!«, rief Reet, und die Erleichterung verlieh seiner Stimme neue Kraft. Als der Neuankömmling landete, lächelte Auraya. Selbst wenn sie Reets Gedanken nicht hätte lesen können, hätte sie gewusst, dass der andere Siyee sein Bruder war. Die beiden sahen einander ungeheuer ähnlich.
»Reet!«, erwiderte Tyve. »Du hast es geschafft. Warte!« Er streckte die Hände aus, um seinen Bruder daran zu hindern, ihn zu umarmen. »Wir müssen vorsichtig sein. Ich war mit vielen Kranken zusammen und könnte mich angesteckt haben. Ich möchte die Krankheit nicht an dich weitergeben.«
Reet starrte Tyve entsetzt an. »Du hast sie…?«
Tyve zuckte die Achseln. »Ich glaube es nicht, aber Wilar sagt, dass wir darauf achten sollen, einander nicht zu berühren oder anzuhauchen.« Sein Blick wanderte zu Auraya hinüber. »Willkommen, Auraya von den Weißen. Bist du ebenfalls hier, um uns zu helfen?«
Auraya nickte. »Ja. Tryli hat mir soeben von dem Heiler erzählt, der eure Kranken behandelt. Würdest du mich zu ihm bringen?«
Tyve grinste. »Natürlich. Folge mir.«
Als Tyve sich vom Rand der Plattform abstieß, erhob sie sich ebenfalls in die Luft. Zwischen den Plattformen waren Seile gespannt, und sie mussten über und unter diesen Seilen hinwegtauchen. Als Auraya Tyves Gedanken las, erfuhr sie, dass die Seile seine Idee gewesen waren und dass sie es dem Heiler ermöglichten, sich mühelos von einer Plattform zur nächsten zu bewegen.
Ein vertrauter Aufwind machte es Tyve möglich, ein wenig höher zu fliegen. Er wich einem Ast aus und glitt auf eine große Plattform mit drei Lauben hinab. Nach seiner Landung wartete er auf Auraya, dann führte er sie zum Eingang einer der Behausungen.
Das Innere war schwach beleuchtet, und die einzige Lichtquelle war eine Lampe. Zwei Siyee-Kinder lagen in ihren Betten, und hinter ihnen lag in einem anderen Bett eine Frau. Vor ihnen stand ein Traumweber, der Auraya den Rücken zukehrte.
Natürlich, dachte sie. Es musste ein Traumweber sein. Wer sonst würde sich die Mühe machen, an einen entlegenen, wilden Ort zu reisen, um andere zu heilen?
Irgendetwas war merkwürdig an dem Mann. Sie brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was es war.
Ich kann seine Gedanken nicht lesen! Ich kann überhaupt nichts von ihm auffangen! Ich kann…
Der Mann drehte sich zu ihr um, und sie erstarrte.
Leiard!
Sein Haar war schwarz, und er war glattrasiert. Er hatte zugenommen. Aber er war es, ohne Zweifel. Ihr Magen krampfte sich zusammen, während gleichzeitig ein Gefühl des Jubels in ihr aufstieg. Irgendwie gelang es einem Teil von ihr, genug Distanz zu wahren, um diese widersprüchliche Reaktion erheiternd zu finden. Bin ich glücklich, ihn zu sehen – oder nicht?
Sie brauchte seine Gedanken jedoch nicht zu lesen, um zu sehen, dass er entsetzt war. Sein Blick war kalt, und sein Mund verzog sich langsam zu einem freudlosen Lächeln.
Tyve deutete mit der Hand auf ihn. »Das ist Wilar, der Traumweber«, sagte er, und seiner Stimme war anzuhören, dass er die Bedeutung dieser Bekanntmachung genoss. »Wilar Traumweber, das ist…«
»Auraya von den Weißen«, beendete Leiard leise seinen Satz. »Wir sind einander schon begegnet.«
Tyve verströmte Überraschung und Neugier. »Ihr kennt einander?«
»Ja«, antwortete sie. »Obwohl er damals unter einem anderen Namen bekannt war.« Und sein Haar war nicht so dunkel, fügte sie im Stillen hinzu. Es steht ihm nicht besonders gut.
»Ein Name, den ich hinter mir gelassen habe«, erwiderte er. »Zusammen mit den Fehlern, die ich gemacht habe. Mir wäre es lieber, wenn du meinen alten Namen nicht benutzen würdest«, fügte er hinzu. »Ich bin jetzt Wilar.«
»Also gut, Wilar«, sagte sie. Fehler? Meint er damit unsere Affäre oder seine unfreundliche Art, sie zu beenden, indem er in die Arme einer Hure geflüchtet ist? Ärger stieg in ihr hoch, aber sie drängte ihn beiseite. Ich würde es vorziehen, wenn die Siyee nichts über unsere Vergangenheit erführen, wenn er also Wilar genannt werden will, soll es mir recht sein. Ich habe ohnehin kaum Zeit, um darüber nachzugrübeln. Ich muss mich um die kranken Siyee kümmern. Sie sind wichtiger.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, Wilar Traumweber. In welchem Zustand befindet sich dieser Stamm, und wo wäre meine Hilfe vom größten Nutzen?«
Ein starker Südwestwind hatte Emerahl die Küste von Genria entlanggetrieben, und unter normalen Umständen hätte sie gesagt, dass sie gut vorangekommen war, nur dass sie es nicht eilig hatte und ihr auch kein bestimmtes Ziel vorschwebte. Der stetige Wind schien sie in ebendiese Richtung treiben zu wollen, und es widerstrebte ihr noch immer, mehr als ein oder zwei Tage in ein und derselben Küstenstadt zu verbringen, daher hatte sie sich dem Willen des Wetters unterworfen. Ihre einzige Sorge galt der Überlegung, was geschehen würde, wenn sie zu schnell reiste, die Möwe ihre Botschaft fand und ihr folgte, jedoch nicht schnell genug war, um sie einzuholen.
Als hinter einer Klippe Aime in Sicht kam, brannte die Sonne unbarmherzig auf sie herab. Geradeso wie Jarime war die Stadt um eine Flussmündung herumgewachsen, aber diese Bucht war erheblich größer. Die Nebenflüsse des Stroms waren zu breit für Brücken – oder zumindest war es seit Emerahls letztem Besuch niemandem gelungen, eine zu erbauen. Als mehr von der Flussmündung in Sicht kam, bemerkte sie, dass noch genauso viele Fähren im Wasser lagen wie eh und je.
An jeder Landspitze fand sich eine Siedlung. Sie konnte nur vermuten, dass die Situation noch immer die gleiche war, dass jede einzelne Siedlung von anderen so unabhängig war, dass man sie als eine eigene Stadt betrachten konnte. Jede dieser Siedlungen verfügte über eigene Hafenanlagen, einen eigenen Markt, eigene Gesetze und eine eigene Herrscherfamilie.
Als eine weitere Gruppe von Gebäuden auftauchte, die Emerahl erkannte, lächelte sie. Die Insel der Könige hatte sich nicht verändert, obwohl im Gartenbezirk vielleicht ein wenig mehr Gebäude standen. Bunte, mit einem alten Muster bemalte Banner sagten ihr, dass der König von Genria noch immer hier residierte, obwohl es so aussah, als sei inzwischen eine andere Herrscherfamilie an die Macht gekommen.
Alles sieht noch genauso aus, dachte sie. Ich vermute, dass sich die Sprache ebenso wie das Torenische weiterentwickelt hat. Die Geldwechsler werden mir einen furchtbaren Wechselkurs geben – das verändert sich niemals. Was…?
Sie richtete sich höher auf, als etwas vollkommen Unvertrautes in Sicht kam. Ein großes Schiff mit schwarzen Segeln lag in der Flussmündung vor Anker. Auf die Seite des Rumpfes war ein großer weißer Stern gemalt.
Pentadrianer! Was tun sie hier? Sie ließ ihr kleines Boot auf das fremde Schiff zuhalten. Vielleicht hatten die Genrianer es gekapert. Als sie näher kam, sah sie zwei schwarzgewandete Männer auf Deck, die sich mit vier gut gekleideten Einheimischen unterhielten. Am Rumpf vertäut lag ein kleineres genrianisches Boot. Einige Arbeiter waren damit beschäftigt, Kisten von dem Schiff in das Boot hinabzulassen.
Dies ist wohl eine Art von Handel, überlegte Emerahl. Es ist noch kein Jahr seit dem Krieg vergangen, und schon jetzt ist man einander freundlich genug gesonnen, um das eine oder andere Geschäft abzuwickeln. Sie änderte ihre Richtung und steuerte auf die nächstgelegenen Docks zu. Vielleicht nicht gar so freundschaftlich, räumte sie ein. Das Schiff ist weit weg vom Land. Der König könnte ihnen verboten haben, anzulegen. Seine Position ist vielleicht jedoch nicht stark genug, um den Handel mit den Pentadrianern zu untersagen. Ich frage mich, welche Familie diese Entscheidung getroffen hat, und ob sie es getan hat, weil die Waren es wert sind, oder nur, um den König zu ärgern.
Sie steuerte ihr Boot auf den linken Stadtrand zu und wählte eine der kleineren Anlegestellen aus, wo man für unbedeutende Boote wie ihres hölzerne Stege gebaut hatte. Mehrere Fischerboote lagen dort vertäut, und alles war still, da die Fischer schon vor Stunden zu den Märkten aufgebrochen sein mussten. Als sie sich dem hölzernen Gebilde näherte, trat ein rundlicher, fröhlich wirkender Mann aus einem Gebäude auf den Steg.
»Guten Morgen«, rief sie. »Bist du vielleicht der Hafenmeister?«
Er grinste. »Der bin ich. Mein Name ist Toore Ruderer.«
Sie lächelte. »Sei mir gegrüßt, Toore Ruderer. Was kostet das Anlegen eines Bootes?«
Er nagte an seiner Unterlippe. »Wie lange willst du bleiben?«
»Einige Tage. Ich hoffe, mit meinen Fähigkeiten als Heilerin ein wenig Geld zu verdienen, bevor ich weiterziehe.«
Toore zog die Augenbrauen hoch. »Fähigkeiten als Heilerin, hm? Ich werde die Nachricht verbreiten, dass du hier bist. Wie heißt du?«
»Das ist sehr nett von dir. Mein Name ist Limma. Limma Heilerin.«
Er nagte noch ein wenig mehr an seiner Unterlippe. »Zwei Kupfermünzen am Tag. Wohlgemerkt, du darfst es niemandem erzählen, oder die Leute werden fragen, warum ich Liegeplätze so billig verkaufe.«
Sie legte einen Finger auf den Mund. »Kein Wort wird über diese Lippen dringen.«
Toore grinste. »Darf ich dir hinaufhelfen?«
»Ja, danke.« Sie stopfte den letzten Rest ihrer Habe in ihren Beutel, dann ergriff sie Toores Hand und ließ sich von ihm auf den Pier ziehen. Sie schulterte ihren Beutel und machte sich, Seite an Seite mit dem Hafenmeister, auf den Weg zum Ufer.
»Wie viel verlangst du für deine Dienste, meine Dame?«, fragte er. »Meinst du, du könntest etwas für mein Bein tun?«
Sie drehte sich zu ihm um. »Was ist damit passiert?«
»Es ist zwischen ein Schiff und eine Kaimauer geraten, schon vor langer Zeit. Bis vor einigen Jahren bin ich recht gut klargekommen, wenn es anfing, wehzutun.«
»Ich kann dir etwas gegen die Schmerzen verkaufen«, erwiderte sie. »Vielleicht kann ich meine Heilkunst an deinem Bein anwenden, aber ob ich Erfolg haben werde, kann ich erst feststellen, wenn ich es gesehen habe.«
Sie erreichten das Ende des Piers und blieben stehen. Emerahl blickte auf die Flussmündung hinaus und sah, dass das pentadrianische Schiff die Segel hisste. Der Mann folgte ihrem Blick und runzelte die Stirn.
»Wurde aber auch Zeit, dass sie auslaufen«, murmelte er. »Niemand war glücklich darüber, sie hier in der Nähe zu haben; es war ein Gefühl, als läge eine schwarze Wolke über der Stadt. Ich hoffe, sie werden nie mehr zurückkommen.«
»Sie werden«, sagte sie.
Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Warum bist du dir da so sicher?«
»Was sie auch mitgebracht haben, sie haben einen Käufer dafür gefunden. Ich habe sie Fracht entladen sehen, als ich hereingekommen bin.«
Der Mann runzelte finster die Stirn. »Gegen den königlichen Befehl! Wer war es, konntest du das sehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in Genria gewesen. Ich würde ein Mitglied der herrschenden Familien nicht erkennen, selbst wenn ich über eines stolpern sollte.«
»Welche Farben hatte das Boot?«
»Es hatte blaue und schwarze Streifen um die Mitte des Rumpfs.«
»Aha! Die Familie Deore. Natürlich.« Er sah sie an und lächelte. »Das ist ein mächtiger Clan. Die Einzigen, die über genug Macht verfügen, um dem König zu trotzen.«
Deore war ein Familienname, den sie noch nie gehört hatte. Vermutlich handelte es sich um einen neuen Zweig, der weniger geneigt war, den Traditionen zu folgen, und ehrgeizig genug, um Ärger zu machen. »Ich hoffe, dass ich nicht zu einer schlechten Zeit nach Aime gekommen bin.«
Er lachte. »Nein, das ist das ganz normale Leben hier. Die herrschenden Familien versuchen immer, einander zu erzürnen. Außerdem bleibst du ohnehin nur ein paar Tage.«
»Ja«, sagte sie. »Möchtest du, dass ich mir jetzt das Bein anschaue?«
»Wenn es dir nichts ausmacht«, erwiderte er. »Und wenn der Preis stimmt, können wir die Anlegegebühren vielleicht vergessen.«
Sie kicherte. »Das hängt von der Behandlung ab. Am besten, wir setzen uns hin und sehen uns die Sache mal an.«
Tyve landete genau in dem Augenblick, als Wilar aus der Laube kam. Der Traumweber sah Tyve nicht an, sondern schaute zu den anderen Lauben hinüber.
Das tut er jetzt ständig, dachte Tyve. Er hält immer Ausschau nach Auraya. Tyve war den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen, Nachrichten des Traumwebers zu der Weißen zu bringen und umgekehrt. Die beiden Landgeher hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit Auraya angekommen war. Es sieht so aus, als würden sie einander nicht mögen, und Wilar scheint verärgert darüber zu sein, dass sie hier ist. Ich wüsste doch zu gern… Soll ich ihn danach fragen? Allerdings habe ich das Gefühl, dass das kein Thema ist, über das er sprechen will. Und ich glaube nicht, dass ich einer Weißen derart persönliche Fragen stellen sollte, auch wenn sie freundlich zu sein scheint.
Tyve machte einen Schritt auf Wilar zu, dann blieb er jäh stehen, da eine Woge des Schwindels ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er holte tief Luft, aber es half nichts. Irgendetwas verfing sich in seiner Lunge, und plötzlich hustete er.
»Tyve. Setz dich.«
Kräftige Hände hielten ihn fest, während die Welt um ihn herum sich drehte. Er sank auf die Knie. Der Hustenreiz legte sich nach und nach, aber an die Stelle des Unbehagens trat Furcht. Er blickte zu Wilar auf.
»Ich habe es, nicht wahr?«
Wilar nickte grimmig. »Sieht so aus. Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst.«
Tyve nickte. »Ich mache mir keine Sorgen.« Tatsächlich hatte er nicht annähernd so viel Angst, wie er erwartet hätte. Es half, dass er die Krankheit jetzt besser verstand und wusste, dass er wahrscheinlich überleben würde. Mehr als alles andere setzte ihm seine Enttäuschung zu.
»Ich kann dir nicht länger helfen, nicht wahr? Ich werde andere anstecken.«
»Du kannst mir nicht mehr helfen, nein, aber das ist nicht der Grund. Es gibt nicht eine einzige Familie hier, in der nicht ein Mitglied inzwischen erkrankt ist, daher hat ohnehin niemand eine große Chance, eine Ansteckung zu vermeiden. Wir können die Ausbreitung nur verlangsamen, um Zeit zu haben, alle zu behandeln.«
»Dann kann ich dir also doch helfen?«
»Nein. Du wirst rapide an Kraft verlieren. Was wäre, wenn du mitten im Flug ohnmächtig würdest? Du würdest in den Tod stürzen.«
Tyve schauderte. »Dann ist es gut, dass Auraya hier ist, sonst hättest du keine Hilfe.«
Die Lippen des Traumwebers zuckten, und er lächelte schief. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine große Hilfe sein wird. Die Weißen sind nicht gut darin, Befehle entgegenzunehmen, außer von ihren Göttern.«
In seiner Stimme schwangen sowohl Verbitterung als auch Erheiterung mit. Tyve errötete, als ihm sein Fehler bewusst wurde.
»Ich meinte, Auraya kann helfen…«
»Ich weiß, was du gemeint hast«, versicherte ihm Wilar. Dann wandte er den Blick ab und seufzte. »Dein Dorf wird alle Hilfe brauchen, die es bekommen kann. Die Nachteile ihres Erscheinens hier liegen ganz und gar auf meiner Seite. Falls irgendein Schaden daraus entsteht, dann ist er bereits angerichtet. Für den Augenblick…« Er wandte sich wieder zu Tyve um. »Für den Augenblick muss ich erst einmal einen anderen Boten finden. Hast du die Kraft, zur Laube deiner Familie zurückzufliegen, Tyve?«
Tyve dachte nach. »Sie liegt in einer Senke. Ich kann den größten Teil der Strecke im Gleitflug zurücklegen.« Er stand auf, machte einige Schritte und drehte sich dann um. Diesmal wurde ihm nicht schwindlig. »Ja, ich kann es schaffen.«
»Gut. Dann flieg dorthin und ruh dich aus. Schick Reet zu mir, wenn er aufwacht – falls es ihm gutgeht.«
Tyve trat an den Rand der Plattform. Er sah sich um und stellte fest, dass Wilar ihn genau beobachtete. »Wenn du kommst, um mich zu behandeln, könntest du mir vielleicht erzählen, wie ich Heiler werden kann.«
Wilars Augen leuchteten auf, obwohl er nicht lächelte. »Vielleicht. Aber erwarte nicht, dass Auraya diese Idee gefallen wird.«
»Warum nicht?«
Der Traumweber schüttelte den Kopf. »Ich werde es dir später erzählen. Und jetzt geh, bevor ich komme und dich selbst hinunterstoße.«
Tyve grinste. Dann wandte er sich ab, beugte sich vor, streckte die Arme aus und überließ sich den Strömungen der Luft.
Imi beäugte den Teller und kam bedauernd zu dem Schluss, dass sie keinen Bissen mehr herunterbekommen würde. Sie schaute zu der Dienerin hinüber, die in der Nähe stand, und deutete mit einer abschätzigen kleinen Bewegung auf das Essen – eine Geste, die sie bei Imenja beobachtet hatte. Die Frau trat vor, griff nach dem Tablett, verbeugte sich und trug es davon.
Imi seufzte zufrieden und ließ sich wieder in das Becken sinken. Sie fühlte sich schon viel besser. Es lag nicht nur an dem Essen und an dem salzigen Wasser. Diese schwarzgewandeten Leute waren so nett zu ihr. Es tat gut, nicht mehr die ganze Zeit Angst haben zu müssen.
Die Zeltlasche wurde geöffnet. Das goldene Licht der untergehenden Sonne zeichnete eine vertraute weibliche Gestalt nach. Imi richtete sich auf und lächelte, als Imenja an den Rand des Beckens trat.
»Hallo, Prinzessin Imi«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
»Viel besser.«
»Bist du kräftig genug, um zu gehen?«
Imi sah sie überrascht an. Gehen? Imi spannte die Beinmuskeln an. Es wäre wahrscheinlich möglich, wenn wir nicht zu weit gehen müssen.
»Ich könnte es versuchen«, erwiderte sie.
»Ich würde dich gern an einen bestimmten Ort bringen. Es ist nicht weit«, erklärte Imenja. »Die Erste Stimme, Nekaun, der Anführer meines Volkes, wünscht, dich kennen zu lernen. Würde dir das gefallen?«
Imi nickte. Sie war eine Königstochter. Es ergab durchaus einen Sinn, dass der Anführer dieses Landes sie kennen lernen wollte. Aber dann zerstob ihr Eifer, als sie sich die Begegnung mit diesem wichtigen Mann ausmalte. Plötzlich wünschte sie, sie wäre älter und erwachsener. Was sollte sie sagen? Was sollte sie nicht sagen? Niemand hatte sie gelehrt, wie man sich in der Gegenwart der Anführer anderer Länder benahm.
Vermutlich hat Vater geglaubt, dass ich niemals in eine solche Situation kommen würde.
Sie stand langsam auf. Ihre Beine waren noch ein wenig schwach, aber es war nicht schlimmer als an dem ersten Tag, den sie auf dem Schiff der Plünderer verbracht hatte. Sie trat über den Rand des Beckens auf das trockene Pflaster, dann sah sie Imenja erwartungsvoll an. Die Frau lächelte und hielt ihr die Hand hin. Imi ergriff sie, und sie verließen Seite an Seite das Zelt.
Der Innenhof sah genauso aus wie bei ihrer Ankunft, nur dass es jetzt fast Nacht war. Imenja führte sie auf einen Balkon an einer Seite des Gebäudes und durch eine offene Tür. Das Innere war kühl. Ein langer Flur wurde vom Licht mehrerer Lampen erhellt. Diesen Flur gingen sie hinunter zu einer Treppe. Der Weg hinauf war kurz, aber als Imi oben ankam, war sie dennoch außer Atem. Imenja blieb vor einer Nische stehen, um Imi die spezielle Technik zu erklären, mit der die Schnitzereien in der Nische gefertigt worden waren. Als sie weitergingen, hatte Imis Atmung sich beruhigt.
Ein weiterer Flur folgte. Imenja machte vor einer großen, überwölbten Tür Halt und deutete auf den Raum dahinter. »Die Erste Stimme wartet hier auf uns«, murmelte sie. »Sollen wir hineingehen?«
Imi nickte. Sie traten durch die Tür in einen großen Raum mit einer Kuppeldecke. Imi sog erstaunt die Luft ein.
Das Dach, der Boden und die Decke waren mit leuchtenden Farben bemalt. Die Kuppel war blau und wies Wolken, Vögel und sogar einige seltsam aussehende Siyee auf. Die Wände zeigten verschiedene Landschaften, und der Boden war eine Mischung aus Garten und Wasser. Überall waren Bilder von Landgehern zu sehen; sie hielten sich in Gärten und Häusern auf, fuhren in Booten oder wurden von Sklaven getragen. Sowohl vertraute als auch ungewöhnliche Tiere, die zum Teil recht fantastisch wirkten, waren in Gärten, Wäldern, Seen und Flüssen abgebildet. Imi schaute genauer hin und stellte fest, dass die Bilder und Muster aus unzähligen winzigen Steinchen zusammengesetzt waren, die einen eigenen Schimmer hatten.
Als sie ein Geräusch hörte, blickte sie auf und zuckte zusammen, als sie sah, dass ein Mann in der Mitte des Raums stand. Er trug die gleichen schwarzen Roben wie Imenja und bewunderte die Bilder, aber als Imi ihn bemerkte, schaute er auf und lächelte.
»Sei mir gegrüßt, Prinzessin Imi«, sagte er mit einer warmen, angenehmen Stimme. »Ich bin Nekaun, Erste Stimme der Götter.«
Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, ahmte sie seine Redeweise nach. »Sei mir gegrüßt, Nekaun, Erste Stimme der Götter. Ich bin Imi, Prinzessin der Elai.«
»Wie geht es dir?«
»Besser«, antwortete sie.
Er nickte, und seine Augen schienen mit einem Mal zu funkeln wie Sterne. »Ich freue mich, das zu hören«, entgegnete er. »Ich wollte dir heute Abend einen Besuch abstatten, aber ich dachte, es wäre vielleicht vergnüglicher, dir diesen Ort zu zeigen, sofern du dich stark genug dafür fühltest. Es gibt hier etwas, das dich interessieren könnte.« Er winkte sie heran.
Sie ging auf ihn zu und konzentrierte sich darauf, würdevoll zu erscheinen, obwohl sie sich ihrer großen Hände und Füße nur allzu bewusst war.
»Ich habe mich nur dank Imenja und Reivan wieder erholt«, erklärte sie, als sie neben ihn trat. »Und dank dir, weil du mir erlaubt hast hierzubleiben.«
Er sah ihr in die Augen und nickte mit ernster Miene. »Ich muss mich für die schlechte Behandlung entschuldigen, die du erlitten hast, bevor Imenja dich fand.«
Sie runzelte die Stirn. »Das war nicht deine Schuld.«
»Ah, aber ich trage eine gewisse Verantwortung für alles, was Besuchern in meinem Land widerfährt. Wenn unsere Gesetze zum Schutz gegen Verbrechen versagen, dann haben wir ebenfalls versagt.«
Ihr Vater würde wahrscheinlich genauso empfinden, wenn sein Volk einem Besucher ohne Grund Schaden zufügte – vor allem, wenn es sich um einen wichtigen Besucher handelte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie diesen Mann mochte. Er war freundlich und behandelte sie mit Respekt, als sei sie eine Erwachsene.
»Dann danke ich dir für deine Entschuldigung«, erwiderte sie und überlegte dabei, wie erwachsen sie wohl klang. »Was möchtest du mir zeigen?«, fragte sie.
Er deutete auf den Boden. »Sei bitte nicht gekränkt; dies hier entspringt der Fantasie eines Künstlers, der dein Volk nie gesehen hat.«
Sie blickte hinab. Sie standen auf einem Bild des Meeres, von oben betrachtet und so windstill, dass man bis auf den Grund schauen konnte. Fische füllten den blauen Raum, und einige von ihnen schwammen auf der Seite, um ihre Farben zur Schau zu stellen. Am Rand des Ufers wuchsen nur sehr ungenau abgebildete Korallen und Gräser. Zu ihren Füßen war eine Landgeherin zu sehen, die einen Fischschwanz anstelle von Beinen hatte. Ihr Haar war von einer hellgelben Farbe und umspielte ihren Körper, um ihre Brüste und ihre Lenden zu verbergen.
So stellen sie sich uns also vor? Ein Kichern brach aus ihr hervor, und sie schlug hastig eine Hand auf den Mund.
Nekaun lachte leise. »Ja, es ist sehr töricht. Nur wenige Landgeher haben jemals Elai gesehen. Sie wissen lediglich, dass ihr im Meer lebt, daher denken sie, ihr wärt halb Fisch, halb Mensch.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist der Grund, warum der Mann, der dich gekauft hat, dich so behandelt hat, als seist du ein Tier.«
Sie nickte, obwohl sie nicht verstand, warum diese Zeichnung jemanden auf die Idee bringen konnte, eine andere Person sei kein Mensch. Wenn sie Finger hatten, Kleidung trugen und reden konnten, mussten sie einfach Menschen sein. Sie jedenfalls hatte niemals einen Landgeher für ein Tier gehalten.
Nekaun machte einen Schritt zur Seite. »Komm mit. Ich möchte dir noch etwas anderes zeigen.«
Imi ging neben ihm her zu einer Tür in einer der Wände. Imenja folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand.
»Die Bewohner anderer Länder haben auch eigenartige Vorstellungen, was mein Volk betrifft«, erklärte er ihr. »Sie sehen, dass wir einige Sklaven halten, daher vermuten sie, wir würden jeden versklaven, den wir zu unterwerfen wünschen. Aber wir versklaven nur Verbrecher. Die Versklavung eines Unschuldigen ist ein schwerwiegendes Vergehen. Die Strafe dafür ist Sklaverei. Der Mann, der dich gekauft hat, stammte nicht aus diesem Land, aber er kannte das Gesetz.«
»Ist es das, was mit ihm geschehen ist? Ist er versklavt worden?«
»Ja.«
Sie nickte. Ihr Vater hätte diese Regelung gebilligt.
»Wir haben noch andere Sitten, die Fremdländer missverstehen. Einige unserer Riten verlangen von uns, die Privatsphäre der Teilnehmer zu respektieren. Weil wir diese Geheimnisse hüten, denken Fremdländer, die Riten müssten von einer abstoßenden oder unmoralischen Art sein.« Er sah sie mit bekümmerter Miene an. »Vergiss das nicht, falls du von anderen Landgehern solche Gerüchte über uns zu hören bekommen solltest.«
Imi nickte. Wenn andere Landgeher ihr erzählten, Nekauns Volk sei schlecht, würde sie ihnen klarmachen, dass das Gegenteil zutraf.
Sie gingen durch die Tür in einen schlichteren Raum. Die Bilder an den Wänden zeigten Gruppen von Menschen, die jeweils aus einem Mann, einer Frau und einem Kind bestanden. Alle trugen unterschiedliche Kleidung und hatten verschiedene Haut- und Haarfarben. Eine Familie hatte große, gefiederte Flügel. Plötzlich verstand sie, warum die Siyee in dem anderen Raum ihr so merkwürdig erschienen waren. Sie legte eine Hand auf den Mund.
»Ja«, sagte Nekaun, obwohl sie diesmal keinen Laut von sich gegeben hatte. »Wir haben erst vor kurzem erfahren, wie falsch dieses Bild ist. Ich überlege, ob ich es korrigieren lassen soll oder nicht.« Er senkte den Blick. »Obwohl das nicht das ist, was ich dir hier zeigen wollte. Sieh einmal nach unten. Das Muster dieses Bodens ist eine Karte ganz Ithanias.«
Sie tat wie geheißen und sog erstaunt die Luft ein. In der Mitte eines blauen Bodens trieben große Gebilde. Sie waren angefüllt mit Bildern von Bergen, Seen und fremden Städten, die offen der Luft ausgesetzt waren und von trockenen Straßen unterteilt wurden. Nekaun deutete auf ein Gebilde, das wie eine Speerspitze geformt war.
»Das ist Südithania.« Er ging zu der Stelle hinüber, an der die Speerspitze auf ein erheblich größeres Gebilde traf, und deutete mit der Spitze seiner Sandale auf eine Stadt. »Dort sind wir: in Glymma.«
»Wo liegt Borra?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich hatte gehofft, dass du es mir würdest sagen können.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die Welt noch nie von oben gesehen. Es ist alles… Ich habe noch nie etwas Ähnliches zu Gesicht bekommen.«
Er runzelte die Stirn. »Dann werden wir vielleicht nicht in der Lage sein, dich so schnell nach Hause zu bringen, wie wir gehofft hatten.«
»Warum fragt ihr nicht die Plünderer, wo sie mich gefunden haben?«
Er lachte leise. »Wenn das doch nur möglich wäre, aber wir haben im Hafen von Glymma keine Spur von ihnen entdecken können. Sie sind entweder aufgebrochen, nachdem sie dich verkauft haben, oder die Nachricht von deiner Rettung und den Schwierigkeiten, die deinem Käufer dadurch erwachsen sind, waren ihnen eine Warnung, und sie halten sich deshalb fern. Du musst uns sagen, wo deine Heimat liegt, Imi.«
Sie betrachtete die Karte eingehend und hielt Ausschau nach irgendetwas, das ihr vertraut erschien. Einige Bilder von Siyee in einem von Bergen bedeckten Gebiet erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie ging zu der Küstenlinie hinüber. Man konnte binnen weniger Tage von Borra nach Si schwimmen.
»Irgendwo im Ozean südlich von Si«, erklärte sie.
»Der Süden liegt in dieser Richtung«, sagte er und deutete auf einen anderen Teil der Karte.
Als sie das gewaltige blaue Gebiet betrachtete, sanken ihre Schultern herab. Keine der Inseln trug einen Namen. Wie sollte sie den Landgehern sagen, wo Borra lag, wenn es nicht auf der Karte zu finden war? Aber natürlich ist es nicht auf der Karte, dachte sie. Wenn es so wäre, hätten sie mich nicht fragen müssen, wo es liegt!
»Ist dein Volk jemals den Siyee begegnet?«, wollte Imenja wissen.
Imi blickte zu der Frau auf und nickte. »Wir treiben Handel mit ihnen.«
»Könnten sie uns sagen, wo deine Heimat liegt?«
»Vielleicht. Wenn nicht, könnte ich bis zum nächsten Besuch von Elai-Händlern in Si warten. Ich… ich weiß nicht, wie oft sie dort hinreisen.« Imi blickte auf die Karte hinab, und ein Stich der Sehnsucht durchzuckte sie. Sie war so weit gekommen, und jetzt, da sie frei war, nach Hause zu gehen, war sie sich nicht sicher, wie sie dort hingelangen sollte.
»Dann werden wir genau das tun«, sagte Imenja.
Neue Hoffnung stieg in Imi auf. »Ja?«
»Ja. Wir werden dich nach Hause bringen, Imi«, versicherte ihr Nekaun. »So bald wie möglich. Imenja meint, du würdest dich in einigen Tagen hinreichend erholt haben, um aufzubrechen.«
Sie sah ihn voller Eifer an. »So bald schon?«
Nekaun lächelte. »Ja. Imenja wird dich auf eins unserer Schiffe bringen, und sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um dich wieder mit deinem Vater und deinem Volk zu vereinen.«
Imi blinzelte gegen die Tränen an und schenkte Imenja und Nekaun ein dankbares Lächeln. »Vielen Dank«, flüsterte sie. »Ich bin euch ja so dankbar.«
Die Atmung des Mannes ging in gequälten Stößen. Auraya hockte sich auf den Boden und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. Sie hatte zwar eine stärkere Spielart der Herzzehre erwartet, aber nichts derart Bösartiges. Jedes Mitglied des Stammes hatte die Krankheit bereits gehabt oder war noch immer ernsthaft krank. Einige hatten das Schlimmste inzwischen überwunden, aber nur mit Leiards Hilfe.
Wilars Hilfe, korrigierte sie sich.
Jetzt, da sie sich von ihrer Überraschung, ihn hier vorzufinden, erholt hatte, begann sie sich nach dem Grund für seine Anwesenheit in Si zu fragen. Er konnte vor seiner Ankunft in Si nichts von dieser Seuche gewusst haben. Die Siyee waren erst seit ein oder zwei Wochen krank, und er hätte Monate gebraucht, um das Dorf von außerhalb zu erreichen. Also musste er bereits in Si gewesen sein.
Warum? Ich verstehe, dass er sich von Jarime und Juran fernhält, aber es wäre doch gewiss nicht nötig gewesen, dass er seinen Namen und sein Aussehen ändert und sich an einem der entlegensten Orte Nordithanias niederlässt? Hatte er befürchtet, unsere Affäre würde zum Gegenstand des allgemeinen Geredes werden, und die Menschen würden versuchen, ihm Schaden zuzufügen? Hatte er befürchtet, ich würde versuchen, ihn für seine Treulosigkeit zu bestrafen?
Sie hätte ihm gern so viele Fragen gestellt, aber dann hätte sie schmerzliche Themen zur Sprache bringen müssen. Eigentlich hätte es ihr ein Leichtes sein sollen, die Antworten zu finden. Sie hätte in der Lage sein müssen, seine Gedanken zu lesen, aber sie konnte es nicht. Sein Geist war beschirmt. Sie war noch nie jemandem begegnet, der das zu tun vermochte. Hatte er diese Fähigkeit schon immer besessen oder erst in jüngster Zeit erworben? Konnten andere Traumweber sie von ihm erlernen? Was war, wenn alle Traumweber lernten, ihre Gedanken zu verbergen? Dann hätten die Weißen einen ihrer Vorteile verloren.
Bei der Erinnerung an das Hospital stiegen Gewissensbisse in ihr auf. Die Tatsache, dass sie auf die Entmachtung der Traumweber hinarbeitete, machte es umso schwerer, Leiard gegenüberzutreten. Das war ein weiterer Grund, warum sie ihm aus dem Weg gegangen war und ihm zuerst über Tyve und dann über Reet Nachrichten geschickt hatte.
Sie hatte Leiard häufiger herbeiholen müssen, als ihr lieb war. Eins der Heilmittel, die Leiard benutzte, war im Kampf gegen den Schleim in den Lungen der Opfer wirksamer als alles, was sie selbst mitgebracht hatte. Einige Stunden zuvor hatte ein Patient, der im Fieberwahn lag, darauf bestanden, dass er nur von »dem Traummann« behandelt werden wolle. Jetzt musste sie abermals nach Leiard schicken.
Der Zustand des Patienten vor ihr, eines Familienvaters in mittleren Jahren, verschlechterte sich rapide. Es war mitleiderregend zuzusehen, wie sein Körper gegen die Krankheit kämpfte. Sie vermutete, dass er bald sterben würde, und sie hielt es für klug, Leiard zu Rate zu ziehen, um den Siyee klarzumachen, dass er ihrer Einschätzung zustimmte. Wenn einer ihrer Patienten starb, würden vielleicht alle anderen ebenfalls nur noch von dem Traumweber behandelt werden wollen.
Als sie einen dumpfen Aufprall hinter sich hörte, drehte sie sich um und spähte aus der Laube. Reet stand draußen auf der Plattform und hustete leise. Seine Aufmerksamkeit galt Leiard, der an einem der zwischen den Plattformen befestigten Seile hing. Der Traumweber zog sich an dem dicken Seil entlang. Als er die Plattform erreichte, sah Auraya, dass seine Hände rot und wund waren. Sein Beutel hing an einem Tau um seine Taille.
Reet half ihm auf die Plattform. Leiard verschwendete keine Zeit, sondern eilte sofort in die Laube. Sein Blick begegnete für einen Moment dem Aurayas, aber seine grimmige Miene blieb unverändert. Er hockte sich neben sie, legte dem Mann eine Hand auf die Stirn und schloss die Augen.
Ungeheißen stieg eine Erinnerung an die wenigen Gelegenheiten auf, da sie ihn im Schlaf beobachtet hatte. Eine vergessene Sehnsucht befiel sie, und sie knirschte mit den Zähnen. Es ist lediglich ein Echo des Verlangens, das ich einmal verspürt habe. Ich liebe ihn nicht mehr. Sie zwang sich, an die Nächte der Wonne zu denken, die Chaia ihr geschenkt hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. Dergleichen Überlegungen lenkten sie zu sehr ab, und sie sollte sich auf ihren Patienten konzentrieren.
Als sie hinabblickte, verspürte sie jäh eine Mischung aus Überraschung und Hoffnung. Die Haut des Mannes war noch immer bleich, aber seine Finger und seine Lippen waren nicht länger bläulich verfärbt. Auch sein Atem war um eine Spur leichter und gleichmäßiger geworden.
Wie ist das möglich?, fragte sie sich. Ich habe ihm alles an Stärke gegeben, was man mit Magie bewirken kann, aber sein Körper hat nicht richtig gegen die Krankheit gekämpft. Sie hat ihn von innen zerstört. Leiard kann kein neues Fleisch schaffen, wo es bereits aufgezehrt wurde. Er kann den Körper nicht dazu zwingen, gegen die Krankheit zu kämpfen. Und er kann auch die Krankheit selbst nicht besiegen…
Oder vielleicht doch? Die Heilkünste der Traumweber waren denen der Zirkler überlegen. Leiard hatte sie als Kind lediglich mit den Medizinen vertraut gemacht, nicht mit den Heilmethoden der Traumweber. Seither hatte sich ihr keine Gelegenheit mehr geboten, einen Traumweber bei der Behandlung eines derart kranken Menschen zu beobachten.
Ein Schauder der Erregung überlief sie. Wenn die Traumweber wussten, wie man beschädigtes Fleisch neu schaffen und einen Körper dazu bringen konnte, gegen eine Krankheit anzukämpfen – wenn die Traumweber die Krankheit selbst zu besiegen vermochten -, konnten die Priester und Priesterinnen diese Fähigkeit von ihnen erlernen. Es würde zirklischen Heilern möglich sein, ungezählte Menschenleben zu retten.
Vielleicht sollte ich Leiard nicht länger aus dem Weg gehen, dachte sie. Vielleicht sollte ich ihn um Hilfe bitten… abermals. Bei dieser Überlegung verzog sie das Gesicht. Es ist ein Jammer, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann, sonst wüsste ich, was er getan hat, und könnte ihm weiter aus dem Weg gehen.
Leiard atmete tief durch. Dann nahm er die Hand von der Stirn des Mannes und stand auf. Aus der Dunkelheit, wo sie geduldig gewartet hatte, erschien jetzt die Frau des Mannes. Sie war selbst krank gewesen und hatte sich noch kaum wieder erholt. Jetzt hielt sie ihm einen runden, flachen Brotlaib hin.
»Iss, Wilar«, sagte sie. »Reet hat mir erzählt, dass er dich nicht ein einziges Mal hat essen oder ruhen sehen.«
Leiard betrachtete die Frau, dann schaute er zu Auraya hinüber. Die Frau folgte seinem Blick.
»Du natürlich auch«, fügte sie hinzu.
Auraya lächelte. »Vielen Dank.« Sie musterte Leiard kritisch. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. »Er sieht tatsächlich so aus, als könnte er es gebrauchen.«
Leiard zögerte kurz, dann wandte er sich zu Reet um. »Schau nach Veece«, befahl er. Der Junge nickte und flog davon.
Als der Traumweber Platz nahm, brach die Frau das Brot und gab ihnen beiden ein Stück davon. Es war altbacken. Zweifellos hatte sie seit Tagen keine Gelegenheit mehr gehabt, irgendetwas zuzubereiten. Vielen Siyee mussten inzwischen die frischen Vorräte ausgegangen sein.
Was das betrifft, müssen wir unbedingt etwas unternehmen, ging es Auraya durch den Kopf.
»Was kann ich für ihn tun?«, fragte die Frau und blickte zu ihrem Mann hinüber.
»Wende weiter die Essenz an, die ich dir gegeben habe«, antwortete Leiard.
»Wird er überleben?«
»Ich habe ihm eine zweite Chance gegeben. Wenn sein Zustand sich nicht bessert, werde ich ihn vielleicht isolieren müssen, bis der Rest des Stamms sich erholt hat.«
»Warum?«, fragte Auraya.
Er drehte sich zu ihr um. »Weil die Gefahr besteht, dass er sich erneut anstecken wird.«
Sie hielt seinem Blick stand. »Dann tötest du also die Krankheit in seinem Körper?«
»Nur wenn es notwendig ist«, sagte er mit offenkundigem Widerstreben.
»Ich kenne keinen Heiler, der dazu imstande wäre. Deine Kräfte reichen weiter, als mir bewusst war.«
Er wandte den Blick ab. »Es gibt viele Dinge, die du nicht von mir weißt.«
Als die Frau seinen mürrischen Tonfall hörte, zog sie die Augenbrauen hoch. Sie stand abrupt auf und verließ den Raum. Auraya betrachtete Leiard, dessen hochmütige Miene sie verärgerte.
»Was zum Beispiel?«, fragte sie. »Oder sollte ich fragen: Was gibt es sonst noch?«
Er erwiderte ihren Blick mit kalten Augen, doch dann wurde seine Miene weicher. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wusste, dass du nach mir suchen würdest. Ich hätte… rücksichtsvoller sein sollen. Es war die einzige Möglichkeit für mich, sicherzustellen, dass du dich mir nicht nähern würdest. Ich habe… ich habe mir selbst nicht getraut. Ich habe nicht darauf vertraut, dass ich den Willen haben würde, fortzugehen.«
Sie sah ihn überrascht an.
Er entschuldigte sich. Und was sie noch mehr überraschte, war der Umstand, dass sie seine Entschuldigung akzeptierte. Nicht dass es nicht immer noch wehgetan hätte, dass er vor ihr davongelaufen war, dass er sich ins Bett einer Hure geflüchtet hatte, aber jetzt musste sie sich eingestehen, dass ihr die ganze Zeit über klar gewesen war, warum er so gehandelt hatte. Sie war ebenso wie er außerstande gewesen, ihre Affäre zu beenden, obwohl sie um den Schaden gewusst hatte, der daraus entstehen würde.
Verzeihe ich ihm? Und wenn ich es tue, was bedeutet das dann für uns? Sie wandte den Blick ab. Nichts. Wir können nicht noch einmal neu anfangen. Wir können nicht zusammen sein. Warum sollte ich mir das überhaupt wünschen? Ich habe Chaia.
Leiard beobachtete sie genau. Eine merkliche Spannung breitete sich zwischen ihnen aus.
Eine Bewegung im Nebenzimmer erinnerte sie an die Anwesenheit der Frau des Kranken. Kann sie uns hören? Auraya konzentrierte sich und spürte Neugier und Nachdenklichkeit. Die Frau konnte das wenige, was sie gehört hatte, nicht einordnen.
»Ich… verstehe«, sagte sie schließlich. »Das gehört der Vergangenheit an. Also… Lei…«
»Wilar«, unterbrach er sie.
»Nun gut. Wilar. Warum ist dein Geist beschirmt?«
Mit einem Mal trat ein argwöhnischer Ausdruck in seine Züge. Zu ihrer Verärgerung spürte sie, dass sie sich immer noch ein wenig zu ihm hingezogen fühlte. Es ist seine Rätselhaftigkeit, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie fasziniert mich. Alle anderen sind so leicht zu durchschauen. Ich kann alles über die Menschen in Erfahrung bringen, wenn ich es will, aber bei Leiard hatte ich immer das Gefühl, dass er irgendwelche Geheimnisse in sich birgt, obwohl ich damals seine Gedanken noch lesen konnte. Jetzt, da ich seine Gedanken nicht mehr lesen kann, bin ich umso neugieriger.
»Das hat ein alter Freund mir beigebracht. Ich habe es bis vor kurzem niemals für nötig erachtet, diesen Trick anzuwenden.«
Ein alter Freund? Sie lächelte, denn sie glaubte zu wissen, von wem er sprach. »Lauert Mirar immer noch irgendwo in deinem Geist?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Nein.«
»Ah. Das ist gut. Du wolltest ihn schließlich loswerden.«
Er nickte, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Dann lenkte ein dumpfer Aufprall draußen vor der Laube sie beide ab. Reet stand im Eingang.
»Veeces Zustand hat sich wieder verschlechtert.«
Leiard runzelte die Stirn und erhob sich.
»Danke für das Essen«, rief er der Frau zu. Dann verließ er ohne ein Wort des Abschieds die Laube, schlüpfte in die Schlinge, die Reet für ihn bereithielt, und glitt davon.
Der Raum, den man Reivan als geweihter Götterdienerin zugewiesen hatte, war doppelt so groß wie ihr früheres Zimmer – was bedeutete, dass er immer noch nicht allzu groß war. Es war bereits spät, und sie sehnte sich nach Schlaf, aber sie hatte ihr Quartier kaum betreten, als es auch schon an der Tür klopfte. Sie seufzte. Es war ein Tag voller Störungen gewesen. Sie durchmaß noch einmal den Raum und öffnete die Tür, fest entschlossen, den Besucher, wer es auch sein mochte, wegzuschicken und ihn zu bitten, am Morgen wiederzukommen.
Nekaun stand draußen. Sie starrte ihn überrascht an.
»Ich habe einige Fragen an dich, Reivan. Darf ich hereinkommen?«
Sie riss sich zusammen und hielt die Tür auf. »Natürlich, Heiliger.«
Als er eintrat, befiel sie eine unerwartete Erregung. Was würden die anderen Götterdiener über ihren angesehenen Besucher sagen? Dann krampfte sich ihr Magen zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie eine amouröse Begegnung argwöhnen könnten. Als sie die Tür zuzog, blickte sie über ihre Schulter. Im Licht der einen Lampe, die sie für ihren Weg durch das Sanktuarium benutzt hatte, wirkte Nekaun noch attraktiver. Ihr Herz begann zu rasen. Was ist, wenn er mehr will, als nur ein paar Fragen zu stellen? Wäre ich damit einverstanden?
Sie schüttelte den Kopf. Mach dich nicht lächerlich – und hör auf, darüber nachzugrübeln!, befahl sie sich. Er kann deine Gedanken lesen, du Närrin. Verlegen beeilte sie sich, eine zweite Lampe zu entzünden, die den kleinen Raum sofort mit ihrem tröstlichen Licht erfüllte.
»Bitte, nimm Platz, Erste Stimme«, sagte sie. »Möchtest du etwas Wasser?«
»Nein«, erwiderte er, während er sich auf ihren einzigen Stuhl sinken ließ. »Aber vielen Dank.«
Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, dann hockte sie sich auf die Bettkante. Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, und sie senkte, plötzlich gehemmt, den Blick.
»Ich wollte dich nach den Siyee befragen«, begann er. »Sie glauben anscheinend, sie seien von einem dieser zirklischen Götter erschaffen worden. Hältst du es für möglich, dass man sie von dieser Vorstellung abbringen könnte?«
Reivan runzelte die Stirn. »Vielleicht. Es wird erheblich schwieriger sein, sie zu bekehren, aber mit ein wenig Zeit und Mühe werden sie vielleicht begreifen, dass sie einem Irrglauben aufgesessen sind.«
»Zeit und Mühe. Sprichst du von einer langfristigen Bemühung oder einer Bemühung zu einem günstigeren Zeitpunkt?«
Sie sah ihn an. »Ich nehme an, dass irgendwann auch der Rest Ithanias den Fünfen huldigen wird. Es wäre einfacher, die Siyee zu diesem Zeitpunkt von ihren heidnischen Sitten abzubringen.«
Nekauns Blick war nachdenklich. »Es könnte sich lohnen zu warten, solange sie in der Zwischenzeit keine Bedrohung für uns darstellen.«
»Was könnte man sonst tun?«, fragte sie.
Er zögerte, dann stand er abrupt auf und begann, auf der kleinen Fläche zwischen dem Stuhl und der Tür auf und ab zu gehen. »Viele Siyee sind während des Krieges gestorben. Sie sind im Augenblick sehr verletzbar.«
»Du würdest sie angreifen?«, fragte sie überrascht. Dies war für seine Verhältnisse untypisch direkt und kriegerisch. Bisher waren seine Pläne raffiniert und ohne Blutvergießen gewesen.
»Das würde ich lieber vermeiden«, sagte er. »Nicht zuletzt weil es einen weiteren Krieg auslösen könnte.«
»Es könnte einen Krieg auslösen?« Sie schüttelte den Kopf. »Es würde einen Krieg auslösen.«
Er blieb stehen und drehte sich mit schmalen Augen zu ihr um. Einen Moment später entspannten sich seine Züge, und er lächelte. »Ah, Reivan. Imenja hatte recht, dich vor allen anderen auszuzeichnen. Du bist so erfrischend offen. Ich fühle mich versucht, dich selbst als Gefährtin zu erwählen.«
Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, und wandte mit hämmerndem Herzen den Blick ab. Ich! Eine unbefähigte Frau! Gefährtin der Ersten Stimme!
Aber es war nicht nur Ehrgeiz, der ihren Puls rasen ließ. Sie atmete langsam ein und zwang sich, ruhiger zu werden.
»Ich… fühle mich geschmeichelt«, sagte sie. »Es wäre eine große Ehre für mich.«
Er lachte leise. »Imenja ist fest entschlossen, dich zu behalten, und sie wird dich zu den Elai mitnehmen. Ich werde mir jemand anderen suchen müssen, der mir offen die Meinung sagt, wenn ich sie hören will.« Er ging auf sie zu und streckte die Hand aus. Sie nahm sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen, aber er trat nicht zurück, um ihr Platz zu machen. Als sie ihm so nahe stand, dass sie die Wärme seines Atems auf ihrem Gesicht spüren konnte, lächelte er. »Ich danke dir dafür, dass du deine Überlegungen mit mir geteilt hast.«
Die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Sie nickte und wich bewusst seinem Blick aus. Ihr Herz schlug abermals schneller, aber diesmal war sie außerstande, die Fassung zurückzugewinnen. Er strich ihr sachte über die Wange.
»Ich werde dich nicht länger aufhalten. Gute Nacht, Reivan.« Dann ließ er ihre Hand los und durchquerte den Raum. Er öffnete die Tür, blieb noch einmal stehen, um sie anzulächeln, und trat hinaus.
Als die Tür sich geschlossen hatte, stieß Reivan langsam den Atem aus, den sie, ohne es zu wissen, angehalten hatte. Es besteht nicht die geringste Chance, dass er nicht weiß, welche Wirkung er auf mich hat, dachte sie. Seine Worte entlockten ihr noch im Nachhinein ein ironisches Lachen. »Ich danke dir dafür, dass du deine Überlegungen mit mir geteilt hast.« Hatte er einen Scherz gemacht?
Sie seufzte und setzte sich. Wie groß sind die Chancen, dass ich diese Vernarrtheit überwinde, während ich fort bin? Gewiss dürften einige Monate auf See genügen, um wieder zu Verstand zu kommen.
Das kann ich nur hoffen, dachte sie. Oder diese Angelegenheit wird mir das Leben im Sanktuarium sehr, sehr ungemütlich machen.
Ich muss verrückt sein, ging es Mirar durch den Kopf, als er sich an dem Seil hinabgleiten ließ. Mir hätte klar sein müssen, dass Auraya hierherkommen würde, sobald sie von der Herzzehre erfahren hatte. Ich hätte fortgehen sollen, bevor sie hier ankam.
Aber hättest du das wirklich getan?, fragte Leiard.
Mirar runzelte die Stirn. Es hätte bedeutet, dass ich die Siyee hätte im Stich lassen müssen. Jene, die nicht gegen die Krankheit kämpfen können, wären ohne meine Hilfe gestorben.
Ja. Deshalb bist du auch geblieben, nachdem sie hier erschienen ist.
Ich wäre ohnehin nicht weit gekommen. Sie hätte mich gefunden. Und wenn ich vor ihrer Ankunft aufgebrochen wäre, hätte sie Geschichten über einen Traumweber gehört und sich auf die Suche nach mir gemacht.
Sie hätte zu viel zu tun gehabt, die Siyee zu heilen, um nach dir Ausschau zu halten, warf Leiard ein. Geradeso, wie sie auch jetzt noch zu beschäftigt wäre, um dir zu folgen. Warum bleibst du also?
Mirar seufzte. Der Schaden war bereits angerichtet. Auraya muss gleich bei unserer ersten Begegnung bemerkt haben, dass mein Geist beschirmt ist. Sie hätte in jedem Fall Verdacht geschöpft.
Das hat sie aber nicht getan. Sie war verwirrt, aber nicht argwöhnisch. Deine Erklärung hat sie zufrieden gestellt. Sie versteht die Bedeutung der Gedankenabschirmung nicht.
Entweder die Götter haben es ihr nicht gesagt, oder sie versteht sich darauf, ihren Verdacht gut zu verbergen.
Warum sollte sie das tun?
Weil sie mich braucht. Sie weiß nur, dass ich imstande bin, meine Gedanken zu verbergen.
Und dass du mit Magie heilen kannst, wie es nur Unsterbliche vermögen. Warum hast du ihr das offenbart?
Wenn ich es nicht getan hätte, wäre mir nichts anderes übriggeblieben, als jemanden sterben zu lassen. Und auch in diesem Fall hat die Heilung sie anscheinend lediglich erstaunt, nicht erschreckt. Ich glaube, dass sie auch die Bedeutung dieses Umstands nicht versteht.
Aber die Götter verstehen es.
Ja. Doch sie wissen nur, dass ich ein Traumweber bin, der zufällig über genug Macht verfügt, um mit Magie zu heilen. Sie wissen nicht, ob ich auch gelernt habe, meinen Alterungsprozess aufzuhalten. Wenn ich mich so benehme, als hätte ich etwas zu befürchten, werden sie erraten, dass ich mehr weiß, als ich sollte. Das ist der Grund, warum ich nicht fortgehen kann. Er zog sich wieder an dem Seil hoch.
Sie werden es nicht riskieren, sich darauf zu verlassen, dass du kein Unsterblicher geworden bist, warnte Leiard ihn. Sie warten lediglich auf einen günstigen Zeitpunkt. Im Augenblick bist du ihnen von Nutzen, aber sobald die Siyee in Sicherheit sind, werden die Götter dich töten lassen.
Von wem? Auraya? Es wäre ein wenig viel verlangt, ihre neueste Weiße darum zu bitten, ihren ehemaligen Geliebten zu töten, meinst du nicht auch?
Du gehst ein ungeheures Risiko ein. Wenn sie um deine wahre Identität wüsste, würde sie nicht zögern, dich zu töten.
Und ich bin nicht dumm genug, es ihr zu erzählen. Ebenso wenig wie ich dumm genug bin, länger hierzubleiben als unbedingt notwendig. Sobald die Siyee genesen sind, werde ich fortgehen.
Reet stand wie immer auf der nächsten Plattform bereit und wartete auf Mirar. Als dieser sein Ziel erreichte, trat der Junge vor, um ihm aufzuhelfen.
Plötzlich wandte Reet sich ab und stieß einen heiseren Laut aus. Mirar legte ihm die Hand auf die Schulter und spürte, wie der Husten den Jungen schüttelte.
»Geh hinein und ruh dich aus.«
Reet verzog das Gesicht. »Wenn ich mich hinlege, werde ich vielleicht nicht wieder aufstehen.«
»Das wird in jedem Fall geschehen, wenn du dich nicht ausruhst.«
»Wer wird nach den Leuten sehen? Wer wird Auraya deine Nachrichten überbringen?«
»Es gibt noch andere Siyee, die gesund genug sind, um diese Aufgabe zu übernehmen. Und nun lass uns mal sehen, wie es deinem Bruder geht.«
»Ihm geht es besser«, erklang eine Stimme aus der Laube.
Reets Mutter lehnte am Eingang der Laube. Mirar schüttelte den Kopf und ging auf sie zu.
»Du solltest ebenfalls im Bett liegen«, erklärte er.
»Du hast gesagt, ich sei auf dem Weg der Genesung«, erwiderte sie.
»Aber das wird seine Zeit brauchen.«
»Irgendjemand muss den Jungen zu essen geben.«
Er griff nach ihrem Arm und führte sie zurück in die Laube, wo er ihr half, wieder ins Bett zu steigen. Als sie sich niedergelegt hatte, ließ er Reet bei ihr zurück und ging in den Nebenraum. Auf einer Seite hingen zwei Schlingenbetten, von denen eines leer war. Der Junge, der in dem anderen lag, schlief; seine Atmung ging langsam und ungehindert, und seine Haut war bleich, aber nicht bläulich.
Es scheint, als hätte dein zukünftiger Schüler die Krankheit überwunden, bemerkte Leiard.
Ja, erwiderte Mirar. Er drehte sich um und rief nach Reet.
Reet kam hastig herbeigeeilt und sah seinen Bruder ängstlich an.
»Er hat die Herzzehre besiegt«, erklärte Mirar. »In einigen Tagen wird er sich wieder so weit erholt haben, dass er aufstehen kann.« Er deutete auf das leere Bett. »Jetzt bist du an der Reihe. Ruh dich aus.«
Reet zögerte, dann kletterte er widerstrebend in die Schlinge. Mirar trat einen Schritt näher an Tyve heran und tat so, als untersuche er den schlafenden Jungen, während er in Wirklichkeit dessen Bruder beobachtete. Reet seufzte und hustete ein wenig, dann verlangsamte sich seine Atmung, und er sank in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.
»Hat Reet sich angesteckt?«
Mirar zuckte zusammen. Er sah zu Tyve hinüber und stellte fest, dass der Junge ihn beobachtete.
»Du brauchst keine Angst um ihn zu haben«, murmelte er. »Ich werde dafür sorgen, dass er sich erholt.«
Tyve nickte. Er schloss die Augen, und ein schwaches Lächeln glitt über seine Züge. »Ich weiß.«
»Du hast das Schlimmste überwunden«, fuhr Mirar fort.
»Ich bin so müde. Wann werde ich wieder fliegen können?«
»In einigen Tagen kannst du anfangen, die Muskeln in deinen Armen wieder aufzubauen.«
Leichte Schritte lenkten Mirars Aufmerksamkeit auf den Eingang des Raums. Die Mutter der Jungen war mit einer Schale Wasser eingetreten. Er seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was muss geschehen, um dich dazu zu bringen, im Bett zu bleiben?«
»Wie lange ist es her, dass Reet das letzte Mal etwas gegessen hat?«, hielt sie dagegen.
Gewissensbisse stiegen in ihm auf; er konnte die Frage nicht beantworten. Sie blickte ihm forschend ins Gesicht und nickte.
»Das habe ich mir gedacht. Die Weiße Dame hat Essen und frisches Wasser gebracht. Wie ich höre, ist sie keine so gute Heilerin wie du, aber sie kann fliegen. Das ist… nützlich.«
Mirar nahm ihr die Schale ab. »Woher weißt du, was die Leute im Dorf reden?«, fragte er. Er machte sich Sorgen, dass die Menschen einander heimlich besuchten.
»Reet hat neben den Nachrichten für dich auch Klatsch und Tratsch mitgebracht.«
Er lachte leise und wandte sich wieder zu Tyve um. Der Junge griff nach der Schale und trank sie hastig leer. Das Wasser schien ihm ein wenig Kraft zu geben.
»Wie kommt es, dass du Auraya schon früher gekannt hast?«, erkundigte sich Tyve.
»Das ist etwas, das ich lieber für mich behalten möchte«, antwortete Mirar.
Tyve zog die Augenbrauen hoch und runzelte dann die Stirn. »Du magst sie nicht.«
Mirar schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Das ist nicht wahr.«
Er nahm die leere Schale entgegen und reichte sie Tyves Mutter. Sie ging fort, um sie wieder aufzufüllen.
»Dann hasst du sie also?«
»Nein.«
Bist ziemlich neugierig, wie?, bemerkte Leiard.
»Was hältst du denn von ihr?«
Mirar zuckte die Achseln. »Sie ist eine tüchtige Frau. Mächtig. Intelligent. Mitfühlend.«
Tyve verdrehte die Augen. »Das meinte ich nicht. Wenn du sie nicht hasst, was empfindest du dann für sie?«
»Weder Freundschaft noch Feindseligkeit. Ich nehme an, ich empfinde Respekt.«
»Dann magst du sie also doch?«
»Wenn ›Respekt‹ gleichbedeutend mit ›mögen‹ ist, dann dürfte das wohl zutreffen.«
Tyve schnalzte unbefriedigt mit der Zunge und wandte den Blick ab. Dann wurden seine Augen schmal. »Wenn ich dein Schüler wäre, würde ich dann die Welt bereisen?«
Mirar lachte. »Wer sagt, dass du mein Schüler werden wirst?«
»Noch niemand. Aber wenn ich es wäre, würde ich dann wichtige Leute wie Auraya kennen lernen?«
»Ich hoffe nicht.«
Der Junge zog die Brauen zusammen. »Warum würdest du das nicht wollen?«
»Wichtige Leute sind immer entweder von Sorgen geplagt oder selbst der Quell für Streitigkeiten. Halte dich von ihnen fern.«
Du hörst dich schon genauso an wie ich, warf Leiard ein.
Tyves Augen leuchteten auf. »Ist es das, was dir widerfahren ist? Hat Auraya dich irgendwie in Schwierigkeiten gebracht?«
Mirar machte einen Schritt auf die Tür zu. »Das geht dich nichts an. Ich hoffe, dass du, wenn du deine Stärke zurückgewinnst, auch den Respekt gegenüber Älteren und Besuchern wiederfindest, Tyve. Anderenfalls befürchte ich, dass du dich in eine schamlose Klatschbase verwandeln wirst.« Er wandte sich ab und ging zur Tür, dann hörte er Tyves Bett knarren, als der Junge sich aufrichtete.
»Aber…«
Mirar blickte über seine Schulter, legte einen Finger auf den Mund und sah bedeutungsvoll zu dem schlafenden Reet hinüber. Tyve biss sich auf die Unterlippe, dann ließ er sich mit einem Seufzen wieder in sein Bett sinken.
Im Nebenzimmer traf Mirar auf die Mutter der Jungen.
»Du hast recht«, sagte er. »Tyve geht es besser. Ich befürchte allerdings, dass du deine liebe Not haben wirst, ihn im Bett zu halten. Versuche, ihn am Fliegen zu hindern, bis er wieder ganz bei Kräften ist.«
Sie nickte. »Und Reet?«
»Du solltest ihn genau beobachten.«
»Das werde ich tun.« Sie ging mit der frisch aufgefüllten Schale an ihm vorbei.
Mirar verließ die Laube und trat auf die Schlinge zu. Er hielt jedoch noch einen Moment lang inne, um darüber nachzudenken, wer gesund genug war, um Reet als Boten zu ersetzen. Plötzlich hörte er hinter sich den dumpfen Aufprall von Füßen auf Holz. Er drehte sich um und erblickte Auraya.
»Lei… Wilar«, sagte sie. »Sprecher Veeces Zustand verschlechtert sich wieder. Er braucht deine Hilfe.«
Mirar war gleichzeitig entsetzt und erfreut. Ihre Neuigkeiten beunruhigten ihn, andererseits war er sich nicht sicher, warum er glücklich darüber war, dass sie ihn aufgesucht hatte. Vielleicht nur deshalb, weil sie damit eingestand, dass er über größere Fähigkeiten verfügte als sie.
Nein, sagte Leiard. Das ist nicht der Grund. Du bist eitel, aber nicht so eitel. Du freust dich darüber, dass sie dir nicht länger ausweicht. Du magst sie.
»Dann sollte ich wohl besser aufbrechen«, murmelte er. Während er sich die Schlinge umlegte, überlegte er, auf welchem Weg er am schnellsten zu der Plattform des Sprechers gelangen würde. Dann wurde ihm klar, dass Auraya ihn immer noch beobachtete.
»Ich werde dich dort treffen«, sagte er.
Sie nickte, ging zum Rand der Plattform und schwang sich in die Luft. Obwohl sie es nicht nötig gehabt hätte, ahmte sie den anmutigen Flug der Siyee nach und erreichte die Laube des Sprechers binnen weniger Augenblicke. Sie bewegte sich so mühelos, so natürlich, dass er ein Echo seiner früheren Bewunderung für sie nicht unterdrücken konnte.
Es ist nicht deine Bewunderung, korrigierte ihn Leiard. Dieses Gefühl ist das meine.
Ich habe sie ebenfalls bewundert, gab er zurück. Nur dass meine Bewunderung nicht groß genug war, um mich in einen liebeskranken Narren zu verwandeln.
Er stieß sich von der Plattform ab und zog sich zur nächsten hinüber. Schon bald war er außer Atem vor Anstrengung. Seine Hände schmerzten, wo er sie sich an dem rauen Seil wundgerieben hatte.
Es ist immer noch besser, als Tag und Nacht irgendwelche Seile hinauf- und wieder hinunterzuklettern, bemerkte Leiard.
Als Mirar die nächste Plattform erreicht hatte, streifte er die Schlinge ab und ging zu einem anderen Seil hinüber, bevor er sich auf eine kleinere Plattform hinabsinken ließ. Von dort aus war es schwieriger, zum Haus des Sprechers zu gelangen. Auraya beobachtete ihn, was ihm nur umso bewusster machte, wie unbeholfen und plump er wirken mochte. Schließlich legte er sich die dritte Schlinge um und zog sich daran entlang.
Plötzlich bewegte sich die Schlinge aus eigenem Antrieb. Als er aufblickte, sah er Auraya mit ausgestreckter Hand auf der Plattform vor ihm stehen.
Sie bewegt dich mit Hilfe von Magie. Warum bist du eigentlich nicht selbst auf diese Idee gekommen?, fragte Leiard.
Ich habe befürchtet, die Seile könnten Schaden nehmen, wenn ich mich um ein zu großes Tempo bemühe, erwiderte Mirar. Das weißt du genau.
Ob du dich schnell oder langsam bewegst, die Abnutzung der Seile wäre dieselbe, wandte Leiard ein. Ich weiß, dass du das weißt.
Mirar runzelte finster die Stirn. Du hast gewonnen. Daran habe ich nicht gedacht. Ich bin ein Idiot. Zufrieden?
Als er sich der Plattform näherte, stellte er fest, dass Auraya lächelte. Er spürte ein eigenartiges Ziehen im Magen.
Sie ist wundervoll, murmelte Leiard.
Fang nicht schon wieder damit an, warnte ihn Mirar.
Dann berührten seine Füße die Plattform, und Auraya half ihm aus der Schlinge. Ihr Lächeln war erloschen, und an seine Stelle war ein Ausdruck der Sorge getreten.
»Sein Körper kann einfach nicht dagegen ankämpfen«, sagte sie. »Dies könnte eine jener Gelegenheiten sein, bei der du zu deinem letzten Mittel greifen musst, von dem du gesprochen hast.«
Er nickte. »Ich bin deiner Meinung.«
»Ich…« Sie hielt inne, dann schüttelte sie den Kopf.
Er wandte sich zu ihr um. »Was ist?«
Sie schüttelte abermals den Kopf und seufzte. »Ich muss die Frage stellen. Wenn ich an die vielen Menschenleben denke, die dadurch gerettet werden könnten, kann ich einfach nicht zulassen, dass… andere Dinge… mir im Weg stehen.« Sie drückte die Schultern durch. »Würdest du mich lehren, wie man eine Krankheit in einem Körper töten kann?«
Er starrte sie an. Sie hielt seinem Blick stand.
Sie kann nicht um die Bedeutung des Heilens wissen, überlegte er.
Nein, sie muss denken, dass sie darum bittet, in eins der größten Geheimnisse der Traumweber eingeweiht zu werden, sagte Leiard. Ich glaube, sie würde es verstehen, wenn du ihre Bitte ablehnst.
Ja, stimmte Mirar ihm zu. Aber kann ich das tun? Wenn ich an die Zukunft denke… Die Zirkler werden hier in Si bleiben, ob es mir gefällt oder nicht. Es gibt nur einen wie mich auf der Welt, und mir steht es nicht frei, hinzugehen, wo immer ich benötigt werde. Sie hat recht, dass sie viele Menschenleben retten könnte. Außerdem würde ich nicht mehr über mich enthüllen, als sie bereits weiß.
Aber die Götter werden es gewiss nicht zulassen!
Warum nicht? Sie ist bereits unsterblich. Er hielt inne. Sie müssen über andere Möglichkeiten verfügen, um ihr die Bürde des Alterns abzunehmen. Wenn sie der Zeit trotzen kann, wie wir Unsterblichen es tun, dann sollte sie bereits imstande sein, mit Magie zu heilen.
Wenn sie ihre Unsterblichkeit auf anderem Weg erlangt hat als wir, kannst du nicht davon ausgehen, dass sie in der Lage ist, mit Magie zu heilen, erklärte Leiard. Vielleicht ist das der Grund, warum die Götter ihr diese Gabe nicht bereits geschenkt haben. Was eigenartig ist. Es müsste doch ein großer Vorteil für eine Weiße sein, Menschen heilen zu können. Vielleicht gibt es einen Grund, warum die Götter es nicht wollen, und wenn du Auraya in dieser Kunst unterweist, könnte es die Götter erzürnen und…
Auraya runzelte jetzt die Stirn. Ihm wurde klar, dass er sie lange Zeit angestarrt hatte, und er wandte den Blick ab.
»Ich… ich werde darüber nachdenken«, erklärte er.
Sie nickte. »Vielen Dank.«
Dann wandte sie sich der Laube zu und führte ihn hinein zu Sprecher Veece.
Der Besuch in Aime war für sie als Heilerin recht profitabel gewesen. Emerahl hatte nicht erwartet, dass es so sein würde, da es dort reichlich Priester gab. Außerdem war der Tempel nicht weit vom Markt entfernt, und sie hatte sogar einige Traumweber in der Stadt gesehen. Anscheinend waren jedoch nur wenige von ihnen Frauen. Ihre Kunden waren Frauen aller Altersklassen gewesen, die zu scheu oder zu verlegen waren, um mit ihren persönlichen Beschwerden zu einem männlichen Heiler zu gehen.
Sie hatte den Hafenmeister von dem Gerinnsel in seinem Bein befreit, wo Narbengewebe den Blutfluss gehemmt hatte, und der Mann war ihr so dankbar gewesen, dass er ihr ein Zimmer vermietet hatte. Nach einigen Tagen war ihre Börse schwer von Münzen gewesen, aber der Mond hatte abgenommen und war als dünne Sichel wieder aufgetaucht, und sie hatte aufbrechen müssen, um es rechtzeitig zurück zum Hort zu schaffen.
In der vergangenen Nacht hatte ein Sturm sie gezwungen, in einer Bucht Zuflucht zu suchen. Sie war groß genug, um Platz für ein ansehnliches Fischerdorf zu bieten, wo Emerahl sich ein Zimmer gemietet hatte. Sie war gerade auf dem Rückweg zu ihrem Boot, als jemand an ihrem Ärmel zupfte.
Sie drehte sich um und erwartete, einen Kunden vorzufinden. Der magere, schmutzige Junge in den gut geflickten Kleidern war nicht das, womit sie gerechnet hatte.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie, während sie sich bemühte, ihren Unwillen zu verbergen. Dies war offensichtlich ein Straßenkind, und es war zweifelhaft, ob es oder derjenige, in dessen Auftrag es an sie herangetreten war, sie würde bezahlen können.
»Komm und sieh«, sagte er und zupfte weiter an ihrem Ärmel.
Sie lächelte. »Was soll ich sehen?«
»Komm und sieh«, wiederholte er mit einem unnatürlichen Glanz in den Augen.
Alles, was sie von ihm wahrnehmen konnte, war ein Gefühl äußerster Dringlichkeit und Entschlossenheit.
»Ist jemand verletzt?«, fragte sie.
»Komm und sieh.« Er zog noch immer an ihrem Ärmel. Sie richtete sich auf. Er war vielleicht ein zurückgebliebenes Kind, das jemand auf die Suche nach einem Heiler geschickt hatte. Der Beutel mit Medizinen an ihrem Gürtel war ein offenkundiger Hinweis auf ihr Gewerbe, den selbst ein unterentwickeltes Kind erkennen würde.
Sie nickte. »Also gut. Zeig mir den Weg.«
Er griff nach ihrem Arm und führte sie davon.
Es war nur gut, dass sie mit ihm ging. Wer immer das Kind geschickt hatte, hatte wahrscheinlich kein Geld, würde aber vielleicht eine andere Möglichkeit finden, sie zu entlohnen. In der Vergangenheit hatte sie ungezählte Male die Erfahrung gemacht, was geschah, wenn sich herumsprach, dass sie die Armen und Hilflosen ohne Entgelt behandelte: Ganze Horden kranker und armer Menschen fanden irgendwie den Weg zu ihr. Kurze Zeit später verlangten Kunden, die sie hätten bezahlen können, dass sie auch sie kostenlos heilte. Es spielte keine Rolle, wie klein oder groß die Stadt war, die Situation konnte binnen weniger Stunden schwierig werden.
Der Junge hatte sie in eine Gasse geführt, die so schmal war, dass Emerahl sich an manchen Stellen seitwärts hindurchzwängen musste. In den Hauseingängen sah sie hagere Gesichter und Augen, die sie aufmerksam beobachteten. Sie zog Magie in sich hinein und umgab sich mit einer leichten Barriere.
Kurze Zeit später kamen sie in eine andere Gasse. Der Junge zog sie hinter sich her, und sie gingen mehrere Treppen hinunter. Eine breitere Straße folgte, dann standen sie auf grasbewachsenen Dünen, die sich an der Bucht entlangzogen. Er bog in einen Feldweg ein und steuerte, ohne ihren Arm loszulassen, auf eine felsige Landzunge zu.
Als sie näher kamen, nahm sie das Tosen des Meeres wahr. Der Junge führte sie von dem Trampelpfad weg und ließ ihren Arm los. Er eilte auf die Felsen zu und sprang von Stein zu Stein.
Hat sich jemand bei einem Sturz von diesem Felsen verletzt?, überlegte sie. Oder es könnte jemand ertrunken sein. Hoffentlich ist es nicht das. Manchmal verstanden es Menschen mit beschränkter Geisteskraft nicht, wenn jemand tot war. Sie glaubten dann, derjenige sei lediglich krank.
Der Junge drehte sich zu ihr um und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Seine Stimme war über dem Donnern der Brandung kaum zu hören.
»Komm und sieh.«
Sie beschleunigte ihre Schritte. Er wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte, bevor er weiterging. Die Felsen wurden größer und zerklüfteter. Emerahl brauchte fast ihre ganze Konzentration, um nicht auszurutschen. Das Tosen des Meeres wurde lauter. Als sie sich nach ihrer Schätzung etwa auf halbem Weg bis zum Ende der Landspitze befand, blieb der Junge plötzlich stehen und wartete auf sie.
Einige Schritte entfernt quoll ein Wasserstrahl aus dem Boden.
Er wuchs auf zweifache Mannshöhe an, schwebte eine Sekunde lang in der Luft und stürzte dann in eine breite Senke hinab, wo er durch eine Öffnung in den Felsen sickerte. Emerahl war verwirrt, und ihr Herz hämmerte.
Der Junge grinste breit. Er ging zu dem höchsten Felsbrocken und kletterte hinauf. Nachdem er sich gesetzt hatte, winkte er sie heran.
Ist das der einzige Grund, warum er mich hierhergebracht hat?, dachte sie.
»Komm herauf«, rief er.
Emerahl holte tief Luft, schob ihren Ärger beiseite und machte sich an den Aufstieg. Als sie oben ankam, lächelte er und klopfte auf den Felsen neben ihm.
»Setz dich, Emerahl.«
Sie hielt inne, starr vor Schreck darüber, ihren Namen zu hören, ebenso wie über die Erkenntnis, dass der Junge in einer lange ausgestorbenen Sprache gesprochen hatte. Als ihr dämmerte, wer er war, konnte sie ihn nur anstarren. Er sah lächelnd zu ihr auf. Seine unnatürlich leuchtenden Augen waren nicht die eines zurückgebliebenen Kindes, sondern die eines Geistes, der viel älter war, als sein Körper erschien.
»Bist du…?« Sie ließ ihre Frage bewusst unvollendet. Falls er nicht derjenige war, nach dem sie suchte, hatte es keinen Sinn, ihm einen Namen zu geben.
»Die Möwe?«, sagte er. »Ja. Möchtest du, dass ich es beweise?« Er legte die Hände zusammen und pfiff.
Einen Moment später schoss etwas an ihrem Ohr vorbei. Ein Seevogel verharrte flügelschlagend über den zusammengelegten Händen des Jungen, und Emerahl sah, wie das Tier einen Gegenstand aus seinen Krallen fallen ließ, bevor es sich wieder in die Luft schwang. Der Junge streckte die Arme aus. In seinen Händen lag eine Mondmuschel, an der ein Seil aus Altweiberhaar befestigt war. Er zupfte eine Strähne aus dem Gras und ließ sie dann vom Wind davontreiben.
Sie setzte sich.
»Wir dachten, du wärst tot«, sagte er.
Emerahl lachte. »Ich dachte, du seist tot. Warte… du hast ›wir‹ gesagt. Gibt es noch andere Unsterbliche aus dem vergangenen Zeitalter?«
»Ja.« Er wandte den Blick ab. »Ich werde nicht verraten, wer es ist. Es ist nicht an mir, das zu offenbaren.«
Sie nickte. »Natürlich.«
»Also, warum hast du dich mir offenbart?«
Während sie überlegte, wo sie beginnen sollte, atmete sie tief durch. »Ich habe den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts als Einsiedlerin gelebt. So wäre es noch immer, wenn nicht ein Priester beschlossen hätte, mir einen Besuch abzustatten. Ich habe mich davongestohlen und bin seither ohne Unterlass auf Reisen.«
»Die Zirkler haben dich gejagt«, sagte die Möwe.
Sie sah ihn überrascht an. »Ja. Woher weißt du das?«
»›Das Gerede der Seeleute verbreitet sich schneller als die Seuche‹«, zitierte er.
»Ah. Dann weißt du also, dass ich vor ihnen geflohen bin.«
»Ja. Sie haben dich in Porin verloren, etwa zu der Zeit, als die Nachricht von der Invasion der Pentadrianer kam. Wohin bist du anschließend gegangen?«
»Ich… äh… ich bin der torenischen Armee gefolgt.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Warum?«
»Ich habe mich einem Bordell angeschlossen. Das war zu der Zeit das beste Versteck.« Sie stellte fest, dass seine Miene weder Widerwillen noch Missbilligung zeigte. »Das Bordell ist hinter der torenischen Armee hergereist, und ich fand, dass dies eine gute Möglichkeit war, um unbemerkt aus der Stadt zu entkommen.«
Seine Augen leuchteten auf. »Hast du die Schlacht mit angesehen?« Er klang wissbegierig, ganz wie ein gewöhnlicher Junge, den die Vorstellung erregte, eine echte kriegerische Auseinandersetzung zu beobachten.
»Den größten Teil davon. Am Ende bin ich aufgebrochen, nachdem ich einem… alten Freund begegnet war. Bevor ich beschloss, nach dir zu suchen, war ich einige Zeit in Si.«
»Ein alter Freund, wie?« Er kniff die Augen zusammen. »Wenn du während des letzten Jahrhunderts als Einsiedlerin gelebt hast, muss dieser Freund wahrlich alt sein.«
»Vielleicht.« Sie lächelte. »Vielleicht ist es nicht an mir, das zu offenbaren.«
Er kicherte. »Interessant. Was für eine Ironie es doch wäre, wenn sich herausstellte, dass dieser Freund und mein Freund ein und derselbe wären.«
»Ja, aber das ist nicht möglich.«
»Nein? Dann sind also mehr als nur einige wenige von uns den Göttern entkommen.«
Emerahl nickte. »Auf unterschiedliche Weise.«
»Ja. Für mich war es einfach. Es war schon lange schwer, mich zu finden. Ich habe einfach dafür gesorgt, dass es noch schwerer wurde.«
Sie sah den Jungen an. »Und doch hast du nach mir gesucht.«
»Das ist wahr.«
»Warum?«
»Warum hast du nach mir gesucht?«
»Um herauszufinden, ob noch andere Unsterbliche überlebt haben – und wie. Um dir meine Hilfe anzubieten, solltest du sie jemals benötigen. Um festzustellen, ob ich dich jemals meinerseits um Hilfe würde bitten können.«
»Wenn du so lange überlebt hast, bezweifle ich, dass du meine Hilfe brauchen wirst«, sagte die Möwe leise.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht für den Rest der Ewigkeit wie eine Einsiedlerin leben.«
»Dann bist du also auf der Suche nach Gesellschaft.«
»Ja, ebenso wie nach den möglichen Vorteilen, die mächtige Freunde mit sich bringen.«
Er grinste. »Da bist du nicht die Einzige. Ich würde in dir gern einen meiner mächtigen Freunde sehen.«
Sie lächelte, und ihre Freude und Erleichterung waren größer, als sie erwartet hatte. Vielleicht bin ich nach all diesen Jahren, in denen ich allein gelebt habe, ein wenig einsam.
»Wie auch immer«, fuhr er mit plötzlich ernster Miene fort. »Ich kann nicht beurteilen, ob mein Freund einverstanden wäre. Wenn mein Freund sich dagegen ausspricht, werde ich seinen Rat befolgen. Ich schätze ihn sehr. Du musst seine Zustimmung finden. Anderenfalls…« Er grinste entschuldigend. »Anderenfalls dürfen wir nicht noch einmal miteinander sprechen.«
»Wie kann ich die Zustimmung dieses Freundes erringen?«
Der Junge schürzte die Lippen. »Du musst zu den Roten Höhlen in Sennon gehen. Wenn ein Tag verstreicht und du niemandem begegnet bist, ist die Zustimmung verwehrt worden.«
»Und wenn mir die Zustimmung gewährt wird?«
Er lächelte. »Wirst du meinem Freund begegnen.«
Sie nickte. Sennon befand sich auf der anderen Seite des Kontinents. Es würde Monate dauern, um dorthin zu gelangen.
»Du triffst dich nicht häufig mit deinem Freund, oder?«, fragte sie mit einem leicht ironischen Unterton.
»Nicht persönlich.«
»Wenn dein Freund einverstanden ist, wie werde ich mich dann wieder mit dir in Verbindung setzen?«
»Er wird dir sagen, wie.«
Sie lachte. »Ah, das ist alles so wunderbar rätselhaft. Ich werde tun, was du sagst.« Sie sah ihn an und seufzte. »Ich muss nicht sofort aufbrechen, oder? Wir können noch für ein Weilchen plaudern?«
Er lächelte und nickte, den Blick in die Ferne gerichtet. »Natürlich. Nur einen…«
Seine Worte wurden übertönt, als abermals Wasser aus dem Boden schoss. Als es herabstürzte, kicherte er.
»Die Einheimischen erzählen Besuchern, dieses Phänomen würde Lores Spucknapf genannt, aber in Wirklichkeit haben sie einen noch ungehobelteren Ausdruck für die Wasserfontänen.«
Emerahl prustete. »Ich kann’s mir vorstellen.«
»Sie gehen davon aus, dass diese Fontäne hier für alle Ewigkeit besteht. Aber irgendwann wird das Wasser den Felsen so weit ausgehöhlt haben, dass der in der Höhle darunter herrschende Druck nicht mehr ausreichen wird, um das Wasser hochschießen zu lassen. Früher einmal gab es in Genria eine Wasserfontäne, neben der sich diese hier geradezu winzig ausnimmt.«
»Ah, daran erinnere ich mich.« Emerahl runzelte die Stirn. »Was ist damit passiert?«
»Ein Zauberer dachte, er brauche das Loch nur zu vergrößern, um eine noch mächtigere Fontäne zu schaffen.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal fallen die größten Gaben den größten Narren zu.«
Emerahl dachte an Mirar und die Mätzchen, für die er berühmt war, und nickte. »Ja, das ist wahr.«
Auraya stieg in das Hängebett und blieb still liegen, bis es zu schaukeln aufhörte. Es war früh am Abend, aber die Hinweise darauf, dass das Dorf zum Leben erwachte, drangen trotzdem an ihr Ohr. Jene unter den Siyee, die wieder einigermaßen bei Kräften waren, nahmen ihre alten Tätigkeiten wieder auf. Im Wind flatterten frisch gewaschene Kleider. Kochgerüche durchzogen ihre Laube. Das Lachen von Kindern war zu hören.
Sie schloss die Augen und dämmerte langsam in den Schlaf hinüber.
Auraya.
Sofort waren ihre Augen weit geöffnet, und ihre Sehnsucht nach Schlaf war vergessen.
Chaia! Du warst tagelang fort.
Ich hatte zu tun. Genau wie du.
Ja. Ich denke, das Schlimmste ist vorüber. Wir haben diejenigen, deren Körper nicht gegen die Krankheit kämpfen können, von den anderen abgesondert. Sobald alle geheilt sind, werden wir ihnen gestatten, zu ihrem Stamm zurückzukehren. Es wird trotzdem die Gefahr bestehen, dass sie sich erneut anstecken, falls jemand, der die Krankheit in sich trägt, den Stamm besuchen sollte.
Du kannst nicht hierbleiben, nur für den Fall, dass das geschieht, warnte Chaia sie.
Ich weiß. Aber Leiard könnte bleiben.
War er schon hier, als du angekommen bist?
Ja. Sie hielt inne. Ich kann seine Gedanken nicht lesen. Wie ist das möglich?
Er blockt dich ab. Es ist eine sehr seltene Gabe.
Seine Fähigkeit zu heilen ist außerordentlich.
Ja. Er ist mehr, als er anfänglich zu sein schien. Auch diese Fähigkeit zu heilen ist selten.
Es ist ein Jammer, dass er nicht Priester geworden ist. Auraya schloss die Augen. Ein mächtiger Heilerpriester. Er hätte viel mehr Menschen helfen können. Ich habe ihn gebeten, mich diese Gabe des Heilens zu lehren. Bist du damit einverstanden?
Chaia antwortete nicht sofort, dann begann er leise, wieder zu sprechen.
Ich muss darüber nachdenken. Wie stehst du jetzt zu ihm?
Sie runzelte die Stirn.
Anders. Ich bin nicht mehr wütend. Er hat sich entschuldigt. Das hat mehr verändert, als ich erwartet hätte.
Inwiefern?
Ich weiß es nicht. Ich denke… ich denke, ich wünsche mir, dass wir Freunde sein können – oder dass wir zumindest in Verbindung bleiben werden.
Du fühlst dich immer noch zu ihm hingezogen.
Nein!
Oh doch. Das kannst du vor mir nicht verbergen.
Auraya verzog das Gesicht.
Dann muss es wahr sein. Macht es… macht es dir etwas aus?
Natürlich, aber du bist ein Mensch. Solange du Augen hast, wirst du andere Männer bewundern. Das bedeutet nicht, dass du ihnen nachstellen wirst.
Nein. Ich werde Leiard ganz gewiss nicht nachstellen. Das ist ein Fehler, den ich nicht noch einmal machen werde.
Gut. Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst. Und jetzt schlaf, Auraya, flüsterte Chaia. Schlaf und träum von mir.
Als das Zelt in sich zusammenstürzte, spürte Imi ein Flattern im Magen. Sie sog tief die Luft ein, dann atmete sie heftig wieder aus.
Ich bin auf dem Weg nach Hause!
Als ihre Aufregung sich legte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie ein wenig Bedauern verspürte. Die Pentadrianer waren so nett zu ihr gewesen. Wenn all die Zeit, die sie in der Ferne verbracht hatte, wie diese letzten Tage gewesen wäre, hätte sie nicht den Wunsch verspürt, sofort nach Hause zu gehen. Sie hatte so viele wunderbare neue Dinge entdeckt: köstliches Essen, hübsche Sachen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, hervorragende Musikanten und Schausteller. Im Vergleich dazu würde der Palast der Elai ihr alltäglich und langweilig erscheinen, aber sie vermisste ihren Vater, Teiti, die Wachen und die Kinder, mit denen sie spielte.
Imenja wandte den Dienern, die das Zelt jetzt sorgfältig zusammenfalteten, den Rücken zu und kam durch den Hof zu Imi herüber.
»Bist du so weit?«
Imi nickte. »Ja.«
»Du hast all deine Sachen?«
Imi deutete auf die kleine Kiste zu ihren Füßen. Darin befanden sich die Geschenke, die sie von Imenja und Nekaun bekommen hatte. »Ich habe alles dort hineingepackt.« Sie bückte sich, um die Kiste aufzuheben, aber Imenja hinderte sie daran.
»Nein, du bist eine Prinzessin. Du solltest dein Gepäck nicht tragen müssen.« Sie blickte zu Reivan auf, die lächelnd nach der Kiste griff. Wie Reivan verstand, was Imenja wollte, konnte Imi nicht sagen. Manchmal fragte sie sich, ob die beiden sich mit einer wortlosen Gestensprache verständigten.
Imenja drehte sich zu einer Tür in der Nähe um. »Lasst uns aufbrechen.«
Viele Flure und Treppen folgten. Die meisten führten zu Imis Erleichterung hügelabwärts. Obwohl sie inzwischen viel stärker war, ermüdete sie schnell. Sie kamen durch einen großen Innenhof und von dort aus in eine Halle voller schwarzgewandeter Männer und Frauen. Hinter den Bogen in der gegenüberliegenden Wand konnte sie viele Häuser von Landgehern sehen. Sie konnte Stimmen hören – sehr viele Stimmen. Draußen musste sich eine große Menge eingefunden haben.
Sie wandte sich von dem Spektakel ab. Ein vertrauter Mann in schwarzen Roben kam auf sie zu.
»Prinzessin Imi«, sagte Nekaun. »Es war mir eine Ehre, dich in unserem Sanktuarium zu Gast zu haben.«
Sie schluckte und dachte hastig nach. »Erste Stimme der Götter, Nekaun. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft und dafür, dass ihr mich gerettet habt.«
Er lächelte mit blitzenden Augen, und ohne den Blick abzuwenden, winkte er die Leute hinter sich heran. Zwei Männer, die eine große Truhe trugen, traten vor. Sie stellten die Truhe neben Imi, dann zogen sie sich zurück.
»Das ist ein Geschenk für deinen Vater«, erklärte Nekaun. »Wirst du es in seinem Namen annehmen?«
»Ja«, sagte sie, musterte die Truhe und fragte sich, was darin sein mochte. »Ich werde dafür sorgen, dass er sie bekommt.«
Nekaun deutete auf die Truhe. Imi blinzelte, als der Deckel sich von selbst öffnete. Nein, mit Hilfe von Magie, korrigierte sie sich. Er kann Magie benutzen, genau wie Imenja.
Als sie sah, was in der Truhe lag, vergaß sie alles andere. Goldene Kelche und Krüge, feines, leuchtend buntes Tuch, Behältnisse mit den süßen getrockneten Früchten, für die sie eine solche Leidenschaft entwickelt hatte, außerdem wunderschöne Glasflaschen, die voller Parfüm sein mussten, wie die Düfte verrieten, die aus der Truhe kamen.
»Vielen Dank!«, flüsterte sie, bevor sie sich wieder zu Nekaun umwandte und den Rücken durchdrückte. »Ich nehme das Geschenk an und danke dir im Namen von König Ais von den Elai.«
Er nickte förmlich. »Möge deine Heimreise schnell sein, das Meer sanft und das Wetter schön. Mögen die Götter dich behüten und bewahren.« Er bewegte die Hände über die Truhe und zeichnete das Muster in die Luft, das Imenja einen »Stern« nannte, und die übrigen Pentadrianer folgten seinem Beispiel. »Leb wohl, Prinzessin Imi. Ich hoffe, dass ich dich irgendwann wiedersehen werde.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte sie.
Er deutete auf die beiden Männer, die die Truhe anhoben. »Ich werde euch zu den Sänften begleiten.«
Zwischen Nekaun und Imenja ging sie auf die überwölbten Öffnungen zu. Als sie aus dem Gebäude ins Freie traten, hielt sie den Atem an.
Eine breite Treppe führte hinunter zu einer großen Menschenmenge. Sie standen zwischen den Häusern, ein endloses Meer von Gesichtern. Als Nekaun, Imenja und Imi erschienen, brachen die Menschen in Jubel aus und winkten, und ihre Stimmen schwollen zu einem Tosen an, das gleichzeitig erregend und erschreckend war. Imi hatte noch nie zuvor so viele Menschen an einem einzigen Ort gesehen.
Sie zögerte, dann zwang sie sich, weiter die Treppe hinunterzugehen. Vor der untersten Stufe standen barbrüstige Landgeher neben einer glitzernden, mit Kissen bedeckten Plattform. Imenja lächelte Imi zu und schob sie auf die Plattform hinauf. Nekaun blieb auf der Treppe stehen.
Die barbrüstigen Männer bückten sich, um nach den Stäben zu greifen, die aus den Seiten der Plattform herausragten. Ein anderer Mann blaffte einen Befehl, und die Plattform hob sich. Imi klammerte sich an den Seiten fest. Obwohl die Männer sich geschmeidig und gleichmäßig bewegten, beunruhigte es sie, so weit über dem Boden getragen zu werden.
Jetzt kamen zwei Reihen schwarzgewandeter Männer und Frauen die Treppe herunter und gingen zu beiden Seiten an der Plattform vorbei. Die Menge teilte sich, um die Männer durchzulassen, die Imenja und Imi die Straße hinuntertrugen. Imi drehte sich nach Nekaun um, der zum Abschied eine Hand gehoben hatte.
Als sie ebenfalls die Hand heben wollte, flogen mit einem Mal bunte Gegenstände um sie herum. Sie zuckte zusammen, dann lachte sie erfreut auf, als duftende Blütenblätter auf die Plattform herabregneten.
»Tun sie das immer?«, fragte sie, während sich zu ihren Füßen weitere Blätter sammelten.
»Das kommt auf das Ereignis an«, antwortete Imenja. »Die Menschen versammeln sich gern hier, wenn sie wissen, dass die Chance besteht, eine der Stimmen zu sehen, insbesondere Nekaun. Aber Blumen bekommen wir bei solchen Anlässen nicht. Die werfen sie dir zu Ehren.«
»Warum?«, fragte Imi, geschmeichelt und erstaunt gleichermaßen.
»Du bist eine Prinzessin. Es ist eine Tradition, einen großen Wirbel um Adlige zu machen. In vergangenen Zeiten erwartete man von einem Monarchen und seiner Familie, dass sie die Geste erwiderten, indem sie Münzen warfen, aber diese Tradition endete, als vor fast einem Jahrhundert der letzte avvensche König starb.«
»Ihr habt keinen König?«
Imenja schüttelte den Kopf. »Seither nicht mehr. Der König hatte keine Erben, und das Volk hat sich entschieden, dass statt eines Königs in Zukunft die Stimmen herrschen sollten. Wir herrschen auch in Mur weiter oben im Norden, durch einen Ergebenen, den die ortsansässigen Götterdiener wählen. In Dekkar, das südlich von hier liegt, folgen die Menschen noch immer einem Hochfürsten – obwohl sein Nachfolger von den Göttern ausgewählt wird, nicht durch Fortsetzung der direkten Linie.«
»Wie teilen die Götter den Menschen mit, welchen Mann sie ausgewählt haben?«
»Die Kandidaten müssen sich Prüfungen unterziehen, in denen ihre Tüchtigkeit, ihre Ausbildung und ihre Eignung zum Anführer ermittelt werden. Derjenige, der alle Prüfungen besteht, wird zum Hochfürsten.«
»Also sorgen die Götter dafür, dass derjenige, den sie bevorzugen, die Prüfungen besteht.«
Imenja nickte. »Ja.«
»Warum bin ich noch nie auf den Gedanken gekommen, danach zu fragen?«, sagte Imi. »Man sollte meinen, eine Prinzessin würde dergleichen Dinge wissen. Ich nehme an, ich bin keine gute Prinzessin.«
»Du bist eine wunderbare Prinzessin«, erwiderte Imenja lächelnd. »Man hat dich nur deshalb nicht gelehrt, derartige Fragen zu stellen, weil dein Vater nicht damit gerechnet hat, dass du jemals in eine solche Situation geraten würdest.«
Bei dem Gedanken an ihren Vater verzog Imi das Gesicht. »Er wird so wütend auf mich sein.«
Imenjas Lächeln wurde breiter. »Warum?«
»Weil ich Regeln gebrochen und mich in Schwierigkeiten gebracht habe.«
»Ich glaube nicht, dass ihn das auch nur im Geringsten interessieren wird. Wenn er dich sieht, wird er einfach glücklich darüber sein, dich zurückzuhaben.«
Imi seufzte. »Ich werde auch glücklich sein, wenn ich wieder zu Hause bin. Es macht mir nichts aus, wenn ich in meinem Zimmer bleiben oder ein Jahr lang zusätzliche Unterrichtsstunden nehmen muss, ich werde nie wieder eine Regel brechen.«
Die Plattform drehte sich. Imi sah, dass sie in eine andere Straße getragen wurden. In der Ferne konnte sie das Meer und die winzigen Umrisse von Schiffen erkennen. Ein weiterer Blütenregen ging auf sie nieder, und ihr wurde leichter ums Herz.
Ich wünschte, Vater könnte all das sehen, dachte sie. Dann würde er seine Meinung über die Landgeher vielleicht ändern. Sie sind nicht alle schlecht. Plötzlich lächelte sie. Wenn er Imenja kennen lernt, wird er das selbst erfahren.
Gerade als Auraya landete, trat Sprecher Veece aus der Laube.
»Ich danke dir, Auraya von den Weißen«, sagte er, als sie ihm Wasserschläuche und Körbe mit Früchten, kaltem Fleisch und Brot reichte.
Sie lächelte. »Nach all der Arbeit, die wir aufgewandt haben, können wir nicht zulassen, dass du uns verhungerst.« Helles Sonnenlicht fiel auf die Plattform und die Laube, so dass es schwer wurde, etwas in dem düsteren Innern der Behausung zu erkennen. »Wie geht es den anderen?«
»Gut. Wilar meint, wir seien alle geheilt. Wir müssen allerdings warten, bis der Rest des Dorfes sich ebenfalls erholt hat, bevor wir uns hinauswagen dürfen, und wir müssen im Dorf bleiben und allen Besuchern aus dem Weg gehen, bis die Krankheit aus Si vertrieben ist.«
»Er hat recht.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist schwer, Geduld zu haben, aber du kannst dir sicher sein, dass die Krankheit euch töten würde, sollte einer von euch sich noch einmal anstecken. Ihr müsst vorsichtig sein, vor allem Besuchern gegenüber.«
Er seufzte und nickte. »Das werden wir. Wie du schon sagtest, wir wollen nicht, dass all eure Bemühungen vergeudet waren.« Er ging an den Rand der Plattform und blickte zu den anderen Lauben hinüber. »Ihr habt uns gerettet, du und Wilar. Wir stehen in eurer Schuld.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ihr schuldet mir nichts. Ich…«
Auraya?
Priester Magen?
Ich bin es. Wie ergeht es dem Stamm vom Nordfluss?
Sie erholen sich gut.
Ich habe soeben schlechte Nachrichten bekommen. Die Siyee haben drei kranke Kinder zu mir gebracht. Alle haben Herzzehre. Anscheinend sind sie von ihren kranken Freunden besucht worden, denjenigen, die wir direkt außerhalb des Offenen Dorfs isoliert haben, und sie haben sich angesteckt. Ich befürchte, dass sie die Krankheit noch weiter verbreitet haben.
Auraya seufzte.
Dann sollte ich besser zurückkehren.
Du wirst vielleicht einen kleinen Umweg machen wollen, fügte er hinzu. Gerade eben ist ein Siyee vom Nordwaldstamm eingetroffen. Er hat berichtet, dass auch sein Stamm erkrankt ist. Ich konnte bisher noch nicht feststellen, ob es sich um die gleiche Krankheit handelt oder nicht.
Das ist es, was ich befürchtet habe. Also gut. Ich werde diesen Stamm auf dem Rückweg besuchen. Werdet ihr beide, du und Danien, mit dem Ausbruch der Krankheit im Offenen Dorf fertigwerden?
Wir werden es versuchen.
Ich danke dir, Magen.
Sie wandte sich wieder Sprecher Veece zu und brachte ein grimmiges Lächeln zustande. »Ich muss fortgehen«, sagte sie. »Die Krankheit ist abermals im Offenen Dorf aufgetaucht, und sie hat sich auch im Nordwaldstamm ausgebreitet.«
Der alte Mann erbleichte. »Was wirst du tun?«
»Mit Leiard reden – ich meine Wilar. Ich werde zurückkehren.«
Sie drehte sich um und sprang von der Plattform. Während sie nach Leiard Ausschau hielt, sandte sie einen geistigen Ruf aus.
Juran?
Auraya. Wie geht es den Siyee?
Der Stamm vom Nordfluss ist beinahe wieder genesen, aber ich habe soeben von zwei weiteren Ausbrüchen der Krankheit erfahren. Ich hoffe, dass Leiard sich bereiterklären wird, einen der Fälle zu übernehmen.
Dann ist es ein glücklicher Umstand, dass ihr beide dort seid – obwohl ich mich noch immer frage, welche Gründe er für seine Reise nach Si hatte. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass er dort hingegangen sein könnte, weil er hoffte, sich heimlich mit dir treffen zu können?
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hatte es so lange wie möglich vermieden, Leiard Juran gegenüber zu erwähnen, da sie mit genau diesen Fragen nicht konfrontiert werden wollte.
Er hat mich nicht gerade herzlich begrüßt, und er hat nicht versucht, irgendetwas… wieder aufzufrischen.
Gut. Ich muss Schluss machen.
Leiard war soeben aus einer Laube getreten. Sie landete neben ihm, und er zuckte überrascht zusammen.
»Ich habe schlechte Nachrichten erhalten«, begann sie.
»Was ist passiert?«
»Der Stamm vom Nordwald ist erkrankt. Es steht noch nicht fest, ob es die Herzzehre ist oder nicht.«
Seine Miene war grimmig. »Und du möchtest, dass ich dort hingehe.«
»Ja. Die Krankheit ist auch im Offenen Dorf wieder ausgebrochen, trotz aller Bemühungen Sirris und der Priester.«
Er runzelte die Stirn. »Dann möchtest du also, dass ich dich lehre, mit Magie zu heilen?«
Sie zögerte. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, noch einmal danach zu fragen, bevor sie Chaias Erlaubnis hatte. Trotzdem, wenn Leiard dazu bereit war und sie die Zeit fand, um Chaia noch einmal zu fragen… »Ja.«
»Hast du die Möglichkeit bedacht, dass die Götter dir diese Fähigkeit deshalb nicht geschenkt haben, weil sie dir nicht bestimmt ist?«, fragte Leiard.
Sie blinzelte überrascht. Hatte er nicht nur gelernt, seinen eigenen Geist zu verbergen, sondern auch in den Gedanken anderer zu lesen?
»Das ist möglich. Ich müsste mich mit ihnen beraten.«
Er nickte. »Wenn sie einverstanden sind, werde ich dich unterweisen.«
Ihr wurde ein wenig leichter ums Herz, und sie lächelte. »Gib mir nur einen Augenblick Zeit.«
Chaia?
Sie wartete auf eine Antwort. Leiard war einen Schritt zurückgetreten, und über seine Züge war ein Ausdruck des Entsetzens geglitten, das jedoch schnell von Resignation abgelöst wurde. Sie rief abermals und spürte, wie eine machtvolle Präsenz die Magie der Welt aufrührte.
Auraya.
Es war nicht Chaia, sondern Huan.
Huan, sagte sie überrascht. Danke, dass du meinen Ruf beantwortest.
Du hast den Wunsch, die Gabe der Heilung von diesem Traumweber zu erlernen, stellte die Göttin fest.
So ist es.
Ich wünschte, es wäre möglich, aber ich kann es nicht erlauben. Magie dieser Art bringt das Gleichgewicht von Leben und Tod in der Welt durcheinander. Wenn die Menschen begreifen würden, was diese Magie leisten kann, und wüssten, dass die Weißen sie auszuüben vermögen, würden ihre Forderungen an dich jedes vernünftige Maß übersteigen.
Aurayas Magen krampfte sich vor Enttäuschung zusammen.
Aber die Siyee…?
Sie werden nicht alle sterben. Es ist ein bedauerlicher Preis, den sie zahlen müssen, damit das Gleichgewicht von Leben und Tod erhalten bleibt. Du kannst nur so schnell wie möglich handeln, um die Ausbreitung dieser Krankheit zu verhindern.
Und Leiard? Bringt auch er das Gleichgewicht von Leben und Tod durcheinander?
Ja, aber er ist bloß ein Traumweber und bekleidet im Gegensatz zu dir keine Machtposition. Der Schaden ist nur gering.
Er könnte andere unterweisen.
Er würde scheitern. Nur wenige Menschen sind imstande, diese Gabe zu erlernen. Du könntest dazu in der Lage sein, aber die Konsequenzen wären erheblich schwerwiegender.
Sie seufzte. Dann muss ich sein Angebot also ablehnen.
Bedauerlicherweise ja.
Als die Göttin sich zurückzog, blickte Auraya zu Leiard auf.
»Sie haben abgelehnt«, stellte er fest.
»Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Du hattest recht. Es ist mir nicht bestimmt, diese Gabe zu besitzen.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich werde ins Offene Dorf gehen. Es wird einiger Autorität bedürfen, um zu verhindern, dass sich die Seuche von dort aus weiter ausbreitet. Der Stamm vom Nordwald ist diesem hier am nächsten. Am besten, du kümmerst dich darum.« Sie bemerkte, dass er beunruhigt wirkte. »Was ist los?«
Er wandte den Blick ab. »Ich hatte die Absicht, Si zu verlassen.«
Sie lächelte mitfühlend. »Die Herzzehre hat auch meine Pläne durchkreuzt.« Dann runzelte sie die Stirn, als sie den Argwohn in seinem Blick sah. »Du hast immer noch vor, fortzugehen? Oh… du wolltest meinetwegen fort.«
Er zog die Schultern hoch. »Ich habe den Befehl bekommen, mich von dir fernzuhalten.«
»Mach dich nicht lächerlich!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Juran hätte nie gewollt, dass du die Siyee im Stich lässt, weil… und ich werde mich ohnehin nicht beim Nordwaldstamm aufhalten. Gewiss hat er dir nicht aufgetragen, jedes Land zu verlassen, in dem ich zufällig ebenfalls auftauche.«
Leiard schaute zu Boden, dann blickte er mit harten Augen zu ihr auf. »Nicht direkt. So genau waren seine Anweisungen nicht.« Er hielt inne. »Wenn ich zum Nordwaldstamm gehe – wenn ich in Si bleibe -, wirst du mir dann versprechen, dass mir nichts zustößt?«
Sie starrte ihn an. Hatte er wirklich solche Angst vor Vergeltung?
»Natürlich wird dir nichts zustoßen.«
»Versprich es mir«, sagte er. »Schwöre es bei den Göttern.«
Sie ließ einige Herzschläge verstreichen, bevor sie antwortete, zu entsetzt über sein Misstrauen, um zu sprechen. Wenn es dieses Versprechens bedarf, damit er hierbleibt und den Siyee hilft…
»Ich schwöre im Namen von Chaia, Huan, Lore, Yranna und Saru, dass dem Traumweber Leiard kein Schaden widerfahren wird, solange er in Si verweilt, um den Siyee beim Kampf gegen die Herzzehre beizustehen.«
Jetzt war es an ihm, sie anzustarren. Langsam entspannten sich seine Züge, und er lächelte. »Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast«, sagte er. »Für mich.«
Sie sog verärgert die Luft ein. »Ich kann nicht glauben, dass du darum gebeten hast. Wirst du jetzt zum Nordwaldstamm gehen?«
Er nickte. »Ja. Natürlich. Ich werde meine Sachen packen – und ich sollte Tyve Bescheid geben.« Er griff nach einer Pfeife, die an einer Schnur um seinen Hals hing, setzte sie an die Lippen und blies hinein. Auraya unterdrückte ein Lächeln. Tyve schien es zufrieden zu sein, auf solche Weise gerufen zu werden, aber sie fragte sich, wie lange das so bleiben würde.
»Wilar!«
Sie drehte sich um und sah Tyve auf die Plattform zufliegen.
»Pack deine Sachen«, trug Leiard dem Jungen lächelnd auf. »Wir machen uns auf den Weg zu einem anderen Stamm, der unsere Hilfe braucht.« Tyves Augen weiteten sich, als er begriff, was das bedeutete. »Auraya muss ins Offene Dorf zurückkehren und sich dort um die Kranken kümmern.«
Leiard sah ihr in die Augen, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. Sie dachte an die Kälte, die sie in seinem Blick gesehen hatte, als sie das erste Mal im Dorf erschienen war.
Ich bin froh, dass sich das geändert hat, ging es ihr durch den Kopf. Es ist besser, wenn wir uns als Freunde trennen.
»Ich werde Sprecher Veece von unseren Plänen berichten«, erbot sie sich. »Passt auf euch auf.«
Leiard nickte. »Das werden wir tun. Viel Glück.«
»Danke.«
Sie trat an den Rand der Plattform und schwang sich in die Luft.
Die Türme und Mauern Glymmas waren, nicht lange nachdem das Schiff Segel gesetzt hatte, in einem Nebel aus Staub verschwunden. Zu ihrer Linken zog die niedrige, blasse Linie der avvenschen Küste vorüber, während auf der Rechten undeutlich der Horizont zu erkennen war. Reivan lehnte an der Schiffsreling und dachte über das nach, was vor ihr lag.
Die niedrigen Berge des südlichen Sennon, überlegte sie. Dann Wüste, anschließend Berge und schließlich die üppigen grünen Länder der Zirkler.
Nicht dass ganz Nordithania jenseits der Berge fruchtbares Land gewesen wäre. In der Mitte gab es trockenes Ödland, und die Berge von Si waren fast unpassierbar. Die Zirkler hatten jedoch weit besseres Land als die Pentadrianer. Mur lag eingezwängt zwischen einem langgestreckten Steilhang und dem Meer, Avven litt an regelmäßigen Dürreperioden, und die Reichtümer Dekkars stammten aus dem gerodeten Dschungel, aber binnen weniger Jahre verwandelte sich der Boden dort in nutzlosen Staub.
Wie Imis Heimat wohl sein mag?
Reivan hatte einige Informationen von Imenja erhalten. »Borra besteht aus einem Ring von Inseln«, hatte sie gesagt. »Aber die Elai wagen sich nicht oft so weit vor, weil sie stets auf der Hut vor Angriffen von Plünderern sind. Stattdessen leben sie in einer Stadt, die man durch einen Unterwassertunnel erreicht.«
Wie werden wir dann dorthin gelangen?, fragte sich Reivan.
»Es gibt noch einen Eingang, über der Erde.«
Reivan zuckte zusammen und drehte sich um. Imenja stand neben ihr.
»Ich verstehe«, erwiderte sie. »Das ist gut zu hören.«
»Oh, wir werden diesen Eingang wahrscheinlich nicht benutzen. Die Elai trauen den Landgehern nicht, daher bezweifle ich, dass wir in der Stadt überhaupt willkommen sein werden.«
»Wie werden wir dann den König treffen?«
»Vielleicht auf den Inseln.« Imenja zuckte die Achseln. »Das werden wir sehen, wenn wir dort sind.«
»Hat Imi sich inzwischen eingelebt?«
Imenja lächelte. »Ja, sie ist im Pavillon und zieht sich etwas Bequemeres an. Ich vermute, dass sie bald zu uns stoßen wird. Anscheinend leiden sogar die Elai an Seekrankheit. Wie fühlst du dich?«
Reivan verzog das Gesicht. Sie versuchte, das Unbehagen im Magen zu ignorieren. »Es könnte schlimmer sein.«
»In einigen Tagen wird es dir wieder gutgehen.« Imenja wandte sich dem Meer zu. »Ich habe einen Auftrag für dich.«
Reivan sah ihre Herrin überrascht an. Was konnte Imenja von ihr wollen? Sie würden für die nächsten Monate auf diesem Schiff festsitzen.
»Was soll ich tun?«
»Ich möchte, dass du Imis Sprache lernst. Es wäre besser für uns alle, wenn ich nicht die Einzige wäre, die sich mit den Elai verständigen kann.«
Reivan lächelte erleichtert. »Das kann ich tun, aber wie gut ich die Sprache erlerne, wird davon abhängen, wie viel Zeit ich habe. Ist Imi bereit, mich zu unterrichten?«
Imenja nickte. »Ja. Wir haben darüber gesprochen. Auf diese Weise werdet ihr beide während der Reise etwas zu tun haben.«
»Und ich habe all diese Bücher mitgenommen, weil ich glaubte, ich würde reichlich Zeit zum Lesen haben«, sagte Reivan seufzend.
Die Stimme lächelte. »Auch dazu wird dir reichlich Zeit bleiben. Und darüber hinaus musst du dafür sorgen, dass ich nicht vor Langeweile den Verstand verliere.«
»Das kann ich eindeutig nicht zulassen.« Reivan sah Imenja von der Seite an. »Es klingt ganz und gar nicht verlockend, mit einer wahnsinnig gewordenen Stimme auf einem Schiff festzusitzen.«
Imenja kicherte. Sie blickte wieder aufs Meer hinaus, dann trommelte sie mit den Fingern auf die Reling. »Imi hat noch nicht erkannt, dass ich ihre Gedanken lesen kann. Sie ist verwirrt, dass ich ihren Namen kannte und ihre Sprache spreche, aber sie ist noch nicht dahintergekommen, wie diese Dinge zusammenhängen.«
»Wirst du es ihr erzählen?«
»Noch nicht. Die Elai werden mir wahrscheinlich noch weniger trauen als gewöhnlichen Landgehern, wenn sie erfahren, dass ich Gedanken lesen kann.«
»Das könnte sein. Obwohl Imi es sich vielleicht irgendwann zusammenreimen wird. Sie könnte denken, dass du es ihr bewusst verheimlicht hast, um sie zu täuschen.«
»Ja.« Imenja runzelte die Stirn. »Es müsste schon eine Menge passieren, um ihr Vertrauen zu erschüttern. Ich muss mir eine plausible Erklärung zurechtlegen.«
Das Schiff stieg plötzlich unter einer Welle an. Reivans Magen schlingerte auf eine höchst unangenehme Weise.
»Ich glaube, ich muss mich übergeben«, stieß sie leise hervor.
Imenja legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Halte den Blick auf den Horizont gerichtet. Das hilft.«
»Was soll ich nachts tun, wenn ich ihn nicht sehen kann?«
»Versuch zu schlafen.«
»Versuchen?« Reivan lachte, dann umklammerte sie die Reling, als das Schiff auf der anderen Seite der Welle wieder hinunterplatschte.
»Noch etwas«, sagte Imenja. »Beug dich nicht zu weit vor. Du könntest deinen Anhänger verlieren. Oder hinunterstürzen.«
Reivan blickte auf den silbernen Stern, der an einer Kette um ihren Hals hing. »Du würdest mir einfach einen neuen Anhänger machen, nicht wahr?«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Imenja. »In jedem Anhänger befindet sich ein winziges Stück von einer Koralle, die sorgfältig und nach geheimen Methoden gezüchtet wurde. Einzig die Stimmen und einige wenige auserwählte Götterdiener kennen diese Methoden. Der Koralle wohnt auf natürliche Weise die Möglichkeit inne, anderen Korallen ein telepathisches Signal zu schicken. Das geschieht in einer bestimmten Nacht in jedem Jahr und löst einen Massenauswurf von Korallensamen aus. Wir haben einen speziellen Typus von Koralle gezüchtet, der es uns ermöglicht, an jedem Tag des Jahres unsere eigenen Signale – oder Gedanken – auszusenden. Deshalb können wir uns über die Anhänger miteinander verständigen.« Imenja lachte leise. »Ich habe keine Ersatzkorallen bei mir, also solltest du den Anhänger nicht verlieren.«
Reivan griff nach dem Stern und drehte ihn um. Die Rückseite war glatt, bis auf eine kleine Vertiefung in der Mitte, die mit einer harten, schwarzen Substanz gefüllt war. Sie hatte sich oft gefragt, was das war, aber ihre alte Angewohnheit als Denkerin, den Dingen auf den Grund zu gehen, hatte sich in der Furcht verloren, sich in Angelegenheiten einzumischen, die den Göttern heilig waren.
»Eine Koralle«, murmelte sie. »Was die Elai wohl davon halten würden?«
»Sie werden es nicht erfahren«, sagte Imenja entschieden. »Es ist ein Geheimnis, vergiss das nicht.«
»Natürlich.« Reivan ließ den Anhänger wieder los.
Imenja trommelte abermals mit den Fingern auf die Reling. »Also, welche Bücher hast du mitgenommen? Es sind nicht nur Bücher der Denker, oder?«
Reivan verdrehte die Augen und trat einen Schritt von der Reling zurück. »Komm mit. Ich werde sie dir zeigen.«
Mirar lachte in sich hinein.
Wir sind ein wenig selbstgefällig heute, wie?, fragte Leiard.
Das Versprechen, das ich Auraya abgenommen habe, löst all unsere Probleme, erwiderte Mirar. Ich brauche das Land nicht zu verlassen. Ich kann hierbleiben und weiter den Siyee helfen. Sie wird ein Versprechen, das sie im Namen der Götter gegeben hat, nicht brechen.
Ach nein? Ich dachte, ich wäre der Vertrauensselige von uns beiden.
Das bist du auch. Du hättest sie nicht gebeten, dieses Versprechen zu geben.
Weil ich weiß, dass sie ein Versprechen brechen würde, sollten die Götter es ihr befehlen.
Ein Versprechen, das sie in ihrem Namen gegeben hat?
Wer würde davon erfahren? Es hat keine Zeugen gegeben.
Auraya würde es wissen. Die Götter würden ihren Respekt verlieren.
Und du wärst trotzdem tot.
Das wird nur dann geschehen, wenn ich ihnen einen Grund liefere, mich zu töten. Solange die Siyee krank sind, droht mir keine Gefahr. Sobald diese Seuche abgeklungen ist, werde ich abermals versuchen zu verschwinden. Und wenn Auraya sich an einem anderen Ort aufhält, stehen meine Chancen auf Erfolg recht gut.
Bei jedem Schritt Mirars sickerte Matsch um seine Füße, und der Schlamm wurde immer tiefer. Die Luft stank nach Verwesung. Er stieß einen leisen Fluch aus, der Tyve galt. Zweifellos hatte der Junge ihn in diese Schlucht geschickt, weil sie zum Nordwalddorf führte oder leichter begehbar war als das Gebiet darum herum. Bedauerlicherweise hatte Tyve den unter den dichten Pflanzen verborgenen sumpfigen Boden nicht gesehen.
Mirar tat noch einen Schritt, dann rutschte er plötzlich aus und musste sich an einem Baumstamm festhalten, um nicht in den Morast hinabzusinken. Er saß mitten in einer flachen Schlammpfütze.
Er fluchte abermals und rappelte sich wieder auf. Vor sich sah er einen endlosen Wald, dessen dünne Baumstämme sich wie Grasbüschel im Wind wiegten. Der Boden dazwischen glitzerte.
Du musst umkehren, sagte Leiard.
Mirar seufzte. Das Gras trieb auf dem Schlamm und ließ den Boden fester aussehen, als er in Wirklichkeit war. Schlamm hatte eine Kruste auf seiner Hose gebildet und tropfte vom unteren Saum seines Traumweberwamses.
Wenn Auraya mich jetzt sehen könnte…, dachte er.
… dann würde sie sich auf deine Kosten königlich amüsieren, vollendete Leiard den Satz.
Ja. Er musste lächeln. Dann drehte er sich kopfschüttelnd um und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.
Du magst sie, bemerkte Leiard.
Ich habe nie behauptet, dass ich sie nicht mag.
Nein, aber diesmal weißt du selbst, dass es so ist. Du bist ohne meinen Einfluss zu diesem Schluss gekommen. Du weißt, dass dies deine Gefühle sind, nicht meine.
Mirar dachte einen Moment lang nach und nickte schließlich.
Ja. Ich verstehe, was du meinst.
Der Weg wurde steiler. Mirar dachte an den mühseligen Abstieg in die Schlucht hinunter und an die Anstrengung, die ihn auf der anderen Seite wahrscheinlich erwarten würde, und stöhnte.
Auraya hat ihr Ziel vermutlich bereits erreicht, ging es ihm durch den Kopf.
Vor seinem inneren Auge stieg die Erinnerung an Auraya auf, wie sie von der Plattform sprang und in einem Winkel davonschoss, den die Siyee unmöglich hätten nachahmen können. Er hatte sie beobachtet, bis sie hinter den Baumwipfeln verschwunden war, und sich gefragt, warum diese besondere Gabe ihn noch immer erstaunen konnte.
Du bewunderst sie, stellte Leiard fest. Das ist der Grund.
Mirar zuckte die Achseln. Ja.
Es war nicht nur die Mühelosigkeit, mit der sie ihre einzigartige Gabe nutzte, sondern die Art, mit der sie alles in Angriff nahm, was getan werden musste. Tüchtig, aber nicht eitel, was ihre Fähigkeiten betraf. Tatkräftig, aber nicht ohne Mitgefühl.
Sie ist nicht unattraktiv, fügte er hinzu. Aber andererseits würden die Götter natürlich keine hässlichen Menschen zu ihren Stellvertretern erwählen.
Doch ihre Schönheit war keineswegs augenfällig. Manche Leute würden sagen, ihre Gesichtszüge seien zu scharf.
Leute, die wohlgerundete, vollbusige Frauen bevorzugen, stimmte Leiard ihm zu.
Allerdings war sie auch keineswegs knochig. Sie hatte durchaus weibliche Kurven.
Dann sind ihre Kurven dir also aufgefallen?, fragte Leiard.
Ja. Mirar schnaubte. Ich bin ein Mann; natürlich fallen mir weibliche Rundungen auf. Bist du eifersüchtig?
Wie könnte ich? Ich bin du.
Ein Frösteln überlief ihn. Er blickte auf und zwang sich, den steilen Felshang und die Pflanzen vor sich zu betrachten. Alles war nass und rutschig. Er suchte nach günstigen Stellen zum Klettern und zog sich langsam hinauf.
Wenn du ich bist, dann liebst du Auraya nicht, dachte Mirar plötzlich.
Ah, aber ich liebe sie.
Er schüttelte den Kopf. Dann liebe ich sie also ebenfalls?
Ja.
Der Aufstieg war so, als bewege man sich auf Händen und Knien an einer halb eingestürzten Mauer empor. Mirar schüttelte erneut den Kopf. Er war ärgerlich, sowohl wegen der Notwendigkeit, den Felsen hinaufzuklettern, als auch über Leiards lächerliche Bemerkungen.
Warum verspüre ich dann keine Liebe?
Weil du es nicht zulässt. Du hast deine Gefühle vergraben.
Ach wirklich? Du hast gut reden. Ich könnte den Rest meines Lebens damit verbringen, nach Gefühlen zu suchen, die ich nicht habe, und du könntest jedes Mal, wenn ich sie nicht finde, dieselbe Erklärung benutzen. Du wirst sagen, ich müsse nur ein wenig tiefer schauen. Nur ein wenig gründlicher suchen.
Aber du hast nicht nach deinen Gefühlen gesucht, wandte Leiard ein. Als Traumweber besitzt du die Fähigkeit, dein Unterbewusstes zu erkunden, aber auch das hast du nicht getan. Du hast Angst vor den Konsequenzen. Außerdem, was würde es ändern, wenn ich recht hätte? Du kannst sie ohnehin nicht haben.
Wenn du recht hast, würde mir eine Erkundung meiner Gefühle nur Schmerz bereiten. Warum sollte ich das riskieren?
Weil du mich niemals loswerden wirst, bevor du es nicht getan hast.
Mirar hielt inne. Er befand sich jetzt unmittelbar unter dem Gipfel. Ich sollte mich auf das Klettern konzentrieren, dachte er.
Stattdessen schloss er die Augen und verlangsamte seine Atmung. Er sandte seinen Geist in eine Traumtrance, die er nur langsam und widerstrebend betrat. Er zwang sich, an Auraya zu denken. Ein Strom von Erinnerungen ergoss sich in seinen Geist. Auraya, die heilte. Auraya, die flog. Auraya, die redete, diskutierte, lachte. Während er den Aufstieg fortsetzte, sah er die Vergangenheit, sowohl die fernere wie auch die jüngere. Er erinnerte sich an ihre Gespräche über einen Frieden zwischen Traumwebern und Zirklern und verspürte Respekt vor ihr. Er rief sich die komischen Situationen ins Gedächtnis, da sie beide mit Unfug gespielt hatten, und er verspürte Zuneigung zu ihr. Er stellte sie sich mächtig und stark vor und verspürte Ehrfurcht und Stolz. Er sah sie fliegen und… erinnerte sich an einen Verdacht, den diese Fähigkeit einmal in ihm geweckt hatte. Diese Überlegung lenkte ihn beinahe von seinem Ziel ab, aber er zwang sich, den Gedanken beiseitezudrängen. Wenn er dies richtig machen wollte, durfte er sich nur die Erinnerung an jene Augenblicke geteilter Nähe gestatten, wie zum Beispiel die Erfahrung von Intimität, von Freude und beiderseitiger Entdeckung, von tieferen Empfindungen, von einem Gefühl der Zugehörigkeit, von dem Wunsch, nirgendwo anders zu sein. Von Vertrauen.
Von Liebe.
Er stand jetzt auf dem Gipfel des Hangs, atemlos vor Erschöpfung und von dem gleichzeitig erschreckenden und berauschenden Begreifen der Wahrheit.
Ich verstehe. Emerahl hatte recht, und doch hatte sie ebenso unrecht. Indem er zu Leiard geworden war, hatte er keine neuen Eigenschaften für sich selbst erschaffen. Nein, er hatte lediglich jene Regungen ausgeschlossen, von denen er glaubte, dass sie für andere am deutlichsten zu erkennen sein würden. Indem er das getan hatte, hatte er andere Gefühle freigelassen, Gefühle, die er jahrelang beiseitegedrängt hatte. Leiard ist ich. Ich bin Leiard. Er ist das, wozu ich geworden bin, als ich jene Teile meines Selbst unterdrückte, die einst Gefühle bargen, die ich für gefährlich hielt. Gefühle wie Liebe.
Gefühle, denen er zu misstrauen gelernt hatte. Die Liebe hatte ihm – einem Unsterblichen in einer Welt Sterblicher – stets nur endlosen Schmerz gebracht. Indem er zu Leiard geworden war, hatte er sich wieder in die Lage gesetzt zu lieben.
Ich bin Leiard. Leiard ist ich. Er presste seine Hände auf die Wangen. Ich liebe Auraya.
Die Ironie entlockte ihm ein bitteres Lachen. Jahrhunderte zuvor hatte er eine harte Mauer um sein Herz errichtet, um zu verhindern, dass er sich abermals in eine sterbliche Frau verliebte, die dazu verurteilt war zu sterben. Jetzt hatte er sich in eine Unsterbliche verliebt. In eine außerordentliche, schöne, intelligente Zauberin mit erstaunlichen Gaben, die seine Liebe einmal erwidert hatte.
»Aber sie ist eine verfluchte Hohepriesterin der Götter!«, schrie er.
Der Klang seiner Stimme riss ihn aus der Trance heraus, zurück in seine gegenwärtige Umgebung. Er sog scharf die Luft ein.
Du hast gesagt, dass es schmerzlich werden würde, bemerkte er zu Leiard.
Es kam keine Antwort. Vielleicht spielte Leiard ihm einen kleinen Streich. Er wartete noch ein Weilchen länger. Nichts.
Vielleicht ist er fort. Er schüttelte den Kopf. Nein. Er ist nicht fort, aber er ist nicht länger getrennt von mir, ebenso wenig wie ich getrennt von ihm bin.
Er sah sich um, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er konnte nichts anderes tun, als weiterzugehen. Allein. Ein Stich des Bedauerns durchzuckte ihn. Irgendwie wusste er, dass er nichts mehr von Leiard hören würde.
Ich glaube, ich werde ihn vermissen. Ich kann Auraya nicht haben, und jetzt habe ich auch Leiard nicht mehr, mit dem ich reden könnte.
Der Gedanke daran hätte komisch sein sollen, doch stattdessen hinterließ er nur ein leeres, trauriges Gefühl in Mirar.
In den obersten Räumen des Weißen Turms ging Juran rastlos auf und ab. Wann immer er an den Fenstern vorbeikam, schaute er auf die Stadt hinunter. Er versuchte schon lange nicht mehr, sich im Geist ein Bild von Jarime zu bewahren, wie es zu Anfang ausgesehen hatte oder zu unterschiedlichen Zeiten während der vergangenen hundert Jahre. Er mochte körperlich nicht altern, aber sein Gedächtnis ließ ihn ebenso oft im Stich wie einen Sterblichen.
Und genau das war der Quell seines jetzigen Dilemmas.
Ich kann mich nicht erinnern, sagte er. Es ist zu lange her. Es ist so, als wollte ich versuchen, mich daran zu erinnern, wie die Dienstmagd meiner Eltern ausgesehen hat – und ich bin ihr wahrscheinlich tausend Mal öfter begegnet als Mirar zu dessen Lebzeiten. Warum willst du, dass ich mich daran erinnere, wie er aussah?
Es ist nur ein Verdacht. Entweder, Mirar ist noch am Leben, oder wir haben einen anderen Traumweber auf der Welt mit Fähigkeiten, die normalerweise Unsterblichen vorbehalten sind, antwortete Huan.
Jurans Herz setzte einen Schlag aus.
Ich bin mir nicht sicher, was schlimmer wäre. Dann erkennst du ihn also nicht?
Ich kann ihn nur mit den Augen eines anderen sehen. Deshalb erkenne ich ihn nicht, wenn der Betrachter es nicht tut. Du bist der einzige lebende Mensch, der ihn erkennen kann.
Du würdest es doch gewiss in seinem Geist lesen, wenn er Mirar wäre…?
Ich kann nicht in seine Gedanken sehen.
Juran blieb jäh stehen, und ein kalter Schauer überlief ihn.
Könnte dieser Traumweber Leiard sein?
Ja.
Leiard kann nicht Mirar sein! Ich habe in seinen Geist geblickt.
Einen Geist, der jetzt vollkommen verborgen ist. Wenn er das tun kann, könnte er zuvor auch imstande gewesen sein, Teile seines Geistes zu verbergen. Überdies kann er auf eine Art und Weise heilen, wie Unsterbliche es können, fügte Huan hinzu. Geradeso wie Mirar es konnte. Und es gibt noch etwas, das meinen Argwohn erregt.
Was denn?
Er hat Mirars Erinnerungen, und er hat zugegeben, dass er Mirars Stimme in seinem Geist hören könne.
Aber er kann nicht Mirar sein! Ich hätte ihn erkannt!
Das ist die Frage. Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Wir wissen nichts über die Auswirkungen von Gedächtnisverlust bei den Sterblichen, die wir bisher geschaffen haben. Gibt es noch irgendwelche Porträts von Mirar?
Die meisten sind zerstört worden, doch vielleicht finden sich in den Archiven noch welche. Aber… wir haben seinen Leichnam gefunden.
Ihr habt einen Leichnam gefunden, der auf übelste Weise zerschmettert war. Vielleicht war es nicht Mirar.
Was ist, wenn Leiard nicht Mirar ist?
Er könnte ein neuer Wilder sein.
Und das macht ihn zu einer Gefahr?
Ja.
Ist Auraya in Sicherheit?
Chaia wacht über sie.
Juran trat ans Fenster und blickte abermals auf die Stadt hinab. Wenn Leiard ein neuer Wilder war und sie gezwungen waren, ihn zu töten, würde das ein schwerer Schlag für Auraya sein. Vielleicht würde sie nicht so sehr trauern, wie sie es zu der Zeit getan hätte, als sie noch in ihn verliebt gewesen war, aber es würde ihr schwerfallen, die Logik der Götter, nach der alle Wilden eine Gefahr darstellten, zu verstehen.
Wir haben nicht alle Wilden gefunden. Jene, die uns entkommen sind, haben uns keinen Ärger gemacht, sagte er.
Noch nicht. Vergiss nicht, Macht verdirbt die Menschen. Unsterbliche erkennen unsere Autorität nicht an. Sie glauben, ihre Seelen würden es niemals nötig haben, den Tod ihres Körpers zu überwinden, daher halten sie es nicht für notwendig, uns zu gehorchen. Sie sind mächtig und können großen Schaden anrichten. Es ist besser, wenn wir uns ihrer jetzt entledigen, statt zu warten, bis sie ihr volles Potenzial erreicht haben.
Was würden wir tun, wenn ein Zirkler unsterblich würde – ohne eure Hilfe?
Wenn der Betreffende uns ergeben wäre, würden wir ihn vielleicht am Leben lassen.
Juran drückte die Stirn gegen das kühle Glas.
Also müssen wir Leiard töten. Wir haben keine andere Wahl.
Falls er tatsächlich ein neuer Wilder ist.
Wie können wir uns davon überzeugen, dass es sich tatsächlich so verhält?
Wir werden ihn genau beobachten. Du solltest Auraya und die anderen Weißen noch nicht auf die Möglichkeit hinweisen, dass er ein Wilder sein könnte. Leiard hat sich erboten, sie in der magischen Heilung zu unterweisen. Das würde einer Gedankenverbindung bedürfen, die es uns ermöglichen könnte, den Schild zu durchdringen, mit dem er seinen Geist verbirgt. Wir müssen wissen, ob er tatsächlich Mirar ist, bevor wir zuschlagen.
Wann wird das geschehen?
Das haben wir noch nicht entschieden. Es gibt gewisse Risiken. Wir werden zuerst nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten, seine wahre Identität zu enthüllen. Wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind, werden wir es dich wissen lassen. Gute Nacht, Juran.
Juran wandte sich vom Fenster ab und ging zu dem Schrank hinüber, in dem er die Getränke für Gäste aufbewahrte. Er schenkte sich ein Glas torenischen Tipli ein. Obwohl er davon nicht betrunken werden konnte, kippte er den Inhalt herunter und schenkte sich dann noch einmal ein. Der scharfe Geschmack war ebenso ermutigend wie erfrischend.
Ich hoffe um Aurayas willen, dass du dich irrst, Huan.
Die Göttin antwortete nicht.